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authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 04:48:35 -0700
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+The Project Gutenberg EBook of Memoiren einer Sozialistin, by Lily Braun
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Memoiren einer Sozialistin
+ Kampfjahre
+
+Author: Lily Braun
+
+Release Date: July 15, 2005 [EBook #16302]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MEMOIREN EINER SOZIALISTIN ***
+
+
+
+
+Produced by richyfourtytwo and the Online Distributed
+Proofreading Team at https://www.pgdp.net
+
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+
+
+Memoiren einer Sozialistin
+
+
+Kampfjahre
+
+
+Roman
+
+von
+
+Lily Braun
+
+Albert Langen, München
+
+1911
+
+
+
+
+Erstes Kapitel
+
+
+Eine gewitterschwüle Juninacht. In der Kabine unten hatte ich es nicht
+ausgehalten. Die eingeschlossene Luft legte sich zentnerschwer auf Kopf
+und Brust, und das melancholisch eintönige Anschlagen der Wellen an die
+Fenster preßte mir das Herz zusammen, als ob das Unglück selbst es in
+seinen harten Händen hielte.
+
+»Ich bin seefest,« hatte ich der warnenden Stewardeß zugerufen, als ich
+die schwankende Treppe hinaufgestiegen war. Zwei-, dreimal atmete ich
+auf, tief und schwer, wie nach überstandener Anstrengung, ehe ich mich
+in den Korbstuhl fallen ließ. Am Himmel jagte, vom Wind gepeitscht, ein
+schwarzes Wolkenheer. Dunkel und drohend rollten die Wellen dem Schiff
+entgegen. Kein Mondstrahl spiegelte sich in ihnen, kein Stern
+erleuchtete das finstere Firmament. Langsam verschwanden am Horizont die
+Küste von Holland und mit ihr die letzten freundlichen Lichter.
+
+Ich war allein -- ganz allein. Ich sammelte meine Gedanken, die das
+Fieber der letzten Tage durcheinandergewirbelt hatte wie der Sturm die
+Schaumperlen auf dem Wasser. War das Gebäude meines neuen Lebens, das
+ich mir droben auf den Bergen mit eigenen Händen stolz und selbstsicher
+errichtet hatte, nichts als ein Kartenhaus gewesen, das ein Stoß mit der
+Hand umzuwerfen vermochte? Ich griff suchend in die Tasche meines
+Mantels, es war kein Traum, sondern grausame Wirklichkeit: meiner Mutter
+Brief knisterte noch darin. Ich konnte ihn auswendig. Schon auf der
+Fahrt von Grainau nach Berlin hatte ich ihn gewiß zehnmal gelesen.
+
+»Es ist mir, Gott sei Dank, möglich gewesen, Deinen Brief ohne Wissen
+Deines Vaters in die Hand zu bekommen,« hieß es darin, »und ich schreibe
+Dir in größter Hast, Gott anflehend, daß es meinen Worten gelingen
+möchte, das Schrecklichste von uns allen abzuwenden. Was ich immer schon
+fürchtete, als ich mit anhören mußte, wie Dein verstorbener Mann und Du
+unseren Herrn und Heiland verleugnetet, und in Euren 'Ethischen
+Blättern' las, wie Ihr immer wieder für die Umsturzpartei eintratet, das
+ist jetzt geschehen. Der Samen, den Georg in Deine Seele streute, ist
+aufgegangen: kühl und geschäftsmäßig, als handle es sich um den Plan
+eines Spaziergangs, teilst Du uns mit, daß Du Deine Redaktionsstellungen
+aufgegeben hast, um Dich ganz und gar der Sozialdemokratie in die Arme
+zu werfen. Deine große Verirrung, Dein Unglaube haben Dich, wie es
+scheint, für alles, was Pflicht, Gehorsam, Liebe und Rücksicht heißt,
+blind und taub gemacht, sonst müßtest Du wissen, daß Du mit einem
+solchen Schritt Deinem ganzen bisherigen Verhalten Deinen Eltern, Deiner
+Familie gegenüber die Krone aufsetzest. Dieser Partei, die alles
+besudelt und mit Füßen tritt, was uns heilig ist: Gott und Christentum,
+Familie, Ehe, Monarchie und Militär, sollen wir unser Kind überlassen?
+Es wäre in dem Augenblick für uns gestorben! Aber freilich, das ist Dir
+einerlei, Du wirfst leichten Herzens alles über Bord, was Deinem
+Eigensinn, Deinem Ehrgeiz, Deiner Eitelkeit hindernd in den Weg tritt.
+Wenn Du aber damit Deinen armen Vater mordest -- von mir will ich gar
+nicht reden, eine Mutter scheint dazu da zu sein, daß die Kinder sie mit
+Füßen treten --, wirst Du auch dann noch Deiner Selbstherrlichkeit froh
+werden können?! Du weißt, daß es ihm in letzter Zeit gar nicht gut geht.
+Vor ein paar Tagen fiel er vom Pferd; er sagt, er sei gestürzt, Bruder
+Walter aber, der dabei war, ist überzeugt, daß es ein leichter
+Schlaganfall gewesen ist. Die kleine Braune, deren Ruhe du kennst,
+machte keinerlei Bewegung, er glitt eben einfach aus dem Sattel. Seitdem
+leidet er an Schwindel und Kopfschmerz und ist schwerer zu behandeln
+denn je. Jede Aufregung kann einen neuen Anfall hervorrufen, der ihn
+tötet. Ich wollte nur, ich könnte dann mit ihm sterben, ehe ich so etwas
+mit Dir erleben müßte ...!«
+
+Als ich diesen Brief erhalten hatte, waren meine Austrittserklärungen
+aus den Redaktionen der »Ethischen Blätter« und der »Frauenfrage« schon
+versandt worden. Kaum in Berlin angekommen, fand ich die Mitteilung
+davon in der Presse und die nötigen Kommentare dazu: »Frau von
+Glyzcinski hat den längst erwarteten Schritt getan, und die
+Sozialdemokratie kann sich ob dieser ebenso interessanten wie pikanten
+Aquisition ins Fäustchen lachen« ... so und ähnlich lauteten sie.
+
+Am nächsten Morgen in aller Frühe war meine Schwester blaß und
+verängstigt zu mir gelaufen:
+
+»Wir sind mit dem Arzt im Komplott,« hatte sie mit stockender Stimme
+gesagt, während die Tränen ihr unaufhaltsam über die Wangen liefen, »er
+verbietet Papa, auszugehen. So liest er wenigstens im Kasino die
+Zeitungen nicht. Und die Post wird dem Briefboten an der Hintertreppe
+abgenommen ... Ach, Alix, -- du weißt nicht, wie gräßlich es zu Hause
+ist .. Ich muß Papa immer was vormachen, damit er nichts merkt und Mama
+nicht zu sehr quält .. Am liebsten liefe ich selber davon ...«
+
+Zu Tisch war ich dann mit ihr zu den Eltern gegangen.
+
+Meines Vaters Anblick hatte mich erschüttert.
+
+»Kommst du wirklich noch zu einer halben Leiche?!« hatte er bitter
+lachend gesagt. »Ihr könnt's ja wohl gar nicht erwarten, daß eine ganze
+draus wird. Herr Gott, -- wie hübsch könntet ihr dann eurem Vergnügen
+leben!«
+
+Mama begleitete mich nach Hause: »Habe den Mut, ihm deinen Entschluß ins
+Gesicht zu sagen! -- So einen Brief schreiben und alle Folgen auf Mutter
+und Schwester abwälzen, -- das ist freilich eine Heldentat, die dir
+ähnlich steht!«
+
+Abends war Frau Vanselow noch gekommen, -- tief bekümmert. »Ich verstehe
+Ihren Entschluß, -- wenn ich so jung wäre wie Sie, ich täte dasselbe --,
+aber das hindert mich nicht, ihn schmerzlich zu bedauern. Unsere
+'Frauenfrage' ist nichts ohne Sie. Und darum bitte ich Sie recht
+herzlich: wenn ich schon die Mitredakteurin verlieren soll, so doch
+wenigstens nicht die Mitarbeiterin. Mehr als je können Sie jetzt für
+die Einheit der ganzen Frauenbewegung wirken.« Und dann hatte sie mir
+die Einladung zum Internationalen Frauenkongreß nach London vorgelesen,
+die auf unser beider Namen lautete. »Wie viel könnten gerade Sie, meine
+liebe, junge Freundin, dort lernen und leisten -- England, das
+klassische Land der Frauenemanzipation ...!«
+
+In der Nacht kämpfte ich einen schweren Kampf. Meine Überzeugungen,
+meine Zukunftsträume, meine Hoffnungen standen alle bis an die Zähne
+gewappnet auf wider mich.
+
+Sehr langsam, sehr müde schlich ich am Tage darauf zu den Eltern. Noch
+nie war mir der Flur, in dem auch heute, an einem strahlenden
+Frühsommertage, das kleine Lämpchen brannte, so eng, so dunkel
+vorgekommen und die Zimmer mit ihren schweren Vorhängen so kalt.
+
+Rasch, wie ein Schulmädchen, das den eingelernten Vers herunterhaspelt,
+um nur nicht stecken zu bleiben, erzählte ich von der Einladung nach
+England.
+
+»Wenn ihr nichts dagegen habt, möchte ich mit Frau Vanselow
+hinüberreisen. Ich kann dabei viel gewinnen. Die englische
+Frauenbewegung ist uns weit voraus, die ganze soziale Hilfstätigkeit ist
+glänzend organisiert, -- ich werde mir für meine eigene Arbeit ein
+Muster nehmen können. In schlechte Gesellschaft komme ich auch nicht,«
+hatte ich mit erzwungenem Lächeln hinzugefügt, »denn Gräfinnen und
+Herzoginnen sind unsere Gastgeber ...«
+
+Mama verstand. Sie strahlte. Klein-Ilschen, die sich bei meiner Ankunft
+verschüchtert in eine Ecke geflüchtet hatte, sprang auf und wirbelte
+lustig im Zimmer umher, der Vater schien förmlich elektrisiert von all
+den Aussichten, die sich mir boten. Er studierte das Kursbuch, das
+Konversationslexikon und schickte die Minna zum nächsten Buchhändler, um
+den neuesten Bädecker von London zu holen.
+
+Immer wieder griff er verstohlen nach meinen Händen und streichelte sie
+so sanft, so leise, daß ich den Kampf der Nacht vergaß und nichts fühlte
+als seine Liebe.
+
+Die Reisevorbereitungen, der Abschied, -- der Vater hatte sich's nicht
+nehmen lassen, mich frühmorgens zur Bahn zu bringen und mir, wie ein
+feuriger Liebhaber, einen Strauß blühender Rosen in die Hand zu drücken,
+-- die Eisenbahnfahrt in Begleitung von Frau Vanselow und Frau
+Schwabach, die unaufhörlich von ihrer Vereinsarbeit sprachen, hatten
+mich bis zu diesem Augenblick nicht zu Atem kommen lassen.
+
+Ach, und warum schlief ich nicht jetzt, statt heraufzubeschwören, was
+vergangen war, und in schmerzhafter Sehnsucht an den zu denken, den ich
+nicht erwecken konnte? Ich sah die Nacht um mich her und die große
+Einsamkeit -- war Georg nicht erst jetzt für mich gestorben? Mich
+fröstelte; feucht und kalt klebten mir die Kleider am Leibe.
+
+»Ich will schlafen gehen,« murmelte ich ... und die Augen fielen mir
+zu .....
+
+ * * * * *
+
+Im Morgengrauen lag die Küste Englands vor mir, unfreundlich und
+nüchtern. Mit jener unwirschen Rücksichtslosigkeit aller
+Unausgeschlafenen hasteten und stießen sich die Schiffspassagiere. Ich
+ließ mich schieben, -- es war ja alles so schrecklich gleichgültig.
+
+»Frau von Glyzcinski?!« -- Überrascht sah ich auf. »Mister Stratford?«
+-- Der rotblonde Hüne, der mich eben begrüßt hatte, nickte erfreut. Wie
+einen Gruß von Georg, so empfand ich seinen Händedruck; er war sein
+bester Freund gewesen, seine Schriften, seine Briefe hatten ihn mir wie
+ein Echo Georgs erscheinen lassen. Und mit leisem Lächeln mußte ich der
+Stunde gedenken, in der mir der Verstorbene gestanden hatte, daß er
+zwischen uns den Heiratsvermittler habe spielen wollen, ehe er daran zu
+denken wagte, ich könne ihn -- den armen Gelähmten -- jedem anderen
+vorziehen.
+
+Stratford war überzeugter Sozialist, wie Georg, nur daß er noch mit
+aller Energie an dem Standpunkt der Ethischen Gesellschaft festhielt:
+sich offiziell keiner Partei anzuschließen. Wir gerieten während der
+Eisenbahnfahrt nach London in eine eifrige Debatte.
+
+»Grade Menschen wie wir können für die Verbreitung der Ideen des
+Sozialismus außerhalb der politischen Organisation weit mehr und
+nachhaltiger wirken, als wenn wir ihre eingetriebenen Mitglieder wären,«
+sagte er. »Wir verzetteln und verzehren unsere Kräfte nicht im Kleinkram
+des Parteilebens, wir finden Gehör, wo wir sonst von vornherein auf
+Mißtrauen stoßen würden.«
+
+»Und Sie als Ethiker können es verteidigen, daß wir mit geschlossenem
+Visier kämpfen und unsere Überzeugungen durch Hintertüren in die Häuser
+tragen?« rief ich. »Ich komme mir dabei vor wie ein Feigling und ein
+Betrüger!«
+
+Er lenkte ein: »Sie mögen in Deutschland, wo der ganze Sozialismus sich
+in der Partei konzentriert, zu dieser Empfindung ein Recht haben, bei
+uns gibt es nichts, das der deutschen Sozialdemokratie auch nur
+annähernd ähnlich wäre. Wir sind viel zu individualistisch, um uns
+herdenweise zusammenscharen zu lassen; Sie werden daher unseren
+Sozialismus und seine Ausbreitung nicht nach dem Dutzend kleiner Vereine
+beurteilen müssen, sondern nach den Scharen freier Sozialisten, die in
+allen Gesellschaftsschichten zu finden sind.«
+
+Meine Unwissenheit in bezug auf englische Verhältnisse fiel mir
+plötzlich schwer aufs Gewissen. Ich ließ meinen Begleiter erzählen, der
+sich, wie es schien, gern reden hörte, und warf nur hie und da eine
+Frage dazwischen, um seinen Redefluß auf die von mir gewünschten Bahnen
+zu lenken. Ein Kaleidoskop bunter Bilder reihte sich vor mir auf: von
+der Ethischen Gesellschaft an, deren Sprecher er war, bis zu den
+politischen Kämpfen zwischen der konservativ-unionistischen Koalition
+gegen das liberale Ministerium Rosebery-Harcourt. Ich war ganz benommen,
+als wir uns London näherten.
+
+Einzelne Häuser tauchten auf, grau, nüchtern, mit trüben Fensterscheiben
+und dünnen schwarzen Schornsteinen; sie schoben sich rechts und links
+zusammen, enger und enger, sie verdrängten schließlich das letzte
+Streifchen grünen Rasens; schmal, feuchtglänzend wie Riesenwürmer,
+wanden sich unten die Straßen zwischen den Mauern. Ein schmutzig-grauer
+Nebel umhüllte alles, nicht wie ein Schleier, der phantastische
+Vorstellungen von dahinter verborgener Schönheit zu wecken vermag, --
+wie ein nasses Tuch vielmehr, das die Häßlichkeit der Formen betont und
+jede Farbe verwischt, die sie mildern könnte. In der Bahnhofshalle
+brannten die Bogenlampen, sie wirkten wie flackernde Öllämpchen im
+Dunkel eines Kohlenbergwerks. Wir fuhren durch die Stadt: leichte Wagen
+und schwerfällige Omnibusse, Reiter und Radler schoben und drängten sich
+hin und her, kein Fußbreit Weges blieb frei zwischen ihnen. Auf den
+Bürgersteigen daneben hasteten die Fußgänger; gleichgültig, nur auf das
+eigene Vorwärtskommen bedacht, ohne einen Blick nach rechts und links.
+Selbst die Kinder liefen ernsthaft, gradausschauend weiter. Da war
+keiner, der Zeit hatte --, unsichtbar schienen in der Menge die
+Fronvögte der grausamen Herrin Arbeit ihre Geißeln zu schwingen.
+
+Hier sollte ich Frieden finden und eine sichere Richtschnur für das
+kommende Leben?!
+
+»Westminster! -- das Parlament,« hörte ich meinen Begleiter sagen. Ich
+blickte auf. An einem Palast mit gotischen Türmen und Fenstern fuhr der
+Wagen langsam vorbei. In vornehmer Abgeschlossenheit, hinter hohen
+Gittern lag er gestreckt am breit dahinflutenden Strom. Schüchterne
+Sonnenstrahlen brachen durch den Nebel, leuchteten durch das feine
+gotische Maßwerk, blitzten auf den Turmknäufen, sprangen hinüber zu der
+altehrwürdigen Kirche und ließen ihre bunten Fenster aufglühen, als
+stünde sie im Feuer.
+
+Ein schmaler Weg am Ufer der Themse, hinter dem Parlament, einfach und
+still wie eine Dorfstraße, nahm uns auf. Wir waren am Ziel.
+
+Meine Wirte, zwei alte Leute, hatten fast ihr ganzes Haus den Besuchern
+des Frauenkongresses zur Verfügung gestellt. Sie empfingen mich so
+herzlich, als wären wir alte Freunde. Man versammelte sich grade zum
+Frühstück. Warum waren die Leute nur alle so feierlich? Selbst Stratford
+legte das Gesicht in würdevolle Falten, -- fünf himmelblau gekleidete
+Dienstmädchen traten ein, -- ein Harmonium ertönte, -- helle Stimmen
+sangen einen Choral. Dann las der Hausherr mit dem Tonfall katholischer
+Priester einen Bibelabschnitt, -- ein Gebet folgte. Alles kniete nieder,
+den Kopf in den Händen vergraben, -- auch Stratford, Georgs Freund, der
+Atheist. Ich fühlte, wie ich rot wurde vor innerem Zorn; ich allein
+blieb stehen.
+
+»Wie können Sie nur?!« frug ich ihn empört, als er sich verabschiedete.
+
+»Es ist ja nur eine Form!«
+
+»Durch all unsere Rücksicht auf die Form helfen wir die Sache erhalten!«
+
+ * * * * *
+
+Am Abend wurde der Kongreß durch einen feierlichen Empfang der
+ausländischen Delegierten eröffnet. Eine Schar weißgekleideter Mädchen,
+mit breiten Schärpen in den Landesfarben über der Brust, bildete Spalier
+auf der Treppe von Queenshall; in ein Meer von Licht war der Riesenraum
+getaucht, und alle Blumen des Sommers leuchteten und dufteten rings
+umher. In großer Toilette erschienen die Delegiertinnen, bei jeder
+Eintretenden ging ihr Name flüsternd von Mund zu Mund. Und wie sie
+bekannt waren, so kannten sie sich untereinander und begrüßten sich wie
+alte Kriegskameraden. Ich kam allein in meinem schwarzen Trauerkleid,
+über das der Witwenschleier schwer herunterfiel. Es war ein leerer Raum
+um mich, als ob meine dunkle Erscheinung alles Bunte, Helle von sich
+stieße. Mich kannte niemand. Ein scheu-verwundertes »Wer ist das?«
+schlug an mein Ohr.
+
+Auf der Estrade versammelten sich die Delegiertinnen, und jede von ihnen
+begrüßte im Namen ihres Heimatlandes die wogende Menschenmasse unter
+uns. Da waren sie alle, die alten Vorkämpferinnen, die Frauen Amerikas
+und Australiens, die ihrem Geschlecht die Hörsäle der Universitäten und
+die Pforten zum Parlament eröffnet hatten. Ein neuer Weibestypus: statt
+der weichen Madonnengesichter, die die Stille und Enge häuslichen Lebens
+formt, schmale, scharf geschnittene Züge, wie sie die Welt ihren Bürgern
+meißelt; statt des treuen, warmen Blicks, der über Kinderstube und
+Küchengarten nicht hinauszuschauen braucht, die wissenden, ernsten,
+leidenschaftdurchfunkelten Augen jener, denen des Lebens dunkle Abgründe
+sich offenbaren. Neben ihnen, den Siegerinnen, standen die noch immer
+Besiegten: die dunkeläugige Türkin im schimmernden Märchengewande der
+Scheherezade, die Abgesandte Indiens, den schlanken braunen Leib in
+weiche Schleier gehüllt. Stolz erzählten die einen von ihren Triumphen,
+klagend die anderen von ihren Leiden, -- Triumphen auf dem Gebiete des
+wissenschaftlichen, des sozialen, des politischen Lebens, -- Leiden,
+hervorgerufen durch sexuelle, soziale und rechtliche Unterdrückung, als
+ob Befreiung und Not ihres Geschlechtes damit erschöpft wären. Immer
+heftiger schlug mir das Herz: ich sah wie im Traum vor den Türen dieses
+glänzenden Saales Scharen blasser Frauen im farblosen Kleide der Arbeit,
+wie Werkstätten und Fabriken sie allabendlich zu Tausenden in ihr
+elendes Heim entlassen. Und als mein Name gerufen wurde, und die weiße
+brillantengeschmückte Hand der Präsidentin sich mit einer leise
+bevormundenden Bewegung auf meine Schultern legte, während sie von
+Deutschlands rechtlosen Frauen, von meinem ersten Auftreten für ihre
+politische Gleichstellung sprach, da wußte ich, was ich zu sagen hatte.
+
+»Die Millionen Frauen, die unsere Hemden weben und unsere Kleider nähen,
+haben mich nicht delegiert, aber ich fühle mich als ihre Abgesandte und
+nur als die ihre.«
+
+Sekundenlanger Beifall unterbrach mich, -- galt er nicht mehr meinem
+gebrochenen Englisch und meiner Trauerkleidung als meinen Worten? Mit
+einem Blick voll Geringschätzung streifte ich die elegante
+Zuhörerschaft. Ich werde euch schon verstummen machen --, dachte ich.
+
+»Ihre Vorsitzende rühmte mich als die erste deutsche Frau, die
+in öffentlicher Versammlung das Stimmrecht für ihr Geschlecht
+gefordert habe. Ich muß dieses Lob ablehnen. Seit Jahren tragen
+deutsche Arbeiterinnen von Ort zu Ort die Fahne der politischen
+Gleichberechtigung, und an der Spitze der Arbeiterpartei, der
+Sozialdemokratie, steht ein Mann, dem die Frauen der ganzen Welt zu
+Dank verpflichtet sind: August Bebel.«
+
+Ich hielt unwillkürlich inne, ich erwartete einen Tumult, statt dessen
+erhoben sich alle Hände zu einmütigem Applaus, und selbst die Damen des
+Präsidiums, unter denen sich die vornehmsten Frauen Englands befanden,
+lächelten mir freundlich zu.
+
+Am Ausgang des Saals trat mir eine starkknochige ältere Frau entgegen.
+In dem Druck ihrer harten, unbehandschuhten Hand erkannte ich die
+Arbeiterin. »Ich bin Sozialdemokratin,« sagte sie, »und möchte Sie als
+Genossin begrüßen.« Auf dem Heimweg begleitete sie mich, und ich gab
+meiner Verwunderung und meiner Freude Ausdruck über das Erlebte. Sie
+lachte geringschätzig. »Was wollen Sie?! Wir sind in England! Wenn ein
+Prinz Anarchist und eine Aristokratin Sozialistin ist, so gilt das als
+ganz besonders interessant. Passen Sie auf: man wird sich um Sie reißen.
+Für unsere Sache aber hat das gar keine Bedeutung.« Sie nannte mir ihren
+Namen -- Amie Hicks -- und ihre Wohnung, fern im äußersten Norden
+Londons. »Besuchen Sie mich einmal; ich werde Sie in Arbeiterkreise
+führen.«
+
+Im Trubel der nächsten Zeit war daran nicht zu denken. Der Kongreß und
+seine Veranstaltungen nahmen mich ganz in Anspruch. Ich fehlte zwar oft;
+nicht nur, um den Morgen- und Abendandachten aus dem Wege zu gehen, mit
+denen die Sitzungen regelmäßig eingeleitet und geschlossen wurden,
+sondern auch, um Zeit zum Schreiben zu gewinnen.
+
+In Gedanken an meine zusammenschmelzende Barschaft stieg mir das Blut
+oft siedendheiß in die Schläfen. Das sogenannte Gnadenquartal war mir
+als Witwe eines Universitätsprofessors freilich bewilligt worden, aber
+schon vom nächsten Monat ab hatte ich nichts Sicheres zu erwarten als
+meine kleine Pension von hundert Mark monatlich. Ich hatte kaum an den
+pekuniären Ausfall gedacht, als ich meine Redaktionsstellungen aufgab.
+Nun hieß es: arbeiten, zusammenschreiben, was ich zum Leben nötig hatte.
+Ich wußte nicht einmal, wie viel das war. Ich hatte nie mit dem Pfennig
+gerechnet. Wie gut, daß mein Trauerkleid mir wenigstens ersparte, den
+Luxus der anderen mitzumachen.
+
+Mit Einladungen wurden wir überschüttet: vom Lord-Major an, der uns mit
+dem ganzen Pomp seiner unnachahmlich würdevollen Stellung empfing,
+wetteiferte alles in schier grenzenloser Gastfreundschaft. Hinaus aufs
+Land führten uns Extrazüge, -- jenes Land voll rührender, weicher
+Schönheit, mit seinen grünen, sanft geschwungenen Hügeln, seinen dunklen
+Buchengruppen und stillen, rosenumsponnenen Häusern. Fast unmerklich für
+Auge und Sinn geht die freie Natur in den Blumengarten, in den
+Schloßpark über, nicht wie bei uns, wo die ihr mit allen Mitteln mühsam
+aufgezwungene Kultur oft so verletzend wirkt wie protziger Reichtum
+neben dürrer Armut. Und in die Häuser Londons waren wir geladen, die,
+wie Menschen von alter Kultur, nach außen die gleichförmige, oft
+langweilig wirkende Maske guter Erziehung tragen und erst dem Gast, dem
+sich die Pforten öffnen, den ganzen inneren Reichtum individuellen
+Lebens zeigen. Berlin und die Berliner fielen mir dabei ein, wo Fassaden
+und Kleider, um Originalität vorzutäuschen, einander an Buntheit zu
+übertreffen suchen, während im Inneren Tapeziergeschmack und Konvention
+uneingeschränkt herrschen.
+
+In Wohltätigkeits- und Bildungsanstalten aller Art wurden wir
+eingeführt, und wie in der Frauenbewegung, so imponierte mir hier die
+Einheitlichkeit ihrer Organisation, deren gewaltige Räderwerke so
+selbstverständlich ineinander griffen wie die jener Dampfturbinen, bei
+deren Anblick wir nicht wissen, ob wir die praktische Kunst ihrer
+Schöpfer oder die fremdartig-neue Schönheit ihres Baus mehr bewundern
+sollen.
+
+Der Kongreß selbst war eine Parade, wie fast alle Kongresse. Die Reden,
+die gehalten, die Berichte, die gegeben wurden, waren den Eingeweihten
+ihrem Inhalt nach aus Büchern und Broschüren bekannt. Der Austausch von
+Meinungen, der das wichtigste gewesen wäre, wurde an zweite Stelle
+gerückt, er hätte die Ordnung und den Glanz der Heerschau am Ende trüben
+können. So wäre als Gewinn allein die Anknüpfung persönlicher
+Beziehungen übrig geblieben, aber auch er war bei näherem Zusehen für
+mich nur gering: diese Frauen hatten mir nichts Neues zu sagen. Ihr A
+und O, das Frauenstimmrecht, war für mich in dem Augenblick erledigt
+gewesen, als ich die Selbstverständlichkeit seiner Forderung erkannt
+hatte.
+
+Bei einer internen Sitzung der Delegationen wurde ich zur Präsidentin
+für Frauenstimmrecht in Deutschland gewählt. Meine ablehnende Haltung
+wurde unter allgemeinem Erstaunen als eine Aufgabe des Prinzips
+betrachtet.
+
+»Sie alle haben ihre ganze Kraft auf die Lösung dieser einen Frage
+konzentriert,« sagte ich in dem Versuch, mich verständlich zu machen,
+»ich bewundere Sie, aber ich kann Ihnen nicht folgen. Das
+Frauenstimmrecht ist heute für mich nicht mehr das Ziel, für das ich
+mein Leben einsetze, es ist nur ein Ziel, nur eine Etappe ...«
+
+Man verstand mich nicht, von irgend einer Seite fiel sogar das scharfe
+Wort: »... unbrauchbar für praktische Arbeit.«
+
+Gleich nach der Schlußsitzung des Kongresses wechselte ich mein Domizil.
+Freunde von Stratford -- ein liberaler Parlamentarier und seine schöne
+elegante Frau -- hatten mich in ihr Haus am Hydepark eingeladen. Alles
+trug dort den Anstrich ausgesuchtester Vornehmheit: vom Zeremoniell der
+Lebensweise, dem deutschen Hauslehrer und der französischen Gouvernante
+bis zu dem würdevollen, glattrasierten Bedienten und dem niedlichen
+Kammermädchen. Hausherr und Hausfrau verstießen mit keiner Miene und
+keiner Bewegung gegen die Regeln der guten Gesellschaft, und doch wurde
+ich den Eindruck nicht los, der uns gegenüber guten Kopien großer
+Meisterwerke oft befällt: wir erstaunen über die Technik und vermissen
+um so schmerzhafter den Geist. Daß Stratford sich hier heimisch fühlte,
+mit allen Fibern die parfümierte Luft dieser von tausend Nichtigkeiten
+überladenen Salons einatmete, machte ihn mir noch fremder. Und als ich
+ihn in der Ethischen Gesellschaft reden hörte inmitten einer Korona von
+lauter typischen Vertretern der Geldaristokratie, denen seine
+Sittenpredigten dieselbe angenehme Emotion boten wie die Moral der
+biblischen Geschichten den Frommen in der Kirche, da mußte ich mir seine
+Briefe, seine Schriften ins Gedächtnis rufen, um noch Georgs Freund in
+ihm zu erkennen.
+
+Er ging den Weg, den ich nach dem Wunsche meiner Familie gehen sollte,
+-- wie würde ich jemals imstande dazu sein?!
+
+»Sie sind sehr ungerecht,« sagte er eines Tages, als ich ihm in meiner
+heftigen Art, die der Unruhe meines eigenen Innern entsprang, über seine
+Tätigkeit als »Modeprediger« Vorwürfe machte. »Sie kennen mich nur von
+der einen Seite.« Noch am selben Abend sollte ich die andere kennen
+lernen.
+
+An der Ecke von zwei engen Straßen, beim Scheine einer trübe flackernden
+Laterne sprach er über die Ethik des Sozialismus. Zuerst blieben nur ein
+paar neugierige Bummler stehen, aber je stärker seine Stimme von den
+Mauern widerhallte, desto mehr Menschen sammelten sich um ihn. Müde,
+zerlumpte Gestalten krochen wie Nachtgespenster aus den Kellern hervor,
+Hoftüren öffneten sich, und umwogt von einer Wolke ekler Gerüche
+erschienen Frauen mit zerwühlten Zügen, halbwüchsige Mädchen, deren
+freches Grinsen allmählich zuckendem Schluchzen wich. Mit wüstem
+Geschrei stießen sich trunkene Burschen aus der nächsten Kneipe heraus,
+und nach und nach entzündeten sich Lichter des Verstehens in ihren eben
+noch blöd glotzenden Augen. Die Straße wurde schwarz vor Menschen.
+Stratford sprach mit steigender Begeisterung. Um seinen roten Bart
+tanzten die Lichter der Laternen, seine Augen strahlten vom eigenen
+Feuer. Ich hörte kaum, was er sagte, ich sah nur die Wirkung seiner
+Worte. Aus den vertiertesten Gesichtern brach ein Schein von
+Menschentum hervor, ein froher Zug von Hoffnung verwischte tiefe
+Kummerfalten.
+
+Wir gingen schweigsam durch die Nacht nach Hause. Vor der Türe reichte
+ich ihm die Hand.
+
+»Ich würde Sie nach dem, was ich eben erlebte, um Verzeihung bitten,
+meiner Vorwürfe wegen, wenn ich nicht grade dadurch wüßte, daß Sie
+doppelt schuldig sind. Ein Mann wie Sie gehört der Sache des
+Sozialismus, und keiner anderen ...«
+
+»Vielleicht haben Sie recht,« antwortete er leise, »wären nur nicht der
+Fesseln so viele, die uns an das andere Leben schmiedeten -- --«
+
+»Wir werden sie beide zerbrechen müssen --«
+
+ * * * * *
+
+Im Hause meiner Gastfreunde drehte sich das Interesse fast
+ausschließlich um Fragen der Politik. Was für andere Frauen der
+Gesellschaft der Flirt, die Kunst, die Toilette, das Theater war:
+Reizmittel für ihr Nervensystem, -- das war die Politik für Mrs. Dew.
+Fast täglich war ich mit ihr im Parlament; sei es, daß wir den
+Kommissionsberatungen des neuen Fabrikgesetzes beiwohnten -- das
+Publikum hatte ohne weiteres Zutritt -- oder in den Wandelgängen und auf
+der Themseterrasse zwischen Tee und Eis mit den Abgeordneten
+debattierten. Seltsam: man nahm uns ernst; vergebens erwartete ich auf
+den Zügen der Männer jenes gönnerhaft mitleidige Lächeln, mit dem meine
+Landsleute die politisierende Frau zu betrachten pflegten. Eine gewisse
+Zurückhaltung mir gegenüber entsprang weniger der Tatsache, daß ich ein
+Weib, als daß ich eine Deutsche war, die offenbar nur im Bilde der
+»guten Hausfrau« im Bewußtsein der Engländer lebte.
+
+Schon war es gewitterschwül in den feierlich-hohen Hallen des
+Parlaments, bei jeder Gelegenheit drohte ein Wetterstrahl die Regierung
+zu stürzen, und die von Elektrizität geladene Luft drang bis hinter die
+engen Gitterstäbe der Damengalerie. Unruhiger als sonst raschelten die
+seidenen Kleider, unterdrückte Erregung durchzitterte die
+Flüstergespräche. Man achtete kaum der Redner im Saal, man erwartete nur
+die Katastrophe. Da plötzlich klang eine Stimme von unten empor, rollend
+wie ferner Donner, -- dann wieder tief und schwer wie der Ton riesiger
+alter Kirchenglocken, -- die Damen verstummten, -- drängten sich enger
+an das Gitter, -- und aus ihrer bequemen Stellung auf den weichen
+Polstersitzen reckten sich die Abgeordneten auf. Ich hörte nur die
+Stimme, den Redner sah ich nicht, aber ich empfand ihn als einen, der
+zum Herrschen bestimmt war. »Wer ist das?« -- »John Burns!« -- John
+Burns -- der Verräter?! So war er in der deutschen sozialistischen
+Presse von dem Augenblick an bezeichnet worden, wo er sich grollend von
+der englischen Partei losgesagt hatte. Noch am selben Abend stellte Mr.
+Dew ihn mir vor. Ich war zuerst enttäuscht: Alles überragend hatte ich
+den Träger dieser Stimme mir gedacht, nun trug er auf dem untersetzten
+kräftigen Körper nur den Kopf eines Riesen: Dunkle Haare erhoben sich
+widerspenstig über der breiten, scharf durchfurchten Stirn; hinter
+buschigen Brauen glänzte ein Augenpaar, das in seiner mächtigen Färbung
+und fieberhaften Lebendigkeit der Herkunft aus diesem helläugigen Volke
+Hohn sprach.
+
+Er schüttelte mir kräftig die Hand. Die seinige war breit und schwer,
+sie zeugte von dem Hammer, den sie geführt hatte; -- wie war es möglich
+gewesen, daß ihr die rote Fahne entglitt, die sie einst an der Spitze
+des Heers der Arbeitslosen durch das entsetzte London getragen hatte?
+War dieser Mann nicht der geborene Schöpfer und Führer einer großen,
+einigen sozialistischen Partei Englands? Ich unterdrückte keine der
+Fragen, die sich mir aufdrängten.
+
+»Ich weiß, daß die Sozialdemokraten, besonders die deutschen, mich für
+einen Verräter halten,« sagte er, »aber sie verstehen die Situation
+nicht. In Deutschland würde ich nicht anders handeln als Bebel und
+Liebknecht, aber hier ...« mit einer raschen Bewegung schob er die
+Teetasse beiseite und zeichnete auf die weiße Marmorplatte des Tischs
+einen Punkt mit einem großen Kreis rings herum. »Sehen Sie,« fuhr er
+fort, »dieser Punkt ist der Sozialismus, um den Kreis herum steht die
+deutsche Regierung, Ihr Militär, Ihre Polizei, und diese treiben
+naturgemäß alle freidenkenden Elemente dem Mittelpunkt zu, mit dem sie
+sich, infolge des äußeren Drucks, fest vereinigen. Bei uns besteht der
+Mittelpunkt, aber der Kreis fehlt, und so strömen die Strahlen dieser
+sozialistischen Sonne ungehindert nach allen Richtungen aus.« Ich
+lächelte ein wenig ungläubig. »Ich werde Ihnen beweisen, was ich sage,«
+fügte er rasch hinzu. »Sie kommen morgen mit mir --,« er ließ mir gar
+keine Zeit zu Einwendungen, sondern bestimmte Ort und Stunde für unsere
+Zusammenkunft.
+
+Von da an trafen wir uns oft, im Parlament wie im Londoner
+Grafschaftsrat. Ich sah erstaunt, mit welchem Respekt Mitglieder aller
+Parteien diesem Manne begegneten, der noch vor wenigen Jahren im
+unterirdischen London Gasleitungen gelegt hatte; aber noch mehr
+erstaunte ich über den freudigen Stolz, mit dem er mir städtische
+Einrichtungen als »Strahlen der sozialistischen Sonne« erklärte, in
+denen ich nichts anderes sehen konnte als bürgerlich-soziale Reformen.
+
+»Der deutsche Marxismus hat Sie blind und taub gemacht,« sagte er eines
+Tages ungeduldig, als ich mich für die Kommunalisierung der
+Verkehrsmittel durchaus nicht begeistern konnte. »Lassen Sie sich von
+den Fabiern in die Schule nehmen.«
+
+»Den Fabiern?!«
+
+»Eine Gesellschaft von 'Salonsozialisten', würde man bei Ihnen in
+Deutschland sagen. Tüchtige Leute darunter ...«
+
+Mit einem ihrer Begründer und Leiter, Sydney Webb, machte er mich im
+Teezimmer des Grafschaftsrats bekannt. Ich wußte von seiner Frau, die
+als junges Ding ihr reiches Elternhaus verlassen hatte, um der Sache der
+Arbeiter zu dienen, und nun, gemeinsam mit ihrem Mann, durch Wort und
+Schrift für Genossenschaften und Gewerkschaften tätig war. Ich wußte
+auch, daß sie der Frauenbewegung fern, ja ihren Forderungen sogar
+vielfach feindlich gegenüberstand. Gelesen hatte ich keines ihrer
+Bücher, nur mit einer gewissen Scheu ging ich darum zu ihr. Eine blühend
+schöne Frau fand ich, mit dem ganzen Reiz starken geistigen Lebens in
+den Zügen und einer Güte und Anmut des Wesens, der meine Steifheit
+nicht lange standhielt. Durch sie erfuhr ich von der Macht und Größe der
+englischen Gewerkschaftsbewegung und fand den Weg in die Häuser jener
+Arbeiter, die sich durch die Kraft ihrer Organisation aus physischer und
+geistiger Versklavung befreit hatten. Wie ein Stück verwirklichter
+Zukunftsstaat kam es mir vor, wenn ich sie draußen, vor Londons Toren,
+in ihren Gärten traf oder vor dem Kamin ihres Wohnzimmers oder am gut
+besetzten Tisch. Wahrhaftig: hier hatten die Strahlen der
+sozialistischen Sonne aus ödem Land neues Leben hervorgerufen.
+
+In den Versammlungen der Fabier, die ich von da an regelmäßig besuchte,
+wurden theoretische und praktische Fragen des Sozialismus von allen
+Seiten beleuchtet und erörtert. Jene Scheu, zu sagen, was man denkt, die
+die Menschen überall schwach und klein macht, wo religiöser, sittlicher
+oder politischer Fanatismus die Wahrheit an sich zu besitzen vorgibt,
+schien hier verschwunden, und mir war, als fiele Licht auf den Weg, den
+ich zu gehen hatte.
+
+»Es ist nicht wahr, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur ein Werk
+der Arbeiterklasse selbst sein kann, -- es ist nicht wahr, daß der
+Klassenkampf das Grundelement der sozialistischen Bewegung ist, -- es
+ist nicht wahr, daß die Entwicklung des Sozialismus mit der Sicherheit
+eines Naturgesetzes notwendig zur Expropriation der Expropriateure
+führen wird ...« Eine überschlanke Gestalt stand auf der Rednertribüne,
+mit schmalem, gelblich blassem Gesicht, in das weiche blonde Haare wirr
+hineinfielen. »Es waren und sind die revoltierenden Söhne der
+Bourgeoisie selbst -- Lassalle, Marx, Liebknecht, Morris, Hyndman, Bax
+-- alle, wie ich, Bourgeois mit Mischung von Kavaliersblut, die die rote
+Fahne entfalteten. Der Hunger der Armen treibt zur Revolte, der Geist
+allein zur Revolution ...« Wie Hochverrat an den grundlegenden Dogmen
+des Sozialismus klang mir, was dieser Mann hart und scharf in den Saal
+hinausschleuderte. Aber ein Ton blieb mir hartnäckig im Ohr und weckte
+etwas in mir, das stark und stolz war. In selbstentsagender Askese hatte
+ich mich, ein schlichter Soldat, als mein Lebensglück zusammenbrach, in
+den Dienst der Partei stellen wollen. Kraft und Jugend kehrten mir
+wieder: sollte ich nicht fähig sein und berufen, dem Sozialismus den
+Urwald erobern zu helfen, den alle Giftpflanzen des Vorurteils und des
+Stumpfsinns noch üppig durchwucherten?
+
+Ich suchte des Redners Bekanntschaft. Es war Bernard Shaw, der
+Theaterkritiker der Saturday Review, der Entdecker Ibsens und Richard
+Wagners nicht nur für England, sondern für den Sozialismus, der bissige
+Spötter, von dessen Witzen die englische Gesellschaft nie recht wußte,
+ob sie über sie lachen, oder sich vor ihnen fürchten sollte. Mich
+verlangte nach einer Erklärung dessen, was er in lapidaren Sätzen eben
+vor mich hingestellt hatte.
+
+»Sie waren draußen in Letshfield?« frug er mich statt aller Antwort.
+»Und haben die Bewohner in ihren Heimen gesehen? ... Natürlich auch
+bewundert?!« Ich nickte. »Und nicht bemerkt, wie drastisch solch eine
+Miniatur-Zufriedenheitsexistenz lehrt, daß der Arbeiter in seiner Masse
+nichts mehr verlangt, als ein Bourgeois zu werden!«
+
+»Ist es nicht auch das wünschenswerteste Ziel, ihn zunächst wenigstens
+satt zu machen?« warf ich ein.
+
+»Sicherlich, denn Armut ist ein Laster --, wenn nur die satt gewordenen
+nicht am raschesten derer vergessen würden, die noch immer hungern. Im
+Grunde sind die Arbeiter das konservativste Element im Staat, und wir
+Freigelassenen der Bourgeoisie sind dazu da, sie aufzurütteln.«
+
+Der Kreis der Fabier war von nun an derjenige, der mich am meisten
+anzog, aber die politischen Ereignisse auf der einen, und jenes Gefühl
+der Unfreiheit auf der anderen Seite, das mit der Annahme auch der
+weitherzigen Gastfreundschaft untrennbar verbunden ist, rissen mich
+wieder nach anderen Richtungen fort. Die Abstimmung über eine an sich
+unbedeutende Militärfrage führte zu einer Niederlage der Regierung und
+damit zum Rücktritt des Ministeriums. Eine Erregung, die sich vom
+Parlament aus mit Windeseile auf alle Straßen fortpflanzte, die
+Gesichter der überall in Gruppen Zusammenstehenden höher färbte und alle
+Augen blitzen ließ, bemächtigte sich der Londoner. Sie steigerte sich
+zur Fieberhitze an jenem Abend in Albert-Hall, wo sich die
+Menschenmassen vom Parterre dieses Riesenzirkus bis hoch unter die
+Kuppel zusammendrängten und die gestürzten Minister Rosebery und
+Harcourt in die vom Atem Tausender und der zitternden Glut des Julitages
+lebendigen Luft gegen die neue Regierung leidenschaftliche Anklagen
+erhoben. Selbst die Nachmittagstees des londoner Westens gestalteten
+sich zu Agitationsversammlungen. Die Leidenschaft des Hasardspielers
+schien alle ergriffen zu haben, und gespannt, als gelte es dem Einsatz
+der ganzen Existenz, hingen die Blicke an der rollenden Roulettekugel
+des Wahlkampfes.
+
+Eines Morgens atmete ich wie erlöst aus einem Banne auf, als ich nicht
+mehr in dem eleganten Zimmer von Princes Gardens erwachte, wo dichte
+gelbseidene Vorhänge mir stets die Sonne vorgetäuscht hatten und das
+blitzende Messinggestell meines Betts mich oft selbst unter der
+Daunendecke frösteln machte. Hinter weißen Mullgardinen sah ich jetzt
+grüne Zweige schaukeln, und in einem Bett aus warm getönten hellem Holz
+hatte ich traumlos geschlafen. Es waren Deutsche von Geburt, Engländer
+aus freier Wahl, die mich für die letzte Zeit meines londoner
+Aufenthaltes zu sich in ihr Künstlerheim geladen hatten. Jedes
+Möbelstück, jeder Teppich und jede Vase standen in den schönen lichten
+Räumen des Hauses in feiner Harmonie zueinander, nur die Gemälde an den
+Wänden schienen sie mißtönig zu zerstören, und in dem großen Atelier
+schrieen sie förmlich. Bilder des Elends waren es, des Hungers und der
+Verzweiflung, Bilder des Krieges, auf denen von Wunden grauenvoll
+Zerrissene die Hände krampfhaft gespreizt oder wütend geballt gen Himmel
+streckten. Der Hausherr malte sie und nichts als sie, -- ein milder,
+gütiger Mann mit grauem Patriarchenbart und den Augen eines Jünglings.
+Wo immer das Leid der Kreatur zum Ausdruck kam, war sein Herz und sein
+Interesse, von der Friedensbewegung an bis zur Tierschutzbewegung. Er
+gehörte zu den Menschen, die überall im einzelnen helfen und wirken
+wollen, wie der ungelernte Gärtner, der da und dort einem armen
+Pflänzlein durch künstliche Nahrung oder durch den stützenden Stab
+aufhelfen will, aber bei all seinem aufreibenden Eifer nicht steht, daß
+der ganze Boden schlecht ist. Sein weißblondes zartes Frauchen lächelte
+oft ganz heimlich, wie eine kleine Mutter zu den Spielen ihres Kindes,
+die sie mit der Weisheit der Erwachsenen nicht stören will.
+
+Ihr Haus übte eine magnetische Anziehungskraft auf Alles aus, was
+abseits der großen Heerstraße ging. Shaw traf ich hier wieder als
+häufigen Gast; Peter Krapotkin gehörte zu den Intimen des Hauses, -- der
+große Revolutionär, der doch ein Kind war: gut und vertrauensselig und
+voll phantastischer Träume wie ein solches. William Stead, dessen
+rücksichtsloser Kampf gegen die sittliche Fäulnis der londoner
+Gesellschaft ihm einen europäischen Ruf verschafft hatte, begegnete mir
+hier zum erstenmal und zog mich in den Bannkreis seiner starken
+Persönlichkeit. Seine Augen, deren opalisierende Lichter wie durch
+geheimnisvoll darüber gebreitete Schleier schienen, übten eine
+faszinierende Wirkung aus, und wenn er von seinem Verkehr mit den
+Geistern Abgeschiedener erzählte, wenn er von den Kräften der Seele
+sprach, die unerweckt auch in mir schlummern müßten, so bedurfte ich der
+ganzen Nüchternheit meines Verstandes, der ganzen Stärke meiner
+fanatisch materialistischen Weltanschauung, um mich seinem Einfluß zu
+entziehen.
+
+»Ich will mich nicht mit Problemen beschäftigen, die mich von dem
+Problem ablenken könnten, dessen Lösung meine einzige Aufgabe ist: dem
+des Elends in der Welt ...« antwortete ich ihm eines Tages, als er mich
+mit Annie Besant bekannt machen wollte, die sich eben vom Sozialismus
+abgewandt hatte und zur begeisterten Verkünderin theosophischer Ideen
+geworden war. »Mögen andere heute, wo die Zeit drängt, es vor sich
+selbst verantworten, wenn sie ihren Träumen nachhängen...«
+
+»Sie werden nie mehr träumen?!« Mit einem Blick und einem Lächeln
+begleitete Stead seine Frage, die mir das Blut in die Wangen trieben. Er
+nahm meine beiden Hände zwischen die seinen -- Hände, die in ihrer Kraft
+und ihrer Weiche zum Schützen wie zum Streicheln gleich geschaffen
+waren --, und seine Augen bohrten sich in meine Züge.
+
+»Ich liebe Ihre Tapferkeit und Ihre Klugheit, aber was mich Ihre
+Freundschaft suchen ließ, das ist Ihr unbewußtes Ich, das sind Ihre
+Träume, die Sie vergessen, wenn Sie wachen, von denen mir aber noch Ihre
+Augen erzählen, -- das ist die tiefe Sehnsucht, die Ihr Wesen über sich
+selbst hinauszieht.«
+
+Ich fuhr an jenem Tage mit ihm hinaus nach Wimbledon, wo sich zwischen
+hohen Hecken und alten Bäumen sein kleines, stilles Haus versteckte. Und
+im verwilderten Garten unter dem schattenden Laubdach duftender Linden
+lag ich in der Hängematte und ließ mir von ihm die Kissen unter den Kopf
+schieben.
+
+»Sie sind müde?«
+
+»Sehr!«
+
+»Ihr Leben ist Seelen-Selbstmord.«
+
+Seine Hand glitt sanft über meine Stirn. Viele bunte Schmetterlinge
+gaukelten über ein Meer gelber Blumen, und zwei Libellen tanzten über
+dem kleinen stillen Teich zärtlich miteinander. Vom Herzen aus zuckte
+ein schneidendes Weh mir durch den Körper, die Augen füllten sich mit
+Tränen. Was war es nur, das mich überwältigte?!
+
+»Wie Ihre Jugend um ihr Leben weint!« sagte leise der Mann neben mir.
+Meine Jugend?! Kaum wußte ich noch, ob ich alt war oder jung. Ich stand
+wohl schon lange jenseits jeden Alters!
+
+Schweigsam fuhren wir beide nach London zurück. Ich fühlte die Hand
+meines Begleiters auf der meinen -- streichelnd, schützend. Nachts
+schluchzte ich verzweifelt in die Kissen, und morgens, als ich mich zur
+gewohnten Arbeit am Fenster niedersetzte, schweiften meine Gedanken weit
+hinaus über die Baumwipfel -- in den glühenden Sommertag -- in das
+Leben. Ich ging umher, mir selbst fremd geworden, mit anderen Augen. Ich
+entdeckte im Spiegel mein Gesicht wie das einer Fremden. Mechanisch
+löste ich die Witwenhaube aus den Haaren. »Georg -- Georg --« schrie es
+in mir, »nie bin ich deine Frau gewesen -- wie kann ich deine Witwe
+sein?!«
+
+Die Menschen um mich kamen mir verändert vor: ich fühlte Männerblicke,
+die das Weib in mir suchten und nicht die Gesinnungsgenossin, und
+Händedrücke, die andere Empfindungen verrieten als die bloßer
+Freundschaft. Und wenn ich auf den grünen Wiesen im Hydepark blonde
+rosige Kinder sah, kam ich mir vor wie eine Ausgestoßene. Drangen aber
+gar durch die Nacht aus den Gärten rings umher sehnsüchtig-süße Lieder
+an mein Ohr, so war mir, als hätte ich jetzt schon Georgs Vermächtnis
+die Treue gebrochen.
+
+ * * * * *
+
+Eines Nachmittags -- mein Aufenthalt neigte sich seinem Ende zu -- trat
+eine einfache, starkknochige Frau, die weißen Haare straff aus der Stirn
+gezogen, an unseren Teetisch und streckte mir eine harte,
+unbehandschuhte Hand entgegen: »Sie kennen mich wohl nicht mehr?« Ich
+sprang auf, fast hätte ich sie in die Arme gezogen: »Amie Hicks?! Sie
+haben mir Londons Elend zeigen wollen! Wollen Sie es noch tun, -- gleich
+jetzt?« Sie lachte verwundert über meinen plötzlichen Eifer, aber ich
+ließ sie nicht los und wir verabredeten zunächst einen gemeinsamen
+Besuch im Bureau des Zentralkomitees für Frauenarbeit.
+
+Was ich dort kennen lernte, erregte mein höchstes Interesse: Man
+hatte sich zur Aufgabe gestellt, die Lage der erwerbstätigen
+Frauen zu untersuchen und die Resultate zu veröffentlichen,
+gewerkschaftliche Organisationen zu schaffen und zu unterstützen, die
+Arbeiterinnenschutz-Gesetzgebung zu studieren und ihre Weiterentwicklung
+durch mündliche und schriftliche Propaganda zu fördern. »Wir sind
+gewissermaßen ein Arsenal und liefern der Arbeiterbewegung die Waffen,«
+sagte mir eine der Leiterinnen; »und wir schaffen zugleich die
+Möglichkeit, daß die Frau der begüterten Kreise die Lage der Arbeiterin
+kennen lernt, und die Arbeiterin andererseits sich der Kenntnisse der
+bürgerlichen Frau bedienen kann,« fügte eine andere hinzu. Der Plan,
+etwas Ähnliches in Berlin zu gründen, reifte in mir: der
+Arbeiterbewegung Waffen liefern, war mindestens so nützlich, als selbst
+die Waffen tragen. Es war praktisch im Grunde dasselbe, was die Fabier
+theoretisch leisteten, es würde wertvolle Kräfte in den Dienst des
+Sozialismus zwingen, -- ihrer selbst fast unbewußt. Es ermöglichte mir,
+außerhalb der Partei für die Partei zu wirken. Mit krampfhafter
+Anstrengung zuerst und dann mit wachsender Anteilnahme vertiefte ich
+mich in das Studium meiner Aufgabe. Ich flüchtete aus den blühenden
+Gärten in die engen Straßen zwischen die geschwärzten Mauern, wo kein
+Baum und kein Vogel den Sommer verrät und seine Glut, die draußen vor
+den Toren die Knospen wach küßt, nichts hervorruft, als ekle Dünste und
+giftige Miasmen. Je mehr ich ihm entfloh, desto grauer und stiller wurde
+es auch wieder in mir. Eilig, wie die andern, ohne rechts oder links zu
+sehen, lief ich durch die Stadt, über klebrige Höfe, steile Treppen
+hinauf in die Bureaus der Fabrikinspektionen und der Gewerkschaften, zu
+Besuchen, Sitzungen und Versammlungen. Zahlen, nichts als Zahlen hörte
+ich -- neben den Lohntabellen, die Arbeitsstunden und die Wochen der
+Arbeitslosigkeit --, sie verfolgten mich bis in meine Träume,
+verschwammen ineinander und schoben sich vor meinen Augen dichter und
+dichter zusammen, bis sie nichts waren als ein einziges schwarzes
+Trauergewand, das Himmel und Erde verhüllte.
+
+»Nun bleibt mir nur noch übrig, die Illustration zu Ihren Tabellen zu
+sehen,« sagte ich eines Abends zu Amie Hicks, die die Arbeiterinnen der
+Zündholzfabrikation -- ihre Kolleginnen -- organisiert hatte. Sie wandte
+sich an eine junge Soldatin der Heilsarmee, die bescheiden im
+Hintergrund stand. »Wollen Sie unsere deutsche Freundin heute nacht nach
+Whitechapel mitnehmen?«
+
+Das Mädchen sah mich zweifelnd an: »Wenn die Dame sich nicht fürchtet
+-- und sich entschließt, unsere Kleidung anzuziehen.« Ich war natürlich
+zu allem bereit. Ehe wir uns am späten Nachmittag auf den Weg machten,
+steckte ich mir die Taschen voll kleiner Kupfermünzen. »Das hat keinen
+Zweck,« lächelte meine Begleiterin, »es sind ihrer viel zu viele!«
+Unterwegs erzählte sie mir von ihrer Arbeit: einem unaufhörlichen Kampf
+mit Laster und Not, einer stündlichen Aufopferung der eigenen Person,
+und ihr schmales Gesichtchen strahlte dabei wie das ihrer
+Altersgenossinnen, wenn sie von Karnevalstriumphen zu berichten haben.
+»Was führte Sie zu Ihrem Beruf?« frug ich. »Jesus rief mich!« antwortete
+sie einfach.
+
+Es fing an zu dämmern. Die Straßen schrumpften zusammen, während die
+Menschenmassen unheimlich anschwollen. In ihrer Kleidung schienen die
+Farben mehr und mehr zu erlöschen, und die Unterschiede zwischen Alter
+und Jugend verwischte ein gleichmäßiger Ausdruck, zwischen Leid,
+Stumpfsinn und Gemeinheit schwankend. Kinder keuchten mit Säcken beladen
+über die Gassen -- »Heimarbeiter«, bemerkte meine Begleiterin
+lakonisch --, an den Rinnsteinen hockten andere in langen Reihen, und
+wühlten mit schmutzstarrenden, mageren Fingerchen im Straßenkehricht.
+Ein kleiner Bub mit krummen Beinen wollte sich eben heimlich mit dem
+gefundenen Rest einer Banane aus dem Kreis der Gefährten davon
+schleichen. Ein triumphierendes Grinsen verzerrte sein Gesichtchen. Aber
+schon fielen die anderen wutheulend über ihn her und rissen ihm die
+fadenscheinigen Lumpen von dem armen rhachitischen Körper. Er weinte
+nicht, er duckte sich nur ein wenig und versuchte die zertretene Banane
+vom Pflaster abzukratzen, aus seinen verschwollenen Augen traf mich
+dabei ein Blick voll grenzenloser Verzweiflung.
+
+Wir bogen in eine langgestreckte schmale Sackgasse ein. »Nehmen Sie sich
+in acht,« warnte meine Begleiterin, als wir in eines der offenen Häuser
+traten, »die Treppen haben keine Geländer.« Ich tastete mich hinter ihr
+vorwärts, während ein pestilenzialischer Geruch mir den Atem benahm. Wir
+stießen eine Türe auf, die weder Griff noch Schlüssel hatte. Ein
+schwerer grauer Dunst von Staub und Schweiß schlug uns entgegen,
+gespensterhaft bewegten sich die Gestalten der Bewohner dahinter,
+während das Rattern und Quietschen schlecht geölter Nähmaschinen jeden
+anderen Ton verschlang. Dicht aneinandergedrängt saßen Männer und Frauen
+um den Tisch, auf dem ein kleines Lämpchen vergebens versuchte,
+spärliches Licht zu verbreiten; an dem einzigen Fenster standen die
+Maschinen, von zwei Kindern in Bewegung gesetzt. Keines der dunkeln
+Köpfe hob sich bei unserem Eintritt. Nur als mein Kleid eine der Frauen
+streifte, sahen ein paar schwarze Augensterne mich prüfend an.
+»Russische Juden,« sagte meine Begleiterin und wandte sich dem
+finstersten Winkel des Zimmers zu. Eine durchsichtig weiße Hand streckte
+sich ihr entgegen. »Er ist schwindsüchtig,« flüsterte sie. Zögernd trat
+ich näher. In einem armseligen Bett, mit Haufen bunter Stoffreste statt
+mit Kissen gefüllt, lag ein Mann, das blasse durchgeistigte Antlitz von
+schwarzen, langen Haaren umrahmt; strahlend richteten sich seine
+fieberglänzenden Augen auf das junge Mädchen, aber die Milch, die sie
+aus ihrem Körbchen nahm, enttäuschte ihn; erst als sie ein kleines Buch
+in seine schlanken Finger legte, lächelte er sie dankbar an. »Ich habe
+auch wieder ein Gedicht geschrieben --,« sagte er und zog einen Fetzen
+Zeitungspapier aus den Lumpen hervor, am Rande dicht bekritzelt.
+
+»Nicht einmal Knöpfe kann er mehr annähen,« tönte eine rohe Stimme neben
+uns. »Wenn es doch bald zu Ende wäre, -- gestern spuckte er Blut auf ein
+fertiges Hemd --«
+
+Ich mußte mich einen Augenblick schwindelnd an den Pfosten des Torweges
+lehnen, als wir hinunterkamen. Es war inzwischen ganz dunkel geworden.
+Unter der nächsten Türe stand ein Mädchen mit entblößter Brust und
+sprühenden Augen. »Marianne!« -- Vorwurfsvoll tönte die Stimme meiner
+Begleiterin. Ein rauhes Lachen antwortete ihr. »Ich will leben!« stieß
+das Mädchen zwischen den Zähnen hervor. -- »Leben!« -- wiederholte sie
+noch einmal mit einem langgezogenen Nachtigallenton. Wir gingen an ihr
+vorbei in die niedrige Stube; eine verrostete Eisenbettstelle, ein paar
+Kisten bildeten die ganze Einrichtung. Am Herd in der Ecke stand ein
+altes Weib mit den gedunsenen Zügen der Trinkerin, auf dem
+feuchtglänzenden Lehmboden kroch eine Schar kleiner Kinder. Meine
+Begleiterin hatte gerade begonnen, einem der kleinsten die wunden
+Füßchen zu verbinden, da sprang unter wüstem Gekreisch die Türe auf: --
+das Mädchen von draußen stolperte, von ein paar braunen Fäusten
+gestoßen, ins Zimmer, zwei Schwerbetrunkene hinter ihr. Sie warf sich
+aufs Bett, -- ich floh, von Entsetzen gepackt, aus dem Hause.
+
+In den Straßen brütete gewitterschwangere Julinacht. Junge und alte
+Weiber, von Elend, Laster und Krankheit gräßlich gezeichnet, Männer,
+deren Kleidung einen Fuselgeruch ausströmte, Kinder, die eine Kindheit
+nie gekannt hatten, strichen an uns vorbei. »Gibt es in der Welt noch
+einmal solche Hölle,« stöhnte ich und wischte mir die Schweißtropfen von
+der Stirn. »O, -- in Glasgow, in Liverpool, in Manchester ist es
+ebenso --,« sagte meine Begleiterin ruhig.
+
+An der nächsten Straßenecke ballten sich die Menschen zu einem schwarzen
+Knäuel. Qualvolle Schmerzensrufe drangen daraus hervor. Wir liefen
+vorwärts, -- alles machte uns Platz, -- die Uniform der Heilsarmee war
+wie ein Freibrief, den selbst die Rohesten respektierten. Auf dem
+Pflaster lag ein Weib und wand sich in Mutterschmerzen. »Er hat sie
+hinausgeprügelt,« schrie ein Mädchen, das neben ihr kniete und ballte
+wütend die Fäuste. Meine Begleiterin war im Augenblick bei ihr. Es war
+keine Zeit mehr zu verlieren. In die Menschen um uns her kam ein
+seltsames Leben, sie liefen in die nächsten Häuser, atemlos, -- sie
+kehrten zurück, -- auch der Elendeste mit vollen Händen. Tücher, Kissen,
+Decken breiteten sich um die Kreißende aus; ein weißhaariges Mütterchen
+mit gekrümmtem Rücken schleppte stöhnend Eimer voll Wasser herbei, ein
+alter Mann humpelte hastig auf seiner Krücke näher und legte mit
+zitternden Händen seine zerschlissene Jacke über die Jammernde. Ein
+Sekunde lang war es ganz still, -- das Leben schien den Atem anzuhalten,
+da -- ein gellender Schrei, der die Nacht zerriß, -- das Kind war
+geboren, das unselige Kind der Straße. Zurückgelehnt in dem Schoß der
+Nächsten lag das Weib. Laternenlicht fiel grell auf ihre eingesunkenen
+Wangen, die weitaufgerissenen Augen drehten sich in den Höhlen, suchend
+griffen die Finger in die leere Luft, dann noch ein Zucken, ein rauhes
+Röcheln, -- es war vorüber. Und um die tote Mutter knieten ringsum im
+Schmutz der Straße die Genossen ihres Jammers ...
+
+ * * * * *
+
+Der Sonnenzauber hatte keine Macht mehr über mich.
+
+Ich hatte nur noch ein Achselzucken, wenn ich die Macht der
+Gewerkschaften preisen hörte -- »die Sattgewordenen vergaßen zuerst der
+Hungernden« --, und ein verächtliches Lächeln für die Größe und
+Einheitlichkeit sozialer Hilfsarbeit, die sich von Rechts wegen
+bankerott erklären müßte. Hier galt es nicht mehr, Einzelne vor dem
+Ertrinken zu retten, und Wunden zu verbinden, hier galt nur eins: die
+alte Welt, die ihre eigenen Kinder mordete, zu zerstören, um der neuen
+Platz zu schaffen.
+
+
+
+
+Zweites Kapitel
+
+
+»Sie wollen wirklich alle Bücher verkaufen?!«
+
+Der junge Student, der vor mir stand, blickte mich vorwurfsvoll an. Er
+war gekommen, mir beim Ordnen der philosophischen Bibliothek meines
+verstorbenen Mannes behilflich zu sein.
+
+»Mit wenigen Ausnahmen, -- ja!« antwortete ich mit erzwungener Ruhe.
+»Sie sehen selbst: in der neuen Wohnung fehlt es an Platz für sie, --
+und außerdem werde ich sie kaum je benutzen. Ich werde mit Überlegung
+einseitig!« Dabei wies ich lächelnd auf die dickleibigen
+Fabrikinspektorenberichte, die vor mir lagen. Er begab sich stumm,
+gesenkten Kopfes an die Arbeit. Wie herzlos, daß ich Georgs geliebte
+Bücher verkaufte, dachte er jetzt gewiß. Durfte ich ihm sagen, daß ich
+sie verkaufen mußte? Daß ich gestern mit dem letzten, was ich besaß,
+Georgs Grabdenkmal bezahlt hatte, -- einen schönen hohen Marmorblock,
+auf dem in großen goldenen Lettern sein Wahlspruch stand, der nun auch
+der meine war: »Wir leben durch die Menschen, laßt uns für die Menschen
+leben.«
+
+Mama hatte mir eben aus Pirgallen entrüstet über meine Verschwendung
+geschrieben: »Ein schlichter Stein mit Georgs Namen wäre ausreichend
+gewesen.« Ich lächelte unwillkürlich. Arm sind doch nur die Menschen,
+die niemals verschwenden können! Ich war ja sonst so schrecklich
+vernünftig. Treppauf, treppab war ich seit meiner Rückkehr aus England
+gelaufen, um eine Wohnung zu finden, die meinen Mitteln entsprach. In
+einem Hof der Kleiststraße, drei Treppen hoch, hatte ich sie endlich
+gefunden: zwei Zimmer mit dem Blick auf eine Mauer, die eine riesige
+gemalte Schweizer Landschaft schmückte. Zu allerhand öder
+journalistischer Tagesarbeit hatte ich mich verpflichtet, um in der
+übrigbleibenden Zeit meiner Aufgabe leben zu können. In vier Wochen zog
+ich um, bis dahin mußte auch sie festere Gestalt gewinnen.
+
+Ich hatte mich zunächst schriftlich an eine Anzahl hervorragender
+Politiker und Sozialpolitiker gewandt, bei denen ich ein Interesse für
+die Sache voraussetzen konnte, und ihnen meinen Plan eines
+Zentralausschusses für Frauenarbeit auseinandergesetzt. Sehr höflich,
+sehr zuvorkommend hatten sie mir geantwortet. »Ihr Plan hat meine volle
+Sympathie,« schrieb mir eben Theodor Barth. »Ich habe nur Bedenken, ob
+er sich in seinem vollen Umfang in absehbarer Zeit durchführen läßt.
+Nach meinen Erfahrungen scheitern sehr viele an sich vortreffliche
+Reformbestrebungen gerade daran, daß das Ziel von vorn herein zu weit
+gesteckt ist. Meines Erachtens sollte man zunächst einmal an eine
+Sammlung und Sichtung von Material, die Bedingungen der Frauenarbeit
+betreffend, herangehen, wie das sub 1 Ihres Programms ja auch in
+Aussicht genommen ist. Unternehmer und Arbeiter müßten allerdings
+zusammenwirken und Vorurteile -- speziell auch gegen die
+Sozialdemokratie -- dürften keine Rolle spielen ... Leider ist meine
+Arbeitskraft schon anderweitig so stark in Anspruch genommen, daß ich
+wohl mitraten, aber nicht mittaten kann ...«
+
+Diesen Satz enthielt noch jeder Brief, den ich erhalten hatte. Warnungen
+vor der Gefahr sozialpolitischer Dilettantenarbeit, Besorgnisse, Wasser
+auf die Mühlen der Sozialdemokratie zu treiben, bedenkliche Fragen nach
+der finanziellen Fundierung des Unternehmens wiederholten sich oft. »Auf
+alle Fälle ist der Zeitpunkt schlecht gewählt,« hieß es in einem
+Schreiben, das Dr. Jacob, mein alter Gegner aus der Ethischen
+Gesellschaft, an mich richtete, »jetzt, im Jubiläumsjahr, wo das
+unverantwortliche, antipatriotische Verhalten der Sozialdemokratie
+selbst solche Kreise erbittern muß, die vielen ihrer Forderungen
+sympathisch gegenüberstanden, ist nicht der Augenblick, um zu
+gemeinsamer Arbeit aufzurufen. Ich bezweifle auch, daß Sie Kapitalien
+finden, die Ihnen zu solchem Zweck die immerhin recht erheblichen Mittel
+zur Verfügung stellen werden.« Und Frau Schwabach, die einzige unter den
+Frauenrechtlerinnen, der ich ein ernsteres Verständnis der Sache
+zutraute, war gleichfalls voller Bedenken gewesen. »Wir müssen zuerst
+die Peinlichkeiten ausbilden, die zu solcher Arbeit fähig sein sollen,«
+hatte sie gesagt. Das alte Lied, das die Gewissen einlullt, das
+Selbstvertrauen betäubt und die Schuld trägt, wenn vor lauter
+Vorbereitung zur Tat die Tat selbst von einem Tage zum andern verschoben
+wird.
+
+Heute nun erwartete ich Martha Bartels mit zwei ihrer Freundinnen --
+Arbeiterinnen wie sie --, um ihr Urteil zu hören und ihren Rat, der mir
+der weitaus wichtigste erschien, zu erbitten.
+
+»Sie müssen für heute aufhören, mein lieber Schmidt,« wandte ich mich an
+den Studenten, der vor den letztem Regalen des Bücherschranks hoch oben
+auf der Leiter stand, »es ist unverantwortlich von mir, daß ich Ihre
+Kraft und Zeit schon so lange in Anspruch nehme.«
+
+Er fuhr, wie aus einem Traum erwachend, zusammen und strich sich die
+dichten schwarzen Haare aus der heißen Stirn.
+
+»Muß ich wirklich schon fort?« Hastig wandte er sich um und rieb die
+roten, knochigen Hände wie fröstelnd aneinander. Ich nickte, denn schon
+hörte ich draußen die Klingel. Langsam stieg er die Leiter hinab.
+
+»Ach, -- wenn ich doch wirklich etwas für Sie tun könnte --,« damit
+senkte er den Kopf tief auf meine Hand.
+
+In dem Augenblick öffnete sich die Türe, und die drei Frauen traten ein.
+Sie sahen uns, wechselten sekundenlang einen vielsagenden Blick, ein
+leises spöttisches Lächeln kräuselte die Lippen der einen, der großen,
+hageren; -- ein Gefühl, als hätte mich jemand mit Schmutz beworfen,
+beschlich mich. Flüchtig erinnerte ich mich, daß meine Mutter die
+Anwesenheit eines jungen Herrn bei mir, der Witwe, für unpassend erklärt
+hatte, -- aber waren nicht diese Frauen Vorkämpferinnen einer freien
+Weltanschauung?! Ich richtete mich gerade auf, zog meine Hand aus der
+sie noch immer umklammernden; mit einer ungeschickt eckigen Verbeugung
+drückte sich der junge Student an den neuen Gästen vorbei zur Türe
+hinaus.
+
+Bei Kaffee und Kuchen überwanden meine Besucherinnen die erste
+Verlegenheit. Sie hatten sich in den besten Sonntagsstaat geworfen und
+saßen kerzengerade auf den weichen Lehnstühlen; bei jeder Bewegung
+krachten die engen Taillen ihrer schwarzen Kleider, und die vielen
+bunten Blumen auf ihren Hüten schwankten hin und her. Nur Martha
+Bartels, die nicht zum ersten Male hier war, gab sich ungezwungener.
+
+Irgend etwas in dem Gesicht der kleinen Näherin hatte sich seit unserem
+letzten Zusammensein verändert.
+
+»Nun, Genossin Glyzcinski, was haben Sie uns Gutes mitzuteilen,« sagte
+sie mit einem leisen gönnerischen Ton in der Stimme, den sie damals noch
+nicht gehabt hatte, als sie mich »Frau von Glyzcinski« nannte. Freilich,
+sie hatte ja im Grunde ein Recht dazu, ich war ja jetzt nur eine Novize
+in ihren Reihen --, dachte ich und bezwang die gereizte Stimmung, die
+sich meiner zu bemächtigen drohte.
+
+Mit steigendem Eifer, an der eigenen Sache mich erwärmend, setzte ich
+ihnen meine Pläne auseinander. »Ich brauche dabei Ihre Mitarbeit,«
+schloß ich; »wir können für die Arbeiterinnen nichts tun, was nicht mit
+ihnen geschieht --«
+
+Tiefe Stille. Die drei löffelten in ihren Kaffeetassen, stießen einander
+unter dem Tische an und wollten nicht mit der Sprache heraus. »Ja --,«
+meinte Martha Bartels schließlich gedehnt, »das ist ja alles ganz schön
+und gut, aber was uns das eigentlich angeht --! Wir wissen doch längst,
+wie's bei uns aussieht, und um die Neugierde der Bourgeoisdamen und
+-herren zu befriedigen, oder sie gar in unseren Organisationen
+herumstänkern zu lassen, -- dazu sind wir nicht da.«
+
+Frau Resch, die Hagere, nickte eifrig und warf mir einen giftigen Blick
+zu. Frau Wiemer, ein rundliches Frauchen mit gutmütigen braunen Augen,
+drehte sich hastig auf dem Stuhle um, so daß die Sprungfedern knackten.
+»Da bin ich nun ganz und gar anderer Meinung,« rief sie, »wir wären
+schön dumm, wenn wir so eine Unterstützung von der Hand weisen wollten.
+Wir haben, weiß Gott, keinen Überfluß an Kräften, und wenn wir sie noch
+dazu nach unserem Gutdünken benutzen können --«
+
+Martha Bartels trommelte mit den zerstochenen Fingern auf dem Tisch. »In
+meinem Kreis, Genossin Wiemer, kann ich dafür keine Stimmung machen,«
+sagte sie scharf.
+
+»Na, was das schon ist: Ihr Kreis. Ein halb Dutzend Frauen haben Sie
+neulich in der Versammlung zur Vertrauensperson gewählt, -- das macht
+den Kohl nicht fett!« spöttelte die Angeredete. »Die Männer haben,
+gottlob, auch noch ein Wörtchen mitzureden!«
+
+Frau Resch kicherte: »Sie freilich meinen immer, Sie haben die Männer am
+Bändel --!«
+
+Stumm, in wachsender Verblüffung hörte ich der Debatte zu, die sich mehr
+und mehr ins Persönliche verlor.
+
+»Im übrigen: was ereifern wir uns,« sagte Martha Bartels endlich,
+während sie sich mit hochrotem Gesicht in den Stuhl zurücklehnte. »Zu
+allererst werden wir doch Genossin Orbins Urteil hören müssen.«
+
+Die Frauen verstummten. Wanda Orbin: das war die anerkannte Führerin der
+Arbeiterinnen-Bewegung, eine Frau, die ich aus der Ferne schon längst zu
+bewundern gelernt hatte. Mit der aufreizenden Leidenschaftlichkeit ihrer
+Rednergabe vermochte sie alles mit sich fortzureißen.
+
+Meine Gäste verabschiedeten sich, kühl und verlegen. Nur Frau Wiemer
+schüttelte mir kräftig die Hand und zögerte beim Hinausgehen. »Wir reden
+noch mal miteinander -- unter vier Augen,« flüsterte sie.
+
+Enttäuscht -- mutlos blieb ich zurück. Tiefes Verständnis, freudige
+Zustimmung, warme Kameradschaftlichkeit hatte ich erwartet --!
+
+Am nächsten Morgen kam ein Brief von Martha Bartels: »Seit gestern weiß
+ich nicht, ob Sie wirklich unsere Genossin sind. Was Sie da vorschlagen,
+das kann jede Frauenrechtlerin auch. Es zeigt, daß Sie mit der
+bürgerlichen Gesellschaft noch nicht gebrochen haben, und deshalb können
+wir kein rechtes Vertrauen gewinnen. Ich sehe nun, daß man immer unrecht
+tut, wenn man den schönen Gefühlen der Bourgeoisdamen Glauben schenkt.«
+Hatte sie zu ihrer Enttäuschung nicht ein größeres Recht als ich zu der
+meinen? War mein ganzes Verhalten nicht wirklich ein Rückzug? Versuchte
+ich nicht, nach links und rechts Konzessionen zu machen, damit ich nur
+selbst fein säuberlich auf dem normalen Mittelweg mich erhalten konnte?
+
+In meinen Hoffnungen und Wünschen sehr herabgestimmt, machte ich mich in
+den nächsten Tagen auf den Weg, um die Führer der sozialdemokratischen
+Partei aufzusuchen, bei denen ich mich schon angekündigt hatte.
+
+Ich ging zuerst zu Liebknecht. Er wohnte draußen in der Kantstraße, wo
+inzwischen das neue Berlin aus der Erde schoß wie eine wildwuchernde
+Urwaldpflanze. In der Tauentzienstraße, die vor fünf Jahren nicht viel
+mehr als ein breiter Feldweg gewesen war, reihte sich ein Neubau an den
+andern, -- hohe vier- und fünfstöckige Häuser, mit lauter Wohnungen zu
+neun bis zwölf Zimmern. Wo kam der Reichtum nur her, der so üppig zu
+wohnen vermochte? dachte ich. Und weiter nach dem Westen zogen sich
+Straßen und Straßen hinaus, -- lange Spinnenarme, die über die Felder
+griffen bis fernhin, wo der Grunewald, eine schwarze schmale Linie, am
+Horizont auftauchte. Ratternd und fauchend bewegte sich die
+Dampfstraßenbahn den Kurfürstendamm hinauf ihm entgegen. Wie viel kleine
+gemütliche einstöckige Häuschen zwischen Birkenwäldchen und
+Kartoffelfeldern waren der Spitzhacke hier zum Opfer gefallen! Und der
+Riesenbaum, der an der Straßenkreuzung ein Wahrzeichen der Gegend
+gewesen war hatte einer Kirche weichen müssen. Gut, daß er fiel, dachte
+ich; wie hätten die Mauern den alten Recken beengt, wie hätte seine
+trotzige, rauhe Schönheit ihre Fassadenpracht Lügen gestraft. Die Kirche
+hatte sich noch immer ihrer Umgebung angepaßt, auch hier hatte sie sich
+zu ihr nicht in Widerspruch gesetzt.
+
+In die Kantstraße bog ich ein. Dicht an der Stadtbahnbrücke, im dritten
+Stock, wohnte Liebknecht. Er empfing mich vor einem alten Schreibpult in
+seinem winzigen Arbeitszimmer, das vollgestopft mit Papieren und
+Zeitungen war, so daß dazwischen kaum ein freier Raum zum Treten übrig
+blieb. Sein hartgeschnittenes Gesicht mit den tiefen Furchen, dem Blick,
+der unter buschigen Brauen wie abwesend über einen hinwegsah, den wirren
+dunkeln Haaren über der hohen geraden Stirn, dem grauen ungepflegten
+Bart um das breite Kinn und den seltsam schiefstehenden großen Mund,
+dazu der Rock, der an den Ellbogen und auf dem Rücken speckig glänzte,
+das Hemd darunter mit dem weichen halboffenen Umlegekragen, die
+ausgetretenen Pantoffeln an den graubestrumpften Füßen, -- das alles
+wirkte zunächst wenig anziehend. Dann gab er mir flüchtig die Hand, die
+weich und zart war, -- ich mußte ihn wirklich noch einmal betrachten, um
+zu glauben, daß sie diesem Manne gehörte. Sie gab mir Mut zu reden, ich
+wäre ohne sie am liebsten wieder umgedreht. Ich erzählte ihm auch von
+meinen Erfahrungen mit den Frauen. Er lächelte mit einem gutmütigen
+Spott in den Augen. »Soll ich Ihnen einen wirklich freundschaftlichen
+Rat geben?« sagte er. »Kümmern Sie sich nicht um sie, wenn Sie was
+erreichen wollen. Die sind noch rückständiger als die Männer, können gar
+nicht anders sein. Wo sollen sie auch die Erkenntnis hernehmen, die
+armen Weiber?! Schon alles mögliche, wenn sie rein aus ihrem
+proletarischen Instinkt heraus gute Parteigenossinnen sind.«
+
+Vergebens suchte ich ihn bei meinem Thema festzuhalten, es interessierte
+ihn offenbar nicht; dagegen rief der Name England eine Flut von
+Gedankenverbindungen in ihm wach. Er glaubte meinen rettungslos
+bourgeoisen Standpunkt daran zu erkennen, daß ich zwar mit Burns und den
+Fabiern, nicht aber mit Hyndman und der sozialdemokratischen Föderation,
+die allein den Marxismus in England repräsentierten, verkehrt habe. Mit
+den sprunghaften Übergängen eines glänzenden Geistes, der weder die
+Fähigkeit hat, auf die Interessen des anderen einzugehen, noch die
+Fähigkeit, sich in eine Frage zu vertiefen, kam er von da auf unsere
+auswärtige Politik zu sprechen, auf das berechtigte Mißtrauen Englands
+den offenbaren Weltmachtgelüsten unseres Kaisers gegenüber, auf Rußland,
+an das wir um so näher uns anschließen würden, je weiter wir von
+England abrückten, auf den künstlich ausgepeitschten Hurrapatriotismus
+der Kriegserinnerungsfeiern der Gegenwart, der letzten Endes nur dazu da
+sei, gegen die Sozialdemokratie mobil zu machen und die gescheiterte
+Umsturzvorlage in anderer Form wieder aufleben zu lassen.
+
+Mir war diese Gesprächswendung unbehaglich. Gut, daß ich, ohne
+aufzufallen, schweigen konnte. Hafteten die Eierschalen der
+Vergangenheit noch so fest an mir, daß die Artikel des »Vorwärts« über
+die Gedenkfeiern an den »brudermörderischen Krieg« mir das Blut in
+Wallung brachten? Sie vertraten doch zweifellos Menschlichkeit und
+Gerechtigkeit in weit höherem Maße, als all die mit Orden und Bändern
+behängten Kriegervereinler, die sich wie die Wilden an der blutigen
+Unterdrückung eines Nachbarvolkes noch in der Erinnerung berauschten.
+Liebknecht war in seiner Gegnerschaft gegen jede Art von Chauvinismus
+ein Fanatiker. »National gesinnt ist meines Erachtens nur, wer das Recht
+und das Wohl anderer Nationen ebenso zu achten weiß, wie das der
+eigenen,« sagte er. Und mir wurde bewußt: er fühlte international,
+während ich nur die Idee der Internationalität kühl verstandesmäßig
+anerkannte. Ich sprach das aus, und er nickte eifrig: »Natürlich, -- das
+ist der Unterschied, -- und der kommt zum großen Teil daher, daß das
+Jahr 48 und das Sozialistengesetz mir das Vaterland nahmen und die Welt
+zur Heimat machten. Auch der Proletarier, der nichts besitzt, und der
+Arbeit über alle Grenzen hinweg nachrennen muß, ist von Herzen
+international, und die Hammerstein und Konsorten,« -- er lachte
+boshaft --, »die sich vom Vaterland den Schmerbauch mästen lassen,
+predigen uns Verruchten Patriotismus!« Er unterbrach sich und stand auf.
+Ich wollte gehen »Daraus wird nichts, -- nun müssen Sie noch bei meiner
+Frau Kaffee trinken.«
+
+Ich wurde ins Wohnzimmer geführt. Bei Frau Major X. in Bromberg und bei
+Frau Hauptmann Z. in Brandenburg war es nicht viel anders gewesen --,
+nur daß hier statt der Familienbilder die von Marx, Engels und Lassalle
+an den Wänden prangten, statt des Stichs der Sixtina Walter Cranes
+Maifestzug, und ich damals noch nicht in die rechte Sofaecke genötigt
+wurde. Frau Liebknecht war die typische Gouvernante aus vornehmen
+Häusern, der Bildung und Lebensform nicht die Haut war, sondern das
+Kleid. Ihm war ich irgendwer gewesen, ihr: »Frau von Glyzcinski.«
+
+Es dämmerte schon, als ich mit ihm das Haus verließ. Er ging in seine
+Redaktion, ich in die Ansbacherstraße, wo ich die Eltern aus Pirgallen
+zurückerwarten sollte. »Und für meinen Plan kann ich auf Ihre
+Unterstützung nicht rechnen?« fragte ich nun doch noch einmal. Er blieb
+stehen. »Meine Unterstützung?! Das würde keinem von uns nützen.
+Überlegen Sie sich's selbst noch mal, ob er Ihrer eigenen Unterstützung
+wert ist!«
+
+ * * * * *
+
+Die Stimmung war keine rosige, in der ich Eltern und Schwester empfing,
+und auch sie schienen erregt und niedergeschlagen: Mama hatte die Lippen
+fest zusammengekniffen, so daß sie nur noch wie ein schmaler, blasser
+Strich erschienen, der Vater war feuerrot im Gesicht und räusperte sich
+ununterbrochen, Ilschen hatte verweinte Augen. »Alles ging so gut,«
+flüsterte sie mir hastig zu, als die Eltern ins Zimmer getreten waren,
+und hielt mich im Flur zurück, »da kam es gestern abend wegen der dummen
+Hammerstein-Geschichte zu einer Auseinandersetzung zwischen Onkel Walter
+und Papa. Das Vertuschungssystem sei unanständig, sagte er, während
+Onkel es für notwendig erklärte im Interesse der Partei. Schließlich
+schimpfte Papa -- du kannst dir denken, wie --, und Onkel sagte, Papa
+habe sich wohl bei seiner Tochter, der 'Genossin', angesteckt, -- ein
+Wort gab das andere, Onkel zeigte Papa schließlich die Kreuz-Zeitung mit
+der Notiz über dich -- --«
+
+»So, -- nun haben wir miteinander zu reden --,« unterbrach meines Vaters
+vor Erregung rauhe Stimme die Schwester. Es war ein förmliches
+Verhör ...
+
+»Mitglied der sozialdemokratischen Partei bin ich noch nicht --,« sagte
+ich. Er lehnte sich tief aufatmend mit geschlossenen Augen in den Stuhl
+zurück. Ich wollte fortfahren. Er wehrte mit beiden Händen ab: »Genug --
+genug! Mehr will ich nicht hören -- mehr nicht!« Dann erhob er sich
+schwerfällig, ging zum Schreibtisch und setzte ein Telegramm auf: »Baron
+Walter von Golzow, Pirgallen. Ich habe Alix' Wort. Verlange nunmehr von
+dir Ehrenerklärung. Hans.« Ich wollte widersprechen, -- des Vaters
+rotunterlaufene Augen blitzten mich herrisch an, Ilse faltete hinter ihm
+mit bittender Gebärde die Hände --, ich schwieg. War es Feigheit? War es
+Rücksicht? Oder nichts als schlaffe Ermüdung?
+
+Beim Abendessen wurde mir mitgeteilt, daß die Gartenwohnung auf
+derselben Etage frei geworden sei. »Wir hätten andernfalls umziehen
+müssen, nun ersparen wir das, und du ziehst einfach hierher,« sagte der
+Vater; »dann haben wir Alten wieder unsere beiden Töchter,« fügte er mit
+einem Anflug liebevoller Heiterkeit hinzu und streckte mir über den
+Tisch die Hand entgegen. Nur zögernd legte ich die meine hinein.
+
+»Sehr gütig, Papa, daß du an mich dachtest, aber ich habe schon eine
+Wohnung.« Er brauste wütend auf. Schweigend ließ ich den Wortschwall
+über mich ergehen.
+
+»Ich habe euch meine Überzeugung geopfert,« sagte ich dann fest, »meine
+Freiheit opfere ich euch nicht ...«
+
+Durch die sternenlose Augustnacht ging ich nach Hause. Über die
+menschenleere Straße schwankten ein paar Betrunkene. Wie fürchtete ich
+mich sonst vor ihnen, -- gleichgültig schritt ich heute vorbei, --
+meinetwegen hätten sie mit mir tun können, was sie wollten. Ich war ja
+gar nicht ich, nur ein Schatten dessen, das einst lebendig war. In
+meiner einsamen dunkeln Wohnung warf ich mich angekleidet aufs Bett und
+grübelte stumpfsinnig dem einen Gedanken nach: Warum ich eigentlich den
+Morgen erwarten müßte -- und den Tag -- und wieder einen Tag, und so in
+endloser Reihe die ganze Leere des Lebens?!
+
+ * * * * *
+
+In meinen stillen Zimmern lastete die Luft auf mir. Die Sonne strahlte
+durch die grünumsponnenen Fenster, über die lachenden Gärten, -- wäre
+ich nur erst in meinem neuen Heim, wo ich nichts sah, als eine gemalte
+Landschaft! Von innerer Unruhe getrieben, lief ich in der Stadt umher,
+blieb vor den Schaufenstern stehen und ertappte mich auf einem halb
+unbewußten Verlangen nach hellen Kleidern. Ich saß allein vor dem alten
+verräucherten Kaffee Josty und sah über den Potsdamer Platz hinweg den
+Menschen nach, die schwatzten und lachten und kokettierten, und unter
+die ich mich nicht mischen durfte. Ein Gefühl von wohliger Wärme überkam
+mich, wenn bewundernde Blicke mich trafen, -- ach, und Sehnsucht packte
+mich, unbändige Sehnsucht nach Lebensfreude.
+
+Damals begegnete mir Graf Oer, einer meiner alten Tänzer; er hatte den
+schlechtesten Ruf und war doch einer der verwöhntesten Männer der
+berliner Gesellschaft. Eine aufreizende, schwüle Atmosphäre verfeinerter
+Sinnenlust umgab ihn; schon sein forschender Blick aus halbgeschlossenen
+Augen, sein weicher, langsamer Händedruck ließ die Frauen erröten, denen
+er sich näherte. Mir gegenüber war er ganz teilnehmender Freund. »Ihre
+Blässe erhöht zwar nur Ihren Reiz, schönste Frau,« sagte er, »aber im
+Verein mit Ihrer sylphidenhaften Gestalt« -- seine Blicke wanderten
+förmlich über meinen Körper -- »finde ich sie beängstigend. Sie brauchen
+Sonnenweide wie ein Rassepferd. Was meinen Sie, wenn ich Ihnen täglich
+ein paar Stunden lang meinen Wagen schicke und Sie in den Grunewald
+fahre oder nach Wannsee?« Trotz meiner Ablehnung, die nicht sehr
+energisch gewesen sein mochte, hielt sein elegantes Juckergespann am
+nächsten Morgen vor meiner Türe. War das wonnig, so in den jungen Tag
+hineinzurollen; mit geschlossenen Augen vorbei an den öden Feldern des
+Kurfürstendamms, in den Grunewald hinein, dessen vereinzelte Villen sich
+rasch verloren, bis zu dem kleinen Försterhaus am stillen See, in dem
+die Sonne sich, ihrer Schönheit froh, eitel bespiegelte. »Wie Sie
+genießen können!« sagte Graf Oer, als wir beim Frühstück im Gärtchen
+saßen. »Und Sie wollen lebendigen Leibes ins Kloster gehen! Die Welt ist
+so schön und wartet nur darauf, Sie zu empfangen, -- lassen Sie mich Ihr
+Führer sein --« Ich fühlte seine feuchten, kühlen Lippen auf meiner
+Hand, sein Knie dicht an dem meinen, -- ein unbezwinglicher Ekel
+schnürte mir die Kehle zusammen. Ich sprang auf, raffte mein Kleid und
+verließ ohne ein Wort, ohne einen Blick den Garten. Waren Genuß und
+Gemeinheit Zwillingsgeschwister, so wollt' ich wahrlich ins Kloster
+gehen!
+
+ * * * * *
+
+Zu Hause erinnerte mich ein Brief an den letzten und wichtigsten Besuch,
+den ich im Interesse des Zentralausschusses machen wollte: bei Bebel. Er
+lud mich zum Mittagessen ein, »dabei läßt sich am besten besprechen, was
+Ihnen am Herzen liegt und mich lebhaft interessiert.«
+
+In der Großgörschenstraße wohnte er, einer jener neuen Straßen, die jede
+Fassadenpracht verschmähte und deren üppiger Blumenschmuck verriet, daß
+die vielen kleinen Balkons die Sommerfrische ihrer Bewohner waren.
+
+Ein lächelndes Dienstmädchen in blendend weißer Schürze öffnete mir auf
+mein Läuten an der blank geputzten Klingel. Ein leichter Geruch nach
+frischer Seife drang mir entgegen, und in dem hellen Zimmer, das ich
+betrat, blinkte die Politur der Möbel, daß sich die Bilder an den Wänden
+darin spiegelten. Die vollkommenste Einfachheit herrschte hier, jede
+Spur künstlerischer Kultur fehlte, aber es fehlte auch jeder Versuch,
+Nichtvorhandenes vortäuschen zu wollen. Die kleine, runde Frau, die mich
+herzlich willkommen hieß, mit der schwarzen Schürze über dem schlichten
+Kleid, den von Güte strahlenden Zügen unter den glatten Scheiteln, war
+wie ein Teil dieses Raumes. Sie nötigte mich in den Lehnstuhl neben dem
+Nähtischchen am Fenster, meine Hand fest in der ihren haltend.
+
+»So eine arme, junge Frau,« sagte sie mitleidig; »ich mußte oft an Sie
+denken und an Ihre Einsamkeit, -- ich wäre längst bei Ihnen gewesen,
+wenn ich nicht gefürchtet hätte, zudringlich zu erscheinen.« Mir wurden
+die Augen feucht, -- meiner Einsamkeit hatten sich auch die Nächsten
+nicht erinnert. Mit jener Kunst verständnisvollen Zuhörens, die selbst
+die beste Erziehung nicht zu geben vermag, wenn die Teilnahme des
+Herzens fehlt, ließ sie sich von meinen kleinen Wohnungs- und
+Wirtschaftskümmernissen erzählen. »Was, im Wirtshaus essen Sie --?!« Sie
+schlug die Hände erstaunt zusammen. -- »Kein Wunder, daß Sie so blaß und
+schmal werden; ordentlich herausfuttern müßte man Sie --«
+
+Bebel trat ein, mit einem raschen, elastischen Schritt, die glänzenden
+Augen gerade auf mich gerichtet, während ein Büschel Haare ihm keck, wie
+bei einem Knaben, in die Stirne fiel. Von einer breiten Hand -- zu
+schwer fast für den schmächtigen Körper -- fühlte ich meine Finger
+umschlossen. »Ich freue mich Ihres Besuchs --,« seine Stimme klang im
+Zimmer viel weicher und voller als auf der Rednertribüne, »-- nicht mehr
+allein, weil Sie Glyzcinskis Witwe sind. Nach dem Schriftstück hier --,«
+er hielt das Programm des Zentralausschusses in der Hand, »-- haben wir
+von Ihnen viel Gutes zu erwarten.«
+
+Er nötigte mich in sein Arbeitszimmer, einen kleinen Raum mit wenigen
+gestrichenen Holzmöbeln, blank gescheuerter Diele und musterhafter
+Ordnung. Wir erörterten alle Einzelheiten meines Plans.
+
+»Sie können mit Ihrer Arbeit da einspringen, wo die Regierung nicht
+eine, sondern hundert Lücken gelassen hat. Unsere Beteiligung freilich
+wird sich wohl nur auf Ratschläge beschränken.«
+
+»Damit ist mir nicht gedient!« rief ich. »Wie können wir in die Arbeits-
+und Lebensverhältnisse der Arbeiter Einblick gewinnen, wenn Sie uns
+nicht die verschlossenen Türen öffnen.«
+
+»Ja, glauben Sie, ich wäre der liebe Gott?!« lachte er. »Ich könnte etwa
+den Gewerkschaften befehlen, Ihren Bestrebungen Vertrauen
+entgegenzubringen, oder gar unseren Frauen!!«
+
+Wir wurden zu Tisch gerufen. Kein Diner hatte mir je so gut gemundet wie
+dieses einfache Mittagsmahl. Die besten Stücke wurden mir auf den Teller
+gehäuft.
+
+»Sehen Sie, wie's schmeckt, wenn man nicht trübselig allein an einer
+schmuddeligen Wirtstafel sitzt!« sagte Frau Bebel, befriedigt über
+meinen Appetit. Sie schwieg sonst meist. Nur wenn der lebhafte Gatte gar
+zu heftig irgendeinen Gegner angriff, warf sie ein paar besänftigende
+oder entschuldigende Worte ein, und als er gegen die Junker wetterte,
+sah sie zuerst ihn, dann mich vielsagend an.
+
+»Ach soo --,« er unterbrach sich ein wenig verlegen, »-- Sie gehören ja
+am Ende auch zu ihnen! -- Aber mein Schimpfen ist wahrscheinlich
+ein sanftes Flötenspiel gegen die Töne, die angesichts der
+Kreuzzeitungsaffäre in Ihren eigenen Kreisen angeschlagen werden. Der
+Fall Hammerstein, diese Dekouvrierung eines der Edelsten und Besten,
+kommt den privilegierten Beschützern von Religion und Sittlichkeit
+gerade jetzt gewaltig in die Quere. Und die Sache ist noch lange nicht
+zu Ende, -- die ganze Kreuzzeitungspartei, die den jungen Kaiser vor ein
+paar Jahren als Zugpferd vor ihren eignen Wagen spannen wollte, wird
+daran glauben müssen.« Er verbreitete sich, immer lebendiger werdend,
+über die politische Lage und die nächsten Zukunftsaussichten. Er sah
+überall Symptome für den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft,
+und auf der anderen Seite Etappen zum Siege des Sozialismus. »Die
+Weltmachtpolitik, die, einmal begonnen, nicht mehr aufzuhalten sein
+wird, ist der Anfang vom Ende. Sie appelliert zwar an die stärksten, an
+die brutalen Instinkte, aber sie führt schließlich mit Notwendigkeit zur
+Auspowerung der Massen und treibt sie uns damit in die Arme, --
+gewisser, als alle Agitation von unserer Seite es vermöchte. Selbst ein
+möglicher Weltkrieg zwischen den Kolonialmächten wäre nur der Auftakt
+der Revolution.«
+
+Ich dachte an Shaw und seine unbedingte Gegnerschaft zu dieser ans
+Fatalistische streifenden Auffassung von der Entwicklung zum Sozialismus
+und warf in diesem Sinn eine bescheidene Frage in die Unterhaltung:
+»Stehen wir nicht in Gefahr, als bloße Zuschauer die Hände in den Schoß
+zu legen, wenn uns die Naturgesetzlichkeit des Sozialismus so zweifellos
+fest steht?«
+
+»Ein Einwurf, der nach dem Katheder schmeckt! Müssen wir nicht die
+Menschen für diese Entwicklung vorbereiten?«
+
+»Also ist alle Gegenwartspolitik der Partei nie Selbstzweck --?«
+
+»Sondern nur Mittel zum Ziel,« rief er lebhaft, »und ihr Wert ist nur
+von diesem Gesichtspunkt aus zu bemessen!«
+
+»Wie habe ich danach Ihr Interesse für meinen Plan einzuschätzen?« frug
+ich lächelnd. »Als bloße Höflichkeit etwa?!«
+
+»Treiben wir Sozialpolitik aus Höflichkeit?! Doch nur, weil eine
+gesunde, kräftige Arbeiterschaft, die Zeit hat zum Denken und zum
+Wirken, die Armee ist, die wir haben müssen.«
+
+Ich streifte mechanisch die Handschuhe über die Finger. Mein Herz schlug
+in dem raschen Takt der Melodie, die dieser Mann angeschlagen hatte. Der
+Glaube an die Sache --, das war das Unüberwindliche in ihr. An der Tür
+hielt mich Bebel noch einmal auf: »Ich rate Ihnen, wenn Sie irgend etwas
+im Kreise unserer Genossinnen erreichen wollen, -- setzen Sie sich mit
+Wanda Orbin in Verbindung. Am besten, fahren Sie zu ihr. Ist sie gegen
+Ihren Plan, so haben Sie alle miteinander gegen sich!«
+
+Noch am selben Abend schrieb ich an Frau Orbin, um ihr meinen Besuch
+anzukündigen; zugleich bat ich sie, in ihrer Zeitschrift, der
+»Freiheit«, meine Idee zur Diskussion stellen zu dürfen. Sie antwortete
+umgehend, aber was sie schrieb, klang wenig ermutigend: Wenn mein Weg
+mich über Stuttgart führe, so würde ihr mein Besuch willkommen sein; zu
+einer Reise, eigens ihretwegen, könne sie mir jedoch nicht raten, da sie
+zwecklos sein würde; von einer Veröffentlichung meines Plans in ihrer
+Zeitschrift könne auch keine Rede sein: »... die 'Freiheit' ist ein rein
+sozialdemokratisches Blatt, an dem ich grundsätzlich nur solche
+Mitarbeiter zulasse, die auf dem Boden des Klassenkampfes stehen.«
+Trotzdem beschloß ich, zu ihr zu fahren, und wäre es nur, um die
+Bekanntschaft dieser Frau zu machen, deren Leben und deren
+Persönlichkeit ein wahrhaft vorbildliches zu sein schien. Bebel, den ich
+in dieser Zeit öfter sah, erzählte mir viel von ihr: wie sie sich mit
+Peter Orbin, einem russischen Sozialisten, in freier Ehe verbunden habe,
+ihm nach Paris in Elend und Verbannung gefolgt sei und das schwere
+Siechtum, das über ihn hereinbrach, jahrelang vor ihren Freunden zu
+verstecken verstand, indem sie in seinem Namen korrespondierte, in
+seinem Namen Artikel schrieb und mit zwei kleinen Kindern und dem
+kranken, ständiger Pflege bedürftigen Mann nicht nur das tägliche Brot
+für alle schaffte, sondern auch imstande war, für die Partei
+unermüdlich zu agitieren. Mir schwindelte vor dieser Leistungskraft;
+meine Schmerzen, meine Kämpfe schrumpften davor kläglich zusammen.
+
+»Ihre Nerven freilich hat sie dabei ruiniert,« fügte Bebel schließlich
+hinzu.
+
+An einem Abend hatte ich Liebknechts und Bebels zu mir geladen. Längst
+erloschene Gesellschaftsvorfreuden empfand ich wieder in der Erwartung
+dieser Gäste. Zum erstenmal vermißte ich schmerzlich all die vielen
+graziösen Geräte, mit denen ich als Haustochter die Festtafel zu
+schmücken verstand, -- ich hatte nicht einmal genug Messer und Gabeln!
+Schweren Herzens entschloß ich mich, bei den Eltern zu borgen, was am
+notwendigen fehlte.
+
+»Du gibst Gesellschaften?« frug Mama erstaunt. »Kaum ein halbes Jahr
+nach dem Tode deines Mannes?!«
+
+»Nur ein paar Interessenten meines Zentralausschusses --,« antwortete
+ich ausweichend, während die Scham über diese verlogene
+Geheimniskrämerei mich erröten machte. War es Zufall oder Absicht, daß
+mein Vater, kurz ehe ich meine Gäste erwartete, zu mir kam und Anstalten
+machte zu bleiben? In quälender Angst saß ich vor ihm, alle erdenklichen
+Gründe ersinnend, um ihn, ohne ihn zu verletzen, zum Gehen zu nötigen.
+Endlich stand er auf. »Meine eigene Tochter wirft mich hinaus,« sagte er
+mit einem müden, wehen Ton in der Stimme. »Lieber -- lieber Papa! --«
+ich schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn. In diesem Augenblick
+kam ich mir vor wie ein Verräter. Der Abend, auf den ich mich so gefreut
+hatte, war für mich eine Qual.
+
+ * * * * *
+
+Am nächsten Morgen fuhr ich nach Stuttgart. Ein unbestimmtes Hoffen, das
+wie durchleuchtet war von froher Ahnung, erfüllte mich: irgend etwas
+ganz Ungewöhnliches würde geschehen. Auf dem Bahnhof empfing mich Frau
+Orbin. Ihre Erscheinung war nicht die imponierende, die ich mir
+vorgestellt hatte. Ich sah zunächst nichts als eine breite untersetzte
+Gestalt und einen großen Hut mit zerzausten Federn, der windschief auf
+ihrem Kopfe saß und ihre Züge beschattete. Fast hätte ich sie nicht
+wiedererkannt, als sie ihn abgenommen hatte und sich im Speisezimmer des
+Hotels zu mir setzte. Rotblonde Haare bauschten sich wellig um Stirn und
+Schläfen, helle Augen, in allen Lichtern des Regenbogens spielend, sahen
+mir gerade ins Gesicht, auf der Stirn, um Nase und Mund gruben sich
+kleine senkrechte Falten, die zu der noch jugendlich-weichen Rundung
+der Wangen in peinlichem Mißverhältnis standen. Ohne alle
+Höflichkeitspräliminarien begann sie sofort meinen Plan rücksichtslos zu
+zerzausen. Sie sprach mit nervöser Überstürzung, die Worte jagten
+einander, als wollte eins das andere verschlucken. »An eine
+Zusammenarbeit von uns und Ihnen ist natürlich gar nicht zu denken.
+Sollte von anderer Seite etwas der Art für möglich erklärt worden
+sein --,« ein mißtrauisch-fragender Blick traf mich, -- »so würde
+ich jede solche Absicht auf das Schärfste bekämpfen. Der politische
+Kampf ist für uns das A und O. Darum ist jede Harmonieduselei mit
+bürgerlichen Elementen vom Übel und kann nur verwirrend wirken, den
+Klassenkampfcharakter unserer Bewegung verwischen. Nicht die Gegensätze
+überbrücken, wie bürgerliche Idealisten und Ethiker wünschen, sondern
+sie auf das Schärfste betonen, ist für uns die Hauptsache. Reinliche
+Scheidung, -- ohne Konzessionen.«
+
+Ich seufzte tief auf. Sie verstand mich falsch und ein feines ironisches
+Lächeln kräuselte flüchtig ihre Lippen. »Das ist freilich nicht immer
+ganz bequem, aber für Menschen wie Parteien die einzig mögliche
+Grundlage ihrer Existenz.«
+
+Sie lud mich für den folgenden Tag zu sich ein. Hätte mich die Frau
+nicht gereizt, der Sache wegen schien der Besuch keinen Zweck mehr zu
+haben.
+
+In einer Wohnung von puritanischer Schlichtheit empfing sie mich, aber
+ein unbestimmtes Etwas, sei es die Wahl der Bilder, der Fall der
+Vorhänge oder nur die ganze Farbenstimmung des Raumes, verriet das
+künstlerische Empfinden der Bewohnerin. Und als ihre beiden frischen
+Buben hereinstürmten, rotwangig und glänzenden Auges, sah ich hinter der
+Rüstung der Kämpferin den Menschen, die Mutter. Wie reich war sie! --
+Wir gingen nachmittags hinaus vor die Stadt, die bewaldeten Hügel hinan,
+die sie so zärtlich umschließen. Die Kinder und die Natur schienen Wanda
+Orbin zu verwandeln. Sie war viel milder heute. Sie sprach über Kunst
+und Literatur mit dem Verständnis eines selbständigen Geistes und der
+Wehmut unglücklich Liebender. »Das alles ist eingeschlafen, hat
+einschlafen müssen gegenüber der großen, umfassenden Aufgabe,« sagte sie
+schließlich, und ihre Augen bekamen wieder den fiebrigen Glanz des
+Fanatismus.
+
+Kaum waren wir in ihrer Wohnung, als ein Mann zu ihr hereinstürzte,
+atemlos eine Depesche hin- und herschwenkend, während ihm hinter den
+Augengläsern die dicken Tränen über die bärtigen Wangen liefen. »Engels
+-- Engels ist tot --,« stieß er mühsam hervor. Mit einer abwehrenden
+Bewegung der Hände -- breiter kurzfingeriger Hände, die aussahen, als
+hätte der Bildhauer Natur sie nur in rohen Umrissen skizziert und
+vergessen, sie auszuführen -- starrte Wanda Orbin dem Unglücksboten
+sekundenlang ins Gesicht. Dann warf sie die Arme empor und brach in ein
+konvulsivisches Schluchzen aus, unter dem ihr Körper immer heftiger zu
+zittern begann. Ihre Füße würden die Schwankende nicht mehr tragen,
+dachte ich, und schob ihr vorsichtig einen Sessel zu, in dem sie haltlos
+versank. Inzwischen hatte sich das Zimmer gefüllt: die Eintretenden
+tauschten miteinander warme Händedrücke. Alles sammelte sich um die
+weinende Frau, leise Flüstergespräche, als läge der Tote mitten unter
+ihnen, flogen nach langer beängstigender Stille hin und her. Eine
+Familie war dies, die Stärkeres zusammengeschweißt hatte als das Blut:
+aus gemeinsamen Empfindungen, Gedanken und Idealen entsprang die Tiefe
+gemeinsamer Trauer um den, der ihr Führer gewesen war. Auf Zehenspitzen
+schlich ich hinaus und fühlte doch mit überwältigender Gewißheit, daß
+ich dazu gehörte.
+
+Spät am Abend kam Wanda Orbin noch einmal zu mir, -- sehr weich, sehr
+liebevoll. »Sie hätten bleiben dürfen, Sie sind uns doch keine Fremde,«
+sagte sie. Da gewann ich Vertrauen und erzählte ihr von den Zweifeln und
+Kämpfen der letzten Wochen. Ich sah, wie sie lächelte, -- nachsichtig
+wie eine Mutter über Kinderleiden, aber es verletzte mich nicht. »Im
+Zwiespalt der Empfindungen kann niemand dem anderen helfen,« meinte sie
+dann. »Ich weiß nur eins gewiß: ist Ihre Überzeugung erst vollkommen
+klar und unerschütterlich, so verschwindet vor ihr das bloße Gefühl, wie
+Sommerschwüle vor dem Gewitter. Zu dieser Überzeugung zu gelangen, das
+ist freilich das schwerste. Die Logik der Tatsachen, die
+Lebensverhältnisse pauken dem Proletariat eine Auffassungsweise ein, die
+sich der bürgerliche Idealist mit großer Mühe aneignen muß, wenn es ihm
+überhaupt trotz aller Ehrlichkeit gelingt, den alten Adam der
+bürgerlichen Ideen abzulegen. Es ist so furchtbar schwer, aus seiner
+Haut zu fahren, sich von dem zu befreien, was Vererbung und Milieu aus
+uns gemacht haben.« Ihre Augen schauten wie nach innen.
+
+Wir sprachen noch lange miteinander. Sie riet mir jetzt zur Ausführung
+meines Planes; ich würde durch ihn vielleicht am besten zur Klarheit
+kommen, und an Rat und -- inoffizieller -- Hilfe von ihr sollte es nicht
+fehlen. »Setzen Sie sich in Berlin mit den Gewerkschaften in Verbindung,
+und zwar speziell mit den Konfektionsarbeitern, die infolge der
+Bewegung, in der sie augenblicklich stehen, Ihre Sache als eine
+Unterstützung betrachten dürften. Und dann, vor allen Dingen, suchen Sie
+unseren Genossen Dr. Heinrich Brandt für sich zu interessieren. Gewinnen
+Sie ihn, so ist Ihnen geholfen: er setzt alles durch, was er will.«
+
+Dr. Brandt! -- Ich schloß unwillkürlich die Lider, verloren in
+Erinnerung. »Alle Ströme fließen in unser Meer,« hörte ich eine dunkle
+klingende Stimme sagen, und flüchtig -- ein Traumbild -- tauchte ein
+Mann vor mir auf, blond und schlank, und tiefe graue Augen versanken
+sekundenlang in den meinen.
+
+ * * * * *
+
+Nach meiner Rückkehr schrieb ich sofort an Johannes Reinhard, den Führer
+der Konfektionsarbeiter-Bewegung, und an Heinrich Brandt. Reinhard
+kündigte mir umgehend seinen Besuch an; kurz darnach bestimmte Brandt
+dafür dieselbe Stunde. Im ersten Gefühl starker Freude, über deren
+Ursache ich mir nicht so recht klar war, wollte ich Reinhard
+abschreiben, um den anderen bald und zuerst zu sehen. Über mich selbst
+errötend, zerriß ich die Karte wieder, die ich zu schreiben begonnen
+hatte, und bat statt dessen Brandt, seinen Besuch zu verschieben.
+»Schade,« antwortete er mir, »ich wäre gern gleich gekommen. Vorgestern
+las ich in der wiener 'Zeit' einen Artikel von Ihnen, der mich so
+entzückte, daß der Wunsch, die Verfasserin kennen zu lernen, in mir rege
+wurde. Diesem Wunsch begegnete noch am selben Morgen Ihr Brief.«
+
+Und nun stand Reinhard vor mir, unter der linken Schulter die Krücke,
+das Gesicht noch gelber, als da ich ihn zum letztenmal in der
+Egidyversammlung gesehen hatte, die schwarzen, dünnen Haarsträhnen wie
+festgeklebt um den breiten Schädel und die tief eingefallenen Schläfen.
+
+»Hielte ich Ihren Plan nicht für gut, für notwendig sogar in diesem
+Augenblick, wo der Reichskanzler den Stillstand der Sozialreform nicht
+nur zugab, sondern verteidigte, ich würde nicht so rasch hier sein,«
+begann er die Unterhaltung, indem er sich mühsam, das linke Bein gerade
+ausgestreckt, auf dem Stuhl niederließ. »Wir stehen in der Konfektion
+seit Beginn des Jahres in einer Bewegung, die mir Tag und Nacht keine
+Ruhe läßt -- --«
+
+»Ich weiß: um die Durchsetzung von Betriebswerkstätten handelt es sich,«
+unterbrach ich ihn. »Der Zentralausschuß könnte nichts Besseres
+beginnen, als Sie darin unterstützen.«
+
+Er sah erfreut auf. »Ich sehe, Sie sind orientiert, und so brauche ich
+nur hinzuzufügen, daß Ihr Zentralausschuß auch nirgends reicheres
+Material zur Frage der Frauenarbeit finden könnte als bei uns. Ihren
+londoner Eindrücken, von denen ich in den Zeitungen gelesen habe, würden
+die berliner nicht nachstehen.«
+
+Ich zweifelte an der Möglichkeit ähnlichen Elends bei uns. Nicht einmal
+in der Nacht, wenn ich aus Versammlungen gekommen war, hatte ich so
+bittere Not gesehen, wie sie mir in London bei hellem Tage begegnet war.
+
+»Unsere Ärmsten schämen sich, -- das ist vielleicht der letzte Rest
+Menschlichkeit in ihnen,« meinte er; »seit Wochen mache ich fast nichts
+anderes als Besuche bei den Heimarbeitern. Eben erst war ich bei einem
+alten gelähmten Weibe, das hier im Westen, fünf Treppen hoch, ein
+einfenstriges Zimmer und eine fensterlose, winzige Küche mit ihrer
+Tochter und deren vier kleinen Kindern bewohnt. Von früh fünf bis nachts
+um elf trampelt die Tochter die Nähmaschine, um bestenfalls neun Mark in
+der Woche zu verdienen. Vor wenigen Tagen war ich in einem engen
+Kellerloch, wo eine Witwe mit zwei Kindern wohnt; auf den schimmeligen
+Möbeln, auf dem einzigen wackeligen Bett, liegen elegante Damenblusen,
+für die sie ganze fünf Mark wöchentlich einnimmt.« Reinhard erhob sich,
+rote Flecken brannten auf seinen Backenknochen, und während er
+weitersprach, humpelte er im Zimmer aufgeregt hin und her. »In einem
+anderen Keller, wo die Dielen faulen und die Fenster tief unter der Erde
+liegen, arbeiten zwei Schwestern, -- junge, bleichsüchtige Dinger, --
+für die, die oben in Luft und Sonne lachend vorübergehen. Ist die Ehre,
+die ihr bewahrt habt, das elende Leben wert, -- hätte ich ihnen am
+liebsten zugerufen. Dicht unter dem Dach, in zwei kleinen Löchern, sah
+ich ein Ehepaar mit fünf Kindern und einem Schlafmädchen; den Mann
+zerfrißt auf dem Lager voll Lumpen der Kehlkopfkrebs, die Frau näht
+Knopflöcher für ganze vier Mark in der Woche,« -- klipp -- klapp --
+klipp -- klapp, -- rascher und rascher schlug Reinhards Krücke den Takt
+zu der grausen Melodie --; »eine arme Mutter fand ich in einem
+sonnenlosen Winkel im Norden, sie nähte Hemden, halbfertig lagen sie auf
+dem Bett, wo zwei diphtheritiskranke Kinder mit dem Tode rangen. Und,
+denken Sie nur«, -- er blieb stehen und lachte grell auf, »-- einen
+schneeweißen Mantel, bestimmt für nackte Schultern schöner Frauen, sah
+ich einmal in den Händen einer Syphilitischen --«
+
+»Um Gottes willen -- hören Sie auf!« Auch ich erhob mich. »Warum
+schreien Sie diese Tatsachen nicht auf öffentlichem Markte aus? Warum
+kleben Sie Ihre Berichte nicht an alle Straßenecken? -- Kein
+Reichskanzler würde mehr wagen, den Stillstand der Sozialreform zu
+verteidigen.«
+
+»Wir sind dabei, es zu tun,« antwortete er, und seine Sprechweise nahm
+wieder den Ton der alten sachlichen Ruhe an. »Eine Broschüre, an der ich
+arbeite, wird allen maßgebenden Persönlichkeiten zugeschickt und unserem
+diesjährigen Parteitag vorgelegt werden; wir haben außerdem,
+wie Sie wissen, die Unternehmer vor die Alternative gestellt,
+Betriebswerkstätten einzurichten, oder einer allgemeinen
+Arbeitseinstellung gewärtig zu sein. Kommt es dazu, so wird die
+Öffentlichkeit sich mit uns beschäftigen müssen. Übrigens: --,« er
+dachte einen Augenblick nach, »wie wär's, wenn Sie die Tätigkeit Ihres
+Zentralausschusses auf eigene Faust beginnen und mich bei meinen
+Recherchen zuweilen begleiten würden?«
+
+Dankbar nahm ich sein Anerbieten an. In der nächsten Zeit brachte ich
+fast täglich ein paar Stunden mit ihm zu. Wir kamen in Stadtteile, die
+ich noch nie gesehen hatte, lange, nüchterne Straßenzeilen, die Häuser
+regelmäßig aufgereiht, gleichmäßig grau getüncht; die Öde des Anblickes
+nur noch erhöht durch die äußere Ordnung und Reinlichkeit. Wir schritten
+durch enge Höfe in dunkle Hinterhäuser, die das Licht der Straße nicht
+mehr fürchteten und ohne Scham die Blößen ihrer Not enthüllten. Nach
+Osten, nach Süden führte uns der Weg, wo mitten im kahlen, der Stadt
+schon preisgegebenen Boden hohe Mietskasernen an zerwühlten, werdenden
+Straßen standen. Hier, zwischen den feuchten Wänden, hauste das Elend
+und starrte uns an mit den glanzlosen Blicken erloschenen Lebens, die
+grausamer in die Seele schneiden als die wildesten Schreie der
+Verzweiflung.
+
+Oft, wenn wir aus dem Dunkel sparsam verteilter Laternen kamen und das
+Licht der Friedrichstadt uns blendend empfing, haftete mein Auge
+staunend an den glänzenden Spiegelscheiben der Läden und der
+Restaurants. Prahlend breiteten sich hinter den einen all die
+Herrlichkeiten aus, die den Gaumen laben, den Körper schmücken, das
+Leben bereichern; lachend, scherzend, mit vollen Taschen und glänzenden
+Augen saßen hinter den anderen die reizenden Frauen, deren einziger
+Daseinszweck ihre Schönheit zu sein schien, und die Männer, die ihnen
+huldigen. Wie war es nur möglich, daß die von draußen, aus den grauen
+Häuserzeilen und den werdenden Straßen, nicht dicht gedrängt, auf leisen
+Sohlen, wie Nachtgespenster, hierher sich schoben, um all die Pracht zu
+zertrümmern, das Lachen erstarren zu machen?!
+
+Und in meinem Herzen nistete der Haß sich ein für alle die, die nicht
+mehr hassen konnten.
+
+ * * * * *
+
+Am frühen Morgen des 18. August war es. Eine arme Frau hatte ich
+besucht, die ich auf einem unserer Wege gefunden hatte. Sie war
+sterbenskrank, -- ach, und wie gern wollte sie sterben, wenn nur die
+Kinder nicht gewesen wären, die sie fester als alle Arzeneien der Welt
+ans Leben ketteten. Die durchsichtigen Finger durften sich nicht zum
+Schlafen friedlich ineinanderfalten, sie hielten krampfhaft die weiße
+Leinwand fest, um zierliche Namenszüge, stolze Freiherrn- und
+Grafenkronen hineinzusticken. Ein wenig Hoffnung hatte ich ihr gebracht,
+-- Hoffnung, daß sie bald ruhig werde sterben dürfen. Nun ging ich nach
+Hause, den Kopf gesenkt; die Sonne tat mir weh. An der Königsstraße
+geriet ich in einen Menschenschwarm, der mich mit sich riß: geputzte
+Frauen mit jenem aus Neugierde, Aufregung und Nervenspannung gemischten
+Ausdruck in den Zügen, der gewöhnliche Menschen bei allen großen
+Ereignissen, -- seien es Feuersbrünste oder Hochzeitsfeiern, --
+charakterisiert, Männer im Sonntagsstaat, irgend eine Medaille oder ein
+Kreuz auf der Brust, das in diesen Tagen der Freibrief für alles war:
+Betrunkenheit -- man nannte sie Begeisterung --, Roheit gegen
+Nichtdekorierte, -- man nannte sie Vaterlandsliebe. Ich sah um mich:
+Fahnen flatterten von den Häusern, Straßenverkäufer boten mit krähender
+Stimme Kaisermedaillen aus, von ferne klang Trommelwirbel,
+Pferdegetrappel. Richtig: die Grundsteinlegung des Nationaldenkmals war
+heute.
+
+Mit liebevoller Wehmut, wie die Greisin vergilbte Liebesbriefe, hatte
+der Vater gestern die Generalsuniform aus ihren Seidenpapierhüllen
+herausgeholt, hatte die Stickerei, die Knöpfe und die vielen Orden
+selbst mit einem Lederläppchen abgestaubt und war gewiß heute früh, voll
+Erregung, zum Schloß gefahren.
+
+Jetzt waren wir selbst bis dicht hinter die Schutzmannsketten
+vorgedrungen. Ein Vorwärts gab's nicht mehr, ein Zurück noch weniger. Es
+galt, auszuhalten. Die Galawagen der deutschen Fürsten rollten vorüber
+in ihrer altertümlich schwerfälligen Pracht, dröhnenden Schrittes rückte
+die Garde auf den Schloßplatz, hinter ihr mit wehenden Fahnen Ulanen,
+Dragoner und im blitzenden Küraß die Gardedukorps.
+
+Von hinten hauchte mir ein heißer Atem in den Nacken, der nach
+klebrigem Biere roch; aus dem Halsausschnitt der dicken, kleinen Frau
+neben mir stieg ein süßlicher Schweißgeruch. Mich ekelte vor der
+Erregung der Menge; eindruckslos rauschte sogar die mich sonst
+elektrisierende Musik an meinem Ohre vorüber; wie ein schlechtes
+Ausstattungsstück empfand ich das bunte Schauspiel vor mir.
+Unwillkürlich fiel mir das Modell des Nationaldenkmals ein: wie gut
+paßte es hierher mit seinen unruhigen Tier- und Menschengestalten,
+seinen Fahnen, Kanonen, Gewehren und Säbeln und dem theatralisch
+daherschreitenden Engel, der des alten Kaisers vierschrötiges
+Schlachtroß führt. Von seinem künftigen Standort, dem Winkel vor dem
+Schloß, den man noch dazu dem Wasser hatte abringen müssen, tönten
+Hammerschläge, Kanonendonner fiel ein, die Luft erschütternd, von tiefen
+Glockenklängen untermischt.
+
+Glocken und Kanonen, -- die führenden Instrumente im Orchester der
+bürgerlichen Gesellschaft, mit denen sie das Weinen und Klagen der
+Millionen zu übertönen glaubt! Ich aber hörte es, und ich wußte: der Tag
+wird kommen, wo die Glocken vor ihm schweigen und die Kanonen vor ihm
+verstummen werden.
+
+ * * * * *
+
+Vor dem Spiegel stand ich in meinem Schlafzimmer. Wie lange war es her,
+daß ich nichts als flüchtige Blicke hineingeworfen hatte, die nur der
+Ordnung meiner Haare, meiner Kleidung galten. Heute sah ich mich wieder:
+schärfer waren meine Züge geworden und schmaler mein Gesicht, meine
+Gestalt aber war noch immer die eines jungen Mädchens. Ich lächelte:
+'Frau' von Glyzcinski -- und ein Mädchen, ein altes Mädchen sogar von
+dreißig Jahren! Aber ich wollte nicht alt sein, -- heute nicht. Ich
+fühlte wieder, wie ich rot wurde. Daß das Weib in mir sich nicht töten
+ließ! Wo doch so vieles schon gestorben war!
+
+Es klingelte. Kurz und scharf. Die Aufwärterin hatte ich früh schon nach
+Hause geschickt, sie war so alt und so häßlich. Dem Besuch, den ich
+erwartete, wollte ich selber öffnen.
+
+»Gnädige Frau?!« -- Eine überraschte, fragende Stimme. Ich unterschied
+im Dämmerlicht der Treppe und des Flurs die Silhouette eines Mannes, mit
+dem weiten Mantel über den Schultern, dem breiten Schlapphut auf dem
+Kopf. Ich selbst in meinem schwarzen Kleid mußte ihm nur wie ein
+Schatten erscheinen. Ich ging ihm voran ins Zimmer, das flutendes
+Sonnenlicht durchstrahlte, wie einst, da ich zum erstenmal über die
+Schwelle trat. Ich wendete mich um, -- meine Hand blieb vergessen in der
+Heinrich Brandts. »Wir sind uns -- keine Fremden --,« stotterte ich
+verlegen. »Nein, -- nein --,« antwortete er und sah mich noch immer an.
+Die Uhr auf dem Schreibtisch holte zum Schlagen aus. Ich zuckte
+zusammen, setzte mich hastig, und steif und förmlich lud ich auch ihn
+zum Sitzen ein.
+
+»Nein,« wiederholte er, und seine Augen ließen mich noch immer nicht
+los, während sein Gesicht heller zu werden schien, »-- Sie sind mir
+keine Fremde. Kennen Sie das?« Er zog das graue Heft der Wiener »Zeit«
+aus seiner Rocktasche. »Im Grunde ein ganz dummer, kleiner Artikel, den
+Sie da geschrieben haben, und doch so wundervoll! Ein ganzer Mensch
+steckt dahinter!«
+
+Mir wurde warm ums Herz. Seine Worte streichelten mir die Wangen, seine
+Stimme erfüllte die Luft um mich mit einem einzigen Wohllaut.
+
+»Und Ihr Plan interessiert mich sehr. Ich habe auch gar nicht
+abgewartet, bis Sie endlich die Gnade hatten, mich herzubefehlen«, -- er
+lächelte ein wenig malitiös, »Sie haben, wie ich höre, Freund Reinhard
+den Vortritt gelassen, -- ich habe indessen, ohne zu fragen, den Schritt
+getan, von dessen Erfolg Ihre ganze Sache abhängt.« Ich sah fast
+erschrocken auf. »Oder sollten Sie wirklich nicht daran gedacht haben,
+daß Geld, viel Geld dazu gehört?« Ich nickte lächelnd. »Ich schrieb an
+einen unserer ernsthaftesten und reichsten Sozialreformer und schickte
+ihm Ihr Programm. Ich zweifle nicht, daß er die Sache in angemessener
+Weise finanzieren wird.«
+
+Ich versuchte, ihm zu danken; es kam vor tiefer innerer Erregung
+ungeschickt und hölzern heraus.
+
+»Lassen Sie doch diese Formalitäten!« sagte er. »Wenn jemand Dank
+verdient, so sind Sie es, die den Gedanken hatten. Ich bin bestenfalls
+nichts als sein untergeordnetes Werkzeug.«
+
+Wir sprachen noch lange miteinander. Ich erzählte von allem, was mir
+seit den letzten Wochen das Herz bewegte, und Leidenschaft und Haß und
+Liebe brachen durch die Dämme, die Einsamkeit und Zurückhaltung um sie
+aufgeschichtet hatten.
+
+»Sie sind wie eine Flamme, die lodernd gen Himmel strebt,« flüsterte er
+wie zu sich selbst.
+
+Als er gegangen war, blieb ich regungslos, die Hände fest
+ineinandergekrampft, mitten im Zimmer stehen. War das ein Traum gewesen,
+oder hatte er wirklich hier vor mir gestanden?! In diesem selben Zimmer,
+wo ich Georg, meinen einzigen Freund, gefunden und verloren hatte?!
+
+Am nächsten Tag gegen Abend kam er wieder.
+
+»Ich bin zudringlich, nicht wahr?« lachte er mir entgegen. »Aber Sie
+kommen mir vor, wie ein verflogenes Vögelchen, das sich an Scheiben und
+Wänden den Kopf stößt und einer Hand bedarf, die es fängt und ins Freie
+läßt.«
+
+»Sie mögen recht haben. Ich bilde mir wohl nur ein, daß ich in Freiheit
+flöge, und die anderen Leute waren bisher kurzsichtig genug, mich darin
+zu bestärken, wohl gar zu bewundern --«
+
+Es dämmerte. »Entschuldigen Sie einen Augenblick,« sagte ich und ging
+hinaus, um die Lampe zu holen. Als ich wiederkam, fand ich ihn über das
+Manuskript eines Artikels gebeugt, den ich eben vollendet hatte.
+Ärgerlich wollte ich ihn vom Schreibtisch weg an mich reißen. »Verzeihen
+Sie --«, fest drückte er die Hand darauf, -- »das gehört zu meinem
+Vogelfang. Wie kommen Sie dazu, dergleichen zu schreiben?!« Ich erschrak
+vor dem finsteren Gesicht, das er mir plötzlich zuwandte. »'Londoner
+Gefälligkeit'! Haben Sie nichts Besseres zu tun?!« Sein Blick blieb an
+der Lampe haften, die ich zitternd auf den Tisch stellte. Seine Stirn
+glättete sich, forschend sahen die großen grauen Augen mir ins Gesicht.
+
+
+»Sie müssen sich selbst bedienen? -- Sie öffnen mir immer selbst?! --«
+
+Ich senkte einen Augenblick lang den Kopf.
+
+»Wie Sie sehen: ja!« Meine Stimme, die zuerst ein wenig verschleiert
+klang, wurde klar und fest. »Ich kann mir ein Dienstmädchen nicht
+halten, und ich muß solche Artikel schreiben, weil ich von meiner
+Pension nicht leben kann.«
+
+»Verzeihen Sie, -- aber wie konnte ich ahnen --« Er sah mir tief in die
+Augen.
+
+Wir waren von da an täglich zusammen, sei es, daß er mich zu einem
+Spaziergang abholte, sei es, daß wir uns in der Stadt trafen. Mit tiefer
+Beglückung empfand ich die zarte Sorgfalt, mit der er mich umgab. Wenn
+ich jetzt zu den Eltern kam und der Vater in heller Aufregung über die
+Sozialdemokraten schimpfte, -- »lauter Hochverräter, die man hängen
+sollte«, -- so hörte ich nur mit halbem Ohre hin, es verletzte mich
+nicht; um mich lag es wie ein warmer, kugelfester Mantel, den die
+Freundschaft um mich geschlungen hatte.
+
+Die Freundschaft! -- Ich glaubte an sie, -- ich wollte an sie glauben,
+auch wenn die heißen Wellen meines Herzens mich zu überfluten drohten.
+»Sie müssen bald einmal mit mir hinauskommen zu meiner Frau und meinen
+Buben. Sie ist anders wie Sie, -- ganz anders, aber klug und gut, -- Sie
+werden einander verstehen,« hatte er mir einmal gesagt. Es kam aber noch
+immer nicht dazu, und ich drängte nicht danach.
+
+Eines Nachmittags saßen wir zusammen auf dem schmalen Balkon des Kaffee
+Klose. In weichem, silbernen Sonnenlicht fluteten unter uns auf der
+Leipziger Straße die Menschen auf und nieder. Ein früher Herbstnebel,
+zart und duftig wie Feenschleier, spielte um die endlosen Häuserreihen,
+und es schien, als dämpfte er selbst das Rasseln der Wagen.
+
+»Sehen Sie nur, was ich heute bekam,« damit hielt ich ihm einen Brief
+entgegen. »Die Wiener Fabier fordern mich zu einem Vortrag auf« -- Er
+nickte erfreut, ich sah ihn von der Seite an. »Ich habe keine
+Beziehungen in Wien,« fuhr ich nachdenklich fort, »-- sollten Sie auch
+hier meine Vorsehung gewesen sein?!«
+
+»Und wenn dem so wäre?!«
+
+Ich reichte ihm still die Hand. Ganz sanft, als ob sie sehr zerbrechlich
+wäre, nahm er sie in die seine, -- eine zarte Hand mit dichtem Geäder
+und nervösen Fingern.
+
+»Glauben Sie,« fragte er langsam, nach einem Schweigen, das die Nähe
+zweier Menschen zueinander verrät, »glauben Sie, daß ein Tag kommen
+könnte, an dem unsere Freundschaft uns zwingt, einander 'du' zu sagen?«
+
+Ein Zittern durchlief meinen Körper. Ich antwortete nicht. Stumm standen
+wir auf, stumm fuhren wir zu mir nach Hause. Drinnen im Zimmer sahen wir
+uns an, das Herz schlug mir zum Zerspringen, die Finger erstarrten mir
+zu Eis.
+
+»Alix --,« wie ein Hauch kam mein Name über seine Lippen.
+
+»Du --,« mehr vermochte ich nicht zu sagen. Es dunkelte mir vor den
+Augen. Einen Herzschlag lang fühlte ich seinen Mund auf dem meinen, --
+dann schlug die Türe, -- ich war allein.
+
+Und die Wände schienen um mich zu kreisen, und der Glanz der Abendsonne
+wurde zu glühenden Flammen. Wie Gesang lag es in der Luft von lauter
+Harfen, -- meines Herzens Jubel hatte sie zum Klingen gebracht. In allen
+Weisen der Welt, im Ton süßer Wiegenlieder und stolzer Siegeshymnen sang
+und jauchzte es: ich liebe.
+
+ * * * * *
+
+Wir verkehrten wie früher miteinander. Nur die Augen wagten es hier und
+da, eine andere Sprache zu sprechen als der Mund. Ich war mitten im
+Packen; schon starrten die lieben Räume mich fremd und öde an, als sein
+Weib kam, mich zu besuchen. Entgeistert sah ich sie an, als sie vor mir
+stand: sie war hochschwanger.
+
+Rasch warf ich die Kleider vom Sofa und nötigte sie hinein, ihr
+vorsichtig die Kissen in den Rücken legend. Seine Frau! Sein Kind!! --
+Der Gedanke bohrte sich mir ins Gehirn, daß es mir den Kopf zu sprengen
+drohte. Nie, -- nie hatte er mir von Liebe gesprochen, dachte ich,
+während ich gleichgültig freundliche Phrasen mit ihr wechselte, nur
+immer von Freundschaft. Und dieser Frau vor mir mit den großen, breiten
+Händen und den stechenden dunklen Augen hatte ich nichts genommen --
+nichts, was ich nicht nehmen durfte. Denn daß ich ihn liebte, was
+schadete das ihr?! Und war nicht mein eigenes, großes, wundervolles
+Gefühl und seine Freundschaft Glückes genug für mich, die ich gelernt
+hatte, auf alles Glück zu verzichten?
+
+»Wir ziehen im Winter auch in die Stadt,« sagte sie ruhig, »sonst
+bekomme ich meinen Mann nicht mehr zu sehen --.« War das eine
+Anspielung? Ihr Gesicht blieb unbewegt. Ȇbrigens sah ich eben im Hause,
+wo Sie mieteten, eine Wohnung, die gut für uns passen würde. Das wäre
+für alle Teile das beste --, und ich hätte doch auch etwas von Ihnen.
+Könnte auch von Ihnen lernen, was mir leider noch an Verständnis für die
+Interessen meines Mannes fehlt.« Ich begriff sie nicht; war das echt,
+was sie sagte, oder lauerte Bosheit dahinter und Mißtrauen? Feuchtkalt
+lag ihre Hand beim Abschied in der meinen. Die Schleppe ihres seidenen
+Kleides raschelte hinter ihr her wie eine Schlange. Ich mußte mich ans
+Fenster in die Sonne stellen, um wieder warm zu werden, nachdem sie mich
+verlassen hatte.
+
+ * * * * *
+
+»Gute Botschaft bringe ich!« Am frühen Morgen, ich saß noch beim
+Frühstück, trat Heinrich Brandt in mein Zimmer, freudestrahlend. »Die
+Sache ist entschieden.« Ich griff hastig nach dem Brief, den er brachte
+und las. »Nach reiflicher Überlegung habe ich mich dahin entschieden,
+das mir vorgelegte Projekt eines Zentralausschusses für Frauenarbeit
+insoweit zu unterstützen, als ich zunächst eine Summe von achttausend
+Mark jährlich dafür aussetze, die, wenn der Umfang der Arbeiten es
+später notwendig macht, entsprechend gesteigert werden kann. Ich hoffe,
+Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor, der Sie ja ausdrücklich erklärten, nur
+die Rolle eines unbeteiligten Vermittlers zu spielen, nicht zu nahe zu
+treten, wenn ich Sie bitte, Frau von Glyzcinski mitzuteilen, daß die
+Voraussetzung meiner Unterstützung, von der ich unter keinen Umständen
+abweiche, die ist, daß die Leitung der Sache nicht in den Händen von
+Sozialdemokraten ruht. Diese meine Forderung entspringt keinerlei
+persönlicher Animosität, sondern nur der Erkenntnis, der sich
+gegenwärtig kaum jemand verschließen kann, daß die Sozialdemokratie zu
+ruhiger Reformarbeit unfähig ist und die maßgebenden Kreise einer von
+ihr ausgehenden Bewegung mit Recht ablehnend gegenüberstehen würden.«
+
+Ich hatte zuerst laut und freudig, dann immer langsamer und leiser
+gelesen. »Das nennen Sie eine gute Botschaft?« frug ich kopfschüttelnd.
+»Gerade heute sah ich in der Presse, wie alles von rechts und links nach
+einer neuen Auflage der Umsturzvorlage schreit. Und gestern erzählte
+mein Vater, daß man im Kasino schon die Maßregeln erörtert, durch die
+die Sozialdemokraten mundtot gemacht werden sollen --«
+
+Brandt unterbrach mich: »Nun -- und? Wird Ihre Aufgabe dadurch etwa
+überflüssig?«
+
+»Gewiß nicht. Aber für mein Gewissen kann es eine größere Aufgabe geben:
+mich in dem Augenblick der Verfolgung an die Seite derer zu stellen, die
+verfolgt werden. Die eigene Überzeugung in die Tasche zu stecken, läßt
+sich nur so lange entschuldigen, als es keine Feigheit ist.«
+
+»Sie haben recht -- wie immer, wenn Ihre erste Empfindung spricht,« er
+drückte mir die Hand, fest und kameradschaftlich, »und doch möchte ich
+Sie bitten: überlegen Sie ruhig, ehe Sie antworten. Die Ausnahmegesetze
+sind bisher nichts als Wünsche und Drohungen, und das klägliche Ende der
+Umsturzvorlage dürfte kaum zu einer Wiederholung reizen.« -- --
+
+»... Hängt am Tage von St. Sedan Trauerfahnen aus, erhebt feierlichen
+Protest gegen den Massenmord und ehrt diejenigen, die zum Kriege hetzen,
+wie es ihnen gebührt: steckt sie als Verbrecher ins Zuchthaus.« Mein
+Vater hatte mir einen Zeitungsausschnitt geschickt, der diesen Satz aus
+der sozialdemokratischen Breslauer 'Volkswacht' zitierte. Roh und
+häßlich, unwürdig vor allem war er. Die geistigen Waffen, die wir
+führen, sollten blanker und damit auch schärfer sein, dachte ich.
+
+Wenige Tage später veröffentlichten die bürgerlichen Zeitungen in
+Riesenlettern den Trinkspruch, den der Kaiser am Sedantag ausgebracht
+hatte:
+
+»... In die große hohe Festesfreude schlägt ein Ton hinein, der wahrlich
+nicht dazu gehört; eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen
+Deutsche zu tragen, wagt es, das deutsche Volk zu schmähen; wagt es, die
+uns geheiligte Person des allverehrten verewigten Kaisers in den Staub
+zu ziehen. Möge das gesamte Volk in sich die Kraft finden, diese
+unerhörten Angriffe zurückzuweisen. Geschieht es nicht, nun, dann rufe
+ich Sie, um der hochverräterischen Schar zu wehren, um einen Kampf zu
+führen, der uns von solchen Elementen befreit.«
+
+Wortlos reichte ich Brandt das Blatt, als er kam. »Was haben Sie
+beschlossen?«
+
+»Die Rotte von Menschen sind meine Brüder und Schwestern. -- Ich lehne
+ab.«
+
+
+
+
+Drittes Kapitel
+
+
+Ich stand in Wien auf der Rednertribüne des Ronachersaals und verneigte
+mich noch einmal vor dem applaudierenden Publikum. Ich wußte: ich hatte
+nicht gesprochen wie sonst. Schon als der Vorsitzende mich an den
+dichtgedrängten Reihen vorbeigeführt hatte, an den eleganten, graziösen
+Frauen, deren Toiletten nicht wie die der Berlinerin dazu da zu sein
+schienen, die Trägerin unter der Last des Glanzes vergessen zu machen,
+sondern ihre Individualität betonten, ihre Reize unterstrichen, an den
+jungen und alten Herren im Frack und Smoking mit den geschmeidigen
+Gestalten und dem süffisanten Lächeln des Weltmanns, war mir der
+Kontrast zwischen dem kühlen Ernst meines Vortrags und dieser Umgebung
+zum Bewußtsein gekommen. Dann war ein Wogen von bunten Hüten, ein
+Knistern von seidenen Kleidern, ein Funkeln von Brillanten unter mir
+gewesen. Operngläser aus Silber und Perlmutter hatten sich auf mich
+gerichtet, und um das mattschimmernde Rokokoornament an den Decken und
+Wänden des reizenden Konzertsaales hatte ein feiner, zarter Nebel
+geschwebt, gewoben aus Zigarettenrauch und Parfüm.
+
+Ich stieg die Stufen hinab. Man klatschte noch immer. Ich mußte wohl so
+etwas wie eine neue Sensation gewesen sein, wie sie in Gestalt von
+Sängern, Taschenspielern und Diseusen auf dieser Tribüne gewöhnlich zu
+erscheinen pflegte.
+
+»Ich gratuliere Ihnen --,« sagte eine dunkle Stimme neben mir. Nur ein
+Mann in der Welt hatte solche Stimme! Es war Brandt. Und als meine Hand
+in der seinen lag, war mir, als stünde ich allein mit ihm hoch auf einer
+Felseninsel und in der Ferne nur brandete das Meer der Welt.
+
+»Sie in Wien, -- meinem geliebten Wien, und ich nicht neben Ihnen, -- es
+kam mir absurd vor,« hörte ich ihn leise sagen. Aber schon sah ich den
+Kreis, der sich um uns gebildet hatte: Menschen, die warteten, mich
+begrüßen zu können, mir vorgestellt zu werden, der Vorstand der Fabier,
+der mich zum Essen geladen hatte. Ich gewann meine Fassung wieder, und
+während mein Herz hoch aufschlug vor Freude, hatte ich das Bedürfnis,
+gegen alle, die sich mir näherten, doppelt und dreifach freundlich zu
+sein.
+
+In einem halbdunkeln verräucherten Kaffee spät am Abend trafen wir uns
+wieder. Brandt erwartete mich mit Dr. Geier, seinem Schwager, dem Führer
+der österreichischen Sozialdemokratie, und einem Kreis von
+Parteigenossen, die mitten in einer Debatte jäh verstummten, als ich
+eintrat. Sie hatten sich offenbar gezankt, was ich mit der ganzen
+Empfindlichkeit der Frohgelaunten sofort empfand. Man stand auf, man
+begrüßte mich, aber meine Anwesenheit wirkte sichtlich störend. Eine
+kleine brünette Frau mit glänzenden braunen Augen fühlte das Peinliche
+der Situation und zog mich auf einen Stuhl neben sich.
+
+»Ich bin Adelheid Popp,« sagte sie einfach, »ich habe mich so an Ihrem
+Vortrag gefreut und wünschte nur, unsere Arbeiterinnen hätten ihn hören
+können.« »Das hätte ich auch gewünscht, -- er wäre dann besser gewesen,«
+antwortete ich. Ihre Augen lachten mich an. »Wissen Sie was?!« rief sie
+lebhaft. »Wiederholen Sie ihn in einer Volksversammlung!« Mit freudiger
+Zustimmung schlug ich in die dargebotene kleine, warme Hand. »Aber
+garantieren kann ich nicht, daß es derselbe Vortrag wird!« Wir
+vertieften uns in ein Gespräch, und ich erfuhr, daß diese zierliche Frau
+eine arme Arbeiterin gewesen war, von dem Augenblick an aber, wo sie der
+Sozialismus gewonnen hatte, zu einer begeisterten Vorkämpferin der
+Arbeiterbewegung sich entwickelt habe. Ganz anders war sie wie unsere
+deutschen Frauen: heiter und gutmütig, ohne eine Spur jener steifen
+Zurückhaltung, die daheim all meinem Entgegenkommen zu spotten schien.
+»Sie sollen mal schauen, was in Wien eine Volksversammlung heißt!«
+
+Das Gespräch der anderen hatte indessen da wieder angeknüpft, wo ich den
+Faden zerrissen hatte. Ich hörte zu.
+
+»Ist es nicht unerhört für einen praktischen Politiker, sich auf Seite
+der breslauer Hundertachtundfünfzig zu stellen und einen blutleeren
+Theoretiker wie Kautsky zu verteidigen?!« rief Brandt, während die
+dunkeln Brauen sich ihm eng zusammenzogen und die Augen dem Gegner
+zornig entgegenblitzten.
+
+»Bist du vielleicht in deiner gegenteiligen Stellung zur Agrarfrage
+weniger Theoretiker als er?!« spöttelte Geier. »Die Güter, auf denen du
+dir die Sporen des Praktikus verdient hast, liegen doch auf dem Monde!«
+Mit einer entschuldigenden Gebärde wandte er sich mir zu. »Verzeihen
+Sie, wenn wir uns auch in Ihrer Gegenwart noch mit so uninteressanten
+Dingen beschäftigen --«
+
+»Sie brauchen sich vor mir nicht zu entschuldigen,« antwortete ich,
+»mich haben die Verhandlungen des breslauer Parteitags lebhaft
+interessiert, und da ich leider bis heute noch nicht weiß, auf welcher
+Seite ich stehe, so höre ich Debatten wie den Ihren besonders gerne zu.«
+
+Und nun wogte der Streit wieder hin und her. Brandt verteidigte die von
+der Mehrheit des breslauer Parteitages abgelehnten Vorschläge der
+Agrarkommission, als »notwendige Forderungen der Gegenwartspolitik«, als
+ein erfreuliches Zeichen für die wachsende Erkenntnis, daß eine Partei
+von der Größe der deutschen Sozialdemokratie die Interessen weiterer
+Volkskreise vertreten müsse, als nur die der Industriearbeiter.
+»Übrigens, was zanken wir uns, lieber Viktor?« meinte er schließlich und
+warf mit einer hochmütigen Geste den Kopf zurück. »Du wärst der Erste,
+die Vorschläge nicht nur zu akzeptieren, sondern selbst zu machen und
+gegen alle Welt zu verteidigen, oder -- wie Schönlank treffend sagte --
+eine Revision der Vorstellungsweise in der Partei herbeizuführen, wenn
+du in die Lage versetzt würdest, Landagitation treiben zu müssen.«
+
+Geier hieb wütend auf den Tisch, daß die Tassen klirrten und der
+Kellner, der verschlafen an einer Säule lehnte, erschrocken die Augen
+aufriß und dienstfertig die Serviette schwenkte. »Da liegt doch gerade
+der Hase im Pfeffer: ich bin eben nicht in der Lage und Ihr, trotz
+Eurer anderthalb Millionen Stimmen auch nicht! Konzentriert doch Eure
+Werbekraft auf die Millionen Lohnarbeiter, die Euch noch fehlen, und
+laßt Eure Enkel sich über die höhere Bauernfängerei den Kopf zerbrechen!
+Was du praktisch nennst, ist eben unpraktisch im höchsten Grade. Das
+Aufrollen dieser schwierigen und gänzlich unaufgeklärten Fragen, -- ob
+die Konzentration des Kapitals in der Landwirtschaft sich nach denselben
+Gesetzen vollzieht wie in Industrie und Handel oder nicht, ob wir daher
+mit der Proletarisierung der Bauern oder mit der Vermehrung der
+ländlichen Kleinbetriebe zu rechnen haben werden, -- all das noch dazu
+auf einem seiner ganzen Zusammensetzung nach inkompetenten Parteitag,
+ist nur geeignet, die Parteigenossen zu verwirren. Über theoretischem
+Gezänk, das Ihr Reichsdeutsche so liebt, wird ein gut Teil praktischer
+Arbeit zum Teufel gehen --«
+
+»Und glaubst du etwa, die Annahme der lendenlahmen Resolution Kautsky,
+die die Agrarfrage doch nicht aus der Welt schafft, sondern ihre Lösung
+nur auf die lange Bank schiebt, wird dies Gezänk verhindern? Im
+Gegenteil! Die Bebel und Schönlank und David werden sich nicht mundtot
+machen lassen,« entgegnete Brandt.
+
+Geier schüttelte ärgerlich den großen Kopf mit den wirren blonden
+Haaren. »Bebel wird sich dem Beschluß des Parteitages fügen; -- die
+anderen freilich, geborene Krakehler, getrieben durch den eigentlichen
+geheimen Generalstabschef des ganzen Feldzuges, Vollmar, werden die
+Parteidisziplin ihrer Rechthaberei opfern.«
+
+Die Diskussion der leidenschaftlichen Männer fing an, mich zu
+beunruhigen, -- nicht ihrem Inhalt, wohl aber ihrer Form nach. Ich hatte
+Brandt noch nie so erregt gesehen, und etwas wie Furcht befiel mich.
+Kurz entschlossen erhob ich mich.
+
+»Verzeihen Sie, wenn mein Weggehen Sie stört wie mein Kommen, aber ich
+bin sehr müde.« Alles brach auf, sichtlich erleichtert. Kalter Regen,
+mit kleinen spitzen Schneeflocken gemischt, schlug uns ins Gesicht, als
+wir heraustraten. Menschenleer war's in den engen Gassen. Ist das
+wirklich Wien, die Kaiserstadt? dachte ich fröstelnd. Geier und Brandt
+begleiteten mich; wir verabredeten allerhand für den nächsten Tag. Ich
+erzählte von den verschiedenen Einladungen, die ich bekommen hatte.
+
+»Zu den Protzen werden Sie doch nicht gehen, die nur Staat mit Ihnen
+machen wollen?!« Brandts Stimme klang grollend, wie ferner Donner, und
+sein Blick ruhte beinahe drohend auf mir. Und doch erschrak ich nicht;
+es lag im Ton etwas, das mir das Blut in Wallung brachte, etwas, das
+klang, wie ein Besitzergreifen. »Bist du Frau von Glyzinskis Vormund?«
+brummte Geier.
+
+»Verzeihen Sie mir meine Heftigkeit --,« flüsterte Brandt, und im
+raschen Wechsel seines Mienenspiels hatte seine Stirn sich wieder
+geglättet, war sein Auge wieder klar geworden. Ich senkte stumm den
+Kopf.
+
+Zögernd, als fesselten sie magnetische Kräfte, glitten unsere Hände
+auseinander. Er betrat mit mir das Hotel. »Du -- wohnst auch hier?!«
+sagte Geier überrascht.
+
+Ich schlief nicht in dieser Nacht. Es lag schwer und dumpf auf mir, und
+ich wollte -- wollte nicht denken.
+
+Wir fuhren am nächsten Morgen zusammen nach Schönbrunn.
+
+Alle Einladungen hatte ich abgelehnt.
+
+Graue Spätherbststimmung beherrschte die Natur. Die letzten Blätter
+rieselten von den Bäumen, ohne daß ein Windhauch sich regte.
+
+Im freien Walde sind selbst die dunkeln Tage schön: des Laubes beraubt,
+reckt sich nackt und kraftvoll das starke schwarze Geäst gen Himmel, ein
+wundervoller Teppich vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Rot in halb
+verblichenen weichen Farben spielend, breitet sich unter ihm aus. Aber
+die Gärten, die des Menschen Kunst gestaltet, starren uns an wie der
+Tod. Sie leben nur, wenn im Rasenteppich die bunten Beete blühen, wenn
+das Laub der geschnittenen Hecken und der Kugelbäume die armen krummen,
+um ihr natürliches Wachstum betrogenen Ästchen dicht umkleidet, wenn von
+den Terrassen herunter, aus den Tritonenbecken empor das Wasser rauscht
+und springt, und die Sonne sich lachend in den Scheiben der
+Schloßfenster spiegelt. Dann spielen, wie große Schmetterlinge, Kinder
+in hellen Kleidern auf den breiten gelben Kieswegen, sodaß der Garten
+voll Freude sogar der schönen Damen in Reifrock und Puderperücke
+vergißt, die einst mit dem graziösen Geschwätz ihrer roten Lippen und
+dem lustigen Klappern ihrer Stöckelschuhe seine Gänge belebten.
+
+Heute waren wir allein, zwei graue Gestalten, zwischen blätterlosen
+Laubengängen und schlafenden Fontänen.
+
+»Sie sind so blaß,« sagte Brandt, »der Heimweg gestern im Schnee hat
+Ihnen geschadet --.« Ich schüttelte den Kopf. »Meine Roheit hat Sie
+verletzt?« Ich sah zu ihm auf, aber das Lächeln, das ich ihm zeigen
+wollte, erstarb mir auf den Lippen. So müde, so traurig war sein Blick.
+In dem meinen blieb er hangen. Es war wie ein Abschiednehmen.
+
+»Ich habe es mir überlegt, stunden-, nächtelang,« kam es tonlos über
+seine Lippen, »ich muß fort von Berlin -- mit meiner Fr ... --,« er
+stockte, »mit Rosalie --,« verbesserte er sich hastig, »bis -- bis die
+Entbindung vorüber ist. Es ist besser, -- besser für uns alle.«
+
+»Ja,« sagte ich, die Kehle schnürte sich mir zusammen.
+
+Dann gingen wir. Wo waren wir doch nur noch an diesem Tage? Ich entsinne
+mich nicht. Meine Augen nahmen Bilder auf, von denen meine Seele nichts
+wußte.
+
+Später trafen wir wieder irgendwo in einem Kaffee mit Geier zusammen. Es
+kamen noch allerlei Menschen, die ich an meinem Vortragsabend gesehen
+hatte, sie gingen mit kühlem Gruß und vieldeutigem Lächeln an uns
+vorüber.
+
+»Du siehst,« hörte ich Geier leise sagen, während er mich in die Zeitung
+vertieft glaubte, »zum mindesten hättest du nicht im selben Hotel mit
+ihr wohnen dürfen.« Brandt fuhr auf. Flehend sah ich zu ihm hinüber. Er
+schwieg. Die Kellner brachten die Abendblätter. »Na, da haben wir's ja,«
+rief Geier, nachdem er sie rasch überflogen hatte, und stürzte mit einem
+kurzen Gruß davon in seine Redaktion.
+
+Ich las. »Aus Berlin wird uns soeben mitgeteilt: Nachdem seit einiger
+Zeit die politische Polizei eine fieberhafte Tätigkeit entwickelte und
+Haussuchungen umfassender Art bei fast allen bekannten Mitgliedern der
+sozialdemokratischen Partei stattfanden, bringt der Reichs- und
+Staatsanzeiger heute folgende Bekanntmachung: 'Es wird hiermit zur
+öffentlichen Kenntnis gebracht, daß nachstehende Vereine: die sechs
+sozialdemokratischen Wahlvereine, die Preßkommission, die
+Agitationskommission, die Lokalkommission, der Verein öffentlicher
+Vertrauensmänner, der Parteivorstand der sozialdemokratischen Partei
+Deutschlands auf Grund des §8 des Versammlungs- und Vereinsrechts
+vorläufig geschlossen sind.'«
+
+ * * * * *
+
+Kurz vor der Volksversammlung, in der ich sprechen sollte, besuchte ich
+Geier in seiner Redaktion, engen, halbdunklen Räumen im Souterrain eines
+alten Hauses. Von fast undurchdringlichem Tabaksqualm war sein Zimmer
+gefüllt, das den merkwürdigen Mann, der grundhäßlich war und hinreißend
+schön sein konnte, der stotterte und doch der glänzendste Redner war,
+phantastisch umwogte. »Ich habe nur eine kurze Frage an Sie,« sagte ich,
+-- nichts war ihm widerwärtiger, wie überflüssiges Weibergeschwätz, --
+»ich möchte in die Partei eintreten, -- was halten Sie davon?«
+
+Er sah mich prüfend an, von oben bis unten, strich sich mit der feinen
+Hand den wirren rotblonden Schnurrbart und zuckte die Achseln. »Bleiben
+Sie draußen,« antwortete er schroff, »eine Krokodilshaut gehört dazu, --
+ich zweifle, daß Sie die haben --«
+
+»Und wenn ich Sie hätte?!«
+
+»Dann, -- ja dann tragen Sie wie wir Ihre Knochen auf den Markt der
+Partei --.« Er reichte mir mit kurzem Kopfnicken die Hand, -- ich war
+entlassen.
+
+ * * * * *
+
+Und wieder stand ich auf der Rednertribüne, vor mir ein großer Saal,
+nüchtern wie eine Scheune, von flackernden Gasflammen erhellt. Von
+rechts und links strömten die Menschen herein: junge und alte Frauen in
+Kopftüchern und Schürzen, die verfrorenen roten Hände andächtig
+gefaltet, Männer in Arbeitsblusen, tiefen Ernst auf den durchfurchten
+Gesichtern. Sie richteten alle die Augen auf mich, staunend, fragend,
+erwartungsvoll. Kopf an Kopf drängten sie sich um die schmale, niedrige
+Stufe, die mich über sie emporhob. Sie kauerten zu meinen Füßen, eng
+aneinandergeschmiegt: ein kleines Fabrikmädchen mit zerzaustem
+Blondhaar, ein junger Mann mit den klassischen Römerzügen des
+Südtirolers, ein altes Mütterchen, die welke Hand horchend hinter das
+Ohr gelegt. Und mir war, als wölbe sich der niedrige Saal zum Dom; als
+träten die Abgesandten der Menschheit durch seine hohen weitgeöffneten
+Pforten. Tiefe, demütige Andacht erfüllte mich. Die Welt, die draußen
+war, versank. Denen, die mich umringten, gehörte von dieser Minute an
+meine Kraft und meine Hoffnung. Daß ich mich ihnen gab: meinen Arm den
+Schwachen, meine Beredsamkeit den Stummen, meinen an Gipfelwanderungen
+gewohnten Fuß den Lahmen, und den Blinden mein Auge, das die Befreiung
+sah, -- das war dieser Stunde stilles Gelöbnis.
+
+»Genossen und Genossinnen --« Hell und scharf, wie ein Schlachtruf,
+klang meine eigene Stimme mir ins Ohr. Der Jubel der Menge umbrauste
+mich, während ich weiter sprach. Das blasse Gesicht des kleinen
+Fabrikmädchens vor mir fing an zu glühen, dem alten Mütterchen rollten
+die Tränen über die welke Wange und die klassischen Römerzüge des
+Tirolers strafften sich in eiserner Energie.
+
+Als ich geendet hatte, war es sekundenlang still, -- dann eine
+Beifallssalve, zahllose Händedrücke von schwieligen Fäusten, und lauter
+und lauter anschwellend der Kriegsgesang der Arbeitermarseillaise. In
+ihrem Takt schob sich die Menge hinaus, auf der Straße klang sie fort,
+zog mit den Wandernden rechts und links in die nachtstillen Gassen, und
+auf dem ganzen Heimweg verfolgte mich ihre Melodie: aufreizend,
+siegesbewußt.
+
+ * * * * *
+
+Einen Tag später als Brandt kam ich nach Berlin zurück. Er empfing mich
+am Bahnhof, bleicher, übernächtiger als je. Wir fuhren zusammen nach der
+Kleiststraße, wo wir nun schon zwei Monate wohnten, er mit seiner
+Familie im Vorderhaus, ich im Gartenhaus, in den zwei kleinen Stübchen.
+Wir konnten einander an der Mauer mit der Schweizer Landschaft vorbei in
+die Fenster sehen. Oft, wenn er bei mir gewesen war, tauchte hinter den
+weißen Vorhängen drüben ein Schatten auf, der mit gespenstischer
+Schnelle sein Gesicht zu verdunkeln schien. Dann erhob er sich, sah mich
+kaum an und verließ das Zimmer.
+
+»Rosalie will nicht reisen, mit mir nicht,« erzählte er während der
+Fahrt. »Sie behauptet, meine Nähe steigere nur ihr Übelbefinden, deshalb
+habe sie sich entschlossen, allein zu gehen und zwar -- nach England.«
+
+»Nach England?« fragte ich erstaunt. »In dieser Jahreszeit?! Hat sie
+Freunde dort?«
+
+»Niemanden! -- Die fixe Idee einer Schwangeren, sagt der Arzt.«
+
+Ich schwieg, auf das tiefste betroffen. Mir, dem Weibe, schien
+sonnenklar, was ihre Beweggründe waren. Das Recht der Abwesenden wollte
+sie zur Geltung bringen, und ein instinktives Gefühl trieb sie nach
+England --, woher ich gekommen war, wo ich, wie sie meinte, mir an
+Kenntnissen und Interessen erworben hatte, was ihren Mann an mich
+fesselte.
+
+Der Wagen hielt. »Ich komme gegen Abend hinüber,« sagte ich und
+verabschiedete mich hastig vor der Haustür. Ich mußte allein sein. Meine
+Zimmer fand ich mit Blumen geschmückt, wie zu einem Fest. »Der Herr
+Doktor --,« sagte die Aufwärterin mit süßlichem Lächeln und einem
+vertraulichen Blick.
+
+»Schon gut --,« unterbrach ich sie hastig und warf die Türe hinter mir
+ins Schloß.
+
+Was nun?! Sie durfte nicht fort. Wirklich nicht?! Ein kalter Schauer
+lief mir über den Rücken. War es Furcht? Oder nicht vielmehr Freude --
+Freude, die wie ein orkangepeitschtes Meer alle Dämme überflutete, alles
+Denken begrub?! Allein -- allein mit ihm -- tage-, wochen-, monatelang!
+Ein ganzes Leben der Entsagung war kein zu teurer Preis dafür! Wenn sie
+wiederkam, würde ich gehen, -- aus seinem Gesichtskreis still
+verschwinden, -- und zu ihr würde er zurückkehren, -- zu ihr -- und dem
+Kinde ...
+
+Es klopfte. »Frau Dr. Brandt läßt gnädige Frau zum Abendbrot bitten --«
+»Ich komme --«
+
+Wir saßen um den gedeckten Tisch: Brandt schweigsam, mit gerunzelten
+Brauen, die beiden kleinen Knaben -- seine Söhne aus seiner ersten Ehe
+-- verschüchtert und ängstlich von einem zum anderen blickend, ich, eine
+Unterhaltung mühsam aufrecht erhaltend; sie allein schien lustig, fast
+übermütig, ihre Augen flimmerten, ihre großen weißen Hände, die mir
+immer vorkamen, als hätten sie ein eigenes Leben, als wären sie junge
+Raubtiere, -- bewegten sich ruhelos, streichend, klopfend, sich dehnend,
+um sich gleich wieder zur Faust zu ballen, auf dem Tisch. Das Mädchen
+kam und brachte einen Eiskübel mit einer Flasche Champagner. Brandt sah
+mißbilligend auf seine Frau. »Wie kannst du, Rosalie, -- in deinem
+Zustand!«
+
+Sie lachte.
+
+»Nur heute, -- wo wir ein Fest miteinander feiern und ihr dasitzt wie
+Ölgötzen und nicht lustig seid, -- lustig wie ich! -- Trinkt, Kinder,
+trinkt, so ein Abend kommt nicht so leicht wieder!« Sie stürzte das
+erste Glas in einem Zug hinunter. Und dann sprach sie unaufhörlich,
+fieberhaft. Von der Reise, die sie machen werde, von den Herrlichkeiten,
+die sie dafür schon eingekauft habe -- »drei seidene Kleider und Hüte
+dazu, und einen Rohrplattenkoffer für zweihundert Mark, -- mach' keine
+entsetzten Augen, Heinrich; ich weiß ja, du bezahlst es gern, -- so
+gern!« --, von ihren Träumen. »Ich sehe immer denselben Mann, der mir
+winkt, zu dem ich hin muß,« -- ihre Stimme sank und ihre Augen weiteten
+sich, daß das Weiße unheimlich groß um die dunklen Pupillen stand --
+»und der mir helfen wird.«
+
+»Trinken Sie nicht mehr --,« bat ich erschüttert und legte meine Hand
+auf die ihre, die eiskalt war. Sie schüttelte sie ab wie eine lästige
+Fliege.
+
+»Sie glauben, ich spräche im Rausch?!« sagte sie. »Sie irren. Ich bin
+nüchtern, ganz nüchtern, -- ich weiß nur mehr als Sie, viel mehr, und --
+und ich glaube an Träume!«
+
+»Bist du denn nicht eifersüchtig auf deinen Rivalen, zu dem ich reise?«
+Damit wandte sie sich mit einem lauernden Blick aus halb geschlossenen
+Augen an ihren Mann.
+
+»Rosalie!« stöhnte er gequält. Rasch stand ich auf. Ich konnte die
+Blicke der Kinder nicht mehr ertragen.
+
+»Es ist schon zu spät für euch,« redete ich sie an und griff nach ihren
+Händen, »kommt, -- ich bring' euch zu Bett.« Sie lachten dankbar.
+
+»Ach, Tante, bring uns doch immer zu Bett!« flüsterte der Älteste, als
+er in den Kissen lag, und seine melancholischen Zigeuneraugen sahen mich
+flehend an. »Und morgen, bitte, bitte, erzähl uns eine Geschichte,«
+fügte der Jüngste hinzu und richtete sich im Bett noch einmal auf.
+
+Indessen war es im Wohnzimmer zu einer heftigen Szene gekommen. Rosalie
+lag schluchzend auf dem Diwan. »Er will mich nicht reisen lassen, er
+will mich umbringen, -- mich und das Kind,« schrie sie. »So mäßige dich
+doch, um Gottes willen!« beschwor sie Brandt mit einem Blick auf die
+Glastür, hinter der sich der Schatten des Mädchens hin und her bewegte.
+Sie achtete nicht auf ihn, ihre Stimme wurde nur noch lauter und
+heftiger. »Ich halte es nicht mehr aus, -- ich mag deine Bevormundung
+nicht, und deine schlechte Laune. Ich laufe davon --« Und ihr Schluchzen
+wurde zum Weinkrampf.
+
+Der Arzt wurde geholt. »Sie müssen ihrem Willen nachgeben, wenn Sie
+nicht das schlimmste riskieren wollen,« entschied er schließlich.
+»Natürlich darf sie nicht ohne Pflegerin reisen, -- ich kann Ihnen eine
+empfehlen, auch eine gute deutsche Pension in London.«
+
+Schon am nächsten Morgen kam Rosalie zu mir, um Abschied zu nehmen. Sie
+war völlig verwandelt, weich, freundlich, ruhig. Es war fast ein
+strahlendes Lächeln, mit dem sie mir im Weggehen sagte: »Nun weiß ich
+gewiß: Alles -- Alles wird gut werden.«
+
+Wie unter dem Zwang einer stillschweigenden Verabredung sahen Brandt und
+ich uns in der nächsten Zeit selten und nie allein. Ich aß drüben bei
+ihm mit den Kindern, nahm sie mit bei meinen Ausgängen und sorgte für
+sie, soviel mir an Zeit dafür übrig blieb. Mit wehmütiger Freude sah
+ich, wie sie täglich mehr an mir hingen und mit all ihren kleinen
+Wünschen und Kümmernissen zu mir kamen. Weihnachten stand vor der Tür.
+»Einen richtigen Weihnachtsbaum machst du uns, Tante, nicht wahr?«
+bettelte Wölfchen, der Jüngste. »Im vorigen Jahr war er man soo klein.«
+»Ich möchte am liebsten zur Mutter fahren, -- wie ganz früher,« meinte
+Hans, der Älteste, und seine Augen schimmerten feucht. »Zur Mutter --?!«
+staunte ich.
+
+»Nun ja, du weißt doch, unsere richtige Mutter wohnt weit, weit weg in
+Wien,« plauderte Wolf; »sie ist immer krank. Aber im Sommer, da dürfen
+wir sie besuchen, wenn sie in Schruns ist oder in Klobenstein --« »Die
+Rosalie ist gar nicht mit uns verwandt, aber auch gar nicht,« unterbrach
+ihn Hans eifrig, und mit einem fragenden Blick auf mich fuhr er zögernd
+fort: »Unsere Marie sagt, sie kommt nicht wieder und -- und du bleibst
+bei uns?!«
+
+Ich blieb ihm die Antwort schuldig. Jäher Schreck lähmte mir die Zunge.
+Ich hatte Brandt nach seiner ersten Frau nie gefragt, hatte geglaubt,
+sie sei früh gestorben. Welche Schicksale lasteten auf dem Mann, den ich
+liebte -- täglich verzehrender, sehnsüchtiger --, und rissen die jungen
+Seelen dieser Kinder in ihren Wirbeltanz?!
+
+Zärtlich zog ich die Knaben in meine Arme: »Seid brav, recht brav, daß
+der Vater sich an euch freut, dann sollt ihr einen Weihnachtsbaum haben
+wie noch nie!«
+
+Mit glühendem Eifer, der mich alles andere vergeben ließ, bereitete ich
+das schönste Fest des Jahres vor. Freude wollte ich um mich verbreiten,
+lauter überschwengliche Freude. Mit dem Geld, das ich mir von Brandt für
+seine Kinder erbat, und das er mir verwundert gab -- er hatte an
+Weihnachten gar nicht gedacht --, und den Goldstücken, die mir ein paar
+Artikel eben eingetragen hatten, kaufte ich einen ganzen Jahrmarkt voll
+Spielzeug; und Pfefferkuchen und Marzipan und Schokolade, dazu Schürzen,
+Bänder, und ein himmelblaues Kleid für das Dienstmädchen, das mich mit
+ihren kleinen blanken Augen immer so lustig anlachte. Am Morgen des
+Weihnachtstages schloß ich mich im Eßzimmer ein und putzte die große
+duftende Edeltanne mit lauter blitzendem Kram, mit roten Rosen und
+bunten Lichtern. Leuchten sollte sie wie das lebendig gewordene Glück.
+Vielleicht wird sie ihm ein einziges frohes Lächeln entlocken! dachte
+ich.
+
+Nachmittags mußte ich zuerst zu den Eltern. Es wurde früh beschert, weil
+alle Familienmitglieder bei Onkel Walters geladen waren. Im Salon stand
+wie immer der Baum: farblos, schneeweiß, sehr kühl, sehr vornehm. Und
+davor unsere Tische, beladen mit Geschenken. Der Vater hatte sich einmal
+wieder nicht genug tun können. Er war in letzter Zeit für mich von einer
+Güte, die mir wehe tat, weil ich wußte, daß sie nur einer Täuschung ihr
+Dasein verdankte. Meine wiener Volksversammlungsrede hatte die deutsche
+Presse ignoriert, auch sonst mußte es ihm scheinen, als zöge ich mich
+mehr und mehr zurück. Was ich für die Tagespresse schrieb, -- ich fing
+damals an, auch am »Vorwärts« gelegentlich mitzuarbeiten --, erschien
+ohne meine Unterschrift; die wesentlich literarisch-kritischen Artikel
+in den Wochenblättern hatten meist seinen Beifall. »Ich wollte dir
+handgreiflich zeigen, wie zufrieden ich mit dir bin«, -- damit
+entschuldigte er gleichsam die Fülle der Gaben. Daß ich das weiße Kleid
+und den Spitzenschal und die seidenen Strümpfe und zierlichen Schuhe mit
+solcher Freude empfing, weil ich allein dessen gedachte, für den sie
+mich schmücken sollten, -- er ahnte es nicht! Nur die Mutter hatte schon
+hie und da mißtrauisch nach Brandts Gattin gefragt, wenn sie ihn allein
+bei mir traf, und zuweilen war uns die Schwester begegnet und hatte uns
+mit vielsagendem Lächeln begrüßt.
+
+Der Vater wollte mich durchaus nicht heimgehen lassen, wollte bei Onkel
+Walters absagen: »Wenn sie meine Tochter nicht haben wollen, so mögen
+sie auch auf mich verzichten.« Es kostete Mühe, ihn umzustimmen.
+
+»Ich bin ja nicht allein«, sagte ich schließlich -- sehnsüchtig dachte
+ich an die erwartungsvollen Knabengesichter, an den stillen Abend mit
+ihm --, »ich muß noch zur Bescherung im Kinderheim«, dabei wandte ich
+den Kopf dunkel erglühend zur Seite.
+
+Endlich konnt' ich gehen. Und mein bunter, lustiger Weihnachtsbaum
+funkelte und sprühte, ein Fanal der Freude, ein Sonnwendfeuer, ein Gruß
+an das steigende Licht. Der Jubel der Kinder klang durch die Räume. »Du
+-- du Zauberin,« flüsterte eine tiefe Stimme mir ins Ohr.
+
+Still und feierlich, in ihr weiches glitzerndes Schneekleid gehüllt,
+erwachte die Erde am nächsten Morgen. Der Arbeitslärm des Alltags war
+verstummt, und Räderrollen und Menschenschritte klangen gedämpft auf dem
+Winterteppich. Es war Feiertag.
+
+Und im Festgewand stand ich und wartete dessen, der kommen mußte.
+
+Mein Herzblut, das ich bereit war, restlos für ihn zu vergießen, hatte
+es mit roten Rubinen bestickt, Schnüre, an denen die Tränen meiner
+Sehnsucht schimmernd gereiht waren, schmückten mir den Nacken, mit
+Smaragden der Hoffnung waren die seidenen Schuhe besetzt an meinen
+Füßen, die ihm entgegengingen, und auf meinen Armen, die ihn umfassen
+wollten, funkelten, alle Farben und allen Glanz der Welt in sich
+vereinend, die Diamanten meiner Leidenschaft. Und er kam, er sah mich,
+-- und die armen kleinen Liebesworte schämten sich ihrer millionenfachen
+Entweihung und verstummten.
+
+Nicht wie die Tage, die wie Kugeln am Zählbrett gleichgültig rechnend
+weiter geschoben werden, waren die jenes sonnendurchleuchteten Winters.
+Die Nacht gebar einen jeden als Wesen göttlicher Art, ewigen Lebens
+voll. Hoch über die Erde trugen sie uns auf starken Flügeln, und mochte
+drunten riesenhaft die schwarze Gestalt der Schuld die Arme drohend
+gegen uns recken, -- wir sahen sie nicht. -- Bis einer kam, der häßlich
+war und neidisch, und mit Faustschlägen an der Türe uns weckte aus
+unserem erdenfernen Liebestraum.
+
+Wir kehrten vom Wannsee zurück, wo wir unter blauem Himmel auf
+spiegelglattem Eis gemeinsam unsere Kreise gezogen hatten. Mit
+ängstlichem Gesicht hielt die gute Marie uns einen Brief entgegen.
+»Rohrpost -- und Rosaliens Schrift --« Heinrichs Gesicht entfärbte sich.
+»Ich bin in Berlin und ersuche dich, mich vom Hotel aus abzuholen. Unser
+Kind soll im Vaterhause geboren werden,« schrieb sie. Noch am Abend traf
+sie ein. Ich sah ihren dunklen Schatten hinter den Vorhängen. Ich wußte,
+was er mir bedeutete: kein Verzichten nach kurzem gestohlenem Glück, wie
+ich es einst geglaubt hatte, sondern Kampf um den Einsatz des ganzen
+Lebens. Mit dem Recht der Liebe gehörte Heinrich mir. Alles andere
+»Recht« ist nur verschleiertes Unrecht.
+
+Sie verlangte meinen Besuch. Ich fand sie im Bett liegend, vollkommen
+ruhig, während die Pflegerin damit beschäftigt war, das Zimmer
+umzuräumen. »In vierzehn Tagen etwa erwarte ich,« sagte sie nach
+gemessener Begrüßung, »Heinrich ist natürlich sehr unglücklich, daß ich
+ihn jetzt schon ausquartiere,« mit spöttischem Lächeln sah sie zwischen
+uns hin und her. Ich verabschiedete mich so rasch als möglich und nahm
+mir vor, diese Komödie freundschaftlicher Besuche nicht weiter zu
+spielen.
+
+Daß es jetzt für mich an der Zeit gewesen wäre, zu gehen, fern von
+Berlin in aller Stille die Entwicklung der Dinge abzuwarten, -- das
+fühlte ich instinktiv. Aber die Leidenschaft, die mich beherrschte,
+machte mich taub für die leisen Stimmen meines Inneren. Ich konnte ja
+gar nicht fort, beruhigte ich mein Gewissen, ich hatte kaum die Mittel,
+um zu leben, wie viel weniger, um zu reisen, -- ich war gerade jetzt
+unentbehrlich in Berlin, wo der Konfektionsarbeiterstreik täglich
+ausbrechen konnte.
+
+Es kamen auch viele einsame Stunden, wo meine Phantasie böse Träume
+spann: Ich sah ein winziges Kinderhändchen von unheimlicher Kraft, das
+mir den Geliebten entreißen wollte. Nein: ich konnte nicht fort!
+
+Er besuchte mich seit Rosaliens Rückkehr nur selten. Sie hatte ihr Bett
+und ihren Stuhl am Fenster so gestellt, daß sie zu mir herübersehen
+konnte. Auch einen kleinen Spiegel hatte sie anbringen lassen, durch den
+ihr niemand entging, der den Hof betrat. Oft, wenn ich das Haus verließ,
+um ihn zu treffen, war mir, als verfolge mich dies glänzende runde Ding
+mit dem bohrenden Auge darin durch alle Straßen. Zuweilen bemerkte ich
+auch, wie die Pflegerin, eine Johanniterschwester mit einem
+ausgemergelten fanatischen Asketengesicht mir von ferne nachschlich. Im
+Traum sah ich sie dann auf meinem Bette sitzen und mit hungrigen Augen
+die Schrift glutheißer Liebe lesen, die mir im Herzen geschrieben stand.
+
+Wir wählten immer andere Orte für unsere Zusammenkunft: kleine
+Weinstuben, stille Konditoreien, wo es nach saurem Wein und altem Kuchen
+roch und die Kellner die Wissenden spielten. Es war so widerwärtig, daß
+wir es schließlich vorzogen, in Wind und Wetter draußen im Wald zu sein,
+wo reine Luft unsere Stirnen kühlte. Einmal führte uns der Weg durch den
+Wald nach Paulsborn. Dicht lag der Nebel über dem See, ein feiner Regen
+stäubte vom Himmel. Er hatte mit seinem Arm seinen Mantel auch um mich
+geschlungen.
+
+»Vergiß mich, Alix, wenn du kannst,« sagte er, »laß den armen Kerl
+laufen, der allen Unglück bringt, die ihm zu nahe kommen.«
+
+Ängstlich forschte ich in seinen verschlossenen Zügen. »Willst du, daß
+ich gehe?« frug ich mit Betonung.
+
+Er zog mich fester an sich. »Ich müßte es wollen, um deinetwillen! Und
+doch, wenn ich mir vorstelle, du tätest es -- lieber brächt' ich dich
+um!« Zärtlich drückte ich meine Wange an seine Schulter. »Wenn das der
+Tod ist, den ich allein zu fürchten habe, so werd' ich ewig leben.«
+
+»Weißt du denn auch, was dir bevorsteht --?« »Ja,« lächelte ich, »dein
+Weib werde ich sein, dein glückseliges Weib!«
+
+»Glaubst du so sicher, daß sie in die Scheidung willigt, daß sie nicht
+vielmehr alles tun wird, um dich, um uns zu verderben?«
+
+Ich dachte schaudernd ihrer lauernden Blicke und ihrer Raubtierhände.
+Aber ich verscheuchte das Angstgefühl, das mich zu unterjochen drohte.
+
+»Nur die Trennung von dir wäre mein Verderben, und die erzwingt sie
+nicht. Dir werd' ich gehören, auch wenn ich's vor der Welt nicht darf!«
+
+»Sie werden alle mit Steinen nach dir werfen --«
+
+»Hast du mich lieb, bin ich unverwundbar --«
+
+Stärker strömte der Regen, dicht über den schwarzen Kiefern schienen die
+Wolken zu lagern. Am warmen Ofen im Wirtshaus trockneten unsere Mäntel.
+An Heimkehr war zunächst nicht zu denken. O, daß eine Sintflut uns
+umschlösse wie eine Insel und kein Schiff den Weg zurückfände in die
+Welt!
+
+»Kaum ein Jahr ist es her, daß ich Rosalie heiratete,« begann er
+nachdenklich, »wie heller Wahnsinn erscheint mir heute, was ich tat. In
+zarter Rücksicht hast du, Gute, nie gefragt und hast doch ein Recht,
+mehr von mir zu wissen, als daß ich dich liebe. Nach sechsjähriger Ehe,
+-- Jahren steigender Qualen, in denen wir uns immer weiter voneinander
+entwickelten, -- verließ mich meine erste Frau. Ich hätte es ihr längst
+verziehen -- sie litt ja wie ich! --, aber daß sie die beiden kleinen
+Kinder im Stiche ließ, das begriff ich nicht, werde es nie begreifen. Im
+Scheidungsprozeß wurden sie mir zugesprochen. Und nun begann ein Leben
+dauernder Aufregung. Wohl zehnmal am Tage, wenn ich im Redaktionsbureau
+saß, packte mich die Angst um die Kleinen. Ich sah sie von den
+unzuverlässigen Wärterinnen unbeaufsichtigt gelassen, von der Mutter
+heimlich entführt, und fuhr gehetzt zwischen der Wohnung und dem Bureau
+hin und her. Ständig war ich auf der Suche nach jemandem, dem ich die
+Kinder anvertrauen konnte. Ich klagte meine Not einem Freunde. 'Ich
+wüßte eine Dame, mit der Sie das große Los ziehen würden,' sagte der,
+'aber sie wird eine Stellung kaum annehmen wollen. Sie ist reicher Leute
+einziges Kind, ist aus Liebe zur leidenden Menschheit Krankenpflegerin
+geworden, und dabei die schönste Frau der Welt.' Ich war wie
+elektrisiert. Er mußte mir Namen und Adresse nennen, und in der nächsten
+Stunde schon war ich bei ihr. Wie ein Geschenk des Himmels schien es
+mir, daß sie ohne viel Überlegung ja sagte. Sie war gut zu meinen
+Kindern. Ich konnte ruhig arbeiten. Ich fand ein behagliches Zuhause,
+wenn ich heimkam. Daß sie weder die schönste Frau der Welt, noch reicher
+Leute Kind war, sondern irgendwo im Osten in einer Tagelöhnerkate das
+Licht der Welt erblickt hatte, war mir eher willkommen, als daß es mich
+enttäuscht hätte. Ihre Vorliebe für seidene Kleider, auf die sie all
+ihren Verdienst verwandte, mochte das Märchen um sie gesponnen haben.
+Ich ließ es geschehen, daß -- daß sie mich liebte. Ich hatte Jahre und
+Jahre jede Liebe entbehrt und hielt nun meine Dankbarkeit für Liebe. Nur
+daran, mich zu fesseln, dachte ich nicht. Zu schwer lastete die
+Erinnerung an die Ehe auf mir. Da warf mich ein heftiges Nervenfieber
+aufs Krankenlager. Und während ich noch matt und elend zu Bette lag,
+erklärte mir Rosalie, mich noch am selben Tage verlassen zu wollen, wenn
+ich ihr nicht die Heirat verspräche. Ich war empört, aber viel zu
+schwach zu energischem Widerstand. Ich dachte an meine Kinder. Sie ging
+schon am nächsten Tage mit unseren Papieren aufs Standesamt, um das
+Aufgebot anzumelden. So wurden wir Mann und Frau --«. Er schwieg. »Und
+trotz alledem wirst du mich lieb behalten?« fragte er dann leise.
+
+»Wenn du mich lieb behältst nach meiner Beichte,« antwortete ich und
+erzählte ihm von meiner Jugendliebe. »Weißt du --« sagte ich zum Schluß
+träumerisch, während seine Hand leise die meine streichelte, »mein Herz
+ist wie die Erde: ohne den Frühling wäre der Sommer mit seiner glühenden
+Sonne und seinen voll erblühten Rosen nicht gekommen. Und darum werde
+ich noch im Winter an ihn denken müssen.«
+
+Spät kamen wir nach Hause. Vor dem Tore stand die Johanniterschwester.
+Wie Fledermäuse flatterten ihre schwarzen Haubentücher im Wind.
+
+An meiner Tür empfing mich die Aufwärterin mit grinsender
+Untertänigkeit. »Herr Reinhard ist da,« sagte sie, »ich wußte nicht, daß
+gnädige Frau so lange fort bleiben würden -- bei dem Wetter.« Ich hörte
+seine Krücke hart und heftig aufschlagen.
+
+»Fast wäre ich wieder gegangen,« grollte er, »ich --« er legte starken
+Nachdruck auf dies 'ich' -- »ich habe keine Zeit, um Ausflüge zu
+machen.«
+
+»Verzeihen Sie, daß Sie warten mußten. Hätten Sie mir Ihren Besuch mit
+einem Worte angekündigt --«
+
+Er lachte besänftigt. »Schon gut -- schon gut! Wir wollen uns bei
+Präliminarien nicht aufhalten. Die Entscheidung steht vor der Tür --, an
+eine friedliche denke ich, nach der allgemeinen Stimmung zu urteilen,
+nicht mehr. Werden wir auf Sie rechnen können?«
+
+»Selbstverständlich. Aber daß Sie gerade jetzt, wo die öffentliche
+Meinung sich mehr und mehr auf Seite der Arbeiter stellt, wo
+einflußreiche Kreise der Bourgeoisie öffentlich für sie eintreten, an
+einer befriedigenden Lösung verzweifeln, begreife ich nicht.«
+
+»Welch ein Neuling Sie doch sind!« Er schüttelte verwundert den breiten
+Kopf. »Weil einigen bürgerlichen Idealisten all das aufgedeckte Elend an
+die Tränendrüsen geht, darum, meinen Sie, werden die Unternehmer
+nachgeben?! Wo der eigene Geldbeutel in Frage kommt, hört die
+Sentimentalität auf. Immerhin: wir werden bis zum äußersten warten,
+und --« seine Lippen kräuselten sich höhnisch -- »hoffen. Bei der
+miserablen Organisation, trotz der Hundearbeit der ganzen letzten
+Monate, ist es kein Kinderspiel, die Verantwortung für den Streik auf
+sich zu nehmen.«
+
+Er erzählte mir noch von den intimen Verhandlungen mit den Meistern der
+Damenmäntelkonfektion, von der mühseligen Ausarbeitung eines
+detaillierten Lohntarifs, von den Plänen für die nächste Zukunft, und
+empfahl sich, nachdem ich ihm nochmals versprochen hatte, als Rednerin
+überall zur Stelle zu sein, wo er mich würde brauchen können. Mein
+Gewissen schlug. Über dem eigenen Schicksal war ich nahe daran gewesen,
+das Geschick der Hunderttausende zu vergessen. Schon waren Schriften
+aller Art erschienen, die das Leben der Konfektionsarbeiter malten, wie
+ich es oft genug gesehen hatte. Warum war keine von mir? Und in den
+Versammlungen der bürgerlichen Frauenvereine wurde plötzlich entdeckt,
+daß die Not der Arbeiterin größer war als die höherer Töchter, in der
+Ethischen Gesellschaft wurden die Mittel zu ihrer Abhilfe lebhaft
+debattiert. Und ich allein schwieg!
+
+Von nun an fehlte ich nirgends mehr. Und ich fühlte: je weiter ich mich
+von mir selbst entfernte, desto stärker wurde ich. In einer Reihe großer
+Versammlungen wurden die Forderungen der Konfektionsarbeiter noch einmal
+klargelegt, ihre Lage beleuchtet, der sie Abhilfe schaffen sollten. Ich
+war in den Feensaal gegangen, wo Martha Bartels sprach. Kaum, daß ich
+noch Einlaß fand, denn auf der Straße schon stauten sich die Menschen.
+So viel Armut war wohl noch nie aus ihren dunklen Höhlen
+hervorgekrochen. Und noch nie hatten sich so viel elegante Frauen in
+ihrer nächsten Nähe befunden.
+
+In dem tief eingewurzelten Gefühl, das noch immer hinter dem schönsten
+Kleid die größte Respektsperson vermutet, drängten sich die Armen
+schüchtern an den Wänden entlang. Alte Frauen mit müden, rot geränderten
+Augen standen auf, um seidenrauschenden Damen Platz zu machen. Keinen
+Blick des Neides sah ich, keinen des Hasses. Als Martha Bartels sprach,
+schlicht, fast nüchtern, und ihnen die Geschichte ihres eigenen Leides
+erzählte, da weinten viele. Aber es waren nicht die fruchtbaren Tränen
+der Erkenntnis, unter deren heißer Flut die Kraft des Widerstandes
+gedeiht, es waren die Tränen der Verzweiflung, die armseligen Tropfen,
+die in den Kirchen fließen, wenn der Pfarrer von der Kanzel die
+Ergebenheit in Gottes Willen predigt. Zorn und Leid stritten in mir:
+Zorn, -- daß Armut und Religion die Menschheit so um ihre Würde hatten
+betrügen können, Leid, -- daß von dieser Menschen Kampfeslust und
+Ausdauer Sieg oder Niederlage abhängen würde.
+
+Beim Ausgang traf ich meine Mutter. Mit einer Anzahl bekannter Damen
+hatte sie der Versammlung beigewohnt. Sie waren alle erfüllt von dem
+Gehörten. Die Ruhe der Rednerin und der Zuhörer hatte den Eindruck nur
+verstärkt.
+
+In weitesten Kreisen, von den Nationalsozialen bis in die Reihen der
+Konservativen hinein, schien das Interesse für die Heimarbeiter rege zu
+sein. Meine Mutter war voll Eifer; ich hatte sie um einer solchen Sache
+willen nie so erregt, so lebhaft gesehen. Sie zwang mich förmlich, an
+einer Zusammenkunft teilzunehmen, die am nächsten Tage bei einem
+bekannten berliner Geistlichen stattfinden sollte.
+
+Ich holte sie ab, um mit ihr hinzugehen, und fand selbst meinen Vater
+voller Teilnahme. »Da ist dein Platz, da kannst du was leisten,« sagte
+er, mir die Hand schüttelnd, »da findest du uns alle an deiner Seite,
+wenn es gilt, den jüdischen Konfektionären, diesen Menschenschindern und
+Ausbeutern, das Handwerk zu legen.« Eine ähnliche Stimmung beherrschte
+die Sitzung, wenn auch der Wunsch nach einer friedlichen Lösung des
+Konflikts und die bestimmte Hoffnung auf seine Erfüllung von dem
+Einberufer sehr betont wurde.
+
+Er berichtete von dem Komitee, das sich kürzlich auf Anregung der
+Ethischen Gesellschaft gebildet hatte, um zwischen den Arbeitern und den
+Unternehmern eine Verständigung anzubahnen. Männer und Frauen der
+verschiedensten Parteirichtungen, deren Namen in der Öffentlichkeit
+einen guten Klang hatten, gehörten ihm an. Man beschloß, sich ihm
+gleichfalls anzuschließen. »Kommt es trotz alledem zum Streik, so
+schaffen wir eine Hilfskasse,« rief eine lebhafte kleine Dame, deren
+Energie beim Durchsetzen ihrer Pläne sie bekannt gemacht hatte. Man
+stimmte ihr ohne weiteres zu. »Wir müssen alle Geschäfte boykottieren,
+die die Forderungen der Arbeiter nicht bewilligen,« erklärte eine
+andere, und man überbot sich in steigender Erhitzung in Vorschlägen
+zugunsten der Sache. Ich erinnerte mich im stillen des Streiks der
+westphälischen Bergarbeiter. Auch damals sprach sich die öffentliche
+Meinung, soweit sie mir zu Ohren kam, zugunsten der Kämpfenden aus, aber
+sie tatkräftig zu unterstützen, daran wagte noch niemand zu denken. Also
+doch ein Fortschritt?! Mein Optimismus regte sich wieder.
+
+Ich berichtete Reinhard von dem Erlebten. »Halten Sie die Leute vor
+allen Dingen bei ihrem Unterstützungsversprechen fest. Alles andere ist
+Mumpitz,« sagte er. Und ich lief von einem zum anderen, und ließ mir, wo
+es irgend anging, schriftliche Zusicherungen geben. Inzwischen
+arbeiteten im stillen auch die Vermittler, und zu gleicher Zeit sah ich
+Martha Bartels und ihre Gefährtinnen, wie sie unermüdlich nach ihrer
+eigenen Arbeit treppauf, treppab stiegen, um die Begeisterung für den
+Kampf anzufachen, der ihnen nicht nur unausbleiblich, sondern erwünscht
+war. Sie schimpften laut und leise über das Zögern und Warten der
+Fünferkommission: »Wir pfeifen auf alle Versöhnungsduselei, bei der wir
+doch nur den kürzeren ziehen. Wir wollen eine ehrliche Entscheidung auf
+dem Schlachtfeld.« Die Ereignisse schienen ihnen recht zu geben.
+
+Am Abend des Kaisergeburtstages kam ich durch die menschenwimmelnde
+Friedrichsstadt. Nüchtern wie immer glänzten die Tausende elektrischer
+Birnen an den Geschäftshäusern, verschlangen sich zur Kaiserkrone, zum
+W. II, und nirgends zeigten sich Spuren einer von Liebe befruchteten
+Phantasie, die neue persönlichere Huldigungen hätte schaffen können.
+Irrte ich mich, oder waren die Fassaden der großen Konfektionshäuser
+sogar um einen Schein dunkler als sonst? Das Kaisertelegramm an den
+Burenpräsidenten Krüger schien, so hieß es, den Absatz deutscher Waren
+nach England lahmzulegen. Und während Alldeutsche und Antisemiten
+jubelten, ballten die Unternehmer die Fäuste im Sack.
+
+Die Versammlung, in die ich kam, bot ein anderes Bild als die letzte: es
+war vor allem eine der Männer. Und die Arbeiterinnen, die erschienen
+waren, gehörten zu den besser Bezahlten, zu den Aufgeklärteren, den
+Selbstbewußten. Etwas wie Siegeszuversicht schien sie zu beherrschen.
+Sie wiesen mit Fingern auf die Herren im Gehrock und Zylinder, sie
+tuschelten einander die Namen der Chefs und Zwischenmeister zu, die der
+Einladung der Arbeiterkommission heute gefolgt waren, sie warfen
+hochmütig den Kopf zurück, wenn einer von ihnen eine vertrauliche
+Begrüßung zu wagen versuchte. Reinhard sprach. Er erläuterte die
+Forderungen der Arbeiter. Seinem Temperament tat er sichtlich Gewalt an.
+Eisige Ruhe begleitete während der ersten Viertelstunde seine Rede. Dann
+unterbrach ihn eine gröhlende Stimme: »Bezahlter Agitator --«, das war
+das Signal für die anderen. Kein Satz blieb ohne Zwischenruf. Je
+dunkler die Flecken auf Reinhards Backenknochen sich röteten, je mehr
+die straffen Haarsträhnen ihm an den feuchten Schläfen klebten, und je
+heftiger die knochigen Hände ihm zitterten, desto lauter, roher,
+unflätiger wurde das Gebrüll der Zuhörer. Er sprach ruhig weiter -- von
+den elenden Löhnen der Frauen, von ihrer sittlichen Gefährdung. »Sei man
+stille, Quasselkopp,« schrie dicht neben mir ein dicker Kerl, mit
+Brillantringen auf den roten Wurstfingern, »die Mächens wissen schon,
+wofür wir jut zahlen.« Alles lachte. »Frag mal, von wo die Kleene da
+ihren süßen, roten Lockenkopp hat,« rief ein anderer. »Von de sittliche
+Jefährdung,« brüllte aus dem Hintergrund eine ölige Stimme. Es war kein
+Halten mehr. Man überbot sich in zynischen Witzen. Und die Frauen, die
+vorhin so kampfbereit, so unnahbar schienen? Sie kicherten in ihre
+Taschentücher, einige lachten kokett die ärgsten Zotenreißer an.
+Reinhard schwieg erschöpft. Die Diskussion war von der allgemeinen
+Ulkstimmung beherrscht. Nur zuletzt, als es zur Abstimmung gehen sollte,
+erhob sich einer der Meister, um eine Programmrede zu halten. Er sprach
+vom Mittelstand, »dem sittlich gesunden Kern des Volkes, der wahre
+Religion und echtes deutsches Familienleben pflegt und hochhält,« und
+den »die Sozialdemokratie in ihrer Respektlosigkeit angesichts der
+heiligsten Güter der Nation« vernichten wolle. »Auch dieser uns
+angedrohte Kampf ist nichts anderes als ein Vorstoß der Umsturzpartei
+gegen die Staatsordnung, und zum Kanonenfutter lassen die Dummen unter
+den Arbeitern sich gebrauchen. Wir aber stehen wie ein Fels im Meer;« --
+unter dem Bravogeschrei der Zuhörer warf er sich stolz in die Brust und
+bewegte pathetisch die Arme. »Wir sagen nein und abermals nein und
+wissen, daß wir trotz dem Geschrei der Gegner, trotz Streikdrohung,
+immer noch so viel Arbeiter kriegen, als wir brauchen, -- und wenn wir
+sie von den Hottentotten nehmen sollten.«
+
+Am Ausgang erwartete ich Reinhard. Ich sah, wie Martha Bartels, von
+einer Schar lebhaft gestikulierender Frauen umgeben, erregt auf ihn
+einsprach. »Es ist kein Halten mehr,« sagte er im Nähertreten. »Nun
+ist's aber auch höchste Zeit,« rief ich, noch heiß vor Entrüstung. »Wir
+müssen das Eisen schmieden, solange es warm ist, -- in allen Kreisen
+findet der Streik Unterstützung.« »Sachte, sachte, liebe Genossin,«
+wehrte er ab. »Im Augenblick sind uns stärkere Knüppel zwischen die
+Beine geworfen worden, als Ihre hilfsbereiten Damen aufheben können.
+Wenn England die deutsche Konfektion boykottiert, so können wir
+einpacken.«
+
+Der Termin für die Antwort der Unternehmer wurde abermals
+herausgeschoben. In den Arbeiterkreisen begann es bedenklich zu gären;
+es gab Leute, die schon von Intrigen, Schmiergeldern und offenem Verrat
+munkelten. In Hamburg, in Erfurt, in Stettin, in Breslau brach der
+Streik aus, -- in Berlin zögerte man noch immer, scheinbar um dem
+Vermittelungskomitee Zeit für seine Verhandlungen zu gewähren, in
+Wirklichkeit aber, um die Entwickelung der Dinge in England abzuwarten.
+Man glaubte an einen Krieg, zum mindesten an einen wirtschaftlichen.
+Endlich liefen, so zahlreich wie sonst, bei den großen Konfektionären
+die Bestellungen ein; und in einer Versammlung der Ethischen
+Gesellschaft wurde, zugleich mit einer rückhaltlosen Sympathieerklärung
+an die kämpfende Arbeiterschaft, das völlige Scheitern der
+Einigungsversuche mitgeteilt.
+
+Im Bureau der Schneider-Gewerkschaft trat die Arbeiterkommission
+zusammen. Es war wie im Hauptquartier eines Krieges. Wir empfingen die
+Streikerklärung als unsere Parole und unseren Marschbefehl. In riesigen
+Plakaten wurde die Bevölkerung am nächsten Morgen zu den Versammlungen
+eingeladen, mein Name stand unter denen der vierzehn Referenten.
+
+Ich saß mit meiner Rede beschäftigt am Schreibtisch, als es draußen
+zweimal heftig klingelte. Der Vater! -- »Dein Name steht auf den
+Litfaßsäulen unter lauter Sozialdemokraten,« brauste er mich an.
+
+»Du bist auf der Seite der Streikenden, wie ich weiß, du selbst hast
+mich ermuntert.« Er ließ mich nicht ausreden. »Nicht um ein
+ungesetzliches Vorgehen zu unterstützen, -- du mußt deinen Namen
+augenblicklich zurückziehen --«. Er stierte mich an mit dem wilden
+Blick, den ich so fürchtete. Ich lehnte mich zitternd an den
+Schreibtisch. »Fahnenflüchtig?! Nein! Wär' ich's, du würdest dich bei
+ruhiger Überlegung meiner schämen müssen.« Er umklammerte mein
+Handgelenk. »Soll ich mein Kind verlieren?« stieß er hervor, sein Atem
+keuchte, die Augen traten aus den Höhlen.
+
+»Ich kann mein Wort nicht brechen, -- auch mir selbst gegenüber nicht,«
+flüsterte ich. Ein Ruck ging durch seinen Körper, meine Hand stieß er
+von sich, faßte sich ein paarmal mit den Fingern an den Kragen, als
+würde er ihm zu eng, und schritt festen Schrittes, wortlos, der Türe
+zu. Ich hörte sie zufallen, -- eine zweite knarrend sich öffnen, --
+heftig ins Schloß zurückschlagen; ich lief ans Fenster: ein alter Mann
+ging über den Hof, sehr langsam, tief gebückt, schwer auf den Stock sich
+stützend. O, daß er nur ein einziges Mal den Kopf noch wenden möchte, --
+aber der starre Nacken bewegte sich nicht. Schluchzend brach ich
+zusammen.
+
+»Alix!« Heinrichs entsetzter Ruf brachte mich wieder zu mir. Er hatte
+den Vater fortgehen sehen und war, alle Vorsicht vergessend, zu mir
+geeilt. »Wirst du heut abend sprechen können?!« »Gewiß, -- nun bin ich
+ja ganz -- ganz frei!« Die Tränen waren versiegt, mir war, als läge mein
+Herz zu Eis erstarrt in meiner Brust. Selbst der Geliebte kam mir
+plötzlich fern und fremd vor.
+
+ * * * * *
+
+Für die Kriegserklärung, die ich heute abzugeben hatte, war es die
+rechte Vorbereitung: kein weiches Gefühl konnte mich überwältigen,
+eiserne Entschlossenheit beherrschte mich. Zu _einer_ Riesenkraft wollte
+ich die schwarze Menschenmasse vor mir zusammenschweißen, von _einem_
+unbeugsamen Willen beseelt. Und ich richtete die Paläste der Unternehmer
+vor ihren Augen auf, die ihre Arbeit gebaut hatte, und wies auf ihre
+üppigen Tafeln, die ihr Hunger deckte. Ich zeigte ihnen die seidenen
+Kleider ihrer Frauen und ihrer Mätressen, an denen der Schweiß der
+Arbeiterinnen klebte, und ihre Edelsteine, in denen das Augenlicht derer
+gefangen war, die es in nächtlicher Arbeit verloren hatten. Ich fühlte:
+schon war die Luft erfüllt vor unsichtbarem Sprengstoff. Und nun sprach
+ich von der kommenden Schlacht, die nichts sei als ein Teil des großen
+Krieges zwischen unverschuldeter Armut und schuldbeladenem Reichtum;
+sprach von alledem, was der Preis ihres Mutes, ihrer Ausdauer sein
+würde, und doch nur darum von unschätzbarem Werte sei, weil es sie
+geistig und körperlich fähig mache, den Menschheitsfeldzug bis zu Ende
+zu führen. »Eure Sache ist die Sache der ganzen Arbeiterschaft. Jede
+Schwäche von euch ist ein Verrat an ihr ...«
+
+»Eine demagogische Hetzrede,« sagte jemand, als ich die Tribüne verließ.
+»Prachtvoll« -- versicherte mir ein sozialdemokratischer
+Reichstagsabgeordneter händeschüttelnd. Ich sah fragend um mich:
+erstaunte, bewundernde, auch tränenfeuchte Blicke begegneten den meinen,
+aber vom Fieberfanatismus der Kriegslust bemerkte ich nichts.
+Verständnislose Verlegenheit lag zum Teil auf den abgehärmten Zügen der
+Frauen. »Was hat sie gemeint?« hörte ich flüstern. »Was sollen wir tun?«
+»Und wie gerade die Damenmäntel dann bezahlt werden, sagte sie nicht« --
+»ob wir gleich in die Betriebswerkstätten kommen?« -- Mir sank der Mut.
+Heinrichs Lob -- er hatte sich's nicht nehmen lassen, mich zu begleiten
+-- schien mir von Mitleid diktiert.
+
+Zu Hause fiel ich sofort in den Schlaf der Erschöpfung. Mitten in der
+Nacht fuhr ich entsetzt aus dem Traum; irgendein langgezogener Ton
+weckte mich. Ich sprang aus dem Bett. Aus den Fenstern drüben drang
+helles Licht. Die Schatten vieler Menschen bewegten sich hastig hin und
+her. Gellende Schreie klangen über den Hof.
+
+Jetzt -- jetzt wand sich das unglückselige Weib, das ich betrogen
+hatte, in gräßlichen Schmerzen, -- und das Kind -- meines Geliebten
+Kind! -- kam zur Welt. Kalter Schweiß trat auf meine Stirne. Das
+flackernde Licht von drüben malte gespenstische Gestalten in mein
+Zimmer. Ein großes Ungeheures beugte sich über mich, die
+zusammengekauert, frostgeschüttelt am Fenster hockte. Es griff mir in
+den Nacken mit spitzen Krallen, es wuchs -- wuchs, erfüllte den ganzen
+Raum -- die Wohnung -- das Haus -- die Welt. »Ich bin die Schuld --
+deine Schuld!« gellte es in meinen Ohren mit dem letzten Schrei des
+Weibes drüben ...
+
+»Es steht gut -- Mutter und Kind sind wohl --« Heinrich stand vor mir,
+leichenblaß; »aber du --« er sah mich erschrocken an, wie eine schwere
+Krankheit lag die Nacht hinter mir, -- »wenn du jetzt schon
+zusammenbrichst, wo das Schwerste bevorsteht!«
+
+»Nachdem ich das überstanden, gibt es nichts Schwereres --«
+
+Ich war in der nächsten Zeit fast nie zu Hause. Wenn ich früh erwachte,
+müde, als hätte ich kein Auge zugetan, so schien mir's, als stünde jenes
+große Ungeheure hinter mir, vor dem ich unaufhörlich die Flucht
+ergreifen mußte. Nur wenn ich draußen war, fern dem Bannkreis dieses
+Hauses, wenn die Not der anderen, die der Streik aufdeckte und gebar,
+sich zwischen mich schob und meine Schuld, atmete ich freier.
+
+ * * * * *
+
+Ich saß auf der Reichstagstribüne, als die nationalliberale
+Interpellation, die Lage der Konfektionsarbeiterinnen betreffend, zur
+Verhandlung kam und alle bürgerlichen Parteien ihr arbeiterfreundliches
+Herz entdeckt zu haben schienen. Was noch kein preußischer Minister zu
+denken gewagt hatte -- daß eine Arbeitseinstellung berechtigt sein
+kann --, das erklärte Herr von Berlepsch vor der deutschen
+Volksvertretung angesichts dieses Streiks. Kein Zweifel: der
+Riesenkampf, den die Ärmsten der Armen kämpften, wird kein vergeblicher
+sein, eine neue Ära sozialer Reformen bricht an. Und dem Verdikt des
+Reichstags werden die Unternehmer sich beugen müssen. Ich verstand
+nicht, warum der Redner der sozialdemokratischen Fraktion sich
+angesichts dieser Kundgebungen so skeptisch äußern konnte. Im ganzen
+Reich wurde für die Streikenden gesammelt. Neben den Bureaus der
+Streikkommission, in denen Streikkarten ausgestellt und
+Unterstützungsgelder gezahlt wurden, richteten bürgerliche Vereine
+Hilfsstellen ein, wo Nahrungsmittel und Kleidungsstücke zur Verteilung
+kamen.
+
+Stolz, oft übermütig in ihrer Hoffnungsfreudigkeit stellten sich in den
+ersten Tagen die Streikenden ein. Von Unterstützung wollten sie nichts
+wissen, nur ihre Karten ließen sie sich geben.
+
+»Wir halten aus,« sagte ein junges, bleichsüchtiges Mädel, und ihre
+Augen blitzten dabei. »Die Unternehmer haben uns für sich hungern
+lassen, nun hungern wir mal für uns selber --« und, ein Liedchen
+trällernd, war sie wieder draußen. Selbst auf den Gesichtern alter
+müder Frauen lag ein stilles Leuchten. Ein halbwüchsiger Bengel, der in
+Begleitung seiner Mutter kam, verkündete triumphierend: »Wir arbeeten
+jetzt for drei, damit Muttern feiern kann,« und lächelnd streichelten
+ihre zerstochenen Finger seine Wange: »Nu kommen ooch janz andere
+Zeiten!«
+
+Oft standen die engen Bureauräume gedrängt voll Wartender. Dann flogen
+Witze hin und her; vom »Meester« erzählten sie einander, der mit der
+»Ollen« händeringend in der leeren Bude stand. »Noch janz anders soll
+die Gesellschaft winseln! Laßt man erst acht Tage ins Land jehen, denn
+werden sie zu uns bitten kommen,« rief ein krummbeiniges Schneiderlein.
+»Wir werden ihr Mores lehren, der Rasselbande!« fügte zähneknirschend
+ein anderer hinzu.
+
+Allmählich änderte sich das Bild: Blasse Frauen, die unsicher und
+ängstlich blickten, mit Kindern auf den Armen und an der Schürze,
+drängten sich um die Zahlstellen; das morgens angehäufte Geld, das mir
+unerschöpflich schien, war jeden Abend wieder ausgegeben. Auch Männer
+kamen, Familienväter, mit zusammengepreßten Lippen. Die Witze
+verstummten. Finstere Entschlossenheit lag in dem Schweigen der
+Wartenden. Aber immer noch traten welche an den Tisch, die nichts
+verlangten, als die Ausfüllung ihrer Streikkarten. Auch Frauen waren
+unter ihnen. Eingesunkene Wangen, trockene Lippen, fiebrige Augen
+sprachen vom Heldenmut der Hungernden. Verlegen schob sich wohl auch ein
+junges Mädel durch die Türe und streckte die Hand nach dem Gelde aus.
+»Schämst du dir nicht!« schrie einer einmal eine hübsche Brünette an,
+mit Rosen auf dem kecken Filzhut, und riß sie unsanft zurück, »hat noch
+so'n Deckel auf'n Kopp und Glacénene an die Finger und will den ollen
+Weibern das Brot nehmen?!« Kam aber gar ein kräftiger Mann, so hagelte
+es empörte Schimpfworte: ein Verräter, wer in seinem Opfermut nicht bis
+zum Äußersten ging.
+
+Und dann kamen die Tage, wo sie in dichtgedrängten Scharen bis auf die
+Straße hinunterstanden, und keiner mehr war, den der Hunger nicht
+bezwungen hätte. Viele schämten sich, daß sie unterlegen waren; sie
+wagten kaum den Kopf zu heben, wenn sie vor den Zahltisch traten.
+Zusammengesunken erschienen andere vor Mutlosigkeit. »Erreichen wir's?«
+flüsterte fragend der eine, »geben sie endlich nach?!« der andere.
+Tränenumflorte Augen richteten die Frauen auf uns, scheue Blicke voll
+Zweifel und Mißtrauen die Männer. Und nichts als Schweigen, als
+Achselzucken konnte die Antwort sein. Die Kassen füllten sich langsamer;
+der aus rührseliger Sentimentalität entstandene Enthusiasmus
+bürgerlicher Kreise verpuffte wie ein Feuerwerk. Die Unternehmer hielten
+aus; sie hatten noch immer genug zu essen. Und die Opferwilligkeit der
+deutschen Arbeiterschaft für die kämpfenden Brüder hatte ihre äußerste
+Grenze erreicht.
+
+Ich sah Reinhard nur flüchtig. Die hektische Röte wich nicht mehr von
+seinen Backenknochen. Er hatte keine ruhige Minute.
+
+»Wir sind am Ende,« sagte er mir mit rauher Stimme, als wir uns in einem
+der Streikbureaus wieder begegneten. Es traf mich wie ein
+Peitschenschlag. Was hatte ich damals denen, die ich zum Streik aufrief,
+als sicheren Lohn ihres Ausharrens in Aussicht gestellt! Würden sie mir
+jemals wieder vertrauen können?! »Die Forderung der Betriebswerkstätten
+werden wir fallen lassen müssen --.« »Gerade das?! Die Hauptsache!« rief
+ich. »Das einzige Mittel vielleicht, um dem Elend der Heimarbeit, um der
+Ausbeutung der Zwischenmeister ein Ende zu machen!« -- »Gerade das. Wir
+wollen froh sein, wenn sich der Lohntarif durchsetzen läßt und der
+Reichstag sein Versprechen einer durchgreifenden Gesetzgebung einlöst.«
+
+Schweren Herzens kam ich an jenem Tag in das Bureau. Es war überfüllt,
+und lautes Stimmengewirr drang mir entgegen. »Die Führer verraten uns!«
+rief einer. »Wir können hungern, und sie stopfen sich die Taschen --,«
+brüllte ein anderer. Ein paar keifende Weiber hieben mit Fäusten auf den
+Zahltisch: »Betrüger seid Ihr, -- Ausbeuter, -- schlimmer als die
+Meister,« schrien sie den Dahinterstehenden ins Gesicht, die das Geld
+abzählten. »Wir haben nichts mehr --,« flüsterte einer der
+Gewerkschaftsbeamten mir hastig zu, »-- es war ein Ansturm
+ohnegleichen.« Ich lief die Treppe wieder hinab, sprang in die nächste
+vorüberfahrende Droschke und fuhr zur Zentralstelle der Ethischen
+Gesellschaft. Heute, so hatte man mir mitgeteilt, sei eine beträchtliche
+Summe eingelaufen. Ich ließ mir geben, was zur Verfügung stand, -- es
+war auch nur ein Tautropfen, der im Augenblick in der durstenden Erde
+verschwinden würde, -- und fuhr zurück, so rasch der arme Schimmel
+laufen konnte. Vor dem Bureau stauten sich die Menschen. Ein paar
+Polizisten hielten mühsam die Straße frei. Ich sprang aus dem Wagen und
+versuchte mich vorzudrängen. »Wat, so eene biste, daß de erster Jüte
+fährst?« schrie mich eine rohe Stimme an, und eine Faust stieß mich in
+den Rücken. Ein paar Burschen, die nach Fusel rochen und mit den
+Konfektionsarbeitern sichtlich nicht das Geringste zu tun hatten,
+überschütteten mich mit unflätigen Redensarten. Ich versuchte, mir mit
+ein paar Ellbogenstößen freie Bahn zu schaffen, während meine Hände die
+Geldtasche angstvoll umklammerten. »So loof doch, loof -- wir werden dir
+Beene machen,« gröhlten sie und ich fühlte ihre Fäuste wieder auf meinem
+Rücken. Ich schrie laut auf. Im Augenblick war ich von bekannten
+Gesichtern umgeben, ich hörte noch ein paar Ohrfeigen rechts und links
+und war halb getragen, halb geschoben im Zimmer.
+
+Am Abend war auch das letzte Geld verteilt.
+
+In diesem Augenblick der Not kam es zu einer überraschenden Wendung: ein
+Teil der Zwischenmeister, empört darüber, daß die Unternehmer ihnen alle
+Schuld an den schlechten Löhnen zuzuschieben suchten, machten gemeinsame
+Sache mit den Arbeitern, und die Fabrikanten, die nunmehr ernstlich in
+Gefahr standen, die Einnahmen der Saison zu verlieren, die aber
+andererseits auch genug von der Lage der Dinge unterrichtet waren, um zu
+wissen, daß die Streikenden das Ende ihrer Widerstandskraft erreicht
+hatten, riefen offiziell die Vermittlung des Gewerbegerichts an. Die
+Fünferkommission der Arbeiter, davon in Kenntnis gesetzt, zögerte nicht,
+auch ihrerseits mit dem Einigungsamt in Verbindung zu treten. Im
+Bürgersaal des berliner Rathauses, vor einem vielhundertköpfigen
+Publikum, kam es zur Verhandlung und zur endlichen Unterzeichnung eines
+Vertrags, dessen wichtigste Bedingungen die Erhöhung der Löhne und die
+Gegenseitigkeitsverpflichtungen in bezug auf die Durchführung der
+Lohntarife waren. Von den Betriebswerkstätten war gar keine Rede mehr.
+
+Die Streikleitung berief die Referenten zu einer neuen Sitzung. In
+öffentlichen Versammlungen sollten wir das Ende des Streiks verkünden.
+Ich versuchte, mich frei zu machen. »Wir haben Ihr Wort, Genossin
+Glyzcinski,« sagte einer der Führer mit scharfer Betonung. »Wie kann ich
+diesen Ausgang als einen Sieg verteidigen,« wandte ich ein. »Darüber
+mögen Sie denken, was Sie wollen,« entgegnete Martha Bartels heftig,
+»hier haben Sie einfach Ihre Pflicht zu tun, wie wir alle.« Flüchtig
+fuhr mir durch den Kopf, daß ich aus meiner Welt dem Zwang der Pflicht
+entflohen war, um meiner Überzeugung zu folgen, aber ich fühlte mich
+viel zu müde, um jetzt darüber nachzudenken. Ich fügte mich
+stillschweigend. Als eine Wohltat sah ich es an, daß ich wenigstens
+nicht in demselben Saal, vor denselben Menschen sprechen mußte. Weit in
+den Osten, in die Andreasstraße, schickte man mich. »Sie werden keinen
+leichten Stand haben,« sagte Reinhard beim Weggehen, »es ist das
+Hauptquartier der Anarchisten.«
+
+Heinrich Brandt begleitete mich auf dem Wege zur Versammlung. Wir hatten
+uns in der Zwischenzeit nur immer auf Minuten gesehen. Erst jetzt, wo
+Rosalie schon seit einigen Tagen aufgestanden war, schwand unsere Angst
+um sie. Das Wochenbett war normal verlaufen; sie nährte den Kleinen und
+schien seelenruhig. Trotzdem war Heinrich heute wortkarg, und sein
+ausdrucksvolles Gesicht, das jede Stimmung verriet, erschreckte mich.
+Aber soviel ich auch in ihn drang, er meinte, es sei nichts, gar nichts
+geschehen, ich solle lieber an meinen Vortrag denken, als über die
+Ursache seiner schlechten Laune nachgrübeln.
+
+Der kleine Saal war schon voll, als ich kam. In allen Händen sah ich
+weiße Zettel, mein Auge fiel auf lauter erregt gerötete Gesichter. Bei
+der Wahl des Bureaus siegte der Führer der Anarchisten mit riesiger
+Mehrheit über unseren Kandidaten. Ich empfand es fast wie eine
+Erleichterung --, »nun werden sie mich gar nicht reden lassen,«
+flüsterte ich Heinrich zu. Aber schon stand der junge blonde Mann mit
+den zarten Mädchenzügen auf der Tribüne: »Ich erteile der Referentin
+Frau von Glyzcinski das Wort«, und mit einer höflichen Handbewegung
+machte er mir neben sich Platz.
+
+Ich sprach schlecht. Keinen Augenblick konnte ich meiner eigenen
+Empfindung, meinen innersten Gedanken folgen. Ich war nur ein
+Sprachrohr. Trotz der musterhaften Leitung des jungen Anarchisten, der
+die Ruhe immer wieder herzustellen suchte, unterbrachen mich Zurufe
+aller Art: sarkastische, gemeine, wütende. Dazu Heinrichs Gesicht, auf
+dem meine Blicke immer wieder haften blieben --, ich verlor den Faden,
+verwirrte mich, wurde ängstlich. Man rief höhnisch »Bravo«, als ich
+geendet hatte. Und dann sprach der Vorsitzende. Seine ganze Rede war ein
+feuriger Appell an das Proletariat, eine glühende Anklage der
+Streikleitung. Im Moment, wo aus England Millionen an Unterstützung zu
+erwarten seien, habe sie sich feige den Kapitalisten unterworfen und die
+Sache des Volks verraten. An ihm sei es nun, zu zeigen, daß es sich von
+keiner Seite knebeln lasse, daß es den Kampf nicht nur fortsetze,
+sondern ausdehne, bis ein Generalstreik dem Volk die Macht verleihe,
+dem Unternehmertum seine Gesetze zu diktieren. In jedem Wort, das er
+aussprach, brannte das Feuer seiner Überzeugung, und alles jauchzte ihm
+zu. Meine Resolution wurde abgelehnt, die seine, die die Fortsetzung des
+Streiks erklärte, angenommen. Durch einen Nebeneingang ließ man mich
+hinaus. Man hätte mich sonst vor den Insulten der fanatisierten Menge
+nicht schützen können.
+
+Der Streik war trotzdem zu Ende. Die englischen Millionen waren nichts
+als ein Märchen. Ein paar Tollkühne hungerten noch eine Woche länger --,
+das war alles.
+
+ * * * * *
+
+Wir gingen durch den Tiergarten heimwärts, Heinrich und ich. Die Kälte
+tat mir wohl. »Am liebsten zöge ich selbst solch Schneekleid an, um
+ganz, ganz kalt zu werden,« murmelte ich. Eine große Hoffnungslosigkeit
+hatte sich meiner bemächtigt.
+
+»Nun sollst du auch wissen, was mir fehlt,« sagte Heinrich, auf dessen
+Arm ich mich müde stützte. »Ich hatte heute eine böse Szene mit Rosalie.
+Sie will in den Süden -- auf Monate -- mit mir. Um unsere Ehe wieder
+herzustellen, wie sie sagt. Ich weigere mich, brauchte lahme Ausreden,
+die sie durchschaute. Sie bekam einen Weinkrampf, dann warf sie mir vor,
+daß ich das Kind töten wolle, indem ich sie, die nährende Mutter, nicht
+schone.«
+
+Er blieb aufatmend stehen.
+
+»Und du?!«
+
+»Ich versprach ihr jede Rücksicht, -- nur mit ihr reisen könne ich
+nicht. Jetzt fordert sie eine Auseinandersetzung, auch mit dir. Zwei
+Tage hat sie mir Zeit gegeben.«
+
+»Sie hat recht,« sagte ich, »auch sie zieht ein Ende mit Schrecken dem
+Schrecken ohne Ende vor.«
+
+Ich zwang mich zur Ruhe, -- seinetwegen.
+
+Die beiden Tage schleppten sich hin wie ebenso viele Jahre, jede Stunde
+beladen mit Qualen, mit Selbstvorwürfen, mit Zweifelfragen. Hatte ich
+nicht das Leben dieser Menschen zerstört, hatte den, der mir auf der
+Welt der liebste war, in einen Kampf gerissen, der für ihn vielleicht
+des Einsatzes nicht wert sein würde, hatte dem Kinde schon im
+Mutterleibe den Vater gestohlen!
+
+Und dann kam der Tag und die Stunde. Ich wartete von mittags bis abends.
+Jeder Schritt auf dem Hof ließ mich auffahren, vor jedem Laut, der von
+drüben klang, zitterte ich. Minuten gab es, in denen ich die Hände
+faltete, wie ein kleines Kind, wenn sinnlose Angst es den schützenden
+Vater im Himmel suchen ließ. Aber durfte ich beten -- ich! --, selbst
+wenn ich noch glauben könnte?! Die Bilder auf meinem Schreibtisch
+starrten mich an und sahen mir nach, wohin ich auch im ruhelosen Auf-
+und Abwandern mich wandte: der Vater, der einst einen braven Offizier
+seines Regiments für unwürdig erklärt hatte, weiter des Königs Rock zu
+tragen, weil er das Weib eines andern liebte; die Mutter, deren ganzes
+Leben unter dem einen Gesetz der Pflichterfüllung stand; -- aber lugte
+nicht neben ihr aus dem Rahmen ein stilles, edles Antlitz hervor mit
+gütigen dunkeln Augen? »Großmama,« schluchzte ich leise. O, daß ich den
+Kopf in ihrem Schoß vergraben, ihr beichten und aus ihrem Munde mein
+Absolve te hören dürfte!
+
+War das nicht sein Schritt? Ich riß das Fenster auf. Klang nicht ein Ruf
+zärtlich aus dem Dunkel? Mit angehaltenem Atem horchte ich. Klopfte es
+nicht an der Pforte? Oder war es mein eigenes Herz, das ich hörte? Ich
+blieb auf dem engen, kleinen Flur, an die Mauer gelehnt, mit krampfhaft
+aufgerissenen Augen und pochenden Schläfen. Die Treppe draußen knarrte,
+ich griff an die Klinke, die Türe sprang auf --
+
+»Alix!« Welch ein Ton war in seiner Stimme! Halb bewußtlos sank ich in
+seine weitgeöffneten Arme.
+
+»Sie willigt in die Scheidung.«
+
+
+
+
+Viertes Kapitel
+
+
+An einem jener norddeutschen Apriltage, wo Frühling und Winter einander
+wie Feinde vor dem Ausbruch des Kampfes lauernd umschleichen, die Sonne
+auf hellen Plätzen Sommergrüße vom Himmel sendet und daneben der
+feuchtkalte Wind triumphierend durch schattige Straßen fegt, ging ich
+zum Abschiednehmen zu den Eltern.
+
+Seit jenem Tage, wo mein Vater mich im Zorn verlassen hatte, war ich
+nicht mehr bei ihnen gewesen. Selbst die notwendigen geschäftlichen
+Auseinandersetzungen, die sich an den Tod einer Verwandten und der mir
+und meiner Schwester zugefallenen kleinen Erbschaft knüpften, hatte mein
+Vater schriftlich erledigt. Jetzt aber hatte er mich vor meiner Abreise
+noch einmal sehen wollen.
+
+Er empfing mich ernst und gemessen. »Du siehst schlecht aus,« sagte er
+dann und ein liebevoll besorgter Blick strafte seine äußere Strenge
+Lügen. Ich wußte es: die letzten Monate hatten meine Nervenkraft
+erschöpft; ich bedurfte der Erholung, aber mehr noch des Fernseins von
+Berlin während des bevorstehenden Scheidungsprozesses. »Die Erbschaft
+kommt dir wirklich zustatten,« fuhr er fort. Er ahnte nicht, in welchem
+Umfang er recht hatte!
+
+Eine konventionelle Unterhaltung entspann sich. Und doch war mir das
+Herz so voll: ich allein wußte von uns allen, wie weit ich mich
+mit diesem Abschied von ihnen entfernte, -- vielleicht auf
+Nimmerwiedersehen. Ein Wort der Dankbarkeit, der Liebe hätte ich gern
+gesagt; -- in der Temperatur, die zwischen uns herrschte, erfror es,
+noch ehe es über die Lippen kam.
+
+»Es ist mir nicht recht, daß du allein in die Welt hineinreist,« sagte
+mein Vater, als ich schon an der Türe stand, »Ihr Jungen denkt anders
+darüber, -- Einfluß habe ich keinen mehr, -- ich kann nur hoffen, daß du
+dich stets erinnerst, was du deinem Namen schuldig bist.« Seine Augen
+ruhten forschend auf mir. Ich reichte ihm stumm die Hand: »Lebewohl,
+Papa --« Ich zwang meine Stimme, nicht zu zittern. »Lebwohl,« antwortete
+er mit einem Seufzer. Einen Kuß gab er mir nicht mehr.
+
+Die Mutter begleitete mich auf den Flur.
+
+»Hast du etwas besonderes zu schreiben,« sagte sie mit Betonung, »so
+lege stets einen besonderen Zettel dem Brief an mich bei, damit ich ihn
+Hans ohne Schaden zeigen kann.« Ich hatte die Empfindung, daß mein
+Weggehen sie erleichtere. Ilse kam noch bis auf die Straße mit mir.
+
+»Du, Schwester, ist es wahr, daß Dr. Brandt sich deinetwegen scheiden
+läßt?!« flüsterte sie hastig mit glänzenden Augen. Aufs peinlichste
+überrascht starrte ich sie an. Sie preßte mir stürmisch die Hand: »Du,
+-- das ist furchtbar interessant! Freilich --« und nachdenklich kaute
+sie an der Unterlippe -- »mit Papa werden wir wieder aushalten müssen!«
+
+Ein Regenschauer trieb sie ins Haus zurück. Fröstelnd zog ich den
+Mantel fester, der Wind zerrte daran und warf mir eiskalte Tropfen ins
+Gesicht.
+
+Am Abend fuhr ich nach München, wo Heinrich den Zug bestieg. Er hatte
+seine Söhne in Pension, Rosalie und den Kleinen mit der Pflegerin aufs
+Land gebracht.
+
+»Es gab wieder eine Szene,« erzählte er, »ihre innere Stimme, an die sie
+nun einmal glaubt, hat ihr gesagt, daß du mich unglücklich machen
+würdest. Aus Mitleid wollte sie darum alles verzeihen und mich in Gnaden
+wieder aufnehmen. Als ich darauf verzichtete, prophezeite sie mir mit
+dem Pathos einer Kassandra, ich würde noch einmal kniefällig um ihre
+Liebe betteln. Und als auch das ohne Eindruck blieb, machte sie allerlei
+dunkle Andeutungen über Zeugenaussagen im Prozeß, und die Pflegerin
+lachte mich dabei so impertinent an, daß ich grob wurde.«
+
+»Nicht umsonst habe ich mich immer vor ihr gefürchtet,« sagte ich
+trübsinnig.
+
+»Mein armer, kleiner Angsthase!« lächelte er, halb ungeduldig, halb
+belustigt. Im Lexikon seiner Gefühle hatte das Wort »Furcht« keinen
+Platz gefunden. »Du bist so tapfer und kannst so feige sein! Haben wir
+nicht bisher schon über alles Erwarten Glück gehabt, und du willst
+verzagen -- gerade jetzt, wo wir dem Frühling entgegenfahren?«
+
+Voll tiefen Vertrauens lehnte ich mich in den Arm zurück, der mich
+umschlang, und sah still den weißen Flocken zu, die vor den Fenstern
+tanzten, und den in dunkeln Schleiern schwer herabhängenden Wolken, die
+der Zug durchschnitt. Es tat so gut, sich in der Obhut des Geliebten zu
+wissen, seinen starken Schultern aufzubürden, was ich allein nicht hätte
+tragen können.
+
+Auf dem Brenner glänzte die Sonne über frisch gefallenem Schnee, aber
+von den Bergen stürzten schon frühlingsfroh die entfesselten Wasser. In
+Gossensaß, wo die Bergwände sich noch einmal finster zusammenschoben,
+braute wieder der Nebel um dunkle Fichten und winterstarres Gebüsch,
+hinter Franzensfeste jedoch stand das breite Tal in blühendem Lenzkleid
+und öffnete die Arme weit, um all die frierenden Wanderer an seine warme
+Brust zu ziehen. Frohlockend wiesen von allen Höhen weiße Kirchlein mit
+spitzen Fingern hinauf zur Sonne, die behaglich lachend am blauen Himmel
+stand. Auf den knorrigen Ästen alter Obstbäume saßen junge lustige rote
+und weiße Blüten. Ohne Ehrfurcht vor dem grauen Alter der Ruinen, der
+nüchternen Heiligkeit der Klöster, fluteten in blauen Kaskaden die
+süß-sehnsüchtigen Blumendolden der Glyzinien über die Mauern, vom
+Liebesspiel buntschillernder Käfer umtanzt.
+
+Im brixener Gasthof zum Elefanten machten wir Rast. Nur das riesige Bild
+des Rüsseltiers, dem er seinen Namen verdankt, erinnerte noch an die
+Zeit, wo Kaiser und Könige auf der Romfahrt hier Einkehr hielten. Jetzt
+saßen nur wenige unscheinbare Leute in dem niedrigen, dunkel getäfelten
+Gastzimmer. Sicher: hier kannte uns niemand. Aber kaum saßen wir vor der
+Schüssel, die verheißungsvoll nach gut österreichischer Mahlzeit
+duftete, als ein Herr an unseren Tisch trat, Heinrich freudig begrüßend.
+Umsonst, daß dieser die abweisendste Miene machte, den Fremden weder
+nötigte, Platz zu nehmen, noch ihn mir vorstellte. In seiner Freude,
+einen Bekannten zu treffen, besorgte er das ohne weiteres selbst; er
+hielt mich für Heinrichs Frau und kündigte uns mit vielem Geräusch die
+Bekanntschaft seiner Familie an. »Wir werden nicht bleiben können,«
+sagte Heinrich langsam, als er sich endlich empfahl, »es sind Berliner.«
+Ich zuckte die Achseln. »Diesmal bin ich die Mutigere von uns beiden.
+Mir ist nichts so gleichgültig als der Klatsch.«
+
+»Aber ich dulde nicht, daß man dich verdächtigt,« brauste er auf.
+
+In aller Frühe am nächsten Morgen fuhren wir weiter bis nach Trient.
+»Hierher kommt keiner unsrer Landsleute,« hatte Heinrich gesagt. Und in
+der Tat: in den großen Palasträumen des Hotel Trento sprachen selbst die
+Kellner nur ein gebrochenes Deutsch. Ob wir uns hier ein paar Wochen
+würden ausruhen können? Wir hatten sehr das Bedürfnis danach.
+
+Vor dem Balkon meines Zimmers lag der weite Platz mit dem ehernen
+Denkmale Dantes. Mächtig zeichnete sich seine schwarze Silhouette gegen
+den blauen Himmel ab, zu beiden Seiten von den starren Felskulissen der
+Berge eingerahmt. Aber der Platz zu seinen Füßen mit ein wenig Rasen und
+ein paar kleinen immergrünen Büschen sah im gelben Licht der Sonne öde
+aus.
+
+Wir gingen durch die Straßen: lauter graue Häuser mit verwaschenen
+Farben und trüben Fenstern, Paläste dazwischen mit verblichenen Fresken,
+Höfe mit alten ausgetrockneten Brunnen und Säulengängen, unter denen
+zerlumpte Wäsche hing, stolze wappengekrönte Tore mit Firmenschildern
+aus Blech und Anzeigen aus Papier benagelt und beklebt; ein Dom,
+geschmückt mit den zierlichsten romanischen Galerien, die hohen Portale
+von säulentragenden Löwen bewacht, und darin auf dem ausgetretenen
+Estrich, zwischen den Grabmälern edler Geschlechter, ein paar alte
+Weiber, die kniend den Rosenkranz durch schmutzige Finger zogen und mit
+zahnlosem Munde Gebete plärrten. Und über der Stadt, sie beherrschend,
+der prächtige Renaissancebau des alten fürstbischöflichen Schlosses, ein
+unvergleichlicher Rahmen üppiger Hofhaltungen, -- eine Kaserne heute. In
+der dämmernden Loggia auf dem Brunnenhof, wo die Würdenträger des
+fürstbischöflichen Stuhls in roten und violetten Gewändern beim Gesang
+des leise plätschernden Wasserstrahls die kunstvollen Lettern
+pergamentgebundener Bücher zu lesen pflegten, saßen Soldaten und putzten
+Gewehre; in den hohen Sälen, von deren gemalten Decken die Götter des
+Olymps auf die tafelnden Priester des Gekreuzigten einst lächelnd
+herniedersahen, standen Eisenbetten mit rauher Leinwand gedeckt, an den
+Wänden, hinter deren kalkweißer Tünche prächtige Bilder schlummern,
+hingen in Reih und Glied Käppis und Tornister.
+
+Wir gingen schweigsam zurück. In den Gassen lärmten ein paar Kinder:
+Mädchen mit seidenen Schleifen im Haar und zerschlissenen Röckchen über
+den bloßen Beinen, Knaben, die gierig um ein paar Kreuzer rauften. Vor
+den Wirtshäusern auf dem schmalen Trottoir saßen in schäbiger Eleganz
+junge Leute, die lange Virginiazigarre zwischen den schwarzen Zähnen.
+Die Sonne schien, aber ihre Strahlen trafen auf keinen Lebenssamen, den
+sie hätten wecken können; die kahlen Mauern, die baumlosen Straßen
+warfen nur sengende Glut zurück. Fürsten erbauten diese Stadt, und
+Bettler haben sie daraus vertrieben.
+
+Wir aber suchten den Frühling. Ein Postwagen mit vier Pferden davor
+entführte uns aus Trient. Je weiter wir uns von der Stadt entfernten,
+die wie ein steinerner Sarkophag in der Tiefe schlief, desto lachender
+wurde die Natur. Auf den Wiesen blühten Lilien und Glockenblumen, um die
+elendesten Hütten leuchteten in rosiger Pracht die Mandelbäume. In
+Caldonazzo, einem stillen Nest am Ende des Sees, der den klaren Himmel
+auf die Erde zu zaubern schien, blieben wir. Unter der Laube im
+Obstgarten der Trattoria, die von gelben Rosen überwuchert war, wurde
+uns gedeckt. Vino santo funkelte goldfarbig in den Gläsern, ein kleines
+Mädchen mit großen runden Augen, wie geschliffene Kohlen, setzte noch
+eine blaue Vase mit weißen Lilien mitten auf den Tisch. Dann war es
+ganz, ganz still um uns, ein heiliges Abendschweigen, das wir mit keinem
+lauten Wort zu stören wagten. Unsere Hände schlangen sich ineinander,
+fester zog mich sein Arm an seine Brust, und sehnsüchtiger wurden unsere
+Küsse.
+
+Schlüsselklirrend ging der Wirt durch den Garten. Wir standen auf. Vor
+der Tür meines Zimmers blieben wir stehen, stumm, mit herabhängenden
+Armen, unsere Augen versanken ineinander, und die ganze verzehrende Qual
+unserer Liebe lag in unserem Blick. »Gute Nacht!« -- er berührte mit den
+heißen Lippen nur meine Fingerspitzen.
+
+Ich schlief nicht. Durch das offene Fenster strich die laue Luft und
+trug die süßen Gerüche der Wiesen auf ihren Flügeln. Ich preßte die
+Zähne zusammen, um nicht den zu rufen, nach dem mein Herz verbrannte,
+ich drückte die spitzen Nägel meiner Finger mir ins Fleisch, um mit dem
+Schmerz die Qual zu betäuben, die mein Blut durch die Adern peitschte.
+
+Draußen im Garten knirschte der Kies, -- das Weinlaub am Fenster bewegte
+sich, -- schlich nicht ein Schatten leise vorüber? -- O, warum kommst du
+nicht, -- sind meine Arme nicht weich, lockt nicht mein Busen wie
+Perlmutter glänzend in der Stille der hellen Mondnacht? Was geht mich
+die Welt an?! Die sanften Höhen dieses blühenden Tales umschließen die
+meine! Und die Menschen? Da doch niemand ist, als ich und du! Und die
+Vergangenheit? Sie gehört uns nicht mehr! Und die Zukunft? Nichts ist
+unser als dieser Frühlingsnacht zauberische Gegenwart! -- --
+
+Aus kurzem, schwerem Morgenschlaf erwachte ich müde und einsam. Wir
+trafen uns in der Rosenlaube, und die Spuren nächtlicher Kämpfe lagen
+auch auf seinen Zügen.
+
+Der Telegraphenbote riß uns aus der Versunkenheit unserer trüben
+Stimmung. Eine Depesche von Heinrichs Rechtsanwalt: »Frau Brandt
+verlangt Schlüssel Ihrer Wohnung, kehrt nach Berlin zurück. Stimmung
+nach Mitteilung ihres Anwalts wesentlich verändert.« Das Telegramm war
+uns von Bozen nachgesandt worden und trug das Datum von vorgestern. »Ich
+muß nach Berlin -- sofort --. Sie kann alles zerstören,« knirschte
+Heinrich, »und du -- du Arme?!« »Zunächst begleite ich dich, -- alles
+weitere besprechen wir unterwegs.«
+
+In sausender Fahrt ging es bergab. Die Peitsche des Kutschers pfiff über
+die schweißtriefenden Pferde. Wir mußten den Schnellzug erreichen.
+Unterwegs bekam ich einen Herzkrampf. Als ich wieder zu mir kam,
+ratterte der Wagen über das Pflaster Trients, und Heinrichs
+angstentstelltes Gesicht beugte sich über mich. »Wirst du weiter
+können?« Ich nickte. Man hob mich in den Zug. Ich erholte mich soweit,
+um ruhig denken zu können. Dicht bei Brixen lag unter großen Nußbäumen
+ein kleines Dorf, Vahrn genannt; dort wollte ich bleiben, bis --. »Bis
+alles gut ist, mein armer Liebling,« flüsterte er; »wenn ich nur sicher
+wäre, daß du deiner Angst, deiner Aufregung Herr wirst, -- für mich ist
+der Kampf ein Kinderspiel --« Der Triumph des Sieges blitzte schon aus
+seinen Augen. In Brixen blieben uns noch ein paar Stunden bis zum
+Abschied. Auf der Post fand sich ein Brief an mich von der Mutter mit
+einer Beilage in verstellter Schrift: »Diesen anonymen Wisch bekam ich
+soeben. Ich habe ihn, Gott Lob, vor Hans verstecken können. Da aber
+Wiederholungen, womöglich direkt an ihn gerichtete, wahrscheinlich sind,
+und ich von deinem Anstandsgefühl doch noch so viel erwarte, daß der
+Inhalt dieses Schriftstückes eine Verleumdung ist und Dr. Brandt nicht
+mit dir reist, so ersuche ich dich, zu veranlassen, daß er uns seine
+Anwesenheit in Berlin auf irgendeine Weise dokumentiert ...«
+
+»Bereits morgen wird das geschehen,« sagte Heinrich, »du stehst, wie
+notwendig es ist, daß wir das Opfer dieser Trennung bringen. Es wird die
+letzte sein!«
+
+Mit einem leisen Vorwurf sah ich ihn an: »Fast scheint's, als freutest
+du dich, daß du fort mußt!«
+
+»Ich freue mich der Hindernisse, die sich uns in den Weg legen. Mir wäre
+bange geworden vor der Größe meines Glückes, wenn sein Besitz keine
+Opfer kosten würde.« Ich schämte mich meiner Trauer, und wir nahmen
+Abschied voneinander, fast als wäre es ein Willkommen.
+
+ * * * * *
+
+Im Turmzimmer des Gasthofes zu Vahrn zog ich am selben Abend noch ein.
+Von meinem Fenster sah ich ins Schalderer Tal mit seinen dunkeln Fichten
+am klaren Bach. Stundenlang saß ich hier in wachen Träumen. Zuweilen
+folgte ich dem stillen Waldweg bis hinauf nach Schalders. Aber es mußte
+ein heller Tag sein, sonst fürchtete ich mich und sah, wie einst als
+Kind, hinter jedem Baum Gespenster lauern. Abends stieg ich nach Salern
+hinauf und saß zwischen dem alten Gemäuer der Ruine bis breite
+Bergschatten das Tal von Brixen verhüllten und die Spitzen der Dolomiten
+fern am Horizont aufglühten wie verlöschende Fackeln.
+
+Des Nachts aber kamen die finsteren Gedanken. Dann las ich wieder und
+wieder seine Briefe und suchte zwischen den Zeilen, was er aus Schonung
+verschweigen mochte: »Rosalie macht Besuche bei allen Bekannten, und ich
+sehe an den Mienen der Leute, was sie erzählt --«, sie suchte Zeugen
+gegen mich; der Preis der Scheidung würde die Verhinderung unserer
+Heirat sein! »Sie hat neuerdings Freunde im Egidyschen Kreis« --, sie
+suchte eine Verbindung mit den Eltern, sie wird zum Vater gehen, ihm
+erzählen, -- und er ertrüge es nicht, so nicht, -- er würde Heinrich vor
+die Pistole fordern!
+
+Noch geschah nichts dergleichen. Meines Vaters Briefe waren erregt,
+aber nur über die Ereignisse des Tages: die Verurteilung Hammersteins
+wegen Urkundenfälschung zum Zuchthaus, »ein Menetekel für den Adel,
+dessen junger Nachwuchs das goldene Kalb umtanzt und dabei unabweisbar
+dem Schwindel verfällt,« den Austritt Stöckers aus der konservativen
+Partei, »dieses tüchtigen Mannes, den die Sozialdemokraten mit ihrer
+verdammten Manier der Veröffentlichung von gestohlenen Privatbriefen auf
+dem Gewissen haben,« über die in seinen Jubiläumsreden stets deutlicher
+zutage tretenden Weltmachtgelüste des Kaisers, »die uns vom erprobten
+geraden Wege altpreußischer Sparsamkeit und dem bewußten Sichbescheiden
+auf den angestammten Boden und seine Bearbeitung in die Politik
+abenteuernder Seefahrer hineinreißt.« Ich mußte mein Erinnerungsvermögen
+immer erst mühsam auf die Welt außer mir einstellen, wenn seine Briefe
+Antwort heischten.
+
+Eines Morgens kam ein Expreßbrief von Heinrich, den ich in Erwartung
+erfüllter böser Träume zitternd öffnete. »Deine Liebe soll noch eine
+harte Probe bestehen,« schrieb er. »Rosalie will sich nur unter der
+Bedingung scheiden lassen, daß ich ihr mein ganzes Vermögen gebe. Es ist
+an sich nur klein, wie Du weißt, aber es ist alles. Wirst Du stark genug
+sein, einen Mann zu heiraten, der nichts besitzt? Der Dir nur seine
+Liebe in die Ehe mitbringt und seinen festen Willen, Dir trotz alledem
+ein glückliches Leben zu erkämpfen?... Antworte mir nach reiflicher
+Überlegung. Aus Deiner Hand würde ich jedes Geschick ohne Murren
+empfangen. Fürchte nichts von mir, wenn Du nein sagen mußt. Das Glück,
+das Deine Liebe mir schenkte, war schon so groß, daß ich Dir auch dann
+noch dankbar bleibe...« Ich lächelte, von einem Alpdruck befreit; so
+viele Worte um solch eine Kleinigkeit! Nicht einen Augenblick des
+Besinnens gab es für mich. »Gib, was sie fordert,« telegraphierte ich.
+Aber noch immer schien sie nicht genug zu haben. Ein paar Tage später
+verlangte sie eine Summe, die Heinrichs Vermögen übertraf. Und als der
+Anwalt ihr vorhielt, daß Heinrich Wucherschulden machen müsse, wenn er
+ihren Wunsch erfüllen solle, sagte sie ruhig: »Mag sein, -- aber sonst
+lasse ich die Scheidung nicht zu.« Sie war unersättlich. In meinen
+nächtlichen Träumen sah ich sie: groß, dunkel, mit der Schleppe, die wie
+eine Schlange hinter ihr her raschelte, und den weißen Raubtierhänden.
+
+ * * * * *
+
+Der Tag der Entscheidung nahte. Am Vorabend fuhr ich nach München. Die
+Stunden schlichen, die Zeiger an der Uhr wollten nicht von der Stelle
+rücken. Ich hörte, wie das Leben draußen verstummte, die letzten Pferde
+müde zum Stalle trotteten, das letzte Läuten der Straßenbahn verklang.
+Und ich hörte wieder, wie es erwachte, wie die ersten Marktwagen im
+Dämmerlicht grauenden Morgens über das Pflaster ratterten und die Tritte
+der Bäckerjungen straßenweit zu verfolgen waren; wie das Räderrollen
+allmählich anschwoll zu einem brausenden Ton, und kein einzelner Schritt
+unter den vielen mehr zu unterscheiden war. Dann kamen die Stunden, die
+über mein Schicksal entschieden. Sie waren wie lebendige Wesen, die mit
+meinem Herzen Fangball spielten.
+
+ * * * * *
+
+»Frei!« -- Ich hatte das Telegramm dem Boten aus der Hand gerissen, --
+ich starrte das Wort an, bis mir die Augen übergingen. Im Zimmer ertrug
+ich's nicht mehr. Zu groß war mein Glück. Und selbst als der Himmel sich
+über mich spannte, war mir's, als müßte es sein blaues Gewölbe
+zersprengen.
+
+Zwei Tage mußte ich des Geliebten warten. »Nachdem Dein heimlicher
+Wunsch, Du emanzipationslüsterne Frau, eine freie Ehe zu schließen, an
+meinem reaktionären Eigensinn endgültig zu Schanden wurde« schrieb er
+neckend, »muß ich unserer altmodisch ordentlichen Verbindung auch eine
+bürgerliche Grundlage schaffen.«
+
+Ich lief indessen in der Stadt umher und suchte, meinem übervollen
+Herzen Luft zu machen. Ein Bettler stand an der Ecke mit einem Plakat
+vor der Brust: »Ein armer Taubstummer bittet um eine milde Gabe,« ich
+drückte ihm ein Goldstück in die Hand, was ihn so verblüffte, daß er
+seiner Stummheit vergaß und ein Mal über das andere ein »Vergelt's Gott«
+stammelte. Vor allen Schaufenstern blieb ich stehen, in denen die
+Maisonne zärtlich über Spitzen und Schleier strich. Und das Schönste,
+was ich sah, war nur gerade schön genug, um mich für ihn zu schmücken.
+
+Meines Lebens hohe Zeit stand vor der Türe; königlich sollte sie
+empfangen werden. Niemand durfte ihr begegnen, der Trauergewänder trug.
+Keines Menschen Träne durfte den Willkommtrunk verbittern, mit dem ich
+sie begrüßen wollte. Und im geschliffenen Kristall des Pokals sollte
+sich nur die Sonne spiegeln.
+
+Der Gedanke an die Eltern krampfte mir das Herz zusammen. Ich sah sie
+in der dunkeln Wohnung hinter den schweren Vorhängen, die immer an den
+Winter glauben ließen. Würde mein Glück hell genug sein, um
+hindurchzudringen? Ich fühlte, wie dumpf die Luft bei ihnen war. Würde
+mein Glück stark genug sein, sie zu zerstreuen?
+
+An einem hellen Morgen, über den der Himmel leuchtete wie ein
+geheimnisvoll gleißender Opal, trug ich ein weißes Kleid und Rosen im
+Gürtel, die lauter Sonnenlicht getrunken hatten und die Blütenköpfe
+senkten, schwer von Schönheit. Ich wartete des Geliebten. Durch die
+vielen Scheiben der Bahnhofshalle funkelte und sprühte das Morgenlicht
+und malte tanzend helle Flecke auf den Asphalt. Wie blasse Mondscheiben,
+wenn der Tag noch herrscht, standen die großen, runden Bogenlampen über
+dem hastenden Leben. Hin und her strömten bunte Menschenschwärme.
+Reisefieber, das in blaue Fernen treibt, sorgender Ernst, der der
+Tagesarbeit entgegenstrebt, lachende Hoffnung, die in die Arme der Liebe
+verlangt, bange Angst, die vor der Fremde zittert, malten sich in den
+vielen Gesichtern. Die Züge brachten und empfingen sie in unaufhörlichem
+Wechsel. Ich allein stand in der Flut ganz still, die Augen auf das
+helle riesige Bogenrund gerichtet, in das die großen schwarzen Schlangen
+fauchend untertauchten, und aus dem sie, die welterobernden Ungeheuer,
+brausend hervorquollen. Endlich! Ein schriller Pfiff aus einer
+Lokomotive, die ihre mächtigen, blanken Glieder majestätisch
+hereinwälzte, zwei zischende Garben weißer Wasserdämpfe --, sie stand.
+Lauter Schatten liefen und drängten an mir vorüber, ich sah nur ihn, --
+und er zog mich in die Arme, ganz fest --, alle Rosen fielen mir aus
+dem Gürtel, und streuten ihre Blätter um uns, glutrote ...
+
+ * * * * *
+
+»Und unsere Hochzeit, mein Lieb, wo soll sie sein?« »Irgendwo zwischen
+hohen Bergen, im Walde, wo der Dompfaff uns traut --«
+
+»Und wann, -- wann?« heiß flüsterte seine Stimme an meinem Ohr.
+
+»Still muß es um uns sein, ganz still, dann wird die Stunde kommen, der
+wir gehorchen müssen ...«
+
+ * * * * *
+
+Wir fuhren nach Augsburg zu Tante Klotilde, meines Vaters Schwester.
+Vielleicht, daß sie sich für uns gewinnen ließ, daß ihr Einfluß den
+Vater beruhigen könnte. Am Bahnhof trennten wir uns, er ging ins Hotel,
+mich führte ihr Wagen durch das alte schmiedeeiserne Tor vor das schöne
+Haus mitten im blühenden Garten. Mit ungewohnter Zärtlichkeit empfing
+sie mich: »Du hast mir etwas zu sagen, Kind? Fürchte dich nicht --, du
+weißt, ich habe viel an dir gut zu machen.« Ich fürchtete mich doch, --
+aber nicht vor ihr. Wenn sie mich verdammte, so wußte ich: das Herz
+würde ihr darum nicht bluten. Um den Vater nur bangte mir, wenn sie die
+Verständigung nicht würde herbeiführen wollen. Ich erzählte, daß ich
+verlobt sei. Ich verschwieg nicht, daß er sich hatte scheiden lassen, --
+um meinetwillen. Aber von der ersten Ehe erzählte ich nichts, und nichts
+von dem Kinde, das vor wenigen Monden erst geboren worden war. Ich
+bekannte ehrlich, daß er, wie ich, Sozialdemokrat von Gesinnung sei,
+aber ich betonte, daß seine Tätigkeit allein auf neutralem
+wissenschaftlichem Gebiete liege. Und als sie die Frage stellte, die,
+wie ich wußte, für sie von ausschlaggebender Bedeutung war: »In welcher
+Lage ist er?« -- da log ich: »In der besten --« Was ging das alles die
+anderen an?! Mein Leben war es, für das ich allein die Verantwortung
+trug. Nur dem Vater wollte ich es leicht machen, und die Mutter sollte
+sich nicht grämen, und mein blondes Schwesterchen sollte nicht weinen!
+
+Heinrich wurde zum Essen geladen. Seine ruhige, fast hochmütige
+Zurückhaltung der »Frau Baronin« gegenüber imponierte ihr. Sie schrieb
+noch am Abend einen langen Brief an den Vater. Und am nächsten Mittag
+kam seine telegraphische Antwort: »Tief gerührt über die Liebe, mit der
+du Alix in deinen Schutz nimmst, versage ich ihr nicht den Segen ihrer
+schmerzbewegten Eltern.«
+
+Heinrich reiste nach München zurück, -- es wäre ja nicht passend
+gewesen, ein Brautpaar beieinander zu lassen! -- ich blieb noch, um in
+ein paar Tagen mit Freunden, -- wie ich vorgab, -- nach Tirol zu gehen.
+Inzwischen kamen die Briefe der Eltern. Von der Mutter zuerst. Sehr
+liebevoll, aber doch voller Sorge. »Ich danke Gott und der lieben
+Klotilde,« schrieb sie, »daß Dein Vater die große unerwartete Sache so
+aufnahm und ruhig ist, trotzdem ihm alles furchtbar schwer wird und er
+noch nicht imstande ist, an Dich zu schreiben. Wenn nur seine Gesundheit
+aushält, um die ich oft sehr besorgt bin, besonders bei so großen
+Erschütterungen ... Ilschen hat sich reizend benommen; ihre kindliche,
+zärtliche Art, ihrem Papa alles recht gut und schön darzustellen, ihre
+Bitten und Tränen haben ihn tief gerührt ... Um Deines Vaters willen
+bitte ich Dich, Deine Verlobung wenigstens solange geheimzuhalten, bis
+er bei Klotilde in Grainau ist, die ihn so freundlich einlud und ihn am
+leichtesten wird beruhigen können. Auf diese Weise entgeht er am besten
+dem Zeitungsklatsch, an dem es wohl leider nicht fehlen wird ... Mir ist
+das Herz so übervoll, daß ich keine Worte finde. Gott führe alles zum
+Besten ...« Und dann kam der erste Brief des Vaters, aus dem ich erfuhr,
+daß er wußte, was ich ihm schonend verschwiegen hatte. »Wenn Du älter
+geworden sein wirst,« hieß es darin, »so wirst Du verstehen, daß ich
+nicht Dein Glück stören will, sondern nur mit der Erfahrung eines
+Mannes, der am Ende seines Lebens steht, da kein Glück sehe, wo Du
+seinen Gipfel glaubst erstiegen zu haben ... Dr. Brandt mußte bei mir
+und Mama zuerst um die Erlaubnis zur Verbindung mit Dir nachsuchen, es
+mußten mir ganz klar die äußeren Verhältnisse dargetan werden, die zur
+Scheidung führten, und die Lebenslage, die Dr. Brandt Dir bietet. Von
+alledem ist nichts geschehen, und ich bin und bleibe der vor Gott und
+den Menschen für Dich verantwortliche Vater; auf mir, Mama, Ilse bleibt
+jeder öffentliche Skandal sitzen. Sage selber, wie soll ich Vertrauen zu
+einem Manne haben, der zweimal geschieden ist? Ich kenne die Gründe
+nicht, kann also nur bei meinem theoretischen Urteile bleiben, daß es
+ihm zweimal nicht gelungen ist, seine ihm 'bis der Tod uns trennt'
+angetraute Frau an sich zu fesseln. Es kommt hinzu, daß selbst roheste
+Naturen Pietät dafür haben, wenn dem Manne eben von seiner Frau ein
+Kind geschenkt worden ist. Diesen Augenblick zur Scheidung zu wählen,
+ist gewiß nicht feinfühlig. Meine Tochter ist mir zu schade, als daß ich
+ruhig zusehen könnte, wenn sie in solche Verhältnisse verwickelt
+wird ...«
+
+Es entspann sich eine erregte Korrespondenz. Ich war viel zu
+empfindlich, besonders gegenüber Angriffen auf den Geliebten, als daß
+ich mich wenigstens äußerlich hätte beherrschen können. Mein strahlendes
+Glück hatte mich blind gemacht für die Welt, in der meine Eltern lebten
+und dachten. Ich empfand als bittere Kränkungen, was von ihrem
+Standpunkt aus sorgende Liebe war. »Ich begreife nicht, daß Du scheinbar
+gar nicht ahnst, wie schwer uns Deine Heirat werden muß,« schrieb Mama
+in Beantwortung eines meiner Briefe, »willst Du denn durchaus nicht die
+Wirklichkeit sehen? Muß ich ganz deutlich werden und dir sagen, wie
+selbst Dir wohlwollende Menschen über Dich den Kopf schütteln? Du ahnst
+wohl gar nicht, was und wie man über Euch spricht! Und jetzt erwähnst Du
+wie etwas Selbstverständliches, daß Ihr Euch hier in Berlin wollt trauen
+lassen. Ich finde den Gedanken unglaublich. Denke doch nur an das
+Aufsehen, und was das für ein Licht auf uns alle werfen würde! Wir
+wollen der Welt gegenüber betonen, daß Du mit unserem Segen
+heiratest --, hier würde nicht einmal unser Pfarrer, der so streng über
+Scheidungen denkt, Euch trauen wollen ... Heiratet in irgend einem
+stillen Ort Süddeutschlands, wohin ich und Ilse zur Trauung kommen
+werden, und überlegt vor allem, ob es nicht besser wäre, wenn Ihr Euch
+dann fern von Berlin niederlaßt? Für alle Teile würde es besser sein,
+solange der gemeine Klatsch über Euch nicht verstummt ist. Ich habe auch
+an Deinen armen Vater zu denken, den Du ganz zu vergessen scheinst, und
+dem jede neue Aufregung erspart werden muß ...«
+
+Ich erwähnte in meiner Antwort der Schwierigkeiten, die eine Heirat an
+anderem Orte bereiten würde. Wir hatten längst beschlossen, uns ohne
+alles Aufsehen trauen zu lassen und gehofft, daß die Eltern angesichts
+der vollzogenen Tatsache sich um ihr Was und Wie nicht kümmern würden.
+Im nächsten Brief meiner Mutter schrieb sie: »Du erwähnst nur der
+standesamtlichen Schwierigkeiten, also wollt Ihr wohl die Kirche
+umgehen, -- wenn Du mir das noch antust, dann wäre es besser, wir sehen
+uns nie wieder, denn das kann ich nicht überwinden, das würde ich nie
+verzeihen, und Vater, Schwester und Tante auch nicht! Bedenket wohl, was
+Ihr damit tut: Ihr gebt unseren Beziehungen den Todesstoß ...«
+
+Ich war schon wieder abgereist, als mir in Innsbruck berliner Zeitungen
+in die Hände fielen. Sie brachten mit mehr oder weniger hämischen
+Randbemerkungen die Mitteilung von Heinrichs Scheidung und meiner
+Verlobung. Und gleich darauf kam ein Brief des Vaters: »Was zu erwarten
+war, ist geschehen: alle Zeitungen beschäftigen sich mit Dir und ziehen
+meinen guten Namen in die Skandalgeschichte meiner Tochter. Sie sagen,
+daß Du Dich nun ganz der Sozialdemokratie in die Arme geworfen hast ...
+Du nahmst die Gewohnheit an, bei Deinen Handlungen nie an Deine Eltern,
+nie an Deine Schwester zu denken. Trotzdem bleibst Du unser Kind, und
+wir tragen an Dir mit, gleichgültig welches die Bürde ist, die Du uns
+auferlegst. Wenn eine Tochter frank und frei erklärt, sie gehöre zur
+Sozialdemokratie, so bleibt an den Eltern etwas hängen. Ich bin alt und
+gebrechlich, meine Tage sind gezählt, aber ich bin notwendig für Deine
+Mutter und Deine Schwester. Unehre jedoch ertrage ich nicht; wenn man
+mich ehrengerichtlich belangt, wegen Deiner Beziehungen zu einer
+staatsvernichtenden Partei, so mag man mich begraben. Daß die
+Sozialdemokratie es jetzt freudig ausbeutet, wenn die adlige Tochter
+eines allgemein bekannten Generals sich zu ihr bekennt, das begreife
+ich, es ist ihr Vorteil. Wer ein einziges Mal diese gemein aussehenden
+Leute im Reichstage gesehen hat und sich vergegenwärtigt, daß diese
+Rotte unheimlicher Kreaturen von den Pfennigen der Arbeiter sich mästet,
+die um so reichlicher fließen, je mehr alles in den Schmutz getreten
+wird, was uns heilig ist, der muß am Rande der Verzweiflung stehen, wenn
+er die eigene Tochter unter ihnen weiß ...« Ich antwortete nicht. Wie
+viel besser wäre der offene Bruch gewesen, als daß ich, vom Verstande
+unkontrollierten Gefühlen hingegeben, eine Brücke über Unüberbrückbares
+zu schlagen versucht hatte. Ich hatte nicht wehe tun wollen --, litten
+die Eltern jetzt nicht mehr, wo sie mich von schleichender Vergiftung
+befallen glaubten, als wenn ich ihnen ganz gestorben wäre?
+
+Am Morgen meines Geburtstages erwartete ich den Geliebten. Stille Wehmut
+dämpfte die Freude, mit der ich Heinrich empfing. Vor lauter Glück
+bemerkte er meine Stimmung nicht. »Ich bringe dir ein schönes
+Geburtstagsgeschenk,« rief er, mich zärtlich umarmend. »Herr Charles
+Hall, der Deutschamerikaner, von dessen sozialpolitischen Interessen ich
+dir oft erzählte, hat sich bereit erklärt, meine Zeitschrift zu
+unterstützen. Siehst du, nun hab' ich auch das durchgesetzt: die
+bürgerliche Grundlage unserer gut bürgerlichen Ehe! -- Dürfen wir nun
+nicht Hochzeit feiern?!« fügte er leiser hinzu. Ich schüttelte den Kopf
+und hing mich fest an seinen Arm: »Laß mich erst wieder froh werden,
+mein Heinz!«
+
+ * * * * *
+
+An einem regenfeuchten Julitag kamen wir nach St. Jodok, einem kleinen
+Bergnest, das die Brennerbahn fauchend umkreist. »Morgen fruh scheint d'
+Sunn,« versicherte der Führer, mit dem wir über unsere Pläne
+verhandelten, und so beschlossen wir, noch am Nachmittag zur Geraerhütte
+zu gehen. Es war ein einförmig düsterer Weg durch die Wiesen des Valser
+Tales mit ihren zahllosen braunen Heuschobern, auf die der Nebel tief
+hinunterhing, und dann die Anhöhe hinan auf steinigem Pfad, von
+schwarzgrauen Bergen umgeben, deren Gipfel sich in den Wolken verloren.
+Und in der Nacht tobte der Wind um die Holzhütte, und der Regen
+klatschte an die kleinen Fenster, daß ich mich fröstelnd in die Decken
+hüllte und eine undurchdringliche Finsternis noch vor mir zu haben
+meinte, als der Führer morgens an die Türe pochte. »Schön wird's,« sagte
+er mit unerschütterlicher Sicherheit. Wir traten hinaus, dicht vermummt,
+wie zu einer Winterreise. Fast wäre ich schwindelnd zurückgewichen vor
+dem Bilde, das die flackernde Laterne unsicher beleuchtete: wie auf
+einer Insel im Wolkenmeer standen wir. Unten im Tal lagen die Nebel
+dicht geballt, nur hie und da streckte es sich aus ihnen hervor wie
+lange schwarze Arme, die, kaum daß sie unsere Höhe erreichten,
+verschwanden wie Gespenster beim Glockenschlag. Wir stiegen aufwärts,
+Schritt vor Schritt, lange Serpentinen bis zum Alpeiner Ferner.
+Frischgefallener Schnee deckte ihn wie ein Leichentuch, nur hie und da
+glänzte das Eis hervor in tiefen, dunkelgrünen Spalten, -- geheimnisvoll
+lockende Gräber. Kein Leben ringsum; selbst der Sturm war verstummt,
+unhörbar versanken unsere Füße im Schnee. Mich grauste. War es nicht das
+Reich des Todes, das wir betreten hatten?
+
+Da begann der Himmel über uns sich rosig zu färben; noch einmal sah ich
+hinab in das Nebelmeer der Tiefe, dann stieg ich, so rasch meine Füße
+mich tragen konnten, um die Höhe zu erreichen, wenn die Sonne kam.
+
+Und sie war da. Glühend in junger Liebe, als küsse sie die Erde zum
+erstenmal. In der heißen Umarmung ihrer Strahlen ward die keusche Braut
+zum Weibe, das sich dem Geliebten schrankenlos hingibt. Sie warf die
+dunkeln Schleier von sich, in die sie sich eben noch scheu gehüllt
+hatte, und auch die letzten weißen duftigen Hüllen zerriß sie. In ihrer
+prangenden Schöne stand sie vor ihm, die schimmernde weiße Stirn stolz
+gen Himmel gehoben, den schneeigen Busen rosig überhaucht von dem Gruß
+dessen, der sie erlöste.
+
+Wir standen ganz still und schauten uns an und lasen einander die
+Gedanken von den stummen Lippen. Auf dem Weg durch die Nacht und empor
+bis hierher, hatten wir die Vergangenheit noch einmal durchlebt,
+zusammengedrängt in wenige Stunden. Nun aber war es vorüber. Der Gipfel
+war unser. Und über das Schneefeld hinab, der Sonne zu, lag eingebettet
+in grüne Matten ein kleines, helles Haus. Mit dem Bergstock, dessen
+Spitze rote Alpenrosen schmückten und weiße Edelweißsterne, wies ich
+hinab. »Dort will ich Hochzeit halten,« flüstere ich. Da hob mich der
+Liebste jubelnd hoch empor, und miteinander sausten wir über den Schnee
+in die Tiefe.
+
+»Arg verliabt san's,« brummte der Führer gutmütig, als wir aufatmend
+unten standen.
+
+Zitherspiel und Gesang empfing uns in der Dominikushütte. Ein paar junge
+Männer, Studenten mit blondem Kraushaar und blitzenden Augen, saßen um
+den Tisch, und ihre Stimmen füllten den Raum mit lauter Frohsinn. Seil,
+Steigeisen und Eispickel lagen neben ihnen; die verstaubten Stiefel und
+die braunen Gesichter bewiesen: sie waren echte Höheneroberer. Solche
+Söhne will ich haben --, zog es mir durch den Sinn, als spräche es aus
+unbekannter Tiefe meines Wesens.
+
+Feierlich, mit Millionen goldenen Sternen am Himmel, senkte sich die
+Nacht in das Tal. Von Wiesen und Wäldern ein starker Duft füllte unsre
+braune Kammer. Und leise Winde, die von den Gipfeln kamen und noch
+keinen Staub getragen hatten, flüsterten in den Fichten vor dem Fenster.
+Da bin ich sein Weib geworden ...
+
+
+
+
+Fünftes Kapitel
+
+
+Warme Augustsonne flutete durch alle Zimmer und brütete unten in
+gewitterschwangerer Hitze auf den jungen Anlagen des Lützowplatzes.
+Unruhig wanderte ich von einem Raum in den anderen, rückte auf dem
+mächtigen Doppelschreibtisch, den wir uns zu gemeinsamer Arbeit hatten
+machen lassen, die Bilder der beiden Buben, die nun meine Stiefsöhne
+waren, noch ein wenig in den Vordergrund, ging in ihr Zimmer mit dem
+blumengeschmückten Balkon, von dem aus der Blick geradeaus weit über die
+dichtbelaubten Bäume am Kanal schweifen konnte und rechts die Straße
+hinauf bis in die grüne Tiefe des Tiergartens, strich mechanisch die
+Bettdecken glatt und steckte den Kanarienvögeln, mit denen ich die
+Kinder überraschen wollte, ein paar Kuchenkrümel zu, die ich nebenan vom
+reichbesetzten Vespertisch geholt hatte. Immer wieder zog ich die Uhr:
+gleich mußten sie kommen, schon eine Stunde fast war Heinrich fort, um
+sie am Anhalter Bahnhof in Empfang zu nehmen. Ich lief durch unser
+Schlafzimmer mit seinen hellen Möbeln und meergrünen Vorhängen auf die
+breite Loggia hinaus: von hier würde ich sie zuerst entdecken, wenn sie
+vom Lützowufer auf den Platz einbiegen würden. Ich musterte
+erwartungsvoll alle Menschen. Von der luftigen Höhe meines vierten
+Stockes glichen sie aufgezogenen Puppen, wie sie die Händler um
+Weihnachten auf dem Asphalt laufen lassen. Und der Herkules auf der
+Kanalbrücke sah wie ein Knabe aus, der mit seinem Pudel spielt.
+
+Wehte dort nicht jemand grüßend mit einem weißen Tuch? Richtig: es war
+der kleine, schwarze Hans, der dem Vater und dem Bruder voranlief. Ich
+hatte doch rechtes Herzklopfen. »Du wirst sie lieb haben, meine Kinder,«
+hatte Heinrich gesagt, ehe er ging. Und mein »Ja« war aus vollem Herzen
+gekommen. Nun aber war mir bang. Sie waren bei ihrer Mutter gewesen --,
+würden sie der jungen Frau ihres Vaters nun nicht wie einer Feindin
+begegnen? Würde all meine Liebe, die ich ihnen entgegenbrachte, weil sie
+Heinrichs Söhne waren, ihr Mißtrauen besiegen können?
+
+Sie stürmten die Treppe hinauf. »Fein, daß du jetzt die Mama bist!« rief
+Wölfchen. Hans sah mich nur groß an und kramte in seinem Rucksack nach
+einem halbverwelkten Alpenrosensträußchen, das er mir mitgebracht hatte.
+»Ihr müßt recht brav sein, damit Ihr so eine gute Mama verdient,« sagte
+Heinrich. Ich warf ihm einen flehenden Blick zu. Er sollte mich nicht
+loben, -- jetzt, da sie von der eigenen Mutter kamen. Aber ich hatte
+ihnen wohl tiefere Empfindungen angedichtet, als sie besaßen. Sie waren
+vergnügt, selbst Hans wurde gesprächig; und als ich sie zu Bett brachte,
+waren sie ganz von selbst zärtlich zu mir geworden.
+
+»Ich danke dir, Alix,« sagte Heinrich mit warmer Betonung. »Noch hast du
+zum Dank keine Ursache,« antwortete ich. Mir war seltsam beklommen
+zumute.
+
+Als wir schlafen gingen, öffnete ich gedankenlos die Tür zum Zimmer der
+Kinder, -- es hatte mir in den acht Tagen seit unserem Einzug als
+Ankleideraum gedient --, erschrocken fuhr ich zurück: »Bist du's,
+Mutter?« rief eine schlaftrunkene Stimme. Ganz leise zog ich die Türe
+wieder ins Schloß; auf Zehenspitzen schlich ich ins Bett. »Liebste --
+Einzigste!« flüsterte Heinrich und zog mich in seine Arme. Noch waren
+wir in den Flitterwochen unserer jungen Ehe, und uns war, als ob jeder
+Tag und jede Nacht uns einander aufs neue schenkte. Heute aber wehrte
+ich dem Geliebten mit einem ängstlichen Blick auf die Tür, -- kaum daß
+ich seinen Kuß zu erwidern wagte. Wir waren nicht mehr allein.
+Zehnjährige Knaben sind hellhörig.
+
+Am nächsten Morgen ging ich mit ihnen in die Stadt. Ich hatte mich
+überzeugt, daß sie ganz neu eingekleidet werden mußten, auch die
+Schulbücher galt es anzuschaffen. In recht gedrückter Stimmung kam ich
+nach Hause; die Einkäufe hatten ein großes Loch in mein Portemonnaie
+gerissen. Siebenzig Mark, -- das war der ganze Rest meiner Erbschaft;
+auf unsere Reisen, auf die Wohnungseinrichtung war sie draufgegangen;
+Heinrich hatte schließlich auch noch den ganzen Haushalt der
+geschiedenen Frau mitgegeben, und es war nun nötig geworden, alles
+Fehlende zu ersetzen. Gewiß: ich hätte weniger ausgeben können --; ich
+hatte an nichts anderes gedacht, als unserer Liebe ein Heim zu schaffen,
+das ihrer würdig war. Glückselig hatten wir in den Tag hineingelebt; nun
+erst schien das Alltagsleben anzufangen, ganz nüchtern, ganz prosaisch,
+mit seinen täglichen kleinen Forderungen und seinen persönlichen Sorgen,
+in deren Schwüle der Altruismus so leicht verdorrt und der Egoismus
+üppig emporwuchert. Mir sank der Mut: wie würde Heinrich, der, wie es
+schien, an die Unerschöpflichkeit meiner Kasse ebenso fest geglaubt
+hatte wie ich, die unerwartete Nachricht aufnehmen? Ich war bei Tisch,
+-- dem ersten Mittag zu Hause, wir hatten bis dahin wie lustige
+Studenten stets irgendwo draußen gegessen, -- nicht gerade redselig.
+Gut, daß die Buben so viel zu erzählen wußten!
+
+Als wir uns am Schreibtisch allein gegenübersaßen, Korrekturen und
+Manuskripte vor uns, bekannte ich Heinrich meine Entdeckung. Er sah mich
+ganz entgeistert an. »Aber das ist doch nicht möglich!« sagte er
+schließlich und strich sich mit der Hand über die heiße Stirn. »Du hast
+dich bestehlen und betrügen lassen --«, fuhr er dann los mit einem
+Ausdruck und einer Stimme, die ihn mir vollkommen fremd erscheinen
+ließen. Entsetzt starrte ich ihn an: so hatte mein Vater ausgesehen,
+wenn ich vor dem Ausbruch seines Zorns verängstigt aus dem Zimmer
+entfloh. Mir stürzten die Tränen aus den Augen. »Und nun weinst du auch
+noch, -- als ob damit geholfen wäre --« rief Heinrich aufgeregt. Ich
+drückte mein Taschentuch vor die Augen, stand auf und riegelte
+geräuschvoll die Schlafzimmertür hinter mir zu. Ich hörte, wie er die
+Entreetür krachend ins Schloß warf. Es war die erste, ernste Differenz
+in unserer Ehe. Aber schon als ich ihn mit langen Schritten unten über
+den Lützowplatz gehen sah, war mein Kummer verflogen. Ich hätte ihn,
+ohne Rücksicht auf die Verwunderung der Menschen, zurückgerufen, wenn
+meine Stimme ihn erreicht haben würde. Nun stand ich weit hinausgelehnt
+auf der Loggia und winkte mit dem Tuch, das noch feucht von meinen
+Tränen war. Mitten auf dem Platz stand eine alte Frau mit einem Korb
+voll Rosen. Seine Schritte verlangsamten sich, als er in ihre Nähe kam.
+Zögernd ging er an ihr vorüber. Dann aber drehte er um, ganz rasch, als
+habe er etwas sehr Wichtiges vergessen; ich sah, wie er der alten Frau
+alle Rosen aus dem Korbe nahm, und den Weg hastig zurückging, den er
+gekommen war. In diesem Augenblick hob er den Kopf und sah mich. Er
+winkte mit der Hand voll Blumen. Ich lief die Treppe hinab, ihm
+entgegen. Wir sanken einander in die Arme. »Verzeih mir, Geliebte,
+verzeih!« flüsterte er. »Was sollte ich dir zu verzeihen haben ...!«
+
+Noch am Abend fuhr er nach Frankfurt, um Hall um einen Vorschuß zu
+bitten; vierundzwanzig Stunden später depeschierte er: »Anstandslos
+bewilligt. Sei ohne Sorgen.«
+
+ * * * * *
+
+»Nun müssen wir doch wohl ein paar Besuche machen,« meinte Heinrich
+seufzend, ein paar Tage später, »bei meinem Bruder, bei August, bei dem
+Alten --«
+
+Wir gingen zuerst zum »Vorwärts« in die Beuthstraße, in dessen Redaktion
+mein Schwager tätig war, Dunkle, schmierige Steintreppen führten hinauf.
+Nur spärlich drang das Tageslicht in die Redaktionsräume, vor deren
+Fenstern ein großes Fabrikgebäude mit dem Rattern seiner Maschinen und
+den grauen Gestalten, die sich eilig hin- und herbewegten, als ständiges
+Menetekel für die Vertreter der Arbeiterschaft drüben aufgerichtet
+schien. Zwischen Haufen von Büchern und Zeitungen saß mein Schwager,
+blaß und abgespannt.
+
+Er war immer überarbeitet, denn zu seiner redaktionellen Tätigkeit
+lastete er sich stets noch tausend andere Dinge auf.
+
+»Du interessierst dich ja für die Konfektionsarbeiter,« wandte er sich
+an mich, »Reinhard und ich bereiten eine Enquete vor. Man muß die
+Öffentlichkeit immer wieder mit der Nase auf die Dinge stoßen. Berlepsch
+ist abgesägt, die Konfektionäre haben ihr Wort gebrochen, ohne daß ein
+Hahn darnach krähte, jetzt gilt's wieder Spektakel machen, sonst ist's
+ganz und gar aus mit der Sozialreform.« Ich sicherte ihm freudig meine
+Hilfe zu. Und mit jener nervösen Unruhe, die stets das Zeichen geistiger
+Überreiztheit ist, schnitt er in der nächsten halben Stunde ein Dutzend
+anderer Gesprächsthemen an, um schließlich von seinem Bruder bei der
+Frage des Vorwärtskonflikts festgehalten zu werden, der gerade die
+Gemüter in der Partei erhitzte und die Gegner sehr beschäftigte, die
+überall hoffnungsvoll Unfrieden witterten.
+
+»Ihr habt unrecht von Anfang bis zu Ende,« erklärte Heinrich
+kategorisch. »Zuerst in der Ironisierung der Quarckschen Vorschläge und
+dann in der unwürdigen Behandlung des alten Liebknecht.« »Was verstehst
+du davon?« brummte Adolf.
+
+»Erlaube: von Sozialpolitik verstehe ich ebenso viel wie du. Und
+Quarcks Vorschläge liefen darauf hinaus, den Gewerkschaften eine
+intensivere Beschäftigung mit sozialpolitischen Fragen ans Herz zu
+legen. Darin hat er recht. Sie sind wichtiger, als leichtsinnig
+begonnene Streiks.«
+
+»Die Regierung würde auf unsere schönsten sozialpolitischen Kongresse
+pfeifen, und die Folge wäre nur eine Verwischung des Klassencharakters
+der Bewegung« -- Adolf redete sich in steigende Erregung hinein; jede
+Unterhaltung schien sich in der Familie Brandt zum Streit auszuwachsen;
+-- »selbst einen verlorenen Streik, der sie trotz alledem stärkt, weil
+er die Erbitterung steigert, ziehe ich einem Liebäugeln mit bürgerlicher
+Sozialreformerei vor. Und was den Alten betrifft --, ich möchte sehen,
+was du tätest, wenn du mit ihm in der Redaktion säßest!« -- »Mich zanken
+-- höchst wahrscheinlich! Aber nicht vor der Öffentlichkeit!« Ich hielt
+den Augenblick für kritisch und stand auf. »Übrigens habe ich noch was
+für dich, Schwägerin,« sagte Adolf und begann seine sämtlichen mit
+Papieren vollgestopften Taschen vor uns auszuleeren. Endlich fand sich
+der Zeitungsausschnitt, den er suchte.
+
+Ich las: »Zur Palastrevolution im Vorwärts -- cherchez la femme! Wir
+erhalten von authentischer Seite folgende interessante Aufklärung über
+die tieferen Beweggründe der Empörung der Vorwärtsredaktion gegen ihren
+Chef, Wilhelm Liebknecht. Frau von Glyzcinski, alias Fräulein Alix von
+Kleve, heiratete kürzlich Dr. Brandt, einen der Vorwärtsredakteure. Ihr
+brennender Ehrgeiz, der das Ziel verfolgt, das Zentralorgan der Partei
+in die Hand zu bekommen, ist es, der die Intrige anzettelte. Eine
+Dynastie Brandt dürfte die Dynastie Liebknecht nunmehr ablösen.«
+»Verlogenes Pack!« knirschte Heinrich. Adolf lachte. »Beruhige dich,«
+sagte er zu ihm, »wir bringen heute schon eine Berichtigung --« »Und wir
+gehen sofort zu Liebknechts, um der Geschichte die Spitze abzubrechen.«
+
+Adolf hielt uns noch einmal zurück: »Ich rate euch dringend, den Besuch
+zu unterlassen. Der Alte kümmert sich freilich um keinerlei Geklatsch,
+aber Frau Natalie erzählt in allen Parteikaffeekränzchen
+Räubergeschichten über euch, die sie von deiner geschiedenen Frau gehört
+haben will. Sie ist euch noch feindseliger gesinnt als Leo.« »Leo?!«
+wiederholte Heinrich überrascht. So hieß jener Freund, auf dessen
+enthusiastische Schilderung hin er die Bekanntschaft Rosaliens gesucht
+hatte. »Das weißt du nicht?!« staunte Adolf. »Jedem, der es hören oder
+nicht hören will, zählt er haarklein deine Sünden auf: daß du Rosalie
+gezwungen habest, nach England zu gehen, um hier -- na, sagen wir:
+ungestört zu sein, daß du sie selbst im Wochenbett nicht geschont,
+sondern ihr die Einwilligung zur Scheidung durch unaufhörliche Quälerei
+erpreßt hättest und sie, kaum daß sie aufstehen konnte, mit dem Säugling
+aus dem Hause getrieben hast.« Heinrich war außer sich. Einer seiner
+besten Freunde war Leo gewesen, und er verurteilte ihn, ohne ihn gehört
+zu haben!
+
+Wir gingen schweigsam nach Hause. Auf dem Lützowplatz sah ich Frau
+Vanselow uns entgegenkommen. Sie bemerkte uns, stutzte und bog hastig in
+einen Nebenweg ein. Heinrich sah mich forschend an und zog, wie zum
+Schutz, meinen Arm durch den seinen. »Mach dir nichts draus, Schatz. Es
+ist alles Gesindel! Du stehst zu hoch, als daß es dich verletzen
+könnte.« -- »Und dich?!« fragte ich und zwang mich zum Lächeln. Er biß
+sich die Lippen und schwieg.
+
+Fast immer, wenn ich ausging, hatte ich ähnliche Begegnungen: Kein
+Zweifel, meine alten Gefährtinnen aus der bürgerlichen Frauenbewegung
+wollten mich nicht mehr kennen. Frau Schwabach ging mit hoch erhobenem
+Kopf vorüber, wenn sie mich sah, und ich erfuhr aus den Zeitungen von
+den Vorbereitungen zum internationalen Frauenkongreß, den einzuberufen
+ich im Frühjahr noch mit beschlossen hatte. Man lud mich zu keiner
+Sitzung mehr ein, es fehlte nur noch, daß man mir das Referat über die
+Arbeiterinnenfrage fort genommen hätte, das mir seit Monaten übertragen
+worden war. Ich schrieb an Frau Morgenstern, um sie daran zu erinnern.
+Sie antwortete in sichtlicher Verlegenheit: »Wir glaubten nicht, daß Sie
+noch Wert darauf legten, geschieht es dennoch, so können wir Sie
+natürlich nicht hindern.«
+
+Nach all diesen Erfahrungen sah ich dem Besuch bei Bebels nicht ohne
+Herzklopfen entgegen, obwohl wir zu unserer Hochzeit ein
+Glückwunschschreiben erhalten hatten. Vielleicht war das nichts als eine
+Höflichkeit gewesen; ich fing an, mißtrauisch zu werden, und etwas wie
+Verbitterung bemächtigte sich meiner. Um so freudiger war ich
+überrascht, als die gute Frau Julie uns herzlich willkommen hieß. Vor
+Rührung und Dankbarkeit wäre ich ihr fast um den Hals gefallen. Und wenn
+ich in Bebel bisher den Vorkämpfer des Sozialismus bewundert hatte, --
+von dem Augenblick an, wo er mir mit einem freundlichen: »Nun sind Sie
+ganz die unsere« kräftig die Hand schüttelte, verehrte ich ihn um seiner
+Menschlichkeit willen.
+
+Ich beklagte mich über die Behandlung durch die vielen anderen, --
+selbst durch Parteigenossen. »Sie wundern sich noch, daß Ihre Geschichte
+so viel Staub aufgewirbelt hat?!« sagte Bebel. »Da kennen Sie unsere
+männlichen und weiblichen Philister schlecht! In der Theorie läßt man
+sich allerlei bieten, aber in der Praxis -- nein, das geht doch nicht!
+Wo bliebe da die Moral!! Meine Frau und ich haben schon schwer für Sie
+kämpfen müssen --«
+
+»So laß doch, August, -- das erzählt man doch nicht!« wehrte Frau Julie
+errötend ab, während ich ihr dankbar die mütterlich-weiche Hand drückte.
+
+»Warum denn nicht?« meinte er. »Es ist besser, Brandts sind orientiert,
+als daß sie täglich aufs neue unangenehm überrascht werden.«
+
+»Ich hörte, daß Leo sich sehr feindselig benimmt?« fragte Heinrich.
+
+»Und ob! Aber auch mit Singer habe ich mich schon herumgestritten, so
+daß er mich schließlich fragte, ob ich ihn für einen Philister hielte,
+was ich bejahte. Daß Frau Liebknecht gegen Sie beide Partei ergreift,
+war bei ihren Anschauungen gar nicht anders zu erwarten. Bei den Frauen
+müssen Sie sowieso darauf gefaßt sein, daß sie von einem wahren horror
+ergriffen sind. Im Mittelalter hätten sie Sie als Hexe verbrannt, heute
+werden Sie von hundert Mäulern begeifert und auf hundert Federn
+gespießt.«
+
+»Und da läßt sich gar nichts machen?« Meinem Mann schwollen die Adern
+an den Schläfen. »Warten Sie's ab, daß ist der einzige Rat, den ich
+geben kann. In vier Wochen stürzen sich die Raubtiere auf irgendeinen
+anderen armen Piepmatz, der so vermessen ist, fliegen zu wollen.«
+
+Frau Julie fragte nach meinen Eltern. Ich erzählte freimütig, was wir
+durchgemacht hatten. »Arme, junge Frau -- arme junge Frau,« wiederholte
+sie immer wieder und streichelte mir die Wange.
+
+»Mach unsere Genossin nicht noch weicher, als sie ist,« sagte er -- »Sie
+müßten statt dessen in Drachenblut baden! Aber eins wird Sie trösten:
+die Arbeit in der Partei. Damit werden Sie schließlich auch die bösesten
+Zungen zum Schweigen bringen.«
+
+Wir schieden wie Freunde. Ich fühlte mich neu gekräftigt und voll
+Hoffnung. Als wir ein paar Tage später zu Bebels geladen wurden, sah ich
+diesem Ereignis mit erwartungsvoller Freude entgegen. Eine Gesellschaft
+freier Geister, die die höchsten Ideale der Menschheit vertreten --
+meine Sehnsucht, seit ich denken konnte --, würde sich bei ihnen
+zusammenfinden: unsere Gefährten auf dem Weg in die Zukunft.
+
+Lautes Stimmengewirr schlug uns entgegen, als wir an jenem Abend über
+die gastliche Schwelle traten. Es verstummte jählings, sobald die Türe
+vor uns aufging. Sie haben eben von uns gesprochen, dachte ich
+unwillkürlich. Ich wurde vorgestellt und aufs Sofa gezogen. Auf dem
+Tisch davor stand eine blendende Petroleumlampe. Neben mir saß eine
+große, dicke Dame, die sich nicht anlehnen konnte, weil sie zu eng
+geschnürt war. Sie war selbstbewußt wie anerkannte Schönheiten, warf
+ihre braunen Augen siegessicher umher und behandelte mich sehr gnädig.
+Ein Herr mit einem schwarzen Vollbart, der wie gut gewichste Stiefel
+glänzte, rückte ihr mit seinem Stuhl immer näher und schlug sich bei
+jedem Witz, den er erzählte, schallend auf die Schenkel. Er versuchte,
+auch mich ins Gespräch zu ziehen. »Sie sind ja, Gott Lob, auch eine
+vorurteilslose Frau,« sagte er und zwinkerte vertraulich mit den Augen.
+Ich wandte mich ostentativ zur anderen Seite den Damen zu, die Frau
+Bebel an den Tisch führte. Aber die Unterhaltung blieb an den
+oberflächlichsten Phrasen kleben. Dazwischen hörte ich mit halbem Ohr
+das Gespräch der beiden neben mir. Seine Witze wurden immer eindeutiger,
+in irgend einer Friedrichsstraßen-Bar mochte er sie nicht anders
+erzählen. Endlich ging's zu Tisch; ich hatte den Ehrenplatz neben Bebel.
+Man sprach über die lieben Mitmenschen genau wie bei den »sauren Möpsen«
+schrecklichen Angedenkens, die ich in den verschiedenen Garnisonen
+meines Vaters hatte mitmachen müssen, und an Stelle von Regiments- und
+Manövergeschichten über interne Parteiaffären. Da ich nichts von ihnen
+verstand, konnte ich die Gesellschaft um so mehr beobachten; die Damen
+waren sehr erhitzt, und wenn der Nachbar eine Bemerkung machte,
+kicherten sie unaufhörlich. Die Hausfrau ging von einem zum anderen, um
+zum Essen zu nötigen. Ich fing an, mich zu amüsieren, -- nicht mit den
+Gästen, sondern über sie, -- und schämte mich doch wieder, daß meine
+Beobachtung so kleinlich an lauter Äußerlichkeiten kleben blieb. Ich
+wußte doch von vorn herein: hier waren keine Montmorencys. Aber so etwas
+wie eine Gesellschaft bei Madame Roland vor 89 hatte ich mir doch wohl
+vorgestellt.
+
+Zwischen Fisch und Braten benutzte ich die Gelegenheit, um meines
+Nachbarn Ansicht über den bevorstehenden Frauenkongreß einzuholen. Eine
+Notiz in Wanda Orbins Zeitschrift hatte mir zu denken gegeben. »Die
+Genossinnen haben beschlossen, die Einladung zum Kongreß abzulehnen,«
+hieß es darin.
+
+»Ich kann Ihnen nur raten, sie ruhig anzunehmen, ohne Rücksicht darauf,
+wie Frau Wanda sich stellt,« sagte Bebel und warf mit einer lebhaften
+Bewegung die widerspenstigen Haare aus der Stirn. »Ich befinde mich mit
+ihr stets in kleinen Konflikten wegen der ungeschickten Taktik und der
+oft recht gehässigen Art, mit der sie die bürgerliche Frauenbewegung
+bekämpft. Sie käme mit einer sachlichen, ruhigen Darstellung viel
+weiter. Haben Sie zum Beispiel gelesen, was sie über die Resolutionen
+schrieb, die hier in vier großen Versammlungen zwischen der zweiten und
+dritten Lesung des Bürgerlichen Gesetzbuchs zur Annahme gelangten?«
+
+Ich nickte: »Mich hat überhaupt gewundert, daß von seiten der
+sozialdemokratischen Frauen so wenig geschah. Das Bürgerliche Gesetzbuch
+hätte zu einer großen Protestbewegung Anlaß genug gegeben!«
+
+»Sicherlich!« bekräftigte er, »und statt den gegebenen Anlaß zu
+benutzen, lehnte Frau Wanda den Anschluß an den Protest der bürgerlichen
+Damen ab --, nicht etwa wegen dem, was darin steht, sondern wegen dem,
+was nicht darin steht! Mich amüsiert der Vorgang besonders deshalb, weil
+ich selbst den Resolutionen, die Frau Vanselow mir schickte, ihre letzte
+Form gegeben habe.«
+
+»Sie scheinen mir mehr von der bürgerlichen Frauenbewegung zu halten,
+als ich, die ich aus ihr hervorging,« meinte ich lächelnd.
+
+»Die Distanz verändert immer das Urteil,« antwortete er. »Ich mache mir
+aber keinerlei Illusionen, finde nur, daß es taktisch richtiger gewesen
+wäre, die Empörung der bürgerlichen Damen über die Haltung des
+Reichstags für uns auszunutzen, als sie so plump, wie Frau Wanda es tat,
+vor den Kopf zu stoßen. Die Frauen haben tatsächliche Fortschritte
+gemacht und sind mit ihren männlichen Parteigenossen, den Liberalen,
+nicht in einen Topf zu werfen.«
+
+Ich erinnerte ihn an das erwachende Interesse, das sie seit dem
+Konfektionsarbeiterstreik für die Arbeiterinnenfrage an den Tag legten.
+»Auch auf dem Kongreß wird sie im Verhältnis zu früheren Zeiten einen
+breiten Raum einnehmen.«
+
+»Ein Verdienst Glyzcinskis und Ihrer Zeitschrift --, das werden Sie sich
+hoffentlich nicht verhehlen,« warf er ein. »Im übrigen ist das natürlich
+die schwächste Seite der Damen und wird es bleiben. Sie können ihnen ja
+darüber tüchtig die Leviten lesen. Mit Ausnahme der christlich-sozialen
+Frauen jüngerer Richtung verstehen sie nicht einen Deut von ihr.«
+
+Christlich-sozial, -- das war das Stichwort zur Verallgemeinerung des
+Gesprächs. Göhre hatte eben sein Pfarramt niedergelegt, Naumann plante
+eine Tageszeitung; die offene Trennung der Gruppe, die sich um ihn
+gebildet hatte, von der Stöckerpartei, war eine schon fast vollendete
+Tatsache. Man stritt mit steigender Lebhaftigkeit über ihre Ansichten,
+über die Bedeutung, die sie für die Sozialdemokratie haben könne.
+
+»Nichts als ein Unterschlupf für die Möchtegern- und
+Kanndochnicht-Politiker; Offiziere ohne Armee, die mit den Jahren nach
+rechts abschwenken,« sagte der mit dem schwarzen Bart und zog ihn
+schmeichelnd durch kranke, blutleere Finger »Es wird unsere Sache sein,
+ihnen die Entwicklung zu uns zu ermöglichen,« hörte ich Heinrichs
+Stimme. »Sie sind immer ein Ideologe gewesen, lieber Brandt,« antwortete
+ihm eine andere, »sollten wir uns um eine Handvoll Intellektueller die
+Beine ablaufen, wo Millionen Arbeiter noch nicht die unseren sind?!«
+»Gerade um die Millionen zu gewinnen, brauchen wir eine solche
+Handvoll --,« entgegnete Heinrich.
+
+»Dafür lassen Sie nur ruhig die Verhältnisse sorgen,« sagte Bebel
+lebhaft, »sie werden uns schneller, als ihr alle glaubt, die Massen
+zutreiben. Noch ein paar Jahre Flottenrummel, einige Reden von S. M..«
+
+»Und wir werden glücklich ein Dutzend Mandate mehr haben --, oder meinst
+du wirklich, wir sprängen dann schon mit beiden Beinen in den
+Zukunftsstaat?!« Der mit gutmütigem Spott gesprochen und bisher fast
+immer geschwiegen hatte, war Ignaz Auer. Auf meine rasch entzündliche
+Begeisterung, die Bebels Worte ganz anders ergänzte, wirkten die seinen
+wie ein kalter Wasserstrahl. Anderen schien es ähnlich zu gehen, das
+Gespräch verlor seinen allgemeinen Charakter; man stand auf. Nach ein
+paar Höflichkeitsphrasen wurde der weibliche Teil der Gesellschaft in
+das Wohnzimmer genötigt; die Herren rückten mit ihren Zigarren um den
+Eßtisch zusammen, und durch die Tür klang ihre laute Unterhaltung. Bei
+uns drinnen sprach man von Fleischpreisen und Kochrezepten; keine der
+anwesenden Frauen schien in der Parteibewegung irgend eine aktive Rolle
+zu spielen. Fragen von allgemeinerem Interesse wurden nicht berührt. Nur
+die große, dicke Frau, deren Schönheit und Geist mir inzwischen
+irgendwer gepriesen hatte, stellte sich wie ein Inquisitor kerzengerade
+vor mich hin und fragte: »Wie denken Sie über Ibsen?« Die anderen
+richteten selten ein Wort an mich; im Hintergrund schienen sie über mich
+zu tuscheln, und ich fühlte ihre Blicke, die musternd auf mir ruhten.
+
+Auf dem Heimweg konnte ich mir endlich Luft machen. »Das sind ja alles
+Philister --,« brach ich los, »vom Herrn Amtsrichter in Neu-Ruppin hätte
+ich nichts anderes erwartet.« Heinrich lachte.
+
+»Glaubst du, die politischen Ideale könnten aus ihren Vertretern
+gewandte Salonhelden machen?«
+
+»Das nicht. Aber freiere Menschen.«
+
+»Darüber dürften Generationen vergehen. Die Gewohnheit ist wie eine Haut
+und läßt sich nicht auf einmal abziehen. Du mußt unsere Genossen bei der
+Arbeit kennen lernen, nicht beim Souper.«
+
+ * * * * *
+
+Die erste Gelegenheit dazu bot sich bald. Adolf lud uns ein, der Sitzung
+der Gewerkschaftskommission beizuwohnen, in der die Vorschläge Dr.
+Quarcks erörtert werden sollten. In einem Lokal der Kommandantenstraße
+fand sie statt. Durch die enge Kneipe, wo es nach schlechtem Fett und
+süßlichem Schnaps roch, und den regenfeuchten dunkeln Garten, wo ein
+paar verkümmerte Kastanien zwischen haushohen Mauern einen endlosen
+Todeskampf führten, ging es in die große, hölzerne Veranda, deren
+spärliche Gasflammen die dichtgedrängte Menge unruhig beleuchteten.
+Gegen hundert verschiedene Berufe waren durch ihre Delegierten
+vertreten, fast lauter ernste, ältere Männer im Sonntagsrock, die
+Zigarre zwischen den Lippen, den Bierkrug vor sich; nur zwei Frauen
+unter ihnen: Martha Bartels und Ida Wiemer. Sie sahen uns kommen. Aber
+während Martha Bartels den leeren Stuhl neben sich hastig aus der Reihe
+schob und meinen Gruß frostig und fremd erwiderte, kam uns Ida Wiemer
+freundlich entgegen und zog uns an ihren Tisch. »Haben Sie die Bartels
+gesehen?« flüsterte sie mir zu. »Sie hat den Moralkoller, wie alle alten
+Jungfern.« Mühsam drängte sich Reinhard mit seinem steifen Bein durch
+die Reihen, um uns die Hand zu schütteln. »So kann ich Ihnen noch
+persönlich gratulieren,« sagte er herzlich, »und uns dazu, weil Sie nun
+ganz Genossin sind.«
+
+Er war der Referent des Abends. Mit einer Schärfe, die mir die
+Wichtigkeit der Sache zu überschätzen schien, wandte er sich gegen die
+Vorschläge Quarcks. Erst allmählich hörte ich das Leitmotiv aus seiner
+Rede heraus: den Gewerkschaften die Beratung und Beschlußfassung
+sozialpolitischer Fragen überlassen, hieße den Frieden zwischen
+Gewerkschaft und Partei gefährden, hieße den Parteitagen, die sich
+bisher allein damit beschäftigt haben -- »den Bedürfnissen und
+Interessen der deutschen Arbeiterklasse vollständig entsprechend« --,
+Sonderorganisationen gegenüberstellen, in die der Einfluß bürgerlicher
+Sozialreformer einzudringen imstande sein würde. Die folgende
+Diskussion verschärfte noch den Eindruck, den ich gewonnen hatte.
+
+Es fielen harte Worte, vor denen ich erschrak, weil sie mir eine
+Vorahnung dessen gaben, was mir bevorstehen mochte. »Ein Mensch, der in
+seiner bürgerlichen Existenz Fiasko gemacht hat, will uns, -- lauter
+alte erprobte Gewerkschafter, -- auf neue Wege führen,« sagte der eine
+unter dem Applaus der Anwesenden. »Erst soll er, wie jeder Arbeiter
+auch, in die Schule gehen, ehe er das Maul aufreißt.« -- »Eine
+Sozialpolitik, wie Quarck sie empfiehlt, ohne Parteipolitik, ist nichts
+als jene Politik bürgerlicher Reformer, zu denen er im Grunde noch
+gehört,« rief ein anderer. »Wenn er mit seiner bescheidenen
+Parteistellung nicht zufrieden ist, dann hätte er lieber gleich sagen
+sollen: für einen so großen Mann wie mich muß eine Extrawurst
+gebraten werden, statt seine Wünsche hinter die Forderung eines
+Zentral-Gewerkschaftsbureaus zu verstecken,« meinte ein dritter Redner,
+dem die verbissene Wut aus dem roten Gesicht leuchtete. Erhob sich die
+Debatte über persönliche Gehässigkeiten hinaus, so stand auf der einen
+Seite die geschlossene Phalanx derer, die mit leidenschaftlichem Eifer
+den Nachdruck auf die Gewinnung der politischen Macht durch die
+Gesamtheit der Partei gelegt wissen wollten und den Gewerkschaften den
+internen Kampf um bessere Lohn- und Arbeitsverhältnisse als alleinige
+Aufgabe zuwiesen, auf der anderen Seite die sehr Wenigen, aus deren
+Worten die Unzufriedenheit mit der praktischen Gegenwartspolitik der
+Partei leise herausklang, und die vom Einfluß der Gewerkschaften auf
+die soziale Gesetzgebung ein Wiederaufleben der Sozialreform erhofften.
+Ganz nebenbei erwähnte auch jemand, daß unsere Vereinsgesetzgebung den
+Gewerkschaften aus der Beschäftigung mit Sozialpolitik einen Strick
+drehen und die Organisierung der Frauen unmöglich machen könnte. Keiner
+ging weiter auf diese Bemerkung ein, auch die Frauen schwiegen, ich war
+zu schüchtern, um in diesem Kreis für mein Geschlecht eine Lanze zu
+brechen. Mir schien dieser Grund ausschlaggebend, um die Vorschläge
+unausführbar zu finden.
+
+Ich fühlte mehr, als daß ich verstand: unter diesen Männern, die so
+eifrig debattierten, die alle so selbstverständlich nur ein Ziel im Auge
+hatten, das Wohl ihrer Klasse, schlummerten Gegensätze, die irgendwann
+und -wo an die Oberfläche würden treten müssen.
+
+Wir gingen noch zusammen ins Kaffee: Reinhard, der Schwager, die beiden
+Frauen und wir. Martha Bartels hatte sich erst durch Reinhards langes
+Zureden dazu bewegen lassen. »Wir müssen doch unsere Enquete
+besprechen,« hörte ich ihn noch sagen, als sie sich uns näherte. Ida
+Wiemer stieß mich mit dem Ellbogen an und schob dann vertraulich ihren
+Arm in den meinen: »Sie wissen doch: Genossin Bartels verbreitet, daß
+Sie nur, um einen Mann zu finden, in die Partei kamen.«
+
+Das gab meinem Herzen einen Stich: Martha Bartels war fast die einzige,
+die die Motive meines Schritts hätte richtig beurteilen müssen. Sie
+blieb steif und zurückhaltend und taute erst auf, als Adolf vorschlug,
+ein paar Frauenrechtlerinnen, die sich während des Streiks bewährt
+hatten, zur Arbeit heranzuziehen. »Niemals!« rief sie leidenschaftlich.
+»Wir werden ihnen doch nicht die Beziehungen zur Arbeiterschaft
+vermitteln, die sie nur für ihre Zwecke ausnutzen würden. Die
+Christlich-Sozialen vor allem gehen nur auf den Gimpelfang aus!« Es war,
+als ob ich Wanda Orbin sprechen hörte. Aber ich konnte nicht anders, als
+ihr recht geben. Halb mißbilligend, halb verwundert sah Frau Wiemer, die
+andrer Ansicht war, mich an, und beim Weggehen sagte sie mit einem
+gereizten Ton in der Stimme. »Sie stellen sich auf ihre Seite -- nach
+allem, was ich Ihnen von ihr erzählt habe?!« Die Reihe, zu staunen, war
+jetzt an mir: »Hier handelt es sich um die Sache, -- nicht um die
+Person!«
+
+Auf der Heimfahrt fühlte ich mich plötzlich sehr unwohl. War es der
+Tabaksqualm, den ich nicht vertragen konnte, war es die feuchte
+Nachtluft, -- ich kam nur schwer die steilen vier Treppen hinauf und
+warf mich angekleidet aufs Bett. Heinrich zündete das Nachtlämpchen an.
+Es glühte auf dem Tisch wie ein verirrter Stern, -- und die meergrünen
+Wände waren wie ein milder Sommerabendhimmel, auf den das rote Glas der
+Lampe rosige Wölkchen malte. Heinrich nahm mir die Schildpattkämme aus
+den Haaren --, mein Kopf wurde freier; er zog mir Schuhe und Strümpfe
+aus und rieb meine eiskalten Füße zwischen seinen Händen, von denen
+wohlige Wärme mir durch den ganzen Körper strömte. »Ist dir jetzt
+besser, mein Schatz?« fragte er besorgt mit dem weichsten Ton seiner
+Stimme. Ich sah ihn dankbar an --, dabei blieb mein Blick über seine
+Schulter hinweg an einem Bilde haften; ich hatte es selbst dorthin
+gehängt, ich wollte es immer vor Augen haben, ich hatte verlegen
+gelächelt, als Heinrich wissen wollte, warum. Und jetzt -- in
+glückseligem Erschrecken preßte ich beide Hände aufs Herz --: glänzte
+nicht in den tiefen Dichteraugen des lockigen Ganymed von Watts ein
+Funken lebendigen Lebens? Ich sank in die Kissen zurück, Tränen strömten
+mir aus den Augen, -- war's möglich, daß ich vor der Erfüllung meiner
+tiefsten Sehnsucht stand?!
+
+Am nächsten Morgen kam die Ärztin. Sie lachte über die Erregung, mit der
+ich sofort und ganz sichere Auskunft von ihr haben wollte, und sagte
+nichts anderes als: »Vielleicht!« Ich klammerte mich an dies Vielleicht,
+ich drehte es jeden Tag hundertmal hin und her, ob es sich nicht doch in
+ein Gewiß verwandeln könnte. Allerhand gespenstische Vorstellungen
+quälten mich: als hätte die Frau, die mir hatte Platz machen müssen,
+eine geheimnisvolle Macht über meinen Schoß, als könnten ihre
+Raubtierhände das Fünkchen Leben zerdrücken. Mein Mann wurde heftig und
+schalt meine Torheit, wenn ich von meinen Ängsten sprach. So war ich
+denn ganz allein mit ihnen. Hätte ich nur eine Freundin, -- oder eine
+Mutter --, dachte ich oft.
+
+Um die Zeit kamen Mutter und Schwester aus Pirgallen zurück. »Ich muß
+Euch, ehe Hans wieder in Berlin ist, allein sprechen,« schrieb sie und
+kündigte ihren Besuch für denselben Tag an. Ich war nicht ganz ohne
+Furcht: sie hatte es doch wohl übel genommen, daß wir ihr Anerbieten,
+bei unserer Hochzeit zugegen zu sein, immer wieder abgelehnt hatten.
+Zuerst würde sie darum ein bißchen steif sein, aber dann --, sie würde
+doch fühlen müssen, wie es um mich stand! Mit ausgestreckten Händen ging
+ich ihr entgegen, -- ich sehnte mich nach einer Mutter! Aber sie
+übersah sie, -- vielleicht weil der Flur dunkel war. Und sie atmete
+rasch und war sehr rot, -- vielleicht weil die Treppe sie überanstrengt
+hatte. Sie sah sich gar nicht um in unserem Zimmer, -- und ich hatte es
+ihr zum Empfang mit lauter leuchtenden Herbstblumen geschmückt.
+
+»Willst du nicht ablegen?« fragte ich zaghaft.
+
+»Nein,« antwortete sie schroff und setzte sich auf den äußersten Rand
+des großen Lehnstuhls, der sonst selbst den Fremdesten zwang, sich
+behaglich in seine Polster zu lehnen. »Ich komme nur, um eins zu
+erfahren, das über unsere künftigen Beziehungen entscheidet --« die
+ruhige kühle Frau sprach so rasch, wie ich sie nie hatte sprechen hören.
+»Meinen brieflichen Fragen seid Ihr ausgewichen, mir ins Gesicht hinein
+könnt Ihr nicht lügen: seid Ihr kirchlich getraut?« Noch härter als das
+ihre klang jetzt mein »Nein«. Aus der Tiefe meines verletzten Gefühles
+kam es. Die Mutter hatte ich erwartet!! Sie sprang vom Stuhl, blaurot im
+Gesicht, mit zitternden Händen ihren Schirm umklammernd. »So ist eure
+Ehe ein Konkubinat, und du bist seine Mätresse,« schrie sie mit
+gellender Stimme. Ich fühlte, wie das Zimmer sich um mich zu drehen
+begann und ein krampfhafter Schmerz meinen Leib zusammenzog.
+
+»So nehmen Sie doch Rücksicht auf Alix' Zustand --, schonen Sie ihr
+Kind!« rief Heinrich, mich fest umschlingend, da er sah, wie ich
+schwankte. Sie schien einen Augenblick Atem zu schöpfen, dann lachte sie
+schneidend: »Schonen?! Hat sie etwa ihre Eltern je geschont?!«
+
+Ich verlor die Besinnung. Als ich wieder zu mir kam, lag ich zu Bett.
+»Ist sie fort?!« flüsterte ich und sah angstvoll fragend auf den
+Geliebten. Er nickte.
+
+»Für diesmal ist es nichts!« sagte die Ärztin ein paar Stunden später.
+In meinem Blick muß meine ganze Verzweiflung gelegen haben, denn sie
+streichelte mir die Wange wie einem kleinen Kinde und sagte tröstend:
+»Um so sicherer wird es das nächste Mal sein!«
+
+ * * * * *
+
+Ich erholte mich rasch. Mit der Arbeit versuchte ich gegen den Schmerz
+zu kämpfen. Es schien fast, als sollte die Waffe, die so oft
+unüberwindlich zu machen vermag, an seiner Riesenkraft zuschanden
+werden. Nicht einen Augenblick durfte ich sie aus den Händen lassen, er
+hätte mich sonst wieder in seine Gewalt bekommen. Ich bereitete meine
+Kongreßrede vor und studierte alles, was über die Lage der Arbeiterinnen
+irgend erreichbar war; ich arbeitete mit den Kindern und frischte
+heimlich längst vergessene Schulkenntnisse auf, um ihnen helfen zu
+können, ich versuchte, der Köchin die alten Kochkünste beizubringen, die
+ich einst zu Hause gelernt hatte.
+
+Wanda Orbin überraschte mich eines Morgens dabei. »Was, Sie können
+kochen?!« lachte sie. »Ich kann, -- ja,« antwortete ich, »aber ich sehe,
+daß die Ausführung meiner Kenntnisse teuer ist; ich werde meiner Köchin
+das Feld wieder räumen müssen --.« »Das wird für beide Teile das Beste
+sein. Ich hab's zwar auch jahrelang tun müssen, bin aber dafür nicht als
+Generalstochter aufgewachsen.« Ein leiser Spott lag in ihren Worten.
+»Sie werden überhaupt noch viel lernen müssen, Genossin Brandt!«
+
+»Ich bin davon überzeugt und immer bereit dazu,« antwortete ich kühl.
+
+»Dann wollen wir gleich damit anfangen. Ich fand ihren Namen auf dem
+Kongreßprogramm --, Sie müssen ihn zurückziehen!«
+
+Überrascht sah ich auf. Sie hatte mit dem Ton einer Vorgesetzten
+gesprochen. »Warum?! Bebel hatte gegen meine Teilnahme nichts
+einzuwenden!«
+
+»Bebel! Er sieht die Dinge aus der Vogelperspektive, vor allem die
+Frauenbewegung. Die Genossinnen haben beschlossen, die Aufforderung zu
+offizieller Beteiligung abzulehnen.«
+
+»Ich weiß,« entgegnete ich; »im Frühjahr aber, zur Zeit, als ich das
+Referat übernahm, bestand dieser Beschluß noch nicht. Ich würde meinen
+Rücktritt, so kurz vor dem Kongreß, für einen Wortbruch halten, der um
+so weniger zu entschuldigen wäre, als ich selbstverständlich mein Thema
+auf Grund meiner politischen Überzeugung behandeln werde und es für dies
+Publikum sehr nützlich ist, auch diese ihm ganz fremde Seite kennen zu
+lernen. Zahlreiche Elemente, die der bürgerlichen Frauenbewegung in die
+Arme liefen -- die Lehrerinnen, die Handelsangestellten, die
+Beamtinnen --, gehören ihrer ganzen Lage nach zu uns. Wir können sie nur
+gewinnen, wenn wir ihnen bis ins feindliche Lager nachgehen --«
+
+Frau Orbin unterbrach mich. »Sie irren. Diese Leute kommen für uns
+zunächst gar nicht in Betracht. Und wenn Sie wirklich durch Ihre
+Überredungskünste« -- sie schürzte wieder spöttisch die Lippen -- »zwei
+oder drei gewinnen würden, stünde der Nachteil, den Ihre Teilnahme an
+einer bürgerlichen Veranstaltung zur Folge hätte, gar nicht im
+Verhältnis zu diesem minimalen Gewinn.« Ich sah sie fragend an. Sie
+stand auf, ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder und blieb dann
+dicht vor mir stehen.
+
+»Sie sind eben erst die Unsere geworden,« sagte sie mit einer Art
+mütterlicher Freundlichkeit, »Sie sind Aristokratin, -- Gründe genug, um
+Ihnen mißtrauisch zu begegnen, um Ihnen die Tätigkeit in der Partei, von
+der ich so viel erwarte, sehr zu erschweren. Und nun wollen Sie noch als
+einzige, -- gegen unseren Beschluß, -- an diesem einseitig
+feministischen Kongreß teilnehmen! Das verstehen die Genossinnen nicht.
+Und wenn Sie dabei mit Engelszungen den Sozialismus verkündigen würden,
+sie hören Sie nicht, -- sie sehen darin doch nichts anderes, als daß Sie
+eben noch zu jenen gehören. Ich habe gestern Ihretwegen einen schweren
+Kampf gehabt: die Genossinnen weigern sich unbedingt, Sie zur internen
+Arbeit zuzuziehen, wenn Sie nicht durch Unterwerfung unter unseren
+Beschluß Ihre Zugehörigkeit zu uns dokumentieren.« Sie zögerte und sah
+mich erwartungsvoll an. Als ich noch immer schwieg, legte sie mir beide
+Hände auf die Schultern und fuhr mit eindringlicher Stimme fort: »Sie
+sind in die Partei eingetreten, um für sie zu wirken; wollen Sie sich
+aus Rücksicht auf die alten Kolleginnen Ihre künftige Stellung
+erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen? Haben die Damen das um Sie
+verdient ...?« Sie machte abermals eine Pause. Ich erinnerte mich, wie
+Frau Vanselow in einen Seitenweg eingebogen war, um mich nicht grüßen
+zu müssen, wie Frau Schwabach mit hochmütig erhobenem Kopf an mir
+vorüberging. Aber hatte ich durch meinen Brief an Frau Morgenstern das
+Referat nicht erzwungen, -- konnte ich unter diesen Umständen daran
+denken, zurückzutreten? Vor allem aber: entsprach es meiner Überzeugung?
+
+»Sie mögen in allem recht haben, -- nur in der Hauptsache nicht: in
+Ihrem Beschluß. Würde ich Ihnen nicht selbst als eine Heuchlerin, zum
+mindesten als ein Schwächling erscheinen, wenn ich mich ihm fügen wollte
+wider besseres Wissen und Gewissen?!« sagte ich. Auge in Auge standen
+wir uns gegenüber. Sie ballte die kleinen breiten Fäuste, aus ihrem
+Gesicht brannten hektische Flecke, ihre roten Haare umgaben es wie mit
+einem Feuerkranz. Ich dagegen erschien ganz ruhig, ganz kühl; ich wußte,
+daß kein Blutstropfen meine Wangen färbte; und wie um meine sie
+überragende Gestalt zu betonen, reckte ich mich gerade auf.
+
+»Noch nicht das Abc der Demokratie scheinen Sie gelernt zu haben!« rief
+sie aus. »Auers Worte kann ich Ihnen entgegenhalten, mit denen er in
+Frankfurt vor zwei Jahren seinen aufsässigen Landsleuten diente: 'Das
+gehört zum Demokraten und zum Sozialdemokraten, daß er sich sagt: Esel
+seid ihr zwar, aber ich muß mich fügen'. Mögen Sie uns meinetwegen für
+Esel halten -- der Reichtum Ihrer Erfahrung gibt Ihnen ja wohl ein Recht
+dazu! --, wenn Sie aber zu uns gehören wollen, so haben Sie Ihre Person
+der Allgemeinheit unterzuordnen.« Jetzt war die untersetzte, kleine Frau
+doch die Überlegene. Ich wandte mich ab und lehnte die heiße Stirn an
+die kühle Fensterscheibe; -- sie sollte nicht sehen, wie schwer es mir
+wurde, mich zu unterwerfen. Aber sie folgte mir.
+
+»Genossin Brandt --,« aus ihrer Stimme war der schrille Ton wieder
+verschwunden, der an den Kasernenhof erinnerte, -- »wir haben uns alle
+opfern müssen --« Ich sah ihr ins Gesicht. Die scharfen Züge waren weich
+geworden. »So will ich Ihnen nicht nachstehen,« antwortete ich. In ihren
+Augen leuchtete es auf wie Triumph. Mir war, als ob ihr Händedruck mich
+in neue unsichtbare Fesseln schlüge.
+
+»So, -- und nun soll Ihnen eine goldene Brücke gebaut werden,« damit zog
+sie mich neben sich aufs Sofa. »Wir erlassen Ihnen den offiziellen
+Rücktritt, aber Sie benutzen die kurze Zeit, die Ihnen sowieso nur zur
+Verfügung steht, zu einer Erklärung Ihres Standpunktes und überbringen
+dem Kongreß unsere Einladung zu den Volksversammlungen, in denen die
+Arbeiterinnenfrage in einem Umfang zur Erörterung kommen wird, der ihrer
+Bedeutung allein entspricht. Sie müssen es ja selbst schon als eine
+skandalöse Zumutung empfunden haben, daß man Ihnen dieselben fünfzehn
+Minuten zugestand, die man so welterschütternden Fragen wie den
+Volksküchen oder den Kleinkinderschulen auch gewährt hat --«. Ich
+bejahte, ohne recht hinzuhören, sie sprach weiter, wie ein unaufhörlich
+knarrendes Wasserrad, immer rascher, ohne Absatz. »Den ersten Vortrag in
+unseren Versammlungen übernehmen Sie,« -- damit war ihr Redestrom
+endlich versiegt. Wir verabschiedeten uns. An der Treppe blieb sie noch
+einmal stehen: »Ich hätte fast die Hauptsache vergessen: Wir haben
+morgen eine Sitzung. Holen Sie mich um acht Uhr ab; es wird für sie
+angenehmer sein, wenn ich Sie einführe.«
+
+So war ich also aufgenommen -- endgültig, aber zu einer rechten Freude
+darüber kam ich nicht. So sehr sich mein Nachgeben begreifen und
+entschuldigen ließ, so notwendig es vielleicht in der gegebenen
+Situation für mich war, ich wurde das peinliche Gefühl dabei nicht los,
+einen Wortbruch begangen zu haben. Was mir zuerst wie eine Erleichterung
+schien: die »goldene Brücke«, -- kam mir nun vollends wie eine Täuschung
+vor. Aber ein Zurück gab es nicht mehr.
+
+ * * * * *
+
+Die sozialdemokratische Frauenbewegung stand damals noch immer im
+Zeichen des Köller-Kurses. Ihre Bildungsvereine waren unter den
+nichtigsten Vorwänden aufgelöst worden; ihre Vorkämpferinnen mußten sich
+wiederholt polizeilichen Haussuchungen unterwerfen, jede Korrespondenz
+mit Gesinnungsgenossinnen, die man auffand, genügte, um sie als
+staatsgefährliche Verbrecher hinter Schloß und Riegel zu setzen. An der
+Frauenbewegung blieb daher der Charakter revolutionären
+Geheimbündlertums, den die Partei als solche mehr und mehr abstreifte,
+noch lange haften. Für die Zusammenkünfte, die notwendig waren, bedurfte
+es der größten Vorsichtsmaßregeln, und nur ein kleiner Kreis
+vertrauenswürdiger Frauen wurde dazu eingeladen. Die Sitzung, zu der wir
+gingen, Frau Orbin und ich, fand bei einem kleinen Parteibudiker in der
+Linienstraße statt. Wir vermieden es, durch das Lokal zu gehen -- »hier
+gibt's überall Spitzel,« meinte meine Gefährtin --, und bogen in den
+dunkeln Torweg ein, stiegen vorsichtig tastend eine stockfinstere Treppe
+hinauf und standen einen Augenblick zögernd vor einer Tür, durch deren
+Schlüsselloch ein schwacher Lichtschein drang. Ich bemühte mich,
+hindurch zu sehen. »Drinnen ist niemand,« sagte ich, »eine Photographie
+hängt an der Wand, -- ein Mann mit schwarzem Bart und weißen Locken.« --
+»Marx!« rief Wanda Orbin, »so sind wir richtig.« Wir durchquerten den
+fensterlosen Raum, dessen stickige Luft mir den Atem benahm, und traten
+in die niedrige Stube, die daneben lag. Eine Petroleumlampe hing von der
+geschwärzten Decke; mit einem Geruch von schlechtem Tabak schienen alle
+Gegenstände im Zimmer, -- die schmutzigen Vorhänge, die fettigen
+Zeitungen, die rotgewürfelte Tischdecke, das alte Klavier im Winkel --,
+förmlich imprägniert zu sein. Und dazu hatte der frische September
+draußen den Rest stickiger Sommergroßstadthitze hier hereingedrängt. Die
+Frauen, die um den langen Tisch in der Mitte saßen, schwitzten. Ich
+wurde vorgestellt. Mein verbindliches Lächeln begegnete
+unfreundlich-neugierigen Blicken. Erst als Wanda Orbin mit
+ungewöhnlicher Wärme von mir sprach, meinen Entschluß, dem Kongreß eine
+Erklärung abzugeben, statt den angekündigten Vortrag zu halten, mit
+großem Nachdruck herausstrich, klärten die Mienen sich auf. Eine kleine
+runde Frau, die neben mir saß, streckte mir die arbeitsharte Hand
+entgegen: »Na, sehen Se mal, det is scheen von Ihnen!« sagte sie laut
+mit feucht schimmernden Äuglein. »Ruhe, Genossin Wengs!« rief die
+Bartels vom Tischende hinunter und trommelte mit den Fingerknöcheln auf
+den Tisch. Man versuchte parlamentarisch zu verhandeln, aber es
+entspannen sich immer wieder Privatunterhaltungen. Endlich schien sich
+das Interesse auf einen Punkt zu konzentrieren: die Kassenverhältnisse
+eines der aufgelösten Vereine wurden erörtert. Da man Bücher und
+Protokolle aus Angst vor Polizei und Staatsanwalt nicht zu führen
+pflegte und das kleine Rechnungsbuch aus demselben Grunde eilig
+verbrannt worden war, so fehlte es an den nötigen Unterlagen, um zu
+einem tatsächlichen Ergebnis zu gelangen. Es kam zu einer heftigen
+Debatte. Die arme Frau, die Kassiererin gewesen war, wurde laut und
+leise der Unredlichkeit geziehen --, sie hätte unbedingt noch vier Mark
+haben müssen und behauptete schluchzend, nichts zu haben.
+
+»Zu all die Arbeet un Schreiberei, die ich vor nischt gemacht hab,«
+heulte sie, »soll ich nu noch als Diebin dastehn. In Zukunft macht Euren
+Dreck alleene!« Und hinaus war sie. Immer drückender wurde die Luft. Das
+Fenster durfte nicht geöffnet werden, man hätte uns vom Hof aus hören
+können. Ich erstickte fast in dieser Atmosphäre. Die anderen schienen an
+sie gewöhnt zu sein, niemand beklagte sich. »Wir müssen unbedingt die
+beiden Hauptpunkte unserer Tagesordnung heute noch erledigen,« erklärte
+schließlich Wanda Orbin, nachdem man sich schon zwei Stunden um lauter
+persönliche Dinge hin- und hergezankt hatte. »Ich bitte daher ums Wort
+zur Frage des bürgerlichen Frauenkongresses.« Man schwieg, und sie fuhr
+fort, indem sie nochmals den Standpunkt der Genossinnen begründete, --
+mit einer Stimme und einer Ausführlichkeit, als gelte es eine
+Volksversammlung zu überzeugen. Machte sie eine Pause, so gab Martha
+Bartels das Signal zu allgemeinem Applaus. »Wir sind in der vorigen
+Sitzung mit unserer Besprechung zu keinem Abschluß gekommen. Ich frage
+die Genossinnen, ob sie sich meinen Antrag, in die Diskussionen des
+Kongresses einzugreifen, überlegt haben, und wie sie sich dazu stellen?«
+Mit dieser mich nicht wenig überraschenden Frage, schloß sie ihre Rede.
+Alles blieb still. Martha Bartels sah erwartungsvoll von einer zur
+anderen. »Wir sind wohl alle einer Meinung,« meinte sie dann, »und
+können ohne weiteres zur Abstimmung schreiten.« Ich hatte bisher mit
+keinem Wort in die Debatte eingegriffen. Man sah mich mißbilligend an,
+als ich mich jetzt meldete. Wanda Orbin runzelte die Stirne. »Ich habe
+der Sitzung nicht beigewohnt, in der Sie, scheint's, die Angelegenheit
+schon hinreichend besprochen haben,« sagte ich, »mir fehlen daher, um zu
+einem sicheren Urteil zu kommen, Ihre Gründe. Ich möchte mir deshalb nur
+die Frage erlauben, ob es nicht eine Inkonsequenz ist, die Beteiligung
+am Kongreß abzulehnen und die Teilnahme an der Diskussion zu
+beschließen?« Allgemeines, stummes Erstaunen. Nur Ida Wiemer, die neben
+mir saß, stieß mich unter dem Tisch heimlich an und warf mir einen
+aufmunternden Blick zu. Mit endlosem Wortschwall suchte Wanda Orbin, vom
+Beifallsgemurmel der Anwesenden begleitet, die grundsätzliche
+Verschiedenheit beider Arten der Beteiligung auseinander zu setzen. »Es
+hieße das Prinzip des Klassenkampfes preisgeben,« sagte sie, »wenn wir
+mit bürgerlichen Elementen irgend etwas gemeinsam unternehmen wollten,
+aber es gehört zum Klassenkampf, daß wir in der Debatte ihnen
+geschlossen gegenüber treten.« »Niemand hinderte uns, in selbständiger
+Rede dasselbe zu tun --«, warf ich noch einmal ein. Meine Worte gingen
+im allgemeinen Geschwätz, das wieder entfesselt war, verloren. Wanda
+Orbin hatte alle Stimmen auf ihrer Seite, -- auch Ida Wiemer. »Wenn man
+nicht mittut, wird man gehenkt --,« flüsterte sie mir sich
+entschuldigend zu. Ich enthielt mich der Abstimmung. »Wir kommen zum
+nächsten Punkt der Tagesordnung: Parteitag,« sagte Martha Bartels, die
+den Vorsitz führte. »Genossin Orbin hat das Wort.« »Der Parteitag in
+Gotha ist für uns ganz besonders bedeutungsvoll,« begann sie; »die
+Frauenagitation steht auf der Tagesordnung. Es ist infolgedessen
+wünschenswert, daß viele der tätigen Genossinnen als Delegiertinnen
+anwesend sind, damit die praktische Erfahrung neben der theoretischen
+Schulung zu Worte kommt. Unsere Resolution ist Ihnen durch die
+'Freiheit' bekannt; es hat niemand an ihr etwas auszusetzen gehabt, sie
+wird ohne Zweifel zur Annahme gelangen, da sie nichts Neues bringt,
+sondern nur das bewährte Alte zusammenfaßt. Nach anderer Richtung jedoch
+drohen uns Kämpfe: es liegen Anträge vor, die die Schaffung einer
+besonderen Arbeiterinnnenzeitung bezwecken. Ihre Verfasser sind mit
+unserer 'Freiheit' unzufrieden. Es ist notwendig, daß die Berliner
+Genossinnen klipp und klar dazu Stellung nehmen.« Nun entwickelte sich
+etwas wie eine Diskussion. Ein paar Frauen, Martha Bartels voran, lobten
+die 'Freiheit' in allen Tönen, Frau Wiemer allein sprach mit dem Wunsch
+nach etwas populäreren Artikeln zugleich einen leisen Tadel aus, den
+Frau Orbin dadurch entkräftete, daß sie erklärte, die 'Freiheit' sei
+gar nicht für die Massen bestimmt, sondern nur für die Führerinnen. Man
+war darnach ausnahmslos entschlossen, jede Änderung ihres Inhalts und
+jeden Plan eines Konkurrenzunternehmens abzulehnen. Als ich bemerkte,
+man möge wenigstens dafür sorgen, daß, als wichtiges Mittel unserer
+Agitation, die allgemeine Parteipresse der Frauenfrage einen breiten
+Raum gewähre, lachte alles. »Da kennen Se unsere Männer schlecht,«
+meinte die dicke Frau Wengs neben mir, »die wollen von uns rein jar
+nischt wissen.« »Die mehrschten erlooben den Frauen nich, daß se in ne
+Versammlung jehn oder in 'nen Verein. Daheem sollen se sitzen un Strümpe
+stoppen,« rief eine andere und ein allgemeines Klagelied über die Männer
+hub an; erst die energische Stimme der Orbin stellte die Ruhe wieder
+her: »Es ist zwölf Uhr, -- wir müssen zu Ende kommen.« »Jotte doch,
+schon zwölwe, un ick habe soo'n weiten Weg,« jammerte Frau Wengs und
+erhob sich. Ein paar andere, die schon lange auf ihren Stühlen hin und
+hergerückt waren, sprangen auf. »So bleiben Sie doch fünf Minuten,
+Genossinnen,« kommandierte Martha Bartels, »wir müssen doch die
+Delegiertinnen zum Parteitag noch bestimmen.« Frau Wengs ging eilig zu
+ihrem Stuhl zurück, mit ihr die anderen; gespannte Neugierde drückte
+sich in den Mienen aller aus. Die Bartels fuhr mit erhobener Stimme
+fort: »Vorgeschlagen sind Genossinnen Stein, Wolf und meine Wenigkeit.«
+Ein eifriges Geraune und Getuschel setzte ein. »Hat jemand andere
+Vorschläge?!« Sie sah drohend umher. Ein Dutzend Frauen meldeten sich
+auf einmal. »Immer dieselben!« -- »Laßt doch ooch andere drankommen!«
+-- »Die gewerkschaftlich tätigen Genossinnen werden natürlich
+übergangen --!« schrie und lärmte es durcheinander. »Ick schlage die
+Jenossin Brandt vor --,« rief Frau Wengs. Es wurde still. Die Frauen
+sahen mich an, -- mißtrauisch, feindselig. Ich hatte die Situation rasch
+erfaßt. »Ich danke der Genossin Wengs für ihre Freundlichkeit,« sagte
+ich, »aber ich fühle mich noch viel zu jung in der Bewegung, als daß ich
+solch einen Ehrenposten annehmen könnte.« Wanda Orbin nickte mir,
+sichtlich erleichtert, zu: »Nun aber schnell zur Abstimmung, -- wir
+versäumen ja noch die Pferdebahn! -- Ich denke, wir bleiben bei unseren
+Vorschlägen --« Niemand widersprach, aber kaum war die Sitzung
+geschlossen, als die allgemeine Unzufriedenheit sich in lauter
+Unterhaltung wieder Luft machte. Man ging in kleinen Gruppen
+auseinander, -- lauter feindliche Lager, wie mir schien. Wanda Orbin
+legte ihren Arm in den meinen, die Bartels begleitete uns; ihre Stimmung
+gegen mich war wieder umgeschlagen. Sie drückte mir herzlich die Hand,
+als wir Abschied nahmen.
+
+Mein Mann erwartete mich im nächsten Kaffee. »Das hat aber lange
+gedauert,« meinte er. »Wenn die Bedeutung Eurer Beschlüsse der Länge der
+Zeit entspricht, die Ihr darauf verwandt habt --!« Ich lachte, aber es
+war nicht das Lachen glücklichen Humors, der den Ereignissen die
+komische Seite abgewinnt und sich dadurch über sie erhebt. Heute würde
+mich der Humor im Stich gelassen haben, auch wenn ich ihn je besessen
+hätte. Es war alles so eng gewesen, so drückend, -- wie die schmutzige
+Stube und die eingeschlossene Luft in ihr; kein großer Gesichtspunkt
+war zutage getreten. »Wir Genossinnen sind immer einig,« hatte Wanda
+Orbin mir gesagt. Konnte sie wirklich für Einigkeit halten, was nichts
+war als die Beherrschung armer Frauen kraft ihres Willens und ihrer
+Intelligenz? »So wird es also deine Aufgabe sein, diesen Absolutismus zu
+brechen,« sagte Heinrich. -- »Nachdem ich mich ihm selbst schon
+unterworfen habe?!«
+
+ * * * * *
+
+Ich schritt die breite Treppe des Berliner Rathauses hinauf. Seit vier
+Tagen verhandelte der Frauenkongreß in dem festlichen Bürgersaal vor
+einem Publikum, das immer weniger aus Neugierde, immer mehr aus
+Interesse kam. Es war zwar im Grunde nichts als eine Truppenschau, bei
+der jede Teilnehmerin ihr Schlachtroß in raschem Galopp vorzuführen
+hatte. Aber Berlin sah zum erstenmal: Die Frauen konnten reiten. Heute
+war der Tag der großen Sensation: Die Arbeiterinnenfrage stand auf der
+Tagesordnung; man erwartete eine Schlacht zwischen den bürgerlichen
+Frauen und den Proletarierinnen, und auch mir persönlich galt ein Teil
+der allgemeinen Spannung, -- der Frau, deren Roman von Mund zu Mund
+ging, der Renegatin. An der Türe stand Egidy, mein alter Freund. Er
+drückte mir die Hand: »Ich bin erst eben nach Berlin zurückgekehrt.
+Sonst wäre ich schon bei Ihnen gewesen. Zwischen uns bleibt alles beim
+alten.« Ich lächelte dankbar. Bei meinem Eintritt in den überfüllten
+Saal entstand eine bemerkbare Unruhe: Kleider raschelten, Stühle wurden
+gerückt, Köpfe wandten sich nach mir um, man flüsterte meinen Namen.
+Eine Gruppe russischer Studentinnen, an denen ich vorüber mußte,
+klatschte stürmisch. Vom Vorstandstisch mahnte eine scharfe Stimme zur
+Ruhe. Die Genossinnen begrüßten mich; die erwartungsvolle Erregung, in
+der sie sich befanden, steigerte ihre Freundlichkeit mir gegenüber.
+Wanda Orbin nötigte mich auf den Stuhl neben sich. Ich blieb trotzdem
+befangen und suchte mit den Augen meinen Mann, als müßte ich mich
+wenigstens mit den Blicken an ihn klammern.
+
+Eine Österreicherin sprach zuerst über die Ergebnisse der Wiener
+Arbeiterinnen-Enquete. Ich kannte sie. Sie war eine überzeugte
+Sozialdemokratin. Die fünfzehn Minuten reichten aus, um ein ergreifendes
+Bild schrecklichen Elends zu malen. So hatte ich zu sprechen gedacht!
+Eine Engländerin folgte ihr. Sie begründete die Notwendigkeit der
+gewerkschaftlichen Organisation der Frauen in wenigen scharf-umrissenen
+Sätzen; in langer Rede hätte sie kaum mehr sagen können.
+
+»Frau Alix Brandt hat das Wort«, -- tönte jetzt die heisere Stimme der
+Vorsitzenden durch den Saal. Ich stand auf und zwängte mich durch die
+Stuhlreihen, am dichtbesetzten Tisch der Presse vorbei. »Sie wissen« --
+»Scheidungsprozeß« -- »Verhältnis« -- »Unglaublich«, -- flüsterte es.
+Mein Blut begann zu sieden. Ich stand auf der Tribüne; -- am
+Vorstandstisch zischte jemand, aus einer Ecke des Saales klang
+Beifallsgeklatsch und Getrampel. Das Zischen wurde stärker. Sekundenlang
+kämpften beide Laute miteinander, -- die Vorsitzende rührte sich nicht.
+Helle Empörung bemächtigte sich meiner, -- jetzt war ich bereit, ihnen
+meine Verachtung ins Gesicht zu schleudern. Ich begann sehr ruhig,
+indem ich erklärte, warum die Vertreterinnen der deutschen
+Arbeiterinnenbewegung es abgelehnt hätten, sich an den Arbeiten des
+Kongresses durch Delegierte zu beteiligen. »Für sie, die auf dem Boden
+der Sozialdemokratie stehen, ist die Frauenfrage nur ein Teil der
+sozialen Frage, und als solche durch die mehr oder weniger gut gemeinten
+Bestrebungen bürgerlicher Sozialreformer nicht lösbar. Ich selbst teile
+diese Auffassung vollkommen.« Meine Stimme hob sich und wurde schärfer;
+zu schneidendem Schwert sollte jedes meiner Worte sie schleifen. »Wer
+vorurteilslos und logisch denkt und sich eingehend mit der Frauenfrage,
+-- wohl gemerkt, der ganzen Frauenfrage, nicht mit der Damenfrage, --
+beschäftigt, der muß notwendig zur Sozialdemokratie gelangen.«
+Stürmische Choruse unterbrachen mich, die der Beifall der Genossinnen
+vergebens zu ersticken suchte. »Mit anderen Worten: wer es nicht tut,
+ist ein Dummkopf oder ein Heuchler?!« schrie eine der Damen vom
+Pressetisch zitternd vor Aufregung. Ich neigte mit spöttischer
+Zustimmung den Kopf; sie sprach aus, was zwischen meinen Worten klingen
+sollte. Die Unruhe wuchs, ich mußte lauter sprechen, um durchzudringen.
+»Die Wertschätzung und das Verständnis der bürgerlichen Frauenbewegung
+für die Arbeiterinnenfrage wird durch nichts deutlicher charakterisiert,
+als durch die Tatsache, daß man mir zu einem Vortrag über sie, die die
+größte Masse des weiblichen Geschlechts umschließt, und die entrechtete
+und unglücklichste, dieselben fünfzehn Minuten gewährt hat, wie etwa der
+Damenfrage der Mädchengymnasien. Ich verzichte daher auf meinen
+Vortrag...«
+
+Die Zuhörer schrieen und tobten, ein paar Männer sprangen auf die
+Stühle und drohten mir mit erhobenen Armen, in größter Erregung schwang
+die Vorsitzende unaufhörlich die Glocke, deren wimmerndes Klagegeheul
+die Melodie zu der Begleitung brüllender Stimmen zu sein schien. Endlich
+verschaffte ich mir wieder Gehör:
+
+»In zwei Volksversammlungen, die von uns einberufen worden sind, soll
+den Teilnehmerinnen des Kongresses Gelegenheit geboten werden, die
+Arbeiterinnenbewegung kennen zu lernen. Nicht als ob wir des frommen
+Glaubens lebten, auch nur eine von Ihnen für uns gewinnen zu können. Zu
+tief eingewurzelt ist der jahrhundertelang genährte Klassenegoismus, zu
+einschneidend in das Leben und Denken gerade der abhängigen Frau sind
+die Interessen ihrer Klasse, als daß sie sich so leicht davon losreißen
+könnte. Aber vielleicht wird Ihnen eine Ahnung davon aufgehen, daß es
+ein größeres, ergreifenderes Elend gibt, als das der unbefriedigten,
+berufslosen Töchter Ihrer Stände; daß außerhalb Ihrer Kreise ein Kampf
+gekämpft wird, der ernster, heiliger ist als der um den Doktorhut; daß
+der Schwung der Begeisterung, der Heldenmut der Aufopferung nur dort zu
+finden ist, wo Männer und Frauen ihre vereinten Kräfte für das eine
+große Ziel einsetzen: Befreiung der Gesamtheit aus wirtschaftlicher und
+moralischer Knechtschaft ...«
+
+Ich stieg vom Podium. Es war ein Spießrutenlaufen. Die eleganten Frauen
+Berlins, die in ihren schönen Herbsttoiletten die ersten Reihen besetzt
+hielten, hatten ihre ganze gesellschaftliche Haltung verloren. Sie
+zischten, sie riefen mir Schimpfworte zu, weißbehandschuhte Fäuste
+erhoben sich in bedrohlicher Nähe. Aber schon war Heinrich neben mir und
+reichte mir den Arm. Ein paar Schritte weiter umringten mich die
+Genossinnen, Wanda Orbin schloß mich stürmisch in die Arme.
+
+Kurz vor dem Ausgang stand eine Gruppe von erhitzten Damen um den
+jüngsten Philosophen Berlins geschart; er war ein Freund meines Mannes.
+»Sie haben Gift gespritzt,« schrie er mir zu. Mit einem Blick voll Zorn
+und Verachtung maß ihn Heinrich. Den nächsten Augenblick trat mir Egidy
+entgegen. »Sie haben sich schwer versündigt,« sagte er, seine blauen
+Augen funkelten zornig.
+
+An der Türe zögerte ich. Mir war, als müßte ich noch einmal rückwärts
+sehen, über die Menge hinweg in den festlich glänzenden Saal: Von der
+Decke herab flutete das Licht in Strahlenbündeln; es schimmerte weich
+auf weißen Marmorfiguren, es zauberte lebendige blutdurchflossene Adern
+in die Säulen von rotem Granit, es funkelte prahlend auf goldenen
+Gesimsen, und dem grauen Herbstabend draußen wehrten die hohen farbigen
+Bogenfenster den Eintritt.
+
+Langsam gingen wir die breite Steintreppe hinab auf die schmutzige
+Straße.
+
+ * * * * *
+
+Am Südende der Friedrichstraße, wo das Licht spärlicher wird, lag der
+alte Tanzsaal, in dem ich am Abend sprechen sollte. Durch ein paar Höfe,
+die nur die glühenden Augen breiter Fabrikfenster erhellten, führte der
+Weg. Sie waren schwarz voll Menschen. Auf den ausgetretenen Stufen der
+Holztreppe bis zum Saal war ein Vorwärtskommen fast unmöglich. Ein paar
+stämmige Ordner bahnten uns mit Ellbogenstößen den Weg. »Die berliner
+Arbeiter wollen Sie alle sehen, Genossin Brandt,« sagte der eine. Ich
+senkte den Kopf. Wie ich mich freute! Über den Massen, die den Raum
+erfüllten, in den wir endlich gelangten, lagerte Tabaksqualm und
+Menschenschweiß in schweren, dunkeln Nebeln. Das Licht von den
+verstaubten Kronleuchtern drang nur trübe durch den grauen Dunst.
+Rußgeschwärzt war die niedrige Decke, von den Wänden bröckelte der Kalk,
+blinde Spiegelscheiben warfen gespensterhaft verzerrt das Bild der
+Menschen zurück, die sich vor ihnen sammelten. Ein paar steile Stufen zu
+einer kleinen Bühne ging es empor, auf der grell gemalte Kulissen einen
+Wald von Palmen darstellen sollten. Unter mir stand jetzt die Menge Kopf
+an Kopf. Siedende Hitze stieg von ihr auf, daß der Atem mir sekundenlang
+stockte.
+
+»So warten sie schon seit zwei Stunden wie eine Mauer,« sagte Ida
+Wiemer, die den Vorsitz führte. Der graubärtige Polizeileutnant
+schüttelte bedenklich den Kopf. »Ich kann nur einen kurzen Vortrag
+gestatten,« sagte er, »wenn ich nicht die Versammlung auflösen soll.«
+»Genossen,« rief Ida Wiemer so laut sie konnte in den Saal, »macht den
+fremden Kongreßdelegierten Platz, die heute unsere Gäste sind --.« Eine
+Anzahl Arbeiter versuchten, sich langsam hinauszuschieben. Aber die
+Scharen, die die Türen belagerten, versperrten den Weg. »Das ist
+lebensgefährlich,« wiederholte der Polizeileutnant und wischte sich den
+Schweiß von der Stirne. »Fangen Sie an und machen Sie's kurz, -- ein
+anderes Mittel gibt's hier nicht.«
+
+Ich trat vor. Kirchenstille umfing mich. Ich sprach gegen jene
+landläufigen Vorwürfe, durch die die Gegner der Sozialdemokratie sie
+tödlich zu treffen glauben: Die Zerstörung der Familie, die Propagierung
+der freien Liebe, die Vernichtung der Religion, den blutigen Umsturz.
+Und ich zeigte, wie die wirtschaftliche Not es ist, die das
+Familienleben zerstört, wie aus derselben Not die käufliche Liebe
+wächst, die nichts gemein hat mit jener Freiheit der Liebe, die wir als
+die einzige Grundlage echten Familienglückes den Menschen erobern
+wollen; wie es die Kirche ist und der Staat, die die Religion Christi
+vernichtet haben, wie die blutige Revolution nicht von uns, sondern von
+denen vorbereiten wird, die mit Flinten und Säbeln drohen, die der
+wehrhaften Jugend befehlen, auch auf Vater und Mutter zu schießen, die
+den Ruf hungernder Arbeiter um ein paar Pfennige mehr Lohn, um ein paar
+Stunden weniger Arbeitszeit mit Gewehrsalven beantworten. Ich sah nichts
+mehr; zwischen mir und den Menschen da unten hingen dichte Schleier.
+Aber ich fühlte ihren heißen Atem, ich hörte mit gesteigerten Sinnen ihr
+Stöhnen, wenn ich ihr Elend malte, ihren Beifall, wenn ich von ihren
+Kämpfen sprach, ihren hoffnungsstarken Jubel, wenn ich der Zukunft
+gedachte, die unser sein wird.
+
+Ich schwieg erschöpft, -- jetzt erst fühlte ich, wie der Kopf mir
+brannte und der Atem nach Luft rang. Hundert Hände streckten sich mir
+entgegen, als ich zitternd die Stufen hinabstieg. Die Masse umdrängte
+mich. Dank, -- Vertrauen, -- Liebe las ich in ihren Mienen. Ein paar
+Frauenrechtlerinnen gingen mit steif erhobenen Köpfen an mir vorbei. Ich
+lächelte. Wie hatte ich mich nur je über ihre Feindseligkeit grämen
+können?! Ich kam nur langsam vorwärts. Mit lauter Fragen und Bitten
+wurde ich aufgehalten: »Nicht wahr, Sie sprechen auch bei uns einmal?«
+-- »In unserem Kreis?« -- »In meiner Gewerkschaft?« Und immer wieder
+sagte ich freudig ja. Die hier glaubten an mich und erwarteten von mir,
+daß ich ihnen etwas sein könnte. Im dunkeln Saal war mein Herz wieder
+warm und hell geworden.
+
+Wir gingen den weiten Weg durch die Nacht nach Haus. Am Kanalufer
+raschelten die gelben Blätter uns zu Füßen und tanzten wie goldige
+Schmetterlinge in der feuchten Herbstluft.
+
+»Warum die Menschen trauern, wenn die Blätter fallen?« sagte ich. »Sie
+machen doch nur den jungen Trieben Platz!« Mein Liebster küßte mich.
+»Du, was denken die Leute?!« rief ich lachend und lief ihm davon. »Die
+Wahrheit!« sagte er, mich einholend, und preßte mir die Hände mit einem
+starken Griff zusammen. »Daß wir ein Liebespaar sind!«
+
+Im Schlafzimmer droben riß ich die Kleider vom Leibe, in denen der Dunst
+des Saales noch hing. Das rosige Licht der Lampe umflutete mich; meine
+Augen suchten den kleinen Ganymed. Unwillkürlich faltete ich die Hände.
+Auch an diesen Frühling glaubte ich wieder.
+
+
+
+
+Sechstes Kapitel
+
+
+Goldener Herbst! Ein königlicher Verschwender bist du. Deiner Geliebten,
+der Sonne, gibst du in brennenden Farben zurück, was sie an Sommerglut
+der Erde geschenkt hat. Nichts ist dir zu gering, um es mit dem Glanz
+deiner Liebe zu überschütten. Auf die ödesten Mauern zaubert dein Blick
+jauchzende Melodien von Gelb und Rot. Aus dem armen Sand märkischen
+Bodens lockst du der Sonnenblumen tropische Pracht hervor und lehrst
+sie, ihr Strahlenangesicht deiner Geliebten anbetend zuzukehren. Unter
+deinem Hauch reifen die Früchte, und schwer von Segen neigen sich die
+Äste vor dir. Von entblätterten Blüten trägt dein Atem zarte Samenfäden
+über die Wiesen und schüttelt von den alten Eichen die Hoffnung
+kommender Jahre.
+
+Tage, über die der Himmel leuchtet wie flüssiges Silber, läßt du in
+Nächten untergehen, die tief und dunkel sind, ein zukunftschwangeres
+Geheimnis.
+
+Nicht wie die jungen Mädchen den Lenz begrüßen -- schämig errötend und
+demutsvoll -- empfing ich dich. Ich forderte von dir, erhobenen Hauptes,
+meinen Anteil an deinem Reichtum, Fürst des Jahres. Und, siehe, aus
+meinem Herzen wuchsen glutrote Blumen, meine Seele wurde zu deinem
+Saitenspiel, mein Schoß zum Tempel des Lebens -- -- --
+
+Es kam über mich wie ein einziger großer Feiertag. Er duldete nichts
+Dunkles. Aus den Kammern vertrieb ich allen Staub der Vergangenheit, aus
+Kisten und Kasten alles, was moderte. Ich badete meine Augen, daß sie
+klar und hell wurden und die Welt ihnen in einem Glanz erschien, wie sie
+ihn nie vorher gesehen hatten. Wie der Herbstwind am Morgen die Nebel
+zerstreut, so flohen die Sorgen vor dem Sturm meiner Seligkeit. Ich ging
+der Sonne nach. Auch den verlorensten ihrer Strahlen fing ich auf und
+barg ihn in der Schatzkammer meiner Seele.
+
+Sonnengesegnet sollte es sein, mein Kind!
+
+Ich war nicht mehr Ich. Das geheimnisvoll neue Leben unter meinem Herzen
+hatte von mir Besitz ergriffen. Ich träumte nicht mehr meine engen
+Träume, die sich im Kreise um mich selbst bewegten, und lebte nicht mehr
+meiner kleinen Hoffnung, die ihren Bogen nur bis zum Friedhofstor des
+eigenen Daseins spannte. Wie Wandervögel flogen meine Träume weit über
+mein Gesichtsfeld hinaus, und die Brücke, die die Hoffnung baute,
+verband die Zeit mit der Ewigkeit.
+
+Ich ward mir selbst zum Heiligtum. Ich pflegte meinen Körper wie der
+Gläubige den Schrein, der das Allerheiligste birgt. Und meiner Seele
+Eingang hüteten goldgepanzerte Wächter; die Schärfe ihres Schwertes traf
+jeden bösen Gedanken, ihren Speeren entging kein niedriges Gefühl. Denn
+mein Körper und meine Seele nährten das neue Leben. Kein Tropfen Giftes
+durfte in ihnen sein.
+
+ * * * * *
+
+Ich wünschte mir einen Sohn. Einen, der ein Führer und Vorkämpfer werden
+könnte. Aber die Erfüllung dieses Wunsches schien mir fast zu viel des
+Glücks. Und so dachte ich auch der Tochter -- einer, die ein Vollmensch
+und darum ein echtes Weib sein sollte. Von nun an stand Watts Ganymed
+vor meinem Platz auf unserem großen Schreibtisch und neben ihm ein
+süßes, blondes Mädelchen nach einem Porträt von Gainsborough. Ich sah
+von einem zum anderen, und tief in mein Herz prägten sich die holden
+Kindergesichter. Mein Mann brachte mir täglich frische Blumen für sie.
+Einmal aber kam er nach Haus und stellte statt ihrer ein neues Bild
+mitten auf den Schreibtisch. Es war Meister Dürers furchtloser Ritter,
+der seelenruhig, im Schritt, den Kopf erhoben, das Auge gradaus
+gerichtet, an allen Schrecken des Daseins vorüberreitet.
+
+»Laß kommen die Höll, mit mir zu streiten, ich will durch Tod und Teufel
+reiten --,« ist sein Wahlspruch. »Wenn's ein Bub wird,« sagte der
+Liebste, »so soll's so einer sein.«
+
+»Du hast recht,« antwortete ich und drückte ihm zärtlich die Hand, »ich
+habe schon zu viel an das Kind und zu wenig an den Mann gedacht,« dabei
+wies ich lächelnd auf die Wolken weißen Linnens, die mich umgaben, und
+zeigte stolz die ersten winzigen Hemdchen, die daraus entstanden waren.
+Mein Mann hatte zuerst von dieser Arbeit nichts wissen wollen. »Du
+nimmst einer armen Näherin das Brot und hast selbst weit Besseres zu
+tun,« war seine Ansicht gewesen. Aber zum erstenmal hatte ich ihm
+widersprochen und meinen Willen durchgesetzt. Auf die Stoffe, die meines
+Kindes Körper berühren sollten, durften keine Kummertränen fallen;
+Mutterliebe mußte die Nadel führen, Mutterträume sich mit jedem Stich
+hinein verweben. Nun kam es freilich vor, daß ich im Übereifer
+stundenlang über der Arbeit saß und vernachlässigte, was ich sonst zu
+tun hatte. »Das muß anders werden, Heinz,« sagte ich laut und faltete
+die Leinwand zusammen. »Auch um des Kindes willen darf ich die Welt
+außerhalb unserer vier Wände nicht vergessen, die doch auch seine Welt
+sein wird. Schau, hier ist ein Brief von Wanda Orbin --,« ich reichte
+ihn meinem Mann hinüber, der sich an den Schreibtisch gesetzt hatte;
+»sie beklagt sich, weil ich zu wenig für die 'Freiheit' schreibe; hier
+sind eine Reihe Aufforderungen zu Vorträgen, -- ich war nahe daran, sie
+ablehnend zu beantworten --«
+
+»Und hier,« unterbrach er mich, »habe ich Bücher, die deiner Besprechung
+harren. An den Artikel, den du mir für mein Archiv versprochen hast,
+will ich schon gar nicht erinnern --«
+
+Ich stand auf und reckte mich mit einem Gefühl tiefen Wohlbefindens. »Du
+wirst ihn bekommen! Ich verstehe nicht recht, warum so viele Frauen
+jammern, wenn sie guter Hoffnung sind. Ich fühle Kraft für zwei!«
+
+Und mit Feuereifer stürzte ich mich in die Arbeit, die ich nur
+stundenweise unterbrach, um frische Luft zu schöpfen.
+
+ * * * * *
+
+Ich sollte mir täglich Bewegung machen und vermied den nahen Tiergarten,
+weil ich den Eltern zu begegnen fürchtete. Ich wußte: mein Herz würde
+sich schmerzhaft zusammenkrampfen, und ich wollte mich jetzt nicht
+grämen. So fuhren wir denn fast immer in den Grunewald und wanderten um
+die stillen Seen, die zwischen entlaubten Bäumen und schwarzen Kiefern
+dem Winter entgegenträumten, oder gingen auf den gepflegten Wegen der
+jungen Kolonie, all die vielen Villen betrachtend, die rascher als die
+Mietskasernen auf dem Kurfürstendamm aus der Erde wuchsen. Sie waren
+anders als die, die noch vor wenigen Jahren entstanden waren, -- heller,
+freundlicher. Die verlogenen Butzenscheibenerker und die altdeutschen
+Sprüche über den Türen verschwanden mehr und mehr. Die Zeit wurde
+selbstbewußter und schämte sich der erborgten Formen vergangener
+Jahrhunderte. Oft freilich sahen wir halb staunend, halb lachend Häuser,
+die aus lauter Originalitätssucht absurd geworden waren. Aber auch das
+war im Grunde nichts anderes, als der tolle Ausbruch überschäumender
+Jugendkraft, und wenn mein Mann spotten wollte, erinnerte ich an Goethes
+Wort: Es ist besser, daß ein junger Mensch auf eigenem Wege irre geht,
+als daß er auf fremdem recht wandelt.
+
+Heute blieben wir in Schauen versunken vor einem Häuschen stehen, das
+aus dem Märchenbuch ins Leben versetzt zu sein schien: ein tiefes Dach
+hing schützend über den von rotem Weinlaub dicht umsponnenen Wänden,
+hinter kleinen blitzenden Fenstern hingen weiße Vorhänge, auf den
+braunen Holzaltanen blühten noch rote Geranien, und davor auf dem
+glatten Rasenteppich warf ein kleiner Knabe jauchzend den bunten Ball in
+die helle Herbstluft. »Wenn doch mein Kind wie dieses in Wald und Garten
+wachsen könnte,« dachte ich. »Solch ein Haus möcht' ich euch bauen, dir
+und dem Kinde,« sagte Heinrich im gleichen Augenblick. Ich lachte ein
+wenig gezwungen. »Wie sollte das möglich sein, wo unsere Mietwohnung für
+uns schon zu teuer ist!« »Wenn wir Zinsen statt Miete zu zahlen
+hätten --,« meinte er nachdenklich; »Hall hat in dieser Weise schon
+mancher Familie die Möglichkeit verschafft, im eigenen Häuschen und im
+Freien zu wohnen!« Wir gingen schweigsam weiter, nur hier und da fiel
+eine Bemerkung, die mir zeigte, das er denselben Gedanken weiter spann.
+
+Am Wildgatter nach Hundekehle holte uns eine große Gesellschaft junger
+Radler ein; ihre blanken Räder blitzten, knapp und elegant schmiegten
+sich die Sportanzüge neuster Mode um die schlanken Gestalten. »Ist das
+nicht --,« rief ich unwillkürlich, und mein Herz klopfte rascher, aber
+schon wandte das reizende Mädchen, das dicht an mir vorbei geflogen kam,
+dunkelerrötend den Kopf zur Seite. »Ilse, -- kein Zweifel,« antwortete
+Heinrich. »Und sie grüßt mich nicht einmal!« Tränen verdunkelten mir den
+Blick. »Wollen wir umkehren?« frug mein Begleiter sanft und zog meinen
+Arm fest durch den seinen. »Nein,« entgegnete ich und versuchte zu
+lächeln; »sie kann ja nichts dafür, die Kleine! Sie darf mich nicht
+kennen.«
+
+Unten vor dem Wirtshaus standen die Räder. Wir wollten gerade links
+einbiegen, den Weg nach Paulsborn, der für uns so reich war an
+Erinnerungen, als Ilse, nach einem Augenblick des Zögerns, quer über die
+Straße zu uns herüberlief. Sie umarmte mich stürmisch.
+
+»Sei nicht böse, Schwester,« rief sie atemlos und zog mich tiefer in den
+Wald hinein. »Sie würden mich zu Hause verraten, wenn ich dich gegrüßt
+hätte.« Zärtlich streichelte ich ihr das erhitzte Gesicht und drückte
+ihr kleines Händchen, das immer noch so weich und zart war, so unfähig
+zuzupacken und festzuhalten.
+
+»Die Eltern wollen nichts von mir wissen?« fragte ich zaghaft.
+
+»Wir reden viel von dir, Mama und ich,« antwortete sie, »aber vor Papa
+dürfen wir deinen Namen nicht nennen. Trotzdem weiß ich, daß er sich
+bangt nach dir,« fügte sie rasch hinzu, als sie sah, wie ich erschüttert
+war. »Wir holen ihn manchmal vom Kasino ab; wenn wir über den
+Lützowplatz fahren, läßt er deine Fenster nicht aus den Augen.«
+
+»Und Mama, sagst du, spricht von mir?!«
+
+»Ja. Sie hatte zuerst des Morgens rote Augen, aber jetzt ist sie ruhig.
+Es quält sie nur, glaube ich, daß sie nicht weiß, ob -- ob --,« sie
+errötete, ein forschender Blick glitt über meine Gestalt.
+
+Heiß strömte es mir zum Herzen, mein ganzes, reiches Glück überkam mich,
+und alles Erinnerungsweh verschwand vor ihm. »Grüße Mama,« sagte ich
+weich, »und sage ihr, daß ich guter Hoffnung bin.« Ihre Hand löste sich
+aus der meinen, ein Schatten schien über ihre Züge zu huschen, etwas
+Fremdes stand auf einmal unsichtbar zwischen uns. »Ich muß fort, -- sie
+suchen mich sonst, -- lebwohl -- --!« und schon war sie wieder jenseits
+der Straße.
+
+»Verstehst du das?« fragte ich meinen Mann, der die ganze Zeit mit
+gerunzelter Stirn neben uns gestanden hatte, und sah ihr kopfschüttelnd
+nach. »Nein,« sagte er, »sie scheint mir aus Widersprüchen
+zusammengesetzt, deine Schwester.«
+
+Auf dem Rückweg ertappten wir uns gegenseitig bei einem verstohlenen,
+sehnsüchtigen Blick nach dem weinumsponnenen Häuschen mit dem tiefen
+Dach darüber. Der Rasenplatz war leer. Ob der Kleine da oben hinter den
+zugezogenen weißen Vorhängen schlummern mochte? Und ich träumte, während
+wir heimwärts fuhren, offenen Auges einen gar süßen Traum.
+
+Mein Herz war heut übervoll. Als ich abends bei den Knaben saß, um ihre
+Arbeiten zu beaufsichtigen, fühlte ich stärker als sonst, wie wenig ich
+sie eigentlich kannte. Sie waren nachmittags wie gewöhnlich im
+Zoologischen Garten gewesen. Es kam mir wie ein Unrecht vor, daß ich sie
+dort allein ließ; ich wußte nicht, was sie hörten und sahen, welchen
+Einflüssen sie inmitten der verdorbenen Großstadtjugend unterliegen
+mochten. Und doch, nicht möglich wäre es gewesen, so große Jungen auf
+Schritt und Tritt unter Aufsicht zu halten.
+
+Ihr Verhältnis zueinander war kein brüderliches, sie klagten sich häufig
+gegenseitig bei mir an, -- das einzige Mittel, wodurch ich etwas von
+ihnen zu erfahren bekam. Hätte ich doch ihr volles Vertrauen besessen!
+Aber freilich: ich hatte kein Recht darauf; für sie stand ich nicht
+einmal an Stelle der Mutter, denn sie lebte noch. Je erfolgloser mein
+Bemühen gewesen war, ihnen näher zu kommen, desto unbegreiflicher war es
+mir, daß die Mutter sich hatte von ihnen trennen können. Ein Kind bedarf
+der Mutter, die es besser versteht, als es sich selbst verstehen kann.
+Tiefes Mitleid ergriff mich mit den beiden Buben, aber ein noch tieferes
+fast mit ihrer Mutter. Welch Schicksal mußte sie getroffen haben, daß
+sich ihr Herz so hatte verhärten können? Heinrich sprach nicht gern von
+ihr; und meinen Gedanken, ihr zu schreiben, um wenigstens in bezug auf
+die Erziehung der Kinder im Einvernehmen mit ihr zu handeln, hatte er
+schroff und ärgerlich als einen ganz törichten und zwecklosen
+zurückgewiesen. Ich hatte ihn trotzdem ausgeführt -- heimlich, um ihn
+nicht zu ärgern. Da wir aber im Überschwang unseres jungen Eheglücks
+einander gestattet hatten, unsere Briefe gegenseitig zu öffnen, so las
+er ihre Antwort: ein paar kühle hochmütige Zeilen, im Tone der Herrin
+gegenüber der Gouvernante. Heinrich war damals ernstlich böse geworden,
+und -- was mir am tiefsten in die Seele schnitt -- traurig dazu. »Ich
+kann alles vertragen,« hatte er gesagt, »nur eins nicht: daß du
+unehrlich bist mir gegenüber. Ich muß dir unbedingt vertrauen können,
+sonst ist unsere Ehe keine mehr.« Seitdem hatte ich die kaum begonnene
+Korrespondenz wieder abgebrochen, und die Brücke zum Herzen der Kinder,
+auf die ich gehofft hatte, blieb ungebaut. Und nun kam es plötzlich wie
+eine Erleuchtung über mich: ich wußte, womit ich sie würde gewinnen
+können.
+
+»Erzähl uns was,« bettelte Wolfgang wie immer, wenn er aufatmend die
+Schulbücher zuschlug. »Gleich!« antwortete ich lächelnd, und ging
+hinaus, um mit dem Korb voll weißer Leinwand wiederzukommen.
+
+»Was meint ihr wohl, was das ist?« fragte ich und hielt ein kleines
+Hemdchen hoch, sodaß das Licht der Lampe rosig hindurchschimmerte. Sie
+rissen erstaunt die Augen auf. »Eurem Brüderchen oder eurem
+Schwesterchen gehört es, das ihr bekommen werdet. Habt ihr die Eicheln
+gesehen, die von den Bäumen fallen? Wenn die Erde sie aufnimmt, und
+weich und warm einhüllt, damit der Winter ihnen nichts Böses tun kann,
+so wachsen im Frühling junge Bäumchen daraus ... Und ein Vogelei kennt
+ihr doch auch? Da ist zuerst gar nichts drin, wie eine weißliche
+Flüssigkeit. Wenn's aber eingebettet im Nestchen liegt, und die Henne es
+mit ihrem Leib bedeckt, dann entwickelt sich zuerst die gelbe Dotter und
+aus ihr ein winziger lebendiger Vogel. Sobald er groß genug ist,
+zerbricht er das Ei und ist da! Wir sind so sehr daran gewöhnt, daß wir
+uns des großen Wunders gar nicht mehr bewußt werden, -- eines Wunders,
+das viel unfaßlicher ist, als wenn der Storch die kleinen Kinder
+brächte, wie man es früher zu erzählen pflegte.« Ich machte eine Pause;
+meine Zuhörer rührten sich nicht, und ich hatte nicht den Mut
+aufzusehen. Wußte ich doch nicht, was für Blicken ich begegnen würde.
+»Euch ist vielleicht auch einmal das Märchen vom Storch zu Ohren
+gekommen,« fuhr ich leiser fort, »es ist dumm und albern! Die Wahrheit
+ist tausendmal schöner: wie die Eichel im Schoß der Erde, ruht der
+Menschensamen im Mutterleib, und wie das Vögelchen sich entwickelt, so
+entwickelt sich das Kind, nur daß die Menschenmutter das Ei unter dem
+Herzen trägt, bis es zerspringt und das junge Leben geboren wird.« Ich
+schwieg wieder; es war so still, daß ich hätte meinen können, ich wäre
+allein im Zimmer. »Weil ich euch lieb habe, euch beide --,« flüsterte
+ich und senkte den Kopf tief auf die Arbeit, die meine zitternden Hände
+hielten, -- »darum mag ich euch nicht belügen, darum will ich euch
+anvertrauen, was mein glückseliges Geheimnis ist: ich werde auch ein
+Kind bekommen!«
+
+Eine beklemmende Stille; ich konnte die Nadel hören, wenn sie den Stoff
+durchstach. Endlich sah ich empor. Die Köpfe gesenkt, mit dunkelroten
+Wangen saßen die Knaben vor mir. Ein rascher scheuer Blick traf mich aus
+Wolfgangs hellen Augen, um seine Lippen zuckte es. Waren es verhaltene
+Tränen, oder war es am Ende gar -- Spott? Hans rutschte vom Stuhl auf
+die Erde und machte sich, abgewandt von mir, an seiner Dampfmaschine zu
+schaffen. Ich wußte nur zu gut, wie verdorbene Kinder das Geheimnis des
+Lebens ihren Schulkameraden zu erklären pflegen: mit lüsternen
+Augenzwinkern, mit der Freude am Schmutz. Hatten sie es so erfahren?!
+Mir stieg die Schamröte bis unter die Haarwurzeln. Oder hatten sie,
+während ich sprach, ihrer Mutter gedacht, hatten plötzlich empfunden,
+daß ich sie nicht so würde lieben können wie mein eigenes Kind? Ich
+seufzte tief auf. So war auch das vergebens gewesen; statt eine Schranke
+einzureißen, hatte ich eine neue errichtet. Ich begegnete ihnen von nun
+an mit doppelter Zärtlichkeit; ich suchte ihre Wünsche zu erfüllen, noch
+ehe sie laut wurden. Aber ihre Scheu überwand ich nicht.
+
+Vor Heinrich ließ ich mir nicht merken, was in mir vorging. Er hätte
+mich mißverstehen, hätte glauben können, daß ich seine Bitte, die Kinder
+lieb zu haben, nicht zu erfüllen vermöchte, -- dachte ich. Auch war er
+den Kindern gegenüber oft so reizbar, daß ich Mühe hatte, ihn zu
+besänftigen. Das Verlangen, mit mir allein zu sein, äußerte er zuweilen
+in einer, wie mir schien, für die unschuldigen Buben empfindlichen
+Weise. Ich lenkte ein, -- ich deckte zu, -- ich versteckte mein eigenes
+Empfinden, das in derselben Sehnsucht gipfelte wie das seine. Wie viele
+warme Worte und heiße Blicke und zarte kleine Aufmerksamkeiten, die wie
+ein holder Frühlingsflor den Garten junger Ehe schmücken, wagten sich
+vor den fremden Augen der Kinder nicht ans Tageslicht. Auch über das
+Glück meiner Mutterhoffnung mußt' ich vor ihnen einen Schleier ziehen.
+
+ * * * * *
+
+Wir lebten damals ganz still. Von geselligem Verkehr war selten die
+Rede. Wir scheuten noch immer unliebsame Begegnungen, und unsere
+Zurückhaltung, die mir als Hochmut ausgelegt wurde, steigerte nur unsere
+Isoliertheit. Es kam vor, daß wir im Theater zwischen lauter alten
+Bekannten saßen und uns doch wie auf einsamer Insel mitten im Meer
+befanden. Man musterte uns neugierig, man tuschelte über uns, man grüßte
+bestenfalls, und ich setzte dazu meine abweisendste Miene auf, um den
+Menschenhunger, der mich manchmal überfiel, nicht merken zu lassen.
+
+Zuweilen besuchten uns die Mitarbeiter an meines Mannes Zeitschrift:
+Nationalökonomen, Juristen und Politiker aus aller Herren Länder, die er
+mit dem ihm eigenen redaktionellen Geschick unter einen Hut zu bringen
+gewußt hatte, und die, -- mochten sie sonst in ihren Ansichten noch so
+weit auseinander gehen, -- unter seiner Führung gemeinsam am selben
+Strange zogen.
+
+»Ihr Mann ist ein wahres Redaktionsgenie!« sagte mir einmal einer von
+ihnen, nachdem er sich nach langer Debatte doch wieder unterworfen
+hatte, halb ärgerlich, halb bewundernd. »Meist erdrücken die Autoren den
+Redakteur, er nimmt dankbar, was 'bewährte Mitarbeiter' ihm bringen und
+ist eigentlich nur ihr Geschäftsführer. Ihr Mann aber zwingt uns in
+seinen Dienst wie ein Feldherr seine Soldaten. Wenn er will, so müssen
+wir alles andere stehen und liegen lassen, uns hinsetzen, die Feder
+ergreifen und den gewünschten Aufsatz schreiben.«
+
+Ich freute mich jedesmal dieser Gäste; denn mochten sie von Rußland oder
+Frankreich, von England oder Italien kommen, -- eins war ihnen
+gemeinsam: Tatkraft und Hoffnungsfreudigkeit. Ganz richtig äußerte sich
+einer über diese innere Einheit, wenn er sagte: »Wir sind Leute mit der
+Devise 'Ja, also!', im Gegensatz zu der älteren Generation der
+kathedersozialistischen Nationalökonomen, die die Männer des 'Ja, aber!'
+gewesen sind.« Sie zogen die Konsequenzen ihrer wissenschaftlichen
+Erkenntnis und traten rückhaltlos auf Seite der Arbeiter in Fragen des
+Arbeiterschutzes. In ihnen sah ich starke Verbündete der
+Sozialdemokratie, und es schien mir kein Zweifel, daß die Logik der
+inneren Entwicklung und der äußeren Geschehnisse sie schließlich zu
+ihren offenen Parteigängern würde machen müssen.
+
+Aber noch eine andere Tatsache unterstützte meinen Glauben an den
+Fortschritt sozialer Erkenntnis: die Gründung der nationalsozialen
+Partei.
+
+Sie war eben in Frankfurt zur Welt gekommen und getauft worden; sie
+hatte im Rausch der Festesfreude freilich den Mund sehr vollgenommen,
+wie das nun einmal in solcher Situation deutsche Art zu sein pflegt:
+»Wir stehen als Erben vor der Türe der Sozialdemokratie,« hatte Göhre
+erklärt. »Wir stellen uns an die Spitze der Arbeiterbewegung, denn die
+Zeit der Sozialdemokratie ist um,« hatte Sohm ihm sekundiert. Aber
+solche rednerischen Entgleisungen, die unsere Parteipresse mit einem
+übertriebenen Pathos rügte, statt über sie zu lächeln, wogen leicht
+gegenüber dem Handeln dieser Männer und Frauen: sie anerkannten die
+Gegenwartsforderungen der Sozialdemokratie, sie stellten sich, bei aller
+Betonung nationaler Gesinnung, in bewußtem Gegensatz zur Regierung, die
+die sozialen Pastoren maßregeln ließ, -- zum Kaiser, der ihre
+Bestrebungen für sträflichen Unsinn erklärte.
+
+Ein Ereignis trat ein, das vollends zwischen rechts und links wie
+Scheidewasser wirken sollte: der Hafenarbeiterstreik in Hamburg. Hatte
+wenige Jahre vorher die Cholera die Augen der ganzen Welt auf die
+gräßlichen Elendsquartiere der reichen Kaufmannsstadt gerichtet, so
+zeigte sich jetzt, daß selbst ihr Schrecken nicht imstande gewesen war,
+die Brutstätten des Todes aus der Welt zu schaffen. Noch hausten zwanzig
+Prozent ihrer Bewohner dicht zusammengedrängt in winzigen Räumen und
+engen Gassen, -- zu fünft in einem Zimmer, zu neun in zweien! Und zu
+diesen gehörten vor allem die Hafenarbeiter, die bei schwerer Arbeit,
+die sie oft Tag und Nacht nicht los ließ, nicht genug verdienten, um
+sich auch nur in Frieden ausruhen und frische Arbeitskräfte sammeln zu
+können. Der Eindruck der Tatsachen, die der Streik enthüllte, war ein
+ungeheurer, und die Haltung der Hamburger Reeder, die sich allen
+Einigungsversuchen der Arbeiterorganisationen widersetzten und einen
+Kampf um ein paar Groschen mehr Lohn zu einem Kampf um ihre Macht
+erweiterten, empörte jeden, der vorurteilslos zu denken vermochte. In
+höherem Maße als zur Zeit des Konfektionsarbeiterstreiks nahm die
+Öffentlichkeit Partei für die Arbeiter, geführt von den jungen
+sozialpolitischen Professoren und der nationalsozialen Partei. Das
+waren, so schien mir, Symptome für das Erwachen eines Geistes, der nicht
+mehr zu bannen sein würde. Und die Haltung der Gegner bekräftigte meine
+Auffassung: Kleine Nadelstiche, wie die Ausweisungen englischer
+Arbeiterführer, die, um Frieden zu stiften, nach Hamburg gekommen waren,
+-- schroffe Erklärungen der Reichsregierung gegen die Streikenden, --
+von ihr unwidersprochene Aussprüche, wie die des alten Reaktionärs
+Kardorff im Reichstag: »Ich freue mich, daß man von den bedenklichen
+Wegen des Erlasses von 1890 jetzt abgekommen ist,« -- Wünsche eines
+Stumm und seiner Gesinnungsgenossen, die zur Bekämpfung
+staatsgefährlicher Umtriebe eine Änderung der Vereinsgesetze forderten,
+-- waren das alles nicht Zeichen der Angst und der Schwäche? Und war
+nicht die Wandlung, die der Kaiser seit seinen sozialpolitischen
+Erlassen durchgemacht hatte, ein unbewußtes Eingeständnis schwindenden
+Einflusses? Erfüllt von seinem Gottesgnadentum, durchtränkt von der
+Vorstellung, die Tradition und Erziehung den Fürsten unauslöschlich
+einprägt: daß das Volk ihnen gegenüber im Verhältnis des Kindes zum
+Vater steht, hatte er ein sozialer Kaiser sein wollen, indem er der
+Arbeiterschaft als Geschenk brachte, was ihm gut schien für sie. Als sie
+es ihm nicht dankte, als sie Rechte forderte, statt Gnaden zu erbitten,
+sie sogar mit Gewalt ertrotzen wollte, -- da wurde der in seiner
+Autorität verletzte Fürst zum zürnenden, strafenden Vater. Und derselbe
+Kaiser, der 1890 für die Schaffung von Schiedsgerichten eintrat, stellte
+sich 1896 auf die Seite der Hamburger Reeder und forderte die
+Vereinigung aller Arbeitgeber gegen die Arbeiter.
+
+Um diese Zeit besuchte uns mein alter Freund Professor Tondern, der ein
+stiller Gelehrter irgendwo an einer Provinzuniversität geworden war, und
+den ich für unsere Sache fast schon aufgegeben hatte. Er war zur Zeit
+des Streiks in Hamburg gewesen, und mein Mann hatte ihn für das Archiv
+zu einer Arbeit darüber aufgefordert. Statt aller Antwort kam er selbst,
+ganz erfüllt von dem Erlebten.
+
+»Da bilden wir uns nun wer weiß wie viel auf unsere Bildung, unsere alte
+Kultur ein,« sagte er, »und müssen angesichts solcher Kämpfe beschämt
+eingestehen, daß wir mit all dem lumpigen Rüstzeug ihren Forderungen
+gegenüber jämmerlich Schiffbruch leiden würden, während die in Elend und
+Unwissenheit Aufgewachsenen sich wie Helden bewähren. Sie hätten nur
+sehen sollen, wie tapfer die Frauen, vom kleinen Mädchen bis zum
+steinalten Mütterchen, ihren Vätern und Söhnen zur Seite standen. Da
+steckt ungebrochene Jugendkraft --« Er brach seufzend ab.
+
+»Zeugt die arbeiterfreundliche Haltung gewisser bürgerlicher Kreise
+nicht auch dafür?« fragte ich.
+
+Er schüttelte heftig den Kopf, daß die dünn gewordenen roten
+Haarsträhnen flogen. »Immer noch die alte Optimistin!« murmelte er. »Zu
+einem guten Teil haben Sie freilich recht --« fügte er dann laut hinzu.
+»Der Streik hat die Verschlafenen aufgerüttelt, hat die
+sozialpolitischen Probleme wieder in den Fluß der Diskussion gebracht,
+hat die brennende Feindschaft, die der Generalstab des Kapitals, das
+heißt das Kapital in seiner bedrohten politischen Machtsphäre gegen die
+freie Wissenschaft empfindet, zu hellen Flammen werden lassen, -- und
+das kann dem echten, dem kritischen wissenschaftlichen Geist nur heilsam
+sein.«
+
+»Diese Feindschaft muß aber auch mehr und mehr zu uns herübertreiben,«
+entgegnete ich.
+
+»Zur Sozialdemokratie? Nein! Erinnern Sie sich unserer Haltung nach der
+frankfurter Tagung der Ethischen Gesellschaft? -- Seitdem hat sich für
+uns nichts verändert. Wir sind sogar nur noch fester an die
+Staatskrippe, und damit an den Dienst der kapitalistischen Gesellschaft
+geschmiedet, weil unsere Kinder inzwischen größer und anspruchsvoller
+wurden. Eine Ausnahme, wie Sie, bestätigt nur die Regel. Marx hat keine
+größere Wahrheit ausgesprochen als die, daß die gesellschaftliche
+Umwandlung nur das Werk der Arbeiterklasse sein kann.«
+
+Er stand auf. »Ich muß eilen, -- meine Frau wartet auf mich,« sagte er
+hastig, und strich sich gleich darauf mit einer verlegen ungeschickten
+Bewegung den roten Bart. Ich verstand. Es war gewissermaßen nur ein
+Geschäftsbesuch gewesen. Mit Damenbesuchen wurde ich nicht verwöhnt! Er
+schüttelte meinem Mann die Hand: »Sie bekommen den Aufsatz in spätestens
+vierzehn Tagen.« Dann wandte er sich abschiednehmend zu mir: »Sie dürfen
+mir auch die Hand geben. Meine Stellung zu Alix Brandt ist genau
+dieselbe geblieben wie zu Alix von Glyzcinski.«
+
+Kurze Zeit darauf meldete sich einer der geistvollsten
+Archiv-Mitarbeiter, Professor Romberg, bei uns an. Ich sah ihm mit
+gespannter Erwartung entgegen, denn ihm war ein Buch vorausgegangen, das
+ihn wie ein Herold mit Fanfarenstößen angekündigt hatte. Ein schmaler
+roter Band war es nur, aber das Wort »Sozialismus« prangte in goldenen
+Lettern darauf, und sein Inhalt war nichts anderes als eine Verteidigung
+der Lehren von Karl Marx, als eine Anerkennung der sozialdemokratischen
+Arbeiterbewegung. Das Katheder eines wohlbestallten ordentlichen
+preußischen Universitätsprofessors hatte sich der Verfasser wohl auf
+immer verscherzt, aber eine Zuhörerschaft hatte er sich erobert, aus der
+für die Sache des Sozialismus eine große Gefolgschaft werden mußte.
+
+Mein Mann lächelte über meinen Enthusiasmus, er spielte sogar ein wenig
+den Eifersüchtigen, als ich zum Empfang dieses Gastes ganz besondere
+Vorkehrungen traf, den Tisch mit buntem Herbstlaub schmückte und eine
+Flasche Wein besorgen ließ, -- zum erstenmal seit unserer
+Hochzeitsfeier.
+
+Als er eintrat, hatte ich jene seltsame Empfindung, die ich als Kind
+besonders häufig gehabt hatte: daß mir derselbe Mann in derselben
+Situation schon einmal begegnet war; selbst die gleichgültige
+Begrüßungsphrase und der Ton seiner Stimme dabei war mir bekannt, ehe er
+sie aussprach. Im ersten Augenblick war ich verwirrt und überließ
+Heinrich die Unterhaltung, dann musterte ich den Gast, und dabei
+verwischte sich das Gefühl langen Bekanntseins wieder, ähnlich wie ein
+Traum uns um so gewisser entgleitet, je mehr wir über ihn nachdenken.
+Diesen großen, tiefbrünetten Mann mit den lebhaften braunen Augen und
+der hochgewölbten Stirn hatte ich gewiß noch nie gesehen. War es
+Sympathie, die ich für ihn empfand? Der dunkle Bart beschattete dicke
+Lippen, die von stark entwickelter Sinnlichkeit zeugten, die großen
+Hände mit den breiten Fingerkuppen und den abgebrochenen Nägeln
+widersprachen der vornehmen Eleganz seiner schlanken Gestalt. Aber diese
+Mischung von Roheit und alter Kultur prädestinierte ihn vielleicht
+gerade für die Rolle eines Führers der öffentlichen Meinung, die er,
+unserer Ansicht nach, zu spielen bestimmt war.
+
+In einer Rede, die von Geist und Wissen sprühte, setzte er meinem Mann
+die Ideen auseinander, die er in einer Abhandlung für das Archiv
+zusammenfassen wollte. »Wir müssen der Sozialpolitik die Krücken nehmen,
+die Ethiker, Christlichsoziale und neuerdings Rassenhygieniker ihr
+glaubten geben zu müssen, um sie dem von ihnen willkürlich gesteckten
+Ziele entgegenhumpeln zu lassen. Sie kann und muß auf eigenen Füßen
+gehen, eigene Ziele verfolgen. Ich verlange die Autonomie des
+sozialpolitischen Ideals, das nicht nur nicht ethisch, nicht religiös,
+nicht rassenhygienisch, sondern diesen Idealen direkt entgegengesetzt
+sein kann.«
+
+»Das sei Ihnen in bezug auf das religiöse Ideal zugegeben,« warf mein
+Mann ein, »aber das ethische, das rassenhygienische?! Die 'Befreiung des
+gesamten Menschengeschlechts, das unter den heutigen Zuständen leidet',
+ist doch wohl ein ethisches Postulat!«
+
+Romberg bewegte lebhaft abwehrend die Hände: »Bleiben Sie mir mit der
+Zukunftsmusik des Erfurter Programms vom Leibe! Sie könnten ebenso gut
+die 'Versöhnung der Klassengegensätze', die die Ethiker unter den
+Nationalökonomen der Sozialpolitik als Aufgabe zuschieben, predigen.
+Nein: wir stehen im Klassenkampf, wir müssen in diesem Kampf Partei
+ergreifen, und zwar nicht für die Schwachen nach christlicher
+Auffassung, sondern für das höchst entwickelte Wirtschaftssystem, für
+die den wirtschaftlichen Fortschritt repräsentierende Klasse, das heißt
+auf Kosten der anderen.«
+
+»Mit anderen Worten: für das Proletariat?« fragte ich. Er wandte sich
+mir zu.
+
+»Gewiß: für das Proletariat, soweit seine Ideale sich mit dem Ideal der
+Sozialpolitik decken: der wirtschaftlichen Vollkommenheit, und,« -- er
+betonte scharf den letzten Satz, -- »soweit sie sich dauernd mit ihm
+decken werden. Denn es ist einerseits in dauerndem Fluß begriffen und
+ist andererseits kein absoluter Endzweck, sondern nur ein Mittel zur
+Verwirklichung höherer Zwecke. Das wirtschaftliche Leben ist die
+Schranke, in der unser ganzes Dasein, auch in seinen höchsten
+Äußerungen, eingeschlossen ist. Wir müssen sie erweitern, so rasch als
+möglich, ohne Rücksicht auf die Bedenken empfindsamer Seelen, um zu
+Licht und Luft zu gelangen.«
+
+»Und mit diesen Ansichten können Sie es verantworten, außerhalb unserer
+Partei zu stehen!« rief ich aus. Er schien erstaunt.
+
+»Alles, was ich sagte, was ich schrieb, beweist doch, daß ich es
+verantworten kann!« meinte er langsam. »Oder glauben Sie, ich würde mehr
+erreichen, wenn ich mich in Ihr Heer einreihen, Ihre Uniform anziehen
+würde, wenn ich jede meiner Ideen, ehe ich sie auszusprechen mich
+getraute, dem Votum Ihres Parteitages unterwerfe?!«
+
+»Ich verstehe Sie nicht!« antwortete ich. »Wie reimt sich Ihre Abneigung
+gegen die Partei mit diesem Buch zusammen,« -- ich hielt ihm den roten
+Band entgegen, -- »mit Ihrer Verteidigung des Klassenkampfes, mit Ihrer
+Prophezeiung der dauernden, der notwendigen Einheit der Bewegung?«
+
+»Ich muß Ihre Frage mit einer Frage beantworten: Ist die Zugehörigkeit
+zur Bewegung abhängig von der namentlichen Einschreibung in einen
+Wahlverein? Ist es für meine Stellung wichtiger, wie ich mich nenne, als
+was ich leiste?! Die Frage des Eintritts in die Partei kann für
+unsereinen nur individuell gelöst werden. Ich zum Beispiel würde in dem
+Augenblick flügellahm werden, wo ich in _der_ Gesellschaft aushalten
+müßte.«
+
+»Für einen Augenblick vielleicht, aber in dem Moment, wo Sie sich
+durchsetzen, wo Sie Einfluß gewinnen würden, hätten Sie die Kraft Ihrer
+Flügel in doppeltem Maße wieder --,« mischte sich mein Mann ins
+Gespräch.
+
+»Sie überschätzen mich, lieber Freund. Über gewisse Dinge komme ich
+nicht hinweg. Sie wissen, mein 'Sozialismus' hat einen ungeahnten
+Erfolg; ich brauche mich in meiner Schriftstellereitelkeit wahrhaftig
+nicht gekränkt zu fühlen. Aber die Behandlung, die mir -- mir, der ich
+den Sozialismus verteidige! -- von einem Teil Ihrer Presse zuteil
+geworden ist, hat mir die ganze Gesellschaft auf lange verekelt!«
+
+Der Gegensatz zwischen dem Enthusiasmus, der ihn wenige Minuten vorher
+erfüllt hatte, und der morosen Stimmung, die jetzt aus Wort und Ton und
+Haltung sprach, war so verblüffend, daß wir verstummten. Aber Romberg
+forderte uns zur Antwort heraus:
+
+»Sie mißbilligen meinen Standpunkt?« Fragend sah er von einem zum
+anderen.
+
+»Ganz und gar!« antwortete ich heftig. »Glauben Sie, daß wir um der
+schönen Augen der Parteigenossen willen Sozialdemokraten geworden sind,
+-- oder der Partei entrüstet den Rücken kehren würden, weil ein paar
+Nasen uns nicht gefallen?! Wir dienen der Sache, nicht den Personen.«
+
+»Eine so reinliche Scheidung zwischen der Sache und den Personen läßt
+sich in Wirklichkeit nicht durchführen,« sagte er, sichtlich verletzt.
+»Es kann sehr wohl der Fall eintreten, daß eine Sache durch eine
+bestimmte Personengruppierung rettungslos verloren geht, und ich bin der
+Meinung, daß in Ihrer Partei Leute den Ton angeben, die Ihre Sache
+diskreditieren.«
+
+»Wenn Sie dieser Ansicht sind, müßten Sie erst recht in die Partei
+eintreten, um die Sache, die doch auch die Ihre ist, vor solchen
+Einflüssen zu retten!«
+
+Er biß sich auf die Lippen und schwieg sekundenlang. Dann ließ er sich,
+wie ermüdet, in den Lehnstuhl fallen und sagte langsam: »Sie mögen recht
+haben, -- auf Grund Ihrer Individualität. Ich würde einfach zugrunde
+gehen, wenn ich mit dem Gesindel, das Ihre Partei groß gefuttert hat,
+auf gleich und gleich verkehren müßte. Übrigens,« er lächelte ein wenig,
+»Sie sind ja erst seit vorgestern 'Genossin', -- wir wollen unser
+Gespräch in zehn Jahren zu Ende führen! Und Sie, mein lieber Brandt,
+sind doch auch nur im Nebenberuf 'Genosse'. Wenn Sie Ihrer Frau
+beistimmen, warum treten Sie nicht in die politische Arena?«
+
+Mein Mann ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder, ehe er antwortete.
+»Ich habe nicht Ihre Begabung, die Sie zum Agitator stempelt. Und ich
+bin nicht unabhängig wie Sie, was, meiner Ansicht nach, eine wichtige
+Voraussetzung ist, wenn man in der Partei Wertvolles leisten will. Das
+Archiv ist mein Brotgeber. Es könnte seine wertvollsten Mitarbeiter
+verlieren, wenn sein Redakteur politisch hervorträte. Sonst, -- lieber
+heute als morgen würde ich ein tätiger Parteigenosse sein!«
+
+Ich hatte Heinrich noch nie so sprechen hören; eine tiefe Unbefriedigung
+enthüllte sich mir, eine Seite seines Wesens, die sich selbst dem
+durchdringenden Blick meiner Liebe bisher versteckt hatte. Ich konnte
+den Gedanken daran nicht los werden und vergaß fast unseres Besuchers
+darüber.
+
+Beim Abschied reichte ich ihm die Hand. Ein unbehagliches Gefühl überkam
+mich: die seine lag, so groß sie war, schwach und leblos in der meinen.
+Menschen ohne Händedruck waren mir immer unsympathisch gewesen. Und
+doch zog dieser Mann mich an.
+
+»Wollen wir nach all dem Ernst nun nicht Berlin ein wenig genießen?«
+fragte er. »Wir armen Provinzler müssen uns mit Großstadtluft auf Monate
+versorgen, wenn wir einmal von unserer Kette loskommen.« Wir
+verabredeten allerlei, und er ging.
+
+»Nun?!« fragte Heinrich, als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte.
+
+»Ein interessanter Mensch, ob ein Kämpfer?!« antwortete ich
+nachdenklich. »Aber was interessiert mich dies Problem, wo mein eigner
+Mann mir eins aufgegeben hat!«
+
+Er zuckte lachend die Achseln: »Kümmere dich nicht darum, Schatz, es ist
+doch zunächst unlösbar.« »Du würdest wirklich gern politisch tätig
+sein?« drängte ich unbeirrt. »Wäre es dir willkommen?« fragte er statt
+der Antwort. Mir stieg das Blut in die Wangen. Ich sah den Geliebten an
+der Stelle, die ich Romberg zugedacht hatte; ich sah uns beide Schulter
+an Schulter im Kampfe stehen. »O wie schön wäre das!« flüsterte ich.
+
+Die nächsten Tage nahm uns Romberg sehr in Anspruch. Er war von einer
+fast kindlichen Genußfähigkeit, dabei voller Interesse für Kunst und
+Literatur, in allem das Gegenspiel des typischen deutschen Professors.
+
+ * * * * *
+
+Berlin war damals reich an neuem Leben für den, der es zu finden
+verstand. Denn die Oberfläche trug noch immer das Stigma geschmackloser
+Alltäglichkeit. Mein Instinkt war doppelt wach; meine Sinne schienen
+geschärft für alles Werden, und meine Hoffnung umschlang mit üppigen
+Ranken jede neue Erscheinung.
+
+Wir sahen Gerhart Hauptmanns »Versunkene Glocke«, die zum erstenmal zur
+Aufführung kam. Alles stritt um des schönen Märchens eigentlichen Inhalt
+und riß ihm im Streit grausam die Schmetterlingsflügel aus. Den einen
+erschien es als das tragische Bekenntnis eigener Schwäche: denn die im
+Tal gegossene, für die Höhe bestimmte Glocke Meister Heinrichs stürzte
+vom Berge hinab in die Tiefe, und als er selbst emporstieg, um droben
+ein neues Wunderwerk zu schaffen, zog sie ihn nach sich ins Grab. Den
+anderen war es nichts als ein Zeichen geistiger Reaktion: der Dichter
+der 'Weber' floh vor dem wirklichen Leben. Ich aber hörte darin das
+immer wiederkehrende Leitmotiv der Sehnsucht, das den Glockengießer
+emporzog, auch als er an seiner Schwäche sterben mußte, ich sah die
+Sonnenpilger, die den Marmortempel suchten, dessen Baumeister zugrunde
+ging, dem aber Kräftigere als er Hammer und Kelle aus den toten Händen
+nahmen.
+
+Und dieselbe Sehnsucht, die der Hoffnung Schwester ist, die aus unserer
+nüchternen, auf praktisch-greifbare Ziele gerichteten Zeit
+hinwegverlangt in reichere, blühendere Gefilde, wo die arme gehetzte
+Seele nicht mehr zu dursten und zu frieren braucht, schien einer jungen
+noch unbekannten Künstlerschaft die Hand zu führen. Wir sahen Gläser,
+deren zart schimmernde Blumenkelche in Märchenfarben strahlten, und
+Teppiche, auf denen die ganze Fülle des Frühlings ausgestreut erschien.
+Wir kamen in eine Ausstellung, die eine Welt fremder Wunder enthielt,
+deren Schöpfer ein noch Unbekannter war. Staunend stand ich vor dem
+schönsten, das sie bot: einem Fenster voll leuchtender Glut, mit den
+Gestalten Tristans und Isoldens. In ihren Augen, in ihrer Gebärde
+steigerte sich die Sehnsucht zum Verlangen; die Farben waren eine Hymne
+des Lebens: das Rot jauchzte, das Blau verging in zärtlichen Melodien,
+wie ein mystischer Orgelton stand das Violett dazwischen.
+
+Achselzuckend ging die Masse an alledem vorüber. Auch die beiden Männer,
+die mich begleiteten, waren mehr erstaunt als betroffen. Ob wohl nur
+eine, die schwanger war, die verborgenen Lebenskeime dieser Zeit zu
+schauen vermochte? Ich sog mit allen Sinnen ein, was der Menschenknospe
+in meinem Schoß zur Nahrung dienen konnte.
+
+»Seit ich Sie kenne, begreife ich nicht, wie Sie Genossin werden
+konnten,« sagte Romberg beim Abschied, »mit Ihrem starken
+Kulturbedürfnis, ihrem Schönheitsdurst!«
+
+»Für mich war das nur ein Motiv mehr, um es zu werden,« antwortete ich.
+»Auch den Seelenhunger der Massen nach höheren Lebenswerten möchte ich
+stillen helfen.«
+
+»Sie haben kaum einen --,« meinte er wegwerfend.
+
+»Dann ist meine Aufgabe doppelt groß: ich muß sie hungrig machen -- --«
+
+ * * * * *
+
+Mein Zustand hinderte mich zunächst nicht an der Parteitätigkeit. Ich
+hielt Versammlungen ab, solang es ging, obwohl die schlechte Luft sich
+mir immer schwerer auf den Kopf legte; ich besuchte die Sitzungen der
+Frauenorganisation regelmäßig trotz der ekelerregenden Düfte der Lokale,
+in denen sie stattfanden. Wenn die Polizei, die uns ständig auf den
+Fersen war, gewußt hätte, wie wenig welterschütternd die Fragen waren,
+über die wir debattierten, sie würde uns ruhig unserem Schicksal
+überlassen haben. Seitdem Wanda Orbin nicht mehr in Berlin war, schien
+zwar auch den Nur-Ja-Sagerinnen der Mund geöffnet zu sein, aber was sie
+vorbrachten, das drehte sich meist um die kleinlichsten Dinge. Derselbe
+Zank, derselbe Neid, der mir die bürgerliche Frauenbewegung vergällt
+hatte, fand sich auch hier, nur daß er sich in gröberen Formen äußerte.
+Ich wäre bitter enttäuscht gewesen, wenn ich nicht allmählich Einblicke
+gewonnen hätte, die mir die Dinge in anderem Licht erscheinen ließen.
+
+Ich lernte das Leben dieser Frauen kennen. Da war eine, die tagaus,
+tagein in dieselbe elende Zwischenmeisterwerkstatt ging, um, wenn sie
+todmüde heimkam, von dem betrunkenen Mann mit Schlägen oder
+zudringlichen Zärtlichkeiten empfangen zu werden; -- sollte sie nicht
+verbittert sein? Da war eine andere, die, obwohl sie einen braven Gatten
+hatte, auf ihre alten Tage in die Fabrik zurückgekehrt war, weil sie nur
+auf diese Weise ihrem kranken Sohn den Besuch eines Sanatoriums
+ermöglichen konnte; -- sollte sie die glücklicheren Mütter nicht
+beneiden, die die Gesundheit ihrer Kinder nicht so schwer erkaufen
+mußten? Und ein verblühtes Mädchen war zwischen uns, die ihrer gelähmten
+Mutter ihre ganze Jugend hatte opfern müssen, -- war's nicht
+begreiflich, daß etwas wie Haß in ihren Augen aufblitzte, wenn ich
+sprach?
+
+Einmal besuchte ich die kleine dicke Frau Wengs; sie war vor drei Tagen
+ihres siebenten Kindes genesen, und ich fand sie schon wieder hinter dem
+Waschfaß. War es erstaunlich, daß sie reizbar war? All diese Frauen
+standen in harter Arbeitsfron; war es nicht viel merkwürdiger, daß sie
+sich dabei die Kraft, den Opfermut, die Begeisterungsfähigkeit erhalten
+hatten, die es ihnen möglich machte, ihre spärliche Freizeit, ihre ihnen
+so bitter nötige Nachtruhe dem Dienst der Partei zu widmen? Sie
+leisteten das äußerste, was sie leisten konnten; es war nicht ihre
+Schuld, daß es trotzdem so wenig war.
+
+Ich grübelte lange nach, wie hier zu helfen wäre. Mein alter Plan eines
+Zentralausschusses für Frauenarbeit tauchte wieder auf. Wenn man mit
+Hilfe der Partei solch einen Mittelpunkt schaffen, die begabtesten der
+Frauen dabei beschäftigen, von ihrer Erwerbsarbeit dadurch befreien
+könnte? Frau Wengs war nach dem Parteitag zur »Vertrauensperson für ganz
+Deutschland« gewählt worden. War es nicht wie ein Hohn auf die
+Frauenbewegung, daß sie, die kaum Zeit hatte, eine Zeitung zu lesen, für
+die das Schreiben eines Briefes eine fast unüberwindliche Aufgabe war,
+an ihrer Spitze stehen sollte? Man hatte mir freilich erzählt, Wanda
+Orbin habe ihre Wahl unterstützt, um die Leitung um so sicherer in der
+eigenen Hand zu behalten, Wanda Orbin, die uns so fern war, deren
+unzureichende Kenntnis der Verhältnisse schon daraus hervorging, daß
+sie ihre Zeitschrift in einem Tone schrieb, der einen hohen Grad von
+Wissen bei dem Leser voraussetzte. Ja, wenn sie in Berlin wäre, wenn sie
+offiziell die Führung in die Hände bekäme, wenn die Gestaltung der
+'Freiheit' dem Einfluß der Genossinnen zugänglich gemacht werden könnte!
+Schon damit, so schien mir, wäre viel geholfen. Ich schrieb ihr in
+diesem Sinne, ich fragte sie, ob sie kommen würde, wenn man die
+Anstellung einer weiblichen Parteisekretärin durchgesetzt hätte. Sie
+antwortete ausweichend: es fessele sie vieles, vor allem die Erziehung
+ihrer Söhne in Stuttgart. Ich gab die Sache noch nicht verloren. Ich
+legte meinen Plan der Schaffung eines Sekretariats für die
+Frauenbewegung den Genossinnen vor, ich entwickelte ihn in einem
+längeren Artikel in der 'Freiheit' und hütete mich zunächst, Wanda
+Orbins Namen zu nennen, da ich wußte, daß auch sie Gegnerinnen hatte.
+Die Wirkung war verblüffend: die Frauen gerieten in eine Aufregung, die
+in keinem Verhältnis zur Sache zu stehen schien. Man fand es
+ungeheuerlich, daß ich, die ich noch nichts, aber auch rein gar nichts
+geleistet hätte, mir herausgenommen habe, an der Arbeiterinnenbewegung
+Kritik zu üben; man bekämpfte meinen Plan durch Wort und Schrift, als
+bedeute er eine Gefahr für die Partei. Bei der Abstimmung erhob sich
+keine Hand für ihn. Ich erfuhr erst allmählich die wahre Ursache dieser
+wütenden Gegnerschaft: die Frauen hatten angenommen, daß ich für mich
+selbst eine einträgliche Stellung schaffen wolle. Und Wanda Orbin hatte
+sie offenbar in diesem Glauben gelassen. Es gab Momente, in denen diese
+Erfahrung mir wehe tat, -- trotz aller Mühe, überall nur das Gute zu
+sehen. Und die Entrüstung meines Mannes, der jeden Nadelstich, der mich
+traf, wie einen Dolchstoß empfand, trug nicht dazu bei, mich zu
+beruhigen.
+
+Aber die öffentlichen Ereignisse sorgten dafür, Gedanken und Interessen
+auf wichtigere Dinge zu lenken, und die Verstimmung zwischen mir und den
+Genossinnen in einmütige Kampflust gegen die Feinde, die unsere Sache
+von außen bedrohten, zu verwandeln.
+
+Hatten die Parlamentsreden der Herren der Rechten, vom Geiste Stumms
+beherrscht, schon kriegerisch genug geklungen, so kündigten die
+kaiserlichen Worte auf dem brandenburger Provinzial-Landtag Kampf bis
+aufs Messer an: »Die Aufgabe, die uns allen aufgebürdet ist, die wir
+verpflichtet sind zu übernehmen, ist der Kampf gegen den Umsturz mit
+allen Mitteln... Ich werde mich freuen, in diesem Gefecht jedes Mannes
+Hand in der meinen zu sehen, er sei edel oder unfrei,« hieß es darin,
+und zum Schluß: »Wir werden nicht nachlassen, um unser Land von dieser
+Pest zu befreien, die nicht nur unser Volk durchseucht, sondern auch das
+Heiligste, was wir Deutsche kennen, die Stellung der Frau, zu
+erschüttern trachtet.«
+
+Kein Zweifel: ein Gewitter stand bevor, das unsere Saaten bedrohte; dem
+Blitz, der die Situation grell beleuchtet hatte, folgte der Donner und
+der prasselnde Regen in Gestalt einer Vereinsgesetznovelle, die dem
+reaktionären preußischen Landtag zur Entscheidung vorlag und nichts
+anderes bedeutete, als eine Knebelung des Koalitionsrechts, eine
+Auslieferung unserer Organisationen an die Willkür der Polizei. Da war
+niemand unter uns, dem nicht das Herz stürmisch geschlagen hätte, --
+vor Empörung über das drohende Unrecht, vor Freude über den
+aufgezwungenen Kampf. Es gab keinen kleinlichen Zank mehr; man drängte
+sich zur Arbeit und übernahm auch die geringfügigste mit dem
+Pflichtbewußtsein des Soldaten, der seinen Posten bezieht. Ich konnte
+der vorgeschrittenen Schwangerschaft wegen nur mit der Feder tätig sein,
+und Zorn und Begeisterung führte sie. Ich sah eine Zeit nahe
+bevorstehen, wo die besten Elemente des Bürgertums, wo vor allem die
+Vertreter der freien Wissenschaft, vor die Wahl gestellt zwischen der
+Reaktion und dem Proletariat, sich auf die Seite der Arbeiter stellen
+müßten.
+
+»Du prophezeist trotz einem Bebel,« lachte mein Mann, wenn ich mich
+fortreißen ließ, alles zu sagen, was ich erträumte, und dann erinnerte
+er mich an jene anderen Kaiserreden, die den Dreizack des Meergottes für
+die deutsche Faust verlangten, und den Beifall derselben Männer fanden,
+auf die ich rechnete. Aber ich hörte nicht darauf, ich wollte nicht
+hören.
+
+ * * * * *
+
+Die Fähigkeit, Dunkles zu sehen, war meinem inneren Auge mehr und mehr
+abhanden gekommen. Wo immer ich den Blick hinwandte: überall war es
+hell, überall strahlte die Welt voll Frühlingsahnen. Und als es draußen
+in den Gärten und auf den Plätzen wirklich zu blühen begann, da schien
+mir's, als wäre dies der erste Lenz, den ich erlebte. Ich saß in der
+Sonne auf dem Balkon und sah staunend, wie aus den braunen saftig
+glänzenden Knospen auf den Kastanienbäumen kleine zartgrüne Blätter
+leise ans Licht strebten. Ich ging am Arm des Geliebten durch den
+Tiergarten, den ein starker würziger Erdgeruch erfüllte, und stand vor
+dem Wunder still, das in Hunderten bunter Frühlingsblumen aus dem
+Rasenteppich emporwuchs. Und die Sonne schien so mild und warm, -- wenn
+sie meine Wange traf, war mir, als streichle sie mich. In der Nacht lag
+ich oft stundenlang wach; ich war nicht müde. Regte sich dann in meinem
+Schoß das junge Leben, so strömte es mir durch die Glieder wie Feuer.
+
+Frühzeitig war alles zu seinem Empfang bereit. Oft, wenn niemand es
+merkte, schloß ich mich ein in dem hellen Zimmer, wo alles seiner
+wartete, und kniete vor dem kleinen Bettchen, und vergrub meine heißen
+Wangen in seinen kühlen Kissen.
+
+Einmal, als ich mit Heinrich am Ufer entlang heimwärts ging, an der
+Bucht vorbei, wo die Weiden ihre grünen Schleier tief bis zum Wasser
+hinuntergleiten lassen, kam uns ein alter grauhaariger Mann entgegen.
+Ich hörte zuerst nur seinen schleppenden Schritt, denn die Abendsonne,
+die im Westen verglühte, blendete mich. Aber ich wußte: das war mein
+Vater. Meine Knie zitterten. Und schon war er vorbei. Er schien in
+Gedanken verloren und hatte uns wohl nicht erkannt. Ich wandte den Kopf
+nach ihm, -- da stand er wie angewurzelt und starrte mich an, so voll
+Zärtlichkeit --! Ich wäre ihm fast zu Füßen gestürzt, aber er machte
+eine rasche, abwehrende Bewegung und ging weiter. An dem Abend weinte
+ich. Und ich hatte doch mein Kind vor allem Kummer schützen wollen!
+
+Wenige Tage später waren wir wieder zur gewöhnlichen Zeit fort gewesen.
+Mit geheimnisvollem Lächeln öffnete mir das Mädchen die Tür, als ich
+heimkam. Ins Kinderzimmer sollt' ich kommen, sagte sie. Da brannte die
+Lampe unter dem Rosenschleier und auf dem weißen Tisch lagen lauter
+spitzenbesetzte Hemdchen und Jäckchen, und kleine Schuhe und
+Steckkissen, und lange Tragekleidchen; durch die blauen Bänder, die sie
+zusammenhielten, waren Sträuße duftender Maiblumen gezogen. »Das gnädige
+Fräulein brachte alles selbst,« berichtete lächelnd das Mädchen und
+übergab mir einen Brief von Mama:
+
+»Mein liebes Kind! Das alles schickt Dir Dein Vater. Er hat mir und
+Deiner Schwester erlaubt, zu Dir zu gehen, und Dir seine Grüße zu
+bringen. Schreibe mir, wann wir Dich besuchen können,« schrieb sie. Bald
+darauf kam sie selbst. Ich hatte vor Erregung eine böse Nacht gehabt und
+empfing sie auf dem Diwan liegend. Sie aber war so ruhig, so
+teilnahmsvoll, als läge höchstens eine Reise zwischen ihrem ersten
+Besuch und heute. Drohte eine verlegene Pause, so half das Geplauder
+Ilschens darüber hinweg, die mir von ihren ersten Ballfreuden und ihren
+Triumphen nicht genug erzählen konnte.
+
+»Wie geht es dem Vater?« fragte ich schließlich zaghaft, da sie zu
+vermeiden schienen, seiner Erwähnung zu tun. »Er ist recht alt
+geworden,« antwortete Mama langsam. »Aber noch so rüstig,« fiel die
+Schwester ein, und berichtete zum Beweis dafür von den Diners und den
+Bällen, zu denen er sie begleitet hatte. Sie nannte Namen, die ich nicht
+kannte, und erwähnte Gesellschaftskreise, die er früher auf das
+peinlichste gemieden hatte: Tiergartensalons, in denen, wie er zu sagen
+pflegte, der jüngere Offizier nur als Mitgiftjäger, der alte nur als
+Tafeldekoration auftritt. Ich fühlte jetzt: er mußte sehr alt geworden
+sein.
+
+Ehe sie gingen, bat ich Ilschen, nun aber recht oft zu mir zu kommen.
+Sie sah, statt zu antworten, ängstlich fragend auf Mama. »Allein darf
+sie euch nicht besuchen,« sagte diese mit dem alten harten Ton in der
+Stimme, während sich tiefe Falten um ihre Mundwinkel gruben. Als sie
+fort waren, trat ich auf den Balkon. Ich hatte das Bedürfnis, frische
+Luft zu schöpfen. Da fiel mein Blick auf die Straße: mit kleinen,
+hastigen Schritten ging der Vater vor unserer Haustür auf und ab, und
+als Ilse ihm entgegentrat, wandte er sich ihr mit einer raschen Bewegung
+zu, und ich sah, wie sie sprach und sprach, und wie er horchte, den Kopf
+ihr zugeneigt, als fürchte er, auch nur ein einzig Wort zu verlieren. An
+diesem Abend mußt' ich wieder weinen.
+
+ * * * * *
+
+Der Sommer kam. Ich schleppte mich nur noch mühsam die hohen Treppen
+herauf und hinunter. Ich zählte nicht mehr nach Wochen, sondern nach
+Tagen. Meine Zimmer standen voll Junirosen.
+
+Ich war noch einmal mit den Kindern in die Stadt gegangen, um zu
+besorgen, was ihnen für die Ferienreise zu ihrer Mutter noch fehlte. Als
+ich daheim die Sachen in den Koffer legte, dunkelte es mir plötzlich vor
+den Augen. Ein jäher Schmerz zog mir den Leib zusammen. Ich schlich ins
+Wohnzimmer und fiel meinem Mann, der erschrocken vom Schreibtisch
+aufgesprungen war, in die Arme. »Nun ist's so weit,« flüsterte ich und
+sah ihn glückselig an. Er schickte zu meiner Ärztin. Ich aber saß still
+im Lehnstuhl und spottete seiner Ängstlichkeit. Wie hätte ich mich auch
+nur einen Augenblick lang fürchten können! Wenn ich die Augen schloß,
+sah ich Großmamas gütiges Antlitz vor mir und hörte sie tröstend
+wiederholen, was sie mir früher so oft versichert hatte: Ein Kind
+gebären ist das leichteste von der Welt. Aber der Abend kam und die
+Nacht, -- ich wartete noch immer. Und am folgenden Tag war ich zu
+schwach, um vom Bett aufzustehen, und in der Nacht standen zwei
+Ärztinnen um mein Bett, und Heinrich wich nicht von mir. Ich allein
+spürte nichts von Angst; wenn ich vor Schmerzen stöhnte, so war mir's,
+als wäre ich's nicht.
+
+Am Morgen des dritten Tages strahlte der Himmel in wolkenloser Pracht;
+von der Gedächtniskirche herüber klang tiefer Glockenton, und von allen
+Seiten antworteten ihm hellere Stimmen. »Es will ein Sonntagskind sein,«
+flüsterte ich lächelnd dem Liebsten zu, der neben mir saß, und an den
+ich mich klammerte, wenn es gar zu wehe tat.
+
+»Und in der Johannisnacht geboren werden,« hörte ich wie von ferne
+sagen. Müde sank ich in die Kissen. Mir träumte von den Bergen, die zum
+Himmelszelt stolz ihre weißen Häupter heben, und von grünen Matten, die
+sich zart und weich zu Füßen grauer Felsen schmiegen. Und ich sah, wie
+alle Spitzen zu glühen begannen, als hätten sich die Sterne auf sie
+herniedergesenkt, und von allen Hügeln die Flammen loderten. Plötzlich
+aber war mir, als stünde ich selbst auf dem Scheiterhaufen, -- schon
+züngelte das Feuer an meinem nackten Körper empor, -- ich schrie laut
+auf -- --
+
+War ich gestorben, -- und darum so seliger Ruhe voll?! Ich schlug die
+Augen auf. »Heinz!« kam es ganz, ganz leise von meinen Lippen. Ich
+tastete mit den Händen auf dem Bett, -- ich fühlte seinen Kopf, -- seine
+Schultern, -- warum bebten sie nur so?! Heiße Augen, die durch Tränen
+leuchteten, richteten sich auf mich. Von der anderen Seite öffnete sich
+die Türe, ein breiter Strom von Licht ergoß sich in das dunkel
+verhangene Zimmer, auf der Schwelle stand eine Frau, ein weißes
+Bündelchen auf den Armen. »Mein Kind --!« rief ich. »Unser Sohn!«
+antwortete Heinrich und legte ihn mir an die Brust. Ehrfürchtig
+berührten meine Lippen die von wirren Löckchen dunkel umrahmte Stirn.
+Und zwei große blaue Augen, in denen des Werdens tiefes Geheimnis noch
+zu schlafen schien, blickten mich an.
+
+
+
+
+Siebentes Kapitel
+
+
+Drei Monate später saß ich an unserem Schreibtisch, in einen Artikel
+vertieft, den ich Wanda Orbin versprochen hatte.
+
+»Fast schien es, als sollte der Züricher Arbeiterschutz-Kongreß den
+Beweis erbringen, daß die Anhänger der verschiedensten politischen und
+religiösen Weltanschauungen auf dem Gebiete praktischer Sozialreform zu
+gemeinsamen Resultaten gelangen könnten. Die Fragen der Kinder- und der
+Sonntagsarbeit riefen keinerlei tiefere Differenzen hervor. Nur hie und
+da fiel ein Wort, das wie Wetterleuchten die Abgründe erhellte, die
+tatsächlich zwischen den Rednern auseinanderklafften. Aber erst die
+Frage der Frauenarbeit vollzog schließlich die Trennung der Geister.
+Schon in der vorbereitenden Sektion kam es zu hitzigen Debatten: auf der
+einen Seite standen die katholischen Sozialreformer Belgiens und
+Österreichs, unter ihnen Männer in langem Priesterrock und brauner
+Mönchskutte, auf der anderen die Führer der internationalen
+Sozialdemokratie, die Bebel und Liebknecht, die Vandervelde und Geier an
+ihrer Spitze. Und als wir uns am nächsten Morgen in dem hohen Saal der
+Tonhalle wieder versammelten -- einem Saal, der nur für Festesfreude
+geschaffen schien, -- und der blaue See und die weißen Berge durch die
+breiten Fenster zu uns hereinstrahlten, ein Bild glücklichen Friedens,
+da wußten wir: heute kommt es zur Schlacht. Die Tribünen waren
+überfüllt: die ganze studierende Jugend Zürichs drängte sich dort oben
+zusammen. Erwartungsvolle Erregung brannte auf ihren Wangen. Und unten
+sammelten sich die Delegierten um ihre Tische: die Luft schien zu
+vibrieren unter dem Einfluß all der klopfenden Pulse, all der
+kampfheißen Blicke. Der katholische Demokrat Carton de Wiart trat hinter
+das Rednerpult zur Verteidigung seines Antrags: Verbot der
+großindustriellen Frauenarbeit. Mit tiefem Glockenklang erfüllte seine
+schöne Stimme den Riesenraum und steigerte sich zum tragischen Pathos,
+wenn sie die zerstörenden Folgen der Frauenarbeit schilderte: 'Der
+Säugling verkommt in Hunger und Schmutz, die heranwachsenden Kinder
+werden ein Opfer der Straße; vom erloschenen Herdfeuer flieht der Mann
+und sucht Trost und Wärme im Trunk ...' Er malte nicht zu schwarz, und
+auch aus den Reihen der Gegner hätte ihm niemand widersprechen
+können. Aber während die tatsächlichen Zustände ihm und seinen
+Gesinnungsgenossen als eine beklagenswerte Verirrung der Menschheit
+erschienen, die durch ein gebieterisches 'Zurück!' von dem alten
+kleinbürgerlichen Familienleben wieder abgelöst werden könnten, sahen
+die Sozialdemokraten in ihnen eine notwendige Begleiterscheinung der
+kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die nur durch ein 'Vorwärts!' zum
+Sozialismus zu überwinden ist. 'Auch wir sind für die Verkürzung der
+Arbeitszeit, für gesetzlichen Mutterschutz, für Verbot der Frauenarbeit
+in gesundheitsschädlichen Betrieben,' erwiderte Frau Alix Brandt dem
+Redner; 'aber für ein Verbot der Frauenarbeit überhaupt sind wir nicht.
+Denn nicht jenes idyllische Bild glücklichen Familienlebens, das Herr de
+Wiart in so leuchtenden Farben malte, würde seine Folge sein, sondern
+eine noch größere Zerstörung der Familie, eine noch gefährlichere
+Untergrabung weiblicher Kraft. Weder Laune noch Neigung treibt die
+Frauen in Scharen in die Fabriken, sondern Not. Schließt ihnen deren
+Tore, und dieselbe Not wird sie in das Elend der Heimarbeit treiben, wo
+schrankenlos die Ausbeutung herrscht, wird sie demjenigen Frauenberuf
+zuführen, vor dem weder die christliche Sittlichkeit des Staates, noch
+die Ritterlichkeit der Männer das weibliche Geschlecht jemals gehütet
+haben: der Prostitution.' Und in einer Rede voll hinreißender
+Leidenschaft verteidigte Frau Wanda Orbin die Berufsarbeit der Frau als
+die Grundlage ihrer sozialen Befreiung: 'Die Arbeit ist ihre
+Menschwerdung. Was sie auf der einen Seite zerstört, baut sie auf der
+anderen wieder auf für die sittliche und geistige Einheit von Mann und
+Frau. Aus den Konflikten zwischen Beruf und Haus erwachsen dem Weibe
+zwar die größten Schmerzen, aber auch die größte Kraft. Nicht nur, weil
+ein Verbot der Frauenarbeit heute die Not steigern würde, wie meine
+Vorrednerin Ihnen auseinandersetzte, stimmen wir geschlossen gegen den
+Antrag Wiart, sondern weil wir Frauen die Arbeit wollen um unserer
+Selbstbefreiung willen, um einer künftigen Neugestaltung der Ehe und der
+Familie willen, die die ökonomische Unabhängigkeit des Weibes zur
+Voraussetzung hat.' Minutenlang umbrauste der Jubel aus dem Saal
+hinauf, von den Tribünen herab die Rednerin. Und als die Baronin
+Vogelsang, eine zarte, schlichte Frauengestalt, sie ablöste, -- mit
+niedergeschlagenen Augen und leise zitternden Händen, ungewohnt des
+öffentlichen Auftretens, -- erschien sie wie die Personifizierung jener
+fernen versunkenen Welt, die sie mit leisen, weichen Worten, mit einem
+Appell an das Gefühl wieder glaubte heraufbeschwören zu können: 'Um der
+Kinder willen, denen die Industrie die Mütter raubt, nehmen Sie den
+Antrag an --;' ihre erhobenen Blicke flehten und rührten manch einem ans
+Herz, so daß die rauhe Wahrheit, die der Verstand erkennt, hinter den
+weichen Schleiern, die die Empfindung webt, zu verschwinden drohte ...«
+
+Ich legte die Feder aus der Hand und seufzte tief auf. Seit meines
+Kindes Geburt waren die Probleme der Frauenbefreiung für mich keine
+bloßen Theorien mehr. Sie schnitten in mein eigenes Fleisch, -- und ich
+war keine Industriearbeiterin, -- ich brauchte nicht von früh bis spät
+in der Fabrik zu schuften, fern meinem Liebling. Mir grauste, wenn ich
+daran dachte, daß so etwas möglich, ja notwendig sein konnte. Es gab
+Augenblicke, in denen meine Überzeugungen auf tönernen Füßen zu stehen
+schienen.
+
+Schon die Reise nach Zürich war mir schwer genug geworden, obwohl ich
+mein Kind in bester Obhut zurückgelassen hatte. Meine Phantasie malte
+sich täglich neue Schrecken aus, die ihm zustoßen konnten. Und wie viele
+Stunden des Tages mußte ich jetzt fern von ihm sein! Wie oft sprang ich
+vom Schreibtisch auf und sah sehnsüchtig auf den sonnigen Platz
+hinunter, wo es, in seinen weißen Wagen gebettet, auf- und
+niedergefahren wurde. Wie viele Blicke aus seinen blauen Augen, wieviel
+krähendes Babylachen von seinem roten Mündchen gingen mir verloren! Und
+abends, und nachts: wie oft mußte ich, statt an seinem Bettchen zu
+sitzen, in Versammlungen sprechen, an Partei-Zusammenkünften teilnehmen.
+
+Manche meiner Genossinnen kamen aus der Werkstatt und der Fabrik, auch
+sie hatten kleine Kinder zu Hause und kein Dienstmädchen, um sie zu
+hüten; -- meine Bewunderung für sie stieg und zugleich mein Verständnis
+für all die Bitterkeit, den Haß und das Mißtrauen, das sich in ihnen
+angesammelt hatte. Kann ein Weib der Welt, die den Kindern die Mutter
+entreißt, mit anderen Empfindungen gegenübertreten? Und doch hatte ich
+mich in Zürich mit aller Leidenschaft dafür eingesetzt, die weibliche
+Berufsarbeit -- auch die der Mütter -- zu erhalten? Ich zerriß den
+halbfertigen Artikel wieder und schrieb an Wanda Orbin ein paar
+entschuldigende Worte. Ich konnte nicht mehr über eine Frage sprechen,
+ich war außer stande, den Lesern fix und fertige Ansichten aufzutischen,
+seitdem sie mir zur persönlichen Angelegenheit geworden war, und ich ihr
+für mich selbst die Antwort noch schuldig bleiben mußte.
+
+Mein Mann kam nach Hause. »Bist du schon fertig?« fragte er mit einem
+verwunderten Blick auf den Schreibtisch, dessen Aussehen keine Arbeit
+mehr verriet. Ich erklärte ihm die Situation, obwohl ich von vorn herein
+wußte, daß ihm das volle Verständnis dafür fehlen würde. Er hatte schon
+oft nachsichtig, wie über eine kindliche Torheit gelächelt, wenn ich den
+Konflikt berührte, in dem ich mich befand; er war sogar hie und da
+heftig geworden, hatte mich für sentimental, für überängstlich erklärt,
+wenn ich die Trennung von meinem Kinde, die meine Berufs- und
+Parteipflichten mir auferlegte, so schwer nahm. Auch heute schüttelte er
+den Kopf und unterdrückte sichtlich eine Antwort, weil er mich nicht
+verletzen wollte. »Ich glaube, wir haben Grenzpfähle berührt, die das
+Reich des Weibes von dem des Mannes trennen,« sagte ich nachdenklich.
+»Wir sind nicht imstande, wie Ihr, alle Probleme in kühler Objektivität
+zu lösen, -- wie eine mathematische Aufgabe.«
+
+Gegen Abend besuchte uns Romberg. Wir waren rasch mitten in lebhaftester
+Debatte. Das Fernbleiben aller jungen sozialpolitischen Professoren vom
+Züricher Arbeiterschutz-Kongreß hatte wie eine gemeinsame Demonstration
+gewirkt und war mir um so peinlicher aufgefallen, als es im Gegensatz
+nicht nur zu meinen großen Hoffnungen, sondern auch im Gegensatz zu
+ihren eigenen Wünschen und Äußerungen gestanden hatte.
+
+»Waren Sie nicht derjenige, der es stets bedauerte, daß Gelehrte und
+Arbeiter nicht einmal auf dem Gebiet der Sozialpolitik sich begegnen und
+miteinander beraten könnten?« fragte mein Mann. »Und nun bot sich Ihnen
+endlich die Gelegenheit, und Sie ergriffen sie nicht!« Romberg biß sich
+in die Lippen, wie immer, wenn er um eine Antwort verlegen war.
+
+»Die Zeit war unglücklich gewählt,« meinte er schließlich zögernd.
+
+»Warum sagen Sie nicht lieber gleich, was die linksliberale Presse zu
+ihrer Rechtfertigung feierlich erklärte,« rief ich empört, »daß die
+starke Beteiligung unserer Partei den Kongreß von vorn herein zu einem
+sozialdemokratischen gestempelt habe und preußische Professoren daher
+nicht hingehörten!«
+
+Er unterbrach mich: »Sie wissen genau, daß der Vorwurf eines Mangels an
+Mut mich nicht treffen kann!« Ich dachte an das rote Buch und lenkte
+ein. Aber die gegenseitige Verstimmung wich erst allmählich dem
+Interesse am Gegenstand unseres Gesprächs.
+
+»Die blutige Wanda hat, wie ich gelesen habe, in Zürich auch die
+Frauenfrage gelöst,« sagte Romberg mit einem sarkastischen Lächeln.
+
+»Ich fürchte, jede 'Lösung' ist nur der Ausgangspunkt neuer Probleme,«
+erwiderte ich.
+
+Romberg warf mir einen überraschten Blick zu: »Wie, -- auch Sie
+beginnen, an der Unfehlbarkeit Ihrer Päpste zu zweifeln?! Das wird ja
+immer besser: Schönlank putzt den alten Liebknecht herunter wie einen
+Schulbuben und weist ihm nach, daß die Verelendungstheorie angesichts
+der gestiegenen Lebenshaltung der Arbeiter zum alten Eisen geworfen
+werden muß wie das eherne Lohngesetz seligen Angedenkens; Bebel tritt
+für die Beteiligung an den Landtagswahlen ein, was ein Preisgeben eines
+mit aller Lungenkraft verteidigten Prinzipes ist, und Alix Brandt wird
+zur Antifeministin -- --«
+
+»Wenn Ihre Zusammenstellung eine Berechtigung hat, so ist es die, daß
+meine Zweifel ebensowenig zum Antifeminismus führen, wie Schönlanks oder
+Bebels Negationen veralteter Anschauungen zum Antisozialismus.«
+
+»Also auch hier nur eine Revision des Programmes?«
+
+»Auf Grund der Revision der Erfahrungen, die wir durchgemacht haben, --
+gewiß! Übrigens fehlt es ja der Frauenbewegung noch an jedem Programm,
+weil es ihren Problemen an der wissenschaftlichen Formulierung fehlt.«
+
+»Das wäre eine Aufgabe, die Sie lösen müßten,« meinte Romberg lebhaft.
+
+»Damit würdest du dir und anderen zur Klarheit verhelfen --,« fügte
+Heinrich rasch hinzu, »ein Buch über die Frauenfrage, das von einer
+Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse ausgehen müßte, das die
+wirtschaftliche, die soziale und die rechtliche Lage der Frauen zu
+behandeln hätte, ...«
+
+»In Ihnen regt sich doch sofort der Redakteur,« unterbrach ihn Romberg.
+»Die vage angedeutete Idee ist unter Ihren Händen zur Disposition eines
+ganzen Werkes geworden.«
+
+Das Herz klopfte mir vor Erregung. Der Gedanke an diese Arbeit packte
+mich gerade durch seine Selbstverständlichkeit. Ein zusammenfassendes,
+grundlegendes Werk der Art gab es noch nicht. Es fehlte nicht nur mir,
+es fehlte der ganzen Bewegung, die auch darum so unsicher hin- und
+hertastete.
+
+»Ich habe, fürchte ich, die nötigen Vorkenntnisse nicht,« meinte ich
+schließlich zaghaft.
+
+»Dafür haben Sie ja einen Nationalökonomen zum Mann,« antwortete
+Romberg.
+
+Während des Abends, den wir im Theater verbrachten, dachte ich nur an
+den Plan der Arbeit, die ich entschlossen war auszuführen. Erst auf
+Rombergs wiederholtes: »Sehen Sie nur!« sah ich mich um. In der Reihe
+vor uns erschienen zwei seidenrauschende Damen mit goldroten Haaren,
+feuchtschimmernden Augen und unnatürlich glühenden Lippen. »Wird für
+diese in Ihrem Zukunftsstaat kein Platz sein?« flüsterte Romberg. »Ich
+hoffe nicht!« sagte ich. »Schade!« antwortete er lächelnd. In der
+Bewunderung für derlei Erscheinungen ist er wie ein Onkel aus der
+Provinz, dachte ich ärgerlich. Als wir aber nachher, seiner Gewohnheit
+gemäß, die die Nacht gern zum Tage machte, noch lange bei uns
+zusammensaßen, kam er auf die Begegnung zurück: »Können Sie sich
+wirklich eine Welt als wünschenswert vorstellen, in der alle Frauen
+Berufsphilister werden, wie es heut schon alle Männer sind; in der sie
+keine Zeit mehr haben, ihre Schönheit zu pflegen, kurz, in der alle
+duftenden Luxusgärten in Kartoffelfelder verwandelt werden?« --
+
+»Ich würde solch eine Welt zerstören und nicht schaffen helfen! Aber
+Frauen, wie jene, auf die Sie anspielen, gehören nicht zu den duftenden
+Blumen, zu den an sich unnützen, aber unentbehrlichen Reizen des Lebens.
+Sie sind verdorbene Speisen für verdorbene Gaumen.«
+
+»Sie mögen in dem Einzelfall recht haben; unumstößlich aber bleibt für
+mich das Eine: nicht die Berufsarbeiterin, nicht die, nach Ihren
+Begriffen freie, emanzipierte Frau wird der Kultur höchste Blüte sein,
+sondern die femme amante.« Er sah mich kampflustig an, er liebte den
+Widerspruch und erwartete ihn; der Typus einer Frauenrechtlerin stand
+für ihn ein für allemal fest, und er glaubte immer wieder, ihn in mir
+vor sich zu haben.
+
+»Sie hoffen umsonst auf meine sittliche Empörung,« spottete ich, »meine
+Meinung stimmt fast überein mit der Ihren, nur daß ich die Existenz der
+femme amante leugne, solange nicht die wahrhaft freie Frau ihre
+Voraussetzung ist...«
+
+Als Romberg uns verlassen hatte, zog mein Liebster mich in seine Arme
+und flüsterte mir ins Ohr: »Hätte ich nicht meinem dummen Katzel
+widersprechen müssen, das die femme amante wegdisputieren will und
+selbst nichts anderes ist?« »Und nichts anderes sein will,« sagte ich
+leise und gab ihm seinen Kuß zurück.
+
+Ich lag noch lange wach und grübelte. Ob ich ihm anvertrauen könnte, was
+mich bewegte? Schon in der kurzen Zeit meiner Ehe war mir klar geworden,
+was ich vorher nicht verstanden und darum nur verurteilt hatte: warum
+Staat und Kirche nicht die Liebe, sondern die Pflicht zur Grundlage der
+Ehe gemacht haben, warum nach ihnen die Zeugung, Erhaltung und Erziehung
+der Nachkommenschaft ihre Hauptaufgabe ist. Die Ehe kam mir vor wie eine
+moralische alte Jungfer, die der jungen unbändigen Liebesleidenschaft
+durch ihre Predigten das Leben ständig vergällt. Die Liebe braucht
+Festtagsstimmung, die Ehe braucht den Alltag. Vor jedem rauhen Luftzug,
+den die Ehe erzeugt, läßt die zarte Blume der Liebe die Blätter hängen.
+Die Liebe ist ein Rausch, die Ehe ist nüchtern. Lodern auf dem Altar der
+Liebe die Flammen, so schämen sich die Opfernden wie arme Sünder, wenn
+die Ehe sie plötzlich ertappt. Eins aber vor allem wurde mir täglich
+gewisser: die Liebe fordert Freiheit, die Ehe Abhängigkeit. Einer muß
+sich dem anderen unterordnen, wenn der Frieden des Hauses gewahrt sein
+soll, wo aber in der Liebe Unterordnung anfängt, flieht sie selbst.
+
+So türmten sich die Probleme der Frauenfrage, -- meiner Frauenfrage.
+Wahrlich, es war eine große Aufgabe, sie zu lösen.
+
+ * * * * *
+
+Ich stürzte mich mit Feuereifer in die Vorstudien meiner Arbeit; daß sie
+mich ans Haus, an den Schreibtisch fesselte, war eine willkommene
+Begleiterscheinung.
+
+Als der Vortragsaufforderungen gar zu viele wurden, -- und es blieb
+nicht bei bloßen Aufforderungen, deren Annahme oder Ablehnung der
+Entscheidung des Einzelnen überlassen blieb, die Genossinnen verfügten
+vielmehr ohne viel zu fragen über meine Arbeitskraft --, erzählte ich
+von dem Buch, das ich vorbereitete, und das mir eine gewisse
+Beschränkung auferlege. Ich war nicht wenig erstaunt, daß dieselben
+Menschen, die der Wissenschaft eine fast unbegrenzte Bedeutung zumessen,
+über meine Mitteilung die Nase rümpften und sie nur als einen Vorwand
+ansahen, um mich von der Agitation zurückzuziehen. Je mehr ich sie zu
+überzeugen suchte, desto weniger verstanden sie mich. »Wer so 'ne
+Erziehung jehabt hat, wie die Jenossin Brandt, für den is das Schreiben
+doch keen Kunststück,« sagte eine von ihnen. »Un ieberhaupt: im Erfurter
+Programm steht haarkleen allens, wat wir wollen,« fügte eine andere
+hinzu. »Genosse Bebels 'Frau' und Genossin Orbins Artikel in der
+'Freiheit' sind als Grundlage für unsere Bewegung mehr als ausreichend,«
+sagte Martha Bartels mit einer Schärfe, die sich steigerte, je älter
+sie wurde. Ich sah ein, daß nichts zu machen war; im Grunde hatten die
+Frauen recht, wenn sie sich um ungelegte Eier nicht kümmern mochten.
+
+Nur eine Idee erwähnte ich noch, die ich kürzlich als den gesunden Kern
+aus der ungenießbaren Schale einer französischen Broschüre
+herausgeschält hatte: die einer staatlichen Mutterschafts-Versicherung.
+Ich wollte ihr eine fest umrissene Gestalt geben und sie in den
+Mittelpunkt meines Buches stellen. Die Mutter schützen, solange sie das
+Kind unter dem Herzen trägt, sie dem Kinde erhalten, solange es der
+Pflege und Ernährung durch sie bedürftig ist, -- das schien mir aber
+auch ein Ziel, würdig einer starken Bewegung, es zu erreichen. Ich
+schlug vor, in unseren Versammlungen die Frage zur Erörterung zu
+bringen. Aber seltsam: um unseren Sitzungstisch saßen die früh
+gealterten, abgehärmten Mütter, und kein Wort, keine Miene verriet, daß
+der Gedanke sie zu erwärmen vermöchte. Alles Neue galt ihnen zunächst
+als etwas Feindliches. Diese Revolutionärinnen hatten schon eine
+Tradition und waren darum vielfach reaktionär.
+
+Von dem Plan meines Werkes sprach ich mit ihnen nicht mehr. Aber ich
+beschloß, alle Zeit, die mir blieb, ihm zu widmen.
+
+Doch auf die Möglichkeit stetiger Arbeit hoffte ich vergebens.
+
+An unserem Schreibtisch saßen wir, mein Mann und ich. Wie schön hatten
+wir es uns gedacht, das gemeinsame Arbeiten! Aber dieses
+Einandergegenübersitzen von zwei Menschen, die sich lieben, die jeden
+Ausdruck im Gesicht des anderen sehen müssen und unwillkürlich zu deuten
+versuchen, diese Sorge, einander ja nicht zu stören, schufen eine
+Atmosphäre von Nervosität, die um so unerträglicher wurde, als keiner
+den Mut hatte, sie dem anderen zu gestehen. Es kam vor, daß ich
+aufatmete, wenn mein Mann das Zimmer verließ; und oft ging ich hinaus,
+weil ich fühlte, daß er allein sein mußte.
+
+Tausenderlei Dinge zerrissen die Tage und die Stimmung: Da gab's bei den
+Kindern Vokabeln zu überhören und Anzüge zu flicken, da waren die
+Haushaltssorgen, die mich um so stärker in Anspruch nahmen, je weniger
+ich von ihnen verstand, und die ständige angstvolle Frage: komme ich
+aus? Auf meinen Mann, der für mich die Güte und Rücksicht selber war,
+wirkte sie wie ein rotes Tuch. Ohne irgendeine Erklärung und
+Entschuldigung gelten zu lassen, hielt er mich stets für schuldig, wenn
+ich sie nicht bejahend beantworten konnte. »Du verschwendest, -- du läßt
+dich vom Mädchen betrügen --,« rief er, während die Zornadern ihm auf
+der Stirne schwollen. Und doch lebten wir nach meinen anerzogenen
+Begriffen über die Maßen einfach. Mich kränkte sein Zorn, den ich als
+Ungerechtigkeit empfand. Ich konnte keine gute Hausfrau sein, wenn ich
+zu gleicher Zeit meinen schriftstellerischen Beruf ausüben wollte. Das
+menschliche Gehirn ist auf das Nebeneinander von zwei Gedankenketten
+nicht eingerichtet. Und der Haushalt erfordert umsomehr die Gedankenwelt
+der Frau, je weniger ihr seine Pflichten zur mechanischen Gewohnheit
+geworden sind. Mir blieb kein Ausweg: ich verschwieg meine Sorgen, ich
+vermied es soviel als möglich, meinen Mann um Geld zu bitten, was ich
+immer als eine Erniedrigung meiner selbst empfand. Wanda Orbin hatte
+recht, tausendmal recht: die ökonomische Selbständigkeit des Weibes ist
+die Voraussetzung einer glücklichen Verbindung der Geschlechter, sie
+hilft so manche andere Klippen der Ehe umschiffen. Ich schrieb, neben
+der Vorarbeit für mein Buch, wieder Artikel für Zeitschriften und
+Tagesblätter, um Geld zu verdienen.
+
+Nur wenn ich bei meinem Kinde war, wenn seine Pflege meine Gedanken in
+Anspruch nahm, dann empfand ich das nicht wie eine Störung oder wie ein
+Ablenken von meiner eigentlichen Tätigkeit. Fühlte ich sein warmes
+rundes Körperchen in meinen Armen, so strömte wunschloser Friede mir
+tief ins Herz. Lachten mich seine blauen Augen an, so vergaß ich alles
+darüber, was es an Glück in der Welt noch geben mochte, und weinte er,
+und ich wußte nicht warum, so gab es kein Menschenleid, das mir hätte
+größer erscheinen können; klammerten sich seine rosigen, kleinen Finger
+fest um die meinen, so fühlte ich, daß er für immer von mir Besitz
+ergriffen hatte; daß mein Herz dazu da war, um ihn zu lieben, mein
+Geist, um ihn zu erziehen, meine Kraft, um ihm den Weg ins Leben bahnen
+zu helfen. Kam ich von ihm zu meinem Mann zurück, so war jeder Schatten
+von Kummer verschwunden, ich liebte ihn doppelt, weil er meines Kindes
+Vater war. Und sah ich meine Stiefsöhne dann, so tat mir das Herz weh:
+ich konnte sie nicht lieben wie mein eigenes Kind; sie mußten das
+fühlen, wenn ich mich auch noch so sehr bemühte, meine Zärtlichkeit für
+den Kleinen nur zu äußern, sobald sie fern waren.
+
+Zuweilen, wenn das Geld wieder einmal recht knapp war, dachte ich nicht
+ohne Bitterkeit an die reiche Mutter dieser Kinder. Aber meinem Mann
+sagte ich nichts davon. Die Erziehung, die ich zu Hause genossen hatte,
+und deren Folgen Georgs sanfte Hand von mir abzustreifen vermochte,
+bekam wieder Macht über mich: ich lernte schweigen, um nicht zu
+verletzen, und um Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen.
+
+Meine Mutter kam um jene Zeit häufig zu mir. Seitdem wir unser Kind
+hatten taufen lassen, war sie viel milder und herzlicher geworden,
+obwohl ich sie über unsere Beweggründe nicht im Irrtum gelassen hatte.
+»Wir haben kein Recht, dies Kind von vornherein in eine Ausnahmestellung
+zu zwingen,« hatte ich ihr gesagt, als sie in unserer Handlungsweise
+einen Ausdruck unseres eigenen Gesinnungswechsels zu sehen glaubte;
+»ebensowenig wie wir es später, wenn es selbständig denken kann, hindern
+wollen, zu tun oder zu lassen, was seiner eigenen Überzeugung
+entspricht.«
+
+Aber nach anderen Richtungen hütete ich mich um so mehr, sie ins
+Vertrauen zu ziehen. Sie hatte mir häufig gesagt: »Wenn du einmal
+verheiratet bist, wirst du einsehen, daß das Leben der Frau aus lauter
+Opfern und im Kampf mit lauter Kleinkram besteht!« Sie durfte nicht
+glauben, daß ihre Prophezeiung in Erfüllung gegangen wäre. Und sie mußte
+in der Meinung erhalten werden, die sie schließlich allein über meine
+Heirat getröstet hatte: daß meine äußere Lage die behaglichste sei. An
+der Art, wie diese ruhige, anscheinend kühle Frau ihre Freude darüber
+äußerte, sah ich erst, wie sehr sie selbst unter den dauernden
+pekuniären Sorgen gelitten hatte. Wie oft hatte ich sie um ihrer Härte
+willen im stillen angeklagt. Jetzt bat ich ihr manches ab. Ich erinnerte
+mich, wie umsichtig sie den großen Haushalt geführt hatte, wie sie
+stunden- und tagelang Wäsche flickte und uns unsere Kleider nähen half,
+-- wie schwer mochte es auch ihr geworden sein, wie viel mochte sie
+entbehrt haben!
+
+ * * * * *
+
+Weihnachten 1897 war es. Zum erstenmal putzte ich für mein Kind den
+Weihnachtsbaum. Erstaunt riß es die Augen auf und streckte die Händchen
+verlangend aus, als es die vielen bunten Lichter sah! Unter der Tanne
+lag allerlei Spielzeug für ihn, darunter ein großer bunter Hampelmann,
+den mein Vater geschickt hatte. Mit dem Söhnchen auf dem Arm trat ich zu
+meinem Weihnachtstisch, auf dem ein geheimnisvoll versiegelter Brief
+lag. Ich öffnete ihn, während mein Junge fröhlich lallend den Hampelmann
+hin- und herschwenkte: »Ein Häuschen im Grunewald« stand darin. Vor
+Überraschung war ich sprachlos. Heinrich umarmte mich und das Kind,
+glückselig über die Freude, die er bereitet hatte. In aller Stille hatte
+er mit Hall verhandelt und ihn rasch bereit gefunden, unseren Wunsch
+durch die Beschaffung von Baugeld und Hypotheken erfüllen zu helfen.
+»Wie wird unser Kind gedeihen, wie ruhig und friedlich wird meine Alix
+dort arbeiten können!« sagte er.
+
+»Werden wir auch die Zinsen aufbringen können?« meinte ich schließlich,
+nachdem der erste Sturm der Freude sich gelegt hatte. Ein Schatten flog
+über seine Züge: »Mußt du dich immer gleich wieder fürchten, -- auch
+angesichts solch eines Glücksfalles?!« Beschämt senkte ich den Kopf. Die
+Lichter waren längst erloschen, und die Kinder schliefen, unser Liebling
+mit dem Hampelmann, fest an sich gedrückt; der süße Duft der
+Wachskerzen, vereint mit dem starken der Tanne, erfüllte das Zimmer; wir
+großen Kinder träumten darin unseren Weihnachtstraum: von dem stillen
+Häuschen im Wald, fern dem Lärm der Großstadt, von einer Heimat, die wir
+beide nie gekannt hatten, von unserem Kind, das wachsen sollte wie die
+Bäume: die Wurzeln im Boden der Mutter Erde, das Haupt erhoben, der
+Sonne zu und dem Sturme trotzend.
+
+Am nächsten Morgen, einem echten Weihnachtsfeiertag, über den der Himmel
+all seinen Glanz und seine Farben goß, zog ich meinem blonden Buben ein
+weißes Mäntelchen an, packte ihn sorgfältig in die weichen Kissen seines
+weißen Wagens und schickte ihn zu den Eltern. Meine Gedanken begleiteten
+ihn: wie ein helles Licht sah ich ihn auftauchen in dem dunklen Flur,
+sah, wie der Großvater ihn feuchten Auges in die Arme nahm, fühlte, wie
+der letzte eiserne Reifen um des alten Mannes Herz zersprang.
+
+»Das war ein lieber Gedanke von Dir,« schrieb die Mutter. »Ich habe
+Deinen Vater seit Jahren nicht so froh gesehen. Er strahlt noch jetzt
+und behauptet, es gäbe in der ganzen Welt kein zweites Kind wie seinen
+Enkel. Mich hat die Nachricht von Heinrichs Weihnachtsgeschenk noch
+besonders beglückt: so hat Gott meine Gebete doch erhört und alle Strafe
+von Dir abgewendet!«
+
+ * * * * *
+
+Unseren wundergläubigen Vorfahren galten die zwölf Nächte, die dem
+Weihnachtsabend folgen, für heilig: in dieser Zeit wurde die Arbeit auf
+das notwendigste beschränkt, nur in Feiertagsgewändern begegneten die
+Menschen einander, und die Träume, die geträumt wurden, gingen in
+Erfüllung. Unter der Schwelle unseres Bewußtseins lebt und wirkt auch
+heute noch dieser Glaube. In den Straßen und in den Herzen ist es
+stiller als sonst. Der fieberhafte Pulsschlag des öffentlichen Lebens
+stockt. Selbst der heimatloseste Weltenbummler sucht sich einen Winkel
+Familienleben, wo er unterkriechen kann. Und wem es recht wohl und warm
+ums Herz wird, der wünscht zuweilen, sich auf immer einspinnen zu können
+in diese Stille.
+
+Aber das junge Jahr wirft alle guten Gaben, die die Greisenhand des
+alten zum Abschied spendete, aus seinem Lebenspalast hinaus und ruft mit
+schmetternden Fanfaren zu neuen Kämpfen, richtet Ziele auf mit lockenden
+Preisen, so daß auch die süß Schlummernden sich dem Land ihrer Träume
+entreißen und im grellen Licht des Tages den alten Wettlauf wieder
+beginnen.
+
+So erging es auch uns. Sturmzeichen sahen die Wetterkundigen am Himmel
+seit jenen ersten Gewitterwolken kaiserlicher Reden im vergangenen Jahr.
+»Rücksichtslose Niederwerfung jeden Umsturzes« hatte die eine gefordert,
+als »Vaterlandslose« hatte die andere diejenigen gebrandmarkt, die den
+Flottenforderungen ablehnend gegenüberstanden. Inzwischen war die
+Flottenvorlage dem Reichstag zugegangen, die ihren Schatten monatelang
+vorausgeworfen hatte, und auf sieben Jahre hinaus Millionen und
+Abermillionen für neue Schiffsbauten forderte. Doch die stürmische
+Entrüstung, zu welcher der Philister sonst immer bereit ist, wenn seinem
+Geldsack Gefahr droht, war ausgeblieben. Denn in seiner psychologischer
+Kenntnis der Menschennatur, die um so überraschender war, als die
+Regierungen ihre Völker mit dergleichen nicht zu verwöhnen pflegen,
+waren Vorfälle, die früher spurlos vorübergingen, -- wie der Streit
+eines deutschen Kaufmanns mit den Polizeibehörden der Republik Haiti und
+die Ermordung zweier deutscher Missionare in China, -- zu so ernsten
+Konflikten mit fremden Mächten aufgebauscht worden, daß der furor
+teutonicus sich daran zu entzünden vermochte. Einmal gereizt, griff der
+gute deutsche Michel wutschnaubend nach dem Racheschwert, und in seinen
+Träumeraugen brannte plötzlich wieder die alte Sehnsucht nach fernen
+fremden Ländern und ihren Märchenschätzen. Was uns, die wir nüchtern
+geblieben waren, wie eine romantische Floskel klang, -- die pathetische
+Rede des Kaisers an seinen nach China ausziehenden Bruder von dem
+Dreinfahren der gepanzerten Faust und dessen Antwort von dem »Evangelium
+der geheiligten Person Seiner Majestät«, das er im Auslande verkünden
+wolle, -- das entsprach im Augenblick dem fanatisierten Empfinden des
+deutschen Bürgers. Er, dessen Leben so lange sang- und klanglos
+dahingeflossen war, der seit Bismarcks Abschied für seine
+Begeisterungsfähigkeit keinen Gegenstand mehr gehabt hatte, berauschte
+sich an der Idee der Weltmacht, und die ungeheure Flottenforderung
+schreckte ihn nun nicht mehr.
+
+Aber die Regierung erreichte durch ihre Politik noch mehr als das:
+hatte das Interesse eines großen Teiles der Bourgeoisie sich in einer
+für sie bedenklichen Weise in den letzten Jahren der sozialen Frage
+zugewandt, so war nunmehr ein Mittel gefunden, es von ihr abzulenken.
+Mit schmerzlichem Erstaunen sah ich, wie Männer, auf die ich noch vor
+wenigen Monden für unsere Sache gerechnet hatte, den Nationalismus über
+den Sozialismus siegen ließen, wie selbst ein Romberg und seine Freunde
+die Weltmachtpolitik verteidigten. Daß es zwischen ihr und der
+Arbeiterpolitik nichts anderes geben könne als unversöhnlichen
+Gegensatz, schien mir über allem Zweifel zu stehen. Für Rombergs
+Argumente, der in der Erschließung neuer Absatzgebiete auch einen
+Vorteil für die deutsche Arbeiterschaft sah, war ich vollkommen
+unzugänglich.
+
+Die große Flutwelle patriotischer Begeisterung trieb nicht nur alte
+Freunde von unserer Sache ab, sie trug uns auch neue Feinde zu. Vielen,
+die sich um Politik bisher kaum gekümmert hatten, galten wir jetzt als
+Feinde des Vaterlandes, die mit allen Mitteln bekämpft werden müßten.
+Der Weizen Herrn von Stumms, unseres grimmigen alten Gegners, blühte; er
+drohte mit der Revolution von oben, wenn die Flottenvorlage im Reichstag
+zu Falle käme. Und tatsächlich schien ein neues Ausnahmegesetz in
+Vorbereitung. Der »Vorwärts« veröffentlichte ein Geheimschreiben des
+Staatssekretärs des Innern an die verbündeten Regierungen, worin er ein
+Gesetz zum Schutz der Arbeitswilligen in Aussicht stellte, das, nach den
+Absichten unserer Gegner, die Koalitionsfreiheit der Arbeiter notwendig
+beeinträchtigen, wenn nicht vernichten würde.
+
+Was die Regierung gewollt hatte, wurde erreicht: eine Mehrheit für die
+Flottenvorlage, eine scharfe Trennung zwischen den bürgerlichen Parteien
+und der Sozialdemokratie für die Wahlen zum neuen Reichstag.
+
+Aber auch für uns schien die Lage günstig: auf der einen Seite die
+Weltmachtpolitik mit ihrer möglichen Folge kostspieliger Kriegsabenteuer
+und drückender Steuerlasten, auf der anderen die Bedrohung des
+Koalitionsrechtes, -- war das nicht genug, um die proletarischen Massen
+zu einem gewaltigen Protest aufzupeitschen?! Warum war die Stimmung in
+unseren Versammlungen so flau, warum fehlte auch mir, wenn ich sprach,
+jene anfeuernde Kraft der Rede, die früher an ihren Wirkungen zutage
+getreten war? Die starke, hoffnungsvolle Freudigkeit war verloren
+gegangen, als ob sich zwischen uns und das Ziel, dem wir so
+leidenschaftlich zustrebten, ein dunkler Schleier gesenkt hätte. Durch
+die Einheit, die unsere Kraft gewesen war, ging ein blutender Riß. Das
+Instrument der Partei klang verstimmt, als wäre eine Saite gerissen.
+
+Langsam und allmählich, für die meisten unmerklich, hatte es sich
+vorbereitet: mit der Entwickelung der Sozialdemokratie von der Sekte zur
+Partei hatte sich zuerst die Taktik ihres Vorgehens leise verändert. Von
+der Ablehnung jeder Beteiligung an einem Parlament des kapitalistischen
+Staates als eines unmöglichen Paktierens mit der Bourgeoisie bis jetzt,
+wo sogar von alten bewährten Führern die Teilnahme an den Landtagswahlen
+unter dem Dreiklassenwahlsystem empfohlen wurde, war ein weiter Weg. Und
+er war gegangen worden. Was einer der wenigen Staatsmänner der Partei,
+Georg von Vollmar, nach dem Fall des Sozialistengesetzes unter dem
+empörten Widerspruch der radikalen Elemente in der Partei erklärt hatte:
+daß in dem Maße, in welchem wir einen unmittelbaren Einfluß auf den Gang
+der öffentlichen Angelegenheiten gewinnen, wir unsere Kraft auf die
+nächsten und dringenden Dinge konzentrieren müßten und »dem guten Willen
+die offene Hand, dem schlechten die Faust« zu zeigen sei, -- das hatte
+sich von Jahr zu Jahr als immer notwendiger erwiesen, und vor der Logik
+der Tatsachen wich die radikale Phrase bloßer Verneinung Schritt vor
+Schritt zurück.
+
+Jetzt aber begann sogar die alt-ehrwürdige Theorie vor dem Ansturm der
+jungen Praxis in ihren Grundfesten zu zittern. Im Lichte der
+fortschreitenden Zeit erwiesen sich manche Fundamentalsätze, wie sie das
+Erfurter Programm formuliert hatte, als überholt. Schon die
+Beschäftigung mit der Agrarfrage hatte gezeigt, daß die wirtschaftliche
+Entwickelung sich nicht überall mit den von Marx aufgestellten Gesetzen
+in Einklang bringen ließ, daß die Konzentrierung des Kapitals sich nicht
+so rasch und nicht so schematisch vollzieht, wie er auf Grund damaliger
+Erfahrungen angenommen hatte. Und auch das vom kommunistischen Manifest
+mit apodiktischer Sicherheit in Aussicht gestellte allgemeine
+Herabsinken der Arbeiter in den Pauperismus war nicht eingetreten; die
+Lebenslage des Proletariats hatte sich vielmehr im Laufe des letzten
+halben Jahrhunderts gehoben. Und nun trat einer der bewährtesten
+Vorkämpfer des Sozialismus, einer ihrer Märtyrer, der noch im Exil in
+England lebte -- Eduard Bernstein --, auf und erörterte in breiter
+Öffentlichkeit die neuen Probleme des Sozialismus. Er rüttelte weder an
+seiner Voraussetzung noch an seinem Ziel, aber er zeigte an der Hand der
+Tatsachen, daß der Weg zwischen beiden länger ist und anders geartet,
+als Marx und seine Schüler ihn dargestellt hatten, daß wir ihn daher
+mehr berücksichtigen, unsere Handlungen mehr auf seine Etappen, als auf
+das schließliche Ende einstellen müßten.
+
+Auf uns, die wir durch die Erkenntnis des Elends in der Welt zum
+Sozialismus geführt worden waren, die wir von ihm in einem in seiner
+Wurzel religiösen Glaubensüberschwang die Erlösung von allem Übel
+erwartet hatten, wirkte die kühle Klarheit der Bernsteinschen
+Beweisführungen niederschmetternd. Meinem Verstande waren die Grundsätze
+des Sozialismus so ohne weiteres einleuchtend gewesen, weil mein Gefühl
+mit seinem Wollen von vornherein übereinstimmte. Sie kritisch und
+wissenschaftlich zu prüfen, war mir, wie Tausenden meiner
+Gesinnungsgenossen, nie eingefallen. Jetzt war es ein Gebot der höchsten
+Tugend, -- der intellektuellen Redlichkeit, -- es nachzuholen.
+
+Die Zeiten meiner religiösen Kinderkämpfe schienen wiedergekehrt zu
+sein. Nur daß ich jetzt mit allen Fasern meines Innern in dem Glauben
+wurzelte, dem ich meinen ganzen Lebensbesitz geopfert hatte, aus dem ich
+alle meine Kräfte sog. Was stand noch fest, dachte ich verzweifelt, wenn
+so vieles schwankte? Ernüchtert, -- bar jener stürmischen Begeisterung,
+die mich ausziehen ließ, der Menschheit eine neue Welt zu erkämpfen, sah
+ich den langen, öden Weg vor mir mit all seinen kleinen Hindernissen,
+die im Schweiße unseres Angesichts überwunden werden sollten, und mit
+dem Ziel, das im Nebel der Ferne fast verschwand. Die Naivetät jungen
+Glaubens, die noch keine Probleme kennt, ist für die Masse der Menschen
+die Voraussetzung ihres Enthusiasmus und damit ihrer Stärke. Ich hatte
+sie verloren wie viele meiner Genossen; das lähmte uns. Oft kamen
+Augenblicke, wo ich die anderen beneidete, die, sei es aus unbewußter
+Furcht vor einem inneren Zusammenbruch, sei es aus einer gewissen
+Beschränktheit ihres Denkens, den alten Glauben gegenüber der neuen
+Erkenntnis aufrecht erhielten und leidenschaftlich verteidigten. Mein
+Gefühl war auf ihrer Seite, und nur zu häufig riß es mich wieder mit
+sich fort. Vielleicht wäre es sogar auf lange Zeit hinaus das
+herrschende geblieben, wenn nicht mein Mann immer wieder meinen Verstand
+gegen mein Herz zu Hilfe gerufen hätte. Und die Tatsachen und die Zahlen
+waren unerbittlich: Die Konzentration des Kapitals und die Eroberung der
+politischen Macht durch das Proletariat waren die beiden anerkannten
+Bedingungen der Verwirklichung des Sozialismus. Aber der Schneckengang
+der Entwickelung zum Großbetrieb, der zuweilen sogar ein Krebsgang zu
+sein schien, und die Tatsache, daß von hundert Wahlberechtigten nur
+achtzehn sozialdemokratische Stimmzettel abgaben und mehr als die Hälfte
+der erwachsenen männlichen Arbeiterschaft der Sozialdemokratie noch
+gleichgültig, wenn nicht feindlich gegenüberstand, bewiesen, wie weit
+wir noch vom Ziel entfernt waren. Eine Selbsttäuschung hierüber wäre ein
+Verbrechen an unserer Sache gewesen, -- das sah ich ein. Es galt, den
+Kinderglauben ruhig und mutig aufzugeben.
+
+Mit jener rücksichtslosen Leidenschaft, die stets das Produkt der Angst
+um die Gefährdung der Grundlagen des Lebens und Wirkens ist, bekämpfte
+die Masse der Arbeiterschaft, an ihrer Spitze all die Führer, deren
+heißblütiges Temperament über alle Zweifel siegte, und all die klugen
+Demagogen, die auf der Seite der Mehrheit blieben, weil ihre Macht von
+dieser Mehrheit abhing, die neuen Ideen und ihre Vertreter. Und dieser
+ganze Kampf fiel in die Vorbereitung der Reichstagswahlen; er lähmte die
+Agitationskraft der einen, die wie ich noch mit sich selbst zerfallen
+waren, er lenkte die Interessen der anderen ab, die die Partei vor dem
+unheilvollen Einfluß der Ketzer glaubten schützen zu müssen.
+
+Wenn ich in Versammlungen sprach, fühlte ich: meine Worte zündeten
+nicht. Einmal traf ich bei solcher Gelegenheit Reinhard wieder. Er
+schien mir sehr gealtert. Wir sprachen über unsere Aussichten. »Wir
+hätten zwanzig bis dreißig Mandate erobern können,« sagte er, »wäre das
+ganze Getratsch von Endziel und Bewegung uns nicht in die Parade
+gefahren.«
+
+»Hat Bernstein etwa nicht recht?!« fragte ich.
+
+»Recht! -- Recht!« antwortete er heftig. »Natürlich hat er recht in dem,
+was er sagt, aber daß er es sagte, in diesem Augenblick sagte, war ein
+Fehler, ein schwerer Fehler. Wir alten Gewerkschafter, die wir mitten im
+Leben stehen, sind schon lange seiner Meinung, aber wir machen die
+Genossen nicht kopfscheu mit theoretischem Kram, wir handeln einfach,
+wie die Verhältnisse es fordern.«
+
+»So hätte er schweigen sollen?«
+
+»Keineswegs! Er hätte nach den Wahlen fünf Jahre zum Reden Zeit genug
+gehabt. Aber daß er uns jetzt diesen Knüppel zwischen die Beine
+schmeißt --«
+
+Ich dachte an Reinhards Worte, als mir ein andermal in der Diskussion
+ein rabiater Genosse vorwarf, auch ich hätte »das Endziel in die Tasche
+gesteckt«, und verteidigte mich nicht. Solange wir im Kampf gegen den
+gemeinsamen Gegner standen, mußte die Streitaxt begraben werden. Aber
+die Radikalen dachten anders. Es kam vor, daß Reichstagskandidaten von
+den eigenen Genossen wie Parteiverräter behandelt wurden. Wanda Orbin
+vor allem, die immer wieder erklärte, daß die Reinheit der Partei ihr
+höher stünde als ihre numerische Stärke, wurde zur fanatischen Gegnerin
+aller derer, die sich nicht unverbrüchlich auf die alten Dogmen
+einschwuren. Und mehr als je hatte sie die Frauen auf ihrer Seite, --
+die Frauen, die nicht auf dem Wege wissenschaftlicher Erkenntnis,
+sondern einzig und allein durch ihr Gefühl geleitet zu Sozialistinnen
+geworden waren. Mit jener naiven Kraft der ersten Christen, die ihr
+ganzes Tun und Denken auf die unmittelbare Wiederkehr des Gekreuzigten
+eingerichtet hatten, hofften sie auf die baldige Erfüllung ihres
+Zukunftstraums.
+
+Als das Resultat der Wahlen bekannt wurde, -- es war in bezug auf die
+Zunahme der Mandate, aber noch mehr im Hinblick auf das
+Stimmenverhältnis weit hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben, --
+stieg die Erbitterung gegen die »Bernsteinianer«, denen man die Schuld
+an diesem Ergebnis zuschob, noch mehr.
+
+Ein Symptom für die allgemeine Stimmung war der Beschluß, der nach
+einer stürmischen Versammlung im Feenpalast von den Berlinern gefaßt
+wurde. Seinem Wortlaut nach richtete er sich zwar nur gegen eine
+Beteiligung an den Landtagswahlen in Berlin selbst, sein Tenor aber war
+eine Verurteilung der Beteiligung überhaupt. Sie erschien den Radikalen
+als ein bedenkliches Hinneigen zu revisionistischen Ideen.
+
+ * * * * *
+
+In dem Kreise der Genossinnen äußerte sich das gegenseitige Mißtrauen
+weniger im Streit um Meinungen, als in persönlichen Reibereien. War ich
+schon während meiner Tätigkeit in der bürgerlichen Frauenbewegung zu der
+Überzeugung gelangt, daß diese spezifisch weibliche Art nur durch eine
+Zusammenarbeit mit dem Mann sich beseitigen lassen würde, so war ich
+jetzt entschlossen, den Einfluß, den ich noch besaß, nach dieser
+Richtung geltend zu machen.
+
+»Wir haben die Gleichberechtigung der Geschlechter auf das Programm
+geschrieben, wir müssen sie also zu allererst in der eigenen Partei
+durchführen,« erklärte ich, und selbst die Feindseligsten waren in
+diesem Gedanken mit mir einig. »Bei den Genossen aber werden Sie damit
+schön abblitzen!« meinte Martha Bartels. »Bei denen heißt's noch immer,
+wenn unsereins den Mund auftut: Kusch dich! zu Hause -- wie in der
+Bewegung,« sagte eine andere langjährige Parteigenossin. »Sie wissen,
+wie wir voriges Jahr behandelt worden sind, --« fügte die dicke Frau
+Wengs hinzu, »als wir auch nur eine Einzigste von uns in den
+allgemeinen Versammlungen als Delegiertin zum Parteitag wollten
+aufgestellt haben. 'Wascht man eure dreckige Wäsche alleene --,' sagten
+uns die Vertrauensleute.« »So müssen wir eben immer wiederkommen,«
+entgegnete ich, »Na -- für die schönen Augen von Genossin Brandt tun
+sie's am Ende,« höhnte Martha Bartels. Schließlich beschloß man,
+noch einen Versuch zu machen, und es gelang auf einer der
+Parteiversammlungen, zunächst meine Delegation zum Parteitag der Provinz
+Brandenburg durchzusetzen. Die Freude der Genossinnen über diesen Erfolg
+war die der Kinder, wenn sie ein neues Spiel beginnen: auf eine Zeitlang
+war jeder Streit vergessen.
+
+ * * * * *
+
+Am Vorabend der Provinzialkonferenz veröffentlichte die Presse eine neue
+Rede des Kaisers, die er im Kurhause von Öynhausen gehalten hatte: »Das
+Gesetz naht sich seiner Vollendung und wird den Volksvertretern noch in
+diesem Jahre zugehen, worin jeder, der einen deutschen Arbeiter, der
+willig ist, seine Arbeit zu vollführen, daran zu verhindern sucht, oder
+gar zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus bestraft werden soll ...«
+
+Das bedeutete nichts weniger und nichts mehr, als eine Vernichtung des
+Koalitionsrechts, das war eine Kriegserklärung an das Proletariat, für
+die es nur eine Antwort gab: einmütiges Zusammenhalten. In der Sitzung
+am nächsten Morgen brachte ich eine Protestresolution ein, die zur
+einstimmigen Annahme gelangte, und unter dem Eindruck der kaiserlichen
+Drohung verlief die Tagung ohne einen Mißklang. Martha Bartels
+schüttelte mir herzlich die Hand, wie seit Monaten nicht, die gute Frau
+Wengs lachte über das ganze runde Gesicht, klopfte mir wohlwollend auf
+die Schulter und versicherte: »Nun haben Sie uns aber alle miteinander
+auf Ihrer Seite.«
+
+Zwei Tage später erfuhr ich, daß einer der berliner Wahlkreise bereit
+sei, mich zum nächsten Parteitag zu delegieren.
+
+»Du bist leicht zu befriedigen!« sagte mein Mann mit einem leise
+spöttischen Ton in der Stimme, als er meine Freude sah.
+
+»Es ist doch ein Anfang,« antwortete ich. »Oder meinst du, ich wäre in
+die Partei gekommen, um ewig Rekrut zu bleiben?«
+
+»Gewiß nicht,« lachte er, »ich kenne doch meinen ehrgeizigen Schatz!«
+
+Mir stieg das Blut in die Schläfen. War es Ehrgeiz, der mich
+beherrschte, oder nicht vielmehr der berechtigte Wunsch nach einem
+Wirkungskreis für meine Leistungskraft? Zu tief empfand ich das Opfer,
+das ich brachte, wenn ich mein Haus und mein Kind verließ, als daß ich
+es dauernd für überflüssige Nichtigkeiten hätte bringen können. Jetzt
+war ich im Aufstieg, und weil ich es war, hatte ich die Sympathie der
+anderen für mich; es galt nunmehr, beides festzuhalten.
+
+ * * * * *
+
+In der Versammlung, die über die Parteitagsdelegationen endgültig zu
+entscheiden hatte, herrschte von Anfang an Gewitterschwüle. Die
+schroffsten Gegner saßen einander gegenüber, und bei jedem Punkt der
+Tagesordnung kam es zu hitzigen Wortgefechten. Eines schien von
+vornherein klar: die Masse der radikalen Berliner erwartete vom nächsten
+Parteitag eine Abrechnung mit den revisionistischen Elementen in der
+Partei, ja sie scheuten sich nicht, selbst gegen Bebel Stellung zu
+nehmen, weil er in der Landtagswahlfrage nicht auf ihrer Seite stand.
+Man forderte schließlich, daß sämtliche Delegierte sich auf die
+Feenpalastresolution verpflichten sollten. Während ringsumher alles
+durcheinander schrie und tobte, wurden die zur Delegation
+Vorgeschlagenen aufgerufen.
+
+»Genossin Brandt, stehen Sie auf dem Boden unseres Beschlusses?«
+Überrascht fuhr ich auf, -- ich hatte nicht erwartet, als Erste gefragt
+zu werden, -- ich versuchte mir im Moment die Situation zu
+vergegenwärtigen. »So antworten Sie doch!« rief ungeduldig die Stimme
+des Vorsitzenden.
+
+Die Genossinnen umringten mich: »Sie werden uns doch nicht im Stiche
+lassen,« flüsterte Frau Wiemer von der einen Seite, -- »wir haben ja nur
+für Berlin die Beteiligung abgelehnt,« zischte mir Martha Bartels von
+der anderen ins Ohr. Und ein leises »Ja« kam zögernd von meinen Lippen.
+
+Gleich darauf hörte ich Reinhards Namen nennen, und im selben Augenblick
+seine Antwort: ein scharfes »Nein«. Ich wurde gewählt -- er nicht.
+
+Glückwünschend umringten mich die Genossinnen. Aber jedes Wort, das sie
+sagten, ließ mich dunkler erröten. Am Ausgang traf ich Reinhard. »Das
+hätte ich von Ihnen nicht erwartet,« sagte er. »Sie kannten doch den
+tieferen Sinn der Resolution.«
+
+Ich schlich nach Hause, müde, schuldbewußt. Noch in der Nacht schrieb
+ich eine Erklärung für den »Vorwärts«, und legte mein Mandat in die
+Hände meiner Wähler zurück ...
+
+Die Frauen hätten mich am liebsten gesteinigt, die Männer lachten mich
+aus. Ich schwieg. Womit hätte ich mich verteidigen können?
+
+
+
+
+Achtes Kapitel
+
+
+»Ottoo -- addaa,« rief das helle Stimmchen meines Sohnes. Er saß auf
+meinen Knieen im Wagen und winkte unermüdlich nach rechts und links, als
+ob er in seiner Freude alles grüßen müßte, was er sah. Wir fuhren hinaus
+in den Grunewald. Es war ein strahlender Sommertag; Scharen von Radlern
+flogen an uns vorüber; selbst die Dampfstraßenbahn fauchte heut wie ein
+vergnügter Alter, weil sie so viel Jugend in hellen Kleidern ins Grüne
+fuhr.
+
+Vor einem umzäunten Waldwinkel hielten wir. Ich setzte den Kleinen ins
+Moos, und verwundert tippte er mit den runden rosigen Fingern jeden
+Grashalm an und kroch den schillernden Käfern nach und sah mit einem
+jauchzenden »Da -- da!« den Vögeln zu, die von Zweig zu Zweig hüpften.
+Die alten dunkeln Kiefern wiegten ihre Häupter im Winde, die Sonne malte
+runde goldene Flecke auf ihre braunen Stämme, ein paar kleine blaue
+Blümchen reckten neugierig die Köpfe, und ein gelber Schmetterling
+tanzte über ihnen, -- es war eine große Sommer-Festvorstellung für mein
+Kind.
+
+Wir erwachsenen Leute gingen indessen ernsthaft umher und betrachteten
+das grüne Erdenfleckchen, auf dem unser Haus stehen sollte. Der
+Baumeister war mit uns gekommen. Er war noch jung und ein echter
+Künstler; von allen, bei denen wir gewesen waren, hatte er uns am besten
+verstanden. Ich hielt das Bild des Häuschens in der Hand, das seinen
+Namen trug -- Alfred Messel --, und sah es schon lebendig vor mir, mit
+seinen blumenbesetzten Fensterbrettern und seinem lachenden roten Dach.
+»Ein rotes Dach?« sagte der Baumeister. »Nein! Unter die schwarzen
+Kiefern paßt nur ein graues.« Schwarz und grau? Wie trübe klang das! Ich
+sah ihn erschrocken an, -- mir war auf einmal die Freude vergangen.
+
+»Schwester Alix!« rief es über den Zaun. Ilse stand an der Türe, die
+Hand auf der blitzenden Lenkstange ihres Rades, und neben ihr ein
+großer, überschlanker Mann. Errötend stellte sie ihn vor: »Professor
+Erdmann!« Sie hatte mir schon von ihm erzählt, dem aufgehenden Stern am
+Himmel des Kunstgewerbes, der in den Salons des Tiergartenviertels eine
+Rolle zu spielen begann, und Messel begrüßte ihn wie einen lieben
+Kollegen. Nach ein paar raschen Worten drängte Ilse zum Aufbruch: »Wir
+dürfen die anderen nicht verlieren,« sagte sie. »Ich find' es viel
+hübscher zu zweien,« meinte ihr Begleiter und sah sie mit einem Lächeln
+an, das auf ein tieferes Einverständnis der beiden schließen ließ. Sie
+fuhren davon. Das helle Köpfchen meiner Schwester hob sich empor zu ihm,
+seine lange Gestalt neigte sich zu ihr, -- so flogen sie nebeneinander
+die sonnige Straße hinauf, bis der dunkle Wald sie verschlang.
+
+ * * * * *
+
+»Ottoo -- addaa,« klang es wieder aus dem Wagen heraus, als wir
+heimwärts fuhren. Aber die Händchen grüßten nicht mehr nach rechts und
+links; krampfhaft umspannten sie einen Büschel grünes Gras, und
+unverwandt hafteten die Augen meines Kindes auf dem bunten Käfer, der
+sich gemächlich darin niedergelassen hatte. Auf einmal breitete er seine
+schillernden Flügel aus und flog mit surrendem Geräusch davon; entsetzt
+starrte mein Kind ihm nach, das Gras entfiel den Fäustchen -- ein
+sehnsüchtig-schluchzendes »adda -- adda« kam von dem zuckenden Mündchen,
+und verzweifelt weinte es vor sich hin. Mein Mann lächelte über den
+wilden Schmerz um den entflogenen Käfer. Tut er dem kleinen Seelchen
+nicht ebenso weh, wie wenn die großen Leute um den Verlust ihrer
+Eroberungen trauern? dachte ich und zog meinen Liebling mitleidig in die
+Arme.
+
+ * * * * *
+
+Am nächsten Morgen in aller Frühe kam meine Schwester. Sie wollte mich
+allein sprechen. Ihr heißes Gesichtchen, ihr rascher Atem, drei mühsam
+hervorgestoßene Worte: »ich liebe ihn,« sagten mir genug. »Und die
+Eltern?« fragte ich. »Sie wissen von nichts,« stotterte sie und sah ganz
+verängstigt drein.
+
+Ich dachte an meinen Vater: mit welch verächtlichem Naserümpfen hatte er
+früher über Künstlerehen gesprochen. Sollten für seine Töchter keine
+seiner heißen Wünsche in Erfüllung gehen?
+
+»Du wirst dich auf harte Kämpfe gefaßt machen müssen, --« sagte ich, und
+mein Blick haftete auf ihren kleinen, kraftlosen Händen. »Ich laufe
+davon, wenn Papa es nicht zugibt,« rief sie.
+
+Noch am selben Tage besuchte ich Erdmann. Mein Schwesterchen war einmal
+mein Kind gewesen, sie war es mir von dem Augenblick an wieder, wo sie
+schutzbedürftig vor mir stand.
+
+Als der Mann, den sie liebte, mir in seinem Atelier entgegentrat, war
+mein erstes Gefühl das des Schreckens: wie bleich war er, wie groß und
+schmal, wie seltsam durchsichtig waren seine schlanken, langfingrigen
+Hände. Aber die Art, wie er mit mir sprach, ließ mich über den Menschen
+seine Erscheinung vergessen.
+
+»Ich liebe Ihre Schwester und werde sie heiraten,« antwortete er auf
+meine Frage. »Freilich: Ilse stellte mir eine Bedingung, --« fügte er
+lächelnd hinzu, »du mußt Alix gefallen, sagte sie.«
+
+»Das dürfte weniger schwer sein, als daß Sie ihren Eltern, vor allem dem
+Vater, gefallen müssen,« meinte ich.
+
+»Gegen den härtesten Schädel hat sich noch immer der meine als der
+härtere erwiesen,« entgegnete er.
+
+»Aber Ilse ist weich; ob sie schweren Kämpfen gewachsen sein würde?!«
+
+»Gerade weil sie so zart ist, liebe ich sie, und nehme alle Kämpfe auf
+mich, -- nur ihrer Treue muß ich sicher sein.« Dabei funkelten seine
+Augen. Ein starkes Temperament schien sich hinter den leichten Formen zu
+verstecken; würde die kleine Ilse es ertragen können?
+
+»Sie ist noch sehr jung,« warf ich noch einmal ein. »Um so besser,« --
+ein warmer Glanz echter Freude verschönte seine Züge, -- »wir Künstler
+brauchen leere Leinwand und unbehauenen Stein.«
+
+Vor dem Abschied versprach er mir, sich meiner Mutter zu erklären, damit
+sie imstande sei, den Vater vorzubereiten. Ich ging nachdenklich heim.
+Ilse war ein leicht zu leitendes Kind gewesen, -- fast zu leicht, denn
+mit dem Zuckerbrot der Liebe ließ sie sich willenlos hin- und herführen;
+aber hörte sie auch nur eine Peitsche knallen, so erwachte ein
+unbändiger Trotz in ihr, und in ihren Augen glühte der Haß gegen den,
+der sie meistern wollte. Würde die Liebe dieses Mannes, der nur aus von
+Energie gespannten Nerven und Sehnen zu bestehen schien, die richtige
+Grenze zu finden wissen?
+
+Meine Mutter war zuerst außer sich, als Erdmann sich ihr eröffnet hatte.
+Sie kam zu mir und kämpfte mit den Tränen: »Nun bin ich es wieder, die
+Eurem Vater standhalten muß! Und ich habe es doch so satt!« »Dafür wirst
+du nachher um so mehr Ruhe haben,« suchte ich sie zu beruhigen. Ihre
+schmalen Lippen kräuselten sich, sie hatte wohl ein bitteres Wort auf
+der Zunge, aber sie sprach es nicht aus.
+
+Erdmann verkehrte von nun an bei den Eltern. »Denk' nur, er gefällt
+Papa!« erzählte mir Ilse ganz glücklich, und die Mutter lebte wieder
+auf. Daß der Bewerber ihrer Tochter in guten Verhältnissen war,
+beruhigte sie vor allem. Und auch ich freute mich dessen; meine
+Schwester war ein verwöhntes Prinzeßchen; wie oft hatte nicht die Mutter
+vor ihr gekniet, um ihr die Stiefel zuzuschnüren, damit ihr nur ja der
+Rücken nicht schmerzte! Zu keinerlei Arbeit war sie jemals genötigt
+worden, -- ich selbst hatte ihr nur zu häufig die Schularbeiten gemacht,
+damit das Köpfchen unter den schweren goldenen Flechten nicht gar zu
+müde wurde!
+
+Eines Morgens kam die Nachricht: »Papa hat eingewilligt!« und daneben
+von der Mutter Hand: »Hans war ganz ruhig. Nur als Erdmann fort war, hat
+er sich stundenlang in sein Zimmer eingeschlossen.« Er mußte doppelt
+gelitten haben, da er sich durch keinen Ausbruch seiner Leidenschaft
+mehr zu erleichtern vermochte. Ich konnte mich noch nicht freuen, weil
+ich nur seiner gedachte. Ob ich ihm schreiben dürfte, -- ob ein
+verständnisvolles Wort von mir ihm zu helfen vermöchte?
+
+Im Zoologischen Garten erwartete er täglich mein Kind. Er hatte immer
+die Taschen voll für den Kleinen; war das Wetter schlecht, so ließ er
+ihn zu sich kommen, setzte sich zu ihm auf den Teppich und baute dem
+Enkel Bleisoldaten in Schlachtordnung auf. Und stets ließ er mich
+grüßen, sagte das Mädchen. Er würde einen Brief von mir nicht
+zurückweisen! An einem blauen Bändchen knüpfte ich ihn meinem Jungen um
+den Hals, als er das nächste Mal zu »Apapa« fuhr. Auf dieselbe Weise
+brachte er die Antwort mit zurück:
+
+ »... Hast es richtig getroffen, mein Kind: ein Auge weint, und das
+ andere lacht nicht. Ich muß mich selbst überwinden. Wenn man das
+ Fahrwasser kennt, dann hat die Hoffnung ihr Recht; aber das
+ unbekannte Fahrwasser, in das man sein Letztes lassen muß, das gibt
+ an keiner Stelle Ruhe. Daß Du mich verstanden hast, erfreut mich und
+ macht mich dankbar.
+
+ Dein alter Vater.«
+
+Meine Schwester strahlte vor Glück. Mit jener geistigen Beweglichkeit,
+die ihr von jeher eigen gewesen war, ging sie vollkommen auf im
+Künstlertum ihres Verlobten. Sie schien wirklich die leere Leinwand, der
+unbehauene Stein, aus dem erst unter seinen Händen ein lebendiges Werk
+werden sollte. Selbst ihre Kleidung richtete sie nach seinem Geschmack;
+sie war eine der ersten, die jene malerischen Gewänder trug, wie sie aus
+den Köpfen der jungen Vorkämpfer des aufblühenden Kunstgewerbes
+hervorgingen und von den Frauenrechtlerinnen aus hygienischen, von den
+Malern aus künstlerischen Gründen geschaffen wurden. Jedes Stück ihrer
+künftigen Einrichtung wurde nach den Zeichnungen Erdmanns angefertigt.
+»Oskars Stil entspricht so vollkommen meinem ästhetischen Empfinden,«
+sagte sie, und ihr Blick flog ein wenig hochmütig über unsere Möbel
+hinweg, »daß ich in einer anderen Umgebung nicht leben könnte.« Sie
+hatten nahe dem Kurfürstendamm eine Wohnung gemietet, die nach Erdmanns
+Angaben umgestaltet wurde. Kam das junge Paar mit der Mutter zu uns, so
+drehte sich das Gespräch um die Zukunftspläne mit all ihren reizvollen
+Details. Meine eigenen, die mich so glücklich gemacht, so ganz gefangen
+hatten, traten dabei zurück. »Du willst uns wohl mit eurem Haus
+überraschen, daß du so wenig davon erzählst,« meinte die Mutter einmal
+und ich nickte dazu.
+
+Die Gründe, warum ich schwieg, waren freilich anderer Art. Das Haus, das
+inzwischen immer stattlicher aus der Erde herauswuchs, war zur Quelle
+neuer drückender Sorgen geworden. Wir hatten in unserer naiven
+Unkenntnis aller realen Forderungen des Lebens vorher nicht berechnet,
+daß doch auch während des Baues Zinsen zu zahlen waren, die unser Budget
+auf das Schwerste belasten mußten. Ich wußte oft nicht ein noch aus;
+dabei sah ich, wie mein Mann unter den Verhältnissen litt, und zwar um
+so mehr, je mehr er empfand, daß ich von ihnen betroffen wurde. Machte
+ich einmal irgend eine von der Angst diktierte Bemerkung, so fuhr er
+sich mit der Hand nervös durch das weiche, wellige Haar und sagte mit
+einem gequälten Ausdruck in den Zügen: »Kümmere dich doch nicht darum!
+Überlasse mir all diese Lappalien. Ich werde dir alles aus dem Wege
+räumen.«
+
+ * * * * *
+
+Um jene Zeit kamen die Kinder aus den Ferien zurück. Ich fürchtete mich
+schon davor, denn noch Wochen nachher pflegten sie mir in naivem
+Egoismus zu erzählen, was alles bei ihrer Mutter besser und schöner
+gewesen war. Hörte es Heinrich, so schalt er sie, weil er sah, daß es
+mich kränkte, und eine bleischwere Stimmung herrschte um unseren Tisch.
+Diesmal stürmten sie besonders eilig die Treppe hinauf; -- so freuen sie
+sich doch, nach Hause zu kommen, dachte ich. Wolfgang, der
+Leichtfüßigere, kam zuerst. Kaum ließ er sich Zeit, mich zu begrüßen.
+»Die Mutter läßt dir sagen,« rief er atemlos, »sowas dürfte nicht mehr
+vorkommen. Mützen hatten wir, wie sie in Österreich nur Portiers tragen,
+und Anzüge, über die die Bauernjungens lachten.« Ich fühlte, wie blaß
+ich wurde. Ich hatte sie wie immer für die Reise neu eingekleidet, um ja
+keinerlei Vorwurf auf mich zu laden. Und diesmal war es mir noch
+schwerer geworden als sonst. Bei Tisch fing auch Hans, der stets
+zurückhaltender war, zu erzählen an. »Warmes Abendessen ist viel
+gesünder, meint die Mutter,« sagte er, »und es schmeckt auch besser als
+immer bloß Wurst.«
+
+Ich war so überreizt, daß ich mit den Tränen kämpfte, und als am
+nächsten Morgen auch noch ein Brief aus Wien kam, in dem mir die Mutter
+der Kinder über meine unzureichende Erziehung allerlei Vorhaltungen
+machte, war es zu Ende mit meiner Selbstbeherrschung. Konnte ich die
+Kinder denn überhaupt erziehen, wo ich ständig fürchtete, von ihnen als
+die böse Stiefmutter angesehen zu werden und damit jeden Einfluß zu
+verlieren?! Konnte ich sie strafen, wo ich wußte, daß sie sich bei der
+eigenen Mutter darüber beklagen würden?! Ich zeigte Heinrich den Brief
+und schüttete ihm, nicht ohne mich selbst all meiner versäumten
+Pflichten anzuklagen, mein Herz aus.
+
+»Und das alles sagst du mir erst jetzt?« rief er. »All den Kummer
+schleppst du mit dir herum und sprichst dich nicht aus?« Er schlang den
+Arm um mich und küßte mir die Tränen aus den Augen. »Hier muß gründlich
+Wandel geschaffen werden, um deinetwillen ...« »Vor allem um der Kinder
+willen, Heinz,« unterbrach ich ihn; »so gut geartet, wie sie sind, --
+schließlich müssen sie Schaden leiden.« Wir berieten, was zu tun sei.
+
+In früheren Jahren hatte die Mutter wiederholt versucht, ihre Söhne bei
+sich zu behalten, aber immer wieder hatte Heinrich sie zurückgefordert.
+»Wie konntest du?!« sagte ich leisem Vorwurf. »Kinder gehören zur
+Mutter!« »Ich war sehr einsam, sehr liebebedürftig; ich hatte im
+Scheidungsprozeß mit Nägeln und Zähnen um die Kinder gekämpft,«
+antwortete er. »Jetzt aber ist die arme Frau viel einsamer als du, --«
+»-- sie zu bemitleiden, habe ich keinen Grund,« entgegnete er hart, »sie
+war es, die zuerst ihre Kinder im Stiche ließ! Jetzt darf nur die
+Rücksicht auf dich und auf das Wohl der beiden Buben den Ausschlag
+geben.«
+
+In der Nacht nach unserem Gespräch warf sich Heinrich im Bett schlaflos
+hin und her; im ersten Morgengrauen stand er leise auf, und ich hörte,
+wie er im Zimmer nebenan auf und nieder ging. Ich hätte doch nichts
+sagen sollen, dachte ich angstvoll. Er sah müde und vergrämt aus, als er
+wieder zu mir hereinkam.
+
+»Ich habe mich entschlossen, ihr die Kinder anzubieten,« sagte er.
+
+»Wollen wir nicht doch lieber alles beim alten lassen, -- ich sehe
+vielleicht nur zu schwarz,« warf ich ein.
+
+Ich dachte an die Stunde, da er mir mit der Bitte, sie recht lieb zu
+haben, seine Söhne anvertraut hatte. Er sah so finster drein! Jähe
+Furcht beschlich mich um meinen kostbaren Besitz: seine Liebe. Aber er
+blieb bei dem einmal gefaßten Beschluß.
+
+Sein Anwalt schrieb in seinem Auftrag nach Wien. Die Antwort war keine
+rückhaltlos zustimmende: jede Verbindung, so wünschte die Mutter, sollte
+zwischen den Söhnen und dem Vater abgebrochen werden, sobald sie ihr
+Haus betreten würden. Wochenlang zogen sich die Verhandlungen hin, und
+die Korrespondenz nahm eine immer erbittertere Form an. Ich konnte nicht
+mehr mit ansehen, wie Heinrich litt, und all die Selbstvorwürfe, die
+mich quälten, nicht mehr ertragen.
+
+Eines Abends benutzte ich meines Mannes Abwesenheit und fuhr mit dem
+Nachtzug nach Wien. Vom Hotel aus meldete ich mich bei der Mutter der
+Kinder an. Herzklopfend stieg ich die steinernen Stufen hinauf. In einem
+Salon mit schweren Renaissancemöbeln empfing sie mich, eine schlanke,
+dunkle Frau mit scharf geschnittenen, fast männlichen Zügen. Sie gab mir
+nicht die Hand, sie zögerte offenbar, mir auch nur einen Stuhl
+anzubieten.
+
+»Ich komme, weil ich hoffe, daß eine mündliche Besprechung leichter zum
+Ziele führen wird,« begann ich.
+
+»Er schickt Sie?« Ihre Stimme hatte einen merkwürdig leblosen, kalten
+Ton, als käme sie weit her aus dunkler Tiefe.
+
+»Nein! Ich reiste ohne sein Wissen. Wir Frauen, meine ich, werden uns
+verständigen, -- mit einigem guten Willen natürlich, -- denn zwischen
+uns steht nichts --«
+
+»Meinen Sie wirklich, daß zwischen uns nichts steht?!« Ein Blick voll
+Haß streifte mich. »Meine Kinder stehlen Sie mir!«
+
+»Ich?! --« Aufs Äußerste erstaunt sah ich sie an. »Ich, die ich sie
+Ihnen wiederbringe?!« Aber sie hörte nicht auf mich. In
+leidenschaftlicher Erregung kamen die Worte, sich überstürzend, von
+ihren Lippen: »Habe ich nicht in diesem letzten Sommer tagtäglich hören
+müssen: 'Die Mama erlaubt das alles, -- die Mama straft uns nicht, --
+die Mama schenkt uns dies und jenes'?! Und jetzt soll ich vielleicht
+erleben müssen, daß meine eigenen Kinder sich fort wünschen von mir?
+Oder jedesmal unzufrieden heimkehren, wenn sie, wie ihr Vater es
+wünscht, zu den Ferien in Berlin gewesen sind?!«
+
+Ich verstand sie, -- so hatte ich auch ihr unbewußt Böses getan! »Sie
+wissen, mein Mann hat für das erste Jahr schon auf ein Wiedersehen
+verzichtet,« antwortete ich.
+
+»Das ist aber auch das Allermindeste, was ich verlange! Im übrigen --,«
+sie nahm wieder den alten eisigen Ton an und zwang sich zur Ruhe, »muß
+ich umziehen, ehe die Kinder kommen. Sie sehen hier meine Wohnung --,«
+sie wies nach dem Eßzimmer nebenan, »ich habe keinen Platz für sie.«
+
+Keinen Platz für die eigenen Kinder?! Sie schien zu fühlen, was ich
+empfand, denn rasch fuhr sie fort: »Ich wünsche, daß die durch Unordnung
+sowieso schon genug geschädigten Buben gleich in ein regelmäßiges Leben,
+eine zu ernster Arbeit gestimmte Häuslichkeit kommen.«
+
+»Und wann, meinen Sie, dürfte das sein?« Drängte ich. »Die Situation ist
+für alle Teile unerträglich!«
+
+Sie lächelte: »Finden Sie? Ich habe Schlimmeres ausgehalten!« Tiefe
+Falten gruben sich auf ihre Stirn, um ihre Mundwinkel. Wieder streifte
+mich ein Blick, -- zum Fürchten. »Warten Sie nur, bis Sie fünf, sechs
+Jahre mit ihm gelebt haben werden!«
+
+Ich erhob mich, -- fast wäre der geschnitzte Stuhl bei meiner raschen
+Bewegung zu Boden geglitten. Hier hatte ich nichts mehr zu tun. Sie
+geleitete mich hinaus. Und als müßte sie mir zuletzt noch ihren Haß
+fühlen lassen, sagte sie: »Ich werde schwere Mühe haben, -- die Kinder
+sind zu schlecht erzogen.«
+
+Ich dachte an die Buben, -- an ihre lustigen Knabenstreiche, an die
+ungebundene Freiheit, die sie genossen. Noch ein gutes Wort wollte ich
+bei der strengen Frau für sie einlegen und sagte bittend: »Sie werden
+ihnen nicht zu plötzlich die Wandlung fühlen lassen?«
+
+»Wie können Sie sich erlauben --?!« rief sie fassungslos. »Wer ist hier
+die Mutter: Sie oder ich?!«
+
+Krachend fiel die Flurtüre hinter mir zu. In der nächsten Nacht fuhr ich
+nach Berlin zurück. Nicht das mindeste glaubte ich erreicht zu haben.
+Ein Brief des wiener Anwalts folgte mir auf dem Fuße. Er enthielt den
+unterschriebenen Vertrag und übermittelte den Wunsch, den Kindern möchte
+die Reise nach Wien nur als ein Besuch dargestellt werden, »damit sie
+gerne kommen.«
+
+Das war ein Jubel: Der Schule entrinnen, -- und eine Reise nach Wien!
+Wir brachten sie zur Bahn und sahen den strahlenden Gesichtern nach, die
+grüßend aus dem Kupeefenster nickten, bis der Zug unseren Blicken
+entschwand.
+
+ * * * * *
+
+Kaum drei Wochen später kehrten sie zurück, -- still und blaß. Wolfgangs
+rundes Kindergesicht war schmal geworden, in Hans' dunkeln Augen hatte
+sich der Ausdruck von Melancholie noch vertieft. Ihr Aufenthalt in Wien
+war wirklich nur ein Besuch gewesen. Ob die einsame Frau das Glück nicht
+ertragen hatte? Ob die Forderungen eines Lebens für andere sie erdrückt
+haben mochten? In die größte, die letzte Einsamkeit hatte sie plötzlich
+der Tod entführt.
+
+Aber noch darüber hinaus wirkte ihr Haß: das Testament bedrohte die
+Kinder mit Enterbung, wenn sie im Hause des Vaters bleiben würden. Und
+so mußten sie wieder fort, da sie der Wärme, der Liebe am meisten
+bedurften.
+
+Von einer neuen Schule im Harz hatten wir erfahren, wo die Jugend in
+schöner Abwechselung von Spiel und Arbeit, von der Übung körperlicher
+und geistiger Kräfte sich frei und fröhlich zu entwickeln vermag, einer
+Schule, deren Leiter den Mut hatte, dem Geist engherzigen Preußentums
+den Eintritt bei sich zu verwehren. Dorthin brachten wir sie. Es war das
+beste, das wir hatten finden können, und doch so schrecklich wenig für
+die, denen die Mutter gestorben war.
+
+ * * * * *
+
+Nun war es still bei uns im Hause. Ottochen, der sich inzwischen auf
+seinen eigenen Füßchen zu bewegen gelernt hatte, lief im Zimmer der
+Brüder von Stuhl zu Stuhl, guckte in die Schränke und unter die Betten
+und rief vergebens »Wof« und »Ans«. Zuerst weinte er, weil sie nicht
+kamen, um mit ihm zu »pielen«, dann erinnerte er sich ihrer nur noch,
+wenn er auf meinem Schoß am Schreibtisch saß und ich ihm ihre Bilder
+zeigte. Er war ein unbändiger kleiner Kerl, der nie lange an einem Platz
+aushielt. Ein Sonnenstrahl im Zimmer, eine Fliege am Fenster,
+Hundegebell und Pferdegetrappel auf der Straße, -- alles erregte seine
+brennende Neugierde; wenn aber gar Soldaten vorübermarschierten, so
+zappelte er mit Händen und Füßen vor Freuden, und rief, so laut er
+konnte: »Daten! daten!«
+
+Seitdem der Großvater sich dem Enkel zu Liebe einmal in die alte
+Generalsuniform gezwängt hatte, ging er noch einmal so gern in die
+Ansbacherstraße. »Apapa Dat, Apapa Dat,« hatte er mir mit erstaunten
+Augen und einem Ausdruck von Ehrfurcht in dem Gesichtchen damals
+erzählt. Und »Apapa dehn!« schrie er mit Stentorstimme, wenn wir nicht
+ruhig genug mit ihm spielten.
+
+Eines Abends im Herbst kam meine Mutter und erzählte mir, der Vater habe
+heute, ohne sie zu fragen, die Wohnung gekündigt. »Er will im Grunewald
+mieten,« fügte sie hinzu, »um Ottochen nahe zu sein.« Mir wurden die
+Augen feucht: so ersetzte ihm der Enkel die Tochter, die er verloren
+hatte.
+
+Kurze Zeit darauf bekam ich einen Brief von ihm:
+
+ »Liebes Kind! denke doch nicht, daß es mir genügt, Deinen Jungen bei
+ mir zu sehen. Alte Leute brauchen viel Wärme, darum sagte ich
+ Ottochen heute, daß er Papa und Mama das nächste Mal mitbringen soll.
+ Er sah mich so ernsthaft an, daß ich glaube, er hat mich verstanden.
+
+ Dein treuer Vater.«
+
+Und so trat ich mit meinem Kind auf dem Arm in die alte Wohnung. Die
+Schwester kam mir entgegen: »Nun wird meine Hochzeit erst ein richtiges
+Fest für mich sein,« sagte sie und küßte mich stürmisch. Sie öffnete die
+Tür zum Zimmer des Vaters. »Er kommt gleich,« flüsterte sie und lief
+davon. Ich mußte mich setzen; die Kniee zitterten mir. Alles hatte ein
+Gesicht, ein liebes, vertrautes: die verblichenen Sessel, die so
+einladend die Armlehnen nach mir ausstreckten, der alte, grüne Teppich,
+der sich warm und weich unter meine Füße schmiegte, die dunkeln Bilder
+an der Wand, die zu lächeln schienen. Auf dem Schreibtisch lagen wie
+einst in Reih und Glied die sorgfältig gespitzten Bleistifte und die
+Gänsefedern, die der Vater sich selbst zu schneiden pflegte, und der
+»Soldatenhort«, für den er schrieb. Und in der Ecke -- die alte
+Reiterpistole! Aus dem Zimmer war ich einmal geflohen vor ihr. -- Der
+sie auf mich gerichtet hatte, rief mich heut zurück! Nein, -- mich
+nicht! Nur dieses süßen blonden Kindes Mutter!
+
+Die Türe ging auf. »Apapa!« rief der Kleine und streckte ihm die Ärmchen
+entgegen. Im nächsten Augenblick fühlte ich uns beide umfaßt: Die Lippen
+zitterten, die meine Stirn berührten. »Wir wollen einander nicht weich
+machen, Alix,« sagte er leise. »Wir wollen so tun, als wärst du gar nie
+weg gewesen.«
+
+Von nun an sahen wir uns oft. Mühsam, mit schwerem Atem, auf jedem
+Treppenabsatz minutenlang innehaltend, kam er immer häufiger zu uns
+herauf, und meist um die Stunde, die er früher im Kasino zuzubringen
+pflegte. Er hatte stillschweigend auch diese alte Gewohnheit aufgegeben,
+und als die Mutter ihn darnach fragte, sagte er: »Was soll ich mich
+jetzt noch über Menschen und Zeitungen ärgern?!«
+
+Mein Mann, der sich nie als »Schwiegersohn« fühlte, sondern stets sehr
+zurückhaltend, sehr förmlich blieb, gefiel ihm. »Du ahnst ja kaum, wie
+der Frieden auf mich wirkt,« schrieb er mir einmal. »Ich bin Dir die
+Erklärung schuldig, daß dein Mann, dessen vollendeter Takt mir so
+wohltuend ist, ganz auf mich zählen kann.«
+
+Zuweilen fuhr er mit uns in den Grunewald, wo er zum Frühjahr in unserer
+Nähe eine Wohnung gemietet hatte. Er strahlte vor Freude, wenn er unser
+Häuschen wachsen und werden sah.
+
+»Wie mich das glücklich macht, dich so ohne Sorgen zu wissen,« sagte er
+zu mir, während er unermüdlich über die Balken kletterte und jeden Raum
+in Augenschein nahm. Dann drückte er Heinrich die Hand: »Daß du meiner
+Alix solch eine Heimat schaffst!«
+
+Draußen im Garten freute ihn jeder Strauch, der gepflanzt wurde. »Hier
+muß Ottochen einen großen Sandhaufen haben,« -- meinte er, »und eine
+Schaukel und eine Kletterstange, damit seine Muskeln straff werden.
+Daneben aber baut mir eine Laube, in der ich im Sommer, ohne euch zu
+stören, sitzen und mit meinem Jungen spielen kann.«
+
+ * * * * *
+
+An einem dunkeln Spätherbsttag, kurz vor der Hochzeit meiner Schwester,
+kam ich nach Hause. »Exzellenz ist beim Kleinen,« sagte das Mädchen. Ich
+nickte lächelnd. Ottochen war nicht ganz wohl und durfte des schlechten
+Wetters wegen nicht ausgehen. Nun kam der Großvater zu ihm. Ich trat in
+sein Zimmer. Auf dem Teppich saß mein Kind, vertieft in die neuen
+Soldaten, die ihm »Apapa« mitgebracht haben mochte; im Lehnstuhl lag der
+Vater tief zurückgelehnt und schlief. Der sonst so lebhafte Junge
+bewegte sich leise zwischen dem Spielzeug und sah erschrocken auf, als
+ich näher trat. »Pst, pst!« machte er und legte ein Fingerchen auf die
+Lippen. »Apapa baba!«
+
+Der graue Schatten des frühen Abends kroch durch die Fenster. Schwer lag
+er über den Zügen des Schlafenden, verwischte jede Lebensfarbe, ließ
+jede Falte tiefer erscheinen. Ich faltete unwillkürlich die Hände: Wie
+alt, wie blaß, wie müde sah er aus! Und war doch ein so starker Mann
+gewesen und den Jahren nach kein Greis! Ich sank in die Kniee und küßte
+die herabhängende Hand. Der Kummer um mich war es gewesen, der ihm ein
+Stück seines Lebens gekostet hatte.
+
+ * * * * *
+
+Ende November wurde Ilse im Elternhaus mit Oskar Erdmann getraut. Nur
+die nächsten Verwandten waren geladen worden, und auch von ihnen hatten
+manche abgesagt, als sie erfuhren, daß wir zugegen sein würden. Meine
+Schwester sah aus wie eine Frühlingselfe. Alles Licht im Raum ging von
+ihren goldenen Haaren aus, deren Glanz selbst der keusche Brautschleier
+nicht zu dämpfen vermochte. Erdmann schien mir noch schmaler als sonst.
+Ein unbestimmtes Angstgefühl beschlich mich. Meiner Schwester »Ja!«
+klang so froh, so hell an mein Ohr, daß es die Sorge verscheuchte. Als
+aber der Geistliche sich fragend an ihn wandte, verschlang ein rauher
+Husten, unter dem ich seinen Rücken beben sah, seine Antwort. Mir war,
+als wechselten seine Geschwister, die neben uns standen, einen
+erschrockenen, vielsagenden Blick. Doch wie das junge Paar sich uns
+zuwandte, überstrahlte ihr Glück auch diesen Eindruck.
+
+Vor der Hochzeitstafel überkamen mich alte Träume. Sie stiegen aus den
+schlanken Kelchen, die einst aneinanderklangen, während Walzermelodien
+mich umrauschten, sie schimmerten in den silbernen Jardinieren, in denen
+so viel Rosen, -- duftende Zeugen meiner Balltriumphe --, verblüht
+waren.
+
+Jemand schlug ans Glas. Nun, wußte ich, wird meines Vaters klare Stimme
+die Luft in rasche Schwingung versetzen, sein Geist und sein Witz wird
+alle bezaubern, und alle verdunkeln, die nach ihm reden werden.
+Erwartungsvoll sah ich ihn an.
+
+Seine Finger zerdrückten unruhig die Serviette, seine Lippen öffneten
+sich einmal -- zweimal, bis daß ein Ton sich ihnen entrang, der rauh und
+heiser war. Und dann sprach er, -- langsam, schwerfällig, wie
+eingelernt. Meine Erwartung verwandelte sich in Staunen, mein Staunen in
+Angst. Seine Hand hob sich wie zu einer jener alten Gesten, die so
+wirksam zu unterstreichen pflegten, was er sagte, -- gleich darauf sank
+sie schlaff herab, die Lippen zuckten, -- der begonnene Satz zerriß; --
+eine qualvolle Pause; -- dann griff er hastig nach dem Kelchglas, hob es
+empor, wobei die Tropfen zitternd über den Rand spritzten: »Die Familie
+Erdmann lebe hoch -- hoch -- hoch!« -- In den Stuhl sank er zurück;
+seine Augen wanderten wie um Verzeihung bittend von einem zum anderen,
+und als sein Blick den meinen traf, sah ich die Träne, die ihm in den
+Wimpern hing.
+
+ * * * * *
+
+Im Winter ging es meinem Vater Woche um Woche schlechter. Es duldete ihn
+nicht im Hause; schon früh trieb ihn eine unerklärliche Unruhe fort;
+versuchte die Mutter, ihn zurückzuhalten, so setzte er ihren Bitten
+einen so heftigem Widerstand entgegen, daß sie ihn gehen lassen mußte.
+Er besuchte meine Schwester und schleppte sich bis zu uns herauf, obwohl
+es ihm täglich schwerer wurde. Es war, als ob er das Alleinsein mit der
+Mutter nicht ertrüge. Nur wenn sein Enkel bei ihm war, wich seine innere
+Unruhe einem Ausdruck stillen Friedens. Zuweilen verließ ihn das
+Gedächtnis, dann nannte er den Kleinen »Alix« und war noch zärtlicher zu
+ihm als sonst. Einmal kaufte er eine Puppe, um sie »Alix« zu schenken;
+als ihn die Mutter auf den Irrtum aufmerksam machte, geriet er in helle
+Wut. »Alle Freude willst du mir verderben,« schrie er und sprach
+stundenlang nicht mit ihr. Irgendeine Pflege duldete er nicht; er schloß
+sich im Schlafzimmer ein, wenn der Arzt kommen sollte.
+
+Ich sah, wie meine Mutter sich mühte, ihm alles recht zu machen. Aber
+die Sorgfalt, mit der sie ihn umgab, hatte etwas Kühles, Fremdes, -- als
+ob das Herz nicht dabei wäre. Sie litt unter seiner Heftigkeit; es kam
+vor, daß ihre starre Selbstbeherrschung zusammenbrach; dann weinte sie
+bitterlich, aber es waren Tränen des Zornes, nicht des Leides. »Er ist
+so böse zu mir, so böse!« kam es krampfhaft zwischen ihren fest
+geschlossenen Zähnen hervor. Hilflos stand ich vor der Offenbarung der
+Ehetragödie meiner Eltern. Manches Erlebnis, das meine Jugend verbittert
+hatte, tauchte in der Erinnerung wieder auf, und ich fand jetzt den
+Schlüssel dazu.
+
+»Die Ehe hat sie zerstört,« sagte ich zu meiner Schwester, als wir
+darüber berieten, wie ihnen vielleicht noch zu helfen sei.
+
+»Ja, -- das glaube ich gern,« antwortete sie mit einem grüblerischen
+Ausdruck, der ihrem weichen Gesichtchen sonst fremd war.
+
+Ich horchte auf; -- kaum zwei Monate war sie verheiratet! Von da an
+führte mein Weg, wenn ich zu den Eltern ging, regelmäßig bei ihr
+vorüber. Ich hatte sie in ihrem jungen Glück nicht stören wollen, jetzt
+trieb mich die Sorge, zu sehen, ob es nicht schon gestört war. Aber ich
+fand sie stets heiter inmitten ihrer schönen Häuslichkeit, die in Formen
+und Farben so harmonisch zusammenstimmte, daß eine Vase, ein
+Blumenstrauß schon störend zu wirken vermochte, wenn sie nicht in
+bewußtem Einklang damit gewählt worden waren. Und ich fand ihren Mann
+zärtlich um sie besorgt, -- in einer Art freilich, die ich nicht
+vertragen hätte, die der Natur Ilsens aber zu entsprechen schien. Er
+bestimmte ihre Kleidung, er beaufsichtigte die Hauswirtschaft, er
+ordnete den Tisch, wenn Besuch erwartet wurde. Und alles nahm unter
+seiner Hand den Charakter seines Künstlertums an: der Vornehmheit, die
+jedes äußeren Schmuckes entbehren konnte, weil sie das Wesen des
+Materials zu reinstem Ausdruck brachte; der jedem lauten Ton abholden
+Ruhe, die wie Sonnenuntergang am Tage durch die orangeseidenen Vorhänge
+klang und am Abend in den Falten der grünen, die sich darüber breiteten,
+träumte; und der Liebe zur Natur, die sich in allem, was ihn umgab,
+widerspiegelte, -- in den dunkelroten Kastanienblättern der Tapete, den
+zarten Pflanzen- und Vögelstudien japanischer Stiche, dem Wandteppich
+mit dem stillen Waldbach, auf dem die Schwäne ziehen. Es war gut sein
+bei ihnen, und wer davon ging, dem kam die Welt draußen doppelt häßlich,
+unharmonisch, laut und herzlos vor. Aber es ging auch etwas wie eine
+Lähmung von dieser Umgebung aus, etwas, das vom wirklichen Leben
+gewaltsam abzog.
+
+Die Gäste des Hauses entsprachen dieser Stimmung; keine der Fragen, die
+uns bewegten, traten mit ihnen über seine Schwelle. Die Kunst stand im
+Mittelpunkt all ihres Denkens und Fühlens; nicht jene nebenabsichtslose,
+die wächst wie ein Baum, gleichgültig, ob nur einsame Wanderer ihn
+finden, oder ob Scharen unter seinem Schatten ruhen, sondern jene
+märchenhafte Treibhausblume, die nur für die Auserwählten gezogen wird.
+Sie vertraten alle den Individualismus, aber hinter ihrer Forderung der
+höchsten Kultur des Individuums verbarg sich nur sein Kultus. Man sprach
+mit halber Stimme, man las Bücher, die in numerierten Exemplaren nur für
+einen kleinen Kreis von Freunden gedruckt wurden; am Flügel saß häufig
+ein katholischer Priester, der in dem milden Wachskerzenlicht des
+zartgetönten Salons Palestrinas feierliche Weisen ertönen ließ.
+
+Dieselbe Atmosphäre, die sich weich um die Stirne legt, herrschte hier,
+wie im Theater, wo Hofmannsthals Hochzeit der Sobëide jenen
+Haschichrausch hervorrief, der der Welt entrückt. Und am Ende des
+Jahrhunderts jauchzte die Jugend den neuen Göttern ebenso stürmisch zu,
+wie wir die Ibsen und Gerhart Hauptmann empfangen hatten. Flüchteten die
+Menschen nur im Gefühl ihrer Schwäche aus der Wirklichkeit, oder waren
+nicht unter denen, die sich abseits des rauhen Lebens in einem weißen
+Tempel versteckten, auch solche, die als geweihte Priester der
+Menschheit wieder aus ihm hervorgehen werden?
+
+Ich hätte die Frage nicht entscheiden können, aber mein Optimismus
+glaubte gern an Keime neuen Werdens, wo andere Fäulniserscheinungen
+sehen. Auch Erdmanns Persönlichkeit berechtigte dazu. Er selbst wurzelte
+zu bewußt im Boden der Erde, als daß er seine Kunst ihr hätte entreißen
+können. Er behandelte die jungen Männer, die seine genial geknoteten
+Krawatten nachahmten, von seinem tiefsten Wesen aber wenig wußten, mit
+leiser Ironie. Die l'art pour l'art-Devise war für ihn nicht das Letzte.
+
+»Wir müssen den Snob benutzen,« sagte er, als wir einmal unter uns
+waren, »um allmählich zum Volk zu kommen. Es ist mit dem Kunstgewerbe
+wie mit der Mode: Das Neueste ist zuerst ein Vorrecht der Wenigen und
+nach einem Jahr die Gewohnheit der Massen.« Lebhaft hin- und hergehend
+setzte er uns dann seine Zukunftspläne auseinander: Handwerkerschulen
+wollte er schaffen, in denen nicht alte Klischees immer wieder benutzt
+werden, sondern die neuesten und schönsten Errungenschaften der Kunst zu
+Mustern dienen.
+
+»Es ist bewundernswert, wie verständnisvoll all die kleinen Handwerker,
+die ich jetzt schon zusammengesucht habe, meinen Ideen entgegenkommen.
+Sie sind in ihrem Geschmack weniger verdorben, sie haben vor allem weit
+mehr Gefühl für das Material, das sie bearbeiten, als die meisten
+unserer Kunstgewerbetreibenden, die vor lauter theoretischem Wissenskram
+jede persönliche Stellung zu den Dingen verloren haben --.« Ein heftiger
+Hustenanfall unterbrach ihn, rote Flecken zirkelten sich auf seinen
+eingefallenen Wangen ab. Meine Schwester erblaßte, lief hinaus und
+brachte ihm eine Tasse Tee, die er entgegennahm, wie etwas längst
+Gewohntes. »Der berliner Winter, -- dies ekelhafte Regenwetter --,«
+sagte er dann und lehnte sich müde in den Stuhl zurück, während seine
+Brust sich noch krampfhaft hob und senkte. »Ich war um diese Zeit immer
+im Süden --,« fügte er halblaut wie zu sich selbst hinzu.
+
+Wir gingen. Meine Schwester begleitete uns bis zur Tür. Ich sah sie
+fragend an. Sie nickte, um ihren Mund zuckte es verräterisch: »Ich weiß,
+-- wir sollten fort, aber er will nicht. Er kann seine Arbeiten nicht im
+Stiche lassen, sagte er. Aber später, in Jahr und Tag, wenn er sehr viel
+verdient haben wird, --« dabei lächelte sie wieder hoffnungsvoll, --
+»dann wollen wir reisen --« »Ilse!« klang es ungeduldig von innen. Sie
+fuhr erschrocken zusammen: »Nun wird er wieder böse sein!« und lief,
+sich hastig verabschiedend, hinein.
+
+Wochenlang war er an das Zimmer gefesselt. Nun ging meine Mutter
+zwischen dem Mann und dem Schwiegersohn unermüdlich hin und her.
+»Ilschen ist viel zu zart für solch eine Pflege,« meinte sie, während
+sie selbst dabei immer magerer wurde. Bat ich sie, sich zu schonen, so
+hatte sie nur die eine Antwort: »Solange mir Gott Pflichten auferlegt,
+habe ich sie zu erfüllen.« Dabei rückte der Umzugstermin näher; er mußte
+pünktlich inne gehalten werden, denn die Wohnung der Eltern war
+vermietet. In der Nacht, wenn der Vater schlief, kramte und packte die
+Mutter, um ihn nur ja bei Tage damit nicht zu stören.
+
+Bei uns sah es ähnlich aus, denn unser Häuschen war inzwischen fertig
+geworden, und der Tag des Einzugs war festgesetzt. Aber die Freude
+fehlte, mit der ich ihm vor Monaten entgegengesehen hatte.
+
+»Sind wir erst draußen, so wird alles gut werden,« versicherte mir
+Heinrich immer wieder, wenn meine sorgenvollen Mienen ihm meine Stimmung
+verrieten. »Glaubst du, daß wir Taler von den Kiefern schütteln können,
+wie das Kind im Märchen?« antwortete ich. »Wertvollere jedenfalls,«
+meinte er gereizt. »Deines Kindes und deine Gesundheit, deine
+Arbeitskraft sind doch wohl wichtiger, als die paar blauen Lappen, die
+du momentan vermißt.« Ich zuckte die Achseln. Die Sorgen waren ja meine
+Krankheit, und sie gedeihen auch in der besten Luft.
+
+ * * * * *
+
+Hans geht es schlecht, kommt bitte gleich --« Meine Mutter schickte
+diese Zeilen. Wir fuhren in die Ansbacherstraße. Auf seinem Lehnstuhl
+saß der Vater, halb angezogen, mit blaurotem Gesicht und
+blutunterlaufenen Augen. Gepackte Kisten standen umher, öde starrten uns
+die vorhanglosen Fenster entgegen, grauer Staub lag auf den abgeräumten
+Tischen.
+
+»Ich will nicht zu Bett, -- ich will nicht,« stöhnte der Kranke. Der
+Mutter liefen die Tränen über die abgehärmten Wangen.
+
+»Er stößt mich zurück, wenn ich ihm helfen will,« flüsterte sie. Der
+Arzt trat ein. Mit gewaltsamer Anstrengung erhob sich der Vater, stützte
+sich mit beiden Händen auf den Tisch vor ihm und schrie, während die
+Augen ihm aus den Höhlen zu treten schienen: »Hinaus -- hinaus! Ich mag
+keinen Quacksalber!« --
+
+Dann brach er zusammen, krallte die Hand in die linke Seite, -- langsam
+wich die Farbe aus seinen Zügen; willenlos ließ er sich ins Schlafzimmer
+führen, den Kopf tief gesenkt, schwankend, mit kleinen, unsicheren
+Schritten. Im Bett lag er ganz still. Nur die Augen, die merkwürdig groß
+und klar geworden waren, sprachen, was die Lippen nicht sagen konnten.
+
+Während Heinrich und Erdmann von den neuen Mietern der Wohnung, die sich
+zu einem Aufschub des Einzugs nicht verstehen wollten, zum nächsten
+Krankenhaus fuhren, um die Übersiedlung dorthin vorzubereiten, und die
+Mutter mit Ilsens Hilfe draußen das Notwendigste zusammenpackte, war ich
+allein bei dem Kranken.
+
+Wir redeten miteinander. Seine Augen bohrten sich forschend in meine
+Züge. »Du kannst ruhig, -- ganz ruhig sein, lieber Papa. Ich bin
+vollkommen glücklich --,« versicherte ich. Sie leuchteten auf, um sich
+gleich darauf in jäher Angst, halb geschlossen, wieder auf mich zu
+richten. »Ich liebe dich, Papa, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben,«
+antwortete ich mit tränenerstickter Stimme. Um seine blassen Lippen
+zuckte ein leises Lächeln, seine schwache Hand versuchte, die meine zu
+umschließen, die Lider deckten sekundenlang die stahlblauen Pupillen, --
+dann zuckten sie schreckhaft wieder empor. Eine einzige, ungeheure,
+verzweifelte Frage starrte aus diesen Augen, in die das ganze Leben sich
+zu einer letzten Zuflucht zusammendrängte. Ich verstand. Vorsichtig
+löste ich meine Hand aus der seinen und ging hinaus -- »Mama!« rief ich
+leise. Sie kam. Ich sah noch zwei Hände, die sich zitternd ihr
+entgegenstreckten, -- dann zog ich die Türe hinter mir ins Schloß ...
+
+Als der Krankenwagen vorfuhr, trat sie aus dem Zimmer, bleich,
+regungslos, wie versteinert. »Er schläft,« sagte sie. Ich beugte mich
+über ihn: wie ein Hauch schwebte der Atem nur noch von seinen Lippen.
+Die Augen waren geschlossen, das Gesicht weiß und still, beherrscht von
+einem Ausdruck feierlichen Ernstes.
+
+ * * * * *
+
+Zu Hause lief mir mein Kind entgegen. »Apapa dehn!« schrie es
+ungeduldig. Es war die Stunde seiner täglichen Ausfahrt. Ich schüttelte
+traurig den Kopf. Da fing es an herzbrechend zu schluchzen.
+
+ * * * * *
+
+Noch zwei Tage atmete der Sterbende. Mit einer Ruhe, von der ich nicht
+wußte, ob ich sie bewundern oder mich vor ihr entsetzen sollte, ordnete
+die Mutter alles an, als wäre er schon gestorben.
+
+Angstvoll sah ich hinüber zu dem starren Gesicht in den weißen Kissen.
+»Er ist ohne Bewußtsein,« hatte der Arzt versichert. Zuweilen aber
+schien mir, als hörte er noch, als sähe er mit geschlossenen Augen, als
+ginge ein Beben durch seinen Körper.
+
+In der dritten Nacht starb er.
+
+ * * * * *
+
+Droben an der Hasenhaide, wo der Riesenleib der Stadt sich gigantisch
+den Hügeln zu Füßen hinstreckt und der Sturm ungehindert durch die alten
+Bäume pfeift, ist die letzte Garnison der Soldaten. Von den
+Schießständen grüßen die Flintenschüsse herüber, von den Kasernenhöfen
+die Trompetensignale, und vom Tempelhofer Feld klingen zuweilen die
+Kriegsmärsche in den Frieden des Kirchhofs.
+
+Dorthin trugen alte Regimentskameraden den Sarg, in dem der Tote
+schlief, gehüllt in den Mantel, der in allen Feldzügen sein
+unzertrennlicher Begleiter gewesen war. Es war ein stilles Begräbnis.
+Für die alten Freunde war er gestorben, als er sich mit mir, der
+Abtrünnigen, versöhnte.
+
+Auch der Kaiser hatte des Mannes vergessen, der seinem Ahnherrn in
+Frankreichs blutgetränkter Erde die Krone des deutschen Reiches erobern
+half.
+
+ * * * * *
+
+Acht Tage später verließen wir die Wohnung, in der die Sonne durch alle
+Fenster hatte fluten können, in der mein Sohn geboren worden war. »Ottoo
+-- addaa --« jauchzte er wieder, als wir davonfuhren; aber die Fenster
+des Wagens waren geschlossen, und der Frühlingsregen peitschte an das
+Glas. Im Walde draußen empfing uns die neue Heimat: Unter dem tiefen
+grauen Dach unseres Hauses schauten die kleinen Fenster wie Augen unter
+schattenden Wimpern hervor, geheimnisvoll lockend und feindselig
+abwehrend zurück. Darüber wiegten die Kiefern ihre schwarzen Kronen. Es
+war wie ein Stück der stillen, ernsten Natur, die es umgab. Und still
+und ernst trat ich über seine Schwelle.
+
+
+
+
+Neuntes Kapitel
+
+
+Der Winter des Jahres 1899 wollte kein Ende nehmen. Die Stadt Berlin,
+die durch Reinlichkeit zu ersetzen pflegte, was ihr an Schönheit
+gebrach, war dem Schnee, der sich auf den Straßen bis in den April
+hinein in schmutzig-grauen Schlamm verwandelte, nicht gewachsen.
+Heerscharen, mit Spaten und Hacke bewaffnet, schickte sie aus, um den
+hartnäckigen Feind aus den Toren zu treiben, und um die Massen der
+Arbeitslosen, die unter seinem Regiment immer stärker angeschwollen
+waren, zu verringern. Vergebens. Der Schnee ballte sich zu Haufen; vor
+den Asylen der Obdachlosen staute sich die Menge. Mehr als je waren
+kräftige Männer darunter. Selbst um die am schlechtesten bezahlte
+Heimarbeit rissen sich die Frauen; wovon sollten sie die Kinder
+ernähren, da die Väter feiern mußten und das Fleisch immer teurer wurde?
+
+»Der Winter ist mit den Ausbeutern im Bunde,« sagte eine blasse, kleine
+Parteigenossin, die jedesmal mit entzündeteren Augen in die Sitzungen
+kam. »Die Agrarier, die Konfektionäre und die Kohlenfritzen werden dick
+und fett, und wir kriegen die Schwindsucht.« Sie stickte Hemden, --
+»ganz feine aus Battist, mit 'ner Fürstenkrone. Ich wünschte man bloß,
+jeder Stich wäre 'ne Nadelspitze, wenn sie den durchlauchtigsten Körper
+berühren,« fügte sie hinzu. Die Bitterkeit, mit der sie sprach, erfüllte
+mehr denn je ihre Klassengenossen.
+
+Sie froren und hungerten. Im Reichstag aber bewilligte die Mehrheit der
+bürgerlichen Parteien eine Militärvorlage, die Millionen und
+Abermillionen kostete. Sie suchten vergeblich nach Arbeit, und im
+Abgeordnetenhaus brachten die Junker den Plan des Mittellandkanals zu
+Fall, der zahllose neue Arbeitsmöglichkeiten eröffnet hätte. Überall
+siegten die Interessen der Besitzenden gegen die der Arbeiter,
+und nun drohte die Zuchthausvorlage, ihnen im Kampf um bessere
+Arbeitsbedingungen die letzte Waffe zu nehmen: Das Koalitionsrecht.
+
+Noch zögerte die Regierung mit der Veröffentlichung des Wortlautes der
+Vorlage, aber sie warf ihre Schatten voraus, so daß an ihrem Inhalt
+niemand mehr zweifeln konnte.
+
+ * * * * *
+
+Um diese Zeit erschien Eduard Bernsteins längst erwartete Broschüre:
+»Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der
+Sozialdemokratie.« Sie faßte zusammen und führte aus, was er ein Jahr
+vorher in seiner Artikelserie über die Probleme des Sozialismus gesagt
+hatte. Jetzt, wo die erste Erregung hinter mir lag und ich mit ruhigem
+Verstand zu lesen vermochte, spürte ich den Einfluß der englischen
+Fabier, der Webb, der Shaw, der Burns, in deren geistiger Atmosphäre
+dies Buch entstanden war. Ich spürte aber auch den deutschen Gelehrten,
+der der rauhen Luft Preußens seit Jahrzehnten entwöhnt war und es in
+seiner stillen londoner Studierstube, fern der Heimat, verfaßt hatte. Er
+konnte drüben nicht wissen, wie der deutschen Partei im Augenblick jede
+Aufnahmefähigkeit für theoretische Erörterungen gebrach, und wie der
+Masse der Parteigenossen, die sich von allen Seiten in ihrer physischen
+und rechtlichen Existenz bedroht sahen, seine Mahnung, den Liberalismus
+nicht zurückzustoßen, zu handeln wie eine demokratisch-sozialistische
+Reformpartei, als blutiger Hohn erscheinen mußte. Wo waren denn die
+freigesinnten Elemente der Bourgeoise, auf die es sich verlohnte,
+Rücksicht zu nehmen, um mit ihnen gemeinsam demokratische Forderungen
+durchzusetzen? Sie entflammten in schöner Begeisterung für
+Völkerfreiheit, -- wenn es sich um den Kampf der Buren gegen die
+Engländer handelte. Sie empörten sich wider Unrecht und Vergewaltigung,
+-- wenn von Dreyfus und dem französischen Generalstab die Rede war. Es
+kam sogar etwas wie ein Entrüstungssturm zustande, als das Zentrum die
+Kunst in die Ketten kirchlicher Moral zu legen drohte, -- aber dem
+Urteil von Löbtau, das neun Maurer, die sich mit ihren über die schwer
+errungene zehnstündige Arbeitszeit hinaus arbeitenden Kollegen in eine
+Schlägerei verwickelten, mit Zuchthaus bestrafte, standen sie stumm und
+kalt gegenüber.
+
+So sehr ich mich genötigt sah, der theoretischen Kritik Bernsteins
+zuzustimmen, so wenig seiner Auffassung von der Notwendigkeit eines
+Paktierens mit dem Liberalismus. »Wer nicht mit uns ist, der ist wider
+uns --.« Getäuschte Liebe trägt die Maske brennenden Hasses; darum
+urteilt der Renegat über die Klasse, die er verließ, am schärfsten. Wo
+waren all die, auf die ich gerechnet hatte? Ein einziger hatte seitdem
+den Weg zu uns gefunden: Göhre. Alle anderen starrten geblendet in die
+Fata Morgana deutscher Zukunftsweltmacht.
+
+ * * * * *
+
+»Ich habe den Genossinnen einen Vorschlag zu unterbreiten,« begann
+Martha Bartels in einer unserer Frauensitzungen. »Unter uns ist kaum
+eine, die nicht wenigstens die Bernsteindebatten im Vorwärts verfolgt
+hätte. In engeren Parteikreisen haben wir wohl auch Gelegenheit gehabt,
+uns darüber auszusprechen und Belehrung durch andere zu empfangen. An
+einer großen öffentlichen Auseinandersetzung fehlt es leider noch. Ich
+beantrage, Genossin Orbin zu bitten, in öffentlicher Volksversammlung
+einen Vortrag über den Streit, der uns so nahe angeht, halten zu
+wollen.«
+
+Mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit stimmte man ihr zu. Ich wußte, daß es
+Wanda Orbin selbst gewesen war, die ihr diesen Gedanken souffliert
+hatte. Sie wütete in der »Freiheit« gegen Bernstein. »Soweit es sich um
+die Erörterung der praktischen Vorschläge Bernsteins handelt, scheint
+auch mir der Antrag annehmbar,« sagte ich. »Seine Theorien aber sind
+doch wohl kein Thema für eine öffentliche Volksversammlung.«
+
+»Genossin Brandt hält uns mal wieder für zu dumm,« hörte ich die
+schrille Stimme der rotäugigen Stickerin sagen. »Bernstein meent ja
+ooch, daß wir noch nich reif sind,« meinte eine andere mit einem
+giftigen Blick auf mich, »er is nischt als so'n verkappter Bourgeois,
+der uns zum St. Nimmerleinstag vertrösten will, damit's ihm nich an den
+Schlafrock jeht.«
+
+Ich hielt diesem Ausbruch proletarischer Eitelkeit, die die Partei groß
+gezogen hatte, ruhig stand. Die apodiktische Sicherheit, mit der die
+Partei in ihrer Presse ihre Ansichten vertrat; die verflachende
+Popularisierung der Lehren ihrer Vorkämpfer, durch die sie sie den
+Massen mundgerecht machte; der Hohn, mit dem sie die Äußerungen
+»bürgerlicher Wissenschaft« überschüttete, konnten keine andere Wirkung
+haben.
+
+»Wie wär's, wenn Genossin Brandt das Korreferat übernähme?« fragte Ida
+Wiemer, die vor allem gewerkschaftlich tätig war und infolgedessen zu
+einer weniger radikalen Auffassung neigte.
+
+»Selbst wenn Sie das wünschen, müßte ich nein sagen,« antwortete ich
+rasch; »ich bin außer stande, theoretische Fragen zu beurteilen, die
+einen Mann wie Bernstein jahrelang beschäftigt haben, ehe er eine
+Antwort fand.« Rings um mich sah ich spöttisches Lächeln in den Mienen,
+Ida Wiemer senkte errötend den Kopf, als schäme sie sich für mich.
+
+Tatsächlich hätte ich nicht törichter vorgehen können: Nur wer keck
+alles zu wissen und zu können behauptet, verschafft sich Ansehen in der
+Öffentlichkeit. Ich hatte mir eine Blöße gegeben, die mir nicht
+vergessen werden würde.
+
+Luise Zehringer sprach nach mir, eine Genossin aus Hamburg, eine
+Zigarrenarbeiterin mit harten vermännlichten Zügen. Es fehlte ihr, auch
+in dem Klang der Sprache, jede Spur von Weiblichkeit. Ein ernstes
+Arbeitsleben von Kindheit an hatte der ganzen Erscheinung jede
+Weichheit genommen.
+
+»Ich gehöre zu denen, die eine energische Zurückweisung der
+Bernsteinschen Angriffe auf unsere Grundanschauungen nicht nur für
+notwendig, sondern für jede von uns, die im Besitze proletarischen
+Klassenbewußtseins ist, für möglich hält,« sagte sie. »Ich habe keine
+vornehme Erziehung genossen, wie die Genossin Brandt, aber meine fünf
+Sinne habe ich beieinander. Ich weiß darum, ohne jahrelanges Studium,
+daß Bernstein Marx und Engels Unterstellungen macht, die sie niemals
+vertreten haben, daß er gegen eine Verelendungstheorie kämpft, die
+niemals von uns propagiert worden ist. Wir verstehen unter Proletariat
+nicht diejenigen, die mit zerlumptem Rock und knurrendem Magen
+umherlaufen, sondern jeden, der abhängig ist vom Kapital. Und diese
+Abhängigkeit wächst von Tag zu Tag und damit die Masse des Elends. Und
+ist die Zunahme der Erwerbsarbeit proletarischer Hausfrauen und Mütter
+nicht ein weiterer, schlagender Beweis für die Zunahme des Elends?
+Glauben Sie vielleicht, Genossinnen, sie verließen aus Vergnügungssucht,
+wie die Damen der Bourgeoisie, ihr Zuhause und ihre Kinder?!«
+
+Aller Augen hingen an der Sprecherin, die ihre leidenschaftlich
+vorgestoßenen Worte mit lebhaften eckigen Gestikulationen begleitete.
+»Ich weiß aber noch mehr: ich weiß, daß die Empörung gegen das Elend mit
+ihm wächst, daß die Gleichgültigsten, wenn sie hungernd über den
+Jungfernstieg gehen, während hinter den Spiegelscheiben der feinen
+Restaurants die Protzen schmatzen und saufen, die Fäuste ballen lernen
+und weniger denn je von einem Techtelmechtel mit den schlauen
+Verführern der Bourgeoisie, den Liberalen, wissen wollen. Zwischen uns
+und ihnen gibt es nur Kampf, -- Kampf bis aufs Messer, -- bis zur
+Diktatur des Proletariats, vor dem der behäbige, gut genährte Herr
+Bernstein und seinesgleichen solch ein Grausen hat ...« Sie schwieg
+erschöpft; ihre Züge waren noch um einen Schein blasser geworden. Wanda
+Orbins Referat war gesichert.
+
+ * * * * *
+
+»Wie stellen sich die Parteigenossen Berlins zu Bernsteins Schrift?« Auf
+leuchtend gelben Zetteln prangte diese Frage an den Litfaßsäulen. Im
+Westen gingen die Spaziergänger achtlos daran vorbei. In der
+Friedrichstadt blieben Studenten mit unverkennbar russischem Typus
+nachdenklich davor stehen, während ihre deutschen Kollegen der Anzeige
+der Amorsäle ihre Aufmerksamkeit zuwandten. Im Norden und im Osten
+dagegen sammelten sich Gruppen von Arbeitern vor ihr, und in die
+Kneipen, in die Arbeitssäle und in die Wohnungen wurde die Frage weiter
+getragen. Als Wanda Orbin die Tribüne betrat, erwarteten nur wenige
+ihrer Zuhörer von ihr etwas anderes, als die Bestätigung der Antwort,
+die für sie selber schon feststand.
+
+Sie verkündete mit priesterlichem Fanatismus den beseligenden Glauben an
+die Herrlichkeit des nahe bevorstehenden Zukunftsstaates gegenüber der
+kühlen Beweisführung seiner langsamen Entwicklung; sie schürte den Haß
+wider die bürgerliche Gesellschaft, sie mahnte zum Vertrauen allein auf
+die eigene Kraft des Proletariats. Zwischen ihr und der Zuhörerschaft
+entstand jene hypnotische Verbindung, durch die der Redner nur als
+Sprachrohr der Massen erscheint und die Massen wieder unter der
+Suggestion des Redners stehen. Sie war die Stimme des Volkes, das die
+Ketzer verdammte, die ihm nehmen wollten, was ihres Lebens einziger
+Reichtum, ihres Willens einzige Triebkraft war: den religiösen Glauben
+des Sozialismus. In ihr lebte die Urkraft der Bewegung, die nur Freunde
+und Feinde kannte, die kämpfen wollte, aber nicht paktieren, die im
+Eroberungskrieg das Leben jedes einzelnen zu opfern bereit war, nicht
+aber die Hoffnung auf raschen Sieg.
+
+Ein alter Mann saß neben mir. Er war müde gekommen; jetzt glänzten seine
+Augen, seine Wangen glühten, sein gebeugter Rücken richtete sich auf. An
+einem Tische nicht weit davon sah ich eine Gruppe junger Arbeiter; sie
+trommelten mit den breiten Fäusten auf den Tisch, und Haß und Lust und
+barbarische Kampfbegier leuchtete aus ihren Zügen. Unter dem Spiegel an
+der Wand lehnten umschlungen ein paar schwarzhaarige Studentinnen; aus
+ihren Blicken sprach jene Schwärmerei, die Hirtenmädchen zu Heldinnen
+macht. Auch ich war erschüttert; was mein Verstand, mir selbst zum
+Trotz, Stein um Stein aufgerichtet hatte, das drohten die Pfeile von der
+Rednertribüne zu zerstören. Aber dann vernahm ich schrille, falsche
+Töne, für die nur mein Gehör fein genug schien: die Rednerin verhöhnte
+die Kraft ethischer Motive als einen in Rechnung zu stellenden Motor in
+der revolutionären Bewegung. Sie überschüttete mit Spott jene
+»bürgerliche Intelligenzen«, die mit der »Gerechtigkeitsidee« ins weite
+Meer gesteuert und mit gebrochenen Masten in den Hafen der Entsagung
+zurückgekehrt sind. »Nur der aus seinen Klasseninteressen entstehende
+Klassenkampf des Proletariats wird dem Sozialismus die Welt erobern.«
+Welche Motive hatten denn die Marx und Engels, die Lassalle, die
+Liebknecht auf die Seite der Enterbten getrieben? Waren sie nicht
+»bürgerliche Intelligenzen« gewesen, wie Wanda Orbin selbst? Mit
+frenetischem Beifall nahm das Volk ihren Kniefall vor seiner Majestät
+entgegen, während mir die Schamröte in die Schläfen stieg. Als sie dann
+mit einer Stimme, die nur noch ein Kreischen war, weil nicht mehr das
+Feuer der Begeisterung, sondern weibische Rachsucht sie belebte, in den
+Saal hinausschrie: »Wenn die Gegensätze so schroff zutage treten, wie
+zwischen der Masse der Genossen und den Bernstein, den Heine, den David,
+den Schippel, so ist eine reinliche Scheidung besser als ein fauler
+Friede,« und die Zuhörer trampelnd und johlend Beifall klatschten, da
+wußte ich, daß die Partei der Freiheit Scheiterhaufen zu schichten
+imstande sein würde.
+
+Still davon zu gehen, nachdem die Versammlung geschlossen worden war,
+wäre gewiß am klügsten gewesen. Der Wirbelsturm meiner Gefühle, der sich
+aus Bewunderung und Empörung, aus Schüchternheit und Angst
+zusammensetzte, hatte mich gehindert, in der Diskussion zu sprechen,
+jetzt aber kochte mir das Blut; ich wollte nicht feige erscheinen, ich
+mußte mit Wanda Orbin sprechen, die mich noch immer für ein Glied ihrer
+Gefolgschaft hielt. Sie kam meinem Wunsch entgegen.
+
+Wir gingen noch in ein Kaffee, und schon auf dem Wege dahin sprach sie
+mich an: »Sie waren gegen mein Referat, hörte ich?« »Ja, und ich bin es
+nachträglich noch mehr, als vorher,« antwortete ich. »Das ist ja sehr
+interessant,« meinte sie spitz und wandte sich von mir ab. Ich war den
+Rest des Abends Luft für sie.
+
+Wir verabschiedeten uns mit einer kühlen Verbeugung, und während sie,
+umringt von den Genossinnen, ihrem Absteigequartier entgegenging, fuhr
+ich allein nach Hause. Ich kämpfte mit den Tränen. In dem engen Kreise
+der Arbeiterinnenbewegung Wanda Orbin als Gegnerin gegenüberzustehen,
+das bedeutete entweder mein Ausscheiden aus ihm oder einen endlosen
+aufreibenden Kampf.
+
+ * * * * *
+
+Spät in der Nacht kam ich nach Hause. Hier draußen im Grunewald bedeckte
+eine feste Schneedecke Straßen und Gärten, tiefschwarz stiegen die
+Kiefern aus ihrer hellen Weiße empor; ihre dünnen, dürftigen Wipfel
+verloren sich im Nebel. Ich fürchtete mich. Nacht und Dunkelheit waren
+meine schlimmsten Feinde. Dann sah ich, wie in meiner Kindheit, drohende
+Gestalten hinter Baum und Busch, und hörte die Tritte Unsichtbarer
+hinter mir. Ich lief. Auf dem kleinen Platz wenige Schritte vor unserem
+Garten blieb ich stehen. Der Atem wollte versagen. Ich sah hinüber:
+Grau, düster, als wäre es selbst nur ein Gebilde des Nebels, schlief
+unser Haus zwischen den schwarzen Stämmen, die es umstanden wie lauernde
+Wächter.
+
+Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken: wir hatten hier noch keinen
+frohen Tag gehabt. Der Kleine schlief schlecht, -- der Kiefernduft rege
+ihn auf, meinte der Arzt, -- er war oft krank gewesen. Und zwischen mir
+und meinem Mann richteten die Sorgen sich auf, immer höher und höher,
+wie eine trennende Mauer, in die die Kraft unserer Liebe nur hie und da
+Bresche schlug. Wir trugen unsere Qualen allein, -- aus Rücksicht; wir
+hüllten unsere Seelen in den dunkeln Mantel des Schweigens, damit der
+Anblick ihrer Not nicht den anderen verletze. Daß einer den anderen
+überhaupt nicht mehr sehen konnte, blieb uns verborgen. Unausgesprochene
+Vorwürfe wirkten auf unsere Gefühle wie früher Frost auf entfaltete
+Rosen. Uralte Vorurteile, Traditionen, deren triebkräftige Wurzeln den
+Boden umklammern, wenn auch der Baum gefällt ist, nährten sie.
+
+Unter der Schwelle des Bewußtseins lebte in mir, der Emanzipatorin ihres
+Geschlechts, die Vorstellung: daß der Mann, dem das Weib sich
+anvertraute, wie ein Schutzengel über ihrem Leben stehen müsse, daß er
+verpflichtet sei, sie vor Sorgen zu hüten. Statt dessen hatte der meine
+-- der Vorwurf wühlte in mir -- sie über mich heraufbeschworen! Und in
+dem Grunde der Seele des Mannes, der aus eigener Überzeugung meine
+Berufsarbeit förderte, lebte der Gedanke: daß die Frau das Reich des
+Hauses zu regieren habe, daß ihr die Pflicht obliege, durch ihr Wirken
+die Not von seiner Schwelle zu bannen. Statt dessen verstand die seine
+nichts von alledem, und nur zu oft las ich in seinen sprechenden Zügen
+den Vorwurf: Du -- du bist schuld.
+
+Ein Licht, das im Erdgeschoß, wo die Köchin schlief, aufflammte, riß
+mich aus meinem Sinnen. Ich eilte der Gartenpforte zu. Da öffnete sich
+die Türe zum Kücheneingang, -- »auf morgen!« hörte ich flüstern, ein
+Mann trat heraus, kletterte gewandt über den Zaun und ging, vor sich
+hinträllernd, die Straße hinab. Das Licht im Mädchenzimmer erlosch.
+
+Ich schlich hinauf. Mein Mann schlief fest. Wie ich ihn schon um diesen
+Schlaf beneidet hatte! Ihn suchte er auf, ich mußte ihn mir erst
+erzwingen! Heute wollte er sich überhaupt nicht festhalten lassen. Der
+Gedanke, daß ich morgen die Minna schelten mußte, peinigte mich:
+dadurch, daß ich ihre Arbeitskraft in Anspruch nahm, hatte ich doch noch
+kein Recht über ihre Person. Wie durfte ich verlangen, daß sie mir ihre
+Liebe opfern sollte? Und doch würde vermutlich die Konsequenz meiner
+Nachsicht nichts anderes sein, als daß sie ihren Liebhaber mit ernährte.
+Eine gute Hausfrau nimmt alle Schlüssel an sich, -- die des Hauses wie
+die der Speisekammer. Ich vermochte es nicht: Konnte ich einen fremden
+Menschen einsperren, wie einen Sklaven? Vor einer Hausgenossin alles
+verschließen, als hielte ich sie von vornherein für eine Diebin? Wieder
+rollte sich durch einen geringfügigen Anlaß ein ganzes Problem vor mir
+auf. Ich grübelte ihm nach, über die kleinen Nöte meiner eigenen vier
+Wände hinaus, und fand keine andere Lösung als die radikalste:
+Vernichtung des patriarchalischen Haushalts, Entwicklung des
+Dienstmädchens, das unter ständiger Kontrolle steht, das Tag und Nacht
+dienstbereit sein soll, zur freien Arbeiterin, die stundenweise
+beschäftigt und entlohnt wird.
+
+Mit dem grauenden Tage kehrte ich wieder zu mir selbst zurück. Die
+nächste Zeit stellte starke Anforderungen an mich: der Feldzug gegen den
+Zuchthauskurs sollte auf der ganzen Linie eröffnet werden, -- ich würde
+häufig abends fort sein müssen. Wenn ich doch irgend jemand hätte, der
+mich im Hause vertreten könnte. Aber die guten Hausgeister der
+Vergangenheit, -- all die unbeschäftigten Tanten und Cousinen waren
+ausgestorben, hatten sich in selbständige Berufsarbeiterinnen
+verwandelt. Und meine Mutter?!
+
+ * * * * *
+
+Gleich nach des Vaters Tod hatte sie ihren Haushalt aufgelöst und war zu
+Erdmanns gezogen. Eine Lungenentzündung hatte Ilse aufs Krankenlager
+geworfen, die Mutter war Pflegerin und Haushälterin zugleich gewesen.
+Durfte ich sie jetzt, wo sie selbst der Erholung bedürftig war, für mich
+in Anspruch nehmen?
+
+Sie besuchte uns am nächsten Tag. Ottochen lief ihr entgegen. Er suchte
+immer noch den »Apapa« und weinte, wenn er nicht mitkam.
+
+Wie leicht, wie elastisch der Gang der Mutter ist, dachte ich erstaunt,
+als ich sie näher kommen sah. Mir war, als wäre sie sonst schwer und
+hart aufgetreten. Ihre Wangen waren gerötet, der bittere Zug um ihren
+Mund wie weggewischt, die schmalen, blassen, zusammengepreßten Lippen
+wölbten sich plötzlich, wie von jungem Blut durchglüht.
+
+»Nun kann ich reisen!« sagte sie mit einem Aufleuchten in den Augen.
+»Meine Pflicht Erdmanns gegenüber ist erfüllt, -- sie wollen selbst so
+rasch als möglich auf See, um ihre Lungen auszuheilen; da bin ich
+frei --,« sie dehnte dies letzte Wort, als müßte sie es ganz auskosten.
+
+Nach Italien wollte sie zuerst. Sie erzählte von einem ganzen Stoß
+kunsthistorischer Bücher, die sie mitnehmen wollte. »Ich bin nie zum
+Lesen gekommen,« meinte sie; »wie viel hab' ich versäumt, wie viel kann
+ich nachholen!«
+
+Ich sah sie verwundert an, wie eine Fremde: hatte sie mich nicht so und
+so oft aus der Lektüre herausgerissen, als ich noch daheim war, und mich
+neben sich an den Flickkorb gezwungen? Hatte sie jemals etwas anderes
+gelesen als die Zeitung und hie und da einen Roman?
+
+»Du bist erstaunt?« lächelte sie. »Du wirst es noch selbst erfahren, wie
+die Pflicht für andere zu leben uns Frauen fast bis zur
+Selbstvernichtung treiben kann.« Ich fand keine Antwort. Wie unglücklich
+mußte sie gewesen sein, -- und wie unglücklich gemacht haben, da sie
+fünfunddreißig Jahre lang nur aus Pflichtgefühl die Ketten der Ehe
+getragen hatte!
+
+»Im nächsten Winter werde ich mich hier in einer Pension etablieren,«
+fuhr sie fort, »du glaubst nicht, wie allein der Gedanke mich beruhigt,
+alle Haushaltsquälerei los zu sein!« Und sie war scheinbar in ihrem
+Haushalt aufgegangen!
+
+»Was geschieht aber dann mit den Möbeln?« fragte ich, um nur irgend
+etwas zu sagen.
+
+»Ich habe heute das letzte verkauft -- --«
+
+»Verkauft?!« Ich starrte sie entgeistert an. Wie?! Ohne uns, ihren
+Kindern, auch nur eine Mitteilung davon zu machen, hatte sie all die
+hundert lieben Dinge, die ein Stück Heimat für mich gewesen waren,
+achtlos in alle Winde verstreut?! Des Vaters Schreibtisch mit den
+geschnitzten Eulen, -- den alten Stuhl davor, -- die Reiterpistole! Ich
+strich mir mechanisch mit der Hand über die heiße Stirn, um den bösen
+Traum zu verscheuchen, -- denn es war doch nur ein Traum!
+
+»Auch die grünen Lehnsessel -- und das alte Sofa, das in meinem Zimmer
+stand?« murmelte ich.
+
+»Gewiß!« antwortete sie mit heller Stimme, aus der der scharfe
+ostpreußische Akzent mehr als sonst hervortrat. »Ihr alle habt, was ihr
+braucht, -- das Gerümpel hätte kaum noch einen Umzug ausgehalten; -- nur
+Silber, Glas und Porzellan ließ ich bei Ilse auf den Boden stellen. Ich
+habe lang genug all dies Schwergewicht mit mir gezogen.«
+
+Mir schoß das Blut in die Schläfen: So strich sie Jahrzehnte ihres
+Lebens aus und mit ihnen die Erinnerung! Schon hatte ich bittere Worte
+auf der Zunge. Ich hob den Blick: Der Ausdruck ihrer Züge entwaffnete
+mich. Mir war, als sähe ich plötzlich bis zum Grunde ihres Herzens. Dem
+Götzen der Pflicht hatte sie ihr Leben geopfert und wußte nun nicht
+einmal, wie groß ihre Sünde gewesen war. Jetzt erst trat sie aus dem
+Dämmerdunkel seines Tempels ans Tageslicht und grüßte es, als sähe sie
+es zum erstenmal. Arme Mutter! Keinen Strahl deiner schon leise
+sinkenden Sonne will ich dir verdunkeln, dachte ich, und bat ihr im
+stillen ab, was ich an heimlichem Groll gegen sie im Herzen getragen
+hatte. Als ich sie zum Abschied küßte, liebte ich sie, -- mit jener
+mitleidigen Liebe, die eine einzige Trennung ist.
+
+Es war gut, daß sie ging, -- für sie und für mich. Der Glaube, daß ihre
+Kinder keine materiellen Sorgen hatten, gehörte zu dem Glücksgefühl, mit
+dem sie die späte Freiheit genoß. Hätte ich sie zurückgehalten, ihr in
+meine Häuslichkeit Einblick gewährt, er wäre doch erschüttert worden.
+Ich mußte selbst mit mir und den Verhältnissen fertig werden.
+
+ * * * * *
+
+»Eine Villa im Grunewald, --« wie oft hörte ich in den Kreisen der
+Parteigenossen mit einem mißtrauisch-hohnvollen Blick auf mich diese
+vier Worte flüstern. Sie wußten nicht, daß uns kein Stein von ihr
+gehörte, daß sie aber mit dem Gewicht aller ihrer Steine auf uns
+lastete. Die Zinsen, die wir zu zahlen hatten, waren schließlich doch
+höher, als die Miete gewesen; Haus und Garten erforderten mehr
+Arbeitskräfte, als die kleine Etagenwohnung, und das Leben hier draußen
+war auf Rentiers und Millionäre zugeschnitten, die den Grunewald
+allmählich bevölkert hatten. Noch mehr als früher war jeder Erste des
+Monats ein Schreckenstag für mich. Und wenn ich am Schreibtisch saß und
+meine Gedanken auf das Buch, an dem ich arbeitete, konzentrieren wollte,
+kamen die Sorgen grinsend aus allen Winkeln gekrochen und bohrten ihre
+Knochenfinger in mein Gehirn und zerdrückten meine Gedanken zwischen
+ihnen. Dann lief ich zu meinem Sohn hinauf oder spielte im Garten mit
+ihm, -- denn über seinen Zauberkreis wagten sich die grauen Gespenster
+nicht.
+
+Wie hatte die Mutter gesagt, als sie mit jungen Augen von ihrer
+Freiheit sprach? »Lang genug hab' ich dieses Schwergewicht mit mir
+gezogen -- --« Ein Schwergewicht, -- eine Kette am Fuß, -- so empfand
+ich auf einmal das Haus, in dem ich wohnte. Flügellos machte es mich und
+-- alt, alt!
+
+Du hast Falten um Mund und Nase, sagte mein Spiegel, Falten, und trübe
+Schleier über den Pupillen wie all jene Frauen, denen der jämmerliche
+Kleinkram des Lebens die Seele zertritt. Ich aber will nicht alt sein,
+schrie es in mir; noch braust und schäumt der Strom der Jugend in meinem
+Innern, der starke Strom, der Felsen höhlt und Riesen des Waldes
+entwurzelt, und den die Ehe in ihre gemauerten Kanäle zwang.
+
+»Heinz, hab' einmal Zeit für mich,« sagte ich eines Abends. Wir saßen
+fast immer bis zum Schlafengehen arbeitend an unserem Schreibtisch.
+Gemeinsame Abende gab's für uns nicht. Ich hatte unter diesem Mangel im
+Beginn unserer Ehe schwer genug gelitten. Er sah von seiner Lektüre auf;
+ein helles Licht huschte über seine Züge. »Immer, mein Schatz -- nur
+leider verlangst du nie danach.«
+
+»Ich weiß, du hast es sehr gut gemeint,« begann ich stockend, »du hast
+nur meinen Wunsch erfüllen wollen, als du dieses Haus für uns bautest.
+Keiner von uns hat vorher gewußt, daß -- daß es eine unerträgliche Last
+für uns sein würde -- --«
+
+»Aber, Alix, du kommst auf diesen vernünftigen Gedanken, du?!«
+unterbrach er mich. »Du könntest -- du wolltest --?!«
+
+»Das Haus verkaufen, -- ja! Tausendmal lieber, als in dieser Angst
+weiterleben --« Mir stürzten die Tränen aus den Augen, trotz aller
+Selbstbeherrschung.
+
+Heinrich gehörte zu den wenigen Männern, die durch Frauentränen nicht
+weicher, sondern härter werden. »Wozu die Tragik,« sagte er ärgerlich.
+»Wenn du einsiehst, was mir längst klar ist: daß wir über unsere
+Verhältnisse leben, so sind wir einig, und die Konsequenzen sind
+selbstverständlich.«
+
+Meine Tränen flossen nur noch stärker; ich hatte unwillkürlich so etwas
+wie ein Lob für meinen Opfermut erwartet. Erst allmählich kam ich zur
+Ruhe.
+
+Wir saßen aneinandergeschmiegt wie in den ersten Zeiten unserer Ehe auf
+dem pfauenblauen Sofa und spannen neue Zukunftsträume, als wäre durch
+unseren bloßen Entschluß schon die Bahn für sie frei.
+
+ * * * * *
+
+Wochen und Monde vergingen. Niemand fragte nach unserem Haus. Indessen
+zog mit blauem Himmel und heißer Sonne der Sommer ein, und auch unter
+den Kiefern lachten und dufteten Rosen, Nelken und Lilien. Grüne Ranken
+kletterten übermütig an den grauen Wänden empor, vor allen Fenstern
+nickten rote Geranien. Und mitten in all der Pracht blühte mein Kind. Es
+spielte den ganzen Tag im Grünen, jeder Busch wurde ihm ein lebendiger
+Gefährte. Und wenn es droben im Giebelstübchen hinter den Blumenbrettern
+schlief, dann saßen wir noch lange auf der Altane und atmeten den
+würzigen Duft der Nacht und genossen der zauberischen Ruhe des Waldes.
+Ich fing an, dies Stückchen Erde zu lieben: es hatte meinem Sohn eine
+Heimat werden sollen. Ich trennte mich immer schwerer von dem stillen
+Winkel.
+
+Nichts ist gefährlicher für den Altruismus, als die mit Egoismusbazillen
+gefüllte Luft häuslicher Gemütlichkeit. Nur die ganz Starken,
+Widerstandsfähigen entziehen sich der Ansteckung.
+
+Die Vorkämpfer der Menschheit waren fast immer die Heimatlosen.
+
+Aber auch meine Körperkräfte hinderten mich oft an der agitatorischen
+Tätigkeit. War ich genötigt, ein paar Abende hintereinander zu sprechen,
+so versagte meine Stimme. »Sie dürfen sich niemals in Rauch und Staub
+aufhalten,« sagte dann der Arzt und verordnete mir Schweigen und frische
+Luft. Meine robusten Genossinnen, für die die Atmosphäre der
+Versammlungssäle nicht schlechter war als die ihrer engen Stuben, ihrer
+überfüllten Werkstätten und Fabrikräume, hielten mich für schulkrank und
+mißtrauten mir mehr noch als früher.
+
+ * * * * *
+
+Wir hatten im Winter einen Arbeiterinnenbildungsverein gegründet, --
+einen Notbehelf, da das Gesetz den Frauen die Teilnahme an politischen
+Organisationen untersagte und seine Handhabung den Arbeiterinnen
+gegenüber besonders streng war. Er wurde aber rasch zum Selbstzweck; die
+Frauen hatten ein lebhaftes Bedürfnis nach geistiger Aufklärung aller
+Art, und es war für mich eine Erfrischung, seinen Zusammenkünften
+beizuwohnen. Zwei Abende war schon über Erziehung gesprochen worden,
+und die Debatte bewies, mit wie viel Ernst, mit wie viel Eifer diese
+armen Arbeiterfrauen ihre Aufgabe als Mütter erfaßten.
+
+Diesmal hatte ich Romberg genötigt, mitzukommen. Er war in bezug auf die
+geistige Entwickelungsmöglichkeit der Frauen sehr skeptisch, und so sehr
+er aus rein ökonomischen Gründen die Frauenbewegung für notwendig
+anerkannte, so war sie ihm doch nur eine traurige Notwendigkeit; was sie
+erstrebte, erschien ihm nicht als Fortschritt, sondern nur als eine
+unausbleibliche beklagenswerte Wandelung. Den Bildungshunger der
+»Waschfrauen und Näherinnen« hielt er nun gar für eine meiner
+unverzeihlichen Illusionen. Ich wollte ihm einmal statt Gründe Beweise
+liefern. Und allmählich schien er wirklich erstaunt. Eine kleine, adrett
+gekleidete Frau stand jetzt auf dem Podium. »Mein Mann ist
+Maschinenschlosser,« sagte sie, »wir haben nur zwei Kinder und soweit
+unser Auskommen, so daß ich nicht mit zu verdienen brauchte. Aber unser
+Junge ist ein heller Kopf. Da hab' ich mir gesagt: Der soll was Besseres
+werden als seine Eltern, der soll auch mal wissen, wie schön und wie
+reich die Welt ist, und nicht, wie wir, bloß durch so'n schmales
+Guckloch ein Endchen von ihr zu sehen kriegen. Und nun gehe ich wieder
+in die Fabrik, und der Fritze geht dafür aufs Gymnasium. Ich will mich
+nicht rühmen, daß ich's tu', ich möcht' nur jeder raten, es ebenso zu
+machen.«
+
+In jener Impulsivität, die ich so sehr an meinem Mann liebte, stand er
+auf, um der tapferen kleinen Frau, die wieder ihrem Platz zuschritt,
+die Hand zu drücken. Romberg dagegen sagte: »Meinen Sie, daß der
+'Fritze' als Geistesproletarier glücklicher sein wird!?« »Auf das Glück
+kommt es nicht an, sondern auf den Grad der sozialen Leistung, und die
+wird größer sein, wenn seine Begabung zu ihrem Rechte kommt,« antwortete
+ich rasch.
+
+Ein junges Mädchen trat an unseren Tisch. »Genossin Brandt?« forschend
+sah sie mich an. -- »Die bin ich.« -- »Ich wollte Sie nur mal was
+fragen. Ich bin nämlich Dienstmädchen gewesen und habe eine Freundin,
+die noch Köchin is, und die hat mich neulich in den Dienerverein
+mitgenommen, wo sie jetzt wollen auch die Mädchens aufnehmen. Sie
+schimpfen aber dort alle gegen die Sozialen, und da wollt ich gern mal
+wissen, ob Sie nich mal könnten hinkommen --«
+
+»Sie werden doch nicht!« flüsterte mir Romberg zu. »Verpflichte dich zu
+nichts,« sagte mein Mann leise.
+
+»Selbstverständlich komme ich,« entgegnete ich der zaghaft vor mir
+Stehenden; ihr Gesicht erhellte sich; wir verabredeten alles weitere.
+
+Beim Heimweg schalt mein Mann: »Du läßt dich von jeder beschwatzen, und
+alle spekulieren schließlich auf deine Gutmütigkeit.«
+
+»Wenn diese kleine Begegnung zu einer Dienstbotenbewegung den Anlaß
+gibt, so wirst du anders denken.«
+
+»Mir tut es in der Seele weh, wenn ich Sie in der Gesellschaft seh,«
+meinte Romberg. Er sah mich mit einem Blick an, der mich erröten machte.
+Wie töricht, -- dachte ich gleich darauf, zornig über die eigene
+Schwäche, und doch blieb ich den ganzen Abend über im Bann jener
+Frauenfreude, die belebend wirkt wie prickelnder Champagner: der Freude
+an der Bewunderung. Alix von Kleve stieg aus der Versenkung ernster
+Jahre empor und sonnte sich an altvertrauten Triumphen. In meinen
+Verkehr mit Romberg trat ein neuer Reiz: er ließ es mich fühlen, daß das
+Weib in mir ihn anzog und nicht nur die neutral-interessante
+Persönlichkeit. Es gibt Frauen, die angesichts solcher Erfahrung die
+Beleidigten spielen. Sie lügen.
+
+»Ich drehe dir den Hals um, wenn du dir von Romberg die Kur machen
+läßt,« grollte Heinrich, als wir zu Hause waren, zwischen Scherz und
+Ernst. Ich flog ihm in die Arme. »Hast du mich wirklich so lieb?« lachte
+ich. Er zog mich stürmisch an sich: »Dich, dich hab' ich lieb,«
+flüsterte er leidenschaftlich, »das süße Katzel, -- meinen Schatz; --
+die berühmte Frau kann mir gestohlen werden ...«
+
+ * * * * *
+
+In der ersten Morgenfrühe weckte mich ein wilder Schrei. »Aus Minnas
+Stube,« -- sagte ich mir und stürzte hinunter. Sie lag in ihrem Blut,
+und als der Arzt kam, schwand mein letzter Zweifel: sie hatte gewaltsam
+die Folgen ihres Liebesverhältnisses beseitigen wollen.
+
+An ihrem Krankenbett studierte ich die Dienstbotenfrage. Sie faßte
+Vertrauen zu mir. Ich erfuhr von diesem armen Leben, das von Kindheit an
+unter fremden Leuten in ständiger Unfreiheit, in ununterbrochener
+Dienstbarkeit verflossen war. »Was muß unsereiner doch auch haben, --
+was fürs Herz. Und wenn ich nicht getan hätte, was er wollte, -- dann
+wär' er fortgegangen, -- dann hätte er zehn für eine gefunden,«
+schluchzte sie.
+
+»Warum heirateten Sie nicht?« wagte ich einmal einzuwenden. »Heiraten?!
+Womit denn?! -- Arbeit hat mein Franz keine, -- meine paar Spargroschen
+gab ich ihm, -- und vor so einer Jammerwirtschaft in einem Loch auf'n
+Hof mit'n halb Dutzend Göhren graut's mich ...« Sie wurde von Tag zu Tag
+elender. Ihr Franz fragte nur einmal nach ihr. Als er hörte, daß sie
+krank sei, kam er nicht wieder. Ich mußte sie schließlich der schweren
+Pflege wegen, die ihr Zustand nötig machte, ins Krankenhaus bringen.
+Dort starb sie.
+
+ * * * * *
+
+»Wir wollen die Harmonie zwischen Dienstboten und Herrschaften wieder
+herstellen ...« -- »die Dienstboten allein können nichts erreichen, es
+gehören auch die Herrschaften dazu ...« -- »den Arbeitern fehlt es heute
+an tüchtigen Hausfrauen, weil die Mädchen lieber in die Fabrik als in
+Stellung gehen, wo sie sich dazu vorbereiten könnten ...« Das waren die
+Leitmotive, unter denen die Versammlungen tagten, die der Dienerverein
+veranstaltete. Die wenigen weiblichen Dienstboten, die ihm schon
+angehörten, schlugen zwar zuweilen eine schärfere Tonart an, wenn die
+Erinnerung an all die erlittene Unbill sie überwältige, aber sie trugen
+schwarzweiße Kokarden und verwahrten sich nachdrücklich dagegen, mit der
+Arbeiterbewegung irgend etwas gemeinsam zu haben.
+
+Ich verhielt mich während der ersten Versammlungen nur als Zuhörerin
+und erkannte bald, daß es dem Verein an Mitteln und Mitgliedern fehlte
+und er offenbar nichts wollte, als durch Hinzuziehung weiblicher
+Dienstboten diesem Übel abzuhelfen. Im Grunde fürchtete er schon, die
+Geister, die er gerufen, nicht los zu werden, denn sobald ein Mädchen
+ihre Erfahrungen gar zu rückhaltlos zum besten gab, trat irgendein
+Beschwichtigungsapostel ihr entgegen.
+
+»Ich stelle den Antrag, daß wir uns der entstehenden Dienstbotenbewegung
+mit allem Nachdruck annehmen,« sagte ich, als ich wieder einmal mit den
+Genossinnen zusammenkam; »in jeder Versammlung müssen einige von uns
+anwesend sein. Wir dürfen die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, um
+diese rechtlosesten unter den Arbeiterinnen zum Bewußtsein ihrer Klasse
+zu erziehen. Wir müssen so bald als möglich eine selbständige
+Organisation gründen, damit sie dadurch dem Einfluß dieses
+grundsatzlosen Vereins nicht unterworfen bleiben.«
+
+Aber je lebhafter ich sprach, desto kühler und zurückhaltender waren die
+anderen. »Genossin Brandt scheint nicht zu wissen, daß die Dienstboten
+kein Koalitionsrecht besitzen --,« meinte Martha Bartels naserümpfend.
+
+»Gerade weil ich das weiß, empfinde ich um so mehr unsere Verpflichtung,
+ihnen zu helfen, ihnen das Rückgrat zu stärken,« entgegnete ich heftig.
+
+»Die Dienstmädchen sind noch längst nicht reif für unsere Bewegung, --
+überlassen wir sie ruhig sich selbst,« sagte eine andere.
+
+»Damit sie den Nationalsozialen in die Hände fallen, die ihre Netze
+auslegen, wo immer sie einen Proletariermassenfang erwarten dürfen,«
+antwortete ich, und unterdrückte noch rasch eine Bemerkung über die
+Schädlichkeit dieses fatalistischen Glaubens an die Alleinseligmachung
+der ökonomischen Entwicklung, der uns in geeigneten Momenten die Hände
+in den Schoß legen läßt.
+
+»So werde ich denn allein mein Heil versuchen,« erklärte ich
+schließlich, als mein Antrag abgelehnt wurde, und verließ die Sitzung.
+
+Von nun an fehlte ich in keiner Dienstbotenversammlung. Mit bunten
+Sommerhüten und hellen Blusen füllten die während der Reisezeit der
+»Herrschaften« dienstfreien Mädchen die glutheißen Säle. Zuerst kamen
+nur die Gutgestellten, die Jungen, die Handschuhe trugen und zuweilen
+vornehmer aussahen wie ihre »Gnädigen«. Sie betrachteten die Sache fast
+wie eine Ferienlustbarkeit und kokettierten mit den Männern, die hier
+auf Abenteuer ausgingen. Aber allmählich überwogen die älteren, die von
+zehn und zwanzig und dreißig Dienstjahren erzählen konnten, und die
+Armen, die Mädchen für Alles waren, auf deren schmale Schultern die gut
+bürgerliche Hausfrau die Lasten des Lebens abzuwälzen sucht. Und ihre
+Klagen wurden lauter, ihre Worte deutlicher; das Kichern und Lachen
+verstummte vor den Bildern des Grams, die sich enthüllten.
+
+Es gab welche, die ihre Kolleginnen um den dunkeln Hängeboden über der
+Küche beneideten, weil sie nichts hatten als ein Schrankbett auf dem
+offenen Flur oder eine Matratze im Baderaum: »Dabei wird unsere gute
+Stube nur zweimal im Jahre für die große Gesellschaft geöffnet ...«
+
+Ach, und die schmale Kost bei der harten Arbeit: »Eine Stulle mit
+Schweineschmalz am Abend, -- während der Herr drinnen Rotwein trinkt zu
+fünf Mark die Flasche ...«
+
+Vor allem aber: »Nie ein Stündchen freie Zeit ... Wir schrubbern und
+kochen, während die Herrschaft spazieren geht, ... wir hüten die Kinder,
+während sie tanzen ...«
+
+Dazwischen schüchterne Bitten der Ängstlichen und Gutmütigen: »Nur ein
+wenig geregelte Arbeitszeit, -- und freundliche Worte statt des ewigen
+Zanks, -- dann wollen wir gern dienen, wollen treu und fleißig sein.«
+
+Sie waren wie aufgescheuchte Vögel, die ohne Richtung hin- und
+herflattern. Als ich zum erstenmal vor ihnen zu reden begann, hielten
+sie mich für eine »Gnädige«. »Nu aber jeht's los!« rief kampflustig eine
+rundliche Köchin. Alles lachte. Ich sprach von den Gesindeordnungen, den
+Ausnahmegesetzen für die Dienstboten, die sie den Dienstgebern fast
+rechtlos in die Hände liefern, von der erlaubten »leichten« körperlichen
+Züchtigung, von den vielen Gründen zur Entlassung ohne Kündigung und
+schließlich von einer jener Schöpfungen der preußischen Reaktion, die
+den Streik der Dienstboten mit Gefängnis bestraft. Noch hörte man mir
+ruhig zu, unsicher, was ich aus den Tatsachen folgern würde. Nur der
+Vorsitzende, der stets aus eigener Machtvollkommenheit »das Hausrecht
+übernahm«, sah beunruhigt zu mir auf.
+
+»Für Sie ist demnach die Zuchthausvorlage, die Deutschlands gesamte
+Arbeiterschaft knebeln will, immer Gesetz gewesen,« rief ich laut.
+
+»Eine Sozialdemokratin!« kreischte neben mir eine Frau in hellem
+Entsetzen. Ein unbeschreiblicher Lärm erhob sich; auf die Tische
+sprangen die Mädchen in hysterischer Erregung, schrieen und winkten mit
+den Taschentüchern; eine von ihnen drängte sich neben mich, ballte die
+Fäuste und rief schluchzend: »Wir sind königstreu! Wir sind
+gottesfürchtig!« Hilflos, mit angstgerötetem Gesicht schwang der
+Vorsitzende unaufhörlich die Glocke. Aber in der nächsten Versammlung
+erwarteten mich schon ein paar Mädchen an der Türe: »Sie werden
+sprechen, nicht wahr? -- Wir werden Ihnen Ruhe verschaffen!«
+
+Und im überfüllten Saal waren außer den Dienstboten: Neugierige,
+Hausfrauen, bürgerliche Frauenrechtlerinnen, Journalisten mit der frohen
+Erwartung einer in möglichst vielen Zeilen zu beschreibenden Sensation.
+Auch ein paar Genossinnen entdeckte ich: Ida Wiemer und Marie Wengs.
+»Wir greifen ein, wenn's not tut,« sagten sie, »nur tapfer!« Bis um
+Mitternacht ließ mich der Vorsitzende nicht zu Worte kommen. Ich ging im
+Saal umher, von Tisch zu Tisch. »Das ist Recht und Freiheit im
+Dienerverein,« sagte ich. Jemand rief: »Alix Brandt soll reden!« und der
+Ruf pflanzte sich fort und dröhnte schließlich durch den Saal. Als ich
+aber auf dem Podium stand, erstickte ihn ein zorniges Zischen; die Kraft
+meiner Stimme kämpfte dagegen an, und wie ein Unwetter in der Ferne
+verklang es.
+
+»Sie wollen eine Verbesserung der Gesindeordnung, als ob auf
+verunkrautetes Feld frischer Samen gesät werden sollte. Es gibt nur eine
+Forderung, die Sie stellen dürfen: ihre Abschaffung, damit Sie den
+Arbeitern gleichgestellt werden --«
+
+»Wir sind keine Arbeiterinnen, -- wollen keine sein!« rief ein
+zierliches Zöfchen mit gebrannten Stirnlocken entrüstet.
+
+»Sie predigen Harmonie zwischen Herrschaft und Dienstboten, und doch
+gibt es zwischen ihnen ebensowenig eine Interessengemeinschaft wie
+zwischen dem Arbeiter und dem Unternehmer --«
+
+»Unerhört!« -- Ein paar Damen mit hochrotem Gesicht drängten sich zur
+Türe. Die Mädchen lachten hinter ihnen: »Sie können die Wahrheit nicht
+vertragen!«
+
+»Je mehr Sie Maschinen sind, desto weniger Menschen sind Sie und desto
+bessere Dienstboten im Sinne der Hausfrauen ... Sie wollen statt der
+endlosen eine beschränkte Arbeitszeit, Sie tun recht daran. Aber die
+Masse der Hausfrauen ist nicht in der Lage, statt eines, zwei und drei
+Mädchen für dieselbe Arbeit anzustellen. Sie wollen statt einer
+Schlafstelle ein Zimmer, das ihnen etwas wie ein Zuhause sein kann. Sie
+tun recht daran. Aber bei der heutigen Einteilungsart der Wohnungen und
+ihren hohen Preisen sind die meisten Frauen nicht imstande, sie Ihnen zu
+geben. Sie wollen -- lassen Sie mich aussprechen, was Sie selbst noch
+nicht ausgesprochen haben -- Sie wollen mit Ihren Freundinnen verkehren
+können, Ihren Bräutigam sehen, ohne auf die Straße, auf die Tanzböden
+gehen zu müssen --«
+
+»Unglaublich!« -- Und wieder leerte sich der Saal um zahlreiche elegante
+Zuhörer.
+
+»Das ist Ihr gutes Recht. Und wer sich hier entrüstet gebärdet, den
+frage ich: was empört sich in Ihnen? Ihre Sittlichkeit?! Ist es
+sittlich, junge, lebensvolle Mädchen, die auf Freude dasselbe Recht
+haben wie die höheren Töchter, denen die Natur dasselbe Verlangen nach
+der Erfüllung ihrer Geschlechtsbestimmung verlieh wie diesen, auf
+Hintertreppen, auf Schleichwege und zweifelhafte Balllokale anzuweisen,
+statt ihnen den Schutz des Hauses zu verleihen ..?«
+
+Minutenlanger Beifall unterbrach mich. Dicht um das Podium scharten sich
+junge Gestalten und leuchtende Augen hingen an meinen Lippen.
+
+»Es ist vielmehr der natürliche Egoismus, der Interessengegensatz der
+Hausfrauen zu den Dienenden, der auch die Wohlwollenden unter ihnen
+zwingt, fremden Gästen ihr Haus zu schließen ... Wir werden für die
+Gegenwart eine Reihe von Forderungen an die Gesetzgebung im Interesse
+der Dienenden zu stellen haben, deren Erfüllung viele Mißstände
+beseitigen wird. Aber der Dienst des Hauses wird nur dann den Charakter
+des Sklavendienstes verlieren und zur Würde selbständiger Arbeit sich
+entwickeln, wenn das abhängige Dienstmädchen sich in die freie
+Arbeiterin verwandelt hat, die ihre Arbeitskraft nur stundenweise
+verkauft, die imstande ist, in Reih und Glied mit dem in der
+Sozialdemokratie organisierten Proletariat für ihre letzten Ziele zu
+kämpfen ..«
+
+Ich stieg in den Saal hinunter, umbraust von Beifallsrufen und
+Schimpfworten.
+
+Von nun an hatte ich die Mehrheit auf meiner Seite. Die Versammlungen
+wurden ruhiger, sachliche Beratungen der aufzustellenden Forderungen
+wurden ermöglicht.
+
+Der Lärm tobte statt dessen außerhalb der Säle weiter. Die Presse schrie
+nach der Polizei; Hausfrauenversammlungen nahmen geharnischte
+Resolutionen an, durch die sich die Anwesenden verpflichteten, ihren
+Dienstboten den Besuch unserer Zusammenkünfte zu verbieten. Alles war
+von der Angst ergriffen, daß mit der Dienstbotenbewegung die Intimität
+des Familienlebens der Sozialdemokratie ausgeliefert sei. Auf mich, die
+ich diese Gefahr über die ruhigen Bürger heraufbeschworen hatte,
+konzentrierte sich der persönliche Haß. In allen Tonarten wurde ich
+beschimpft und verleumdet. Und selbst nahe Freunde, aufgeklärte,
+freidenkende Menschen, sprachen mir mündlich und schriftlich ihre
+Mißbilligung aus. Die ruhigsten Frauen gerieten dabei in
+leidenschaftliche Erregung.
+
+»Der Kanal, in den Sie den Strom der Dienstbotenbewegung geleitet haben,
+wird das 'traute Familienleben' überfluten. Was dann?!« schrieb mir
+Romberg.
+
+Meine Mutter erfuhr durch die Zeitungen von den Vorgängen in Berlin.
+»Immer wieder zerstörst Du durch die Maßlosigkeit Deiner Forderungen
+ihren nützlichen Kern und machst Dir und Deiner Sache die
+wohlwollendsten Menschen zu Feinden,« hieß es in einem Brief von ihr.
+Tags darauf folgte ihm ein zweiter, dem ein Schreiben meiner augsburger
+Tante beigelegt war. »Nach den unerhörten Vorgängen in Berlin bin ich
+außerstande, an Alix persönlich zu schreiben. Ich habe sie bisher immer
+verteidigt, habe ein Auge zugedrückt, wo ich konnte, aber ihre
+unverantwortliche Aufhetzung der Dienstboten, -- denen es im Grunde nur
+zu gut geht, -- werde ich weder verstehen, noch verzeihen können. Teile
+ihr das in meinem Namen mit und sage ihr, was vielleicht nicht ohne
+Eindruck auf sie bleiben wird, daß auch ihre alten Freunde, die
+Grainauer Bauern, empört über sie sind ...« Ich lächelte unwillkürlich:
+wenn ich von der Unfreiheit des Gesindes sprach, mußten sie sich
+getroffen fühlen.
+
+Aber dann machte ich mir den Ernst der Sache klar: Ich hatte in Gedanken
+an das reiche Erbe der Tante nie auch nur einen Bruchteil meiner
+Überzeugungen preisgegeben, die Selbständigkeit meiner Entschließungen
+war nie durch sie beeinflußt worden. Jetzt aber besaß ich einen Sohn,
+dessen einzige Zukunftsaussicht vielleicht in Frage stand, -- seine
+Eltern hatten nicht das Zeug dazu, Kapitalisten zu werden! -- und ich
+wußte nur zu gut, was es heißt, unter dem Druck ständiger Sorgen zu
+leben, ich ahnte, wie frei sich ein Mensch entfalten, wie ungehindert er
+seine Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit stellen kann, der an das
+Dach über dem Kopf, an den Rock auf dem Leib und das tägliche Brot
+keinen seiner Gedanken zu verschwenden braucht. Ich schrieb an Tante
+Klotilde und versuchte, ihr meine Stellung zur Dienstbotenfrage
+auseinanderzusetzen. Ich bekam meinen Brief uneröffnet zurück. Meiner
+Mutter teilte sie mit, daß sie das Geschehene vergessen wolle, wenn ich
+nach dieser Richtung auf meine agitatorische Tätigkeit verzichten würde.
+
+In jenen Tagen erklärte Wanda Orbin in der 'Freiheit', daß die
+Genossinnen verpflichtet seien, sich der Dienstbotenbewegung anzunehmen.
+Wenn sie schon ohne besonderen Beschluß immer häufiger in den
+Versammlungen erschienen, so war dies das Signal zur Änderung ihrer
+Stellung der ganzen Sache gegenüber. Die Veranstaltung selbständiger
+Versammlungen wurde beschlossen, und zur Rednerin wurde ich bestimmt.
+Ich zögerte: verletzte ich nicht ein höheres Interesse, das meines
+Sohnes, wenn ich zusagte?
+
+»Lege ihm die Frage vor, wenn er reif genug ist, sie zu verstehen,«
+sagte mein Mann. »Wie er sie beantworten wird, kann ich dir jetzt schon
+sagen: Meine Mutter darf niemandem, auch mir nicht, ihre Überzeugung
+opfern.«
+
+Und ich sprach. Die Empörung in der Öffentlichkeit wuchs mit jeder
+Versammlung. Mit einer gewissen Ostentation zogen sich die Menschen von
+mir zurück. Aber die Bewegung war im Fluß und durch nichts mehr
+aufzuhalten. Wäre ich weise genug gewesen, der fachliche Erfolg allein
+hätte mich befriedigt. Aber noch war ich zu jung, war zu sehr Weib, um
+den Menschen und den Ereignissen mit der kühlen Objektivität reifer
+Politiker gegenüberstehen zu können. Im Grunde sehnte ich mich nach
+einem warmen, aufmunternden Wort seitens meiner Kampfgefährten, nach ein
+wenig freundlicher Anerkennung. Statt dessen begegneten sie mir stets
+mit gleicher Kühle, mit gleicher Zurückhaltung. Zu keiner einzigen
+entstand ein persönliches Verhältnis; je länger ich mit ihnen arbeitete,
+desto fremder schien ich ihnen zu werden.
+
+»Ich bin aus Liebe zu euch gekommen, mit vollem Herzen und ganzer
+Kraft,« hätte ich sagen mögen, »warum stoßt ihr mich zurück?«
+
+Ich kämpfte oft mit den Tränen, wenn ihr Mißtrauen mir immer wieder
+begegnete. Und nachher hörte ich, daß man über meinen Hochmut, meine
+Unnahbarkeit schalt. Im stillen hoffte ich, man würde mich diesmal zum
+Parteitag delegieren, aber ich wurde nicht einmal dazu vorgeschlagen.
+Martha Bartels sagte nicht ohne Betonung: »Wir bleiben natürlich dem
+Grundsatz treu, nur bewährte Genossinnen mit einer Delegation zu
+betrauen.« Darauf wurde die große, hagere Frau Resch gewählt; sie trug
+schon seit Jahren unermüdlich Flugblätter aus, und ihr Mann war eine
+Größe in der inneren Bewegung.
+
+»Was kümmerst du dich um die Weiber!« meinte mein Mann ärgerlich, als
+ich ihm klagte. Und Ignaz Auer, der uns an einem schönen
+Septembersonntag besuchte, wiederholte dasselbe.
+
+»Glauben Sie mir altem Knaster,« meinte er, und sein schönes blasses
+Gesicht nahm jenen rätselhaften Ausdruck an, der aus Sarkasmus und
+Melancholie zusammengesetzt war, »glauben Sie mir: solange ich denken
+kann, war bei den Frauen stets derselbe Krakehl, und wenn ich schon
+lange modere, wird's ebenso sein. Sie haben alle Untugenden der
+Unterdrückten in konzentriertester Form, und schwingt man nicht, wie die
+Wanda, ständig die Knute, so hat man verspielt. Seien Sie versichert:
+schon Ihr Aussehen vergeben Ihnen die Weiber nie.«
+
+»Und doch sind Sie als Sozialdemokrat für die Gleichberechtigung der
+Geschlechter?« wandte ich ein. Er wehrte ab, mit einer vollendet
+geformten starken Männerhand, die aber durch ihre Blutleere an die eines
+Toten gemahnte. »Ich werd's ja, gottlob, nicht erleben!« sagte er. »Nach
+der Richtung hat die Wanda recht, wenn sie den Auer mit dem Bernstein,
+den Schippel und den Heine in einen Topf wirft: ich bin mehr für die
+Bewegung als für das Endziel.« So waren wir wieder bei dem Thema
+angelangt, in das jede Unterhaltung zwischen Parteigenossen zu münden
+pflegte.
+
+»Der Parteitag in Hannover wird eine Klärung bringen,« meinte ich im
+Laufe der Unterhaltung.
+
+»Eine Klärung?!« Er lachte kurz auf. »Ich muß Genossin Bartels wirklich
+recht geben: Sie sind noch nicht mandatsfähig! Glauben Sie wirklich, so
+tiefgehende Meinungsverschiedenheiten, die auf Unterschieden des
+Temperamentes, der Urteilskraft, der Bildung und der Lebenslage beruhen,
+ließen sich durch bloßes Handaufheben entscheiden?! Wir werden sie auch
+mit zehn Parteitagen nicht aus der Welt schaffen. Und wieder füge ich
+hinzu: Gottlob nicht! Es wäre nur ein Zeichen von Altersschwäche, wenn
+wir alle ja schrien. Die Hauptsache bleibt die Einigkeit im Handeln. Und
+um die ist mir nicht bange, -- die zwingen uns unsere Gegner auf.«
+
+»Die Meinungsverschiedenheiten wären gewiß kein Unglück, wenn nicht die
+Unduldsamkeit hinzukäme,« sagte mein Mann.
+
+»Auch die ist noch nicht das Schlimmste. Wenn wir die eigene Ansicht für
+die richtige halten, so müssen wir doch konsequenterweise die falsche
+des Gegners bekämpfen,« entgegnete Auer. »Nur daß der Andersdenkende
+immer gleich als ein hundsgemeiner Kerl gebrandmarkt wird, -- das ist
+bitter.« Er verabschiedete sich. Er fürchtete sichtlich, sich zu Klagen
+und Anklagen hinreißen zu lassen. An der Gartentür blieb er stehen, ein
+spöttisches Lächeln kräuselte seine Lippen: »Wenn Sie übrigens ein
+Mandat haben wollen, Genossin Brandt, -- ich verschaff' es Ihnen. Die
+liebe Wanda und ihre Leibgarde ein wenig zu ärgern, macht mir Spaß. Sie
+müssen sich nur nachher zur Agitation in dem betreffenden Kreis
+verpflichten.« Ich schüttelte den Kopf. Mir widerstrebte die Sache.
+
+»Nimm's an, Alix,« mahnte mein Mann, »so zeigst du am besten, daß du von
+der Gnade der berliner Frauen nicht abhängig bist.«
+
+»Sie können's tun, -- ganz ohne Gewissensbisse. Sowas haben auch die
+obersten Halbgötter nicht verschmäht.« Zögernd sagte ich zu. Es war mir
+nicht wohl dabei, so sehr ich auch gewünscht hatte, einem Parteitag, und
+vor allem diesem, beizuwohnen.
+
+Kurz ehe wir abreisten, kam meine Mutter zurück. Sie schien um ein
+Jahrzehnt verjüngt. »Ich bleibe bei dem Kleinen, während ihr fort seid,«
+sagte sie; »das wird mein bedrücktes Gewissen etwas erleichtern, -- nach
+diesen selbstsüchtigen Monaten!«
+
+Wir mußten ihr nun auch von unserer Absicht, das Haus zu verkaufen,
+erzählen. »Das ständige Hin- und Herfahren zerrüttet unsere Nerven,«
+sagte ich leichthin, »ich müßte auf die öffentliche Tätigkeit
+verzichten, wenn wir draußen bleiben wollten.«
+
+Sie sah von einem zum anderen in stummer sorgenvoller Frage. »Es ist
+wirklich so, Mamachen --,« versicherte ich lächelnd. Sie schüttelte
+fast unmerklich den Kopf und fragte nichts mehr.
+
+ * * * * *
+
+Zwischen schmalen Gassen und engen Höfen, fern jenem modernen Teil der
+Städte, der auch in Hannover ebenso elegant wie charakterlos ist, liegt
+eine große dunkle Halle, der Ballhof genannt. Vor Zeiten warfen hier
+Kurfürsten, Prinzessinnen und Könige einander im graziösen Spiel ihre
+Bälle zu, bis mit schwerem Schritt und ernstem Gesicht einer kam, dem
+Spielen fremd war: der Proletarier. Hellere Räume suchten die Fürsten
+für ihre Freuden; er nahm für seine Arbeit, was sie übrig ließen: die
+dunkle Halle. Mit frischem Grün waren ihre Pfeiler umwunden, hinter
+purpurroten Fahnen verschwanden die alten schmucklosen Wände. Das
+Parlament der Arbeiter tagte hier. Draußen lachte die Oktobersonne,
+drinnen brannte über den langen Tafeln künstliches Licht, das auf alle
+Gesichter scharfe Schatten zeichnete, sodaß sie finster und feindselig
+erschienen. Dumpf hing die Luft im Raum; der Atem der Jahrhunderte war
+hinter den winzigen Fenstern gefangen geblieben. Er beengte die Brust.
+
+Lange vor dem Beginn der Verhandlungen war der Saal schon gefüllt.
+Anschwellendes Stimmengewirr, Stühlerücken, Rascheln von Papier, --
+jenem Papier, daß alle Süßigkeiten und alle Gifte der Welt auszuströmen
+vermag, -- bildete die in ihren ungelösten Disharmonien aufreizende
+Ouvertüre. Zeitungsblätter wurden hin- und hergezeigt: »Bernstein
+Apostata« stand über dem einen Artikel, »Reinliche Scheidung« über
+einem zweiten; »wir werden mit dem Revisionismus fertig werden, oder
+wir sind fertig,« hieß es an einer rot angestrichenen Stelle, »die
+Genossen im Reich erwarten eine klare Entscheidung,« an einer anderen.
+Von der unausbleiblichen Spaltung der Partei sprachen frohlockend
+bürgerliche Zeitungen; in linksliberalen Blättern begrüßten
+Kathedersozialisten die Anhänger Bernsteins als die ihren.
+
+Bureauwahl. Es hörte kaum jemand zu. Paul Singer war anwesend, das
+Präsidium also von vornherein in guten Händen. Die Begrüßungsreden der
+Ausländer dämpften das Stimmengewirr im Saal. Frankreich, wo der
+Dreyfus-Skandal noch im Mittelpunkt des Interesses stand, wo Millerand,
+der Sozialdemokrat, mit Jaurès', des Sozialdemokraten, ausdrücklicher
+Zustimmung das in den Augen der deutschen Radikalen unverzeihliche
+Verbrechen begangen hatte, in das Ministerium einzutreten, -- Seite an
+Seite mit Gallifet, dem Mörder der Kommune, -- war nicht vertreten. Des
+alten Liebknecht heftige Angriffe auf die Genossen jenseits der Vogesen
+mochte an dieser Zurückhaltung nicht ohne Schuld sein.
+
+Die Verhandlungen begannen. Mit ungeduldiger Hast wurde ein Punkt der
+Tagesordnung nach dem anderen erledigt. Alles drängte dem Hauptthema des
+Parteitages zu. Und selbst mitten in die nebensächlichsten Debatten
+hinein blitzte schon das Wetter der kommenden Tage.
+
+»Sie stehen bereits mit der Brandfackel an unserem Scheiterhaufen --,«
+sagte einer der Revisionisten neben uns.
+
+Am Abend, als wir Frauen zu einer internen Besprechung zusammenkamen,
+fühlte ich: in Gedanken war die »reinliche Scheidung« schon vollzogen.
+Wir berieten einen Antrag für den Arbeiterinnenschutz, der unserer
+nächsten agitatorischen Tätigkeit Inhalt und Richtung geben, und dessen
+Forderungen durch den Parteitag sanktioniert werden sollten. Im Grunde
+waren es lauter Selbstverständlichkeiten. Nur der Schutz der Schwangeren
+war neu. Ich hatte dafür gekämpft, obwohl ich wie vor einer Mauer redete
+und sie hatten ihn nicht ablehnen können, ohne sich selbst ins Gesicht
+zu schlagen. Dafür waren sie um so hartnäckiger, als ich die
+Unterstellung der Dienstboten unter die Gewerbeordnung in den Antrag
+aufzunehmen empfahl. Das steht bereits in unserem Programm, hieß es.
+Aber viele unserer anderen Forderungen standen auch darin. Und gerade
+jetzt wäre es wichtig gewesen, uns offiziell mit der Dienstbotenbewegung
+solidarisch zu erklären. »Wir dürfen unsere Kräfte nicht verzetteln.« --
+Damit war die Sache abgetan.
+
+Die Frauen rückten nach der Besprechung freundschaftlich zueinander,
+unterhielten sich mit wohltuender Herzlichkeit mit all den Genossinnen,
+die aus Ost und West hierher gekommen waren; mich streifte zuweilen ein
+scheuer Gruß, ein fremder Blick; -- ich ging hinaus.
+
+In unserem Gasthof fand ich die Führer in erregte Unterhaltung vertieft.
+Ihre Augen glühten in jugendlichem Feuer, selbst die Ausbrüche ihrer
+Leidenschaft bändigte der heilige Ernst, mit dem sie alle für ihre Sache
+kämpften. Bebel war am stillsten; immer wieder strich er sich nervös die
+widerspenstige Locke aus der Stirn; auf ihm lastete die Verantwortung
+der kommenden Tage.
+
+ * * * * *
+
+Kalt und grau brach der nächste Morgen an. Im Ballhof kämpften die
+elektrischen Lampen umsonst gegen das Dunkel; es hockte um so deutlicher
+hinter den Pfeilern und zwischen den Tischen, je heller in ihrem
+direkten Strahlenkreis das Licht erschien. Nur langsam füllte sich heute
+der Saal, und nur wenige Stimmen wurden laut. Ein gemessener Ernst lag
+auf allen Gesichtern und eine zweifelvolle Erwartung. Singer betrat das
+Podium:
+
+»... zur Verhandlung steht Punkt 4 der Tagesordnung: 'Die Angriffe auf
+die Grundanschauungen der Partei'. Das Wort hat der Berichterstatter
+Genosse Bebel.« Noch ein heftiges Stühlerücken, dann tiefe Stille.
+
+Bebels Stimme allein beherrschte den Raum.
+
+Im Gesprächston begann er, ruhig, fast gemütlich. Jeder Zuhörer fühlte
+sich unwillkürlich persönlich angeredet. Selbst als er die unbeschränkte
+Freiheit der Kritik an den eigenen Grundanschauungen als die Lebenslust
+der Partei bezeichnete, warf er den Satz nicht wie einen Fehdehandschuh
+in die Menge, sondern sprach im Tonfall der Konstatierung einer
+Selbstverständlichkeit. Die Fragen der materialistischen
+Geschichtsauffassung, der Dialektik, der Werttheorie schaltete er von
+vornherein aus, -- »der Kongreß ist kein wissenschaftliches Konzil,«
+sagte er, -- um zum Problem des Entwickelungsprozesses der
+kapitalistischen Gesellschaft überzugehen, das Bernstein anders
+darstellte als Marx und Engels. Eine Fülle statistischer Berechnungen
+schüttete er vor uns aus, um Bernsteins Ansichten zu entkräften, um
+festzustellen, daß das marxistische Dogma von der Zuspitzung der
+wirtschaftlichen Gegensätze, von der relativen Verelendung des
+Proletariats noch unerschüttert ist.
+
+Und angesichts der verwirrenden Masse des Materials, an der die große
+Menge den Grad der Wissenschaftlichkeit mißt, wie sie an der Häufigkeit
+der Zitate den Grad der Bildung zu messen pflegt, ging ein Flüstern
+staunender Bewunderung durch die Reihen, das sich in einem »sehr
+richtig«, einem »hört, hört« wieder und wieder Luft machte.
+
+Bebels Stimme schwoll an, seine Bewegungen wurden lebhafter, seine
+kleine Gestalt reckte sich. Er malte die Not des Proletariats. Die
+grollende Leidenschaft dessen, dem das Elend Auge in Auge
+gegenübertritt, zitterte in seinen Worten, und klein und jämmerlich
+erschien dagegen, was Bernsteins nüchterne Schreibstubenweisheit von der
+gebesserten Lage des Arbeiters zu berichten gewußt hatte.
+
+Wie der peitschende Ostwind über die Baumwipfel, so wehte seine Rede
+über die Köpfe. Und sie neigten sich gedankenschwer, sie wandten sich
+einander zu; sie hoben sich wieder, von einem Wort, das sie traf,
+emporgerissen. Da und dort stand einer auf, wie magnetisch angezogen von
+dem, der sprach. Eine dunkle Gruppe Menschen umringte die Rednertribüne.
+
+Auf einmal aber war es der Wind nicht mehr, der in den Ästen rauscht, --
+es war der Sturm. Die jugendstarke Kraft des Revolutionärs, die
+begeisterte Schwärmerei des Glaubenshelden donnerte und brauste in den
+Worten des Agitators. All der zaghafte Pessimismus, all der unschlüssige
+Zweifel, all die resignierte Bedenklichkeit, mit denen Bernstein die
+Seelen belastet hatte, flog vor ihnen davon wie Spreu und Staub. Und wie
+der Geisterbeschwörer aus dem Nebel Gestalten entstehen läßt, so
+entwickelte sich unter dem Zauberstab des Redners die Erscheinung des
+alten Marx. War er es wirklich? Seltsam, -- uns allen, die wir
+aufmerksam zusahen, kam es vor, als habe Bernstein manche Farben zu
+diesem Bilde gemischt. Was Bernstein wider ihn gesagt hatte, das nahm
+Bebel für ihn in Anspruch: Die Elendstheorie hat an den Tatsachen
+Schiffbruch gelitten, sagte Bernstein, -- nie hat Marx sie im Sinne des
+absoluten Niederganges aufgefaßt, erklärte Bebel; der Hinweis auf die
+Erlöserkraft der Revolution ist vom Übel, sagte Bernstein, -- auf die
+Evolution hat Marx schon das größte Gewicht gelegt und niemals das Heil
+im Straßenkampf gesehen, erklärte Bebel. Und während er sein
+Feuerschwert gegen all die zückte, die vor lauter Wenn und Aber den
+rücksichtslosen Kampfmut einzubüßen im Begriffe standen, traf es auch
+die Inquisitoren, die ihn besaßen, aber auf die Ketzer im eigenen Lager
+zielten.
+
+Die Menge, die sich zuerst auseinandergerissen wie Steine von einem
+Felssturz vor ihm ausgebreitet hatte, -- jeder die scharfe Kante
+feindselig wider den anderen gekehrt, -- schien wieder ein Marmorbruch,
+aus dem er planvoll gewaltige Quadern schlug, die sich zu Grundmauern
+zusammenschließen ließen.
+
+Fünf Stunden sprach er schon. Nun wich der Sturm seiner Rede wieder dem
+ruhigen Gesprächston; sich selbst zurückgegeben, atmete die Menge tief
+und gesättigt auf. Noch einmal, wie der letzte ferne Donner des
+Gewitters, hob sich seine Stimme in ungeschwächter Kraft: »Unsere
+Grundanschauungen sind nicht erschüttert, -- wir bleiben, was wir
+waren --.« Tobender Beifall verschlang den Schluß.
+
+Minutenlang stand der nächste Redner, Eduard David, an Bebels Stelle,
+ehe seine Stimme den Lärm durchdrang. »Ich habe den Mut, auch nach
+Bebels Referat, Bernstein in seinen Anschauungen zuzustimmen,« sagte er.
+Irgendwo zischte jemand, aber der Respekt vor dem ehrlichen Bekenntnis
+unterdrückte rasch jeden Laut des Mißfallens. Kühl, fast nüchtern sprach
+er; wer ihn auch nicht kannte, empfand: er kam mitten aus der Praxis des
+politischen Gegenwartslebens, er stand nicht mehr im Bann der Tradition
+der Sekte mit ihrer Geheimbündelei, ihrem Märtyrertum, ihrer
+Glaubensseligkeit. Er ließ das grelle Licht des Tages auf die durch
+Bebel beschworene Geistererscheinung von Marx fallen, und hinter ihr
+stand der lebendige Bernstein. Wo Bebels Leidenschaft Gegensätze
+verwischt oder sein Zorn die Ansichten des Gegners niedergetrampelt
+hatte, da malte er sie groß und deutlich, wie der Lehrer die
+Rechenaufgaben vor der Klasse auf die schwarze Tafel. Keiner, der nicht
+blind war, konnte sich ihnen verschließen. Und er rief in die
+Wirklichkeit zurück, wo Bebel uns auf den Flügeln seiner Phantasie in
+die Zukunft getragen hatte. »Die höhere prinzipielle Bewertung der
+Gegenwartsarbeit, -- das ist es, was Bernstein uns gibt, und das ist
+mehr wert, als was er uns genommen hat,« erklärte er und verkündete
+gegenüber der einseitigen Betonung des Kampfs um die politische Macht --
+als des einzigen Mittels, den Sozialismus zum Siege zu führen -- die
+Dreieinigkeit der gewerkschaftlichen, der genossenschaftlichen, der
+politischen Bewegung, die durch tägliche Arbeit dem Sozialismus einen
+Fußbreit Erde nach dem anderen erobern.
+
+Nun erst war der Kampfplatz abgesteckt. Der Alltagsausdruck trat an
+Stelle der Begeisterungsglut, die Bebels Rede angefacht hatte, auf die
+Gesichter, und über die Geister herrschten wieder, an Stelle des großen
+einigenden Gedankens, all die Streitpunkte der praktischen Politik.
+
+Durfte ich mich deshalb dem Gefühl des Bedauerns überlassen, das mich
+momentan überwältigt hatte? Entsprang nicht jenes instinktive Festhalten
+an den überkommenen Anschauungen jener Schwerkraft des menschlichen
+Geistes, die sich von je im Dogmatismus, im Konservativismus, wie in
+Denkfaulheit und Bequemlichkeit geäußert hat? Wir, die wir Vorkämpfer
+sein wollten, waren verpflichtet, sie zu überwinden.
+
+Bewegte Tage kamen, ein Kampf, der nicht immer ein Kampf der Meinungen
+blieb. Und das »Kreuzige!« tönte am lautesten vom Munde der Frauen.
+Wanda Orbin kreischte es in den Saal hinein; Luise Zehringer, die
+Hamburger Zigarrenarbeiterin, wiederholte es; eine kleine polnische
+Jüdin, die eben erst in die deutsche Partei eingetreten war, kritisierte
+mit der Sicherheit einer Parteiautorität die Ansichten und Handlungen
+bewährter Führer. Und die Masse klatschte ihr Beifall. »Sehen Sie, --
+das ist eine Politikerin,« sagte ein Journalist, »je respektloser sie
+die Auer und Vollmar und Bernstein abkanzelt, desto sicherer ist ihr
+Erfolg.«
+
+Immer deutlicher sonderten die Parteien in der Partei sich voneinander
+ab; über dem tiefer und tiefer wühlenden Streit vergaßen auch die
+Leichtsinnigsten die Vergnügungen des Abends; Sitzungen wurden statt
+ihrer abgehalten. Es gab dabei Augenblicke, in denen es schien, als
+würden die Radikalen vor dem äußersten nicht zurückschrecken. Die
+uneingeschränkte Anerkennung des Parteiprogramms wollten sie fordern,
+wie der orthodoxe Priester den Schwur auf das Apostolikum. Und jeder
+begann im stillen die große Abrechnung mit sich selbst.
+
+Zum ersten Mal kam mir zum Bewußtsein, was all die Jahre hindurch die
+unbekannte Quelle meiner Kämpfe und Schmerzen gewesen war: die Sache
+forderte den ganzen Menschen restlos, ich aber wollte im Kampfe für sie
+ich selber bleiben. Und zu gleicher Zeit schien mir, als ob zuletzt kein
+anderes als dies Problem all den Kämpfen, die wir führten, zugrunde lag.
+
+»Warum bist du so stumm?« fragte mein Mann, als wir in der Mittagspause
+zusammensaßen.
+
+»Weil ich anfange zu fürchten, daß ich kein Recht habe, Genosse zu sein.
+Ich bin ja auch kein Christ --.« Verständnislos, ein wenig erschrocken,
+als zweifle er einen Augenblick an meinen gesunden Sinnen, sah Heinrich
+mich an. Ich legte meinen Arm in den seinen. »Hab keine Angst, Liebster,
+-- ich dachte niemals klarer als jetzt! Hingabe an den Willen Gottes bis
+zur Selbstentäußerung fordert das Christentum, Hingabe an den Willen
+der Massen der Sozialismus. Ob es zwischen dieser Forderung und dem
+Persönlichkeitsrecht eine Brücke gibt, das weiß ich im Augenblick
+ebensowenig, als wir es in der Partei wissen.«
+
+»Deine Formulierung ist falsch, ganz und gar falsch,« entgegnete
+Heinrich erregt, »nicht an den Willen, sondern an das Wohl der Massen
+wird die Hingabe verlangt.«
+
+»Und doch verlangt Ihr als etwas Selbstverständliches das Opfer der
+Überzeugung,« unterbrach ich ihn.
+
+Wir traten in den Saal. Mit einer fiebrigen Nervosität, die alle
+ergriffen hatte und manche jener robusten sehnigen Arbeitergestalten
+tragikomisch erscheinen ließ, rissen die Delegierten den austeilenden
+Ordnern die neuen Drucksachen aus der Hand. Es war Bebels Resolution in
+neuer Fassung. Wir verglichen.
+
+»... Nach alle diesem liegt für die Partei kein Grund vor, ihr
+Programm ...« las ich. »Jetzt heißt es: 'ihre Grundsätze und
+Grundforderungen' zu ändern« las Heinrich, »damit können wir uns ohne
+weiteres einverstanden erklären,« fügte er hinzu, und mit einem
+lächelnden Blick auf mich: »Du siehst, die Klippe tragischer Konflikte
+ist glücklich umschifft.«
+
+Auer kam an uns vorüber. In seinem Gesicht wetterleuchtete es. »Jetzt
+werde ich ihnen einmal zum Tanz aufspielen,« sagte er in grimmigem
+Scherz. Dabei sah ich, wie seine Finger sich zur Faust zusammenzogen.
+Von allen Seiten, schriftlich und mündlich, direkt und indirekt war er
+angegriffen worden. Er, der sich zur Bernsteinfrage in der
+Öffentlichkeit überhaupt nicht geäußert hatte, galt als der eigentliche
+und der gefährlichste Führer der Revisionisten, als der Abtrünnige.
+
+Die Luft im Saal war immer schwerer geworden. Oder war es nur die
+gesteigerte Reizbarkeit der Nerven, die sie so empfand? Irgendeine
+Entladung mußte kommen. Mit Naturnotwendigkeit schien jeder Redner die
+Gegensätze ins Absurde steigern, den Gegner bis zur Lächerlichkeit
+herabsetzen zu müssen. Die Zuhörer wurden unruhiger. Man ging ab und zu,
+man unterhielt sich.
+
+Da betrat Auer die Tribüne. Mit dem leisen Spott der Überlegenheit um
+die Lippen sah er über die Menge hinweg. Dann kam die Abrechnung.
+Unwillkürlich senkten sich alle Köpfe vor diesem gewaltigen Ausbruch
+eines feuerbergenden Kraters. Eine öffentliche Anklage war es, und am
+Pranger standen alle, die den befreienden Streik der Gedanken in ein
+lähmendes Gezänk um Personen verwandelt hatten. Und eine Verteidigung
+war es, -- eine Verteidigung des Mannes, den dieselbe Partei, um
+deretwillen er aus dem Vaterland verbannt worden war, des Verrats
+bezichtigte; -- aber auch eine Verteidigung seiner selbst, des in der
+jahrzehntelangen Parteiarbeit aufgeriebenen Kämpfers. Seine breiten
+Hände, -- bestimmt, einen Hammer zu führen oder ein Schwert, --
+umklammerten, zuweilen krampfhaft zuckend, den Rand des Rednerpults. Sie
+waren am Schreibtisch, in der eingeschlossenen Bureauluft weiß geworden.
+Das stolze Germanenhaupt, dem ein Ritterhelm gebührte, sank leise nach
+vorn. Die Sorgen der Partei lasteten schwer auf ihm. Das Antlitz, das
+auf den Bergen seiner Heimat, der Sonne am nächsten, braun und rot sich
+hätte färben müssen, war grau und fahl. Durchwachte Nächte sprachen aus
+seinen Augen.
+
+Gereizte Zurufe unterbrachen ihn, -- zu wuchtig fielen seine Schläge.
+Und seine Stimme, durch hunderte von Reden, hunderte von
+Agitationsreisen abgenutzt, drohte zu versagen. Noch eine die Luft
+durchschneidende Bewegung mit der Hand, als wolle er ausstreichen, was
+sich doch unauslöschlich seiner Erinnerung eingeprägt hatte, noch ein
+Witz, den er in die Masse warf, wie der Tierbändiger einen Knochen
+zwischen die Tiger, und der Strom seiner Rede erreichte in ruhigem Fluß
+sein Ziel.
+
+Die Resolution Bebel wurde angenommen, nur ein kleines Häuflein
+Unentwegter, die noch immer ihr »Kreuzige!« schrieen, stimmte dagegen.
+
+»... Auch auf diesem Parteitag hat es sich gezeigt, daß die Partei über
+ihre Grundsätze und ihre Taktik einheitlich denkt und auch fernerhin in
+voller Einmütigkeit handeln wird ...,« sagte Singer zum Schluß. Die
+Arbeitermarseillaise brauste durch den Ballhof. Hörte niemand die
+Dissonanz? Es waren nicht die Geister der Vergangenheit, die
+Prinzessinnen, die Kurfürsten und die Könige, die sie hervorriefen. Es
+war der Geist der Zukunft.
+
+ * * * * *
+
+Müde und erschöpft reisten wir heimwärts. Es dämmerte, als wir vom
+Bahnhof zum Grunewald fuhren. Wie herrlich die Stille war in den breiten
+Alleen! Wie erfrischend der Duft der Kiefern den heißen Kopf umstrich!
+Statt der vielen Menschenstimmen nur ein abendlich-süßes
+Vogelgezwitscher! Wer doch im Walde bleiben könnte! --
+
+Mit jenem feinen Taktgefühl, das auf dem Baume alter Kultur eine der
+köstlichsten Früchte ist, hatte meine Mutter, kurz ehe wir ankamen, das
+Haus verlassen. So konnten wir uns ungeteilt am Wiedersehen mit unserem
+Jungen freuen. Mir schien, als wären wir Wochen statt Tage weg gewesen:
+war er nicht viel größer und viel klüger geworden? Und wie entzückend
+ringelten sich die blonden Löckchen um den breiten Schädel! In
+übersprudelndem Eifer mußte er alles erzählen, alles zeigen. Seinen
+Bauernhof packte er vor mir aus, nahm die Bäume und rief: »Nu laufen sie
+zu dem lieben, duten Mamachen!« »Aber Bäume laufen doch nicht!« meinte
+ich. Darauf nickte er altklug mit dem Köpfchen und sagte: »Doch, Mama;
+in der Elektrischen, da laufen die Bäume.« Und als er zur Feier des
+Tages mit uns zu Abend gegessen hatte, rutschte er geschickt von seinem
+hohen Stühlchen, stellte sich breitbeinig vor uns hin und rief: »Ich bin
+satt!« Das erste »Ich«! -- Lachend schloß ich ihn in die Arme: Nun war
+mein Kind ein Mensch geworden. Alle Probleme der Welt verschwanden mir
+wieder angesichts dieses Wunders.
+
+Am nächsten Morgen saß ich am Schreibtisch und rechnete. Die Angst
+trieb mir Schweißtropfen auf die Stirn: schon das nächste Vierteljahr
+würden wir die Zinsen nicht zahlen können. Wie hatte ich als Mädchen
+gezittert, wenn die Rechnungen kamen, die der Mutter Tränen erpreßten!
+Es war das reine Kinderspiel gewesen im Vergleich mit meiner Situation.
+»Mach dir doch keine Sorgen, ehe das Unglück da ist,« sagte mein Mann
+ärgerlich, als er sah, wie verstört ich war.
+
+Ich wurde krank. Die alten unausbleiblichen Schmerzen, die jede Erregung
+zur Folge hatte, stellten sich mit erschreckender Heftigkeit wieder ein.
+Und abends, wenn ich todmüde in die Kissen sank, klopfte mir das Herz
+bis zum Halse herauf. Ich war genötigt, ein paar Versammlungen
+abzusagen. Ich war froh darüber: in einem Zustand geistiger und
+körperlicher Erschlaffung verbrachte ich meine Tage.
+
+»Wir haben einen Käufer!« mit der Botschaft überraschte mich mein Mann
+eines Morgens. Ich zweifelte noch. Aber bald darauf kam er selbst, und
+in wenigen Tagen war der Kauf abgeschlossen.
+
+»Siehst du nun ein, wie töricht es war, sich zu fürchten?« sagte
+Heinrich. Beschämt senkte ich den Kopf. »Ich will in Zukunft mutiger
+sein,« versicherte ich.
+
+Schon im Januar sollten wir das Haus verlassen. Dann wollen wir von
+vorne anfangen, dachte ich, und begann eifrig nach einer bescheidenen
+Wohnung zu suchen.
+
+Bin ich erst in Ruhe, so werde ich auch gesund werden, sagte ich zu mir
+selbst, wenn die Schmerzen nicht weichen wollten und das Herz mich nicht
+schlafen ließ.
+
+ * * * * *
+
+Eines Abends nahm ich wieder an einer Sitzung der Genossinnen teil. Wie
+die Befreiung von den persönlichen Sorgen mich aus der Erstarrung
+aufgerüttelt hatte, so elektrisierten mich jetzt die politischen
+Vorgänge wieder. Das Zuchthausgesetz war endgültig begraben worden, aber
+trotz aller gegenteiligen Versicherungen drohte eine neue gewaltige
+Flottenvermehrung.
+
+»Unter den Waffen schweigen die Musen,« erklärte ich, als wir die
+Aufgaben besprachen, die der kommende Winter uns stellte, und einige der
+Frauen den Arbeiterinnen-Bildungsverein und seine Veranstaltungen in den
+Vordergrund schieben wollten. »Wir müssen unsere Kräfte konzentrieren:
+auf die beschlossene Agitation für den Arbeiterinnen-Schutz und auf den
+Kampf gegen die neue Volksausbeutung.«
+
+»Wenn wir so sicher wie stets auf Genossin Brandts wertvolle
+Unterstützung rechnen können, wird der Sieg uns nicht fehlen,« spottete
+Martha Bartels und berichtete dann, wie ich durch die kürzlich
+»angeblich« wegen Krankheit erfolgten Absagen die Sache geschädigt
+hätte.
+
+»Unsichere Kantonisten können wir nicht brauchen,« sagte Frau Resch, die
+seit ihrer Delegation nach Hannover sehr selbstbewußt geworden war.
+
+Während ich antwortete, drückte ich die Hand krampfhaft in die Seite, wo
+die Schmerzen wühlten, und suchte, tiefatmend, die wilden Schläge
+meines Herzens zu beruhigen. Aber trotz meiner Verteidigung, setzte der
+Zank sich fort. Und plötzlich war mir, als drehe sich das Zimmer um
+mich --, ohnmächtig brach ich zusammen. Als ich zu mir kam, übersah ich
+mit einem einzigen Blick die Situation: Ida Wiemer hielt mich
+umschlungen, auf ihren Zügen lag ein Schimmer aufrichtiger Teilnahme;
+aber steif und unbeweglich saßen alle anderen um den Tisch, die Augen
+auf mich gerichtet, voll Hohn und Spott, voll Kälte und Mißtrauen. Ein
+eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Ich preßte die Zähne zusammen
+und erhob mich. In dem Augenblick kam mein Mann. Der Kellner hatte mich
+fallen sehen und ihn, der im Restaurant auf mich wartete,
+benachrichtigt. Auf seinen Arm gestützt, verließ ich das Zimmer. Niemand
+erhob sich. Niemand sagte mir Lebewohl.
+
+Wir fuhren noch in der Nacht zum Arzt. Er machte ein bedenkliches
+Gesicht. »Ein paar Monate im Süden, und Sie können genesen,« sagte er.
+Ich empfand seinen Bescheid wie eine Erlösung. Fort, -- weit fort, wo
+ich Ruhe finden, wo ich wieder zu mir selber kommen würde!
+
+Wir entschieden uns für Meran. Der Überschuß, der uns vom Kaufpreis des
+Hauses bleiben würde, ermöglichte die Reise. Mein Kind nahm ich mit. Und
+eine große Kiste mit Büchern und Manuskripten. »Nun werde ich ungestört
+meine 'Frauenfrage' vollenden können,« sagte ich hoffnungsvoll.
+
+»Wenn der Arzt dir das Arbeiten erlaubt,« meinte mein Mann und sah dabei
+traurig drein. »Ich werde ihn nicht erst fragen,« lachte ich; »Arbeit
+ist für mich die beste Medizin.«
+
+ * * * * *
+
+Silvester 1899 kamen Erdmanns mit der Mutter zu uns. Als es Mitternacht
+schlug, rissen wir alle die Fenster auf und riefen ein schallendes
+»Prost Jahrhundert!« in die sternhelle Nacht hinaus. Da war keiner, dem
+das Vergangene nicht wie ein Alp von der Seele gefallen wäre. Und unsere
+Hoffnungen waren riesenstark. Nur die Mutter sah sorgenvoll von einem
+zum anderen: zu Erdmann, dessen eingesunkene Brust nach jedem lauten
+Wort trockener Husten erschütterte, zu Ilse, deren Blicke halb
+ängstlich, halb verschüchtert an ihrem Gatten hingen, zu uns, von deren
+Kämpfen sie manches ahnen mochte.
+
+Schatten gingen um. Ich mußte sie bannen. Aus dem Bettchen droben, wo es
+mit heißen Wangen schlief, nahm ich mein Kind und trug es hinunter. Im
+Licht der Lampen schlug es die strahlenden Augen auf. Ich hatte es
+jubelnd emporheben wollen, nun aber drückte ich es zärtlich ans Herz und
+flüsterte leise, ganz leise, damit die anderen nichts hörten: »Dein ist
+das Jahrhundert.«
+
+Wenige Tage später schloß sich die Pforte des grauen Hauses hinter uns.
+Die Wipfel der Kiefern bewegten sich leise über dem Dach. Schwarz
+standen ihre Stämme vor den blumenlosen Fenstern. In jubelnder Vorfreude
+auf die Reise warf mein Junge keinen einzigen Blick zurück. So wollte
+auch ich nur vorwärts sehen.
+
+
+
+
+Zehntes Kapitel
+
+
+Ein eisiger Wind pfiff aus dem Passeier Tal über Meran; die
+Schneeflocken fielen so dicht, daß es aussah wie lauter weiße Schleier,
+die der Winter, mißgünstig, einen nach dem anderen der Natur vor das
+schöne Antlitz zog. Und ich war mit der ganzen Sonnensehnsucht des
+Deutschen, der jenseits des Brenners zu jeder Jahreszeit blauen Himmel
+und blühende Bäume erwartet, gen Süden gefahren!
+
+»Du hast mir das Sommerland versprochen, -- ich will ins Sommerland --,«
+weinte mein Bübchen, als es am ersten Morgen aus dem Fenster unseres
+kleinen Zimmers in die weiße Welt hinaussah. Während ich ihn durch
+lauter Hoffnungen zu beruhigen suchte, fröstelte auch mich.
+
+Das Sanatorium »Iduna«, das westlich von Meran einsam zwischen Wiesen
+und Obstbäumen lag, war uns empfohlen worden. »Es nimmt nur eine
+beschränkte Anzahl von Patienten auf, bewahrt daher den Charakter eines
+behaglichen Privathauses,« hieß es im Prospekt. In Wirklichkeit war's
+ein altes Landhaus, das, wie so viele seinesgleichen im Süden, mit
+dünnen Wänden und zugigen Fenstern den Winter zu ignorieren schien. Ein
+paar eiserne Ofen strahlten stundenweise rotglühende Hitze aus, um dann
+wieder kalt, schwarz und feindselig dazustehen, als freuten sie sich des
+grausamen Spiels mit den armen Bewohnern.
+
+Ich hatte nicht schlafen können: der Wind rüttelte an den Fenstern, mein
+Sohn warf sich unruhig in dem ungewohnten großen Bett hin und her, und
+ein hohler Husten, nur von stöhnenden Seufzern unterbrochen, klang aus
+dem Zimmer unter uns unaufhörlich zu mir empor. Müde und abgespannt ging
+ich zum Frühstück in den Eßsaal, -- einer verglasten Veranda, durch
+deren breite Fenster der Winter von allen Seiten hereinsah. In der Mitte
+stand der lange schmale weißgedeckte Tisch, darauf in nüchterner
+Regelmäßigkeit Reihen weißer Teller und Tassen. Eine Frau saß daran in
+schwarzem Kleid mit vergrämten Zügen, neben ihr im Rollstuhl ihr blasser
+Mann, finstere, gerade Falten auf der Stirne, -- einer jener Kranken,
+die hoffnungsloses Leiden böse gemacht hat, -- ihm gegenüber am
+äußersten Ende der Tafel ein schmalbrüstiger Jüngling, dessen Antlitz
+nur noch mit der Haut bespannt schien, -- einer fahlen, graugelben --.
+Ich zögerte an der Schwelle, mir grauste vor dem Bilde, in dem alle
+Farben des Lebens erloschen waren.
+
+Da sprang mein Kind an mir vorbei, im feuerroten Kleidchen, mit frischen
+Wangen und glänzenden Augen. Und der ganze Raum war erhellt. Ein
+freundliches Lächeln spielte um die blutleeren Lippen des Jünglings; die
+Falten auf der Stirn des Gelähmten glätteten sich, nur die Frau im
+schwarzen Kleid wandte wie verletzt den Kopf zur Seite.
+
+Ich wäre am liebsten wieder fortgezogen. Aber ich war viel zu müde,
+viel zu apathisch dazu. Der Arzt, ein gütiger alter Mann mit weichen
+Frauenhänden, versprach mir ein anderes Zimmer mit einem Balkon nach
+Süden. »Das unter Ihnen,« sagte er, »der Herr reist ab --,« dabei
+verschleierten sich seine hellen Augen. Dann gab er mir
+Verhaltungsmaßregeln. »Meine wichtigste Verordnung ist: ein
+Kindermädchen. Sie müssen Ruhe haben, -- Tag und Nacht, der Bub dagegen
+soll sich tüchtig Bewegung machen,« begann er.
+
+Ruhe, -- schon das Wort war wie einlullendes Streicheln. Am nächsten
+Tage brachte er mir ein hübsches, brünettes Landmädchen, das mir gefiel;
+sie zog mit dem Kleinen, der sich an die lustige Gefährtin rasch
+gewöhnte, in das Zimmer nebenan. Nun erst fühlte ich, wie krank ich war:
+den ganzen Tag lag ich still, und bewegungslos wie mein Körper waren
+Gedanke und Gefühl. Auch meine Umgebung störte mich nicht mehr; -- wenn
+ich nur mein Bett hatte und meinen Liegestuhl.
+
+»Nun wird er bald abreisen,« sagte der Arzt eines Tages und drückte mit
+der Spitze des Zeigefingers in den Augenwinkel, als sei ihm ein
+Staubkörnchen hineingeflogen.
+
+»Dann soll ich hinunter?« fragte ich und dachte entsetzt an die Mühe des
+Umräumens. »Ja,« meinte er, »denn nun es täglich wärmer wird, müssen Sie
+in der Sonne liegen.« »In der Sonne?!« Ich lächelte ungläubig. Seit
+einer Woche hatte der Schnee sich in Regen verwandelt.
+
+Die Nacht darauf kam ich nicht zur Ruhe. Ich warf mich im Bett hin und
+her, und plötzlich wußte ich, was mir fehlte: der regelmäßige Husten
+unter mir war verstummt; die Stille lastete auf mir, die unheimliche
+Stille. Bald danach war mir, als gingen Gespenster um: das huschte im
+Haus auf leichten Sohlen, das wisperte und flüsterte, -- knarrend
+öffnete sich unten eine Tür. Ich erhob mich und trat ans Fenster: ein
+Leiterwagen stand im Garten; Männer waren darin, die sich durch Gebärden
+mit denen im Hause zu verständigen schienen; und auf einmal schwebte
+etwas in der Luft dicht unter mir, etwas Schwarzes, Großes, -- der Regen
+klatschte darauf, -- eintönig. Schon wollt' ich schreien, -- da geriet
+das Schwarze in den Lichtkreis der nächsten Laterne: es war ein Sarg.
+
+Ich schwankte ins Bett zurück und verkroch mich zitternd unter der
+Decke. So war er »abgereist«! --
+
+Ich sah wieder die Glasveranda vor mir im Schneelicht, mit den Menschen,
+deren Körper im Sterben lagen, oder deren Seelen schon gestorben waren.
+Und das Badhaus fiel mir ein mit den dunkeln Holzwannen, in denen das
+Wasser aussah, als wäre es Schlamm. Willenlos war ich hineingestiegen,
+hatte mir Gesundheit holen wollen, wo Krankheit in allen Ritzen und
+Fugen lauernd saß. Und mein Kind hatte ich die Pestluft atmen lassen!
+
+Noch in der Nacht fing ich an zu packen. Früh fuhr ich nach Meran und
+drüber hinaus nach Obermais, so hoch und so weit als möglich. Dort fand
+ich neben alten efeuumsponnenen Schlössern ein freundliches Haus
+zwischen Nußbäumen und Weinreben.
+
+Am selben Abend zogen wir ein.
+
+Es war, als ob der Winter uns nicht hätte folgen können. Die Berge
+entschleierten sich. Der Schnee, der eben erst wie ein Leichentuch die
+Erde verhüllt hatte, blitzte jetzt im Sonnenlicht wie eine
+Hochzeitskrone auf ihren Häuptern. Errötend entfalteten sich an den
+Mandelbäumchen die ersten Blüten. Ich lag auf der Veranda und ließ mich
+wie sie von der Sonne durchglühen und fühlte, daß auch mir die
+Lebensfarbe in die Wangen stieg. Täglich brachte mir mein Söhnchen
+frische Wiesenblumen.
+
+»Ich werde dich führen, Mamachen, wenn du nicht mehr Auau hast,«
+schwatzte er, »zu den so vielen Vergißmeinnicht, und zu den Musikmännern
+auch, wo die Damen und Herren sind.« Ich lachte ihn an: wirklich, die
+Sehnsucht nach dem Leben regte sich wieder in mir. Liegen sollt' ich,
+immer liegen, sagte der Arzt, weil mein Herz noch nicht ruhig genug war.
+»Dann müßt' ich liegen bis ich neunzig Jahr alt bin,« antwortete ich
+ihm, »denn daß mein Herz so gegen alle Vorsicht klopft, ist nur ein
+Beweis, daß ich lebe.«
+
+Einmal wachte ich auf nach erquickendem Schlaf, streckte und reckte mich
+und blinzelte in die Sonne. Mir war so wohl, -- so wohl! Warum nur?! Und
+in mir antwortete es ganz deutlich: weil du frei bist. Ich sah mich
+erschrocken um, als könnte irgend jemand dies tiefe Geheimnis, daß ich
+kaum mir selbst gestand, erkundet haben. Ich war frei -- wirklich frei;
+ich konnte tun, was ich wollte, ohne vorher all jene bohrenden Fragen
+erst beantworten zu müssen: stört es den Anderen? Verletzt es ihn?
+Beeinträchtigt es seine Ruhe, seine Wünsche, seine Liebe? Jetzt, zum
+Beispiel, konnte ich aus dem Bette steigen und lustig einen Walzer
+trällern, -- läge Heinrich neben mir, ich würde mich aus Rücksicht auf
+seinen Schlaf ganz, ganz still verhalten. Und dann konnt' ich gemächlich
+im Wasser planschen, mich ankleiden, mir die Haare ordnen, ohne jene
+quälende Scham des Häßlichen, des Unästethischen, -- die einzig
+berechtigte zwischen zwei Menschen, die einander lieb haben, und die
+einzig notwendige, wenn sie ihrer Liebe den Zauber des ersten Rausches
+erhalten wollen. Die Ehe der meisten ist ein Erwachen aus ihm, mit einem
+bitteren Geschmack auf der Zunge. Sie wissen nicht, daß die Liebe eine
+zarte, kostbare Blume ist, die sorgsamer Pflege bedarf. Sie pflanzen sie
+in den Küchengarten und wundern sich dann, wenn sie eingeht.
+
+Ich war frei -- wirklich frei. Und ich konnte hingehen, wohin ich
+wollte! Ganz erstaunlich kam mir das vor, -- gerade, als ob die Welt mir
+auf einmal ihre Tore aufschlösse. In den ersten Jahren meiner Ehe hatte
+Heinrich mich auf jedem Weg begleitet, -- aus zärtlichster Liebe, nicht
+etwa aus Mißtrauen oder aus Eifersucht. Und ich hatte keinen anderen Weg
+machen können, als der ihm recht war. Zuweilen war ich heimlich die
+Hintertreppe hinuntergestiegen, nicht, weil ich ein Geheimnis vor ihm
+gehabt hätte, sondern nur um einmal ohne innere Hemmung in den Straßen
+herumlaufen zu können. Allmählich hatte unsere verschiedenartige
+Tätigkeit dem steten Zusammensein ein Ende gemacht; aber
+selbstverständlich blieb, daß ich ihm erzählte, wo ich gewesen war, was
+ich getan hatte. Und da ich ihn nicht unzufrieden machen, nicht ärgern
+wollte, so stand ich doch stets in seinem Bann. Wenn ich einmal seiner
+Empfindung zuwider gehandelt hatte, so kam es vor, daß ich -- log.
+
+Kaum, daß der Gedanke daran in mein Bewußtsein trat, als ich ihn auch
+schon, dunkel errötend, zurückweisen wollte. Aber je mehr ich mich
+mühte, desto klarer stand er vor mir. Ich mußte ihm Auge in Auge sehn:
+»Es kam vor, daß ich meinen Mann belog.« Nicht, weil ich ihn
+hintergehen, sondern weil ich ihn nicht ärgern, nicht erregen wollte.
+Aus Liebe also! Oder aus Furcht?! So lernen die Frauen lügen, weil sie
+des Mannes Besitztum sind, weil die Ehe ihre Persönlichkeit auslöscht
+wie ihren Namen. Wie vielen, die gerade gewachsen waren, hat sie das
+Rückgrat zerbrochen! Und sie verlieren nach ein paar Jahren der Ehe ihre
+Physiognomie, -- sind farblos, zermürbt.
+
+Ein brennendes Verlangen nach Menschen überkam mich. Wie war ich doch
+mein Leben lang an den bunten Schwarm um mich gewöhnt gewesen! In den
+letzten Jahren hatte er sich mehr und mehr verflüchtigt. Den alten
+Freunden war ich gestorben, seit ich Sozialdemokratin geworden war; neue
+hatte ich unter den Genossen nicht gefunden, und von den Künstlern, von
+den Gelehrten, die unsere Räume einmal betraten, kamen nur wenige
+wieder. Romberg war im Grunde unser einziger Verkehr gewesen. Und der
+wohnte nicht in Berlin.
+
+Woher kam das alles? War ich weniger anziehend als die Frauen, die »ein
+Haus ausmachten«? Waren sie geistreicher als ich? Ich schürzte spöttisch
+die Lippen. Stießen sich die Sittenstrengen noch immer an der Geschichte
+meiner Eheschließung? Sie machten sich doch sonst nichts daraus, mit
+Frauen zu verkehren, die »eine Vergangenheit« hatten, die Gegenwart
+geblieben war! Nein, in alledem lag die Ursache nicht. Bei meinem
+Manne, schien mir, war sie zu suchen. Er war ein Menschenschwärmer
+gewesen, leicht geneigt, zu bewundern und zu verehren und sich den
+anderen gegenüber gering zu achten. Um so schmerzhafter hatte jede, auch
+die leiseste Enttäuschung ihn getroffen, und je häufiger sie sich
+wiederholte, desto scheuer zog er sich zurück, desto mißtrauischer wurde
+er. Und für jenen leichten Verkehr, der wie mit Libellenflügeln nur die
+Oberfläche des Lebensstromes streift, war er zu schwerblütig. Er hatte
+nie getanzt; -- seltsam, daß mir das erst heute einfiel. Er hatte nie
+gelernt, eine Gesellschaftsmaske zu tragen. Darum fühlten sich immer nur
+die Menschen, die er aufrichtig gern hatte, wohl bei uns. Die anderen
+stieß er ab.
+
+Draußen lachte der Frühlingstag. Zwischen blühenden Bäumen und Beeten
+von Hyazinthen spielte die Musik fröhliche Weisen, die Passer sprang
+dazu in entfesselter Wildheit über Stock und Stein. Ich ging mit meinem
+Buben an der Hand zwischen der Menschenmenge hin und her. Ich freute
+mich, als wäre ich zwanzig Jahr, über die bewundernden Blicke, die uns
+folgten. Täglich wollt' ich von nun an hinuntergehen, Sonnenschein
+trinken und Lebenslust. Ich traf Bekannte und geriet durch sie in einen
+Kreis fröhlicher Weltbummler. Wie gut das tat, einmal wieder
+unterzutauchen in Glanz und Freude! Einmal wieder lachen zu können aus
+Herzensgrund! Bewundernde Blicke zu fühlen! Man brachte mir täglich
+Blumen, -- jene großen glühenden Rosen von Meran, deren Duft nicht an
+Gärten erinnert, sondern an berauschende Essenzen des Morgenlandes. Ich
+ließ mir gefallen, daß man mir huldigte; ich spielte mit heißen
+Gedanken, wie ein Kind mit rotleuchtenden Giftblumen. Eines Abends,
+während bunte Lichterkränze sich an den alten Bäumen vor dem Kurhaus von
+Ast zu Ast schwangen und die Geigen der Zigeunerkapelle in die laue
+Nacht hinein seufzten und lockten, ließ ich mich in den Kursaal führen,
+um den Tanzenden zuzuschauen. Süße Walzermelodien umschmeichelten meine
+Sinne. Der Rausch des Tanzes ergriff mich. Willenlos überließ ich mich
+ihm. Erst als der letzte Ton verklagen war, kam ich zu mir und erschrak.
+Leichtsinn und Genuß, die Zaubergeister, drohten mich in ihre Gewalt zu
+bekommen. Das durfte nicht sein!
+
+»Meran fängt an, schwül zu werden,« schrieb ich am nächsten Morgen an
+meinen Mann; »so sehr die weiche Luft meiner Gesundheit nützte, so sehr
+schädigt sie meine Arbeitskraft. Und ich wünsche jetzt nichts mehr, als
+mich Hals über Kopf in meine Arbeit zu stürzen. Darum möchte ich fort.
+Der Arzt verordnet mir Höhenluft; ich selbst fühle, daß ich etwas
+Starkes, Herbes atmen müßte. Wollen wir nicht miteinander irgend ein
+stilles Plätzchen suchen? Wir waren lange genug getrennt..«
+
+Statt aller Antwort kam er selbst. »Ich habe gewartet, bis du mich rufen
+würdest --, es ist mir schwer genug geworden,« flüsterte er zärtlich,
+»nun aber wirst du mich nicht mehr los.« Dunkel errötend barg ich den
+Kopf an seiner Brust.
+
+ * * * * *
+
+An der Ampezzostraße, südlich von Cortina, liegt ein kleines Dorf,
+Pezzié genannt. Zwischen seinen braunen, ärmlichen Hütten ragte ein
+einzelnes Bauernhaus mit weißgetünchten Mauern und großen Altanen
+stattlich hervor. Über ein Vierteljahr wohnten wir dort in tiefster
+Stille und Zurückgezogenheit. Im Lärchenwald hinter dem Hause spielte
+mein Junge mit den braunen Bauernkindern, auf der Altane, angesichts des
+weiten blühenden Tals und des gewaltigen schneebedeckten Felsenmassives
+der Tofana, fing ich wieder an zu arbeiten. Wenn mir in den vergangenen
+Wochen die Aufgabe eingefallen war, die ich mir mit meinem Buch gestellt
+hatte, so war sie mir wie ein unübersteigbarer Berg erschienen. Jetzt,
+da ich sie aufs neue in Angriff nahm, war mir's, als habe all die Zeit
+hindurch eine fremde Kraft unter der Schwelle meines Bewußtseins weiter
+an ihr gearbeitet.
+
+Oder sollten Gedanken wie Samen sein, die einmal in den Boden des
+Geistes gestreut, sich aus eigener Macht weiter entwickeln? Die vielen
+Zahlen, die ich in meinen Büchern vor mir hatte -- Ergebnisse der Volks-
+und Berufszählungen europäischer und außereuropäischer Länder, Lohn- und
+Arbeitsstatistiken --, wurden merkwürdig lebendig, als zuckten in ihnen
+die Leiden der Millionen. Immer deutlicher sah ich das Bild, das ich zu
+malen hatte: den Zug der Frauen, wie er durch glutheiße Wüsten und rauhe
+Steppen dahinschleicht, jede einzelne in ihm gebeugt unter den Lasten,
+die sie zu tragen hat: der Hacke und dem Spaten, der Sichel und der
+Spindel, dem einen Kinde auf dem Rücken, dem anderen unter dem qualvoll
+klopfenden Herzen. Was mich zuerst nur wie ein Instinkt in die Reihen
+der kämpfenden Arbeiterschaft geführt hatte, das wurde mir jetzt zur
+bewußten Erkenntnis: die Berufsarbeit der Frau, die ihre Entstehung der
+Umwandlung der Produktionsweise durch die Maschine zu verdanken hat, ist
+immer mehr zu einem notwendigen Bestandteil dieser Produktionsweise
+geworden. Aber indem sie sich ausdehnt, untergräbt sie zu gleicher Zeit
+die alte Form der Familie, erschüttert die Begriffe der Sittlichkeit,
+auf denen der Moralkodex der bürgerlichen Gesellschaft beruht, und
+gefährdet die Existenz des Menschengeschlechtes, deren Bedingung gesunde
+Mütter sind. Es bleibt der Menschheit schließlich nur die Wahl: entweder
+sich selbst oder die kapitalistische Wirtschaftsordnung aufzugeben.
+Diese Konsequenz zu scharfumrissenen Ausdruck zu bringen, sodaß niemand
+ihr aus dem Wege zu gehen vermöchte, -- das war mein Wunsch.
+
+Das Fieber der Arbeit, das alle Pulse schneller schlagen läßt, das über
+jede Müdigkeit hinwegtäuscht, das die Gedanken des Tages in den Traum
+der Nacht verflicht, hatte mich ergriffen. Und zugleich jener gesunde
+Egoismus des Schaffenden, der ihn für seine Umgebung blind und taub
+macht, nur damit das Werk wachsen kann. Dankbar überließ ich der Berta,
+dem meraner Kindermädchen, die sich mit solcher Klugheit in jede Lage zu
+schicken schien, die Sorge um unseren kleinen Haushalt. Daß sie für uns
+kochte und wusch und nähte und eifersüchtig jede andere Hilfe abwehrte,
+war mir nur ein Beweis für ihre Tüchtigkeit; und daß der Kleine mit
+solcher Liebe an ihr hing, machte sie mir vollends unentbehrlich.
+
+Wenn ich mit meinem Mann spazieren ging, so sprach ich von nichts
+anderem als von meiner Arbeit, von all den Ideen, all den Plänen, die
+sie in mir auslöste. Und er hörte mir nicht nur ruhig zu, er ging voller
+Anteilnahme auf meine Interessen ein und half mir durch seine
+Fachkenntnisse.
+
+Daß auch er ein selbständiges Leben hatte, daß auch in ihm vieles bohrte
+und gärte, das nach Ausdruck verlangte, daß er um so einsamer wurde, je
+mehr ich mich in die Arbeit verlor, -- von alledem wußte ich nichts.
+
+Zuweilen stiegen am Horizont drohend die Sorgenwolken empor: was das
+Grunewaldhaus uns übrig gelassen hatte, war bald verzehrt, die Einnahmen
+aus dem Archiv blieben unzulänglich, mein Buch, auf dessen Erfolg ich
+rechnete, war noch lange nicht vollendet; wie würden wir auskommen?! Mit
+aller Anstrengung vertrieb ich die bösen Gedanken, ich arbeitete noch
+ununterbrochener, um mir selbst keine Zeit zu lassen, ihnen
+nachzuhängen.
+
+ * * * * *
+
+Eines Morgens bekam Heinrich einen Brief, den er mir stumm
+herüberreichte: Ob er während der nächsten Monate für ein uns
+nahestehendes Blatt die Pariser Korrespondenz übernehmen könne? Ihr
+bisheriger Leiter sei erkrankt und habe einen längeren Urlaub
+angetreten.
+
+Es überlief mich heiß und kalt. Wie der Name Rom auf die Deutschen des
+Mittelalters, so wirkt der Name Paris auf die Menschen des zwanzigsten
+Jahrhunderts. Aus ihren dunklen Wäldern, ihren finsteren Burgen und
+engen Städten sehnten sich unsere Vorfahren nach dem lachenden Himmel
+Italiens; und aus dem Ernst unseres strengen Alltagslebens verlangt
+alles, was jung ist in uns, nach dem Glanz, nach dem Leichtsinn von
+Paris. Aber ich bemühte mich, ruhig zu scheinen und meiner stürmisch
+aufwogenden Freude Herr zu werden.
+
+»Was sagst du dazu?« fragte mein Mann. »Wir würden uns rasch
+entschließen müssen. Mit dem internationalen Sozialistenkongreß, der in
+zehn Tagen zusammentritt, müßte meine Tätigkeit anfangen.«
+
+»Und dein Archiv?!« warf ich ein. »Du kannst es doch nicht monatelang
+von Frankreich aus redigieren!«
+
+»Ach, -- das Archiv..!« meinte er mit einem halb wegwerfenden, halb
+ärgerlichen Ton, der mich erstaunt aufsehen ließ. Das Archiv war seine
+Schöpfung, sein liebstes Geisteskind.
+
+»Das Archiv könnte ich von überall her leiten! In Paris aber scheint mir
+jetzt der rechte Ort, um den Sozialismus in seiner neusten Phase zu
+studieren, in Paris, wo ein Millerand Minister ist, wo die
+Intellektuellen, -- unter ihnen ein Zola, ein France, ein Steinlen, --
+mit Jaurès Arm in Arm gehen!.. Wenn du also nichts dagegen hast, so
+nehme ich den Antrag an.«
+
+ * * * * *
+
+Paris! Die untergehende Septembersonne umgab die schwarz hingestreckte
+Stadt mit rotglühender Glorie. Mir war, als klänge im Räderrollen
+unseres Zugs ein rhythmisches Jauchzen, als könne die fauchende
+Riesenschlange es nicht erwarten, sich in die lodernde Glut zu stürzen.
+
+Am Morgen nach unserer Ankunft wanderten wir durch die Straßen. Es war
+die vollkommenste Überraschung, die mich mehr und mehr verstummen ließ.
+Ich hatte etwas Lautes, Buntes erwartet, etwas, das übereinstimmt mit
+dem Begriff »Paris«, den wir uns draußen gebildet haben. Und nun sah ich
+Häuserzeilen in gleichmäßig feiner zurückhaltender Architektur, hohe
+Fenster mit schmalen Gittern davor, sah Mauern, über die der Efeu kroch,
+und Baumriesen, die aus alten verschwiegenen Höfen geheimnisvoll
+herüberrauschten.
+
+Ich sah, wie sich die vielen Alleen plötzlich in weite, weite Gärten
+verloren, unter deren Büschen graue Statuen träumten, und unter runden
+Lorbeerbäumen stille Bassins goldig glitzernd von den vielen kleinen
+Fischen darin. An altertümlichen Kirchen kamen wir vorbei mit runden und
+viereckigen dicken Türmen, oder dem mystischen Maßwerk keuscher Gotik
+über alten Portalen.
+
+Zur Madeleine schritten wir die breite Steintreppe empor und traten aus
+der heidnischen Pracht ihrer Säulenhalle in das Dämmerdunkel ihres
+Inneren. Eine wunderschöne Nonne kniete regungslos am Eingang, die
+Sammelbüchse vorgestreckt in schmalen weißen Händen. Und als wir uns
+wieder zum Gehen wandten, schweifte der Blick über die zu unseren Füßen
+sich dehnende Straße und die majestätische Größe der Place de la
+Concorde, wo Menschen und Wagen sich verloren wie Spielzeug, bis weithin
+zur Kuppel des Invalidendoms. Er hütete, was sterblich war an dem
+korsischen Riesen, der die Welt formte nach seinem Willen, und der, ein
+Lebender, noch heute die Stadt Paris erfüllt.
+
+Durch Alleen breiter Kastanienbäume, deren dunkle große Blätter schwarze
+Schatten auf die hellen Wege warfen, gingen wir langsam hinauf, wo der
+Triumphbogen des Etoile sich, von weichen Morgennebeln umspielt, mit den
+Wolken zu verschmelzen schien. Und in den Gärten der Tuilerien verloren
+wir uns. Zarte Kinder mit künstlich geringelten Locken spielten auf
+feinen Plätzen, alte Herren, mit dem roten Bändchen im Knopfloch,
+fütterten die Vögel, von einer Schar Zuschauer umgeben, deren Interesse
+fast wie Andacht war. Von den Bäumen tanzten leise die gelben Blätter;
+eine träumerisch süße Luft, die Geräusche und Farben dämpfte, spielte
+zärtlich um den grauen Königspalast des Louvre und streichelte sanft die
+Gesichter der Vorübergehenden, als wollte sie sie trösten, weil es schon
+Herbst geworden war. Und selbst die Bettler auf der Brücke, und die
+schmutzigen Savoyardenknaben, die ihre Ware feil boten, und die alten
+Buchhändler, die ihre stockfleckigen Schartäken auf den Quaimauern
+aufbauten, lächelten leise. Der Fluß aber wälzte sich lautlos vorüber;
+seine Wasser schimmerten in gebrochenen Farben wie müde Opale.
+
+»Eine vornehme Frau ist Paris,« sagte ich nachdenklich, als wir von
+unserem ersten Ausgang zurückgekehrt waren, »eine vornehme Frau, deren
+schöne Züge die Wehmut des Alterns umflort ...«
+
+Am Abend verließen wir wieder das Hotel. Jetzt brauste die Weltstadt:
+rauschende Kleider, rollende Wagen, girrendes Lachen, wüstes
+Geschrei --, zu einem einzigen Ton verschmolz das alles. Zwischen den
+Bäumen der Boulevards strahlten die Laternen wie endlose Lichterketten,
+breit quoll das Licht aus den Cafés über wippende Federhüte und
+spiegelnde Zylinder. Nur auf dem riesigen Concordienplatz wirkten die
+Bogenlampen wie Brillanten auf dem dunkelgrauen Samt der Nacht.
+
+Da plötzlich leuchtete jenseits zwischen den Bäumen ein Wunder auf: ein
+schimmerndes Tor aus Juwelen erbaut, eine Märchenstadt dahinter, deren
+Mauern Kristall, deren Türme Feuerbrände waren; die Weltausstellung. Wir
+folgten dem wimmelnden Menschenstrom, dessen Rauschen sich aus allen
+Sprachen der Welt zusammensetzte. Es war ein einziger Traum aus
+Tausendundeine Nacht. Ein Turm, aus strahlenden Goldfäden gewoben, trug
+auf seiner diamantenen Spitze die schwarze Kuppel des Himmels. In
+tiefdunkle Teiche ergossen sich Kaskaden von Licht. Der stille Fluß
+spiegelte Paläste wieder, die allen Glanz der Welt an seinen Ufern
+vereinigt hatten. Die Brücken spannten sich über ihn wie lauter
+glückverheißende Regenbogen. Und wer sie überschritt, den empfing
+jenseits ein Lachen, ein Singen, ein Jubeln, -- als gäbe es nirgends
+Tränen mehr. Ein Taumel erfaßte die Menschen: von den Terrassen
+herunter, -- aus den weit geöffneten Türen bunter Häuser lockte die
+Freude in sehnsüchtigen Geigentönen, in wilden Trompetenstößen. Dort
+tanzte Loie Fuller, die lebendig gewordene Flamme: wenn sie sich
+aufwärts schwang, züngelten die Schleier über ihrem Haupte, wenn sie
+sich neigte, leuchtete sekundenlang ihr schneeweißer Busen. Drüben
+trippelte auf Stöckelschuhen Sada Yacco, die Japanerin; aus ihren
+geschlitzten Augen sprühten Blitze fanatisierter Kunst, auf ihren
+Gewändern leuchteten Blumen der Hölle und Vögel des Paradieses. Und
+unter dem bunten Zeltdach ringelten sich Schlangen um den halbnackten
+Leib der Indierin, züngelten zärtlich um ihre braune Haut, während ihre
+kleinen Füße, von goldenen Ringen umklirrt, sich im Takte bewegten und
+ihre Arme sich ausstreckten -- eine einzige Gebärde verlangender
+Lust ...
+
+ * * * * *
+
+Mitten im Gewühl trafen wir Geier, der zum Sozialistenkongreß nach Paris
+gekommen war. »Ein Riesenvarieté, -- nichts weiter,« brummte er, »im
+Grunde widerwärtig.« Ich erwachte wie aus einem Traum: die Gesichter der
+Tänzerinnen erschienen mir plötzlich fratzenhaft; wo die Schminke sich
+verwischte, grinste hinter dem Lächeln der Freude die rohe Sucht nach
+Gewinn. Und der lichtgewobene Turm, der den Himmel trug, war aus Eisen;
+Menschlein kletterten selbstbewußt bis in seine Spitze, und hoheitsvoll
+wich die Sternenkuppel weit, weit zurück vor ihnen. Kulissen aus Gips
+und Leinwand waren die Paläste, Glas die Juwelen im Portal.
+
+»Man soll einen Mondsüchtigen nicht anreden,« sagte ich. »Schon glaubt
+ich mich wirklich auf dem Wege zur Erfüllung einer Sehnsucht, die mit
+mir geboren zu sein scheint --«
+
+»Und die wäre?« fragte Heinrich. Ich zögerte; ich wußte, wie falsch ich
+verstanden werden könnte.
+
+»Bacchantische Lust zu sehen, überströmende, jauchzende Lebenswonne, --
+die dabei eines Gottes würdig wäre. Immer ist Freude so etwas
+Armseliges, -- Mutloses.«
+
+»Dann sind Sie jedenfalls in Paris am rechten Ort. Übrigens hätte ich
+Ihrer norddeutschen Prinzessinnenwürde nicht so exotische Phantasien
+zugetraut,« spottete Geier. »Aber immerhin, -- ich, als alter Pariser,
+kann Ihnen vielleicht heute noch dienen.«
+
+Wir verließen die Ausstellung, überquerten den Platz bis zur Rue Royal.
+
+»Maxim« stand in großen Buchstaben über der Tür des Restaurants, in das
+wir eintraten. Auf den hohen Stühlen vor dem Schenktisch der Bar saßen
+elegante Männer mit müden, gelangweilten Gesichtern. Aus dem Saal
+dahinter klang gedämpfte Musik. Die Frauen unter seinen Spiegelwänden an
+den kleinen, blumengeschmückten Tischen flüsterten nur hie und da
+miteinander. Sie waren alle schön und jung. Hellblond und üppig die eine
+im weißen Seidenkleid, Perlen in den rosigen Ohren, rieselnde Perlen um
+den runden Hals und einen matten Perlenglanz in den großen hellen Augen.
+Statuenhaft die andere neben ihr, die prachtvolle Gestalt eng in roten
+Samt gehüllt, die schmalen Finger von Brillantringen bedeckt, die
+nachtschwarzen Haare in glatten Scheiteln um die Schläfen. Und
+rothaarige, hinter deren durchsichtiger Haut blaue Adern klopften,
+brünette, mit dem bräunlich warmen Ton der Südländerin, reihten sich
+ihnen an, eine schneeweiße dazwischen, mit rosigem Antlitz, als wäre die
+Pompadour aus dem langweiligen Jenseits in ihr geliebtes Paris
+zurückgekehrt. Zuweilen standen sie auf und schritten langsam auf und
+nieder; ihre Kleider raschelten, als ob schillernde Salamander durch
+dichtes Blattwerk schlüpften, das aufreizende gleichmäßige Klipp-klapp
+der hohen Absätze ihrer Seidenschuhe tönte dazwischen, in ihren Juwelen
+brachen sich hundertfarbig die Lichter, Wolken betäubenden Duftes zogen
+hinter ihnen her. Sie waren wie exotische Blumen aus fremden Urwäldern.
+
+Die Musik ging in Walzermelodien über. Und durch die offenen Türen kamen
+allmählich die Herren aus der Bar, -- alte und junge Greise. Nüchtern,
+lustlos, wie der Trainer ein Rennpferd, musterten sie die Frauen. Sie
+erwachten erst zum Leben, als der Sekt in den Gläsern vor ihnen perlte.
+Ihre Blicke wurden zu lüsternem Greifen, ihr Lachen wurde gemein. Sie
+erschienen wie rohe Barbaren gefangenen Königinnen gegenüber. Und jetzt
+begannen die Geigen zu jauchzen, rascher und rascher füllten sich die
+Gläser und leerten sich wieder, die Paare schwangen sich in rasendem
+Tanz; -- dort senkte ein Graubart die zittrigen Kniee vor einer jungen
+Schönen und trank aus ihrem weißseidenen Schuh.
+
+»Nun?!« fragend wandte sich Geier mir zu. Ich zuckte die Achseln:
+»Nennen Sie das bacchantische Lust?! Wenn Männer sich erst betrinken
+müssen, um für Frauenschönheit zu entflammen, und Frauen nur durch den
+Rausch, der ihre Augen und ihre Sinne umnebelt, den Ekel vor diesen
+Männern zu überwinden vermögen?!«
+
+Wir gingen. Über die Boulevards schob und drängte sich die Menge:
+Fremde, mit gespannten Zügen, überall ungeheuerliche Enthüllungen der
+Sünde erwartend, kleine bescheidene Provinzfrauen mit einem dirnenhaften
+Funkeln in den Augen, Kinder, blaß und übernächtig, immer noch Blumen
+verkaufend, den alten wissenden Blick halb neidisch auf die geschminkten
+Kokotten gerichtet, die wie Götzenbilder sich durch die dunkeln Massen
+bewegten.
+
+War Paris nicht doch ihresgleichen?
+
+ * * * * *
+
+Als wir am nächsten Morgen den Sitzungssaal des Internationalen
+Kongresses betraten, blieb ich schon an der Tür erschrocken stehen: das
+tobte und schrie, pfiff und trampelte, als sollte ein Sensationsstück zu
+Fall gebracht werden. Vandervelde, der belgische Volksführer, stand auf
+der Rednertribüne, aber weder seine Autorität, noch der sonore Klang
+seiner schönen Stimme, noch die beschwörenden Gesten seiner
+aristokratischen Hände wurden Herr über die entfesselte Leidenschaft der
+Menge. Drohende Fäuste reckten sich zu ihm empor: »À bas les
+ministériels!« tönte es im Takt von der einen Seite, wo sich um Jules
+Guesde, den französischen Liebknecht, die Anhänger scharten. Wer es
+nicht vorher wußte, erfuhr es angesichts dieser Versammlung: nur um eine
+Kardinalfrage des Sozialismus konnte ein so wüster Kampf entbrennen. Die
+Vertreter des alten revolutionären Gedankens behaupteten standhaft ihre
+Intransigenz: »Die Befreiung der Arbeiter kann _nur_ ein Werk der
+Arbeiterklasse selbst sein, jedes Paktieren mit der bürgerlichen
+Gesellschaft ist ein Verrat an der Sache des Proletariats.« Von diesen
+lapidaren, jedem Arbeitergehirn leicht einzuprägenden Sätzen aus,
+verurteilten sie notwendigerweise den Eintritt des Sozialisten Millerand
+in das Ministerium und forderten vom Kongreß eine offizielle Anerkennung
+ihres Standpunktes. Wider Vandervelde, der die Vermittlungsresolution
+der Deutschen verteidigt hatte, erhob sich der Italiener Ferri; die
+schönheitstrunkenen Romanen jubelten schon seiner bloßen Erscheinung zu,
+und als er mit all den klassischen Worten der Revolution jonglierte, wie
+ein geschickter Taschenspieler mit glänzenden Kristallkugeln, und den
+Revisionismus von der Landtagswahlbeteiligung der Deutschen bis zum
+Ministerialismus der Franzosen als einen Abfall brandmarkte, dankte
+ihm brausender Beifall. Die graziösen Französinnen auf den
+Zuschauertribünen, denen der Kongreß dieselben Nervenreize bot wie eine
+Première, schlugen begeistert die weißbehandschuhten Händchen
+aneinander, und des Redners dunkler Blick grüßte dankend die
+seidenrauschenden Vertreterinnen des Kapitalismus, gegen den er eben zum
+Kampf gerufen hatte.
+
+Dann kam Jaurès, der das moderne republikanische Frankreich in der
+Dreyfusaffäre gegen Klerikalismus und Militarismus verteidigt hatte, --
+eine untersetzte Gestalt, mit dem breiten blonden Kopf eines Germanen.
+Er wird es schwer haben, dachte ich angesichts dieser Versammlung, die
+ihre Redner ästethisch zu werten scheint. Aber schon der erste Laut
+seiner Stimme zog die Menge in seinen Bann: sie war wie das Meer;
+selbst wenn sie ruhig schien, war Sturm in ihr, und wenn sie anschwoll,
+schlug sie donnernd gegen die Mauern, wie die Wogen gegen den Fels. Ich
+war nicht imstande auf die Worte zu achten, ich hörte nur den Klang,
+jenen musikalischen Tonfall der Sprache, der die Wesensart des ganzen
+Volkes enthüllt, eines Volkes, das durch logische Schlüsse
+wissenschaftlicher Deduktionen niemals überzeugt zu werden vermag, wenn
+nicht der Künstler in ihm durch die Schönheit der Form, durch das Pathos
+des Ausdrucks gepackt wird, eines Volkes, von dem ich plötzlich begriff,
+daß es die Bastille stürmen und Napoleon Bonaparte zu seinem Kaiser
+krönen konnte.
+
+Ich war noch wie benommen, als wir abends den Saal verließen. An der Tür
+begrüßten uns unsere Landsleute. »Eine unglaubliche Gesellschaft!«
+schimpfte der eine. »Für nichts ist gesorgt: nicht mal Bleistift und
+Papier gibt's auf den Tischen.« -- »Und keine Möglichkeit, die Anträge
+rechtzeitig drucken zu lassen,« fügte ein zweiter hinzu, -- »man weiß
+nich mal, wo man essen jehn soll,« brummte ein dritter.
+
+Jetzt fühlte ich mich wieder in Deutschland.
+
+Wir unterhielten uns, als wir zusammensaßen, über die deutsche
+Resolution. »Sie ist aus Wenn und Aber zusammengesetzt, und einem Fall
+Millerand ist zwar die Tür geschlossen, aber das Fenster geöffnet,« --
+räsonierten die Vertreter des sechsten berliner Wahlkreises, für die der
+Eintritt eines Sozialisten in ein bürgerliches Ministerium keine
+taktische, sondern eine prinzipielle Frage war. »'Die Eroberung der
+Regierungsgewalt kann nicht stückweise erfolgen,'« las stirnrunzelnd
+einer der Wortführer des Revisionismus; »das ist ein Satz, den wir
+unmöglich unterschreiben können, denn in parlamentarisch regierten
+Staaten kann und wird sie nicht anders als allmählich vor sich gehen.«
+
+Am Morgen darauf stimmten die Deutschen trotzdem geschlossen für die
+Resolution, um die Einigkeit der Partei zu dokumentieren, und sicherten
+ihr dadurch ihre Annahme. Ich war froh, daß ich kein Mandat besaß, denn
+die vielgerühmte Disziplin unserer Genossen mißfiel mir, die die
+persönliche Ansicht dem Willen der Mehrheit unterwarf; die
+individualistische Haltung der Franzosen schien mir ein Beweis größerer
+innerer Stärke zu sein. Ich äußerte meine Ansicht, als wir mit unseren
+näheren Bekannten nachts vor einem Boulevardcafé zusammensaßen, und
+stieß auf heftigen Widerspruch. »Unsere Disziplin hat uns groß gemacht,«
+hieß es von allen Seiten. »Numerisch groß, -- gewiß,« antwortete ich,
+»ob aber entsprechend einflußreich?! In England, wo die Partei so
+zerrissen ist wie hier, durchdringt die sozialistische Idee alle Kreise,
+gehören Sozialisten allen öffentlichen Körperschaften an, in Frankreich
+stützt sich die Republik auf Sozialisten, und ein einziger
+sozialistischer Minister ist imstande, in Monaten mehr Reformen auf dem
+Gebiete des Arbeiterschutzes durchzuführen, als seine Vorgänger während
+Jahrzehnten --«
+
+»Und in Deutschland übernahm unsere Reichstagsfraktion im Kampf gegen
+die Lex Heinze die Führung und rettete Wissenschaft und Kunst vor
+unerhörter Knebelung,« unterbrach mich einer der Anwesenden lebhaft; »es
+geht langsam bei uns, aber es geht, und selbst die Resolution, deren
+Annahme durch uns Sie so verurteilen, ist ein Zeichen des
+Fortschrittes. Sie hat dem falschen Radikalismus eine seiner Spitzen
+abgebrochen indem sie der politischen Taktik freie Hand ließ.«
+
+»Dazu, scheint mir, werden die Verhältnisse Radikale und Revisionisten
+stets ohne weiteres zwingen. Die Preisgabe persönlicher Überzeugung war
+überflüssig,« antwortete ich.
+
+»So halten Sie es für besser, wenn man um verschiedener Ansichten willen
+wie verzankte Kinder nach rechts und links auseinander läuft?!«
+
+»Es scheint mir jedenfalls richtiger, als klaffende Gegensätze mit den
+morschen Brettern gegenseitiger Konzessionen überbrücken zu wollen.«
+
+Eine augenblickliche Stille trat ein; man sah erwartungsvoll auf Geier,
+der eben hinzugetreten war.
+
+»Politik besteht aus Konzessionen,« erklärte er und strich gleichmütig
+die Asche von seiner Zigarre; »aber davon versteht ihr Weiber nichts.
+Für das Geschäft seid ihr entweder zu gut oder zu schlecht, darum laßt
+die Finger davon. Übrigens: -- Ich habe eine Nachricht in der Tasche,
+die den Wünschen der Genossin Brandt entgegenkommt: Euer neuer Prophet,
+Bernstein, wird Deutschland in persona beglücken dürfen.«
+
+Von allen Seiten mit Fragen nach dem Wie und Warum bestürmt, fuhr Geier
+mit einem spöttischen Blick auf mich in seinem Berichte fort: »Die
+deutsche Regierung hofft auf eine Spaltung der Partei. Es ist Bülows,
+des neuen Reichskanzlers, erste Heldentat, wenn er das Ausweisungsdekret
+gegen Bernstein nicht mehr wiederholt. Viel Glück zu diesem Zuwachs, Ihr
+lieben Reichsdeutschen!« Damit erhob er sich, flüchtig grüßend.
+
+Wir gingen schweigsam nach Haus, mein Mann und ich, in unsere kleine
+möblierte Wohnung, die wir nach langem Suchen endlich gefunden hatten.
+Ich fühlte auf diesem Heimweg deutlicher als je, daß wir allmählich auch
+innerlich nebeneinander und nicht miteinander gingen. In der Nacht hörte
+ich, wie unruhig er sich hin und her warf, und sah im Laternenlicht, das
+matt durch die Fensterscheiben drang, wie zerquält seine Züge waren. Er
+litt, -- und ich wußte nicht warum; ich, die ich ihm am nächsten stand,
+hatte ihn allein gelassen! Das Herz krampfte sich mir zusammen. Waren
+nicht jene Frauen wirklich die besseren gewesen, die nichts hatten sein
+wollen, als ein allzeit offenes Gefäß für die Schmerzen und die Kämpfe
+des Gatten? Vielleicht waren sie die tiefste Bedingung seiner Kraft.
+
+»Heinz,« flüsterte ich zaghaft und griff nach seiner Hand, »warum
+sprichst du nicht mit mir? -- Irgend etwas lastet auf dir --.«
+
+Er lächelte mich an. »Gutes Kind, -- beunruhige dich doch nicht! Du hast
+mit dir selbst genug zu tun und mit deiner Arbeit.«
+
+»Du aber nimmst teil daran, -- du hilfst mir, und ich sollte dir nicht
+helfen dürfen?! -- Hängt es am Ende damit zusammen, daß du dem Archiv
+innerlich untreu geworden bist?« drängte ich.
+
+»Woher weißt du das?« fuhr er auf.
+
+»Ich habe doch Augen im Kopf, -- ich sehe, wie oft du die Korrekturen
+ungeduldig zur Seite wirfst --«
+
+»Du hast recht,« antwortete er, »ich hätte dich nur gern mit meinen
+Angelegenheiten verschont, so lange sie mir selbst so unklar sind. Als
+ich das Archiv ins Leben rief, war die Sozialpolitik ein unbebautes
+Ackerland. Jetzt, wo der Samen aufging, kann jeder Garben schneiden --«
+
+»Ich verstehe,« unterbrach ich ihn lebhaft, »wir beide gehören zu denen,
+die Wege anlegen, aber nicht die Steine dafür karren können.«
+
+»Wege anlegen --,« wiederholte er, »ganz richtig! Und dafür ist in der
+Partei jetzt die Zeit gekommen. Gräßlich, angesichts dieser Aufgabe die
+Hände gebunden zu haben! Dem Revisionismus fehlt es an einem geistigen
+Mittelpunkt, einem unabhängigen Organ, das an Stelle bloßer Verneinung
+die Ideen praktischer Politik in die Köpfe der Massen hämmert, das die
+geistigen Kräfte der Intellektuellen in den Dienst unserer Sache zieht.
+Die Lex Heinze hat sie aus dem Schlaf geweckt, -- auch hier müßte das
+Eisen geschmiedet werden, solange es warm ist.«
+
+»Und wieso sind dir dafür die Hände gebunden?!« rief ich aus, von den
+Gedanken, die er aussprach, gepackt. »Der Plan muß ausgeführt werden!«
+
+»Bei all deiner Klugheit bist du doch ein ganz dummes Katzel!« sagte er.
+»Oder wächst dir ein Kornfeld auf der flachen Hand?! Kein bürgerlicher
+Verleger würde ihn verwirklichen helfen, ein Parteiverlag erst recht
+nicht ...«
+
+Ich dachte an den Amerikaner Garrison, der seine der Idee der
+Sklavenbefreiung gewidmete Zeitschrift selbst schrieb und druckte. Ob
+wir nicht diesem Beispiel folgen könnten? Mein Mann lachte mich aus.
+»Selbst wenn wir unsere ganze Arbeitskraft der Sache opfern würden, ohne
+pekuniäre Mittel hülfe das nichts. Ich sehe nur eine Möglichkeit, um
+zum Ziel zu gelangen --,« er brach ab, als habe er schon zuviel gesagt.
+
+»Die wäre?«
+
+»Der Verkauf des Archivs. Mit dem Erlös könnte man die Zeitung ins Leben
+rufen --«
+
+»Warum versuchst du das nicht?!« Ich ärgerte mich, daß er nur einen
+Moment hatte zögern können. Er sah mich forschend an.
+
+»Ist das Tapferkeit oder Leichtsinn, was aus dir spricht? -- Mit dem
+Verkauf des Archivs ist die Sicherheit unserer Existenz preisgegeben.
+Wir können bei dem neuen Unternehmen alles verlieren --«
+
+»Darüber bin ich keinen Augenblick im Zweifel,« antwortete ich ernst.
+»Aber mir scheint, gegenüber der Größe der Aufgabe fallen persönliche
+Bedenken nicht ins Gewicht.«
+
+Wir waren einig. Von nun an widmete mein Mann all seine freie Zeit der
+Verwirklichung seines Gedankens. Er trat mit deutschen Verlegern in
+Verkaufsverhandlungen, und wenn ich angesichts ihrer wiederholten
+Resultatlosigkeit oft nahe daran war, den Mut zu verlieren, so schien
+der seine mit jedem Mißlingen neu zu wachsen. Er wandte sich an die
+bekannteren Revisionisten, und wenn ihre zögernden Antworten mich
+deprimierten, so steigerten sie nur seine Energie. Und meine Liebe, die
+unter der grauen Asche der Alltäglichkeit nur noch leise geglimmt hatte,
+glühte auf, wie Waldfeuer im Sturm. Je stärker ich die Überlegenheit
+seines Willens empfand, desto mehr liebte ich ihn. Und gewohnt, mein
+eigenes Erleben zu betrachten wie der Forscher ein wissenschaftliches
+Experiment, aus dem er bestimmte allgemeine Schlüsse zieht, sah ich,
+daß eine der Theorien der modernen Frauenbewegung sich angesichts der
+Erfahrung wieder einmal als leere Konstruktion erwies.
+
+»Das geistig entwickelte, seelisch differenzierte Weib ist die
+Voraussetzung und Bedingung tieferer und dauernder Beziehungen zwischen
+den Geschlechtern,« hatte meine alte Gegnerin, Helma Kurz, noch kürzlich
+in dem ihr eigenen geschwollenen Stil den Lesern ihrer Zeitschrift
+verkündet. Sie identifizierte Liebe und Freundschaft, weil sie -- das
+einsame alte Mädchen -- wie der Blinde von der Farbe sprach. Weibesliebe
+ist Hingabe an den Höherstehenden, gleichgültig ob das Herz, das sie
+empfindet, unter dem groben Hemd der Dienstmagd oder dem Talar der
+Doktorin beider Rechte schlägt. Darum wird die erotische Treue um so
+seltener sein, je stärker das Weib sich geistig und seelisch
+individualisiert.
+
+ * * * * *
+
+Mit noch größerem Eifer als früher stürzte ich mich in meine Arbeit;
+nicht nur, weil der Augenblick schreckhaft näher rückte, in dem ich das
+Honorar dafür nicht mehr würde entbehren können, sondern mehr noch, weil
+das Buch vollendet sein mußte, ehe die neue Aufgabe -- die Zeitschrift
+meines Mannes -- an mich herantrat.
+
+Archive, Arbeitsämter und Bibliotheken öffneten sich mir ohne
+Schwierigkeit. Vom Minister bis zum Portier verleugnet der Franzose die
+Kultur des achtzehnten Jahrhunderts nicht, auch wenn die Dame, die ihm
+begegnet, keine Marquise ist; jeder beeilt sich, ihr behilflich zu
+sein, ihr entgegenzukommen, kein spöttisches Lächeln, keine
+herunterhängenden Mundwinkel verraten der arbeitenden Frau, wie der Mann
+sie im Grunde wertet.
+
+Je mehr ich mich aber in die Arbeit versenkte, desto höher türmten sich
+die Probleme der Frauenfrage um mich auf, -- die sozialen, die
+ethischen, die sexuellen entwickelten sich eines aus dem anderen, als
+kröche ein Drache aus dunkler Höhle hervor, ein Glied um das andere
+vorschiebend, langsam, endlos. Wenn ich mich morgens zum Fortgehen
+rüstete und mein Kind die runden Ärmchen um meinen Hals schlang und bat
+und schmeichelte: »Mamachen, bleib doch mal bei mir, -- Mamachen, bitte,
+bitte, erzähl' mir nur eine einzigste schöne Geschichte --,« dann
+erschien mir mein eigenes Leben wie jene unheimliche Höhle, und in mein
+eigenes Herz bohrte der Drache seinen Giftzahn. Wie gläubig hatte ich
+früher den alten Vorkämpferinnen der Frauenbewegung gelauscht, wenn sie
+von jenen Amerikanerinnen erzählten, die ihre Pflichten als Mütter,
+Hausfrauen und Berufsarbeiterinnen in so unvergleichliche Harmonie
+zueinander zu setzen vermochten. Ich erinnerte mich vor allem jener
+Advokatin, die neben ihrer großen Praxis sechs Kinder erzogen und einen
+großen Haushalt allein geleitet haben sollte.
+
+»Infame Lügen alter Jungfern!« dachte ich grimmig. Und doch war ich
+selbst noch eine Bevorzugte. Kam ich nach Haus, so fand ich mein Kind in
+guter Obhut und unseren Tisch gedeckt.
+
+Der Berta, die mit so viel Tränen durchgesetzt hatte, bei mir zu
+bleiben, verdankte ich die äußere Arbeitsmöglichkeit. Ich konnte ihr
+nicht dankbar genug sein.
+
+Aber Millionen armer Frauen arbeiten in der Werkstatt und in der
+Fabrik, während die Straße ihrer Kinder Hüterin ist und sie gezwungen
+sind, nach der Hast der Arbeit noch die unzureichende Ernährung für sich
+und die Ihren selbst zu bereiten. So unschätzbar die wirtschaftliche
+Selbständigkeit des Weibes sein mag, sind die Opfer des Mutterherzens
+und des Kinderglücks nicht ein zu hoher Preis für sie? Ich fand aus der
+Wirrnis nicht heraus: auf der einen Seite diese Not, auf der anderen
+Seite die liebezerstörende pekuniäre Abhängigkeit des Weibes vom Mann.
+
+Die deutschen Gewerbeaufsichtsbeamten hatten um jene Zeit eine
+Untersuchung über die Arbeit verheirateter Frauen in der Industrie
+angestellt. Die Ergebnisse lagen mir vor: überall war es die bittere
+Notwendigkeit, die ihnen zwischen dem natürlichen Weibesberuf und dem
+Erwerb außerhalb des Hauses keine Wahl ließ. Und alles deutete darauf
+hin, daß ihre Zahl ständig zunehmen würde. Nichts schien mir im
+Augenblick so wichtig, als die Lösung dieser brennenden Frage. Es galt
+auf der einen Seite, dem Säugling die Mutter zurückzugeben, und auf der
+anderen, das Weib von der Last doppelter Pflichten zu befreien. Ich
+baute meinen alten Plan der Mutterschaftsversicherung aus, -- fest
+überzeugt, daß über kurz oder lang die Regierungen gezwungen sein
+würden, ihm näher zu treten. Aber selbst seine Verwirklichung würde die
+notwendige Arbeitsteilung zwischen Hausfrau und Berufsarbeiterin nicht
+herbeiführen.
+
+»Laß einmal heut deine Nachmittagsarbeit,« sagte Heinrich eines Tages,
+als ich in meine Grübeleien versunken nach Hause kam. »Wir sind zur
+Einweihung eines Arbeiter-Restaurants geladen, -- France und Jaurès
+werden dort sein --«
+
+»Du weißt, ich darf mich nicht ablenken lassen,« antwortete ich
+mißmutig.
+
+»Diesmal ist aber die Sache interessant genug, um eine Ausnahme von der
+Regel zu entschuldigen,« meinte er. »Eine genossenschaftliche Gründung
+der Art liegt auf dem Wege zu unseren Zielen.« Ich horchte auf: irgend
+etwas, halb Unbewußtes, packte mich.
+
+In einer engen Seitenstraße des Boulevard Montparnasse lag ein altes
+kleines Haus geduckt zwischen hohen Mietskasernen. In seinem neuen
+Anstrich, mit den Girlanden um die Türe und den Fähnchen an den Fenstern
+sah es lustig aus wie ein altes Männlein, das goldene Hochzeit feiert.
+Drinnen um die festlich gedeckten Tafeln herrschte eitel Fröhlichkeit.
+
+»Daß wir es erreicht haben, -- endlich!« sagte glückstrahlend einer der
+Leiter. »Seit Jahren sammeln wir Sou um Sou, um die armen Arbeiter
+dieser Gegend von der Ausbeutung der Kneipenwirte zu befreien, und um
+den zahllosen arbeitenden Familienmüttern ein gutes und billiges
+Mittagsmahl zu verschaffen.«
+
+Ich reichte dem Manne die Hand und drückte sie herzhaft; er sah mich
+verwundert an: er konnte nicht wissen, welch ein Geschenk er mir eben
+gegeben hatte.
+
+Die breite Gestalt von Jaurès erschien in der Türe, hinter ihm die
+elegante eines vornehmen Graubarts, dessen geistfunkelnde Augen über die
+große schiefe Nase unter ihnen zu spotten schienen. »Anatole France,«
+stellte Jaurès ihn uns vor. Wir waren sofort in lebhaftem Gespräch.
+
+»Ich mag nicht fehlen, wenn die sozialistische Arbeiterschaft irgendwo
+einen Fuß breit Boden gewinnt,« sagte er; »je mehr die Bourgeoisie an
+Idealismus verloren hat, desto unfruchtbarer ist sie für uns
+Intellektuelle. Wir müssen uns stets zu den Hoffenden und Werdenden
+halten, wenn wir nicht selbst absterben wollen.«
+
+»Unsere deutschen Intellektuellen halten sich lieber zu denen, die zwar
+an Hoffnungen arm, aber an Gold und Juwelen um so reicher sind --,«
+antwortete ich.
+
+Er lächelte ungläubig: »Wirklich?! In einem Lande, das sprichwörtlich
+reich an hungernden Dichtern und arm an Männern ist?!«
+
+Dann wurde er zerstreut, zog ein Blatt Papier aus der Tasche, überflog
+es wieder und wieder und reichte es Jaurès: »Ich bin kein Redner und
+soll durchaus sprechen. Was meinen Sie, wenn ich das hier sage?« Dabei
+stieg die Röte der Verlegenheit in das gebräunte Gesicht des berühmten
+Mannes.
+
+Wir setzten uns zu Tisch. Ich konnte nicht glauben, daß die vielen
+Menschen um uns herum mit den selbstverständlich guten Manieren, dem
+freimütigen Ton, der ohne weiteres jeden Abstand der Bildung und des
+Milieus ausglich, die Ärmsten der Armen waren. Ich sah es erst
+allmählich an den hohlen Wangen und sorgfältig vernähten Flicken auf den
+Kleidern. Und doch aßen und tranken sie, als ob sie alle Tage satt
+würden.
+
+France sprach; stockend, schüchtern, aber mit einem so warmen Ton in der
+Stimme, daß er alle gefangen nahm. Und dann wußten sie auch von ihm:
+»Unser großer France,« flüsterte stolz einer dem anderen zu, und ein
+paar kleine Nähmädchen mit harten zerstochenen Fingern brachten ihm die
+Veilchensträußchen, die sie im Gürtel trugen.
+
+Als ich am nächsten Tage wieder bei der Arbeit saß, war mein neuer Plan
+fix und fertig: »Haushaltungsgenossenschaften« nannte ich ihn. In den
+Arbeitervierteln der großen Städte sollte jede Mietskaserne mit einer
+Zentralküche versehen sein, die den Bewohnern ihre Mahlzeiten liefert.
+In den Häusern der Arbeiter-Baugenossenschaften müßte der Anfang damit
+gemacht werden; Kinderkrippen und Kinderhorte zum Tagesaufenthalt der
+Mutterlosen sollten sich anschließen; die genossenschaftliche
+Wirtschaft, der Einkauf im Großen müßte, so berechnete ich, die Kosten
+für die anzustellenden Arbeitskräfte aufbringen. Einsichtige Kommunen
+würden sich allmählich bereit finden, solche, für die physische und
+moralische Gesundheit der Bevölkerung überaus wichtige Häuser selbst zu
+bauen. Mit der Befreiung von der doppelten Arbeitslast der
+Hauswirtschaft und der außerhäuslichen Erwerbsarbeit würde einer der
+wichtigsten Teile der Frauenfrage ihrer Lösung entgegengeführt werden.
+Und was für die Arbeiterin galt, das galt ebenso für die geistig tätige
+Frau. Ich war so erfüllt von meiner Idee, daß ich vor freudigem
+Herzklopfen nächtelang schlaflos blieb. Mit dieser Sache konnte ich bis
+zum Erscheinen meines Buches nicht warten. Gerade jetzt, wo das Problem
+der Erwerbsarbeit verheirateter Frauen auf der Tagesordnung stand, mußte
+ich damit hervortreten.
+
+Ich schrieb an Wanda Orbin und teilte ihr mit, daß ich an der Hand der
+neuesten Fabrikinspektorenberichte eine kurze Broschüre über die für die
+Arbeiterinnenbewegung so wichtige Frage der Beschäftigung verheirateter
+Frauen in der Industrie schreiben wolle und von ihr nur erfahren möchte,
+ob nicht etwa von anderer Seite ähnliches geplant würde. Irgendwelche
+Details gab ich ihr nicht.
+
+Sie antwortete mir umgehend, daß sie selbst seit längerer Zeit mit der
+Bearbeitung der Frage beschäftigt sei. »Ich habe mich nunmehr
+entschlossen,« fuhr sie fort, »die einzelnen Teile meiner Arbeit als
+selbständige Broschüren erscheinen zu lassen, um sie weiteren Kreisen
+leichter zugänglich zu machen. Die erste enthält die grundsätzliche
+Auseinandersetzung der Frage der Fabrikarbeit verheirateter Frauen und
+des gesetzlichen Arbeitterinnenschutzes, das Manuskript liegt im
+wesentlichen bereits fertig vor... Sie werden mir kaum zumuten, auf die
+Veröffentlichung zu verzichten, weil an anderer Stelle die Behandlung
+derselben Frage beabsichtigt wird...«
+
+Nein: ich dachte nicht daran, um so weniger, als es mir nichts genutzt
+haben würde. Ich wollte auch nicht mit Wanda Orbin in einen lächerlichen
+Konkurrenzkampf eintreten. Mochte ihre Schrift zuerst erscheinen, -- mir
+würde nachher genug zu sagen übrig bleiben.
+
+Während der Monate, die wir noch in Paris verlebten, erschien sie jedoch
+nicht, und die verschiedenen Parteibuchhandlungen wußten nichts von ihr.
+
+ * * * * *
+
+Schwer und grau hing der Winterhimmel über Paris. Zuweilen tanzten weiße
+Flocken in der Luft, und dann schien's, als ob es hell werden wollte;
+aber die schmutzige Straße verschlang sie. Die Obst- und Gemüseauslagen,
+die im Sonnenschein sonst so bunt und lockend den Vorübergehenden
+angelacht hatten, sahen welk und unappetitlich aus. Die kleinen Mädchen
+mit den schönfrisierten Köpfchen, die vor kurzem noch lachend und
+kokettierend mit spitzen Hacken klappernd über das Pflaster getrippelt
+waren, liefen jetzt fröstelnd ihres Wegs mit verfrorenen, mißmutigen
+Gesichtern.
+
+Wer jetzt dicht am Kaminfeuer sitzen und träumen könnte! Aber nach wie
+vor ging ich dieselben Wege durch alte enge Gassen und saß mit eisigen
+Füßen in dunkeln Bureaus. Wußte ich noch, daß es Paris war, in dem ich
+lebte? Lebte?!! War das wirklich Leben?! Hatte nicht am Ende auch mich
+die schmutzige Taglöhnerstraße verschlungen? Mich, die ich licht und
+frei sein wollte? Wenn wir abends zuweilen aus unserem stillen
+Stadtwinkel zum rechten Seineufer hinübergingen, wo die Bogenlampen
+festlich zu strahlen beginnen, wo hinter glänzenden Spiegelscheiben
+Juwelen und Spitzen und märchenhaft schimmernde Gewänder prahlend ihre
+Schönheit entfalten und Equipagen und Automobile hin und wieder rollen,
+aus denen schöne Frauenköpfe nicken und lächeln wie seltene
+Treibhausblumen hinter ihrem Glashaus, -- nur zum Schmuck einer Nacht
+gezüchtet, -- dann fühlte ich im verborgensten Winkel meines Herzens
+einen stechenden Schmerz.
+
+Am Eingang zum Opernhaus standen dicht gedrängt arme junge Mädels; sie
+warteten auf die eleganten Damen, die mit seidenbeschuhten Füßchen und
+langen Schleppen den Wagen entstiegen. Sie ließen sich von den Rädern
+mit Kot bespritzen, um vom Glanze des Lebens nur einen Schein zu
+erhaschen.
+
+Wir hatten bei einigen Parteigenossen Besuch gemacht, -- auch bei
+Millerand, -- und waren mit einer Liebenswürdigkeit empfangen worden,
+als wären wir längst erwartete alte Freunde. Aber es blieb bei ein paar
+förmlichen Einladungen mit oberflächlichen allgemeinen Gesprächen.
+Während mein Mann einen unvereinbaren Gegensatz in dem Benehmen unserer
+Gastgeber empfand, fühlte ich mich plötzlich in die Umgebung meiner
+Jugend zurückversetzt und verstand sie.
+
+Der Franzose ist ein geborener Aristokrat, er hat jene Kultur des
+Benehmens, jene Liebenswürdigkeit der Form, die zugleich eine
+unübersteigliche Mauer ist, hinter der sich das persönlich Menschliche
+verbirgt.
+
+Wir gerieten auch in einen literarischen Salon, dessen Herrin tout Paris
+um sich zu versammeln verstand. Sie war von unverwüstlicher Schönheit,
+und ihre Küche war berühmt. Als wir nach Hause gingen, war mein Mann
+befriedigt und angeregt und ich schlechter Laune. »Hast du dich denn
+nicht amüsiert?« fragte er mich schließlich.
+
+»Ganz und gar nicht,« antwortete ich, »und wenn ich nicht fürchten
+müßte, daß meine Ehrlichkeit mich in deinen Augen herabsetzt, --«
+
+»Aber Alix,« lachte er und zog meinen Arm fester durch den seinen, »du
+weißt, daß du mich immer entzückst, wenn du du selber bist.«
+
+»So will ich's drauf ankommen lassen und dir gestehen, daß ich die Rolle
+des unbeteiligten Zuschauers in jeder Gesellschaft, -- und wäre es die
+interessanteste, -- unerträglich finde. Es ist ja sicher lehrreich, zu
+erfahren, daß der Wert der Frau in Paris mit dem Wert ihrer Kosmetik und
+ihrer Toilette steigt und fällt, aber da ich auf dem Gebiet nicht
+konkurrieren kann --«
+
+Heinrich lachte noch lauter. »Du liebe Eitelkeit, du,« war alles, was er
+sagte, während die Röte der Beschämung mir noch auf den Wangen brannte.
+
+Ein andermal folgte ich der Einladung einer der führenden
+Frauenrechtlerinnen in die Redaktion ihrer Zeitung. Ich bewunderte schon
+lange die Energie, mit der sie die Frauen -- französische Frauen! --
+zwang, die politischen Tagesereignisse zu verfolgen, und an der Seite
+der Zola und Jaurès an dem Kampf für Dreyfus teilgenommen hatte. Ich
+erwartete unwillkürlich eine typische Feministin: harte Züge, eckige
+Bewegungen, männliche Kleidung. Schon die Räume, die ich betrat,
+überraschten mich; sie hatten alle das Aussehen und das Parfüm eines
+eleganten Boudoirs. Ein paar Damen gingen vorüber, -- sie hätten ebenso
+beim five o'clock im Grand Hotel erscheinen können. Dann kam die
+Leiterin selbst. Wenn sie mir bei Maxim begegnet wäre, ich hätte mich
+nicht gewundert. Ihre Schönheit hatte trotz aller statuenhaften Kühle,
+-- oder vielleicht gerade deshalb, -- etwas Sieghaftes.
+
+»Je radikalere Feministen wir sind, desto stärker müssen wir unser
+Weibsein betonen,« sagte sie im Lauf des Gesprächs. Ich stimmte ihr
+lebhaft zu und dachte an ihre deutschen Gesinnungsgenossinnen, die den
+Gegensatz zwischen der Weltdame und der Frauenrechtlerin nicht genug
+glaubten zeigen zu müssen.
+
+»Sie vergessen nur eins,« fuhr ich fort. »Die Pflege der Schönheit
+kostet Zeit und Geld. Und die eigentlichen Trägerinnen der
+Frauenbewegung, die Frauen, die heute im Kampf ums Dasein stehen, haben
+keins von beiden.«
+
+»Darum müssen wir es ihnen schaffen,« warf sie lebhaft ein und führte
+mich, um ihre eigene Tätigkeit nach dieser Richtung zu illustrieren, in
+den Setzersaal, wo lauter junge Mädchen beschäftigt waren. Unter den
+großen Schürzen lugten zierliche Kleider hervor, die hübschen
+Lockenköpfchen hätten höheren Töchtern gehören können. Ihre Augen
+folgten mit schwärmerischer Bewunderung der stolzen Gestalt ihres
+weiblichen Chefs, die sich, umgeben von Veilchenduft, mit einem leisen
+Wiegen in den Hüften durch ihre Reihen bewegte. Ich hörte später, sie
+sei eine grande amoureuse, eine von jenen, deren Herzen kalt bleiben,
+wenn ihre Sinne glühen. »Ihre Mittel sind unerschöpflich,« sagte man mir
+mit einem vielsagenden Lächeln. Mich interessierte dieser Typus, der mir
+in Deutschland nicht würde begegnen können. Ich versuchte, ihr näher zu
+treten. Doch auch sie blieb stets dieselbe: geistvoll, liebenswürdig, --
+aber unnahbar.
+
+ * * * * *
+
+Unser Pariser Aufenthalt neigte sich seinem Ende zu. Mein Buch war fast
+fertig. Es fing schon an, sich von mir loszulösen und vor mir zu stehen
+wie etwas Fremdes, nicht mehr zu mir Gehöriges, mit dem ich auch
+innerlich abgeschlossen hatte. Es war wie eine erstiegene Höhe, von der
+aus ich nun weiter gehen mußte. Meine Gedanken kreisten immer enger um
+die neue Aufgabe, die wir uns gestellt hatten. Meine Hoffnungen, genährt
+von der Liebe zu meinem Mann, der seine Lebensbestimmung glaubte
+gefunden zu haben, übertönten die leise warnenden Stimmen meines
+Inneren.
+
+»Du kannst nur schaffen, wenn du dich selbst behauptest,« sagten sie.
+
+»Du wirst die Sache zum Siege führen, wenn du dich selbst hingibst,«
+frohlockte die Hoffnung.
+
+Ich glaubte ihr.
+
+Heinrich fuhr voraus nach Berlin. Ich erinnerte mich während der letzten
+acht Tage, daß ich in Paris war. Mein Junge jubelte, weil er nun jeden
+Morgen mit »Mamachen« gehen durfte. Die Berta hatte auf ihren
+Spaziergängen mit ihm viel mehr gesehen als ich; der kleine Bub wurde
+mir zum Führer. Er kam sich dabei sehr wichtig vor. Zuerst zog er mich
+in atemloser Eile durch die Tuilerien hindurch zu »der Frau, die ein
+Soldat war«. Ich lächelte: war es doch meiner frühsten Kindheit Traum
+gewesen, das Vaterland zu befreien wie sie! Stolz und siegessicher,
+Frankreichs Fahne fest in der Hand, erhob sich ihr Standbild vor mir;
+sie war den Stimmen in ihrer Brust gefolgt, -- unbeirrt; aus dem
+Scheiterhaufen, der ihren Leib verzehrte, erhob sie sich nur noch
+größer.
+
+»Die Jungfrau von Orleans, -- ist das ein Märchen?« fragte der Kleine,
+als ich ihm die Geschichte erzählt hatte, und sah mit nassen Augen zu
+der Reiterin empor.
+
+»Nein, es ist Wahrheit,« antwortete ich.
+
+»Warum verbrannten sie denn die bösen Menschen?« Auf seine glatte
+Kinderstirn gruben sich tiefe Falten des Zornes.
+
+»Sie vertragen nur, was ihresgleichen ist,« sagte ich leise, wie zu mir
+selbst.
+
+Unter der hohen Kuppel des Invalidendomes standen wir miteinander. Ein
+breiter Strom bläulichen Lichtes entsprang ihr und wogte tief unten um
+den roten Porphyr, der des großen Korsen Gebeine umschließt. Der Gang
+ringsum, die Kapellen zur Seite schienen im Dämmer zurückzutreten. Mit
+leiser Stimme erzählte ich von dem armen Knaben aus Ajaccio, der, seinem
+Sterne getreu, die Welt eroberte, der das Testament der Revolution
+vollzog, und der auf der Felseninsel im Weltmeer starb -- in Ketten.
+
+»Auch weil -- weil --« das Kind neben mir suchte nach den Worten, deren
+Sinn er nicht verstanden hatte; »weil er zu groß war für die anderen,«
+ergänzte ich.
+
+Am letzten Tage vor unserer Abreise kämpfte der erste
+Frühlingssonnenschein mit den schwarzgrauen Regenwolken; grüne Spitzchen
+lugten neugierig an Büschen und Bäumen aus braunen Hüllen hervor; die
+Kinder mit den langen gedrehten Locken bevölkerten wieder die Gärten.
+
+Ich war stundenlang im Louvre gewesen. Ich hatte die Menschen, die
+Welt, die Jahrhunderte durch die Augen der Größten aller Zeiten gesehen
+und fühlte meinen Geist heller, mein Herz wärmer werden. In der Kunst
+kommt es nicht darauf an, wie die Welt ist, sondern wie die Augen sind,
+die sie betrachten. Nur der Künstler hat recht, dem sie immer Objekt
+bleibt, der im Häßlichen noch das Schöne, im Bösen das Menschliche
+findet.
+
+Und nun, zum Abschied, nahm ich noch einmal den Kleinen mit mir.
+
+»Zur Göttin der Griechen wollen wir,« sagte ich ihm, »die Odysseus und
+Achilles anbeteten.«
+
+Die Leute drehten sich um, lächelnd, spottend, entrüstet, als sie mich
+mit dem Kind an der Hand durch die Säle gehen sahen, bis dahin, von wo
+der Venus von Milo weiße Gestalt uns entgegenleuchtete.
+
+»Warum beten die Menschen nicht?« flüsterte mein Sohn, der die Mütze vom
+Köpfchen gezogen hatte.
+
+In einsamer Herrlichkeit stand sie vor uns, im Bewußtsein ihrer Macht
+und Schöne, zeitlos, beziehungslos. Ihr Blick schweifte hinweg über die
+Menge, gleichgültig, ob sie ihr Opfer zündete oder die Linien ihres
+Körpers mit dem Zirkel maß. Sie herrschte, sie begeisterte und belebte,
+nicht weil sie vom Sockel stieg in den Dienst der Massen, sondern weil
+sie vollendet war in sich.
+
+Droben in den Sälen hingen die Bilder aller derer, die die Menschen,
+denen sie dienten, gekreuzigt hatten: die Heiligen, die Madonnen, die
+Christuskinder. Sollte der Zweck des Daseins nicht doch der Olymp der
+Griechen und nicht der Himmel der Christen sein?
+
+Ich strich mit der Hand über die Stirn. Es war etwas wach geworden in
+mir, das schlafen mußte.
+
+Ein weiches Händchen nestelte sich in das meine: »Warum hat die Göttin
+keine Arme, Mamachen?«
+
+»Zur Strafe, weil sie die Menschen nicht festhielt, die ihrem Tempel
+entliefen.«
+
+
+
+
+Elftes Kapitel
+
+
+Es war ein Sonntag, als wir Berlin wiedersahen. Mir schien, als wären
+wir Fremde. Wie klein, wie armselig war das alles: die Linden mit ihren
+kraftlosen Bäumen und stillosen Häusern, der Pariser Platz mit seiner
+bedrückenden Engigkeit. Und die neuen Stadtteile: eine gute Bürgersfrau,
+die sich herausgeputzt hat, und das bißchen echte Kultur, das sie besaß,
+darüber vollends verlor. Dazwischen die Feiertagsbummler: Der Kontrast
+zwischen ihrer kreischenden Lautheit in Tönen und Farben und dem matten
+Grau des Märztages tat Augen und Ohren weh.
+
+»Ich möchte wissen, wo ich zu Hause bin,« seufzte ich und legte mich
+abends mit jenem Gefühl innerer Leerheit schlafen, das uns zuweilen
+überkommt, wenn wir eine Staatssoirée hinter uns haben. Mir träumte von
+einem riesigen Wasserfall. Noch im Halbschlaf am Morgen hörte ich sein
+Rollen und Rauschen, und je wacher ich wurde, desto stärker schwoll es
+an. Vom Potsdamer Platz herauf klang es; Straßenbahnen, Omnibusse,
+Lastwagen, eilende Menschenfüße waren die Instrumente dieses Konzertes;
+Berlin ging auf Arbeit. Da war kein Winkel ohne Leben.
+
+Drüben in der Leipzigerstraße waren unter der Spitzhacke alte
+Mauern zusammengebrochen, und sieghaft erhob sich jetzt, von
+Riesengranitpfeilern getragen, ein mächtiges Warenhaus, wie selbst Paris
+es nicht kannte, aus dem märkischen Sand. Kein Basar, dessen Bau Gotik,
+Barock und Renaissance durcheinanderwirft, wie seine reklameschreienden
+Schaufenster die Waren, -- ein Stück neuer Kultur vielmehr, die die
+Schönheit der Zweckmäßigkeit erkannte und doch allen Zauber der Kunst
+über sie ausgoß. Die Menschen strömten aus und ein. Sie trugen von all
+jenen glänzenden Goldblumen und köstlichen Steinreliefs, die seine
+inneren Räume schmückten, von den farbenleuchtenden Onyxplatten und
+gemalten Holzdecken, von den Feuertropfen und Lichtgirlanden einen
+Schimmer von Schönheit mit sich nach Haus.
+
+Jenseits des Platzes waren Baumriesen gestürzt, denn dem Verkehr mußte
+die Straße sich weiten, und an der Peripherie der Stadt standen
+reihenweise die Holzgerüste, wie gewaltige Pallisaden, -- Zeichen dafür,
+daß das alte Kleid ihrem Riesenleibe zu eng wurde.
+
+Ein Emporkömmling ist sie, -- gewiß! Aber keiner, den das Glück aufwärts
+trug. Vielmehr einer, der sich durch die Kraft seiner Fäuste den Weg
+bahnte.
+
+Wie die Menschen liefen und hasteten! Sie kannten jenes gemächliche
+Schlendern nicht, mit dem Lächeln der Behaglichkeit auf den Lippen und
+kokettierenden Blicken hin und her. Aller Züge schienen gespannt von
+nervöser Eile, von sorgender Angst, von lastenden Gedanken.
+
+Klingendes Spiel, feste Schritte im Takt kündeten das Nahen von
+Soldaten. Der Verkehr stockte. Wo in Preußen die bewaffnete Macht
+erscheint, gehört ihr die Straße. Und hypnotisiert durch den Marsch,
+durch die Masse, durch wehende Federbüsche und blinkende Uniformen,
+drängte jung und alt ihr nach, ihr voran.
+
+Die Alexander-Grenadiere bezogen heute ihre neue Kaserne: in nächster
+Nähe des Schlosses war sie errichtet worden, eine Zwingburg mit Mauern
+und Schießscharten; und vom Lustgarten aus führte der Kaiser selbst
+seine Garde dem neuen Heime zu, während die Polizei in weitem Bogen das
+gaffende Volk beiseitedrängte, damit der Herrscher allein blieb mit
+seinen Truppen. »Ihr seid die Leibwache eures Königs,« sagte er, »und
+wenn diese Stadt noch einmal wie Anno 48 sich wider ihn erheben wird, so
+seid ihr berufen, die Frechen und Unbotmäßigen mit der Spitze eurer
+Bajonette zu Paaren zu treiben.«
+
+Fürwahr, wenn ich mich bis jetzt wie in einem Traum befunden hatte, nun
+wußte ich: wir waren in Berlin.
+
+ * * * * *
+
+Wir gingen mittags zu Erdmanns. Sie waren erst kürzlich von einer langen
+Seereise zurückgekehrt, die der Arzt ihnen verordnet hatte, und
+schienen, nach den Briefen meiner Schwester zu schließen, befriedigt von
+ihrem Erfolg. Und nun standen sie mir gegenüber, so anders als ich sie
+verlassen hatte. Scharf und eckig traten die Backenknochen aus meines
+Schwagers Gesicht hervor, sein Anzug hing um ihn, als wäre sein Körper
+nichts als ein Knochengerüst. Nur sein Geist schien lebensvoller als je
+und sprühte Funken. Das Schwesterchen dagegen war ebenso still, wie sie
+blaß und schmal war. Wo war das runde Kindergesicht und die glänzenden
+Augen? Seltsam: auch aus ihren Haaren war der Goldschimmer
+verschwunden; es lag wie Asche auf ihnen. Die einstmals lauter Wärme
+ausströmte, hatte eine Atmosphäre abweisender Kühle um sich. Ihre Lippen
+glichen jetzt denen meiner Mutter: scharf, schmal, blutlos. Ich sah, daß
+sie sich mir nicht öffnen würden, und forschte in ihren Zügen; aber auch
+sie blieben verschlossen. Ob sie unglücklich war, weil sie kein Kind
+hatte? Erdmann spielte stundenlang mit meinem Buben, während sie ihn
+kaum mit einem Blick streifte. Wir sprachen von der Mutter, die den
+Winter in Italien verlebt hatte und Briefe schrieb wie ein junges
+Mädchen, das zum erstenmal in die Welt sieht.
+
+»Sie ist glücklich, seitdem sie allein ist,« sagte Ilse. Ein flehender,
+gequälter Blick ihres Mannes traf sie.
+
+»Was spielst du jetzt?« fragte ich, zum Flügel deutend, um das Gespräch
+abzulenken.
+
+»Ich habe die Musik aufgegeben, sie macht mich nervös,« antwortete sie.
+
+»Auch die Oper??«
+
+»Die erst recht! Die offenen Mäuler und gespreizten Arme all der dicken
+Tenöre und Primadonnen zerstören jeden Rest von Illusion. Man kann sie
+bestenfalls ertragen, wenn man geschlossenen Auges zuhört. Aber da man
+immer den übrigen Pöbel um sich hat -- --«
+
+Sie unterbrach sich und schürzte ein wenig spöttisch die Lippen: »Ach
+so, -- entschuldige! Ich vergaß, daß ich euer proletarisches Empfinden
+kränken könnte.«
+
+Erdmann lachte. »Nun -- nun,« meinte er begütigend, »der Pöbel des
+Parketts dürfte doch auch in euren Augen mit dem Proletariat nicht
+identisch sein. Übrigens bin ich mit Ilse einer Meinung: der Zirkus und
+das Überbrettl sind für unsereins allein noch erträglich. Hohe Kunst auf
+der Bühne ist verletzend für Menschen von Kultur. Man sollte dafür
+Marionettentheater schaffen, oder sechsfache Schleier vor die Darsteller
+hängen, damit sie wie Schatten wirken.«
+
+»Unvergleichliche Wirkungen müßten sich dadurch erzielen lassen,« sagte
+Ilse, etwas lebhafter werdend, »zum Beispiel mit herrlichen Sachen, wie
+diesen hier.« Sie wies auf das neuste Heft der Blätter für die Kunst,
+das dramatische Gedichte von Schülern Stefan Georges enthielt.
+
+»Ich lese sie noch immer nicht,« entgegnete ich lächelnd; »weniger denn
+je kann ich heute die hochmütige Abkehr vom Leben vertragen, die das
+Kennzeichen all dieser Menschen ist. Sie berauschen sich am Klang der
+Sprache und bekommen, wenn es zu handeln gilt, zittrige Hände wie
+Absinthtrinker.«
+
+Wir gerieten in eine Debatte, die sich immer schärfer zuspitzte. Ilse
+bekam heiße Wangen und mitten im Gespräch einen heftigen Hustenanfall,
+der mich angstvoll aufhorchen ließ. Erdmann sah in diesem Augenblick wie
+verstört drein. Und wie um gewaltsam den Eindruck abzuschütteln,
+beschloß er, uns durch den Tiergarten zum Hotel zurückzubegleiten.
+
+»Ich bin zu müde --,« sagte Ilse.
+
+»In der frischen Luft wirst du schon munter werden,« damit drängte er
+sie hinaus.
+
+Wir begegneten vielen Menschen, die Erdmanns grüßten. Das stimmte ihn
+fröhlich. »Lauter Leute, die ich einrichte,« sagte er. »Wenn ich erst
+all den Berlin-W.-Protzen zu anständigem Wohnen verholfen haben werde,
+kann ich den ganzen Kram an den Nagel hängen und Pinsel und Palette
+wieder vorholen. Was, mein kleines Ilschen?!« Und zärtlich schob er
+seinen Arm in den ihren. Aber sie senkte den Kopf nur noch tiefer.
+
+ * * * * *
+
+Als die Mutter zurückkehrte, äußerlich und innerlich verwandelt, frisch
+und strahlend, dabei mit gesteigertem Lebensdurst, der sich auf alles
+stürzte, was sich ihr bot, lag Erdmann fiebernd zu Bett.
+
+»Er wird sich erholen, sobald es warm wird,« sagte sie zuerst, und
+erzählte voll freudigem Eifer von ihren schweizer Sommerplänen. Ein paar
+Tage später sah ich sie wieder: gerade, steif, mit zusammengekniffenen
+Lippen, wie damals, als der Vater noch lebte. Die Ärzte hatten sie
+aufgeklärt. Erdmann hatte die Schwindsucht, Ilse schien angesteckt.
+
+Wir nahmen Abschied von Erdmanns. Sie sollten in ein heidelberger
+Sanatorium übersiedeln. Die seidene Decke, unter der er lag, bauschte
+sich kaum sichtbar über dem Körper; die mageren Finger führten eifrig
+den langen Bleistift über das Papier auf seinem Schoß. »Ich muß doch für
+Prinzessin Ilse Geld verdienen,« und ein leidenschaftlicher Blick traf
+die schöne junge Frau, die ihm mit gesenkten Lidern, ruhig und
+pflichttreu, die Arznei zum Munde führte.
+
+Ich kämpfte mit den Tränen, als ich nach Hause kam. Nicht nur, weil
+meine Schwester in einem Augenblick, wo ich sie unglücklich wußte, mir
+fremd, fast feindselig gegenüberstand, sondern weil sie das Opfer einer
+Ehe war, von der ich sie vielleicht hätte zurückhalten können. Ich
+empfand ihre Kühle wie einen Vorwurf.
+
+»Vor Kinderschmerzen hast du mich einst gehütet,« schienen ihre Augen zu
+klagen, »warum hast du mich vor dem schlimmsten nicht bewahrt?« Und wenn
+sie meinen Buben geflissentlich übersah, so wußte ich, was sie damit
+sagen wollte: »Du hast mich über ihm vergessen.«
+
+ * * * * *
+
+Unser Einzug in die neue Wohnung, -- einem Gartenhaus der Uhlandstraße,
+-- war kein fröhlicher. All die tausenderlei Dinge, die mit ihm
+zusammenhingen, vom Auslösen der Möbel auf dem Speicher bis zu den
+Löhnen der Handwerker, hatte unser letztes Geld verschlungen.
+
+»So mach dir doch nichts draus, -- quäle nicht dich und mich mit
+unnützen Sorgen,« rief Heinrich heftig, als ich ihm unsere Lage
+auseinandersetzte. Ich schwieg verletzt. Er war wie ein geistig
+Weitsichtiger, der das Nächste nicht sieht, dem immer nur das Ferne
+gegenwärtig ist. Der Plan seiner Zeitschrift beherrschte ihn völlig. So
+mußte ich mir selber helfen. Ich bat den Verleger meines Buches um mein
+Honorar. Er erfüllte meinen Wunsch ohne weiteres. Heinrich aber wunderte
+sich nicht einmal, wieso ich plötzlich Geld hatte. Für ihn schienen die
+pekuniären Seiten des Lebenskampfes nicht zu existieren, mir dagegen
+nahmen sie alle Schwungkraft und machten mich bis zur Grausamkeit bitter
+gegen ihn. Bat ihn jemand um ein Almosen oder um ein Darlehn, so gab er,
+was er in der Tasche hatte. Wagte ich einen leisen Vorwurf, so gruben
+sich seine Stirnfalten noch tiefer, und es kam immer häufiger vor, daß
+er mir mit einem: »Sieh lieber, daß deine Berta dich nicht betrügt!«
+antwortete. Dann erst war die Entzweiung eine vollkommene. Nichts schien
+mir ungerechter, als dieses Mädchen zu verdächtigen, das sich für uns
+aufopferte und nicht einmal eine Aufwärterin zu ihrer Hilfe zuließ. Daß
+sie allmählich in ihrem Aussehen und Benehmen zu einem »Fräulein«
+geworden war, schien mir im Interesse meines Jungen nur vorteilhaft,
+während Heinrich es als Folge meiner Verwöhnung ansah und behauptete,
+ich verdürbe nur das einst so schlichte Bauernmädchen.
+
+Lange freilich währten unsere gegenseitigen Verstimmungen nie. Vor den
+klaren Augen unseres Kindes, denen nichts entging, schämten wir uns
+ihrer. Seine Jugend sollte nicht durch den Unfrieden seiner Eltern
+vergiftet werden, wie die meine.
+
+»Nu lach doch wieder ein ganz kleines bißchen!« Damit kletterte er
+schmeichelnd auf seines Vaters Knie. »Nich wahr, Mamachen, du gibst dem
+Heinzpapa gleich einen dicken, runden Kuß!« Damit lief er zu mir und
+legte das weiche Bäckchen zärtlich an meine Wange.
+
+Waren wir so versöhnt, so fühlten wir den Stachel nicht, der sich
+trotzdem immer tiefer in unsere Herzen bohrte.
+
+ * * * * *
+
+Gleich nach unserer Ankunft hatte ich den Genossinnen meine Rückkehr
+mitgeteilt. Auch das war der Anlaß zu einer kleinen Auseinandersetzung
+zwischen uns gewesen.
+
+»Willst du dich wirklich wieder in die unfruchtbare Arbeit stürzen?!«
+sagte mein Mann ärgerlich.
+
+»Gewiß,« entgegnete ich mit jener Gereiztheit, die mich immer überkam,
+wenn ich meine persönliche Freiheit durch ihn gefährdet glaubte. »Ich
+sehe die Frauenbewegung mehr denn je als das Gebiet an, auf dem ich
+wirken muß.«
+
+»Du wirst in unserer Zeitschrift genug für sie tun können, -- mehr als
+in eurem Kaffeekränzchen!«
+
+Ich zuckte spöttisch die Achseln und meinte gedehnt: »Wenn ich darauf
+warten soll!« Im selben Moment aber bereute ich schon, ihn an seiner
+empfindlichsten Stelle verletzt zu haben. Es lag wahrhaftig nicht an
+ihm, wenn seine Idee noch nicht verwirklicht war.
+
+Unsere Gesinnungsgenossen, mit Einschluß von Bernstein, der sie noch von
+London aus in Briefen an meinen Mann lebhaft begrüßt hatte, stimmten ihr
+rückhaltlos zu, aber es fand sich niemand, der auch nur einen Pfennig
+für sie gegeben oder sich sonst um ihre Ausführung bemüht hätte. Daß
+auch dies nur ein Symptom für die Uneinigkeit und Unklarheit des
+Revisionismus war, empfand jeder von uns. Eine Bewegung war vorhanden,
+aber es fehlte ihr die starke Hand eines Führers, der sie
+zusammenzufassen und ihr Richtung zu geben vermag. Wir erwarteten für
+die Sache wie für unseren Plan, der ja nur in ihren Diensten stehen
+sollte, von dem persönlichen Eingreifen Bernsteins nicht wenig.
+
+An einem Maienabend des Jahres 1901, dessen Luft vom Brodem
+lebensschwangerer Erde so gesättigt war, daß er selbst mitten in der
+steinernen Öde der Stadt fühlbar wurde, drängten sich die Menschenmassen
+in einem engen Saal dicht zusammen; sie trugen in ihren Haaren und
+Kleidern den Duft des Frühlings mit herein, und der ganze Raum schien
+erfüllt von seinem Fieber. Es waren keine Arbeiter. Aber die
+intellektuelle Jugend war es. Besann sie sich endlich auf sich selbst?
+War sie im Begriff, Ideale aufzurichten, die einer großen Kraft und
+eines großen Kampfes würdig waren? Die sozialwissenschaftliche
+Studentenvereinigung Berlins hatte diese Versammlung einberufen und
+Eduard Bernstein zum Redner gewählt. Ihre berühmtesten Lehrer saßen
+unter ihnen, dazwischen die politischen Führer jener Linken, -- die
+Barth, die Naumann, die Gerlach, -- die, abgestoßen von allen anderen
+bürgerlichen Parteien, zwischen ihnen und der Sozialdemokratie die
+unfruchtbare Rolle des Puffers spielte. Sie alle hofften, -- bewußt oder
+unbewußt, -- daß dieser Abend irgendeine Quelle erschließen würde, an
+der sie nicht nur ihren Durst stillen könnten, sondern deren Wasser sich
+zum Strome weiten und alle ihre irrenden Schiffe zu tragen vermöchten.
+
+»Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?« lautete die Frage, auf
+die Bernstein die Antwort geben wollte. Er trat an das Rednerpult.
+Hinter den Brillengläsern sahen seine kurzsichtigen Augen mit einem
+verlegen-erstaunten Blick auf die Menge der Zuhörer. Dann sprach er.
+Mit einer Stimme, die brüchig klang. In abgehackten Sätzen. Ein Mann,
+der an die Enge der Studierstube gewohnt war, nicht an die
+Volksversammlung. Schon zog der Schatten der Enttäuschung über den
+hoffnungsfrohen Glanz auf den Gesichtern. Schüchtern und leise tauchte
+hie und da schon die Frage auf: »Was hat er eigentlich? -- Was will er?«
+
+Daß der Sozialismus von spekulativem Idealismus erfüllt und darum nicht
+Wissenschaft sei, die im voraussetzungslosen Streben nach Erkenntnis
+bestehe; daß die Arbeiterbewegung vom Wollen eines bestimmten Zieles,
+vom Glauben an ein bestimmtes Zukunftsbild getragen sei und nicht vom
+Wissen, -- es war kaum möglich, aus der langen Rede etwas anderes
+herauszuhören, als diese wenigen, für den Ausgangspunkt einer neuen
+Bewegung viel zu negativen Gedanken.
+
+Zuweilen schien es, als ob der Vortrag nichts wäre als das laut
+gewordene Grübeln eines Menschen über Dinge, die ihn selbst noch als
+Probleme quälen. Er war so mit sich beschäftigt, daß er nicht fühlte,
+jener elektrische Strom, der ihn zuerst mit den Zuhörern verband, sich
+mehr und mehr verflüchtigte, statt daß er ihn benutzt hätte, um die
+unerschütterten, befreienden Gedanken des Sozialismus diesen offenen
+Seelen einzuprägen, ihnen den Willen zur Tat zu vermitteln, nach dem
+ihre junge Kraft sich sehnte.
+
+Wir hatten einen Künder neuer Wahrheit erwartet, und ein Zweifler war
+gekommen, dem des Pontius Pilatus Frage Geist und Gewissen bewegte.
+
+Ein feiner durchdringender Regen rieselte hernieder, als wir den Saal
+verließen. Mich fröstelte. Ich wäre am liebsten still nach Hause
+gegangen.
+
+»Nun?! In diesem zweieinhalbstündigen Redefluß sind Ihnen wohl alle
+Felle weggeschwommen?« sagte eine sarkastische Stimme neben mir. Ich sah
+in Rombergs lächelndes Gesicht und machte eine abwehrende Bewegung; mir
+war nicht zum Scherzen zumute. »Und nun rasch, kommen Sie beide mit, in
+irgend einen gemütlichen Winkel. Wir haben uns eine Welt zu erzählen;«
+damit versuchte er, einen Weg durch die Menge zu bahnen. Seine
+aufrichtige Freude über unser Wiedersehen tat mir in diesem Augenblick,
+in dem ich so viel verloren zu haben glaubte, doppelt wohl.
+
+»Lassen wir's heute,« meinte mein Mann mißmutig, »wir würden nur Ihre
+gute Laune verderben.«
+
+»Oder ich Ihre schlechte, da meine die dauerhaftere ist,« lachte
+Romberg.
+
+Wir gingen zusammen in eins der zunächst gelegenen Restaurants, aber der
+»gemütliche Winkel«, den wir uns aussuchten, wurde rasch zum
+Kriegsschauplatz, denn eine ganze Gesellschaft Versammlungsbesucher fand
+sich allmählich ein, und jeder hatte das Bedürfnis seinem Herzen Luft zu
+machen. Es zeigte sich nun erst recht, wie unklar Bernstein gesprochen
+hatte: je nach der politischen oder philosophischen Richtung, der der
+einzelne zugehörte, gab er seinen Worten eine andere Deutung.
+
+»Das Todesurteil des Marxismus!« triumphierte der Nationalsoziale.
+
+»Nein,« antwortete scharf einer unserer radikalen Parteigenossen, »ein
+Todesurteil seiner selbst! Er hat als wissenschaftlicher Sozialist
+abgedankt.«
+
+Und nun wurden aus seiner Rede einzelne Sätze herausgerissen, die der
+und jener sich notiert hatte, und betrachtet und zerpflückt. Als eine
+Rückkehr zum Utopismus wurde bezeichnet, daß er die »Wünschbarkeit einer
+sozialistischen Gesellschaftsordnung« für den Hebel der Agitation und
+die werbende Kraft der Partei erklärt hatte.
+
+»Nur alte wundergläubige Weiber lockt man damit hinter dem Ofen hervor,«
+spottete einer; »auch das himmlische Jerusalem war 'wünschbar', und doch
+haben wir die Fahrt dahin aufgegeben, weil seine Existenz unbeweisbar
+blieb.«
+
+»Vollends lächerlich,« fügte ein anderer hinzu, »ist die Behauptung, daß
+die Einsicht in die größere Gerechtigkeit sozialistischer Einrichtungen
+uns zu Sozialisten gemacht hat. Mag sein, daß Mitleid mit den Armen,
+Empörung gegen die Ungerechtigkeit manch einen zuerst in unsere Reihen
+trieb. Aber bloße Empfindungen verflüchtigen sich, wenn die Erkenntnis
+sie nicht auf realen Boden zwingt. Würde Bernstein wirklich die Frage
+nach der Wissenschaftlichkeit des Sozialismus verneinen können, so wäre
+er so viel wert, als das Christentum bisher gewesen ist.«
+
+Romberg hatte zuerst ruhig zugehört.
+
+»Jetzt zerzausen sie den armen Bernstein, weil er ihnen nicht die letzte
+Wahrheit gab!« sagte er nun, während aller Augen sich auf ihn richteten.
+»Die Wissenschaft ist doch nichts Fertiges, sondern ein ewiges Suchen!
+Er sucht, und beweist dadurch, daß er denkt. Wissenschaftlich abgedankt
+hat nicht er, sondern haben diejenigen seiner Gegner, die jeden Satz im
+Lehrgebäude des Sozialismus für ein unersetzliches Glied in der Kette
+der sozialistischen Beweisführung halten. Dieser Dogmatismus könnte die
+Bewegung töten, nicht aber der Revisionismus, auch wenn er sich noch so
+täppisch gebärdet.«
+
+»Bernsteins Kritik vernichtet doch aber geradezu grundlegende Ideen des
+Marxismus?« wandte der Nationalsoziale ein.
+
+»Und wenn schon?!« antwortete Romberg. »Der Bau des marxistischen
+Systems ist so genial, daß sich Mauern herausbrechen lassen, ohne ihn zu
+gefährden. Die Tatsache des Klassenkampfes schaffen Sie nicht aus der
+Welt, sie allein genügt, um die Naturnotwendigkeit des Sozialismus zu
+beweisen.« Er trank sein Glas leer und erhob sich mit einem hochmütigen
+Blick auf die verdutzten Gesichter der Tischgenossen. »Unser Schicksal
+ist unentrinnbar, -- damit muß man sich abfinden,« sagte er, »aber
+wünschbar -- weiß Gott! -- ist's für unsereinen nicht. Ich bin bloß
+froh, daß die berühmte 'lutte finale' sich erst auf meinem Grabe
+abspielen wird.«
+
+Wir gingen zusammen.
+
+»Ich danke Ihnen,« sagte ich, als wir draußen waren; der niederdrückende
+Eindruck der Rede Bernsteins war verwischt.
+
+»Im Grunde habe ich ja auch nur für Sie gesprochen --,« es war der
+teilnehmende Blick eines Freundes, mit dem er mir bei den Worten in die
+Augen sah, -- »ich bin so gewohnt, Sie stark zu sehen, daß mir Ihr
+Kummer förmlich weh tat.«
+
+Er begleitete uns bis nach Haus. Mein Mann weihte ihn in unsere Pläne
+ein.
+
+»Und Sie sind einverstanden? Sie wollen am Ende gar mittun?!« wandte er
+sich an mich.
+
+»Mit allen Kräften, -- gewiß!« antwortete ich. »Was können Sie dagegen
+haben, nach all den Gedanken, die Sie heute über den Sozialismus
+entwickelten.«
+
+»Ich mag Sie mir nicht vorstellen, -- auf dem Drehschemel vor dem
+Redaktionspult, -- die Schmierereien anderer Leute korrigierend. Sie
+gehören ins achtzehnte Jahrhundert --«
+
+»Gewiß! An die Seite der Madame Roland --!« unterbrach ich ihn rasch.
+
+Nach und nach erwärmte er sich für unseren Gedanken. »Mit all dem
+Kleinbürgerlichen, Philiströsen in Ihrer Partei werden Sie gründlich
+abrechnen müssen,« meinte er im Laufe des Gesprächs, »weite Horizonte
+geben, die über den Misthaufen des Nachbarn hinausgehen.« Und er
+verbreitete sich über die Stellung der Partei zur auswärtigen Politik.
+
+»Hier trennen sich unsere Wege, lieber Professor,« sagte mein Mann. »Sie
+werden kaum erwarten, daß ich als Sozialdemokrat auf diesem Gebiet Ihre
+Wandlungen mitmache.«
+
+»Wandlungen?! Wieso?!« ereiferte sich Romberg. »Es entspricht der
+Konsequenz meiner Entwicklung, daß ich für den Kolonialbesitz
+Deutschlands eintrete und demzufolge für die Flottenvorlage agitiert
+habe. Traurig genug, daß ihr Sozialisten euch, scheint es, erst belehren
+lassen werdet, wenn ihr die Macht im Staate habt! Das ist, -- verzeihen
+Sie, liebe Freundin! -- der unglückselige feministisch-sentimentale
+Einschlag in der Sozialdemokratie, der sie für die notwendigen, großen,
+-- wenn Sie wollen -- grausamen Forderungen der Kultur blind und taub
+macht. Der Kampf um die Macht ist die Bedingung unserer Entwicklung.
+Die Frage, die uns die Weltgeschichte stellt, ist einfach die: soll uns
+die Erde gehören oder den Negern und den Chinesen? Die Antwort scheint
+mir nicht zweifelhaft.«
+
+Ich sah empört zu ihm auf: »So sind Sie für das Chinaabenteuer mit all
+seinem Gefolge von Hunnentum und für die Kolonialkriege mit all ihrer
+Unmenschlichkeit?! Das heißt doch nicht, Forderungen der Kultur
+erfüllen, sondern die Kultur preisgeben, die wir haben!«
+
+»Ich bin für die Erschließung Chinas, die für unseren Handel eine
+Notwendigkeit ist; ich bin für die Kolonialkriege, die den Boden
+gewinnen für unsere Volksvermehrung, aber daraus folgt doch nicht, daß
+ich die Greuel des Krieges verteidige. Ich nehme sie nur um der größeren
+Werte willen in den Kauf, wenn sie unvermeidlich sind ... Wir würden
+heute noch in Urwäldern wohnen, wenn wir mit den wilden Tieren Mitleid
+gehabt hätten.«
+
+Eine lebhafte Debatte über die volkswirtschaftliche Bedeutung der
+Kolonien und der »offenen Tür« Chinas entspann sich zwischen meinem Mann
+und Romberg. Ich hörte kaum zu; der Gedanke an die Urwälder und die
+wilden Tiere ließ mich nicht los und spann sich wie von selber weiter.
+Ich horchte erst auf, als Romberg sagte: »Wenn die Sozialdemokratie sich
+nicht entschließt, die Sache der Starken zu führen, so wird ihr Sieg
+eine Niederlage der Menschheit sein.«
+
+Vor unserer Haustür nahmen wir Abschied voneinander.
+
+»Was wird denn aber mit dem Archiv?« wandte sich Romberg noch einmal an
+Heinrich; »es wäre ein Jammer, wenn es zugrunde ginge!«
+
+Mein Mann zuckte die Achseln. »Wissen Sie einen Käufer dafür?« fragte
+er statt einer Antwort.
+
+»Einen Käufer? -- Vielleicht!« meinte Romberg nachdenklich.
+
+Eine leise Hoffnung stieg in uns auf.
+
+ * * * * *
+
+An einem der folgenden Tage kam ich zum erstenmal seit meiner Rückkehr
+mit den Genossinnen zusammen. Man empfing mich kühl, -- fast als bedaure
+man, mich überhaupt wieder zu sehen. Ich unterdrückte den aufsteigenden
+Ärger. Bald würden sie mir ganz anders begegnen. Lag erst mein Buch in
+ihren Händen, -- das Buch, das eine wissenschaftliche Leistung und ein
+Bekenntnis war, -- so würden sie mich alle freudig willkommen heißen.
+
+In dem Jahr meiner Abwesenheit waren die Fortschritte der
+Arbeiterinnenbewegung nicht erheblich gewesen. Man hatte versucht, durch
+Einrichtung von Beschwerde- und Auskunftsstellen einen persönlichen
+Zusammenhang mit den der Bewegung noch fremd gegenüberstehenden
+Arbeiterinnen zu schaffen. Ich lächelte unwillkürlich, als ich davon
+hörte. Vorschläge der Art hatte mein so leidenschaftlich bekämpfter Plan
+eines Zentralausschusses für Frauenarbeit enthalten.
+
+Für den Arbeiterinnenschutz und gegen die Beschränkung der Fabrikarbeit
+verheirateter Frauen war auf Grund eines Parteitagsbeschlusses eine
+größere Agitation entfaltet worden. Die Erfolge waren minimal.
+
+»Es fehlt uns immer noch an packenden Schriften, die wir verbreiten
+könnten,« meinte eine der Frauen.
+
+»Ist denn Genossin Orbins Broschüre noch nicht erschienen?« fragte ich
+und begegnete erstaunten Gesichtern.
+
+»Genossin Orbins Broschüre?!« wiederholte Ida Wiemer. »Von der wissen
+wir nichts!«
+
+»Ich habe doch darauf hin meine eigene Absicht, eine solche zu
+schreiben, aufgegeben!« rief ich aus, -- noch immer wollte ich nicht
+glauben, woran doch nicht mehr zu zweifeln war: sie hatte mich nur an
+der Arbeit hindern wollen! Martha Bartels lächelte ironisch. Ich hörte,
+wie sie ihrer Nachbarin zuflüsterte: »Sie will sich nur aufspielen, --
+uns glauben machen, daß sie auch mal was zu arbeiten die fromme Absicht
+hatte --,« und ich sah wie ihre Worte von Mund zu Mund gingen und die
+Mienen sich klärten.
+
+»Wenn Sie sich mit der Frage beschäftigt haben,« sagte sie dann laut und
+hochmütig, »so können Sie ja ein paar Referate übernehmen.«
+
+Ich war bereit dazu.
+
+»Vielleicht sprechen Sie auch bei uns?« fragte die Vorsitzende des
+Arbeiterinnenbildungsvereins; »es müßte freilich ein anderes Thema
+sein.«
+
+»Gern!« antwortete ich und war entschlossen, die Frage der
+Haushaltungsgenossenschaft bei der Gelegenheit zur Erörterung zu
+bringen.
+
+»Frauenarbeit und Hauswirtschaft« nannte ich meinen Vortrag, der schon
+eine Woche später stattfand. Der niedrige, enge Raum der Arminhallen war
+überfüllt, als ich eintrat. Eine Anzahl bürgerlicher Frauenrechtlerinnen
+suchten sich in den Winkeln des Saales zu verbergen. Sie hatten mein
+Auftreten bei Gelegenheit des internationalen Frauenkongresses nicht
+vergessen und zeigten nicht gern ihr Interesse für mich.
+
+Ich stellte in großen Zügen die Entwicklung der Frauenarbeit dar, von
+ihrer ersten Beschränkung auf das Haus bis zu ihrer heutigen Ausdehnung
+auf alle Berufe, und die parallel laufende Evolution der Hauswirtschaft
+von jenen Zeiten an, wo innerhalb ihres Kreises alle Bedürfnisse der
+Familie hergestellt wurden, bis zur Gegenwart, wo nichts von ihr übrig
+geblieben war als der Herd. Ich schilderte die Lage der erwerbstätigen
+Familienmütter, die physischen und seelischen Gefahren, denen ihre
+Kinder ausgesetzt sind, und ich erörterte die Zunahme der Berufsarbeit
+verheirateter Frauen nicht nur auf dem Gebiet der manuellen, sondern
+auch auf dem der geistigen Arbeit. »Die unausbleiblichen Folgen dieser
+Tatsachen liegen auf der Hand: entweder bricht der weibliche Körper
+unter der doppelten Arbeitslast des Hauses und des Berufs vorzeitig
+zusammen und der Geist büßt seine Leitungskraft ein, oder die
+Häuslichkeit wird vernachlässigt, und die junge Generation wird durch
+Mangel an Pflege und hygienisch einwandfreier Ernährung aufs äußerste
+geschädigt ... Die Gefahr ist zu groß, zu dringend, als daß wir uns mit
+dem Appell an die Hilfe des Staats genügen lassen dürften, wir müssen zu
+gleicher Zeit zur Selbsthilfe greifen.« Und nun entwarf ich
+meinen Plan. »Hungernde englische Weber waren die Schöpfer der
+Konsumgenossenschaften, deren Kauffahrteischiffe heute die Meere
+durchziehen; der Wohnungsnot armer Arbeiter entsprang die Idee
+der Baugenossenschaften, deren Häuser überall aus der Erde
+wachsen, -- sollte der Jammer der Frauen und der Kinder nicht die
+Haushaltungsgenossenschaft ins Leben rufen können?«
+
+Ich fühlte die wachsende Erregung, die sich der Zuhörerschaft
+bemächtigte. Es war das Zentrum der Interessensphäre der meisten, in das
+ich getroffen hatte. Aber auf den Sturm, der sich erhob, war ich doch
+nicht gefaßt gewesen. Alle jene Gründe, mit denen die Sozialdemokratie
+vor Jahrzehnten der Selbsthilfe der Gewerkschaften entgegengetreten war,
+mit denen sie heute noch vielfach den Genossenschaften entgegentritt, --
+als Ablenkungen vom Hauptziel, der Verwirklichung des Sozialismus, und
+vom allein wichtigen Kampf: dem politischen; als Versöhnungen des
+Proletariers mit dem Gegenwartsstaat, -- wurden mir wie ein Hagel von
+Pfeilen entgegengeschleudert. Es fehlte nicht an scharfen Seitenhieben
+auf meinen Revisionismus, der sich darin dokumentiere, daß ich innerhalb
+der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sozialistische Ideen
+verwirklichen wolle, wie die alten, überwundenen Utopisten.
+
+Nur wenige unterstützten mich. Die Frauenrechtlerinnen schwiegen.
+
+Bereits am nächsten Morgen ging mein Vortrag durch die Presse,
+entstellt, verspottet, beschimpft.
+
+»Der Zukunfts-Karnickelstall, wo sich das Familienleben auf das
+Schlafzimmer beschränkt«, hieß es in der konservativen Presse; von der
+»Kaserne als Idealzustand« sprach die liberale. Als die Spottlust
+befriedigt war, kamen die pathetischen Artikel, die angesichts der
+drohenden Zerstörung der Familie ihre Kassandrastimme erhoben. Und in
+den »Sprechsälen« und »Frauenecken« zeterten die guten Hausfrauen, deren
+einziges Zepter der Kochlöffel war. Hatte ich sie schon durch die
+Dienstbotenbewegung gegen mich aufgebracht, -- jetzt standen sie mir als
+ein Heer gerüsteter Feinde gegenüber. Der Kochherd war wirklich nicht
+nur der Inhalt, sondern die Grundlage ihres Familienlebens.
+
+»Die Männer werden überhaupt nicht mehr heiraten, wenn sie keine
+Hausfrau brauchen,« jammerte eine ehrliche Naive.
+
+Ich wartete vergebens auf die Unterstützung der Frauen, die mir ihre Not
+oft selbst geklagt hatten: der Schriftstellerinnen, Ärztinnen,
+Künstlerinnen.
+
+»Nur ein Jahr lang sollten unsere männlichen Kollegen Suppe kochen und
+Strümpfe stopfen,« hatte einmal eine von ihnen ausgerufen, »und wir
+würden an dem Fehlen großer Leistungen ihre geistige Minderwertigkeit
+beweisen können!«
+
+In den Blättern der Frauenbewegung fand mein Plan keinen Widerhall.
+Helma Kurz rief Ach und Wehe über mich, die ich »alle Frauen aus der
+trauten Häuslichkeit in die Kaserne« treiben wolle. Keine der
+Führerinnen der Frauenbewegung begriff, daß die Befreiung der
+erwerbstätigen Frau von der Sklaverei der Küche eine ihrer
+Programmforderungen sein müßte. Nur eine kleine Gruppe Menschen, die in
+der Öffentlichkeit unbekannt waren, schloß sich mir allmählich an, und
+ein paar Baumeister meldeten sich, die den Mut gehabt hätten, ein Haus
+nach meinem Plan aufzuführen, -- mit abgeschlossenen kleinen Wohnungen
+und Speiseaufzügen aus der Zentralküche. Wir waren überzeugt, nur ein
+lebendiges Beispiel würde genügt haben, um die Bewegung in Fluß zu
+bringen. Aber wir waren zu wenige, um das Bestehen des Hauses zu
+sichern, und mein Name, -- der der Sozialdemokratin, -- schreckte viele
+ab. Sie fürchteten den kommunistischen Zukunftsstaat im Kleinen.
+
+Inzwischen kam Wanda Orbin nach Berlin und bat mich, da sie krank sei,
+»in wichtiger Angelegenheit« um meinen Besuch. Sie reichte mir nur die
+Fingerspitzen, als ich eintrat.
+
+»Sie haben die Interessen der Partei auf das schwerste verletzt,« begann
+sie im Ton eines Inquisitors, »und da es nicht das erste Mal geschieht,
+so bin ich verpflichtet, Sie zu warnen.«
+
+Ich griff mir an die Stirn: was war es nur, was ich verbrochen hatte?!
+
+»Ihre Agitation für die Haushaltungsgenossenschaft --« ich lachte ihr
+ins Gesicht; sollte sie mit so strenger Miene scherzen?! Aber sie
+runzelte die Stirn, -- es war ihr Ernst, blutiger Ernst! -- »hat weitere
+Kreise gezogen, als gut ist. Dergleichen verwirrt die Köpfe, stört die
+Einheitlichkeit des Vorgehens --«
+
+Ich stand auf. »Möchten Sie mir wohl noch mitteilen, worin meine erste
+Verletzung der Parteiinternen bestand?« fragte ich ruhig.
+
+»Sollten Sie Ihren Plan eines Zentralausschusses für Frauenarbeit schon
+vergeben haben?« rief sie aus.
+
+»Und durch ihn habe ich die Partei geschädigt?! -- Sie sind ja jetzt
+schon im Begriff, teilweise auszuführen, was ich wollte --!«
+
+Wanda Orbins Augen funkelten mich zornig an: »Wenn Sie die Unterschiede
+nicht verstehen, so beweist das nur wieder Ihren Mangel an
+proletarischem Bewußtsein --;« dabei kreischte ihre Stimme wie auf der
+Rednertribüne.
+
+»Mag sein!« entgegnete ich scharf. »Mir fehlt das Demagogentalent, um
+mich zur Proletarierin aufzuspielen.« Damit wandte ich mich zum Gehen,
+auf das tiefste verwundet.
+
+Mein Vortrag erschien im Verlag des »Vorwärts« als Broschüre. Wanda
+Orbin »vernichtete« ihn in vier Leitartikeln, und ihre Autorität war
+viel zu gewichtig, als daß sich innerhalb der Partei irgendeine Stimme
+für ihn erhoben hätte. Wie die Schnecke, wenn ihre Fühlhörner unsanft
+berührt werden, sich in ihr Haus zurückzieht, so hatte ich das
+Bedürfnis, mich zu verkriechen.
+
+»Laß deine Ideen erst Wurzel fassen, Liebste,« tröstete mich mein Mann;
+»sind sie lebenskräftig, so fällt dir die Frucht von selbst in den
+Schoß.«
+
+Ich lächelte wehmütig über den Irrtum, in dem er sich befand. Was mich
+schmerzte, war nicht das momentane Scheitern eines Planes, sondern daß
+ich Wanda Orbin so klein gesehen hatte, die mir, auch mit ihren Fehlern,
+so groß erschienen war. Und daß sie die anderen beherrschte, zum Teil
+mit Mitteln, gegen die ich mich waffenlos fühlte!
+
+Nun galt es, statt alle Kräfte auf den Kampf für die gemeinsame Sache zu
+konzentrieren, sich für den eklen Streit im eigenen Lager stets
+gewappnet zu halten.
+
+Wenn ich mich abseits stellen, einer jener Eigenbrödler werden könnte,
+mit Scheuklappen vor den Augen, immer nur ein Teilchen des allgemeinen
+Zieles verfolgend?! Daß ich unfähig dafür war, bewies mir die Erfahrung
+mit meinem eigenen Plan. Hätte ich das Talent und die Zähigkeit des
+Organisators gehabt, ich würde ihn in jahrelanger steter Arbeit,
+unbekümmert um die Spötter, haben durchsetzen können. Und nun stand ich
+da und sah erschrocken auf meine Hände, die so leer geworden waren und
+so kraftlos.
+
+ * * * * *
+
+Die Sonne brannte auf dem Asphalt, braun und verdorrt hingen die Blätter
+an den armen Bäumen, zu ihren steingepanzerten Wurzeln drang keine Luft
+und kein Tau. Grauer Staub deckte die Büsche wie mit Trauerschleiern.
+Wer draußen im Wald den Sommer suchen ging, den empfingen die Kiefern
+schwarz und ernst und die blumenlosen Felder. O, daß ich empor auf einen
+Berg steigen könnte zu reiner Luft und klaren Quellen! Heimweh packte
+mich, -- Heimweh nach den schmalen Pfaden zwischen duftenden,
+buntblühenden Wiesen, nach dem stillen See im Buchenwald, wo zwischen
+Moos und Gestein Märchenblumen ihre Kelche öffnen. Heimweh nach der
+großen Einsamkeit!
+
+Ob nicht der Geist der Frauen verkümmert und ihr Gemüt verdorrt, weil
+sie nicht einsam sein dürfen?
+
+»Geh, -- erhole dich, -- ruh' dich aus, und wenn es nur ein paar Tage
+sind, -- es wird dir gut tun,« sagte mein Mann, dem meine
+Schlaflosigkeit, meine Blässe anfiel; »ich und die Berta hüten den
+Jungen.«
+
+Es bedurfte keiner Überredungskünste, meine Sehnsucht, allein zu sein,
+ganz allein, war zu groß. Ich fuhr nach dem Harz. Aber schon unterwegs
+packte mich die Unruhe: was konnte dem Kleinen inzwischen nicht alles
+geschehen! Tausend Fragen und Sorgen schreckten mich am Tage, ängstliche
+Träume verfolgten mich bei Nacht. Und die Berge hier, die mir fremd
+waren, blieben mir stumm, und die rauschenden Quellen sprachen eine
+fremde Sprache.
+
+Da erreichte mich ein Brief meiner Mutter aus Heidelberg. »Erdmann ist
+aufgegeben,« hieß es darin, »und Ilse hat Lungenentzündung, deren
+Ausgang unabsehbar ist. Sie spricht oft von Dir ...«
+
+Am selben Abend schrieb ich an meinen Mann: »Liebster! Ich halte es
+nicht aus ohne Dich, ohne Otto. Aber ehe ich zurückkehre, muß ich Ilse
+wiedersehen. Nach den Andeutungen meiner Mutter ist alles zu fürchten.
+Du hast mich ausgelacht, als ich Dir einmal sagte, daß ich mich ihr
+gegenüber schuldig fühle. Es kommt ja aber auch nicht darauf an, ob eine
+Schuld im Sinne landläufiger Moral besteht, sondern darauf, ob ich sie
+empfinde. Ich muß das gut machen, -- damit ich mich nicht quäle, wenn
+das arme Kind sterben sollte, und damit sie mir wieder vertraut, wenn
+sie lebt und meiner bedarf ...«
+
+Ich reiste am selben Abend noch ab. Meine Mutter empfing mich am
+Bahnhof.
+
+»Es geht zu Ende,« sagte sie auf meinen fragenden Blick. »Und Ilse?«
+»Sie fiebert noch immer! Meine Ahnung betrog mich nicht. Diese
+unglückselige Ehe!«
+
+Die letzten drei Worte stieß sie zwischen den Zähnen hervor. Es war kein
+zärtliches Mitleid, das sie empfand, sondern Empörung gegen das
+Geschick.
+
+»Das ist lieb, daß du kommst, gute Schwester,« rief mir Ilse entgegen,
+als ich an ihr Bett trat. Seit langem hörte ich wieder den alten warmen
+Ton in ihrer Stimme, und ihr Gesichtchen hob sich rund und rosig von den
+weißen Kissen ab, als wäre es wieder das des süßen kleinen Mädchens von
+einst. Wußte sie nicht, daß ein paar Türen weiter ihr Mann im Sterben
+lag? Der Arzt trat ins Zimmer mit den Tropfen und dem Fieberthermometer.
+Ich sah, wie ihre Augen jeder seiner Bewegungen folgten, wie sie ihn
+anlächelte, voll dankbaren Vertrauens. Und in der Sorgfalt, mit der er
+ihr die Kissen rückte und den Vorhang am Fenster weit zurückschlug,
+damit die Sonnenstrahlen ihre Haare umspielen konnten, lag tiefere
+Empfindung, als die des Arztes. Blühte dem armen Kinde eine Herbstrose
+auf dem Totenacker?
+
+»Du gehst zu ihm?« fragte sie und lehnte sich mit geschlossenen Augen
+müde zurück.
+
+»Ja,« antwortete ich leise. Das Lächeln aus ihrem Antlitz verschwand,
+die Lippen preßten sich zusammen.
+
+In Decken gehüllt, am weit offenen Fenster lag er. Die weißen Wände des
+Zimmers, die Betten, das weiße Geschirr, von blinkenden Metall
+unterbrochen, die weiße Schürze der Pflegerin strahlten über sein
+eingefallenes gelbes Gesicht eine grausame Helle aus. Er war so
+geistvoll, so lebendig wie je; das hätte täuschen können, wenn mein Auge
+nicht eben auf die Morphiumspritze in der Hand der Diakonissin gefallen
+wäre.
+
+»Sieh nur, wie wunderschön das ist!« sagte er und sein Blick umfaßte in
+leidenschaftlicher Liebe das bunte Herbstlaub der Bäume draußen. Er
+hatte den Schoß voll kleiner Skizzen und ließ den Pinsel nur aus der
+Hand, wenn die Schwäche ihn übermannte.
+
+»Hast du Ilse gesehen?« fragte er schließlich.
+
+Ich nickte.
+
+»Sie ist noch viel, viel schöner als die Berge und der Wald,« flüsterte
+er sehnsüchtig.
+
+Am nächsten Tage verließ ich Heidelberg wieder. Eine bleierne Müdigkeit
+bemächtigte sich meiner. Ich hätte immerfort schlafen mögen. Dabei fand
+ich lauter dringende Briefe vor: der Verleger wünschte eine raschere
+Erledigung der Korrekturen, der Verein für Haushaltungsgenossenschaften
+lud mich zur nächsten Sitzung, ein paar Parteigenossen erinnerten an die
+ihnen bereits zugesagten Vorträge.
+
+Eine mir selbst Fremde stand ich auf der Rednertribüne. Jene Glut der
+Leidenschaft, die allein fähig ist, den Eisenmantel zu schmelzen, den
+Kummer und Not um die Herzen der Ärmsten schmiedete, jene Klarheit der
+Überzeugung, die allein das Dunkel des Vorurteils und der Unwissenheit
+zu durchleuchten vermag, fehlten mir und ließen sich nicht erzwingen.
+
+»Ich bin unfähig, zu sprechen, -- erlassen Sie es mir diesmal,« bat ich
+einen der Genossen; »die Menschen kehren heim, ohne einen Gran Kraft und
+Klugheit gewonnen zu haben.«
+
+Aber er bestand auf seinem Schein: »Ihr Name zieht, und wir brauchen
+einen vollen Saal.«
+
+Eines Abends sollte ich bei den Textilarbeitern referieren. Als ich kam,
+war der Saal leer, und der Wirt erzählte mir, daß die Versammlung schon
+vor zwei Tagen stattgefunden und man mich vergebens erwartet habe. Ich
+zog die Einladungskarte aus der Tasche: nur das Datum war angegeben,
+nicht der Tag, und dieses stimmte. Der Vertrauensmann der Gewerkschaft,
+zu dem ich ging, mußte mir bestätigen, daß der Irrtum nicht auf meiner
+Seite lag. Wenige Tage später hörte ich, eine der Genossinnen habe
+behauptet, ich hätte das Datum gefälscht, um mich der Aufgabe zu
+entziehen, und habe hinzugefügt, sowas sei bei mir schon öfter
+vorgekommen. Auf das äußerste empört, verlangte ich eine Untersuchung
+der Angelegenheit. Ein Schiedsgericht trat zusammen. In endlosen
+Sitzungen wurden Zeugen vernommen, die Einladungskarte geprüft,
+verglichen. Ich ballte die Fäuste unter dem Tisch vor Erregung und
+konnte mich doch dem Eindruck nicht entziehen, den die ruhige
+Gründlichkeit all dieser Arbeiter auf mich machte. An Ernst und
+Objektivität, an Takt und Würde standen sie turmhoch über ihren
+weiblichen Klassengenossen, mit denen ich bisher zusammengekommen war.
+Eine formelle Ehrenerklärung, die mir schriftlich zuging, war das
+Resultat der Verhandlungen. Aber die Empfindung, besudelt zu sein, wurde
+ich lange Zeit nicht los.
+
+Ich vertiefte mich in die Korrekturen meiner »Frauenfrage«. Und die
+Genugtuung über meine Arbeit wirkte wie ein stärkendes und reinigendes
+Bad.
+
+Mitten in der Arbeit an den letzten Druckbogen besuchte mich die
+weibliche Vertrauensperson meines Wahlkreises. Für eine große
+Volksversammlung, die in den allernächsten Tagen stattfinden und sich
+mit den von der Regierung angekündigten Zollerhöhungen beschäftigen
+sollte, hatte man mir den Vortrag zugedacht. Ich lehnte ab. Meine
+Besucherin wurde immer dringender.
+
+»Sie müssen kommen,« erklärte sie schließlich.
+
+»Ich muß?! Warum?!« fragte ich verwundert.
+
+»Wir haben Ihren Namen schon auf die Plakate gedruckt!«
+
+»Das ist Ihre Schuld, -- nicht die meine,« entgegnete ich; »selbst wenn
+ich Zeit hätte, mich binnen zwei Tagen auf ein schwieriges Thema, wie
+den drohenden Zolltarif, vorzubereiten, würde ich bei meiner Ablehnung
+bleiben und Sie die Folgen eines so unverantwortlichen Vorgehens tragen
+lassen.«
+
+Sie warf mir noch einen rachsüchtigen Blick zu und ging.
+
+ * * * * *
+
+Mein Buch erschien. Die Aufnahme, die ihm zuteil wurde, entschädigte
+mich für viele Schmerzen und gab mir das Vertrauen in die eigene Kraft
+zurück.
+
+»Sie haben mehr geleistet, als ich erwartet hatte, und das will viel
+sagen,« schrieb mir Romberg. »Ihr Werk ist eine wissenschaftliche
+Leistung, dem keine Kritik und keine Zeit den Charakter eines standard
+work nehmen wird, und -- was für mich seinen größten Wert ausmacht --
+der Ausdruck einer starken Persönlichkeit. Die objektive Wissenschaft
+ist zweifellos etwas sehr Großes, aber der Mensch bleibt immer das
+Allergrößte ...«
+
+Nur zwei Zeitschriften rissen meine Arbeit herunter: die Monatsblätter
+von Helma Kurz und -- die »Freiheit« von Wanda Orbin.
+
+»Alix Brandts Buch ist jeder Mütterlichkeit und jeder
+Wissenschaftlichkeit bar,« hieß es in dem einen Blatt; »die Genossin
+Brandt hätte in der Kleinarbeit der Agitation erst lernen und sich
+bewähren müssen, ehe sie etwas für die Arbeiterinnenbewegung wirklich
+Nützliches hätte schaffen können,« lautete das Endurteil in dem
+anderen.
+
+Ich lachte zuerst und dachte daran, wie ich von einer meiner
+bürgerlichen Gegnerinnen einmal pathetisch als ein »Tribünenweib«
+bezeichnet worden war, »deren Lenden nie ein Kind getragen haben«, und
+eine Genossin mir als schwere Unterlassungssünde die Tatsache
+vorgehalten hatte, daß ich eine wichtige Parteipflicht -- die,
+Flugblätter auszutragen -- noch nicht erfüllt hätte.
+
+Aber dann verging mir das Lachen. Mein ganzes Ich lag in dem Buch, all
+mein Wissen, mein Glauben, mein Hoffen. »Meinem Mann und meinem Sohn«
+stand als Widmung vor dem Titel. Das war keine bloße Form, es war ein
+Bekenntnis: ich hätte es nicht schreiben können ohne das Doppelerlebnis
+der Liebe und der Mutterschaft, das aus dem Kinde erst den Menschen
+macht, das Schleier von den Augen reißt und eiserne Klammern von den
+Herzen. Es sind Männer gewesen, die die Madonna zur Mutter Gottes
+erhoben, denn nur der lebendig befruchtete Schoß vermag Lebendiges zu
+gebären. Und arme Irre waren es, die die Jungfrauschaft mit dem
+Heiligenschein krönten. Denn die Voranleuchtenden sind nur, die des
+Lebens Tiefen erschöpften.
+
+An die Mütterlichkeit hatte ich appelliert mit jedem Satz, den ich
+niederschrieb. Aus einem primitiven Empfinden, das über die Wiege des
+eigenen Kindes kaum hinausging, sollte sie zu weltumspannender Kraft
+sich entfalten. All die Tausende und Abertausende Hilfloser und
+Entrechteter hatte ich aufgeboten, daß sie die Mütter suchen sollten.
+Einst pochte ihr Murmelgebet: »Heilige Maria, bitte für uns!« umsonst an
+das Tor des Himmels, -- sollte ihre stumme Not auf der Erde keine
+Antwort finden?
+
+Waffen hatte ich geschmiedet für die Proletarierinnen, Waffen, -- ich
+wußte es, -- die unzerbrechlich waren. Ich erwartete keinen Dank dafür,
+denn daß ich sie schaffen konnte, war Dank genug. Nur nehmen, nur
+gebrauchen sollten sie meine Klingen und Pfeile.
+
+»Warte die Zeit ab,« sagte mein Mann. Aber ich fieberte nach Tat, nach
+Wirken, -- ich konnte nicht warten.
+
+ * * * * *
+
+Dem Arbeiterinnen-Bildungsverein und einzelnen der führenden Genossinnen
+hatte ich mein Buch zur Verfügung gestellt. Eines Morgens bekam ich
+einen Brief von Martha Bartels. Schon freute ich mich, -- ich werde sie
+wiedergewonnen haben, dachte ich, und erinnerte mich, wie sie mir, der
+Fremden, einst entgegengekommen war, als ich noch Alix von Glyzcinski
+hieß.
+
+Ich ließ ihren Brief in den Schoß fallen, als ich seine wenigen Zeilen
+durchflogen hatte, und lehnte mich mit einem Gefühl von Schwindel in den
+Stuhl zurück.
+
+»Nachdem Ihre Unzuverlässigkeit in der Ausführung übernommener
+Parteipflichten wieder offenbar wurde,« schrieb sie, »haben die
+Genossinnen einstimmig beschlossen, Sie zu unseren Sitzungen nicht mehr
+einzuladen.«
+
+Ein formeller Ausschluß also, -- ohne Gründe anzugeben, -- ohne mich zu
+hören! Und das in einer Partei, die die Ideale der Demokratie vertritt!
+Ich verlangte, mir zu gewähren, was die Gesetzgeber des kapitalistischen
+Staates den Mördern und Dieben zugestehen: mich vor meinen Richtern
+verteidigen zu können. Man antwortete mir nicht. Ich erfuhr schließlich,
+daß jene Genossin, die mich vergebens zu einem Vortrag hatte pressen
+wollen, die Sache so dargestellt hatte, als ob ich mein gegebenes Wort
+gebrochen hätte. Und ich hörte weiter, daß meine »Fälschung« jener
+Einladungskarte zum Referat bei den Textilarbeitern noch immer in aller
+Munde sei. Ich sandte die Ehrenerklärung der Gewerkschaft ein, ich zwang
+die Lügnerin, ihre Behauptung zu widerrufen. Es nützte nichts.
+
+»Wir erkennen an, daß in diesen beiden Fällen ein Irrtum vorlag,«
+schrieb Martha Bartels, »aber es stehen noch so viele andere fest, wo
+Sie sich als unzuverlässig erwiesen haben, daß die Genossinnen an ihrem
+einstimmigen Beschluß, Ihre Mitarbeit abzulehnen, festhalten.«
+
+Ich ging zum Parteivorstand, um die Einsetzung eines Schiedsgerichts zu
+fordern. »Liebe Genossin,« sagte Auer, mir gutmütig die breite Hand auf
+die Schulter legend, »tun Sie das nicht! Lehren Sie mich unsere Weiber
+kennen! Jedes Schiedsgericht wird Ihnen recht geben, -- natürlich! Aber,
+glauben Sie, daß damit geholfen ist?! Schon am nächsten Tag werden die
+Klatschmäuler, denen Sie nun einmal ein Dorn im Auge sind, neue, noch
+schlimmere Sünden über Sie zu verbreiten wissen, und das modernisierte
+Gerichtsverfahren der heiligen Fehme wird alle demokratischen
+Schiedssprüche umstoßen. Überlassen Sie der Wanda die Weiber! Für Ihren
+Tätigkeitsdrang ist in der Partei noch Raum genug.«
+
+Ich fügte mich seiner Ansicht. Ob aus Einsicht, aus Müdigkeit, aus
+Ekel? Ich weiß es nicht mehr. Auers Hand umspannte die meine schmerzhaft
+fest.
+
+»Wollen Sie von mir alten Kerl noch einen Rat auf den Weg nehmen?«
+fragte er. »Wer auf hoher Warte steht, dem sollten die leid tun, die
+sich von unten im Schweiße ihres Angesichts abmühen, mit Steinen zu
+werfen. Er sollte immer über sie hinwegsehen. Dann hören sie von selber
+auf und besinnen sich, daß ein Weg da ist, auf dem auch sie
+aufwärtssteigen könnten ... Wer die Distanz nicht wahren kann, ist kein
+Politiker.«
+
+»Die Distanz, -- das bedeutet Fernsein, Kühle,« antwortete ich mit einem
+leisen Seufzer, »-- ich liebe die Menschen; ich möchte von ihnen geliebt
+sein.«
+
+»Sie lieben die Menschen, -- diese Menschen?! Sie scherzen!« Er reckte
+sich zu seiner ganzen Größe. »Wir würden sie erhalten, wenn wir sie
+lieben würden. Aber wir wollen sie überwinden -- mit dem gewaltigen
+Erziehungsmittel einer neuen Gesellschaftsordnung --, also hassen wir
+sie.«
+
+Ich schüttelte den Kopf. War das eine hohe Warte? Würde ich sie je
+erreichen, -- erreichen wollen?!
+
+
+
+
+Zwölftes Kapitel
+
+
+Probleme werden nicht durch Resolutionen aus der Welt geschafft. Auch
+der beste Wille der Streitenden, -- und es gab Augenblicke, wo selbst
+Eduard Bernstein die Schwäche dieses »guten Willens« hatte und
+Hervorragende unter seinen Anhängern den »Revisionismus« als eine neue
+Richtung innerhalb der Partei abschworen, -- vermag das Streitobjekt
+nicht aus der Welt zu schaffen. Einmal ausgesprochene Gedanken lösen
+sich gleichsam von dem, der sie dachte, ab und haben ein selbständiges
+Leben.
+
+Die Beschlüsse des Parteitags von Hannover hatten nichts zur Folge, als
+einen Waffenstillstand. Bernsteins Rede im sozialwissenschaftlichen
+Studentenverein eröffnete den Kampf von neuem. In Artikeln, Reden und
+Broschüren wurde er mit steigender Erbitterung geführt. Und die
+aufreizenden Zurufe der Zuschauer, die vom nächsten Tage die Spaltung
+der Sozialdemokratie erwarteten und erhofften, erhitzte die Kämpfenden
+noch mehr. Die wachsende Leidenschaft tötete jede Objektivität. Keiner
+gestand dem anderen die Ehrlichkeit der Gesinnung zu. Hinter jeder
+Äußerung eines Revisionisten entdeckte der orthodoxe Marxist
+Parteiverrat, in jeder Verteidigung des radikalen Standpunktes sah der
+Revisionist dogmatische Verbohrtheit und bewußtes Demagogentum. Er
+überhörte geflissentlich die Lehren der Psychologie und der Geschichte,
+aus denen er hätte folgern können, daß die Verteidigung der Tradition,
+der grundlegenden Dogmen des Sozialismus notwendig zu demselben Haß,
+derselben Verfolgung der Angreifer führen muß, wie einst die des
+Heidentums gegen die Christen, der römischen Kirche gegen die
+Reformation.
+
+Aber ein noch merkwürdigeres Zeichen dafür, wie wenig bloße Erkenntnisse
+des Verstandes die ursprüngliche, nur auf die Einflüsse des Gefühls
+reagierende Natur des Menschen zu ändern vermögen, war die Haltung der
+Radikalen. Sie verleugneten in ihrem Zorn eine der Grundlagen ihrer
+eigenen Anschauung: die materialistische Geschichtsauffassung. Es war
+die befreiendste Lehre, die Marx hinterließ, zu der sich allmählich,
+bewußt oder unbewußt, auch Nichtsozialisten bekannten: daß, da »alles
+fließt«, auch die Theorien sich entwickeln müssen, entsprechend den
+Wandlungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. In diesem Sinne war
+der Revisionismus marxistisch und der Radikalismus reaktionär.
+
+Die ernsten Kämpfe zwischen den beiden Richtungen spielten sich zwischen
+den geistigen Führern ab, von denen die einen die Masse der
+Arbeiterschaft hinter sich hatten, die anderen noch Offiziere waren ohne
+Armee. In dem harten Schädel der Proletarier saß jeder Buchstabe des
+sozialistischen Apostolikums noch fest; wurde der Kampf daher in die
+Volksversammlungen getragen, so äußerte er sich in wüstem Geschimpfe
+gegen die Neuerer, die dem Armen das Beste zu erschüttern drohten, was
+ihnen der Sozialismus gegeben hatte: ihren Glauben. Es kam aber noch ein
+anderes hinzu: der Respekt vor der Wissenschaft, zu dem der Sozialismus
+sie verpflichtete, ging Hand in Hand mit einem glühenden Verlangen nach
+Wissen. Bildungsschulen, wissenschaftliche Vorträge und Kurse kamen
+diesem Verlangen entgegen und pfropften auf den lebensschwachen Baum der
+Volksschule ein Reis, unter dessen Früchten Dilettantismus und
+Bildungsdünkel am besten gediehen. Wozu ernste Denker Jahrzehnte
+brauchen, das glaubte der Proletarier in ein paar Abendstunden erreichen
+zu können. Daß er es glaubte, war nicht seine Schuld: die Naivität
+seiner Jugend unterstützte die Partei, die ihm in Wort und Schrift
+nichts mehr einprägte als die Überzeugung von der Dummheit seiner
+Gegner. Als Gegner aber erschienen ihm auch die Revisionisten. Zu seinem
+gefühlsmäßigen Haß gegen die Unruhstifter trat die hochmütige Verachtung
+der Akademiker hinzu.
+
+ * * * * *
+
+Einmal, -- ich war gerade von einer Agitationsreise zurückgekehrt, --
+beklagte ich mich darüber, als Reinhard gerade bei uns war.
+
+»Ich habe Sie sonst für so verständig gehalten,« sagte er; »daß Sie nun
+auch so nervös, so empfindlich geworden sind! -- Ich kann Ihnen
+versichern: mir selbst kommt der Krakehl zum Halse heraus! Er macht
+unsere Leute kopfscheu; von jedem Gegner wird er uns aufs Butterbrot
+geschmiert. Außerdem haben wir doch jetzt, ein Jahr vor den
+Reichstagswahlen und angesichts der Zolltarif-Vorlage Besseres zu tun,
+als uns über die Verelendungstheorie die Köpfe blutig zu schlagen.«
+
+»Sind wir etwa daran schuld?!« fuhr Heinrich auf. »Oder nicht viel mehr
+die Großinquisitoren der 'Neuen Zeit', die seit Jahr und Tag ihre
+Spürhunde auf uns hetzen?! Die jungen Leute, die noch nichts geleistet
+haben, als ihnen nachzubeten, gestatten, gegen alte verdiente Genossen,
+-- einen Jaurès, einen Auer, einen Vollmar, -- wie gegen Schwachköpfe
+oder Verräter vom Leder zu ziehen?!«
+
+»Die Propheten aus dem Osten nicht zu vergessen, die desgleichen
+tun --,« unterbrach ihn Reinhard mit einem sarkastischen Lächeln.
+
+»Die gehören in dieselbe Kategorie, nur daß ihre, -- na, sagen wir
+parlamentarisch: Unbescheidenheit noch größer ist. Vom Kothurn ihrer
+Unentwegtheit herab führen sie das große Wort, und ihr Ziel ist
+offensichtlich der Bannfluch, d. h. der Ausschluß aller derer aus der
+Partei, die eine selbständige Meinung haben.«
+
+»Wenn man Sie so schimpfen hört, lieber Brandt, könnte man die
+Schicksalsfügung segnen, die Sie bisher verhinderte, Ihre Zeitschrift
+ins Leben zu rufen,« sagte Reinhard. »Wenn Sie all Ihre Wut noch in
+Druckerschwärze verwandeln würden!!«
+
+»Sie irren sehr, wenn Sie glauben, ich werde mein Blatt zum Kampfplatz
+für Theoretiker machen,« entgegnete Heinrich ruhig. »Mir würde es in
+erster Linie darauf ankommen, praktische Politik zu treiben. Daß das auf
+allen Gebieten des öffentlichen Lebens notwendig ist, daß es endlich an
+der Zeit wird, den ruhenden Koloß der Partei in Bewegung zu setzen und
+Tagesarbeit verrichten zu lassen, -- das scheint mir das wichtigste
+Ergebnis der gegenwärtigen Bewegung.«
+
+Reinhard stand auf, stampfte ärgerlich mit der Krücke auf den Boden und
+sagte: »Als ob das alles eine blitzblanke neue Erfindung wäre! Was war
+es denn, was wir lange vor Bernstein in den Parlamenten, in den
+Kommunen, in den Gewerkschaften und Genossenschaften getrieben haben?!
+Der ganze Unterschied zwischen den Revisionisten und den Radikalen ist,
+daß die einen in der Arbeiterschutzgesetzgebung, in der Gewerkschafts-
+und Genossenschaftsbewegung, in der allmählichen Demokratisierung des
+Staats nichts als Erziehungsmittel für das Proletariat erblicken, und
+die anderen Sozialisierungen der Gesellschaft, Voraussetzungen des
+Sozialismus. Dem Arbeiter aber ist's wirklich einerlei, wie die Dinge
+heißen, die er bekommt, wenn er sie nur überhaupt kriegen kann. Und
+darum --« er ging erregt im Zimmer auf und nieder -- »begreife ich die
+ganzen Skandale nicht und fühle es meinen Genossen nach, wenn sie euch
+Akademiker mißtrauisch betrachten. Wir sind ja auf dem besten Wege, --
+was werft ihr Steine in unseren Teich?! Sehen Sie sich z. B. mal die
+Tagesordnung unseres Stuttgarter Gewerkschaftskongresses an! Sie waren
+ja dabei, als man sich wütend an die Gurgeln fuhr, weil der eine die
+sozialpolitische Tätigkeit der Gewerkschaften forderte, der andere sie
+für schädlich hielt. Und ich selbst, -- Sie besinnen sich! -- war der
+radikalsten einer. An meiner eigenen Entwicklung mögen Sie die
+Entwicklung der ganzen Bewegung messen. In aller Stille ist viel Wasser
+die Spree hinuntergelaufen, und jetzt sind wir mitten drin in der
+Sozialpolitik. Oder betrachten Sie unsere Haltung in der inneren
+Politik: denken Sie an die Budgetbewilligung der Badener im vorigen
+Jahr, -- Bebel hat sie freilich hinterher heruntergeputzt, -- oder an
+die Zustimmung unserer bayrischen Landtagsfraktion zur Wahlreform, --
+Bebel wird sie natürlich darum auch noch unter die Lupe des Prinzips
+nehmen --. Und, vor allem!, erinnern Sie sich, wie selbst die ärgsten
+berliner Revolutionäre mit dem dreifachen R jetzt stramm und einig zur
+Landtagswahl aufmarschieren. Von dem Augenblick an, wo der
+Parlamentarismus den Charakter des Kräutchens Rührmichnichtan für uns
+verloren hatte, sind wir folgerichtig weitergegangen.«
+
+Ich hatte ihm mit wachsendem Interesse zugehört. »Und was wollen Sie mit
+alledem beweisen?« fragte ich.
+
+»Daß der ganze Stank und Zank überflüssig ist. -- Sowohl vom Standpunkt
+eurer Angst um Versumpfung und Verknöcherung der Partei, wie vom
+Standpunkt all der radikalen Kassandras männlichen und weiblichen
+Geschlechts, die um unser sozialistisches Seelenheil zittern.
+Wahrhaftig: wenn wir mit der Bourgeoisie paktieren, so doch nur, um für
+uns das Schäfchen ins Trockne zu bringen!«
+
+»Ich folgere aus Ihren Beweisführungen etwas ganz anderes,« rief ich
+aus. »Da die Praxis wieder einmal der Theorie vorausgeeilt ist, so muß
+die Theorie sich ihr anpassen, sonst kommt der Moment, wo das Band
+zwischen beiden zerreißt. Die Lehre von der planmäßigen Demokratisierung
+und Sozialisierung der kapitalistischen Gesellschaft muß an Stelle des
+Dogmas von der alleinseligmachenden Revolution treten --«
+
+»Aber das ist doch genau dasselbe!« polterte Reinhard. »Selbst der
+dümmste Radikale denkt doch nicht im Schlaf daran, daß er die Hände nur
+in den Schoß zu legen und auf die gebratene Taube der politischen Macht
+zu warten braucht, die ihm ins Maul fliegen wird! Jeder Rekrut in
+unserer Armee sieht alle Tage, wie sie sich jede Handbreit politischer
+Macht schrittweise erobern muß. Ebenso wächst ihr Einfluß nur nach und
+nach, und das berühmte Endziel kann nichts anderes sein als die letzte
+Krönung des Gebäudes.«
+
+Mein Mann lächelte: »Ich sage ja: Sie sind Revisionist.«
+
+»Zum Donnerwetter, nein! -- Ich bin Sozialdemokrat!« -- Reinhards Augen
+glänzten -- »Und ihr seid Rabulisten.«
+
+Beim Abschied nahm sein Gesicht wieder den alten, gutmütig-freundlichen
+Ausdruck an.
+
+»Nichts für ungut, Genossen!« brummte er mit einem leichten Anflug von
+Verlegenheit; dann reichte er meinem Mann die Hand. »Sie können auf mich
+rechnen. Wenn Ihr Blatt praktische Politik treiben wird, -- in bewußtem
+Gegensatz zu unseren Zeitschriften von rechts und links, die sich um des
+Kaisers Bart raufen, -- so wird es befreiend wirken und seines Erfolges
+bei unseren Genossen sicher sein.«
+
+Als er gegangen war, reichte mir mein Mann einen Brief von Romberg.
+
+»... Ihre Pläne sind mir immer wieder durch den Kopf gegangen,« schrieb
+er, »und der Gedanke, das 'Archiv' selbst zu erwerben, ließ mich nicht
+los. Trotzdem bin ich zu dem Entschluß gelangt, meine persönlichen
+Wünsche nicht nur zu unterdrücken, sondern Ihnen überdies den dringenden
+Rat zu geben, die Verkaufsidee überhaupt fallen zu lassen. Sie wissen
+selbst, daß das neue Unternehmen, dem Sie Ihren Brotgeber, das Archiv,
+opfern wollen, in bezug auf seinen materiellen Erfolg ein ganz
+unsicheres ist. Stünden Sie allein, so könnten Sie meinetwegen den
+Husarenritt unternehmen, aber Sie haben Familie, -- verübeln Sie es
+meiner aufrichtigen Freundschaft nicht, wenn mich die Sorge um sie in
+diesem Zusammenhang von ihr sprechen läßt. Ich weiß: Frau Alix zieht in
+diesem Augenblick zürnend die Brauen zusammen; sie ist ja noch
+fanatischer, noch leichtsinniger wie Sie. Seien Sie darum doppelt klug
+für beide und erhalten Sie sich das Archiv. Es kann einmal die Rolle der
+Planke spielen, die Sie vor dem Ertrinken rettet ...«
+
+Ich warf den Brief heftig auf den Tisch. »Daß Romberg solch bourgeoise
+Anschauungen hat!« rief ich aus. »Als ob wir beide nicht im Notfall
+schwimmen könnten!« Heinrich zog mich zärtlich in die Arme.
+
+»Daß du so denkst, weiß ich,« sagte er, »trotzdem werde ich handeln wie
+ein Bourgeois!« Ich wollte auffahren. »So höre doch erst zu, ehe du
+schimpfst!« meinte er lächelnd. »Besinnst du dich auf Lindner, den
+jungen Dichter, den wir auf dem Pariser Kongreß getroffen haben?« Ich
+nickte. »Er tauchte vor kurzem hier auf und besuchte mich, während du
+weg warst: ein sympathischer Mensch, dessen Schüchternheit alle seine
+guten Absichten im Keime erstickt. Er möchte in der Partei wirken; aber
+auf der einen Seite fürchtet er als Akademiker das Mißtrauen der
+Genossen, auf der an deren Seite stößt ihn die Pöbelgesinnung zurück,
+die ihm vielfach schon begegnete. Er schüttete mir sein Herz aus; dabei
+erfuhr ich, daß er der einzige Sohn reicher Leute ist. Ich sprach ihm
+von unserem Plan, er war sofort Feuer und Flamme dafür.«
+
+»Und gibt die Mittel?!« unterbrach ich Heinrich erregt.
+
+»Wenn die Eltern, von denen er noch abhängig ist, sie ihm
+bewilligen ...«
+
+Endlich dem Ziele nah! war der einzige Gedanke, der mich beherrschte;
+winzig erschienen ihm gegenüber die noch vorhandenen Hindernisse.
+
+Einige Tage später kam Lindner zu uns: ein lang aufgeschossener blonder
+Mensch, mit kurzsichtig zwinkernden blaßblauen Äuglein und schlaffen,
+feuchten Händen. Er gefiel mir nicht. Aber ich unterdrückte rasch diese
+erste instinktmäßige Empfindung.
+
+»Ich möchte den Arbeitern die Kunst nahe bringen,« sagte er im Verlauf
+unseres schwerfällig sich hinschleppenden Gesprächs.
+
+»Die Freien Volksbühnen erfüllen, wie mir scheint, Ihren Wunsch. Sie
+haben Tausende von Mitgliedern aus Arbeiterkreisen und leisten
+Vorzügliches,« antwortete ich.
+
+»So meinte ich es nicht, nein --,« und die Stimme unseres Gastes, die
+noch den Timbre der Knabenstimme hatte, obwohl er längst über die
+Entwicklungsjahre hinaus war, wurde lebhafter; »ich dachte, es müßte
+möglich sein, das Künstlertum im Proletariat zu erwecken, eine neue
+Kunst -- die Kunst der Zukunft -- entstehen zu lassen. Ich würde das als
+meine Aufgabe ansehen.«
+
+Ich musterte ihn genauer: er war gar nicht dumm, er hatte sogar einen
+originellen Zug.
+
+»Ich glaube nicht recht daran,« sagte ich dann langsam. »Daß die Talente
+sich durchsetzen, gehört zu den Fabeln der Menschheit. Der harte Kampf
+ums Dasein erstickt die meisten ihrer Keime. Und die davon doch zur
+Blüte gelangen, verkümmern schließlich im Dilettantismus. Vielleicht
+würden die von Ihnen erhofften Talente statt freier Künstler Hörige des
+Proletariats, wie die Talente, auf die wir vor zehn Jahren hofften,
+Hörige des Kapitalismus geworden sind..«
+
+Mein Junge kam herein und erfüllte das Zimmer im Augenblick mit seiner
+strahlenden Frische. Wie eine Pflanze, die im Dunkel gestanden hat mit
+blassen saftlosen Trieben, wirkte Lindner jetzt auf mich. Er tat mir
+leid, und ich wurde darum weicher. Er erzählte von seinen Eltern. Sie
+hatten große Hoffnungen auf ihn gesetzt, und daß er sie immer wieder
+enttäuschte, machte ihn selbst mutlos. Aber jetzt, -- jetzt würde er um
+seine Überzeugung, -- um seine Zukunft mit ihnen kämpfen!
+
+Er gewann Vertrauen zu mir. Und wenn er meine instinktive Abneigung
+immer wieder hervorrief, so überwand das Mitleid mit dieser armen
+Greisenseele eines Jünglings sie eben so oft. Seine Besuche waren oft
+recht unbequem. Wie die meisten Menschen, für die die Arbeit nur eine
+Nebenbeschäftigung ist, hatte er keinen Respekt vor der Zeit. Er fühlte
+nicht, daß er störte, und wenn man es ihm andeutete, so war er gekränkt.
+Nur wenn er mit Ottochen spielen konnte, merkte er nicht, daß ich ihn
+hatte los werden wollen. Er liebte die kleinen Kinder und ließ sich von
+meinem fünfjährigen Wildfang mit einer Gutmütigkeit tyrannisieren, die
+rührend war. Oft hörte ich durch die Türe die hellen Kommandotöne meines
+Jungen.
+
+Mein Bub'! Daß ich nur heimlich, wie aus dem Hinterhalt, sein Geplauder
+belauschen durfte! Daß ich mir die Stunden für ihn stehlen mußte! Ich
+war abermals einem falschen feministischen Lehrsatz auf der Spur. Nicht
+der Säugling bedarf der Mutter am meisten. All die vielen, mechanischen
+Dienste, die der kleine Körper fordert, versteht eine geschulte
+Pflegerin besser als sie. Erst der erwachende Geist braucht die Augen
+der Mutter, die jede seiner Regungen sieht, und ihre Sorgfalt, die
+allein weiß, welche seiner vielen Triebe beschnitten, welche gestützt,
+welche der Sonne und dem Wetter ausgesetzt werden können. Und Millionen
+Frauen dürfen es nicht! Nie erschien mir unsere Gesellschaftsordnung
+widersinniger: sie zwingt den Staat, Gefängnisse zu bauen für die
+Verbrecher und Fürsorgeerziehungsanstalten für die verwahrloste Jugend,
+der sie die Mütter genommen hat.
+
+Sollten wir wirklich darauf warten müssen, bis sich in hundert und
+aberhundert Jahren der Prozeß der Sozialisierung der Gesellschaft
+abgespielt hat? War unsere wirtschaftliche und technische Entwicklung
+nicht heute schon so weit vorgeschritten, um durch eine sozialistische
+Organisation in Verbindung mit der allgemeinen Arbeitspflicht, die
+Herabsetzung der Arbeitszeit auf das geringste Tagesmaß zu ermöglichen
+und den Kindern nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater
+zurückzugeben? In dem leidenschaftlichen Zorn, der mich gegen die Hüter
+der bestehenden Ordnung erfüllte, konnte ich nicht anders, als sie für
+Heuchler oder für Dummköpfe zu erklären. Die Frauen galt es, wider sie
+zu empören! Mutterliebe ist das stärkste Gefühl in der Welt, stärker als
+die Leidenschaft der Geschlechter, stärker als der Hunger. Einmal von
+den Fesseln befreit, in die die Tradition sie zwängte, muß sie zum Motor
+werden, der die Gesellschaft aus den Angeln hebt.
+
+Ich wandte mich in meinen Reden immer mehr an die Frauen. Ich peitschte
+ihre Empfindung auf; ich erklärte sie für die Schuldigen, wenn ihre
+Kinder hungerten an Leib und Geist, wenn sie verkamen, wenn die Maschine
+ihre Jugend zerfraß, wenn sie im Zuchthaus endeten. Der Zolltarif mit
+seiner Verteuerung aller Lebensmittel, der zu gleicher Zeit die
+Reichstagsdebatten beherrschte, die Fleischteuerung, die eine Folge der
+Schließung der Grenzen war, -- kurz, die ganze agrarische Reichspolitik,
+in die die Regierung eingeschwenkt war, boten mir die Handhabe, um an
+die nächsten Interessen der Frauen anzuknüpfen, an jene Frage, die je
+nach der Bedeutung, die sie für die Glieder des Volkes hat, ein
+Gradmesser der Menscheitskultur sein kann: wie sättige ich meine Kinder?
+
+Von einer meiner Versammlungen war ich fast stimmlos zurückgekehrt.
+
+»Sie dürfen weder in Rauch noch in Staub sprechen,« sagte der Arzt wie
+schon einmal vor Jahren.
+
+Ich lachte ihm ins Gesicht, ließ mir den Hals ein paarmal einpinseln und
+fuhr nach Schlesien. Mit äußerster Anstrengung gelang es mir, noch zwei
+Reden zu halten. Dann versagte die Stimme ganz.
+
+Jetzt erklärte der Arzt, daß ich sobald als möglich fort müsse: »In
+gute reine Luft, am besten ins Gebirge.« Ich schüttelte den Kopf. Wie
+konnte ich an eine Sommerreise denken?!
+
+»Die Gesundheit geht allem anderen voraus,« sagte mein Mann, »heute noch
+kannst du packen und morgen in den Alpen sein.«
+
+Die Frage, ob solch eine Reise möglich wäre, schien ihn keinen
+Augenblick zu beunruhigen.
+
+»Ich kann den Kleinen nicht wochenlang allein lassen --,« wandte ich
+ein.
+
+»Natürlich: Ottochen nimmst du mit,« antwortete Heinrich ohne Besinnen,
+»auch diesem Stadtpflänzchen wird das Landleben gut tun.«
+
+ * * * * *
+
+Um jene Zeit war mein Schwager Erdmann gestorben. Meine Mutter kam mit
+Ilse nach Berlin zurück. Ich erschrak, als ich sie sah. Jetzt erst war
+sie wirklich alt geworden, unauslöschlich hatten sich die Falten der
+Verbitterung um ihre Mundwinkel eingegraben. Zwischen ihre fest
+aufeinandergepreßten Lippen kam kein Laut der Klage. Aber wenn Ilse
+neben ihr stand in all ihrer strahlenden Jugend, mit den Augen, die
+sehnsüchtig die Sonne suchten nach all dem monatelangen Leid, dann
+fühlte ich die ganze Qual dieses Zusammenlebens.
+
+Sie kamen häufig allein zu mir, und ich mußte immer wieder zwischen
+ihnen vermitteln. Endlich faßte ich den Mut, der Mutter ehrlich meine
+Meinung zu sagen:
+
+»Warum läßt du sie nicht frei? -- Viele in ihrem Alter stehen allein in
+der Welt. Wozu quälst du dich selbst und sie?«
+
+Die Mutter wurde hochrot im Gesicht. »Da sieht man, wohin eure
+religionslose Moral euch führt!« rief sie. »Nicht genug, daß du im Lande
+umherziehst und die Frauen gegen Kirche und Staat aufhetzst, wie mir
+mein Bruder erzählt, du respektierst nicht einmal mehr die
+selbstverständlichsten Gebote der Mutter- und der Kindespflicht.«
+
+»Nein,« antwortete ich erregt. »Eine Pflicht, die kein Gebot des Herzens
+ist, eine Pflicht, die sich wie ein antiker Schicksalsspruch durchsetzen
+will, auch wenn die Menschen dabei zugrunde gehen, erkenne ich nie und
+nimmer an. -- Was Onkel Walter erzählt, sollte dir übrigens nichts Neues
+sein: du weißt, daß ich Sozialdemokratin bin. Daß meine Agitation ihm
+jetzt, wo sie sich gegen seine speziellen agrarischen Interessen
+richtet, besonders antipathisch ist, scheint mir auch nur
+selbstverständlich.«
+
+»Und ich hatte gehofft, daß die Mutter in dir dich allmählich von diesen
+Abwegen zurückführen würde --«
+
+»Die Mutter in mir treibt mich vorwärts!« unterbrach ich sie.
+
+»Lehrt sie dich auch jede Familienrücksicht über Bord werfen? Nicht
+daran denken, wie du alle kompromittierst, die unseren Namen tragen? Wie
+mein Bruder sich sogar gezwungen sieht, ein Mandat für den nächsten
+Reichstag nicht mehr anzunehmen?!« Ihr Zorn fing an, mich zu entwaffnen.
+
+»Liebe Mutter, das alles wollen wir, denke ich, nicht wieder aufrühren,«
+sagte ich ruhig. »Die Verwandten haben sich längst in aller Form von
+mir losgesagt, und wenn es für mich Familienrücksicht gibt, so ist es
+allein die auf mein Kind.«
+
+»Gerade an diesem Kind wirst du für all das Unglück, das du über uns
+gebracht hast, büßen müssen!« rief die Mutter mit funkelnden Augen.
+
+Ich war von dem drohenden Ton ihrer Stimme betroffen. »Was meinst du
+damit?!« frug ich.
+
+»Solltest du für Otto etwa nicht auf Klotildens Erbe hoffen?« entgegnete
+sie. »Hat sie dich seit deiner Heirat jemals eingeladen?!«
+
+»Ich stehe dauernd in brieflichem Verkehr mit ihr. Sie hat mir erst
+kürzlich über meine 'Frauenfrage' Worte wärmster Anerkennung
+geschrieben. Und daß sie mich nicht bei sich sehen kann, begreife ich
+vollkommen. Ich würde ihre Freunde vertreiben, an denen sie hängt,«
+antwortete ich ausweichend.
+
+»Nun so laß dir von mir gesagt sein, daß die Berichte über deine
+agitatorische Tätigkeit sie aufs äußerste empörten. Jenny Kleve kam eben
+aus Augsburg zurück --«
+
+Ich biß mir heftig auf die Unterlippe. »Jenny Kleve! Allerdings eine
+gute Quelle! Und eine geeignete Vertreterin meiner Interessen!« spottete
+ich. »Bist du es nicht gewesen, die alles daran setzte, um zwischen ihr
+und ihren Geschwistern und Tante Klotilde nähere Beziehungen
+herzustellen?! Dein eigener Bruder warnte dich damals, dir kein
+Kuckucksei ins Nest zu legen!«
+
+»Ich habe nur meine Pflicht getan,« erklärte die Mutter.
+
+ * * * * *
+
+Tante Klotildens Erbschaft! Der Gedanke bohrte sich mir in Hirn und
+Herz. Mit einer Sicherheit, die nie auch nur den geringsten Zweifel
+aufkommen ließ, hatte ich stets auf sie gerechnet. Ich wußte: ihrem
+geliebten ältesten Bruder, meinem Vater, hatte sie versprochen, für mich
+sorgen zu wollen; er hatte mir noch kurz vor seinem Tode den Inhalt
+ihres Testamentes vorgelesen, und hinzugefügt: »Daß ich Deine und Deines
+Jungen Zukunft gesichert weiß, wird mir das Sterben erleichtern. Habe
+ich doch selbst gar nicht für Euch sorgen können!« Über manche schwere
+Stunde hatte die Erinnerung daran mir hinweggeholfen: Mag kommen, was
+will, mein Kind wird einmal nicht darben! Sollte sie ihr Wort brechen
+können?! Ein kalter Schauer erschütterte meinen Körper. Ich wußte, wie
+es tat, an die jämmerliche Notdurft des Lebens ständig denken zu müssen.
+Wie viele junge Menschen hatte ich aus der Flut des Lebens auftauchen
+sehen, von einem starken Talent emporgetragen, und nach ein paar Jahren
+hatte das Bleigewicht der Not sie niedergezwungen!
+
+Mein Sohn sollte sich frei entwickeln können. Ich mußte mich selbst
+überzeugen, ob die Warnung meiner Mutter berechtigt war.
+
+Mein Mann war böse, als ich davon sprach. »Du wirst dich doch nicht mit
+den Kleves auf eine Stufe stellen?!« rief er aus. »Unser Junge hat es
+nicht nötig, daß seine Mutter sich erniedrigt. Er wird stark genug sein,
+sich selbst durchzukämpfen.«
+
+Ich war so erregt, daß all die verschwiegenen Qualen hervorstürzten wie
+ein entfesselter Wildbach: »Du freilich wirst nichts davon merken, wenn
+er sich grämt, gerade so, wie du nicht merkst, nicht merken willst, wie
+mich die Sorgen niederdrücken. Du schiltst, wenn ich nach deiner Ansicht
+nicht genau genug auf jeden Wurstzipfel achte, der in die Küche kommt,
+aber du fragst nicht danach, woher ich das Geld nehme, wenn du keins
+mehr hast und wir leben wollen!«
+
+Und ich erzählte ihm, wie ich im vorigen Jahr den Verleger um Vorschuß
+hatte bitten müssen, wie ich mein bißchen Schmuck heimlich aufs
+Versatzamt getragen hatte. Er wurde ganz blaß, und sein Gesicht nahm
+jenen harten, kalten Ausdruck an, vor dem ich mich immer fürchtete.
+Tagelang gingen wir stumm nebeneinander her, während das gezwungene
+Zusammensein uns stets aufs neue reizte.
+
+»Die Ehe ist doch eine gräßliche Einrichtung,« sagte Heinrich
+schließlich und reichte mir in versöhnlicher Stimmung die Hand.
+
+Ich nickte eifrig und meinte lächelnd: »Wie stark muß die Liebe sein, um
+sie auszuhalten!«
+
+»Die besten Freunde müssen einander unerträglich werden, wenn sie Tag
+und Nacht in denselben Käfig gesperrt sind,« ergänzte er.
+
+»Ich glaube, es ist Zeit, daß wir für ein paar Wochen in Freiheit
+gesetzt werden,« wagte ich zögernd auszusprechen; -- ich erwartete jeden
+Tag die Antwort von Tante Klotilde auf meinen Brief, in dem ich sie
+gefragt hatte, ob es ihr recht wäre, wenn ich mit dem Kleinen nach
+Grainau käme. Ich würde mir eine eigene Wohnung nehmen, -- natürlich, --
+und sie nur besuchen, wenn sie uns sehen wollte. Mein Mann runzelte zwar
+noch die Stirn, aber er meinte dann doch lachend: »Mach, daß du
+wegkommst, damit ich die Gattin los werde und die Geliebte wiederfinde.«
+
+Die Antwort kam, -- eine kühle, glatte Ablehnung. »Die Welt ist groß,«
+schrieb sie, »Du brauchst Deine Sommerferien nicht gerade in Grainau zu
+verleben, wo die Situation für dich, -- ganz abgesehen von der meinen,
+auf die Du ja keine Rücksicht zu nehmen scheinst --, eine wenig
+gemütliche wäre. Die Bauern würden Dir fremd, wenn nicht feindlich
+gegenüberstehen. Seit der Dienstbotenbewegung, die Du mit soviel Lärm in
+Szene setztest, hast Du ihre Sympathie verloren. Deine ständigen
+Angriffe auf unseren allverehrten Kaiser« -- hier hörte ich die Stimme
+der Kleves, die nur in der Potsdamer Hofluft zu atmen vermochten --
+»haben den vielleicht noch vorhandenen Rest vollends zerstört ... Ich
+bin eine alte, kranke Frau und brauche innere und äußere Ruhe. Im
+übrigen wird meine Liebe zu Dir durch die räumliche Entfernung eher
+erhalten, als beeinträchtigt werden ...«
+
+Was nun? Gab es nichts mehr, das mir den Weg zu ihr bahnen könnte?
+»Gehen Sie ins Gebirge,« hatte der Arzt gesagt. Wenn ich nun doch reisen
+würde, -- mit dem Kleinen, -- irgend wohin nicht allzuweit von Grainau,
+wo der glückliche Zufall eine Begegnung ermöglichen könnte! Ich war
+überzeugt: sah sie mein Kind, ihr ganzes Herz würde gewonnen werden!
+
+ * * * * *
+
+In Mittenwald, dicht unterm Berg, fand ich bei einem Bauern ein
+Giebelzimmerchen und die große, bunte Wiese, die ich meinem Liebling
+versprochen hatte. Den ganzen Tag spielte er dort mit dem kleinen Sohn
+des Hauses, dem Hansei, und seine weiße Stadthaut bräunte sich, und
+seine Muskeln wurden straff. Ich saß indessen auf der Altane und schrieb
+alle möglichen Artikel und freute mich, wenn das Honorar immer wieder
+eine Woche längeren Aufenthalt möglich machte. Von fernher glänzte und
+lockte die Zugspitze bis zu mir herüber. Ich sah sie bei Nacht im
+Mondschein, wenn die Sterne am dunkeln Himmel sich bewundernd um sie
+scharten. Ich sah sie bei Tage, wenn die Sonne sie inbrünstig küßte und
+ihr doch nichts zu rauben vermochte von ihrer jungfräulichen Reinheit.
+Ihr zu Füßen war das Stückchen Erde, das ich liebte, wie keins in der
+Welt. Wo ich mein Jugendglück fand und -- begrub. Ich verstand, daß es
+Menschen gibt, die vor Heimweh krank werden.
+
+Auf unseren Spaziergängen suchte ich immer die Wege, auf denen ich dem
+weißen Berge näher kam, und erzählte dem aufhorchenden Kleinen von ihm
+als der verzauberten Prinzessin und ihrem grauen finsteren Wächter, dem
+Waxenstein. Dabei wurden mir wohl auch die Augen feucht. »Sei nich
+traurig, Mamachen,« tröstete mich mein Kind. »Ein großer Held wird
+kommen und die Prinzessin befreien!«
+
+Einmal, als wir wieder zu dem stillen See aufwärts gingen, plauderte er
+lustig von den Kühen und den Blumen. Dann wurde er plötzlich still, ein
+grübelnder Zug trat in sein rundes Kindergesichtchen, und seine Wangen
+färbten sich dunkler.
+
+»Der Hansei will Kutscher auf'n Stellwagen werden,« begann er
+unvermittelt; »ist das nicht dumm?!«
+
+Ich nickte zerstreut. Er schwieg wieder.
+
+Als wir uns aber im Walde lagerten, zog er meinen Kopf dicht an den
+seinen und flüsterte aufgeregt: »Ich muß dir ein großes Geheimnis sagen,
+-- dir ganz allein. Ich will ein Held werden und alle schlechten Leute
+totschlagen!«
+
+Ich streichelte seinen Lockenkopf. »Das ist nicht leicht, mein Kind,«
+sagte ich ernst.
+
+»Oh, ich weiß! Aber was man will, das kann man auch!« rief er mit einem
+hellen Jauchzen in der Stimme. Ich zog ihn zärtlich an mich. Hatte ich
+es nötig, um ihn zu bangen? Brauchte ich zu fürchten, daß seine Zukunft
+von der Gunst der harten Frau dort drüben abhängig werden könnte? Ich
+vergaß allmählich, weshalb ich hierher gekommen war. Ich sah nicht mehr
+erwartungsvoll die weiße Straße hinauf, wo ich vor Zeiten so oft mit der
+Tante gefahren war.
+
+Es fiel von meiner Seele wie lauter dunkle Schleier. Die Sonne und die
+freie Bergluft berührten sie wieder. Zuweilen kam ich mir selbst wie
+verzaubert vor: als sei all mein Träumen, mein Hoffen und Sehnen aus mir
+herausgetreten und lebendig geworden in der Gestalt dieses Kindes.
+
+An den Wiesenwegen standen überall Kruzifixe, Wahrzeichen jener
+Verneinung des Lebens, die uns gelehrt hat, Armut und Unglück nicht als
+unsre ärgsten Feinde, sondern als gottgewollt anzusehen.
+
+»Ich kann einen angenagelten Gott nicht anbeten,« sagte mein Sohn.
+
+Unser Aufenthalt ging zu Ende. Ich mußte zum Parteitag nach München.
+Aber ich konnte nicht fort, ohne drüben gewesen zu sein, wo auf dem
+Hügel die kleine weiße Kirche steht und der grüne Badersee im Walde
+träumt, mit dem Bilde der Zugspitze im Herzen. Wir fuhren nach Garmisch
+und wanderten über die Wiesen, an den braunen Heuschobern vorbei,
+dorthin, wo sich in leisen Wellenlinien das Tal erhebt, Hügel an Hügel
+von alten Baumriesen bekrönt und blühenden Büschen. Glänzend wie ein
+Silberstreifen schlängelt sich der Weg durch die Gründe, -- braune und
+rote Dächer tauchen auf, -- schon plätschert der Bergbach, der ganz,
+ganz oben in den Furchen und Spalten dem Felsen entspringt und vom
+Schnee sich nährt und vom Eis: Das war Grainau --. »Und nun, Bubi, paß
+auf: nun kommen die blauen und goldgelben Häuser mit den lustigen
+Heiligenbildern daran und den vielen, vielen Nelken auf den Altanen.«
+
+»Wo denn, Mamachen?!«
+
+Ich sah mit großen Augen um mich. Wo waren sie nur? Die Erinnerung malte
+mir wohl ihr Bild, aber die Zeit hatte ihre Farben verlöscht, und
+überall standen neue Häuser mit kalkweißen Wänden, -- ohne den heiligen
+Florian in den Nischen, -- blumenlos. Wie verschüchterte Bauernkinder
+vor den Städtern verkrochen sich die alten scheu in den Winkeln. Ich
+beschleunigte meine Schritte. Der Wald war derselbe geblieben, und
+zwischen den Buchenstämmen leuchtete schon der See. Dort wollt' ich
+stille Andacht halten! -- Mein Fuß stockte: ein großes Hotel erhob sich
+an seinem Ufer. In seine kristallklare Flut hatte man eine Nixe aus
+Bronze versenkt; auf den Kähnen drängten sich die Menschen um sie und
+starrten hinunter. Aber den Badersee sahen sie nicht. Der lag ganz still
+und sah zum Himmel empor in großer, großer Einsamkeit. Und hinter
+dunkeln Wolken versteckten sich die Berge, als schämten sie sich der
+Welt unter ihnen.
+
+Ich kämpfte mit den Tränen. Meine Jugend hatte ich gesucht, -- war ich
+nicht statt dessen plötzlich uralt geworden? Ich mochte nichts mehr
+sehen, auch das Rosenhaus nicht. Aber mein Junge gab nicht nach.
+
+Lange lagen wir auf dem Moose im Wald, den kleinen Rosensee uns zu
+Füßen, am jenseitigen Ufer das traute grünumrankte Haus. Hier hatte sich
+nichts verändert. Und all die Bilder von Glück und Leid, die dieser
+Rahmen einst umschloß, zogen an mir vorüber. Die Jahre zwischen damals
+und heut wären mir wie ein Traum erschienen, wenn nicht das Kind neben
+mir mich an die lebendige Gegenwart erinnert hätte. Ich stand auf und
+reckte den Körper. Der Abschied von diesem Haus, diesem See, diesem Wald
+war der erste Schritt in das neue Leben gewesen. Ich bereute ihn nicht.
+Dankbar sah ich noch einmal hinüber. Trotz alledem: dieser Erdenwinkel
+blieb mein.
+
+Eine weißhaarige Frau, die den schweren Körper nur mühsam am Stock
+vorwärts bewegte, trat aus der Tür in den Garten. Uns entgegen auf dem
+schmalen Steg kam hastig ein hellgekleidetes Mädchen. Dicht vor mir
+blieb sie sekundenlang mit weit aufgerissenen Augen stehen. Es war Jenny
+Kleve. Dann sah ich noch, wie sie hinüberlief, mit erregten Gesten auf
+die alte Frau einsprach, und wie diese dem herbeigerufenen Diener eine
+Weisung erteilte. Ich lachte auf: jetzt hat sie Befehl gegeben, mich
+nicht vorzulassen, dachte ich; -- Jenny Kleve, auf diesen Triumph freust
+du dich umsonst!
+
+ * * * * *
+
+In München erwartete uns Berta, mit der der Kleine nach Berlin
+zurückreisen sollte.
+
+Hätte ich nur mit ihnen heimreisen können! All der Staub der Stadt, der
+meine Lunge erfüllt, der grau und schwer die Glut meines Herzens fast
+erstickt hatte, war vom Bergwind weggeweht worden. Mein Kind, -- mein
+Geliebter, -- waren sie nicht der Inhalt meines Lebens? Mein Geliebter,
+-- nicht mein Gatte, an dessen Seite nichts mich zwang als ein Stück
+Papier. »Die geläuterte Moral der Zukunft wird die Roheit unserer
+Gesittung nicht verstehen,« schrieb ich an Heinrich, »die die
+Beziehungen der Geschlechter, wie die zwischen Unternehmer und Arbeiter,
+zwischen Herrn und Diener, mittelst eines formulierten Vertrages regeln
+wollte, die die Frau nötigte, als Symbol des Auslöschens ihrer
+Persönlichkeit, den eigenen Namen mit dem des Mannes zu vertauschen.
+Liebe sollte immer ein Geheimnis sein, eins, um das nur die
+Allernächsten wissen. Die Ehe schreit es in alle Welt hinaus und erzählt
+zynisch jedem Gassenbuben: sieh, dieses Weib gehört jenem Mann!.. Ich
+sehne mich nach Dir. Mit tieferer, heißerer Sehnsucht, als da die Liebe
+mir nur ein Traum war. Ich möchte untertauchen bis auf den Grund ihres
+Ozeans, denn mir ist, ich wäre bisher nur auf der Oberfläche gefahren,
+und in der Tiefe warteten Schätze auf mich von unermeßbarem Wert. Aber
+wenn ich an unsere laute Straße denke, an die engen Zimmer, in die
+unsere große Liebe sich sperren ließ, um Magddienste zu tun, -- dann
+sinkt meine Sehnsucht in sich zurück, wie ein Springbrunnen, der eben in
+Milliarden Wassertropfen der Sonne entgegenflog und nun, da der Gärtner
+den Hahn abdreht, plötzlich verschwindet ...« --
+
+»Du hast recht,« antwortete er, »tausendmal recht! Aber glauben kann ich
+Dir erst, wenn Du Deine Empfindung nicht nur aussprichst, sondern ihr
+folgst ... Komm, und wir wollen in irgend einem stillen Winkel, wo uns
+niemand kennt, Hochzeit feiern, wie einst ... Der Parteitag braucht Dich
+nicht. Dieser Augenblick jedoch ist vielleicht der einzige, der in uns
+beiden die Erinnerung an die Ehe auslöscht ...«
+
+Aber ich ging nicht. Ich war unfrei. Nie hätte ich es mir eingestanden,
+und doch war es so: ich stand, wie die Mutter, noch unter dem kalten
+Gesetz der Pflicht. Ich durfte die Aufgabe nicht im Stiche lassen um
+meiner Wünsche willen! Am wenigsten jetzt, wo ihre Erfüllung mir
+widerstrebte.
+
+ * * * * *
+
+Wie schön hatte ich es mir einst gedacht, wenn zu den Kongressen der
+Partei die Gesinnungsgenossen von Ost und West, von Nord und Süd
+zusammenkommen würden, ungleich nach Beruf und Alter und Geschlecht, und
+doch ein einiges Heer, von derselben Kraft durchdrungen, von demselben
+Willen beseelt, neue Kreuzfahrer, die auszogen, der Menschheit heiliges
+Land zu suchen. Und jetzt?
+
+Schon im Hotel, wo die meisten Delegierten untergekommen waren, musterte
+man sich mißtrauisch, begrüßte sich kühl. Und Gruppen bildeten sich, die
+berieten, ob und wie man die Ansichten der anderen Gruppen überstimmen
+könne.
+
+Dem Parteitag ging eine Frauenkonferenz voraus. Als ich in den Kreis der
+fünfundzwanzig Genossinnen trat, fühlte ich die abweisende Kälte, die
+mir entgegenströmte. Nur Ida Wiemer schüttelte mir herzhaft die Hand.
+»Was sagen Sie nur zu dieser Tagesordnung?!« flüsterte sie erregt.
+
+Ich lachte spöttisch: »Sie wollen offenbar in anderthalb Tagen die ganze
+Frauenfrage lösen. Arbeiterinnenschutz, Kinderschutz, gesetzliche
+Regelung der Heimarbeit, politische Gleichberechtigung, -- ein
+imponierendes Programm! Es ist ja aber auch eine hübsche Zahl von
+Jasagern beisammen. Die schlucken die Resolutionen unbesehen.«
+
+»Aber Krach gibt's auch,« antwortete Frau Wiemer. »Ihnen müßten die
+Ohren geklungen haben, so giftig ist die Bartels auf Sie.«
+
+»Auf mich?! Ich habe ja gar nichts getan!« meinte ich verwundert.
+
+»Aber die düsseldorfer Genossinnen haben einen Antrag auf Anstellung
+einer Parteisekretärin eingebracht. Man meint, Sie müßten
+dahinterstecken --«
+
+Darum also die bösen Gesichter!
+
+»Und dann: daß Sie als Einzige von uns morgen im Kindlkeller sprechen!«
+
+Darum also die gekränkten Mienen!
+
+Die arme Düsseldorferin wußte offenbar nicht, in was für ein Wespennest
+sie mit ihrem Antrag gestochen hatte, und konnte die Erregung, die er
+hervorrief, nicht begreifen. Ich kam ihr zu Hilfe und goß nur Öl ins
+Feuer. Alles fiel über uns her. Martha Bartels sah in dem Antrag ein
+Mißtrauensvotum gegen ihre Tätigkeit als Zentralvertrauensperson und
+spielte die persönlich Gekränkte, Luise Zehringer gab der offenbar
+allgemeinen Meinung, wonach ich mir auf diese hinterlistige Weise eine
+fette Pfründe schaffen wollte, drastischen Ausdruck, indem sie mit einem
+wütenden Blick auf mich erklärte:
+
+»Die Genossinnen, die nur ab und zu von sich hören lassen, sonst aber
+praktisch gar nicht arbeiten, können wir für solche Stelle nicht
+brauchen. Die haben unser Vertrauen nicht.«
+
+Dabei begann sie krampfhaft zu schluchzen und kreischte, wie ich es von
+ihr noch nie gehört hatte. Aller Klang und alle Weichheit waren aus
+ihrer Stimme verschwunden. Ob das das unausbleibliche Schicksal aller
+Agitatorinnen war?!
+
+Die Bartels sekundierte ihr: »Uns können nur Frauen nützen, die Fleisch
+von unserem Fleische sind ... Keine akademisch gebildeten Damen, die nur
+mal, um sich zu zeigen, ab und zu in einer großen Versammlung einen
+Vortrag halten --.« Ich stand dicht vor ihr und sah ihr gerade ins
+Gesicht. »Solche Paradepferde können wir nicht brauchen,« schrie sie.
+
+Mein Nachbar, ein belgischer Genosse, schüttelte verwundert den Kopf:
+»Es scheint, die ganze Konferenz richtet sich gegen Sie. Was haben Sie
+nur getan?!« fragte er.
+
+»Ist's nicht Verbrechen genug, daß ich überhaupt da bin?!« antwortete
+ich bitter.
+
+Als im weiteren Verlauf der Debatte die Frage des Arbeiterinnenschutzes
+besprochen wurde, nahm ich die Gelegenheit wahr, abermals die
+Forderungen einer umfassenden Mutterschaftsversicherung zu verteidigen.
+Ein paar Beifallsrufe wurden laut, die meisten der Frauen jedoch, ihr
+Leben lang gewohnt, sich unterjochen zu lassen, waren durch die
+Anwesenheit so anerkannter Parteiautoritäten, wie Wanda Orbin und Martha
+Bartels, viel zu verschüchtert, als daß sie ihnen hätten opponieren
+können. Kaum hatte ich geendet, als Wanda Orbin sich zum Worte meldete.
+
+Sie sprach mit einer Leidenschaft, als gelte es, die höchsten Prinzipien
+des Sozialismus zu verteidigen, und mit einer Stimme, als hätte sie eine
+Riesenvolksversammlung vor sich: »Der Gedanke, welcher der
+Mutterschaftsversicherung zugrunde liegt,« sagte sie, »ist der Gedanke
+der menschlichen Solidarität in seiner weitesten Form. Die
+Verwirklichung dieses Prinzips aber steht in so schreiendem Gegensatz zu
+dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, daß wir sie auf
+ihrem Boden nicht erreichen werden ... Sie kann erst zur Verwirklichung
+gelangen, wenn das Recht des lebenden Menschen über den toten Besitz zur
+Geltung gebracht sein wird, -- in einer sozialistischen
+Gesellschaft ...« Ihre Stimme überschlug sich, Schweißtropfen standen
+auf ihrer Stirn. Von allen Seiten klatschte man enthusiastisch.
+
+»Bisher hat es nur als ein Kennzeichen der bürgerlichen Frauenbewegung
+gegolten, aus Opportunitätsgründen möglichst wenig zu fordern, um
+überhaupt etwas zu erreichen,« antwortete ich in ruhigem Gesprächston.
+»Wir verlangen im Gegenteil Alles, und nehmen nur als Abschlagszahlung,
+was davon stückweise errungen wird. Haben wir etwa jemals aufgehört, für
+den Achtstundentag zu agitieren, weil der Gegenwartsstaat ihn nicht
+gewähren wird? Mit noch größerem Recht können wir von ihm die
+Mutterschaftsversicherung fordern, denn ein gut Teil ihrer Ziele muß er
+im eigensten Interesse verwirklichen. Er braucht gesunde Mütter,
+arbeitsstarke Männer, kriegstüchtige Rekruten.«
+
+Wanda Orbin erhob sich noch einmal. »Die Forderung der
+Mutterschaftsversicherung ist durchaus nicht so radikal sozialistisch,
+wie Frau Brandt meint ...,« rief sie. Ringsum klatschte man wieder.
+Weder sie noch ihre Zuhörerinnen hatten bemerkt, daß sie, um mir zu
+widersprechen, sich innerhalb weniger Minuten selbst widersprochen
+hatte.
+
+Als ich ins Hotel zurückkam, müde und verärgert, trat mir überraschend
+mein Mann entgegen. Ich errötete dunkel. Er küßte mir nur die Hand.
+
+»Ich wußte, daß du Kämpfe haben wirst,« sagte er, »und daß ein Freund
+dir fehlen könnte.« Mit tiefer Dankbarkeit sah ich ihm in die Augen.
+
+Der Geist, der in der Frauenkonferenz umgegangen war, herrschte auf dem
+Parteitag.
+
+»Wir brauchen die Akademiker nicht!« war die Parole, unter der er stand.
+»Wenigstens die nicht, die sich erlauben, eine andere Meinung zu haben
+als wir.«
+
+Ein Antrag besonders war von symptomatischer Bedeutung; er verlangte
+nichts weniger, als daß die Mitglieder der Partei verpflichtet werden
+sollten, Kritiken über schriftliche oder mündliche Äußerungen von
+Parteigenossen nur in Parteiblättern, das heißt solchen Zeitungen und
+Zeitschriften, die der Parteikontrolle unterstehen, zu veröffentlichen.
+War es nicht ein grotesker Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien
+der Partei, daß solch ein Antrag auch nur ernsthaft diskutiert werden
+konnte? Daß es Sozialdemokraten gab, die die »Einheitlichkeit der
+Partei« dazu mißbrauchten, um die Meinungsfreiheit niederzuknütteln?
+
+»Ich habe geglaubt, die Leute hätten sich in der Adresse geirrt,« sagte
+Vollmar und reckte sich zu seiner ganzen Riesengröße auf, sodaß er
+turmhoch und turmsicher über der brandenden Woge der Menge stand. »Das
+ist ein Antrag für die Zentrumspartei, für die Kirchenorgane mit dem
+Zensor obenan, wo nur eine Meinung gilt. Es genügt nicht, ihn zu
+bekämpfen, ihn niederzustimmen. Bis auf seine Wurzeln, gilt es, ihn zu
+verfolgen, sonst kehrt er in der und jener Form alljährlich wieder und
+überwuchert unser Erdreich. Es ist der ewige Geist der Kontrolle, der
+Geist der Kasernenhofdisziplin, dem er entspringt. Und gegen ihn müssen
+wir uns wenden. Nicht die freie Meinung unterdrücken, was eine Schwäche
+verraten würde, die nur dem Tode, das heißt der Versteinerung einer
+Bewegung vorangehen kann, sondern sie fördern, ist unsere Aufgabe.
+Sollte der Versuch unternommen werden, selbständige Menschen mundtot zu
+machen, so wäre der kein echter Sozialdemokrat, der es fertig bekäme,
+sich solcher Zensur zu unterwerfen. Es wäre wahrhaftig nicht der Mühe
+wert, die Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft von sich zu werfen, um
+sie nur mit neuen zu vertauschen!«
+
+Ich sah mich um im Saal. Es waren nur bestimmte Gruppen, die Beifall
+klatschten. Reihenweise saßen die Genossen an den langen Tafeln mit
+verschlossenen oder gleichgültigen Mienen. Unwillkürlich lief mir ein
+Schauer über den Rücken. Die »Diktatur des Proletariats«, -- wird sie
+die Freiheit sein?
+
+»Sie würde ein rasches Ende nehmen, wenn sie etwas anderes wäre,« sagte
+einer unserer Genossen, als wir am Abend zusammen waren und ich die
+Frage ausgesprochen hatte.
+
+Während der letzten Tage des Kongresses, deren Verhandlungen sich um die
+praktischen Fragen der Arbeiterversicherung und der Kommunalpolitik
+drehten, legten sich die Wogen der Erregung wieder. Und als August Bebel
+von den kommenden Reichstagswahlen sprach und seine braunen
+Jünglingsaugen unter dem grauen Haarschopf immer feuriger glänzten, je
+drastischer seine Darstellung der inneren und äußeren politischen Lage
+wurde, je weitgehendere Hoffnungen er für den Wahlkampf daran knüpfte,
+da jubelte alles ihm einmütig zu; jener zündende Funke der Begeisterung
+sprang von einem zum anderen, derselbe Funke, den eine Kriegserklärung
+für alle waffenfähigen Männer bedeuten mag. Sie werfen ihr Werkzeug
+beiseite, sie treten in Reih und Glied, und zum guten Kameraden wird der
+Nachbar, mit dem sie eben noch in kleinlichem Hader lebten.
+
+Noch erging sich die bürgerliche Presse in langatmigen Betrachtungen
+über den »Bruderzwist« in der Partei, um Hoffnungen für ihre Sache
+daraus zu schöpfen, und schon standen wir in Reih und Glied dem
+gemeinsamen Feind gegenüber.
+
+ * * * * *
+
+Am Tage unserer Rückkehr nach Berlin ging ich zur Mutter. Drei Monate
+hatte ich sie nicht gesehen. Ihre Briefe, die kurz und freudlos waren,
+ließen mich nichts Gutes ahnen. Sie wohnte mit Ilse in einer Pension am
+Lützow-Ufer. Als ich aus dem hellen Tageslicht in das dunkle Zimmer
+trat, -- die Häuser hier traf nie ein Sonnenstrahl, -- löste sie sich
+langsam, wie ein Schatten, aus dem tiefen Stuhl, in dem sie gesessen
+hatte. Ihre Hände nur leuchteten weiß und überschlank aus dem schwarzen
+Ärmel des Kleides. Sie war sehr verändert.
+
+Streifen weißen Haares zogen sich durch ihre blonden Scheitel. Auf ihrem
+schmalen Gesicht wechselte fahle Blässe mit fliegender Röte. Die
+Pupillen in ihren Augen standen keinen Augenblick still. Ein Gefühl von
+Zärtlichkeit überkam mich. Ich küßte ihre beiden Hände.
+
+»Es ist nicht leicht --,« sagte sie.
+
+»Was denn, Mamachen?« fragte ich so sanft, als hätte ich eine Kranke vor
+mir.
+
+»Weißt du noch, wie ich Ilse die Stiefel zuschnürte, als sie ein Kind
+war? Vor ihr auf den Knieen, -- nur damit sie sich nicht bücken sollte?«
+begann sie langsam, traumverloren. »Dann pflegte ich ihren Mann zu Tode,
+-- und nun läßt mir die Angst keine Ruhe, daß sie wieder in ihr Unglück
+rennt --« Sie ließ sich nicht beruhigen. Es war, als ob eine fixe Idee
+sie beherrschte.
+
+Eines Abends schickte Ilse nach mir.
+
+»Um Gottes willen -- rasch --,« rief sie mir schon vor der Haustür
+entgegen, »ich fürchte mich so!« Oben fand ich die Mutter im Bett
+zusammengekauert, die Augen starr ins Wesenlose gerichtet. »Hans -- Hans
+-- tu mir nichts!« wimmerte sie. »Du hast ja mein Versprechen --« Und
+dann streckte sie wie lauschend den Kopf vor. »Hier meine Hand
+darauf --« flüsterte sie ruhiger werdend, und ihre weißen Finger griffen
+in die leere Luft, um etwas zu umschließen, das niemand sah als sie.
+
+Der Arzt erklärte ihren Zustand für Nervenüberreizung und verlangte die
+Trennung von Mutter und Tochter. Aber erst nach Wochen voller innerer
+und äußerer Qualen ließ sie sich überreden, ohne Ilse nach Montreux zu
+gehen. Ich hatte ihr versprechen müssen, die Schwester zu mir zu nehmen,
+und sie selbst überwachte noch ihre Übersiedlung in eine zufällig leere
+Wohnung neben uns.
+
+ * * * * *
+
+Es war um die Weihnachtszeit; jene Zeit voller Geheimnisse und voller
+Freuden; jene Zeit, die ein Gott der Liebe wirklich geweiht zu haben
+scheint. Ich hatte dann immer alle Hände voll zu tun. In den Laden gehen
+und kaufen, das kann jeder, der einen vollen Beutel hat, auch im Alltag
+des Jahres. Aber den Wünschen derer, die man liebt, nachspüren, und sie
+mit eignen Händen zu erfüllen suchen, das kann nur, wer Festtagsstimmung
+hat.
+
+Eine Götterburg baut' ich meinem Buben auf mit Wodan und Baldur, mit
+Loki im roten Feuerkleid und den Walküren in Schwanengewändern. Stets
+fehlte noch irgend was: ich mußte weit umherlaufen, um die Silberflügel
+für die Helme der Schlachtjungfrauen oder den goldenen Eber für Freyrs
+Wagen zu finden. Und ich war so müde, so schrecklich müde! Es war, als
+ob mein Körper täglich schwerer auf den Füßen lastete. Endlich war alles
+fertig. Ich lag erschöpft auf dem Sofa.
+
+Wie schwach mir war und wie glühend heiß dabei! Mit einer letzten
+Kraftanstrengung schlich ich ins Schlafzimmer und legte mir den
+Fieberthermometer unter den Arm: 39½ -- Ich rief nach Berta und schickte
+zum Arzt. Dann wußte ich nichts mehr von mir.
+
+Erst allmählich sah ich schattenhaft Gestalten um mein Bett -- Heinrich
+-- den Arzt -- die Pflegerin in der weißen Haube und -- die Mutter! Wie
+hatte man sie nur rufen können, die arme, kranke Frau?! Oder, -- eiskalt
+packte mich die Angst, -- sollte ich sterben müssen?! Ich durfte doch
+gar nicht! Ich mußte den Weihnachtsbaum putzen für mein Kind!
+Unaufhaltsam liefen mir die Tränen über die Wangen.
+
+Ich genas. Auf dem Sofa lag ich jetzt wieder, und über meine Decke ließ
+Ottochen alle Götter und alle Walküren reiten.
+
+»Wie kam es nur,« wandte ich mich zur Mutter, die, noch schmaler
+geworden, im Stuhl neben mir lehnte, »wie kam es nur, daß du so
+plötzlich hier warst? Heinrich gab mir sein Wort, daß er dir nichts von
+meiner Erkrankung geschrieben hat, -- und Ilse auch.«
+
+Ein stilles Lächeln glitt über ihre Züge.
+
+»Nein, niemand schrieb mir, -- aber ich sah, daß der Tod neben dir
+stand. Ihr mögt noch so sehr zerren wie an einer Kette, das Band
+zwischen Mutter und Kind ist stärker als Ihr.«
+
+Am nächsten Tage reiste sie ab. Sie hatte den alten schwarzen Mantel an,
+den ich seit Jahren an ihr kannte, und auf ihrem dunkelgrauen Hut saß
+ein kleiner grünschillernder Käfer, -- ich weiß noch alles ganz genau.
+An der Tür zögerte sie und sah mich an, -- mit einem langen, langen
+Blick. Ich wollte mich aufrichten und sie noch einmal umarmen. Aber ich
+war viel zu schwach dazu.
+
+Acht Tage später war sie tot.
+
+
+
+
+Dreizehntes Kapitel
+
+
+»Genosse Weber aus Frankfurt a. O. -- meine Frau.« Ich war gerade zur
+Türe eingetreten, als Heinrich mir seinen Gast vorstellte, einen kleinen
+lebhaften Menschen mit blanken, braunen Augen und kahlem Schädel.
+Verwundert sah ich von einem zum anderen: sie waren beide heiß und rot
+vor Erregung.
+
+»Helfen Sie mir, Genossin Brandt,« sagte der Fremde und trommelte mit
+den Fingern auf der Tischplatte. Komisch, was für einen breiten, nach
+außen gebogenen Daumen er hat, wie bei der Spinnerin im Märchen, dachte
+ich zerstreut, während meine Augen gewohnheitsmäßig an seinen Händen
+hängen blieben.
+
+»Weber bietet mir die Kandidatur seines Wahlkreises an,« erklärte
+Heinrich. Nun erst horchte ich auf.
+
+»Und er zögert, sie anzunehmen. Bringt lauter Wenn und Aber vor. Und
+will Bedenkzeit. Als ob es jetzt noch was zu bedenken gäbe! Jeder von
+uns muß ins Geschirr, -- so oder so,« rief unser Gast, und seine Worte
+überstürzten sich vor Eifer. »Machen Sie kurzen Prozeß, -- schlagen Sie
+ein!«
+
+»Schade, daß Sie mich nicht brauchen können, -- ich täte es
+besinnungslos,« antwortete ich und legte meine Hand in die seine, die
+er noch vergeblich meinem Mann entgegenstreckte. Weber hielt sie fest.
+
+»Ein Weib -- ein Wort,« lachte er. »Sie sollen sehen, wie wir Sie
+brauchen können, -- zuerst müssen Sie uns den Kandidaten und dann den
+Wahlkreis erobern helfen!«
+
+Aber mein Mann blieb fest, trotz allen Zuredens.
+
+»In vierundzwanzig Stunden werden Sie meine Antwort haben...« sagte er.
+
+Als Weber gegangen war, schalt er mich: »Du bist unüberlegt wie ein
+Kind! Glaubst du, daß das Archiv nicht sehr geschädigt wird,
+wenn ich für die Partei kandidiere, oder gar als Mitglied der
+sozialdemokratischen Fraktion in den Reichstag komme?!«
+
+Ich machte eine wegwerfende Bewegung: »Ach, -- das Archiv und immer das
+Archiv! Lindner wird sich über kurz oder lang entscheiden müssen, und
+wenn du erst eine ausgesprochen sozialistische Zeitschrift leitest, so
+wird das auf das Archiv nicht anders wirken, als wenn du Abgeordneter
+bist...«
+
+Einen Augenblick lang schwieg ich und sah ihn erwartungsvoll an, aber er
+blieb am Schreibtisch sitzen mit gesenkten Augen und zusammengekniffenen
+Lippen, während seine Hand unruhig mit dem Bleistift spielte.
+
+»Heinz --,« fuhr ich mit weicherer Stimme fort, »Heinz, das bist nicht
+du, den ich unschlüssig vor mir sehe! Alle Wetterzeichen deuten auf
+einen großen Kampf, und du könntest abseits bleiben, wenn man dich zu
+den Waffen ruft?! Du, den ich liebe um seiner Kühnheit willen, der all
+die tausend jämmerlichen Rücksichten des Alltagsmenschen nicht kennt --«
+
+
+»Ich sage dir, wie schon einmal, daß ich an euch zu denken habe, an dich
+und das Kind,« unterbrach er mich, aber seine Stimme hatte keinen Ton
+dabei.
+
+»Hat Romberg, der den Freien spielt und im Grunde nichts ist als ein
+Philister, so viel Macht über dich?!« antwortete ich heftig. »Soll auch
+für uns die Familie der Götze sein, dessen Unersättlichkeit wir das
+Beste opfern: unsere Freiheit, unsere Überzeugung, unser Menschentum?!
+Sie wäre wert, daß wir sie zerstörten, wie unsere Gegner es von uns
+behaupten, wenn dem so wäre!«
+
+Heinrich erhob sich und reichte mir die Hand. Seine Augen glänzten
+wieder. »Du bist mein tapferer Kamerad,« sagte er, -- nichts weiter. Und
+ich stellte keine Frage mehr an ihn.
+
+Am nächsten Morgen gingen wir in den Reichstag. Seit Wochen tobte hier
+der Kampf um den Zolltarif. Mit eiserner Konferenz hatte die
+sozialdemokratische Fraktion es bisher durchgesetzt, daß über jeden
+einzelnen Zollsatz beraten und namentlich abgestimmt wurde. Wenn sie die
+schließliche Annahme der Vorlage auch nicht verhindern konnte, -- sie
+hatte eine geschlossene Mehrheit gegen sich; von den bürgerlichen
+Parteien wagte es nur die kleine freisinnige Vereinigung unter Führung
+von Theodor Barth mit ihr zusammen gegen die drohende Verteuerung aller
+Lebensmittel Front zu machen --, so wollte sie wenigstens nichts
+versäumen, um ihre Folgen abzuschwächen, oder, -- das war die Hoffnung
+der Optimisten in ihrer Mitte, -- die Entscheidung so lange
+hinauszuschieben, bis die neu gewählten Volksvertreter sie zu fällen
+haben würden. Sie wußten genau: wenn sie mit dem Zolltarif als
+Agitationsmittel vor die Wählermassen treten könnten, so würde eine
+verstärkte Opposition in den Reichstag zurückkehren. Aber ihre
+politischen Gegner fürchteten diese Entwicklung der Dinge ebenso sehr,
+als die Sozialdemokraten sie wünschten. Schon hatten sie versucht, durch
+eine Umänderung der Geschäftsordnung die Verhandlungen zu beschleunigen,
+-- umsonst. Die Sozialdemokraten begegneten ihnen mit vier- und
+fünfstündigen Dauerreden, mit immer neuen Anträgen. Die Empörung stieg
+bis zur Siedehitze. Und jetzt, -- darüber war kein Zweifel, -- hatten
+die Vertreter der Rechten und des Zentrums nach langwierigen Beratungen
+ein Mittel gefunden, das den Einfluß der Opposition endgültig lahmlegen
+sollte.
+
+In der langen grauen Wandelhalle, die der dunkle Novembertag noch öder,
+noch farbloser erscheinen ließ, warteten wir auf unsere Tribünenkarten.
+Abgeordnete eilten an uns vorüber, in schwarzen Röcken oder in Soutanen,
+schwere Mappen unter den Armen, mit müden, überwachten Gesichtern, oder
+sie gingen flüsternd zu zweien und blieben in den Ecken stehen, die
+Köpfe zueinandergeneigt, wie Verschwörer. Erhob sich ihre Stimme im
+Eifer des Gesprächs, so hallten abgerissene Worte durch den hohen Raum
+und schwebten wie verirrt in der Luft. Ein langsamer fester Schritt
+näherte sich uns: Ignaz Auer.
+
+»Sie haben eine gute Nase, Genossin Brandt,« lachte er, indem er uns
+kräftig die Hände schüttelte; »heute platzt hier irgend eine Bombe. Und
+da müssen Sie dabei sein, was?!« Er führte uns in den Wandelgang, der
+den Sitzungssaal umschließt, und mit seinem weichen Teppich und seiner
+braunen Täfelung behaglich gewirkt hätte, wenn nicht ein unaufhörliches
+hastiges Hin und Her die Luft in ständiger nervöser Schwingung erhalten
+hätte. Wir setzten uns.
+
+»Mir ist die Kandidatur für Frankfurt-Lebus angeboten worden. Was halten
+Sie davon?« wandte sich mein Mann an Auer. Der strich sich nachdenklich
+mit der breiten Hand den Bart, während ein leiser Spott seine Lippen
+kräuselte.
+
+»Also wieder ein Akademiker! Was werden unsere Berliner sagen?! --
+Übrigens,« fügte er lauter hinzu, »ich kenne den Wahlkreis: Äcker,
+nichts als Äcker, und Bauern- und Rittergüter, wenig Industrie, -- kurz,
+ein böser Winkel.«
+
+»Aussichtslos?« fragte Heinrich.
+
+»Aussichtslos? Nein!« antwortete Auer. »Nur erleben wir beide seine
+Eroberung nicht.« Ich biß mir ärgerlich die Lippen, -- ich hatte
+erwartet, daß er zureden würde.
+
+Ein heller Glockenton klang durch das Haus. Die Sitzung war eröffnet.
+Wir stiegen zur Tribüne hinauf. Jeder Platz war besetzt. Gespannte
+Erwartung lag auf allen Zügen. Man zeigte einander flüsternd die
+Hauptführer im Kampf. Allmählich füllte sich unten der Saal. Das
+gelbgraue Licht, das von den farblosen Wänden und der tiefen Glasdecke
+ausstrahlte, ließ alle Gesichter gleichmäßig fahl erscheinen.
+
+»Ein vornehmer Raum!« sagte eine Dame neben mir. Daß man so oft für
+vornehm hält, was nur kühl, nur leblos ist! Die Architekten öffentlicher
+Gebäude sollten den psychologischen Einfluß der Farben auf die Menschen
+studieren. Vielleicht würden dann manche Parlamentsverhandlungen und
+Gerichtsbeschlüsse anders ausfallen.
+
+Hinter dem Rednerpult stand ein Abgeordneter, der mit einförmiger
+Langsamkeit über die Petitionen zu den Vieh- und Fleischzöllen
+berichtete. Niemand hörte auf ihn. In Gruppen standen die Mitglieder der
+Rechten und des Zentrums beieinander. Hier und da eilte einer von ihnen
+zur Tür, um bald darauf achselzuckend wiederzukommen. Irgend etwas
+sehnlich Erwartetes fehlte. Die Linke nur saß scheinbar ruhig auf ihren
+Plätzen, und auf dem Präsidentenstuhl lehnte Graf Ballestrem in
+erzwungener Gelassenheit den weißen Kopf an die hohe Lehne. Der
+Berichterstatter schloß. Graf Ballestrem erhob sich: »Wir treten nunmehr
+in die Beratung des Zolltarifs ein ...«
+
+In diesem Augenblick stieg Herr von Kardorff, der greise Führer der
+Rechten, mit jugendlicher Elastizität die Stufen zur Estrade empor. Ein
+weißes Papier zitterte in seinen Händen. Die Stimme, mit der er scharf
+und hell seine Worte in den Saal hinausstieß, vibrierte:
+
+»In wenigen Minuten wird dem Hause ein Antrag vorliegen, der dahin geht,
+in Paragraph 1 der Gesetzesvorlage die Enbloc-Annahme des Zolltarifs
+auszusprechen ...«
+
+Ein Hohngelächter übertönte jedes weitere Wort. Die Linke sprang auf und
+umdrängte die Estrade.
+
+»Eine Guillotinierung!« klang es aus dem schwarzen Menschenknäuel.
+
+»Sie haben uns selbst auf diesen Weg gedrängt ...,« rief Kardorff. Er
+ballte die Faust um das weiße Papier, reckte die überschlanke Gestalt
+hoch auf und maß mit einem hochmütigen Blick die Gegner unter ihm.
+
+Man wartete auf die Verteilung des Antrages. Eine lange, atemlose Pause.
+Endlich traten die Diener ein. Man riß ihnen die bedruckten Blätter aus
+der Hand. Dicht unter der Rednertribüne, auf der Kardorff noch immer
+aushielt -- gerade, starr, scheinbar gleichgültig --, warf einer der
+Sozialdemokraten in fanatischem Zorn das zusammengeballte Blatt zu
+Boden. Um den heftig gestikulierenden Bebel sammelte sich die Linke.
+
+»Zur Geschäftsordnung!« rief Singers tiefe Stimme immer wieder dem
+Präsidenten zu.
+
+Und dann sprach er. Aber durch den frenetischen Beifall der Linken und
+die empörten Zwischenrufe der Rechten und des Zentrums klangen nur
+abgerissene Sätze zu den Tribünen empor.
+
+»... Dieser Antrag ist der Ausfluß des persönlichen Interesses, welches
+die Herren Gesetzgeber an der Zolltarifvorlage haben ... Sie fördern den
+Umsturz, Sie propagieren die Revolution, indem Sie die Interessen des
+Volkes mit Füßen treten... Neunhundert Positionen, von denen jede
+einzelne die wirtschaftliche Existenz Tausender bedroht, wollen Sie in
+einer Abstimmung zur Entscheidung bringen ... Sie fürchten sich, die
+Beute könnte Ihnen entgehen ... Sie sind die Schleppenträger der
+Agrarier und die Regierung ist ...«
+
+»Ihr Zuhälter!« kreischte eine Stimme dazwischen.
+
+Der Präsident erhob sich und schwang die Glocke. Aber das Wort saß fest;
+flüsternd ging es schon durch die Menschenreihen auf den Tribünen.
+
+Noch einmal übertönte Singers Rede den Sturm im Saal: »Mehr denn je
+wird das Recht der Minorität, sich gegen Vergewaltigungen zu wehren, zur
+heiligen Pflicht, wo es sich darum handelt, dem Volke ein Gesetz zu
+ersparen, das es der Not ausliefert, während es Ihre Taschen füllt ...«
+
+Seine Fraktionskollegen umringten den Redner; einen Augenblick lang lag
+die Hand Theodor Barths in der seinen.
+
+»Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete von Kardorff.«
+
+Schon hatte sich Singer seinem Platz wieder zugewandt. Wie er den Namen
+hörte, drehte er sich um und blieb zwischen den Seinen stehen, groß,
+schwer, breitschultrig. Über ihm auf einer der Stufen, die zur Estrade
+führten, stand Bebel, die dunkelglühenden Augen fest auf den Redner
+gerichtet, während seine Finger sich nervös bewegten, sich spreizten und
+wieder zusammenzogen, als prüften sie ihre Kraft.
+
+Ruhig, mit der ganzen Selbstbeherrschung des alten Aristokraten, begann
+Kardorff zu sprechen: »Wir sind der Überzeugung, daß der vorliegende
+Antrag das einzige Mittel ist, um die Tarifvorlage, deren Erledigung wir
+für ein großes vaterländisches Interesse halten ...«
+
+»Vaterländisch?!« fragte jemand ironisch; ein schallendes Gelächter
+antwortete.
+
+Der Redner gab sich nicht die Mühe, den Lärm zu überschreien.
+Gleichgültig sah er über die Menge hinweg und wartete, bis der Präsident
+die Ruhe wieder hergestellt hatte. Dann sprach er weiter, ohne die
+Stimme zu erheben, ohne Pathos. Er gab sich nicht die Mühe, überzeugen
+zu wollen; in seiner ganzen Art lag eine souveräne Verachtung des
+Gegners.
+
+»...Daß die Mehrheit wichtige Gesetzesvorlagen auch gegen den Willen der
+Minorität durchsetzt, ist eine grundlegende Forderung unseres
+konstitutionellen Lebens...«
+
+Tosender Lärm unterbrach ihn. Aus dem dichtgedrängten Haufen, der sich
+allmählich immer näher zur Rednertribüne emporschob, erhoben sich
+geballte Fäuste. »Räuber!« -- »Taschendieb!« -- »Volksverräter! --«, wie
+Peitschenhiebe pfiff und sauste es durch die Luft. Die Mitglieder der
+Rechten erhoben sich und besetzten wie zum Schutz die andere Seite der
+Treppe. Kardorff sprach weiter. Sein Gesicht war um einen Schein blasser
+geworden, und seine schmalen Hände umklammerten krampfhaft das Pult.
+Hier stand nicht mehr der einzelne, der um einen momentanen Vorteil
+kämpft, -- in diesem Mann erhob sich vielmehr die alte Welt wider die
+neue und umgab seinen scharf geschnittenen Aristokratenkopf mit dem
+dunklen Glanz tragischer Größe.
+
+Als wir gingen, stritt man sich noch immer in endlosen Reden über die
+Zulässigkeit des Antrags.
+
+»Acht Tage läßt sich die Sache wohl noch hinziehen,« meinte einer
+unserer Reichstagsabgeordneten, den wir in der Wandelhalle trafen, »dann
+ist der Zolltarif angenommen. Ein Pyrrhussieg für die Rechte, -- der
+Nagel zum Sarg für die Nationalliberalen!«
+
+»Und hundert Mandate für uns!« fügte ein anderer frohlockend hinzu; »das
+wird ein Wahlkampf werden, der seinesgleichen nicht hatte!«
+
+In einem Kaffee der Potsdamerstraße erwartete uns Weber. Fragend sah er
+von einem zum anderen. Mein Mann reichte ihm die Hand.
+
+»Hier haben Sie mich, wenn Sie noch mögen. Auer sagt, wir würden die
+Eroberung von Frankfurt-Lebus nicht erleben, -- das gab den Ausschlag.
+Die gebratenen Tauben, die in den Mund fliegen, schmecken mir nicht. Wir
+wollen uns zusammen ein Wild erjagen.«
+
+Wir blieben noch lange beieinander. Weber erzählte von seinem eigenen
+Leben: wie er als armer Schustergeselle in die Welt hinausgewandert war,
+sich schließlich seßhaft gemacht hatte und anfing, sich emporzuarbeiten.
+
+»Eine verbissene Zähigkeit gehört dazu, wenn's gelingen soll,« meinte
+er, »dieselbe Zähigkeit, die wir haben müssen, soll die Partei vom
+Flecke kommen. Nur ein paar solcher Genossen haben wir in Frankfurt, die
+seit Jahren den steinigen Boden beackern, unermüdlich, in täglicher
+Kleinarbeit, gegen den Haß und die Verfolgungssucht des ganzen
+bourgeoisen Klüngels, -- und doch sind wir ein gut Stück weitergekommen.
+Seit zwanzig Jahren schau ich mir die alte rote Fahne an, die seit dem
+ersten Lassalleschen Arbeiterverein eingerollt im Winkel steht. Der
+schönste Tag meines Lebens wär's, wenn ich sie einmal flattern sehen
+könnte!« Und mit dem breiten Schusterdaumen wischte er sich einen
+feuchten Tropfen aus dem Augenwinkel.
+
+ * * * * *
+
+Mit jedem neuen Tage wurde der Kampf im Reichstage brutaler; selbst die
+politisch Gleichgültigen wurden aufgerüttelt und verfolgten ihn mit
+gespannter Aufmerksamkeit. Durch Nachtsitzungen versuchte die Mehrheit
+die Kraft der Minderheit zu erschöpfen, aber mit trotziger Ausdauer
+hielt sie stand, und schob die Entscheidung durch endlose Reden immer
+wieder auf Tage und Stunden hinaus. Der gegenseitige Haß zerriß in
+zügelloser Leidenschaft alle Bande äußerer Gesittung. Konservative
+Abgeordnete bezeichneten die Arbeiter Berlins, die in riesigen
+Versammlungen gegen den Umsturz der Geschäftsordnung durch den Antrag
+Kardorff protestierten, als »skrophulöses Gesindel«, und ihre Presse
+forderte von der Regierung: »der Bestie den Zaum anzulegen«. Die
+»Bestie« blieb ihre Antwort nicht schuldig. Die größten Säle der
+Millionenstadt konnten die Menge nicht fassen, die nichts mehr war, als
+ein Wille: nieder mit der Reaktion! und eine Hoffnung: der Rachefeldzug
+der nächsten Wahlen. Und mehr und mehr tauchten Menschen in den
+Versammlungen auf, die nicht zum Proletariat gehörten. Bewunderung für
+die wilde Energie der kleinen Schar Belagerter riß so manchen aus dem
+politischen Schlummer, und der Groll führte andere hierher; sie fühlten
+ihre liberalen Interessen durch ihre eigenen Vertreter im Reichstag --
+die Bassermann, die Richter -- schmählich verraten. Zu früh vernarbte
+Wunden brachen auf: die Erinnerung an die Lex Heinze erwachte, durch die
+Kunst und Wissenschaft tödlich getroffen worden wären, wenn die Roten im
+Reichstag sie nicht so wütend verteidigt hätten; und die Rede des
+Kaisers klang lauter, als da sie gehalten wurde, in die Ohren derer, die
+sich bisher vom Getümmel der Schlacht scheu vor ihre Staffelei und ihren
+Schreibtisch zurückgezogen hatten. »Eine Kunst, die sich über die von
+mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst
+mehr,« hatte er angesichts der vollendeten Standbilder in der
+Siegesallee erklärt, und die großen Eroberungen neuer künstlerischer
+Möglichkeiten, wie sie denen um Manet und van Gogh, um Liebermann und
+Klinger gelungen waren, als ein Niedersteigen in den Rinnstein
+bezeichnet. Jetzt rötete das Schamgefühl manchem die Wangen, der den
+Streich ruhig empfangen hatte. »Wahrlich, es gilt mehr als den
+Zolltarif,« sagte mir einer aus dem Kreise der Sezession, »es gilt die
+Verteidigung der ganzen modernen Entwicklung. Wenn es zu diesem Ende
+nichts anderes gibt, als den Stimmzettel, so werden auch wir uns seiner
+zu bedienen wissen.« Eine Revolte der Intellektuellen stand bevor, und
+im stillen hoffte ich wieder, daß sie zu einer Revolutionierung der
+Geister führen würde.
+
+Aber auch die Gegner außerhalb des Reichstages rüsteten sich schon für
+die kommenden Wahlen. Was der Adel Preußens vor zwanzig Jahren noch für
+unmöglich gehalten hatte, das geschah. Junker und Fabrikant vereinigten
+sich, da der gemeinsame Feind drohte: die Sozialdemokratie. Und der
+Kaiser selbst wurde in diesem Kampf der erste Agitator: »Zerreißt das
+Tischtuch zwischen Euch und diesen Leuten, die Euch aufhetzen gegen
+Thron und Altar, um Euch zugleich auf das rücksichtsloseste auszubeuten
+und zu knechten --;« wie auf Windesflügeln durcheilten diese seine
+Worte, die er an eine Deputation von Arbeitern gerichtet hatte, das
+Reich, denn jeder Sozialdemokrat trug sie weiter. Und lauter, immer
+lauter wurde der Groll: »Wer anders beutet uns aus als die Zollwucherer,
+die uns das Fleisch vom Tisch nehmen und das Brot verteuern? Wer anders
+knechtet uns als die Stützen von Thron und Altar, die das Joch der
+Fronarbeit auf unsere Schultern laden?«
+
+Während die Folgen der schweren Krankheit mir die agitatorische
+Tätigkeit noch unmöglich machten, stand mein Mann schon mitten im
+Wahlkampf. Er kam jedesmal hoffnungsvoller wieder, denn an der neuen
+Aufgabe wuchs seine Energie. Ich benutzte die Stunden der
+Alleinherrschaft über unseren Schreibtisch zur Abfassung einer
+Agitationsbroschüre, in der ich die politische Situation vom Standpunkt
+der Frau aus beleuchtete. Für den kommenden Wahlkampf sollte sie die
+Arbeiterinnen aufklären, anfeuern, mit Waffen versehen. Das Häuflein
+ihrer offiziellen Vertreterinnen hatte mich zwar hinausgeworfen, aber
+Hunderttausende gab es, zu denen ich sprechen konnte.
+
+»Jetzt mache ich auch mit Lindner kurzen Prozeß,« sagte Heinrich eines
+Abends, als er eben von Frankfurt zurückkehrte. »Gehen wir aus dem
+Wahlkampf in der Stärke hervor, wie wir es hoffen dürfen, so treten die
+Aufgaben praktischer Politik mit zwingender Notwendigkeit an uns heran,
+und meine Zeitschrift hat einen Wirkungskreis ohnegleichen ...«
+
+Lindner kam. Mit Wünschen und Hoffnungen und ohne Entschlossenheit, wie
+immer.
+
+»Sie haben mich lange genug genarrt,« fuhr ihn Heinrich an; »im
+Vertrauen auf Sie habe ich gewartet und immer wieder gewartet. Nun aber
+verlange ich ein Ja oder Nein.«
+
+Lindners schmale Gestalt sank förmlich in sich selbst zusammen. Halb
+verlegen, halb gekränkt versprach er eine rasche Entscheidung.
+
+»Wie kannst du nur!« rief ich, als die Türe sich hinter ihm schloß. »Nun
+wird er ganz gewiß zurücktreten!«
+
+»Und wenn schon!« lachte Heinrich fröhlich, »glaubst du, die Zeitschrift
+hinge von ihm allein ab?«
+
+Drei Tage später war der Vertrag abgeschlossen, die Zeitschrift
+gesichert. Lindner schien umgewandelt; die Aufgabe, die er vor sich sah,
+wirkte auf ihn wie Morphium auf Hysterische: sie gab ihm Kraft,
+Tatendurst, Selbstbewußtsein.
+
+»Nun fehlt nur noch die notarielle Beglaubigung,« sagte er, nachdem er
+seinen Namen unter das Schriftstück gesetzt hatte, »und morgen kann die
+Arbeit losgehen!«
+
+Mein Mann legte ihm die Hand mit einer bevormundenden Bewegung auf den
+Arm: »Arbeiten müssen wir tüchtig, alle drei, aber über den geeigneten
+Zeitpunkt des Erscheinens wollen wir noch andere hören. Und eine
+notarielle Beglaubigung?« -- Er lachte -- »Ich denke, solche Scherze
+schenken wir uns. Unser Wort genügt, auch wenn wir es nicht schriftlich
+gegeben hätten.«
+
+An einem der nächsten Abende folgten die Führer der Revisionisten
+unserer Einladung. Wie zu einem Feste hatte ich unser Zimmer geschmückt
+und unsere Tafel bereitet. Und festlich war mir zumute, -- wie den
+Soldaten nach der Kriegserklärung. Die frankfurter Fahne fiel mir ein,
+die eingerollt im Winkel stand, -- eine im Sturme immer voran flatternde
+sollte unsere Zeitschrift werden!
+
+Unsere Gäste gratulierten uns, -- aber sie hatten doch viel Bedenken, ob
+unser Plan durchführbar sei. Sie anerkannten die Wichtigkeit der
+Aufgabe, die wir uns gestellt hatten, -- aber an der Stärke der Wirkung
+zweifelten sie. Ihre rege Mitarbeit versprachen alle, -- aber ohne den
+Enthusiasmus für die Sache, den ich erwartet hatte. Der Name der
+Zeitschrift wurde bestimmt: Die Neue Gesellschaft; die Zeit ihres
+Erscheinens wurde festgesetzt: nach den Wahlen, nach dem Parteitag. --
+Es war eine nützliche und verständige Besprechung, die wir hatten, aber
+wir feierten kein Fest. Die vielen Blumen auf meinem Tisch taten mir
+leid.
+
+Was ich schon oft empfunden hatte, das verstärkte sich jetzt: der
+Revisionismus besaß den Verstand und die Einsicht des Alters, das Feuer
+der Jugend war ihm jedoch darüber verloren gegangen. Wer aber die
+Zukunft erobern will, der muß es erhalten, muß es mit seiner Liebe,
+seinem Haß, seiner Hoffnung nähren, damit es weithin leuchtet und wärmt,
+und die Fackeln derer, die ihm folgen, sich daran entzünden können.
+
+ * * * * *
+
+An einem frühen Märzmorgen des Jahres 1903 war ich zu meiner ersten
+Wahlagitation von Berlin weggefahren, das grau und grämlich, jenseits
+aller Jahreszeit, den Schlaf noch in den Augen hatte. In Gusow verließ
+ich den Zug. Auf dem Bahnsteig stand ein Mann, die Schirmmütze keck auf
+ein Ohr gezogen, eine Nummer unserer märkischen Parteizeitung in der
+Hand -- unser Erkennungszeichen. Er lachte mich fröhlich an.
+
+»Ich bin der Jenosse Merten,« sagte er. »So was war noch nich da in
+Jusow und Platkow. Alles, aber auch alles lauert auf Ihnen --«
+
+Wir stiegen in ein klappriges Wägelchen und fuhren zwischen Weiden und
+Erlen die Straße hinauf. Überrascht sah ich um mich. Ich hatte es gar
+nicht gewußt, daß es schon Frühling geworden war!
+
+»Welch eine Luft!« sagte ich mit tiefen Atemzügen.
+
+»Nich war, jut ist sie!« antwortete mein Begleiter mit einem Stolz, als
+wäre sie sein eigenstes Werk. »Wenn die nich wäre, wir gingen längst auf
+und davon. Aber wenn wir -- meine Kollegen und ich -- Sonnabends von der
+Arbeet aus Berlin nach Hause fahren und unsere Kinder kommen uns
+entgegen, nich so blaß und dünn wie die berliner Jöhren, und wir können
+im Jarten in der Laube sitzen, an unserem eigenen Jemüse rumpusseln und
+an unseren Obstbäumen, -- dann vergessen wir gern die Plackerei der
+ganzen Woche.« Wir begegneten vielen Fußgängern. Er grüßte nach rechts
+und links. »Kommst du ooch nach Platkow?« redete er sie an.
+
+»Jawoll --« »Natierlich,« riefen sie.
+
+»Sind das alles Maurer? fragte ich.
+
+»Wo denken Sie hin,« antwortete er, »da sind Landarbeeter mang, sogar
+Bauern. Heute kommt alles zu uns. Die haben ja nie in ihrem Leben 'ne
+Frau reden jehört.«
+
+Mitten auf der Straße, wo die Aussicht am freiesten war, ließ er den
+kräftigen Braunen halten.
+
+»Das ist das Oderbruch,« erklärte er und wies nach links, wo sich das
+Land weit, endlos weit in der Ferne verlor, und darauf verstreut, wie
+Spielzeug, zwischen knorrigen Bäumen, rotbedachte Häuschen und Kirchen
+mit breiten Türmen hervorsahen. Blaßblau, wie von durchsichtigem
+Kristall, wölbte sich die Himmelsglocke über der Ebene. Aus den dunkeln
+Ackerfurchen stieg lebenverkündend ein würziger Geruch. Vergessene
+Geschichten fielen mir ein: vom alten Fritz, der dies fruchtbare Land
+dem Wasser abgetrotzt hatte, von all den märkischen Junkern, den
+Itzenplitz, den Marwitz, den Finkenstein, die hier ringsum seit
+Generationen die Herren waren. Mein Begleiter zeigte nach rechts, wo der
+Boden sich hob und Wälder den Horizont begrenzten.
+
+»Hier oben sind die Rittergüter, da sitzen lauter Agrarier, -- unsere
+ärgsten Feinde,« erzählte er. »Die sind schlau gewesen, von Anfang an.
+Haben sich die guten Stellen gesichert, wo das Wasser sie nicht
+erreichen konnte; während die Bauern unten alljährlich drauf gefaßt sein
+mußten, daß es ihre arme Kate davontrug. Sie kennen doch die Jeschichte,
+die unsere Kinder in der Schule lernen müssen: 'Hier habe ich in Frieden
+eine Provinz erobert,' soll König Friedrich gesagt haben, als er mal
+hier in die Jegend kam. So'n Mumpitz! Als ob es nich arme Luders wie wir
+gewesen wären, die die Kanäle gruben und die Dämme aufwarfen!«
+
+»Aber den Gedanken hat doch der König gehabt,« meinte ich.
+
+Ein mißtrauischer Blick streifte mich. »Für'n König mag das freilich
+ooch schon 'ne Anstrengung gewesen sein!« spottete er.
+
+Eine breite Kastanienallee führte in das Dorf Gusow. Einstöckige
+Häuser, mit weißen Vorhängen an blanken Fenstern, umgaben in weitem
+Bogen den Dorfteich, seitwärts öffnete sich der kiesbestreute Weg zum
+Schloß, dem einstigen Besitztum des alten Derfflinger, und zur Kirche,
+unter deren Altar seine Gebeine ruhten. Mein Begleiter sah nach der Uhr.
+
+»Was meinen Sie, wenn wir zu Fuß durch den Park gingen? Sie glauben
+nich, wie schön der ist!« Dabei bekam sein breites Gesicht einen fast
+schwärmerischen Ausdruck.
+
+An dem stillen Schloß vorbei betraten wir den Park. Weite Rasenflächen
+dehnten sich vor der Terrasse, mit einem lichten Schimmer jungen Grüns
+überzogen. Zu Füßen uralter Eichen, die schwarz gegen den hellen Himmel
+standen, guckten Schneeglöckchen neugierig aus der Erde hervor und
+Krokusblüten schlugen verwundert ihre blauen Augen auf. Ein schmaler
+Pfad wand sich zwischen hohem Gebüsch, das plötzlich zur Seite wich, um
+dem Wunder fremdartig märchenhafter Bäume Platz zu machen; grau
+schimmerten ihre Stämme wie Granit, und graue Wurzeln krochen knorrig
+über das dunkle Moos des Bodens.
+
+»Zedern sind es,« sagte mein Begleiter, »Zedern vom Libanon;« und
+blickte bewundernd auf den Traum des Südens. Über uns in den Kronen der
+Bäume brauste der Frühlingssturm. Nach seiner Melodie wiegten sich
+schlanke Birken, und krachend splitterten von Eichen und Linden die
+dürren Äste.
+
+Mein Begleiter kannte jeden Platz im Park und jede Pflanze, -- mit
+scheuer Zärtlichkeit strichen seine rissigen Hände über die ersten
+kleinen Knöspchen an den Sträuchern.
+
+»Daß Sie in der Stadt arbeiten, wo Sie das Land so lieben!« staunte ich.
+
+Er schüttelte sich: »Landarbeeter?! Nee! Das is nischt for unsereens!«
+
+Wir näherten uns Platkow, dem nahen Ziel unserer Fahrt.
+
+»Sehen Se mal hier die wackeligen Buden an,« sagte Merten, »Strohdächer,
+-- Fenster, wie Mauselöcher, Türen, daß sich ein ordentlicher Mann
+bücken muß, -- wahrscheinlich, damit man's nich verlernt! Nischt als
+Leisetreter gab's hier, die die Mütze bis auf die Erde zogen, wenn die
+herrschaftliche Kutsche sie mit Dreck bespritzte! Aber nu wird's anders,
+sage ich Ihnen, janz anders --« dabei strahlte er förmlich -- »sehen Sie
+dort, das Weiße, das ist unser Gewerkschaftshaus!«
+
+Mitten in diesem agrarischen Winkel, der der Agitation der Partei so gut
+wie unzugänglich gewesen war, weil kein Lokal ihren Versammlungen zur
+Verfügung stand, hatten die Bauarbeiter sich ihr eigenes Haus errichtet.
+Die Ortspolizei verweigerte ihnen zwar die Schankkonzession, aber sie
+hatten ein Dach über dem Kopf, einen freien Raum zu freier Rede.
+
+»Sie hätten die Bauern sehen sollen, wie unser Haus eins -- zwei --
+drei, haste nich jesehn! aus der Sandkule herauswuchs!« erzählte Merten.
+»Wir hatten ja nur Sonntags Zeit zur Arbeet, aber die Steene flogen man
+so. An eenem Sonntag in aller Frühe, als sie nach Jusow zur Kirche
+fuhren, fingen wir zu buddeln an, und als sie nach dem letzten Amen
+wieder vorbeikamen, sahen die Mauern schon aus der Erde!«
+
+Der Wagen hielt. Der ganze Platz stand voll Menschen. Sie schoben sich
+hinter mir in den kleinen Saal; auf den Bänken an den Wänden saßen schon
+die Frauen mit heißen Gesichtern.
+
+Ich sprach vom Sturm, der draußen den Staub von den Dächern fegte und
+alles Morsche zu Boden riß. Und von dem Sturm des Sozialismus. Ich
+schilderte die politische Lage Deutschlands und zählte die Sünden der
+Regierung und der Reichstagsmehrheit auf vom Zuchthauskurs bis zum
+Zollraub, ich erzählte von den Milliarden, die dem armen Mann in Gestalt
+von indirekten Steuern, Zöllen und Liebesgaben aus dem schmalen Beutel
+gezogen werden, während sein Weib daheim im kleinen Haushalt seufzend
+mit jedem Pfennig rechnen muß. An der Hand der Untersuchungen
+bürgerlicher Gelehrter wies ich nach, wie die Verteuerung der
+Lebensmittel auf die Steigerung des Alkoholismus, der Kriminalität, der
+Lungentuberkulose wirkt. Ich zog die ärztlichen Forschungen heran, um zu
+zeigen, wie ganze Volkskreise entarten, wenn die Ernährung eine
+unzureichende ist: »Schwächerer Wille, schneller versagende
+Aufmerksamkeit, raschere Erschöpfung sind die Folgen einer Politik, die
+das Wohl des Volks, die Liebe zum Vaterland ständig im Munde führt, in
+der Tat aber die Leistungsfähigkeit der Arbeiter untergräbt, und unsere
+Stellung auf dem Weltmarkt erschüttert. Die wirtschaftliche Krise, unter
+der wir alle leiden, die Zunahme der Arbeitslosigkeit mit ihrem Gefolge
+von Kinderjammer und Frauenausbeutung sind ein Beweis dafür. Keine
+'gepanzerte Faust' kann uns davor retten ... Einmal im Laufe von fünf
+Jahren ist es jedem Deutschen vergönnt, Urteil zu sprechen über die, die
+sein Schicksal sind. Des Volkes Not und Unterdrückung liegt auf der
+einen Schale der Wage, des Volkes Glück und Freiheit auf der anderen.
+Wir, die 'Vaterlandslosen', wir, die 'Elenden', wir, die 'Rotte von
+Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen', machen unser Urteil
+davon abhängig, welche Seite der Wage schwerer wiegt ...«
+
+Man hatte mir bewegungslos zugehört, die Frauen, mit den Händen gefaltet
+im Schoß, die Männer, ohne den Blick von mir zu wenden. Nur hie und da
+sah ich ein zustimmendes Nicken. Das Volk dieser kargen Erde trug sein
+Herz nicht auf den Lippen und wußte nichts von der Reaktion
+empfindlicher Nerven, worin oft der ganze Beifall des Städters besteht.
+Aber nachher, als ich nicht mehr über ihnen stand, ging ein Fragen und
+Erzählen an, das mehr als jedes Händeklatschen bewies, wie jedes Wort
+vom durstenden Boden ihres Innern aufgenommen worden war. Freilich: im
+engsten Kreise eigenen Lebens drehten sich ihre Interessen, aber ein
+jeder umschloß das große Leid der Welt.
+
+Ich wurde in Arbeiterhäuser geführt: so klein, so arm, so eng. »Und hier
+is doch so ville Sand, auf dem jut noch zehn Häuser stehen könnten!«
+
+Sie zeigten mir das Armenhaus: in einem winzigen Raum hauste ein uraltes
+Paar mit vier kleinen Enkelkindern. Das einzige Bett nahm fast die
+Hälfte der Stube ein.
+
+»Immer, von kleen auf, haben wir hier uf'n Jut jearbeetet,« sagte der
+Mann, eine zusammengeschrumpfte Gestalt mit einem kleinen braunen
+Gesicht wie eine Wurzelknolle, »nu essen wir's Jnadenbrot --,« dabei
+kicherte er halb verlegen, halb höhnisch. »Det Schloß aber, det hat woll
+an die fufzich leere Zimmer ...«
+
+Wir gingen durch das nachtdunkle Dorf zum Bahnhof. Einer, der jüngste
+der Schar, begann mit heller Stimme zu singen. Allmählich fielen die
+anderen ein. Die Türen der Häuser, an denen wir vorüberkamen, öffneten
+sich. Einige der Bewohner traten neugierig bis zur Schwelle. Andere
+lockte das Lied und die feuchtwarme Märznacht, -- sie folgten uns. Und
+so ging es im Takt auf die Straße hinaus und immer, immer länger wurde
+der Zug singender Menschen.
+
+ »Wir hämmern jung das alte morsche Ding, den Staat,
+ Die wir von Gottes Zorne sind, -- das Proletariat -- das Proletariat --«
+
+klang es schmetternd hin über das schlafende Bruch.
+
+Allmählich, je mehr ich dem Land und seinen Bewohnern nähertrat, gewann
+ich es lieb, und die weite Ebene enthüllte mir all ihre verborgene
+Schönheit, und die Menschen ihr weiches, trotziges Herz. Sie fühlten
+noch nicht die Distanz zwischen sich und mir, darum begegnete mir
+nirgends Neid oder Mißtrauen. Fingen sie doch kaum an, das
+Allerhandgreiflichste zu empfinden: wie etwa den Gegensatz ihrer Hütte
+zum Herrschaftsschloß. Und gerade an diesem Punkt ihres Wesens sah ich,
+wo ich eingreifen mußte.
+
+»Wer andere Zustände schaffen soll, muß doch erst den Druck der eigenen
+empfinden lernen,« sagte ich zu Romberg, der mir meine agitatorische
+Tätigkeit durchaus verleiden wollte.
+
+»Ich kann Sie mir nun einmal nicht vorstellen, in einer Dorfkneipe
+Unzufriedenheit predigend,« antwortete er ärgerlich.
+
+»So überzeugen Sie sich durch eignen Augenschein, daß ich es kann,«
+meinte ich. Auf meiner nächsten Fahrt kam er mit. Diesmal war es ein
+Leiterwagen, der uns in strömendem Regen über aufgeweichte Landwege nach
+einem kleinen Dörfchen fuhr, Lehmannshöfel mit Namen.
+
+»Wie wird's mit unserer Versammlung bei dem Wetter?« fragte ich den
+alten Genossen, der uns an der Bahn empfangen hatte.
+
+»Jut, -- sehr jut,« entgegnete er. »Was unser oller Pfarrer is, der hat
+vorichte Woche die Weiber ufjehetzt. Sie sollten man bloß nich in die
+Versammlung jehn, hat er jesagt, so wat jinge sie jar nischt an, am
+wenichsten, wenn 'ne Frau reden tut, die lieber zu Haus det Mittagbrot
+kochen und mit die Kinder beten sollte. Nu können Se sich denken, daß se
+justament in die Versammlung jehn. Proppenvoll war's schonst heut
+morjen.«
+
+Radfahrer begegneten uns, von oben bis unten bespritzt, Fußgänger mit
+aufgeweichten Sohlen, denen das Wasser von der Mütze tropfte. Wir luden
+auf, so viel der Wagen fassen konnte. Seit dem Morgengrauen hatten sie
+Flugblätter ausgetragen. Voll guten Humors erzählten sie ihre Abenteuer.
+Auf manchem Hof hatten sie über Zäune klettern müssen, weil das Tor vor
+ihnen verschlossen wurde; der eine war als reisender Handwerksbursche
+bis in die Gesindestuben der Rittergüter vorgedrungen, der andere hatte
+mit demütigem Gesicht, als wär's ein Traktätchen, den Kirchgängern die
+Zettel in die Hand gedrückt; im Vorübersausen hatte der Radler sie
+geschickt durch offene Türen und Fenster geworfen.
+
+In der Wirtsstube von Lehmannshöfel glühte der eiserne Ofen. Nasse
+Mäntel und Stiefel trockneten daran. Tabaksqualm zog in schweren
+Schwaden an der niedrigen Decke. Mein Platz war mit Kiefernzweigen
+umwunden. Vor mir auf dem Tisch standen rechts und links zwei
+Blumensträuße in flachen weißen Papiermanschetten.
+
+»Von den Tagelöhnerinnen aufs Jut --,« erklärte dunkel errötend ein
+junges Mädchen, das als letzten Rest der alten Tracht die strohblonden
+Flechten unter dem schwarzseidenen Kopftuch verborgen hatte. Wie in der
+Kirche saßen die Leute vor mir: rechts die Männer, links die Frauen, --
+lauter Gesichter, in die kein anderer Gedanke als der an die nächste Not
+des Daseins seine Zeichen gegraben hatte. Noch nie war eine Versammlung
+hier gewesen. Ob ich den Ton finden würde, der zu ihnen drang? Ich
+erzählte von ihrem eigenen Dasein, wie es in ewigem Gleichmaß
+dahinfließt, nach der alten eintönigen Melodie: Leben, um zu arbeiten,
+arbeiten, um wieder leben zu können. Wie Freude für sie nur ein kurzer
+Rausch ist mit bösem Erwachen -- ein Alkoholrausch, ein Liebesrausch --
+und die Sorgen allein sie nie verlassen. Wie die Welt voll Glanz und
+Schönheit ist; wie das größte und schönste, was die Menschheit in
+Jahrhunderten gedacht und empfunden, in Tausenden von Büchern und
+Statuen und Bildern aufbewahrt wurde für ihre Nachkommen. »Aber eine
+Mauer baute man ringsum, und nur wer den goldenen Zauberstab besitzt,
+dem öffnet sich die Pforte ...«
+
+Ein junger Mann, der ein bißchen stumpfsinnig vor mir gesessen hatte,
+sah plötzlich auf -- mit ein paar Augen, in deren Tiefe die Sehnsucht
+flammte.
+
+»Das Kind der armen Tagelöhnerin hat vielleicht die Seele eines
+Dichters, -- mit vierzehn Jahren schon muß es Kartoffeln buddeln und
+Rüben ziehen, und die Arbeit tritt mit ihren eisenbeschlagenen Füßen
+seine Seele tot ...«
+
+An der Tür drüben sah ich ein altes Mütterchen, das den weißen Kopf
+schluchzend in den knochigen Händen vergrub.
+
+»Für diese Welt ist Armut ein Verbrechen, das mit lebenslänglicher
+Zwangsarbeit bestraft wird ... Tränen darüber sind genug vergossen
+worden. Vor lauter Jammern haben wir das Handeln vergessen. Von der
+Kanzel herab haben sie gepredigt, daß die Ergebung in das Geschick eine
+Tugend ist. Ich sage Euch, sie ist ein Laster. Denn an all dem Elend in
+der Welt sind wir schuld, -- wir mit unserer Demut, unserer
+Unterwürfigkeit, unserer Trägheit ... Jeder Blick in das bleiche
+Gesichtchen ihres Lieblings, jede jammernde Bitte um Nahrung sollte der
+Frau nicht Tränen fruchtlosen Leids erpressen, sondern sie anspornen,
+ihrem Kind die Zukunft erobern zu helfen ... Wo die Mutter unfrei und
+furchtsam ist, wächst ein Geschlecht von Knechten mit knechtischer
+Gesinnung empor, und der Wert einer Mutter wird in Zukunft nicht blos
+daran gemessen werden, ob sie ihre Kinder gewaschen, gekleidet und
+genährt hat, sondern ob sie sie zu Kämpfern erzog und ihnen mit dem
+Vorbild tatkräftiger Begeisterung voranging.«
+
+An Beispielen des täglichen Lebens suchte ich ihnen klar zu machen, wie
+jeder Einzelne, auch der Bescheidenste, an dem großen Befreiungsfeldzug
+des Sozialismus teilnehmen kann, wie er nie zum Ziele führen würde ohne
+die Arbeit des einzelnen. Mir war, als hörte ich die Atemzüge der
+Menschen vor mir und ihre Seufzer. O, daß ich sie doch ins Herz
+getroffen hätte!
+
+Feuchte Nebel hingen wie lange Trauerschleier über den Feldern. Wir
+fuhren stumm zurück. Frostgeschüttelt lehnte ich mich in die Kissen, als
+wir endlich den Zug nach Berlin bestiegen hatten.
+
+»Wie Sie das verantworten können!« brach Romberg los, der bis dahin kein
+Wort gesprochen und den armen Leuten, zwischen denen er gesessen hatte,
+sein Unbehagen so deutlich fühlen ließ, daß ich schon bedauerte, ihn
+mitgenommen zu haben. Jetzt fuhr ich aus dem Halbschlaf auf.
+
+»Ich verstehe Sie nicht!« sagte ich.
+
+»Um so schlimmer!« rief er. »Sie nehmen diesen Menschen das einzige, was
+sie besitzen, was ihnen das Leben erträglich machte: ihre Unwissenheit,
+ihren Stumpfsinn, -- ohne ihnen irgend etwas dafür geben zu können.«
+
+»Wie, das Erwachen aus der Lethargie wäre nichts?!« entgegnete ich
+heftig. »Sich durch die Teilnahme an dem Befreiungswerk der
+Klassengenossen über sich selbst und sein kleines Schicksal
+hinauszuheben, -- das wäre nichts?! Von Ihnen hörte ich zuerst das Wort
+von der Politik der Starken. Das ist mein Leitmotiv. Ohne die
+Disharmonien des aufwühlenden Schmerzes, ohne die Grausamkeit der
+Erkenntnis gibt es nicht den starken Akkord ihrer Lösung.«
+
+»Und wie steht's mit denen, die daran zugrunde gehen?!«
+
+»Sie wären auch am Leben zugrunde gegangen!«
+
+Mit einem fremden Blick, der mir zu meinem eigenen Erstaunen wehe tat,
+streifte er mich.
+
+»Ist Weichheit und Schwäche auch für Sie noch ein Attribut der
+Weiblichkeit?« fragte ich, und das Herz klopfte mir, als fürchtete ich
+die Antwort.
+
+»Ich weiß selbst nicht recht --,« meinte er zögernd. »Aber daran soll
+unsere Freundschaft nicht Schiffbruch leiden.«
+
+»Haben Sie gar keine Zeit mehr für mich?« fing er nach einer Pause
+wieder zu sprechen an, als der Zug sich Berlin schon näherte. Ich sah
+auf. »Ich möchte, daß Sie wenigstens zwischendurch wieder ein
+Kulturmensch werden!«
+
+Ohne rechte Lust, nur um ihn nicht wieder zu verletzen, versprach ich
+ihm, mich am nächsten Tag seiner Führung zur »Kultur« anzuvertrauen. Am
+Bahnhof empfing uns Heinrich, der eine Stunde früher aus einer anderen
+Gegend seines Wahlkreises zurückgekehrt war. Wir waren beide so erfüllt
+von unseren Erlebnissen, daß wir im Eifer des Erzählens Romberg fast
+vergaßen. Er verabschiedete sich steif und verstimmt.
+
+»Bildung und Politik sind für mich schwer vereinbare Begriffe --,« sagte
+er am nächsten Morgen, als wir zusammen in die Stadt gingen.
+
+»Sie scheinen einem Wechsel der Stimmungen unterworfen, der bisher nur
+einer Frau gestattet war,« entgegnete ich ärgerlich. »Es ist noch nicht
+lange her, daß Sie mit einer Begeisterung, die ich nicht vergessen
+habe, die Sozialdemokratie als die bedeutsamste Erscheinung der Zeit
+feierten.«
+
+Er lächelte. »Frauenlogik! Es tut mir ordentlich wohl, diesen weiblichen
+Zug bei Ihnen zu finden! Was hat mein Urteil über den Klassenkampf des
+Proletariats mit meiner Meinung über die Beteiligung des Gebildeten an
+der Politik zu tun?! Wir sollten um höhere Werte ringen --«
+
+»Gibt es höhere, als die Befreiung der Menschheit von all den Fesseln,
+die sie an die Erde schmieden und ihren Höhenflug hemmen?!« unterbrach
+ich ihn erregt.
+
+»Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, -- die alte Parole, unter der
+schon die Bastille gestürmt wurde,« entgegnete er mit spöttischem
+Lächeln; »fügen Sie noch das Ideal des Christentums, -- die
+selbstentsagende Nächstenliebe hinzu, so beweist das alles, wie
+unsäglich arm eine Zeit sein muß, die selbst einer so gewaltigen
+Bewegung wie der des Proletariats keine neuen Ideale hat schaffen
+können.«
+
+Seine Worte begegneten einem noch unklaren Empfinden, das ich um so
+energischer zu unterdrücken gesucht hatte, als mir die Wege dunkel
+erschienen waren, zu denen es hätte führen können.
+
+Wir traten in den modernsten Kunstsalon Berlins. Der Holzbogen der
+Eingangshalle, der in seinen geschwungenen Linien alle Sprödigkeit des
+Materials siegreich überwunden hatte, empfing mit weit ausgebreiteten
+Armen die Besucher. In hellen Vitrinen, durch unsichtbare Lichtspender
+von innen strahlend, lagen auf grauem Samt Gürtel, Schnallen, Armreifen
+und Diademe; Vogelgefieder und Schmetterlingsflügel aus durchsichtigem
+Email vereinten sich mit dunklem Gold, mattem Silber; Perlen in
+phantastischen Formen standen neben Edelsteinen von unerhörter
+Farbenpracht --
+
+»Ein Schmuck für Märchenprinzessinnen, von einem Dichter geschaffen,«
+sagte Romberg bewundernd und versenkte sich in den Anblick. Er mochte
+weißer Arme gedenken und schimmernder Nacken und holder Frauenköpfe mit
+lachenden Lippen und duftenden Locken. In meinen Augen aber hafteten
+andere Bilder: rissige Hände, gebeugte Rücken, sorgendurchfurchte
+Gesichter --, ich wandte mich ab, im Innersten verletzt.
+
+Der nächste Raum war voll sanften Lichtes und tiefer, weicher Sessel.
+
+»Wie wohltuend, wie ruhig!« meinte jemand. »Eine schöne alte Frau mit
+sehr weißen stillen Händen müßte ihren Lebensabend hier verträumen.«
+Aber die Armenstube von Platkow sah ich vor mir.
+
+Vor ein großes Bild traten wir dann: auf weichem, blumendurchwirktem
+Rasenteppich, der sich im stillen Wald verlor und zärtlich eine Quelle
+umgab, die diesen Frieden mit keinem Plätscherlaut stören mochte, kniete
+ein Jüngling, den dunkeln Dantekopf andachtsvoll zu der Jungfrau
+erhoben. Aus der Säulenhalle des Tempels tretend, krönte sie ihn; lange,
+schmale, durchsichtig bleiche Finger hielten den Kranz. Mädchen, so
+schlank und hoheitsvoll wie sie, standen zur Seite. Und das alles
+leuchtete in mystischem Blau, in trunkenem Purpur, in sattem Grün, --
+weitab allen grauen Tönen der Wirklichkeit. Fast nahm die fremde
+Wunderwelt mich schon gefangen. Da tauchte der sturmdurchpeitschte Park
+vor mir auf und der rauhe Mann, der mit harten Arbeitshänden zärtlich
+die kleinen Knospen streichelte. Ich war sehr einsilbig.
+
+Wir beschlossen den Tag im Theater, wo Maeterlincks Pelleas und
+Melisande unter der Direktion eines jungen Revolutionärs der Bühne zur
+Aufführung kam. Böcklins Landschaften schienen lebendig geworden:
+
+Der Zauberwald und die Felsen, die finsteren Schloßtürme und der weiße
+Marmorbrunnen verschmolzen mit den schwebenden Gestalten, dem
+Sonnenglanz und dem Mondlicht zum reinen Rhythmus bewegter Kunst.
+
+Die lärmende Straße draußen zerstörte den Traum. Mit schmerzhafter
+Klarheit empfand ich die gähnende Kluft zwischen all der ästhetischen
+Kultur, die um uns her zu blühen begann, und dem Leben, dem Denken und
+Wünschen der Millionen, die erst anfingen, um die Befriedigung
+ursprünglichster Triebe zu kämpfen. Rombergs Gedanken begegneten den
+meinen.
+
+»Fühlen Sie nicht selbst, wie weltenfern Sie denen stehen, deren ganzes
+Bedürfen in etwas mehr Zeit, etwas mehr Brot gipfelt?« sagte er. »Sie
+müssen Ihre Sinne, Ihre Nerven, an deren subtiler Verfeinerung
+Generationen arbeiteten, gewaltsam abstumpfen, um ihr Sprachrohr werden
+zu können.«
+
+Meine ganze Freudigkeit kehrte mir wieder.
+
+»Wie eng Sie denken!« lachte ich. »Nicht abstumpfen, steigern muß ich
+meine Empfänglichkeit, damit ich immer weiß, wie groß das Entbehren ist
+und wie ungeheuer der Gewinn unseres Kampfes.«
+
+»Machen Sie sich denn gar nicht klar, daß, wenn die Masse erreichen
+sollte, was Sie heute haben, Sie und Ihresgleichen ihr wieder um
+tausend Jahre voran sind?!« sagte Romberg. »So wird die Kluft bleiben,
+-- immer bleiben, und die Gleichheit ist eine Chimäre.«
+
+»Ich fordere auch nur die Gleichheit der Lebensbedingungen; wie der Baum
+aus diesem Boden wächst, darüber entscheidet seine eigene Kraft,«
+antwortete ich.
+
+Wir brachen ein Gespräch ab, das uns nur voneinander entfernen mußte.
+Aber einen Gedanken hatte es wachgerufen, der sich von nun an nicht mehr
+einschläfern ließ. Wenn er mich quälte und ich ihn abschütteln wollte,
+so bohrte er sich nur noch tiefer in Hirn und Herz. Hörbarer, als da die
+Völker wanderten, um sich neuen Heimatboden zu erobern, dröhnte die Erde
+unter den Tritten der Millionen, die sich in Bewegung gesetzt hatten, um
+dem Elend zu entfliehen. Aber ihrem Wollen fehlte die einheitliche
+Formel. Im Dreigestirn der Revolutionsideale lag sie nicht. Und was Marx
+ihnen gegeben hatte, das waren wissenschaftliche Erklärungen über die
+Art, das Tempo und das Ziel der Bewegung gewesen, die nur so lange über
+den Mangel hinwegtäuschen konnten, als sie unerschüttert waren.
+
+Ein Ereignis bestärkte mich in meiner Idee. Mitten im Wahlkampf, der all
+unsere Kräfte auf ein Ziel, -- die Niederwerfung des Gegners, -- hätte
+konzentrieren müssen, entspann sich ein wüster Krieg zwischen den
+Parteigenossen selbst. Er wäre unmöglich gewesen, wenn nicht jenes
+Fehlen der inneren Einheit gegenseitiges Mißtrauen zur Folge haben
+mußte. Was der eine ruhigen Gewissens tat oder ließ, das erschien dem
+anderen als ein Verstoß gegen die Partei.
+
+Ein halbes Dutzend Parteigenossen, -- ich gehörte zu ihnen, -- hatten
+seit Jahr und Tag an einer bürgerlichen Wochenschrift mitgearbeitet, die
+eine Tribüne war, auf der alle Richtungen ungehindert zu Worte kamen.
+Die literarischen und künstlerischen Kritiken, die ich darin
+veröffentlicht hatte, -- Augenblicksarbeiten, denen ich gar kein
+längeres als ein Augenblicksinteresse beimaß, -- hatten oft weniger dem
+Bedürfnis nach Aussprache, als dem Erwerbszwang ihr Entstehen zu
+verdanken. Die Parteipresse stand mir nur selten zur Verfügung, und um
+so seltener, je mehr ich des Revisionismus verdächtig war. In ähnlicher
+Lage wie ich waren die meisten derer, die mit mir 'gesündigt' hatten.
+Zwei von ihnen standen als Reichstagskandidaten im heftigsten Feuer der
+Wahlkampagne. Aber das hinderte einige radikale Wortführer nicht, uns in
+breitester Öffentlichkeit als Schleppenträger der gegnerischen Presse zu
+verdächtigen.
+
+Kaum hatte ich den betreffenden Artikel gelesen, als ich schon am
+Schreibtisch saß, um uns dagegen zu verteidigen. Die Ansicht, daß wir
+jede Tribüne benützen müssen, von der aus wir gehört werden können,
+hatte sich in mir seit der Zeit, wo ich sie, von Wanda Orbin beeinflußt,
+angesichts des Frauenkongresses verleugnet hatte, nur befestigt. Unsere
+Presse, unsere Versammlungsreden erreichten immer nur dieselben Kreise,
+und abseits standen Hunderttausende, die uns nur aus den Darstellungen
+der Gegner kennen lernten. Ich legte meine Erklärung den Mitbetroffenen
+vor. Sie sollte in derselben Zeitung erscheinen, die uns angegriffen
+hatte. Ich wurde daran verhindert; man wünschte die Ausdehnung des
+Zwists zu vermeiden, indem man die öffentliche Antwort, wie ich sie
+beabsichtigt hatte, in eine Zuschrift an den Parteivorstand verwandelte.
+Dieser aber sah sich nicht mehr imstande, auf eine interne
+Auseinandersetzung einzugehen, -- die ganze Presse hatte sich schon der
+Sache bemächtigt, unsere politischen Gegner schlachteten sie gegen uns
+aus --, er veröffentlichte seine Entscheidung: kein Parteigenosse darf
+an einer Zeitschrift mitarbeiten, die die Sozialdemokratie in hämischer
+oder gehässiger Weise kritisiert. Die ganze Provinzpresse druckte
+natürlich die lapidaren Sätze des Vorstands ab. Wir waren gebrandmarkt
+vor den Genossen, in deren Mitte wir wirken sollten; den Gegnern waren
+die Waffen in die Hand geliefert, um uns vor ihnen zu diskreditieren.
+Darüber verging uns das Lachen, das im Grunde die richtigste Antwort
+gewesen wäre. Wir sahen in der Entscheidung, die es jedem Parteiführer
+an die Hand gab, mißliebige Blätter auf den Index zu setzen, einen
+weiteren Schritt zum Papismus, wir empörten uns, daß gerade diejenigen,
+die in der Partei in Amt und Brot waren, den freien Schriftstellern, die
+dem Verdienst nachgehen mußten, die Zugehörigkeit zur Partei unmöglich
+zu machen suchten, und eine ihrer Grundlagen schien uns in dem Angriff
+auf die Freiheit der Meinungsäußerung verletzt. Wir Überläufer aus der
+Bourgeoisie, die im Kampf gegen alle Autoritäten, -- die der Familie,
+der Bildung, der Religion, des Staats --, den Weg zur Sozialdemokratie
+gefunden hatten, wären die letzten gewesen, eine neue Autorität, -- die
+des Parteivorstands, -- anzuerkennen. Und mein Mann, der seine
+Frondeurnatur am wenigsten verleugnen konnte, wurde unser Wortführer
+gegen ihn: in einem geharnischten Artikel verteidigte er die Freiheit
+der Meinungsäußerung. Nun erst entbrannte der Kampf, der seit dem
+Münchener Parteitag schon im stillen die Geister erhitzt hatte, auf der
+ganzen Linie, -- mit all jener Bitterkeit, die entsteht, wenn Freunde zu
+Feinden werden.
+
+Im stillen fürchteten wir, was unsere politischen Gegner hofften: daß
+die Wahlen dadurch zu unserem Nachteil beeinflußt werden könnten.
+
+ * * * * *
+
+Am ersten Mai, dem Weltfeiertag der Arbeit, sollte ich in Frankfurt
+a. O. die Festrede halten. Mir war im Augenblick wenig festlich zumute:
+mit so viel Hoffnungsfreudigkeit hatte ich die Agitation begonnen, --
+sollte sie vergebens gewesen sein?! Sollte ich am Ende an ihrer
+Erfolglosigkeit mitschuldig sein, weil ich -- es klang wie der dumme
+Witz eines Possenreißers -- in einer bürgerliche Zeitschrift über Halbes
+Theaterstücke und Laura Marholms Frauenbücher geschrieben hatte?! Aber
+schon als der Zug die letzte berliner Bahnhofshalle verließ und statt
+der hohen grauen Häuser sich draußen Laube an Laube reihte, von dem
+ersten jungen Grün überhaucht, mit bunten Fähnchen lustig bewimpelt, und
+Menschen in Festtagskleidern auf der Chaussee zwischen den jungen
+Birken, die grüßend die grünen Schleier ihrer Äste bewegten, den
+Versammlungen entgegeneilten, in denen ihres Frühlingsglaubens
+Auferstehungsbotschaft gepredigt werden sollte, verschwanden all meine
+törichten kleinlichen Ängste. Was hatten die dogmatischen Zänkereien
+der Priester mit der Religion der Massen zu tun?
+
+Zwei kleine Mädchen empfingen mich am Bahnhof, mit blauen Bändern in den
+Zöpfchen und frisch gewaschenen weißen Kleidern, die sich um sie
+bauschten, so daß sie aussahen wie Riesenglockenblumen. Sie führten mich
+hinunter in die Stadt über den Platz mit seinen geharkten Wegen, seinen
+artigen Rasenfleckchen und den kleinen dürftigen Beeten darauf, an
+Häusern vorüber mit nüchternen Fassaden und ablehnend verhangenen
+Fensterscheiben. Die Glocke der Elektrischen wirkte hier wie
+erschreckender Lärm. Als wir aber um die Ecke bogen, wo die Kastanien
+über das holprige Pflaster schon breite Schatten warfen, da schien das
+Leben der träumenden Stadt erwacht: in Trupps zu vieren und fünfen, mit
+weißen und braunen und gelben Kinderwägelchen dazwischen, die Männer im
+Sonntagsrock, die Frauen mit nickenden Blumen auf hellen Hüten, so zogen
+sie durch die Straße. Und an jeder Gassenmündung gesellten sich andere
+hinzu, und wo die Gärten größer und die Häuser kleiner wurden, kamen
+Landleute mit Stulpenstiefeln, Mädchen mit Kopftüchern über die
+Feldwege. Alles grüßte einander mit dem Blick frohen Erkennens. Weit
+hinunter bis zu dem silbernen Band der Oder dehnten sich, von alten
+Weiden umrahmt, üppige Wiesen; in goldgelben Flecken, wie auf die Erde
+gebanntes Sonnenlicht, glänzten Butterblumen daraus hervor. Von der
+anderen Seite des Wegs, wo der Boden sich hob, nickten über
+Weißdornhecken rosig blühende Bäume; darüber klang der langgezogene
+Sehnsuchtston der Stare, das Kwiwitt der Rotkehlchen, das vielstimmige
+Zwitschern buntgefiederter Meisen.
+
+Nun hatten sich die Wandernden zu einem Zuge zusammengeschoben, und eins
+war ich mit ihnen. Aus dem Garten, durch dessen laubumwundene Pforte wir
+zogen, tönte Musik. Auf der Bühne der Festhalle, die wir betraten,
+warteten schon die Sänger. Ich stieg die Stufen hinauf. »... Ein Sohn
+des Volkes will ich sein und bleiben...« sang der Chor. Durch die hohen
+weit geöffneten Fenster strömte die Sonne in breiten Wogen; ihre
+Strahlen trugen den Duft des Frühlings mit herein und berührten all die
+braunen und blonden Scheitel der andächtig lauschenden Menge.
+
+Dicht unter der Bühne hatten sich die Kinder zusammengeschart, die
+kleinsten in ihren bunten Kleidchen, wie ein Beet farbenfroher
+Sommerblumen, am weitesten nach vorn. Ein kecker kleiner Kerl war bis
+auf die Rampe geklettert, ein strohblondes Mädchen schmiegte sich
+schüchtern an sein Knie, und die beiden Augenpaare -- ein schwarzes und
+ein blaues -- hingen an mir wie eine große verwunderte Frage.
+
+Sehr feierlich war mir zumute, als stünde ich, ein geweihter Priester,
+zum erstenmal auf der Kanzel. Aber es war nicht die Religion der Liebe,
+die ich predigte, -- jener Liebe, die den Haß der Welt in sich trägt, es
+war nicht die ewige Seligkeit, die ich verkündigte, -- jene Seligkeit,
+in die nur Eingang findet, wer zu kriechen und den Kopf zu bücken
+gelernt hat. Was als unklare Empfindung in den Herzen unserer Väter
+lebte, die die Sonne anbeteten, deren Feste Sonnwendfeiern waren, die
+dem steigenden Licht im Lenz die Neugeborenen weihten, -- das ist die
+Grundlage unserer Religion. Nicht wer am nachhaltigsten seine Sinne
+abtötet, sondern wessen Augen am klarsten sind, wessen Ohr am
+feinhörigsten ist, um alle Schönheit der Welt in sich aufzunehmen, der
+ist der Heiligste unter uns. Und ein Anrecht auf unser Himmelreich
+gewinnt nicht, wer leidet und duldet, sondern wer handelt und genießt.
+Dulden und leiden kann jeder, aber nur der Sohn einer reifen Kultur
+vermag zu genießen, nur der Wissende handelt.
+
+»Wenn sich die Arbeiter der ganzen Welt Jahr um Jahr in der Forderung
+des Achtstundentages zu diesem Frühlingsfest vereinigen, so tun sie es,
+weil sie wissen, daß sie damit ihre Menschwerdung fordern. Zeit ist die
+Voraussetzung für Wissen und Genuß ...«
+
+Halb enttäuscht, halb erwartungsvoll sahen die Frageaugen der Kinder
+noch immer zu mir empor. Mit demselben Ausdruck bettelte mein eigen Kind
+um eine Geschichte, wenn wir im Walde gingen, wo die Bäume und die
+Blumen ihm noch stumm waren. Auch diese Kleinen hier sollten nicht
+vergebens warten: von den Bettelkindern erzählt' ich ihnen, die
+auszogen, ihre verlorenen Königskronen wiederzufinden ...
+
+Draußen im Garten kamen sie dann alle und dankten mir. Die Kinder hatten
+die Fäustchen voll Wiesenblumen und legten sie mir in den Schoß. Die
+Alten luden mich an ihren Tisch. Sie wußten nicht, daß ich ihnen zu
+danken hatte. Ich war wieder stark und froh, ich hatte in ihnen die Erde
+berührt, die kraftspendende.
+
+ * * * * *
+
+Der Tag der Entscheidung rückte näher. Immer leidenschaftlicher wurden
+die Angriffe unserer Gegner in ihrer Presse, in ihren Flugblättern. Mit
+dem alten Märchen vom gewaltsamen Teilen suchten sie den Bauern, der an
+seiner Scholle hängt, den kleinen Handwerker, der sich an den kläglichen
+Rest seiner Selbständigkeit klammert, in ihre Gefolgschaft zu fesseln.
+Mit der Autorität des Kaisers stützten sie ihre Angriffe auf die
+sozialistischen Agitatoren.
+
+»Zerreißt das Tischtuch zwischen Euch und jenen Leuten,« -- dieses
+kaiserliche Wort machten sie zu ihrem Schlachtruf. Weite Kreise des
+Volkes, denen der Thron noch so heilig war wie der Altar, scharte er
+unter ihre Fahnen, aber größere noch, empört über die Stellungnahme des
+Staatsoberhaupts im Kampf der Parteien, trieb er zu uns herüber. Hochauf
+loderte der Zorn in unseren Reihen. Was sich in Jahren angesammelt hatte
+an bitterer Enttäuschung und stillem Groll, das brach flammend hervor.
+Zu Regimentern, die wider den Gegner aufmarschierten, wurden die
+vielstelligen Zahlen, die Milliarden, die Armee und Flotte, China und
+Afrika verschlungen hatten; als Raubritter und Ausbeuter wurde
+gestempelt, wer je dazu ja gesagt hatte. Malten sie drüben mit blutigen
+Farben das Bild der Revolution und rissen dadurch den Gleichgültigen aus
+dem verschlafenen Winkel seines Daseins, so beschworen sie hüben alle
+Gespenster der Not und des Hungers herauf und schreckten mit ihnen die
+Stumpfen aus ihrem Arbeitsleben. Der ehrliche Kampf mit offenem Visier
+auf freiem Felde wurde zum Guerillakrieg mit heimtückischen Listen und
+nächtlichen Überfällen. Und durch die feindlichen Lager hin und her auf
+leisen Sohlen schlich die Verleumdung; wen das Schwert nicht
+niederstreckte, den vergiftete sie.
+
+Ich hatte dem Gegner gegenüber gerecht bleiben, mich als einzelne
+behaupten wollen, gegenüber der Suggestion der Masse. Aber je länger ich
+im Kampfe stand, desto schwerer wurde es, ihrer Gewalt zu widerstehen.
+War ich nicht auch nur ein Soldat im Heere, dessen Füße von selbst im
+Takt der anderen marschieren, der die gleichen Waffen trägt, und, vom
+Rausch des Krieges überwältigt, einen persönlichen Feind in jedem Glied
+des gegnerischen Heerbannes sieht?
+
+ * * * * *
+
+Der Gegenkandidat meines Mannes war ein alter Reaktionär, den der Bund
+der Landwirte auf seinen Schild erhoben hatte. Der Zolltarif galt ihm
+als ein »gigantisches Werk«; die Arbeitslosenversicherung, die in diesem
+Jahre wirtschaftlicher Depression für uns eine immer dringendere
+Forderung geworden war, erklärte er für »unmoralisch«; dem gesetzlichen
+Arbeiterschutz, dessen Ausbau auf dem Wege zu unseren Zielen lag, müsse,
+so sagte er, ein »Stopp« entgegengerufen werden, und wider den
+Großkapitalismus, dessen Entwicklung eine Voraussetzung des Sozialismus
+war, galt es, den Mittelstand mobil zu machen. Als der typische
+Konservative war er der willkommenste Gegner, weil sich hier, klar
+voneinander geschieden, zwei Weltanschauungen gegenüberstanden. Zwischen
+ihnen schwankten, als das Zünglein an der Wage, die Liberalen des
+Kreises hin und her. Sie wollten nicht glauben, daß wir ein gut Stück
+Weges zusammengehen konnten und es einer Verleugnung aller liberalen
+Grundsätze gleichkam, wenn sie den Konservativen Gefolgschaft leisten
+wollten.
+
+Meinen Mann sah ich immer seltener. Trafen wir uns zu Hause, so
+schrieben wir zusammen Flugblätter und Artikel, wobei er mit der ruhigen
+Sachlichkeit seiner Beweisführung die Gegner zu entwaffnen und ich mit
+dem Feuer, das mich durchglühte, Anhänger zu werben versuchte. Hie und
+da trafen wir uns in Versammlungen, dann hörte ich, daß er sprach, wie
+er schrieb: er wandte sich an den Verstand, er suchte zu überzeugen, wo
+ich an das Gefühl appellierte. Er hatte die Sprache des Dozenten, nicht
+die des Agitators. Wen er dem Sozialismus gewann, der wurde zum
+Bekenner. Was ich entzündete, mochte nur zu oft nichts als ein Feuerwerk
+sein.
+
+In den letzten Tagen fuhren wir von Ort zu Ort. Schon blühten
+Pfingstrosen in den Gärten, und von Flieder und Hollunder dufteten die
+Lauben. Über den staubigen Chausseen brütete die Sommersonne. Die
+Menschen in den engen Sälen atmeten rasch und schwer wie im Fieber. In
+den Dörfern gab's Schlägereien. War einer als Genosse bekannt, so spieen
+die Bauern vor ihm aus, und seinem Weibe gingen die Nachbarinnen aus dem
+Wege. Die Kinder aber in der Schule ließ der Lehrer mit besonderer
+Vorliebe patriotische Lieder singen. Säle, die uns zur Verfügung
+gestanden hatten, wurden uns genommen; breitspurig, ein Herr der
+Situation, stand der Gendarm vor der Türe, wenn wir den Eingang
+erzwingen wollten. Kamen wir auf freiem Felde zusammen, der Sonne und
+dem Regen trotzend, so löste er die Versammlung auf, hatten wir irgendwo
+einen Raum für sie gefunden, so erklärte er ihn für feuergefährlich, kam
+ich als Rednerin in irgend ein abgelegenes Nest, so hieß es:
+»Frauenspersonen dürfen nicht sprechen.« Aber die Genossen waren immer
+wieder erfinderischer als er. So fuhren wir einmal in ein kleines Dorf,
+das weltverlassen zwischen zwei blauen Seen in der Niederung liegt. Nur
+arme Schiffer wohnten hier und kleine Bauern, die elender lebten als der
+Fabrikarbeiter in der Stadt. Einer von ihnen hatte seine ganze arme Kate
+ausgeräumt, um die Versammlung zu ermöglichen. Das Hausgerät stand auf
+dem Hof, die Sonne enthüllte unbarmherzig all seine Armseligkeit. Die
+leeren Stuben faßten trotzdem die Menge nicht, das Gärtchen stand noch
+voll von ihnen. Selbst auf den Gemüsebeeten trampelten schwere Stiefel,
+aber als ich ein Wort des Bedauerns äußerte, sagte des Schiffers Frau
+mit glänzenden Augen: »Wenn's auch mit Erbsen nischt is dies Jahr,
+wenn's man mit die Stimmen für den Sozi wat sein wird!«
+
+ * * * * *
+
+Am Vorabend der Entscheidung kamen wir in Frankfurt an. Im Hauptquartier
+der Partei herrschte fieberhaftes Leben: hier meldeten sich Radfahrer,
+um zum morgigen Dienst ihre Marschorder in Empfang zu nehmen, blutjunge
+Leute unter ihnen, die sich mit um so größerem Enthusiasmus in den
+Dienst der Sache gestellt hatten, als sie selbst noch nicht wählen
+durften; dort stellten sich Frauen zur Verfügung, um die Säumigen an
+die Urnen zu holen, und in später Nachtstunde kamen andere hungrig, heiß
+und verstaubt von der letzten Verteilung der Wahlflugblätter zurück. Als
+die Stadt schlief, huschten die Unermüdlichen noch durch die Straßen,
+und am Morgen leuchtete in weißen und roten Lettern ein »Wählt Brandt!«
+an den Zäunen und auf dem Trottoir.
+
+Wir gingen durch die Wahllokale. Vormittags stellten sich allmählich die
+Bürger ein, ruhigen Schrittes, ohne sonderliche Erregung; mit dem
+Zwölfuhrglockenschlag wurde es auf den Straßen lebendig, und durch die
+Türen schoben sich die Arbeiter, beschmutzt, verstaubt, wie die Fabrik
+und der Bau sie entlassen hatte. Die Bezirksleiter notierten jeden, der
+sich meldete, strichen an, wer noch fehlte, gaben Weisung an die ihrer
+Aufgabe wartenden Frauen. Und die suchten dann die Säumigen in den
+Wohnungen, auf den Arbeitsstätten. Nachmittags lag wieder sommerliche
+Stille über der Stadt. Dann aber, als der Himmel sich schon mit rosigen
+Wolken überzog, hallte das Pflaster wider von raschen Tritten. Sie kamen
+in Scharen: die jungen, rüstigen voran, und zuletzt, von Frauen, von
+Kindern geführt, Alte, Kranke und Krüppel. Der Zettel in ihrer Hand, das
+war ihr einziges, freies Mannesrecht, damit waren sie an diesem einen
+Tage die Gestalter ihres Geschicks.
+
+Es dämmerte. In den Wahllokalen saßen unter spärlichen Gasflammen, vor
+rauchenden Petroleumlampen die Zähler. Wenn wir eintraten, bedurfte es
+keiner erklärenden Worte, die leersten Gesichter waren sprechend
+geworden: Furcht und Hoffnung, Zorn und Siegeszuversicht drückte sich
+in ihnen aus.
+
+Schon brannten die Laternen in den Straßen. Im Hause, wo die Partei ihr
+Bureau aufgeschlagen hatte, waren alle Fenster erleuchtet. Im Saal oben
+war es noch leer; nur der Vorstand des Wahlvereins harrte vor dem Tisch
+mit dem großen Tintenfaß und den unbeschriebenen weißen Blättern der
+kommenden Dinge. Sie grüßten uns kopfnickend, sie waren blaß und
+schweigsam vor Erregung. Über Webers Stirn standen helle Schweißtropfen,
+seine blanken Augen waren verschleiert. Wir setzten uns. Nach und nach
+füllte sich der Raum. Lauter Schweigende. Die Minuten schlichen wie
+ebenso viele Stunden. Endlich der erste Radler! Gleich darauf der
+zweite, der dritte, der vierte -- die Wahlbezirke der Stadt.
+
+»Schlecht steht's!« knirschte der eine und warf den Zettel auf den
+Tisch.
+
+»Der Westen Frankfurts --,« sagte Weber, »immerhin: zum erstenmal
+Stimmen für den Sozi! -- Das Zentrum, -- na, besser hätt's sein dürfen!
+-- Und die Vorstadt, pfui Teufel, das sind die Eisenbahner, die auf
+Kommando wählten! -- Aber hier --,« sein Gesicht strahlte -- »das reißt
+die ganze Stadt heraus!«
+
+»Hurra!« rief einer und schwenkte die alte Soldatenmütze zum offenen
+Fenster hinaus.
+
+»Bravo!« antwortete es vielstimmig von unten.
+
+Wieder verrannen Viertelstunden. Schon waren alle Plätze an den langen
+Tischen besetzt.
+
+»Warum dauert das nur so lang --,« seufzte ich.
+
+»Die Radler aus dem Oderbruch können noch nicht hier sein --,« sagte
+Weber, der wieder und wieder nach der Uhr sah.
+
+»Telegramme!« schrie jemand. Der Postbote drängte sich durch die Reihen.
+
+Mit bebenden Fingern riß Weber sie auf: »Berlin erobert! -- Ganz Sachsen
+unser --!«
+
+Ein Jubelruf, der sich wieder bis auf die Straße weiterpflanzte, aber
+rasch verklang. Das Schweigen war eine einzige Frage. »Und wir?!« --
+Jetzt aber tönte von unten ein donnerndes »Hoch!« Wir stürzten zum
+Fenster: über das Pflaster sprangen Lichter in langer Kette, Räder
+blitzten auf --, die Treppen stürmte es empor: atemlos, blaurot, mit
+zitternden Knien standen sie vor uns, die Männer aus dem Oderbruch. Sie
+waren keines Wortes mächtig, aber die Tränen, die hellen Freudentränen
+tropften ihnen über die Wangen. Mit einer fast feierlichen Gebärde
+breitete Weber die Botschaften vor uns aus. Hunderte von Stimmen hatten
+wir gewonnen. Dicht unter den Augen der Gegner, auf Gutshöfen, in
+Dörfern hatten die Landleute für uns gestimmt. Stumm streckte ich dem
+Maurer Merten die Hand entgegen. Er hielt sie lange zwischen seinen
+harten Fingern.
+
+Jetzt standen die Menschen schon Kopf an Kopf. Noch fehlten die
+entferntesten Bezirke, -- Buckow, Fürstenwalde. »Entschieden ist noch
+nichts,« murmelte Weber angstvoll.
+
+Wieder ein Lärm auf der Straße. »Die Oderzeitung bringt ein Extrablatt!«
+schrieen sie zu uns empor. In weitem Bogen flog es von der Tür über die
+Köpfe hinweg auf unseren Tisch: »Depeschen aus Süddeutschland --
+München, Nürnberg, Bayreuth, Stuttgart, Darmstadt -- alles unser!«
+
+Und nun löste ein Depeschenbote den anderen ab; jede Siegesnachricht
+steigerte die elektrische Spannung, selbst die Nachtluft draußen schien
+erfüllt von ihr.
+
+Zu elf dumpfen Schlägen holte die Uhr auf der Marienkirche aus.
+
+»Im Haus der Oderzeitung löschen sie die Lampen,« -- rief ein junger
+Bursche, und brach sich mit Ellbogenstößen freie Bahn in den Saal. Die
+Gesichter ringsum erhellten sich.
+
+Eine Gärtnersfrau, der ausdauerndsten eine im Heranholen säumiger
+Wähler, nahm aus ihrem bis dahin sorgfältig gehüteten Korb einen großen
+Strauß roter Nelken und stellte ihn vor uns auf den Tisch. -- »Ist's
+nicht zu früh?!« -- Ein Brausen lag in der Luft, -- war's nicht das
+pochende Blut in meinen Schläfen? Oder waren's die vielen Stimmen vor
+dem Haus?
+
+»Die ganze Straße steht schwarz voll Menschen,« flüsterte ein baumlanger
+Arbeiter neben mir in scheuer Angst. Es war heiß, -- glühend heiß im
+Saal, und doch schien mir, als müßten alle frieren wie ich.
+
+Da -- »Fürstenwalde!« und wie ein Echo: »Buckow!« Weber war weiß im
+Gesicht, -- sekundenlang bohrten sich seine Augen in das Papier. Wir
+hielten den Atem an, -- dann stieß er mit rauher Stimme ein einziges
+Wort hervor: »Gesiegt!«
+
+Einen Augenblick war es noch still. Einem alten Mann, den ich nicht
+kannte, und der bis zu mir vorgedrängt worden war, drückte ich
+krampfhaft die Hand. Dann brach es los wie Gewittersturm. Das schrie,
+das jauchzte, das schluchzte --, alte Männer fielen einander um den
+Hals, Frauen verbargen die Gesichter an den Schultern der Nächsten. Und
+draußen zerriß ein einziger Jubelruf die Stille der Nacht. Sie riefen
+nach ihrem Gewählten.
+
+Auf die Fensterbrüstung trat er. »Nicht mir dieses Hoch,
+Parteigenossen --,« und seine tiefe Stimme klang voll und warm und die
+Luft selbst schien sie weiter und weiter zu tragen, »-- Euch vielmehr,
+die ihr den Sieg erkämpftet, und unserer großen Sache vor allem, die die
+Siegesgewißheit in sich trägt! Ein Hoch der Sozialdemokratie, ein
+dreifaches Hoch!« Und wieder brauste es, als schlügen orkangepeitschte
+Wellen an Felsenriffe.
+
+Inzwischen war Weber still beiseite gegangen. Nun kam er zurück. Er trug
+die alte Fahne, von grauen Tüchern umwunden. Dicht vor dem Fenster nahm
+er langsam die Hülle ab, hob die schwere Stange hinaus, und das rote
+Tuch rollte auseinander und wehte, aufglühend, wo das Licht es traf, wie
+entfachte Flammen über die stumme Menge.
+
+»Genossin Brandt! -- -- Alix Brandt!« -- Riefen sie mich?! -- Man schob
+mich zum Fenster, -- man hob mich empor, -- ich sah keine Menschen, ich
+sah nur ein wogendes Meer, -- ohne Anfang, ohne Ende. Und ich streckte
+die Arme weit aus --
+
+
+
+
+Vierzehntes Kapitel
+
+
+Alle Vorbereitungen für das Erscheinen der Gesellschaft waren getroffen.
+Es sollte eine Zeitschrift großen Stiles werden. Hervorragende
+Parteigenossen des In- und Auslandes hatten uns ihre Mitarbeit zugesagt.
+Eine junge Künstlerin, von der Idee, die uns leitete, gepackt, hatte den
+Umschlag gezeichnet: schwarze Fabriken, aus deren Essen die Feuerflammen
+der kommenden Zeit emporschlagen. Es gab Leute, die angesichts der
+schönen Ausstattung, des niedrigen Preises und der hohen Honorare, die
+wir festgesetzt hatten, bedenklich die Köpfe schüttelten. Aber der
+Dreimillionen-Sieg der Partei hatte den Glauben an unsere Sache, den wir
+von jeher besessen hatten, nur noch gestärkt. Jetzt war wirklich die
+Zeit gekommen, wo die Sozialdemokratie eine Macht im Staate zu werden
+begann, wo sie vor der Aufgabe stand, selbständig praktische Politik zu
+treiben. Breite Schichten der Arbeiterschaft, die erstarkten
+Gewerkschaften an der Spitze, verlangten danach, und die Masse der
+Mitläufer, die unseren Sieg hatte vergrößern helfen, war zweifellos
+nicht durch die ferne Aussicht auf den Zukunftsstaat zu uns gekommen,
+sondern durch die Hoffnung auf Reformen der Gegenwart.
+
+Eines Morgens kam Heinrich verärgert aus dem Bureau: »Der Lindner läuft
+umher wie die Jungfrau von Orleans: 'und mich, die all dies Herrliche
+vollendet, mich freut es nicht, das allgemeine Glück'. Sollten die
+Schwarzseher ihn schon beeinflußt haben?! Das könnte mir passen!«
+
+Wir hörten eine Woche lang nichts von ihm. Dann kam ein Brief; --
+während mein Mann ihn überflog, veränderten sich seine Züge: »Hier hast
+du den Wisch,« rief er wütend und warf die Türe hinter sich ins Schloß.
+
+»Da ich mich überzeugt habe, daß ein gedeihliches Zusammenarbeiten
+zwischen uns nicht erreichbar sein wird, trete ich von unserem Vertrag
+zurück --,« las ich.
+
+Das ist doch nicht möglich, -- das kann doch nicht sein, fuhr es mir
+durch den Kopf; wie kann er sein Wort brechen, jetzt, in diesem
+Augenblick, wo er weiß, das damit alles steht und fällt!
+
+Heinrich war beim Rechtsanwalt gewesen. »Nichts zu machen,« knirschte
+er, als er nach Hause kam, »mein Anstand, oder sagen wir lieber meine
+Dummheit, die mich hinderten, den Vertrag notariell zu machen,
+ermöglichen diesen erbärmlichen Rückzug.«
+
+Was nun?! Heinrichs trotzige Energie hatte auf diese Frage nur eine
+Antwort: »Erst recht!«
+
+Ich fühlte mich im ersten Augenblick wie gelähmt und war geneigt, im
+Rücktritt Lindners etwas zu sehen, das einem Wink des Schicksals oder
+einem Gottesurteil gleichkam. Aber die Ereignisse innerhalb der Partei
+zerstreuten den Nebel, der meinen Blick vorübergehend verdunkeln wollte.
+
+Überall hatten nach den Wahlen Siegesfeiern stattgefunden. Hunderte von
+Rednern hatten das »Unser die Welt!« in die überfüllten Säle
+hinausgeschmettert und ein vieltausendstimmiges Echo gefunden. Dann aber
+war der Rausch verflogen, und jenes erwartungsvolle Schweigen war
+eingetreten, das jedem großen Ereignis zu folgen pflegt. Man konnte sich
+nicht vorstellen, daß nun der Alltag wieder da ist, -- genau so wie
+vorher; es mußte irgend etwas folgen, das dem Ungeheueren entsprach, das
+wir erlebt hatten! Doch es geschah nichts. Nur der Sommer war gekommen
+mit seiner Blumenpracht, -- wie immer. Ein unbestimmtes Gefühl der
+Enttäuschung erkältete die eben noch glühenden Herzen. Die durch den
+Kampf aufgepeitschten Nerven erschlafften plötzlich; eine nörgelnde
+Empfindung der Unzufriedenheit entstand; kaum einer war, der sich ihr
+entziehen konnte, und wer am leidenschaftlichsten um den Sieg gerungen
+hatte, den packte sie mit doppelter Gewalt.
+
+Einige der führenden Geister in der Partei waren sich bewußt, daß die
+nervöse ungeduldige Frage der Massen nach dem Preise des siegreichen
+Kampfes Antwort heischte. Aber sie empfanden nicht, daß die Antworten,
+die sie gaben, angesichts der Größe der Erwartungen wie eine Verhöhnung
+wirken mußten. Kautsky, der Theoretiker des Radikalismus, versuchte ihr
+als der Vorsichtigere aus dem Wege zu gehen, indem er sich nur mit den
+Wahrscheinlichkeiten der künftigen Haltung unserer Gegner beschäftigte,
+und im übrigen die Gemüter durch den Hinweis auf »die alte, bewährte
+Taktik der Partei« zu beruhigen suchte. Eduard Bernstein dagegen, der
+Revisionist, hatte in dem Bestreben, zu momentanen praktischen
+Resultaten zu gelangen, acht Tage nach dem Siege auf die Frage: was
+folgt aus dem Ergebnis der Reichstagswahlen? keine andere Antwort als
+die: ein sozialdemokratischer Vizepräsident im Reichstag! Was in ruhigen
+Zeiten vielleicht zu einer Erörterung innerhalb der Fraktion geführt
+hätte, das wurde jetzt das Signal zum Aufruhr.
+
+Wie, darum haben wir monatelang unsere Haut zu Markte getragen, darum
+haben drei Millionen Deutsche einundachtzig Sozialdemokraten in den
+Reichstag geschickt, damit einem von ihnen die Gelegenheit geboten wird,
+vor dem Kaiser zu katzbuckeln, -- dem Kaiser, dessen Faust wir von Essen
+und Breslau her noch auf unserer Wange brennen fühlen?! So tönte es von
+allen Seiten.
+
+Vergebens, daß Vollmar von München aus versuchte, der kühlen Vernunft zu
+ihrem Rechte zu verhelfen, indem er die tatsächlichen Vorteile der
+Vertretung der Partei im Präsidium hervorhob und die Haltlosigkeit der
+prinzipiellen Gegnerschaft zu dem »Hofgang« dadurch illustrierte, daß
+die Parteigenossen in den Einzelstaaten es mit ihrer republikanischen
+Gesinnung vereinigen müssen, dem jeweiligen Landesherrn Treue zu
+schwören, der Eid aber doch bedeutungsvoller sei, als ein offizieller
+Besuch im Kaiserschloß, -- bis nach Norddeutschland drang seine Stimme
+nicht. Zu tief empfanden Alle die unbewußte Verhöhnung ihrer Hoffnungen
+und ihres Glaubens in Bernsteins Antwort auf die Frage, die sie bewegte.
+Und auch ich konnte mich dem niederdrückenden Eindruck nicht entziehen.
+
+Die Empörung über Bernstein verdichtete sich zur allgemeinen Wut auf die
+Revisionisten, die sie ihrerseits mit einem Ungeschick, das sich nur
+aus ihrer Temperamentlosigkeit erklären ließ, schüren halfen.
+
+»Wir müssen die liberalen Parteien ersetzen --,« erklärte der eine; die
+aufgeregten Massen lasen daraus: wir müssen unsere sozialdemokratischen
+Grundsätze in die Tasche stecken.
+
+»Ein proletarischer Klassenkämpfer sein, das heißt nicht auf die
+bürgerliche Gesellschaft unterschiedslos drauflos prügeln --,« sagte ein
+anderer; die Arbeiter ergänzten: wir sollen mit ihr liebäugeln.
+
+Sie hatten unrecht -- zweifellos --, wie jeder unrecht hat, den die
+Leidenschaft nicht nur dem Ziel entgegen vorwärts reißt, sondern blind
+und taub macht für alles, was rechts und links geschieht. Aber weit
+größer war das Unrecht derer, die imstande gewesen waren, an dem
+Siegesfeuer, dessen himmelauflodernde Flammen die Begeisterung der
+Kämpfer entfacht hatten, ihr armseliges Süppchen zu kochen und es den
+Andächtigen, deren Glauben noch glühender brannte als das Feuer, als
+sättigende Speise darzureichen.
+
+Ein mächtiger Helfer erwuchs ihrem Zorn, einer, der noch immer
+wundergläubig gewesen war, wie sie; einer, den, wie sie, der Sieg
+trunken gemacht hatte: August Bebel. In einer Erklärung, die dem
+Pronunziamento des Nachfolgers Christi auf dem apostolischen Stuhle
+gleichkam, verurteilte er Bernstein und die Seinen und drohte überdies
+mit der Entscheidung des nächsten Parteitages. Nun erst, nachdem der
+Führer gesprochen, entbrannte der Bruderkrieg in vollem Umfang. Was
+Bebel nur hatte ahnen lassen, das sprachen andere aus: fort aus der
+Partei, wer uns den Sieg verekelt.
+
+Ich fürchtete das Schlimmste. Meine persönlichen Besorgnisse
+verschwanden wie Tautropfen im Meer. Jetzt galt es, den Bedrohten einen
+Mittelpunkt schaffen, der zum Ausgang einer starken, jungen Bewegung
+werden könnte. Aus tiefster Überzeugung wiederholte ich Heinrichs: »Erst
+recht!«
+
+ * * * * *
+
+Der Verkauf des Archivs war der erste Schritt zu unserem Ziel. Heinrich
+wandte sich an einen der größten Verleger, der seine Bereitwilligkeit
+aussprach, das Archiv zu übernehmen, wenn der alte Herausgeber ihm
+erhalten bliebe. Er bot ein Redaktionshonorar dafür, das uns zeitlebens
+der Sorgen enthoben hätte. Wir besannen uns keinen Augenblick, seine
+Vorschläge zurückzuweisen.
+
+»Nun bliebe noch Romberg,« sagte ich zögernd; ich wußte, seit jener
+ersten Anfrage war eine leise Entfremdung zwischen den beiden Männern
+eingetreten.
+
+»Damit er mich wieder behandelt, wie der hochmögende Vormund,« brauste
+Heinrich auf.
+
+Noch am selben Abend schrieb ich an Romberg. Wenige Tage später war er
+in Berlin. Ich setzte ihm die Lage auseinander.
+
+»Ich appelliere lediglich an Ihr Interesse für die Zeitschrift,« sagte
+ich, »die heute eine der angesehendsten ihrer Art ist. Es lag Ihnen
+daran, sie in die Hand zu bekommen; -- Sie sprachen seinerzeit davon,
+als von einem Ersatz der ordentlichen Professur.«
+
+Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Wenn ich nun aber statt meines
+persönlichen Interesses, das sich nicht verändert hat, meine
+Freundschaft entscheiden ließe?!« rief er aus. »Mir scheint, ich müßte
+Sie vor einem Unglück bewahren!«
+
+»Das lassen Sie meine Sorge sein,« antwortete ich herb. Er schwieg
+verletzt, und als gleich darauf mein Mann eintrat, stellte er sich auf
+einen ausschließlich geschäftlichen Standpunkt und verhandelte nur mit
+ihm.
+
+Kurze Zeit darnach war die Angelegenheit entschieden: Mit zwei anderen
+Herren übernahm Romberg das Archiv.
+
+Ich hatte im Augenblick meine ganze Zuversicht wiedergewonnen und lud
+ihn ein, den Abschluß fröhlich mit uns zu feiern. Aber er war schon
+abgereist.
+
+»Dann geben wir uns allein ein Fest,« meinte mein Mann; »wir haben
+Ursache genug dazu als selbständige Inhaber der Neuen Gesellschaft!«
+Doch es schien, als sollte es nicht sein. Zuerst verschlang die Arbeit
+unsere Zeit, und dann kam die Stimmung nicht wieder.
+
+ * * * * *
+
+Der Hader in der Partei nahm immer bösartigere Dimensionen an. Was Bebel
+an Erklärungen und Artikeln veröffentlichte, das klang so maßlos, daß
+die Vizepräsidentenfrage und die Mitarbeit der Parteigenossen an
+bürgerlichen Blättern unmöglich die einzige Ursache seines Vorgehens
+sein konnte. Er mußte irgendwo Parteiverrat wittern, wenn er alle
+politische Klugheit so völlig zu vergessen vermochte und den Gegnern die
+bittere Pille der Wahlniederlage durch den Kampf in den eigenen Reihen
+versüßte.
+
+»Die Zeit des Vertuschens und Komödienspiels ist vorbei --,« rief er;
+»jetzt heißt es Farbe bekennen, jetzt gibt's kein Ausweichen mehr --,«
+was hieß das anders, als daß Elemente in der Partei vorhanden waren, die
+nicht hinein gehörten, die entfernt werden mußten?
+
+»Die Masse der Parteigenossen halte die Augen auf!« mahnte er; was
+bedeutete das anders, als daß sich Verräter in ihrer Mitte befanden?
+Aber während Bebels Zorn vom Feuer der Leidenschaft noch immer verklärt
+erschien, sekundierten ihm die Zionswächter des Radikalismus mit der
+Kälte systematischer Verfolgungssucht. Und nun erwachte im Proletariat,
+auf dessen rohe Instinkte sie spekulierten, der Pöbel. Er warf sich
+keifend auf alles, was nicht mit ihm lärmte.
+
+Wir, die wir dem Revisionismus eine selbständige Zeitschrift schaffen
+wollten, standen, das zeigte sich bald, mit auf der ersten Seite der
+Liste der Konskribierten. Noch ehe die erste Nummer unseres Blattes
+erschienen war, wurde es als ein kapitalistisches Unternehmen
+gebrandmarkt; von Mund zu Mund ging der Klatsch, daß wir einen reichen
+Gönner gefunden hätten, der es wie einen Sprengstoff in die Partei
+werfen wollte, und in einer der wild erregten Versammlungen, die dem
+Parteitag vorangingen, fiel zum erstenmal das verächtliche Wort, das
+wohlgefällig weitergetragen wurde: »Geschäftssozialisten.«
+
+Es traf mich wie ein Keulenschlag. Eben erst hatten wir eine gesicherte
+Existenz von uns gewiesen, -- und nun dies Wort!!
+
+Ich brütete stumm vor mich hin. Ich ging nicht auf die Straße, denn ich
+fühlte mich wie beschmutzt.
+
+Was ich erlebte, war nur ein Teil dessen, was allen begegnete, die unter
+dem Namen Revisionisten zusammengefaßt wurden. Das zahnlose alte Weib,
+der Klatsch, ging um mit den ewig beweglichen Lippen und den dürren
+Fingern, die in jeder Gosse gierig wühlen. Als Mandatsjäger wurde der
+eine verdächtigt, als lügnerischer Verleumder Bebels der andere. Und
+wessen wir bisher fälschlich beschuldigt worden waren, -- eine
+geschlossene Gruppe zu sein, -- das machte die Verfolgung aus uns. Den
+Kopf umnebelt von den giftigen Dünsten, die rings um uns aufstiegen,
+erschien uns der Haß der Personen, die uns bekämpften, als das Primäre;
+kaum einer war, der noch wußte, daß es der Gegensatz der Anschauungen
+war, der ihn zeugte, und niemand gab zu, daß Bebel recht hatte, wenn er
+an kleinen Symptomen die ganze Richtung erkannte, -- die Richtung, die
+seinen tiefgewurzelten Prophetenglauben, aus dem er die ganze
+Schwungkraft seiner Lebensarbeit sog, erschüttern mußte, wenn sie zur
+allgemeinen Anerkennung kam.
+
+Wie sich sein Zorn und derer um ihn auf die Einzelnen entlud, die im
+Augenblick als die Sünder erschienen, so entlud sich der unsere auf
+einen Mann, der seit Jahren das Feuer schürte, das uns verbrennen
+sollte, der, ohne sich jemals in das Gewühl der Volksversammlung zu
+wagen, von der Abgeschiedenheit seiner Studierstube aus Jeden verfolgte,
+der kein Buchstabengläubiger des Marxismus war. Seine glänzende
+journalistische Fähigkeit hatte ihm seine Stellung geschaffen; die
+fanatische Rücksichtslosigkeit, mit der er seine Gegner verfolgte, hatte
+sie erhalten helfen. Niemand wagte, sich ihm entgegenzustellen. Selbst
+seine Gesinnungsfreunde fürchteten ihn, denn er haßte heute, was er
+gestern noch liebte.
+
+»Er ist das böse Prinzip der Partei,« hieß es in unserem Kreise, während
+tatsächlich nur der konservative Radikalismus mit all seiner
+Unduldsamkeit, all seinem Dogmenglauben in ihm Fleisch geworden war.
+
+»Wenn wir die Partei von ihm befreien können, so haben wir sie
+gerettet,« erklärten unsere Freunde.
+
+Meinen Mann packte der Gedanke wie keinen. Noch immer hatte seine
+überschäumende Willenskraft sich an Aufgaben erproben wollen, die
+niemand sonst übernahm. Er hörte um so weniger auf die warnenden
+Stimmen, die sich erhoben, als ich ihn in seinem Vorhaben nur bestärkte.
+Die Partei aus der inneren Zerrüttung erretten, in der sie sich befand,
+sie einer neuen gesicherten Einheit entgegenführen, -- keine Aufgabe
+wäre mir im Augenblick größer erschienen.
+
+ * * * * *
+
+Es war am Abend vor unserer Abreise nach Dresden, wo der Parteitag
+stattfand.
+
+»Es wird ein Kampf bis aufs Messer,« sagte Heinrich; »aber was auch
+kommen mag, mich soll's nicht kränken, wenn ich nur deiner sicher bin!«
+
+Ich legte beide Arme um seinen Hals: »Du kannst es, Heinz! Noch niemals
+liebte ich dich so wie heut!« Und zärtlich schmiegte ich meinen Kopf an
+seine Schulter, während mein Auge in demütiger Liebe an dem seinen hing.
+
+»Ihr törichten Frauen wollt in den Männern immer nur Helden sehen,«
+meinte er. Seine Lippen brannten auf meinem Mund. Wir vergaßen der Ehe,
+wie in allen glücklichen Stunden unseres Lebens; -- der Ehe, die alle
+Geheimnisse schamlos ihrer Schleier beraubt, so daß die Liebe, die nur
+von Sehnsucht lebt, sterben muß.
+
+Gegen Morgen weckte mich ein Schrei. Ich fuhr entsetzt aus dem Schlaf.
+
+»So bleib doch, Liebste,« flüsterte Heinrich traumbefangen. Aber schon
+war ich im Nebenzimmer am Bett meines Kindes. Seine Wangen glühten,
+verständnislos irrten seine Augen an mir vorbei. Und wieder löste sich
+ein Schmerzensruf von seinen trockenen Lippen. Ich wickelte den
+zuckenden Körper in nasse Tücher und schickte die Berta zum Arzt. Jetzt
+erst erwachte mein Mann und erschien an der Türe.
+
+»Papachen,« sagte der Kleine und verzog den Mund mühsam zu einem
+Lächeln.
+
+»Was ist denn nur?!« rief Heinrich mit gerunzelter Stirn und
+ungeduldiger Stimme; »komm doch ins Bett, -- du erkältest dich ja!«
+
+Ich lief ins Schlafzimmer zurück, um mir einen Mantel zu holen.
+
+»Du siehst doch, -- Ottochen ist krank,« flüsterte ich ihm im
+Vorübergehen zu.
+
+»Krank!« wiederholte er laut und trat näher. »Nicht wahr, mein Junge,
+dir fehlt nichts, -- du träumtest nur schlecht, -- du siehst ja rund und
+rosig aus, wie's liebe Leben!«
+
+Mit einem ängstlich fragenden Blick sah der Kleine von einem zum
+anderen.
+
+»Gewiß, Papa, gewiß,« sagte er dann mit stockender Stimme, »jetzt ist
+schon alles wieder gut.« Aber seine tränenumflorten Augen, die flehend
+zu mir aufsahen, sein heißes Händchen, das krampfhaft meine Finger
+umschloß, strafte seine Worte Lügen. Ich drängte Heinrich hinaus. Wo
+nur die Berta blieb? Warum der Arzt nicht kam? -- Im Wohnzimmer schlug
+die Uhr sieben.
+
+»Es ist die höchste Zeit, daß du dich anziehst, Alix,« rief Heinrich.
+Wir hatten uns mit unseren Freunden für den Achtuhrzug verabredet. Ich
+wechselte rasch die Kompresse auf der brennenden Stirn meines Kindes und
+ging ins Schlafzimmer.
+
+»Selbstverständlich bleibe ich hier,« sagte ich, die Stimme dämpfend.
+
+»Das wäre noch schöner!« antwortete er heftig. »Wegen eines Schnupfens,
+den der Junge im schlimmsten Fall kriegen wird, willst du in diesem
+Augenblick mich und die Sache im Stiche lassen!«
+
+Ich fühlte, wie das Blut mir siedendheiß in das Antlitz schoß: »So
+sprich doch wenigstens leise --«
+
+Aber Heinrich wollte nicht hören: »Du weißt, was auf dem Spiele steht,
+-- du kommst mit,« schrie er mich an, und seine Hand umkrallte meinen
+Arm.
+
+»Und wenn die ganze Partei darüber zugrunde ginge, -- ich bleibe hier,«
+zischte ich, außer mir vor Empörung.
+
+»Mama, -- Mama!« rief eine süße weinende Stimme. Der Kleine stand auf
+der Schwelle, mit angstvoll aufgerissenen Augen, wie im Schwindel auf
+den bloßen Füßchen hin und her schwankend. Auf meinen Armen trug ich ihn
+ins Bett zurück und riegelte die Tür hinter uns zu. Nach kurzer Zeit
+hörte ich Heinrich das Haus verlassen. Ich fühlte keinen Schmerz, -- nur
+eine ungeheure Leere in meinem Herzen. Darüber nachzugrübeln, war ich
+nicht imstande: in wilden Fieberphantasien wälzte sich mein Kind auf
+seinem Lager.
+
+Kaum in Dresden angekommen, telegraphierte mir mein Mann: »Verzeih. Wie
+geht es?« Mußte ich ihm nicht jetzt, wo er so schweren Stunden
+entgegenging, die Wahrheit schonend verschweigen?! Aber warum diese
+Rücksicht?! War er doch mehr als schonungslos, war grausam gewesen! Nie
+würde ich ihm das verzeihen können!
+
+»Otto schwere Blinddarmentzündung,« antwortete ich kurz, dem Ergebnis
+der ärztlichen Untersuchung entsprechend.
+
+Zwei Tage vergingen und zwei Nächte. Noch immer stieg das Fieber; der
+kleine Körper krümmte sich vor Schmerzen. Die Schreie der Angst wurden
+schwächer; an ihre Stelle trat ein Wimmern -- jammervoll,
+ununterbrochen. Ich wich nicht von dem kleinen Bett. Wenn ich die Hand
+auf das heiße Köpfchen des Kranken legte, schien er für Augenblicke
+ruhiger, wenn ich mich ganz dicht an ihn schmiegte, verlor sein Blick
+den Ausdruck tiefen Entsetzens. Einmal glaubte ich schon beglückt, er
+schliefe. Da riß er sich ungestüm aus meinen Armen, richtete sich hoch
+auf, starrte mich verständnislos an und schrie: »Mama, -- Mama, -- warum
+bist du so weit, -- so weit weg, -- ich sehe dich gar nicht mehr --« und
+in verzweifeltem Schluchzen bebten seine Schultern. Das Herz krampfte
+sich mir zusammen, -- und doch hatte ich noch Kraft genug ihm beruhigend
+zuzulächeln, während ich den kleinen Körper wieder in nasse Tücher
+hüllte. Er wurde still, er schloß die Augen, er atmete regelmäßiger.
+Aber in meinen Ohren dröhnten seine Worte: warum bist du so weit weg! Er
+hatte mich angeklagt, -- und ich sprach mich schuldig: War ich nicht
+Tage, Wochen, Monde lang von meinem Sohn »weit weg« gewesen?! War nicht
+auf seinen Gedankenwegen mit ihm gegangen, -- hatte nicht mit seinem
+Herzen gefühlt, -- mit seinen Augen gesehen? Wenn er nun mich verlassen
+wollte?! Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende. An seinem Bette sank ich
+in die Kniee; ich faltete die Hände auf seinen Kissen; -- ich betete.
+Nicht zu den Schutzengeln, die mir ein Märchen waren, nicht zu dem
+Christengott, den ich nicht kannte. Mein Gebet war voll Frömmigkeit, ob
+es auch keine Worte hatte, mein Gebet war voll Glauben, ob es auch
+glaubenslos war, mein Gebet war voll Kraft, denn es richtete sich nicht
+gen Himmel, -- es brachte dem Heiligtum des Lebens mich selbst zum Opfer
+dar ...
+
+Der grauende Tag kroch durch die Fenster. Mein Kind schlief mit einem
+Lächeln um die blassen Lippen. Ich küßte es leise. Mir war, als wäre ich
+erst in der letzten Nacht seine Mutter geworden.
+
+Draußen läutete es. Es war der Telegraphenbote: »Wie geht es? Rege dich
+über Zeitungen nicht auf.« Ich mußte den zweiten Satz noch einmal lesen;
+gab es noch irgend etwas in der Welt, über das ich mich nach dieser
+Nacht hätte aufregen können?! Ja so! Der Parteitag, -- ich hatte nichts
+gelesen. »Otto besser. Bin ruhig. Wünsche dir das Beste,« antwortete
+ich.
+
+Während Berta mich bei dem Kranken vertrat, las ich die Berichte. Ich
+erschrak, als ich sah, daß Heinrich entgegen seiner Absicht, durch den
+Artikel eines sächsischen Parteiblattes herausgefordert, in der
+Diskussion über die Mitarbeit von Genossen an der bürgerlichen Presse
+als Erster gesprochen hatte. Die ganze Erregung über unser
+Auseinandergehen, die wachsende Sorge um das kranke Kind mußte ihn
+beherrscht, seine Stimmung beeinträchtigt haben. Und ich fühlte zwischen
+jeder Zeile der Rede die Bitterkeit seines Herzens, die quälende Angst.
+Über jenen Mann hatte er gesprochen, der sich herausnahm im Kampf gegen
+uns den Ton anzugeben, der uns um einiger Artikel in einer bürgerlichen
+Zeitschrift willen wie Verräter verfolgte; und er hatte ihn
+gekennzeichnet, als das, was er war: ein doppelter Renegat, in der
+Jugend Sozialdemokrat, gleich darauf der Verfasser einer der giftigsten
+Schmähschriften gegen die Sozialdemokratie, nach wenigen Jahren wieder
+Mitglied der Partei, und jetzt: ihr unfehlbarer Sittenrichter. Keiner,
+so schien mir, würde sich dem Eindruck der Rede meines Mannes entzogen
+haben, wenn nicht in jedem Ton die Aufregung gezittert hätte, deren
+Ursache niemand kannte als ich. Immer wieder hatte ihn Bebel
+unterbrochen, mit stets gesteigerter Heftigkeit, und jeder Zuruf mußte
+meinen Mann, dessen ganze Seele wund war, doppelt schmerzhaft treffen.
+Und dann waren sie alle über ihn und uns hergefallen, und am tollsten
+hatten uns, die freien Schriftsteller -- »frei« wie der Lohnarbeiter,
+der seinem Verdienst nachgehen muß --, die Genossen geschmäht, die in
+sicheren Parteipfründen saßen. Ein Gefühl von Ekel stieg mir bis zum
+Hals. Wie hatte doch Romberg einmal gesagt? »Durch eine bestimmte
+Personengruppierung kann eine Sache rettungslos verloren gehen.« War
+diese Gesellschaft wütender Proleten wirklich noch der würdige Träger
+der menschheitbefreienden Gedanken des Sozialismus?
+
+In einem kurzen Brief, den ich von Heinrich erhielt, hieß es: »... Die
+Lage der Dinge ist unbeschreiblich. Die eingeschlossene Luft in diesem
+engen halbdunkeln Saal scheint gefüllt mit Sprengstoff. Das gezwungene
+dicht Nebeneinandersitzen erhöht die Reizbarkeit ... Bebel ist selbst
+für Freunde, die ihn beruhigen wollen, unnahbar. Er hat sich stundenlang
+in sein Hotel zurückgezogen und hat den Ausdruck eines Rachegottes, wenn
+er wieder erscheint. Warum? Niemand weiß es. Er soll sich während der
+Wahlkämpfe überanstrengt haben, sagen die einen; die Erbschaft, die ein
+bayerischer Offizier ihm hinterließ, und das, was an Prozessen mit den
+Verwandten dieses Offiziers darum und daran hängt, soll ihn aufregen,
+meinen die anderen. Jedenfalls kommt mehr denn je alles auf seine
+Haltung an; und sein Benehmen mir gegenüber läßt wenig Gutes hoffen.
+Übrigens scheint er auf uns beide ganz besonders wütend zu sein. Als
+Wanda Orbin die Mitarbeit an bürgerlichen Blättern als todeswürdiges
+Verbrechen kennzeichnete und dabei von den sündigen 'Genossen' sprach,
+rief er wiederholt mit starker Betonung dazwischen: 'Und Genossinnen!'
+Damit bist Du in erster Linie gemeint ... Man spricht von einer
+Resolution, durch deren Unannehmbarkeit die Revisionisten hinausgedrängt
+werden sollen ...«
+
+Seltsam, wie kühl, fast gleichgültig ich dieser Möglichkeit gegenüber
+blieb.
+
+Gegen Abend fieberte mein Kind wieder. Es phantasierte von Riesen, die
+das Zimmer füllten, und am Morgen war mir, als ob ich die ganze Nacht
+mit ihnen hätte ringen müssen, um sie vom Bett meines Lieblings
+fernzuhalten. Ich fühlte mich zu Tode erschöpft.
+
+»Wir sind noch nicht über den Berg,« sagte der Arzt mit einem ernsten
+Gesicht, »aber Sie sollten sich trotzdem schonen --.«
+
+»Ich bin die Mutter,« unterbrach ich ihn.
+
+»Gerade darum,« antwortete er.
+
+Aber wie konnte ich von meinem Sohne weichen, solange seine Augen sich
+trübten, wenn ich den Platz an seinem Bett verließ!
+
+Während er ein paar Bleisoldaten auf den weißen Berg seiner Kissen
+klettern ließ, überflog ich zerstreut den neuen Parteitagsbericht. Erst
+Bebels Rede fing an, mich zu fesseln. Er zählte die Sünden jener
+Wochenschrift auf, für die wir fünf Angeklagten geschrieben hatten: Vor
+genau zehn Jahren hatte deren Herausgeber ihn als »rote Primadonna«
+verulkt. Ich staunte: sollte Bebel, der große Bebel, von so kleinlicher
+Empfindlichkeit sein, daß er dergleichen Nebensächlichkeiten als
+unauslöschliche Kränkungen empfand?! Und im vorigen Jahre während des
+Zollkampfes hatte derselbe Redakteur sich gegen die Obstruktionspolitik
+der Sozialdemokraten ausgesprochen. War das nicht sein gutes Recht?
+Sollte er selbst mit seiner Überzeugung hinter dem Berge halten, wenn er
+allen seinen Mitarbeitern die vollste Meinungsfreiheit gewährte?
+
+Ich las weiter. Ich rieb mir die Augen, -- vielleicht war ich es jetzt,
+die fieberte, -- der Kopf fing an, mir zu brennen. Ich las noch einmal.
+Aber ich irrte mich nicht. Hier stand es, ganz deutlich, und noch
+unterstrichen durch den »stürmischen Beifall«, mit dem es begrüßt worden
+war: »Es gibt unter uns Marodeure, die ein solches Blatt
+unterstützen --«, »Elemente, die moralisch tief gesunken sind --«,
+»ihnen gebührt nichts anderes, als ein kräftiges Pfui!«
+
+Griff mir nicht eine rohe Faust an die Kehle --, traten die Augen nicht
+schon aus ihren Höhlen? Und der Boden unter mir, auf dem ich stand,
+schwankte er nicht? -- -- Meine Familie, meine Freunde, meine Existenz,
+-- alles hatte ich der Partei geopfert, -- und jetzt kam dieser Mann und
+beschimpfte mich, weil ich ein paar literarische Kritiken in ein Blatt
+geschrieben hatte, das ihm nicht paßte?! Er, dieser Ritter der Frauen,
+hatte den traurigen Mut, mich vor der ganzen Welt für ehrlos zu
+erklären?! Ich sprang vom Stuhl, -- vergaß mein krankes Kind, -- und
+lief ins Nebenzimmer. Dort in der alten Truhe lag sie noch, -- meines
+Vaters Pistole! Wenn ich ein Mann wäre --! Meine Hand krampfte sich um
+ihren Griff, mein Finger suchte den Hahn. Wenn mein Vater noch lebte!
+Vor ihre Mündung würde er den Räuber meiner Ehre fordern!
+
+»Mama!« rief es von nebenan. Ich strich mit der Hand über meine heiße
+Stirn und warf mit einem spöttischen Achselzucken über die romantische
+Anwandlung, die ich eben gehabt hatte, die alte Pistole in die Truhe
+zurück. Ich stehe ja nicht allein, dachte ich; mein Mann, der auf die
+kleinste Kränkung, die mir angetan wird, mit hellem Zorn reagiert, hat
+mich in diesem Augenblick schon verteidigt, und die anderen alle, die
+getroffen wurden, genau wie ich, werden zu flammendem Protest einmütig
+zusammenstehen.
+
+Aber schon, daß die Diskussion ohne Unterbrechung ihren Fortgang
+genommen hatte, machte mich stutzig. Freilich, der eine der
+Angegriffenen, der eben einen Wahlkreis erobert hatte wie wir,
+verteidigte sich in aufflammender Empörung.
+
+»Auch dem Parteiführer, der die Ehre eines Menschen beschmutzt, gebührt
+ein Pfui,« rief er aus. Aber mitten in seiner Rede war er imstande
+gewesen, mit sentimentaler Rührung von der Verehrung zu erzählen, die er
+für den Beleidiger empfunden hatte! Ich schämte mich, auch nur mir
+selbst solch ein Gefühl zuzugeben. Und als Bebel nachher ein paar
+väterliche Worte der Anerkennung für ihn aussprach, bedankte er sich
+dafür!
+
+Der andere stimmte seine Rede auf denselben Ton und sprach von der ganz
+besonderen Verehrung, die er für den Veteranen der Partei stets
+empfunden habe. Der Dritte endlich brauste zwar in jugendlichem Eifer
+auf, hatte aber schon vorher reumütig abgebeten. Ich schüttelte mich.
+Wer sich so behandeln ließ, war wert, daß er so behandelt wurde. Mein
+Mann, dachte ich triumphierend, wird anders zu sprechen wissen!
+
+Jetzt endlich fand ich seinen Namen unter den Rednern. Unwillkürlich
+suchte ich zuerst nach den Zwischenrufen, nach den wilderregten Szenen,
+die sein Zorn hervorrufen mußte; -- und da stand es ja schon:
+»stürmische Unterbrechungen« -- »große Unruhe« -- »Skandal«. Aber das
+bezog sich gar nicht auf eine Zurückweisung der Beleidigungen Bebels.
+Meine Hände, die das Blatt hielten, begannen zu zittern.
+
+Wie?! Auch was er sagte, klang wie eine halbe Entschuldigung?!
+
+»Wir sind entschlossen, an der fraglichen Wochenschrift nicht mehr
+mitzuarbeiten, da das Interesse der Partei es fordert ...« Und dann:
+»Ich erwarte von Bebel, daß er das schwere und bittere Unrecht, das er
+begangen hat, einsieht und durch eine Erklärung gut zu machen sucht.«
+War das alles? Wirklich alles?! Ich ballte die Hände und drückte die
+Nägel ins Fleisch, ich preßte die Zähne aufeinander, daß sie knirschten.
+Nur nicht weinen, nur jetzt nicht weinen, -- wiederholte ich immer
+wieder. Die große Uhr über dem Schreibtisch tickte laut und vernehmlich,
+-- meines Vaters Uhr, die ich vor fremden Händen gerade noch gerettet
+hatte.
+
+»Er hat dich nicht verteidigt, -- nicht verteidigt --,« sagte sie
+unaufhörlich; oder war es des Vaters Stimme? -- »Nicht verteidigt --«
+
+Ich schrieb an den Vorsitzenden des Parteitags und forderte ihn auf,
+Bebel zu einer Rücknahme seiner Beleidigung zu veranlassen. Mein Wunsch
+wurde abgelehnt. Ich verlangte ein Schiedsgericht, das über meine Ehre
+entscheiden sollte. »Wegen der Meinungsäußerung eines Genossen über den
+anderen kann ein solches nicht angerufen werden,« lautete die Antwort.
+Jetzt also war ich vogelfrei; ausgestoßen aus meiner alten Welt, als
+Ehrlose gebrandmarkt in der neuen!
+
+Ich wurde merkwürdig ruhig. Ich spielte lächelnd mit meinem Sohn, der
+sich langsam erholte. Es gab Stunden, in denen ich dem Schicksal dankbar
+war, das mich an diese Stelle zwang, das es mir deutlicher sagte, als
+Worte es je vermocht hätten: dein Kind allein ist deine Welt.
+
+Fast mechanisch, interesselos, fing ich wieder an, die Berichte zu
+lesen.
+
+Inzwischen war die Abstimmung über die Erklärung des Parteivorstandes
+zur Frage der Mitarbeit von Genossen an bürgerlichen Preßunternehmungen
+vor sich gegangen. Mit überwältigender Mehrheit war sie zur Annahme
+gelangt. Ich lachte unwillkürlich laut auf. So orthodox war bisher nicht
+einmal die Kirche gewesen! Sie war viel zu klug dazu; sie benutzte jede
+Tribüne, wenn es galt, auch nur eine Seele zu gewinnen.
+
+»Nicht darauf kommt es an, _wo_ Parteigenossen schreiben, sondern _was_
+sie schreiben. Je mehr sie mit ihrer Überzeugung und ihrer Person in die
+Reihen der uns noch feindlich Gesinnten eindringen, desto besser ist es
+für unsere Sache, denn wir sind keine Sekte, die sich zu ihrem
+Gottesdienst in ihrer Kapelle verschließt, sondern eine Bewegung, die
+der ganzen Menschheit dienen und die Welt erobern will ...«
+
+Das wäre eine unserer sozialistischen Grundsätze würdige Erklärung
+gewesen. Niemand beantragte sie. Nur vierundzwanzig -- unter ihnen mein
+Mann, Göhre, Vollmar -- hatten den Vorstandsbeschluß abgelehnt.
+
+Und nun stand der zweite Streitpunkt: die Taktik der Partei, die
+Vizepräsidenten-Frage, auf der Tagesordnung.
+
+Bebel referierte. Nach allem Vorhergegangenen erwartete ich eine wütende
+Philippika. Aber das, was er sagte, übertraf jede Erwartung. War das
+derselbe Bebel, der in Hannover so klug und so einsichtig gewesen war?
+
+»Nie und zu keiner Zeit waren wir in der Partei uneiniger als jetzt --;«
+das erklärte er, nachdem wir eben einmütig den größten politischen Sieg
+erfochten hatten! »So geht's nicht weiter, -- jetzt müssen wir endlich
+reinen Tisch machen,« und: »Wer nicht pariert, der fliegt hinaus!« War
+das noch die Sprache des Führers einer demokratischen Partei, oder nicht
+vielmehr die eines Diktators? Er sprach von den Revisionisten als von
+den Leuten, die mit der Bourgeoisie liebäugeln, und verlangte, daß man
+sie öffentlich denunzieren müsse, damit die Genossen sich vor ihnen
+hüten könnten. Er erklärte auf der einen Seite, um einen
+Gewerkschaftsantrag zu Falle zu bringen, daß es für die Fraktion viel zu
+schwierig sei, ganze Gesetzesvorlagen auszuarbeiten, und versicherte auf
+der anderen, daß, wenn die Partei heute zur Herrschaft im Staate käme,
+sie schon morgen wissen würde, was sie zu tun habe. Der heimliche Haß
+gegen die Akademiker, durch den er die Masse des Proletariats
+unzerreißbar mit sich verband, ohne zu fühlen, daß er dem ersten
+Grundsatz des Sozialismus dadurch ins Gesicht schlug, durchglühte seine
+Rede.
+
+»Seht Euch die Akademiker dreimal an, ehe Ihr ihnen Vertrauen schenkt!«
+»Stürmischer Beifall« stand daneben. Und doch waren es Akademiker
+gewesen, die dem Proletariat die Organisation, seiner Bewegung die
+Grundlage und das Ziel gegeben hatten. Schließlich warnte er noch vor
+»dem anderen Teil der Revisionisten, den Proletariern in gehobenen
+Lebensstellungen«. Und niemand lachte ihm ins Gesicht, -- und niemand
+wies mit Fingern auf die, die Beifall jauchzten: Gastwirte, Redakteure,
+Parteibeamte, lauter ehemalige Proletarier in gehobenen
+Lebensstellungen, -- und ihn selbst, der ein wohlhabender Mann geworden
+war. Fielen denn heute lauter Schleier von meinen Augen, oder war ich
+nur vorher blind gewesen?
+
+Nach ihm sprach Vollmar. Er zeigte, wie die Partei seit Jahren
+angesichts der praktischen Forderungen des Tages ein Vorurteil nach dem
+anderen habe fallen lassen, wie zum eisernen Bestand ihrer Taktik
+geworden sei, was kurz vorher als hochverräterische Forderung
+gebrandmarkt worden war. Dann aber wandte er sich persönlich gegen
+Bebel, -- der erste und der einzige, der es mit der Autorität seines
+Namens zu tun vermochte.
+
+»Ein ungezügeltes Temperament schadet nicht nur auf Fürstenthronen,
+sondern auch auf denen der Partei,« rief er aus. »... In welchem Ton hat
+Bebel sich an die ganze Partei gewandt? 'Ich werde nicht dulden ...',
+'Ich werde den Kopf waschen ...', 'Ich werde Abrechnung halten'. Ich,
+ich, ich -- so hat der Lordprotektor Cromwell zum langen Parlament
+gesprochen ...«
+
+Ich atmete tief auf. Auch eine Verteidigung meiner Ehre war diese
+Anklage gewesen. Nur eins verstand ich nicht: er betonte die innere
+Einheit der Partei mit derselben Schärfe, wie Bebel sie geleugnet hatte.
+Wie konnte er nur?! Wären all die Wutausbrüche dieses Parteitages
+möglich gewesen, wenn eine innere Einheit bestanden hätte? Sie waren
+doch nichts anderes als Symptome der Zerrissenheit. Aber die
+Revisionisten schienen sich das Wort gegeben zu haben, Vollmars Ansicht
+nicht nur zu teilen, sondern zu unterstreichen. Dieselben Männer,
+die ständig und, wie mir schien, mit Recht diese und jene
+Programmforderungen der Sozialdemokratie kritisierten und einer
+Umänderung für bedürftig hielten, erklärten plötzlich, daß prinzipielle
+Gegensätze nicht vorhanden seien. War das Feigheit oder nur Schwäche? --
+Schwäche, die in ihren Folgen viel gefährlicher ist als sie? Und ich
+befand mich plötzlich in Übereinstimmung mit einem der schroffsten
+Radikalen in der Partei: »Das ist ja der Jammer des deutschen
+Revisionismus, daß er nie mit einem bestimmten Programm hervorkommt,«
+sagte Kautsky, nachdem er versucht hatte, den auch seiner Ansicht nach
+vorhandenen Gegensatz als den zwischen der Zusammenbruchs- und der
+Evolutionstheorie zu kennzeichnen; »die einen erwarten die Befreiung von
+der sozialen Revolution, die anderen von der allmählichen Entwicklung.«
+
+Mein Mann schrieb mir noch einmal: »Für die Partei wird diese traurige
+Tagung mit ihren zahllosen Hintergründen von Gemeinheit, Klatsch und
+Verhetzung schließlich noch zum guten Ende führen. Der Resolution des
+Parteivorstandes zur Frage der Taktik sind ihre schärfsten Spitzen, auf
+denen wir gespießt werden sollten, genommen worden, und ihre einmütige
+Annahme scheint danach gesichert, was den Frieden in der Partei wieder
+herstellen wird.«
+
+Ich antwortete umgehend: »Ich verstehe Dich und die anderen nicht.
+Selbst wenn die Resolution ihrem Wortlaut nach annehmbar wäre, so ist
+sie es ihrem Sinn nach nicht, und Euer Ja bedeutet keinen Frieden,
+sondern Unterwerfung. Ich bedaure, bei der Abstimmung nicht zugegen zu
+sein. Ich würde, -- und wenn ich die einzige bliebe, -- laut und
+deutlich Nein sagen.«
+
+Als ich den Wortlaut der Resolution zu Gesicht bekam, wurde mir die
+Haltung der Revisionisten vollends unverständlich. Wie viele unter ihnen
+hatten dem Eintritt des Sozialdemokraten Millerand in das französische
+Ministerium zugestimmt, hatten eine allmähliche Eroberung der
+Regierungsgewalt überall für möglich, ja für wahrscheinlich erklärt,
+und jetzt beugten sie sich einer Resolution, in der es hieß: Die
+Sozialdemokratie kann einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der
+bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben. Wie viele verurteilten laut
+und leise die lediglich negierende Haltung der Partei gegenüber der
+Kolonialpolitik, und jetzt verpflichteten sie sich selbst zum
+»energischen Kampf« gegen sie. Aber daß dreihundert ja sagten, traf mich
+immer noch nicht so tief, als daß Heinrich unter ihnen war.
+
+ * * * * *
+
+Mein Kind lag noch immer. Den Genesenden zu beschäftigen, kostete fast
+noch mehr Zeit als den Kranken zu pflegen. Herrisch verlangte der kleine
+Tyrann immer wieder nach Mama, wenn Berta mich ablösen wollte. Aber
+meine Gedanken waren doch wieder frei, und wenn er zur Ruhe gebracht
+worden war, konnte ich, wenn auch mit mattem Blick und müden Händen, in
+den Trümmern meines Lebens suchen, was zu neuem Aufbau noch stark genug
+war. Und ich fand eine unerschütterte Grundmauer: meine politische
+Überzeugung. Vor der Partei konnte ein Bebel mich diskreditieren, konnte
+mir die Arbeit in ihren Reihen kraft seines Bannfluchs unmöglich machen.
+Aber erschöpfte sich denn der Sozialismus in der Partei?
+
+Mein Verstand war befriedigt, und doch blieb es so kalt, so leer in mir.
+Ich sah mich suchend um, -- war die Wärme und die Farbe aus meinem Leben
+gewichen? Ach, im Garten meiner Liebe waren alle Blumen geknickt! Hatte
+der eine rohe Griff meines Gatten so viel vernichten können? Oder war es
+nur ein letzter Herbststurm gewesen, der die schon lange heimlich
+welken endgültig von den Stielen riß?
+
+Eines Abends, ganz plötzlich, öffnete sich die Türe, und Heinrich stand
+vor mir. Wie sah er aus! Aschfahl, die Augen tief in den Höhlen, dunkel
+umschattet, die ganze Gestalt gebeugt.
+
+»Heinz!« schrie ich auf und schlang die Arme um ihn.
+
+»Wenn du mich nur noch liebst -- du,« flüsterte er und bedeckte mein
+Antlitz mit Küssen. »Ich fürchtete mich vor der Heimkehr, weil ich
+dachte, ich könnte auch dich verloren haben, -- aber nun ist alles gut,
+-- nun mögen sie mich steinigen. Ich fühle nichts, nichts als Seligkeit,
+weil deine Liebe mich unverwundbar macht!«
+
+Mir stürzten die Tränen aus den Augen, -- Tränen der Reue, des
+Schmerzes. Er sollte nicht umsonst an meine Liebe geglaubt haben. War es
+nicht Liebe, die wieder erwachte, da er so zerschlagen vor mir stand?
+
+Ich erfuhr allmählich, was geschehen war. Artikel, Erklärungen, Briefe
+legte er mir vor, voll wütender Angriffe auf ihn, den »Urheber des
+Dresdener Parteitages«, den »geistigen Vater eines nie dagewesenen
+Parteiskandals«, voll niedriger persönlicher Verleumdungen. Selbst in
+unserem Leben wühlten fremde Hände, und unter ihrem Griff wurde auch das
+Reinste schmutzig.
+
+Es war ein grauer Herbstabend mit tiefhängenden Wolken und langen
+Schatten in den Zimmern. Ich kauerte in der Ecke des Sofas, unfähig,
+mich zu rühren, wie zerprügelt. Heinrich ging auf und nieder, rastlos,
+-- hie und da griff er mit der Hand nach seinem Kopf, als ob er sich
+vergewissern müsse, daß er noch lebe.
+
+»Nach meiner ersten Rede schon sagte mir Victor Geier: 'Das ist
+politischer Selbstmord'. Als ich dann Bebel antworten wollte, wie es
+nach seinem Angriff allein richtig gewesen wäre,« -- so hatte mich
+Heinrich doch verteidigen wollen! -- »da haben sie mich alle bearbeitet,
+haben im Namen des Parteiinteresses an mich appelliert, und ich war so
+töricht, durch all die widerwärtigen Szenen so erschöpft, daß ich mich
+wirklich unterwarf. Was nützte es?! Nichts! Der Skandal nahm seinen
+Fortgang. Und auf der Strecke bleibe schließlich ich allein!«
+
+Einige Tage später kam Geier zu uns. Die erste Nummer der Neuen
+Gesellschaft war eben in hunderttausend Exemplaren verbreitet worden.
+
+»Ich muß mit Ihnen reden, Genossin Brandt,« sagte er nach einer raschen
+Begrüßung. »Sie haben sich, fern von Dresden, hoffentlich so viel kühle
+Überlegung bewahrt, um eher Vernunft anzunehmen als Ihr Mann.«
+
+Und dann setzte er mir auseinander, was seiner Meinung nach geschehen
+müsse. Zunächst habe sich Heinrich dem Schiedsspruch eines
+Parteigerichts zu unterwerfen.
+
+»Vielleicht einem so objektiven Richter wie Bebel --,« warf ich bitter
+ein.
+
+»Stehen Sie erst einmal am Ende der Laufbahn und müssen zusehen, wie
+andere den ganzen Gewinn Ihrer Lebensarbeit in Frage ziehen!« rief Geier
+heftig, um sich gleich darauf wieder zur Ruhe zu zwingen. »Ohne eine
+Rüge wegen seiner Dresdener Rede wird es natürlich nicht abgehen,« fuhr
+er fort, »im übrigen aber, dafür lege ich jetzt schon meine Hand ins
+Feuer, werden sich alle Verleumdungen als solche erweisen, und Heinrich
+wird nachher eine gesichertere Stellung haben als zuvor.«
+
+»Du weißt, daß ich die Einsetzung eines Schiedsgerichts in meinem
+Wahlkreis bereits selbst veranlaßt habe,« unterbrach ihn mein Mann,
+»wozu also das Gerede?! Komm lieber gleich zur Sache!«
+
+»Wie du willst,« antwortete Geier ruhig und wandte sich wieder mir zu.
+»Er hat Sie, wie es scheint, von meiner anderen Forderung noch nicht
+unterrichtet: das Erscheinen der Neuen Gesellschaft einzustellen.«
+
+Ich fuhr auf: »In diesem Augenblick sollen wir unsere einzige Waffe von
+uns werfen?!«
+
+»Eine nette Waffe!« höhnte Geier. »Solange das Dresdener Spektakelstück
+noch in aller Munde ist, werden vielleicht ein paar Dutzend Leute euer
+Blatt kaufen. Aber über kurz oder lang bleibt euch von der Waffe nichts
+mehr als eine zerbrochene Klinge.«
+
+»Wir haben schon ein kleines Vermögen in die Sache hineingesteckt --,«
+murmelte ich mit gepreßter Stimme.
+
+»Kann mir's denken,« meinte Geier und kräuselte spöttisch die Lippen;
+»vorsichtige Geschäftsleute seid Ihr offenbar nicht. Aber so rettet
+wenigstens, was zu retten ist!«
+
+Heinrichs Gesicht hatte sich mehr und mehr gerötet. Jetzt blieb er dicht
+vor Geier stehen.
+
+»Du benutzt unsere Notlage, um die Partei von einem revisionistischen
+Blatt zu befreien,« zischte er ihn an.
+
+Mit einer heftigen Bewegung sprang Geier vom Stuhl und hieb mit der
+Faust auf den Tisch: »Ich komme nach Berlin gereist, um euch einen
+Freundschaftsdienst zu erweisen, und du begegnest mir so --. Stürze
+dich denn meinetwegen kopfüber in dein Verderben --« Und hinaus war er.
+
+Wir gingen tagelang schweigsam nebeneinander her. Inzwischen fanden
+überall Parteiversammlungen statt, die sich mit den Dresdener
+Ereignissen und ihren Folgen beschäftigten. In den Angriffen auf die
+Revisionisten, ganz besonders auf meinen Mann, übertrafen sie noch den
+Parteitag. Und stets wurde vor der Zeitschrift gewarnt, mit der wir uns
+»auf Kosten der Partei« bereichern wollten. Es gab keinen Ausweg mehr,
+als sie zunächst aufzugeben. Wir hatten die Mittel nicht, um sie gegen
+die herrschende Stimmung in der Partei durchzusetzen.
+
+»Alle freiheitlichen Elemente hatten sich am 16. Juni um Ihre Fahnen
+geschart,« schrieb mir Romberg, »weil sie, von den bürgerlichen Parteien
+im Stiche gelassen, bei der Sozialdemokratie den Schutz der
+Geistesfreiheit, den Hort des Kulturfortschritts zu finden glaubten.
+Dresden hat diesen Wahn zerstört, hat gezeigt, daß der Dogmatismus, die
+Verfolgungssucht Andersdenkender, kurz die ganze Seelenverfassung der
+Inquisitoren, nirgends in so krasser Form zu finden ist, als bei den
+privilegierten Menschheitsbefreiern. Wir sind nun wieder vogelfrei. Und
+Sie?!«
+
+ * * * * *
+
+In der Nacht, nachdem unsere zweite und letzte Nummer erschienen war und
+wir wieder schlaflos den huschenden Wolken draußen und der wachsenden
+Mondsichel zusahen, sagte Heinrich zu mir: »Was meinst du, wenn ich
+ginge?«
+
+Zuerst verstand ich ihn nicht, -- dann aber packte ich mit aller Kraft
+seine beiden Hände und sah ihm mit stummem Entsetzen in das blasse
+Gesicht.
+
+»Ich warnte dich schon einmal, -- vor Jahren,« fuhr er leise und langsam
+fort. »Ich bringe Allen Unglück, -- dir, -- der Partei. Mir scheint, ich
+habe hier nichts mehr zu tun.«
+
+Ich stammelte in heller Angst tausend Liebesworte, ich schmiegte mich an
+ihn, als ob ihm aus meiner Lebenswärme Lebensmut zuströmen könnte. Aber
+er blieb ernst und fest und wußte immer neue Gründe nicht nur für die
+Berechtigung, sondern für die Notwendigkeit seiner Absicht vorzubringen.
+
+Nach alter Gewohnheit pochte morgens unser Bub an die Türe und sprang
+herein, ohne unsere Aufforderung abzuwarten. Es war das erstemal nach
+seiner Krankheit, daß er so früh schon aufstehen durfte. Er kletterte
+eilig auf Heinrichs Bett und sah ihn an, halb überrascht, halb
+erschrocken. Mit jenem rätselvollen Scharfblick des Kindes schien er das
+Fremde, Dunkle erkannt zu haben, das von der Seele seines Vaters Besitz
+ergriffen hatte. Er legte ihm das Händchen auf den Kopf; »so hat Mama
+auch gemacht, wie ich krank war,« erzählte er wichtig, und dann küßte
+und streichelte er »den lieben, guten Papa«, bis sich doch noch ein
+Lächeln um dessen festgeschlossene Lippen stahl.
+
+»Hast du wirklich hier nichts mehr zu tun?!« fragte ich leise, als der
+Kleine wieder davongelaufen war. »Soll dein Sohn einmal von dir glauben
+müssen, daß du dich feige davonstahlst?!«
+
+Er drückte mir die Hand, fest und lang. Ich wußte: wenn die Gespenster
+der Nacht auch nicht auf immer gebannt waren, so würden sie doch keine
+Macht mehr gewinnen über ihn.
+
+ * * * * *
+
+Die Schiedsgerichts-Verhandlungen zogen sich wochenlang hin. Es war eine
+seelische Folter für meinen Mann, und wenn er nach Hause kam, gab ich
+mir alle Mühe, ihn nicht merken zu lassen, wie ich selber litt.
+
+Draußen entwickelte sich wieder in der alten Weise der politische Kampf:
+Radikale und Revisionisten arbeiteten scheinbar einmütig zusammen. Es
+galt diesmal den Landtagswahlen. Mich rief niemand zu Hilfe. Zu keiner
+der zahllosen Versammlungen forderte man mich auf. Ich war die
+Gezeichnete. Und nirgends schien eine Lücke entstanden, weil ich fehlte.
+Ich war wie die Welle, die im Meere aufsteigt und zurücksinkt, ohne eine
+Spur zu hinterlassen.
+
+Zuweilen trafen wir mit unseren politischen Freunden zusammen, --
+zufällig nur, denn die Revisionisten schienen sich nach Dresden noch
+mehr aus dem Wege zu gehen, als vorher. Einmal kamen wir in eine
+ernstere Unterhaltung, und ich verurteilte unumwunden ihre Annahme der
+Dresdener Resolution.
+
+»Mir ist es sogar fraglich,« sagte ich, »ob ihre Ablehnung nicht von
+einem gemeinsamen Austritt aus der Partei hätte begleitet werden
+müssen.« Aber ich stieß auf allgemeinen Widerspruch.
+
+»Damit hätten die Radikalen erreicht, was sie wollten,« rief der eine.
+
+»Wegen einiger Gegensätze in taktischen Fragen werden wir doch die
+Partei nicht im Stiche lassen,« sagte der andere.
+
+»Es wäre nichts als Fahnenflucht,« erklärte einer der Gewerkschafter.
+
+»Und wir würden zurückbleiben, als Offiziere ohne Armee,« meinte mein
+Mann. Ich ließ mich nicht überzeugen.
+
+»Sie haben trotz allem Bekenntnis zum historischen Materialismus aus der
+Geschichte nicht allzu viel gelernt,« entgegnete ich. »Noch immer ist
+die Entwicklung die gewesen, daß eine große Bewegung aus sich heraus
+neue Bewegungen zeugt, deren Träger zunächst nichts sind als ein paar
+Vorläufer, als Offiziere ohne Armee. Und was nun gar die Gegensätze
+betrifft, so glauben Sie doch nicht ernsthaft an ihre Geringfügigkeit.«
+
+»Nein,« antwortete einer der anderen, »aber ich glaube, und habe nach
+unserer bisherigen Entwicklung ein Recht dazu, daß unsere Ideen sich im
+Proletariat von unten herauf durchsetzen. Wir schließen
+Lohntarif-Verträge mit den Unternehmern, und niemand zeiht uns deshalb
+eines Vertuschens der Klassengegensätze; wir arbeiten in den Gemeinden,
+in den Landtagen, und keiner wagt uns deshalb wegen des Paktierens mit
+der bürgerlichen Gesellschaft anzuklagen. Unsere Genossenschaften fangen
+an, wie unsere Gewerkschaften zu einer wirtschaftlichen Macht zu werden,
+und kein Radikalinski hat uns noch vorgehalten, daß das gegen die
+Zusammenbruchstheorie verstößt und wir damit bis zum großen
+Kladderadatsch warten müßten.«
+
+Ich schwieg. Der Mann der praktischen Arbeit mochte gegenüber meinen
+unklaren Theorien doch wohl recht haben.
+
+ * * * * *
+
+Kurz vor Weihnachten legte das Schiedsgericht von Frankfurt-Lebus dem
+Parteitag des Kreises die Resultate seiner Untersuchungen vor, und die
+Genossen erteilten ihren Abgeordneten daraufhin einstimmig das
+Vertrauensvotum.
+
+»Und du freust dich gar nicht?!« sagte mein Mann, als er nachts aus
+Platkow zurückkam, wo die Versammlung stattgefunden hatte.
+
+»Gewiß freue ich mich, -- aber im Grunde ist doch das alles
+selbstverständlich und macht das Geschehene nicht ungeschehen,«
+antwortete ich und dachte an die Zeitschrift, mit der wir unsere
+Aufgabe, wie mir schien, geopfert hatten, an die ungesühnte Kränkung,
+die noch immer wie eine schwärende Wunde an mir fraß, an das
+verstümmelte, beschmutzte Bild der Partei, das einst in so leuchtenden
+reinen Farben vor mir gestanden hatte, an die große Flamme meiner
+Liebesleidenschaft, die über dem Aschenhaufen nur noch leise glimmte.
+
+Aus meines Mannes Wahlkreis wurde ich wieder zu Vorträgen aufgefordert.
+Seltsam genug: es gab noch Genossen, die mir vertrauten, obwohl der
+erste unter ihnen mich für ehrlos erklärt hatte! In diesen Kreisen
+schien das Verständnis für eine Empfindung zu fehlen, die eine
+Reminiszenz an meine aristokratische Herkunft sein mochte, und offenbar
+zu jenen »Eierschalen der Vergangenheit« gehörte, über die in der Partei
+so oft gespottet wurde. Aber wenn auch die anderen alle darüber
+hinwegsehen konnten, ich konnte es nicht. Ich lehnte ab. Meine
+Zurückhaltung wurde falsch gedeutet. Meine Bemerkung über den Austritt
+aus der Partei mochte irgendwie durchgeackert sein. Ich sah, daß ich die
+Stellung meines Mannes, die trotz des Vertrauensvotums eine schwierige
+geblieben war, noch mehr erschwerte. Und ich hatte mir vorgenommen, ihm
+nach wie vor ein treuer Kamerad zu bleiben.
+
+»Sie können wieder über mich verfügen,« schrieb ich nach Frankfurt und
+stürzte mich in die Arbeit, von der ich hoffte, daß sie sich als
+Morphium für die Schmerzen meiner Seele erweisen würde. Und so lange ich
+am Schreibtisch über den Zeitungen und Broschüren saß, hielt sie, was
+ich von ihr erwartet hatte.
+
+ * * * * *
+
+Die Ereignisse schienen mit besonderem Eifer dafür zu sorgen, daß wir
+nicht im Bruderzwist aufgehen konnten. Der Riesenstreik der
+Textilarbeiter von Crimmitschau, die nun schon seit Wochen mit einer
+Ausdauer ohnegleichen um den Zehnstundentag kämpften und dem lockenden
+Gold der Unternehmer ebenso standhielten wie den Verfolgungen der
+Polizei, ließ uns fühlen, daß wir gegen den Feind so einig waren wie
+immer. Und die russische Revolution, die wie ein vom Sturm gepeitschter
+Brand von einem Ende des Riesenreichs zum anderen übersprang, entzündete
+in uns allen eine Hoffnung, als ginge der Stern der Menschheitserlösung
+nun wirklich im Osten auf. Daß Preußen-Deutschland sich zum
+Schleppenträger des Zarismus erniedrigte, daß russische Polizisten im
+Verein mit den unseren die russischen Gäste der Hauptstadt verfolgen
+konnten, daß ein Minister die Reichstagstribüne benutzte, um die
+russischen Studenten der Berliner Universität samt und sonders als
+Anarchisten zu verdächtigen und ihre weiblichen Kollegen der
+Unsittlichkeit zu zeihen, daß der Reichskanzler von ihnen als von
+»Schnorrern und Verschwörern« sprach, -- das löste einen Schrei der
+Entrüstung aus. Die Partei stand wieder auf dem Posten als die einzige,
+die leidenschaftlichen Protest erhob. Und wenn die politischen
+Ereignisse nicht auszureichen schienen, um das Bewußtsein ihrer
+Zusammengehörigkeit in den Genossen aufs neue zu festigen, so sorgten
+unsere Gegner dafür. Sie schufen den Reichsverband zur Bekämpfung der
+Sozialdemokratie, aber die Kette, die sie schmiedeten, um uns damit zu
+fesseln, verband uns nur.
+
+Ich sah das alles. Ich schöpfte Hoffnung daraus nicht nur für den Kampf
+nach außen, sondern auch für die innere Entwicklung, die um so kräftiger
+zu sein pflegt, je unbeachteter sie ist.
+
+Aber als ich zum erstenmal wieder in Frankfurt auf die Rednertribüne
+trat und all die vielen Augen sich auf mich richteten, da versagte meine
+Kraft. Das Blut brannte mir in den Wangen; -- sahen die Menschen mir
+den Schlag nicht an, den ich empfangen hatte?! Und ich fühlte
+feindselige Blicke, spöttisches Lächeln, ich sprach wie gegen ein Tor
+von Erz. Meine Zuhörer blieben kalt.
+
+»Was fehlte dir nur?« fragte Heinrich mich kopfschüttelnd. Ich gab eine
+ausweichende Antwort.
+
+Noch ein paarmal machte ich ähnliche Versuche. Von nervöser Aufregung
+geschüttelt, die mir sonst fremd gewesen war, trat ich schon vor die
+Versammlung. Und dann sprach ich, daß ich mich selbst nicht wieder
+erkannte.
+
+ * * * * *
+
+»Laß mich eine Zeitlang irgendwo zur Ruhe kommen,« bat ich eines Tages,
+mit den Tränen kämpfend, meinen Mann, der in mich drang, ihm die Ursache
+meiner tiefen Verstimmung anzuvertrauen. »Das alles war ein wenig viel
+für mich ...«
+
+Er stimmte mir ohne Besinnen zu. »Wenn es nichts weiter ist, als daß du
+Ruhe brauchst!« sagte er aufatmend und entwarf mir die schönsten
+Reisepläne. »Ich würde dir den Weg auf den Mond bahnen wollen, wenn ich
+sicher wäre, daß meine Alix wieder gesund und froh würde.« Und in alter
+Zärtlichkeit zog er mich an sich.
+
+Doch ich wollte weder auf den Mond, noch nach Italien, noch an die See.
+
+»Ich möchte nach Grainau --,« bat ich zaghaft, denn ich wußte, es regte
+sich immer eine leise Eifersucht in ihm, wenn die Sehnsucht mich dorthin
+trieb, wo so viele Erinnerungen geweckt wurden. »Ilse weiß von Tante
+Klotilde, daß sie diesen Sommer in Augsburg bleibt, -- die Bahn ist also
+frei, und ein Zimmer find' ich schon irgendwo für mich und den Kleinen.«
+
+»Der Bub soll mit?« fragte er mißbilligend. »Dann hast du ja keine
+Stunde Ruhe!«
+
+»-- Ich hätte keine, wenn er nicht bei mir wäre,« antwortete ich.
+
+Eine Woche später fuhren wir den Bergen entgegen. Ich biß mir die Lippen
+wund, um die Tränen zu unterdrücken, als ich im blauen Dunst der Ferne
+die ersten weißen Spitzen aufsteigen sah. Wie hatte ich so lange leben
+können ohne sie!
+
+Es war früh im Jahr. In Garmisch fingen sie gerade an, die Betten zu
+lüften und die Fenster weit aufzureißen. Vier Wochen noch, dann kamen
+erst die Fremden. Jetzt war's so still! Kein Radler, kein Wanderer
+begegnete uns auf dem Wege nach Grainau. Die Wiesen standen voll bunter
+Frühlingsblumen, voll goldgrüner Spitzen die Bäume, und aus dem Walde
+kam der erste süße Maiblumenduft.
+
+Im Dorf, hinter dem Kirchlein, wo der Weg empor zum Eibsee führt, stand
+ein neues blitzblankes Haus mit einer großen himmelblauen Madonna in der
+Mauernische. Der Hof vom Bärenbauern sah daneben ganz alt und
+griesgrämig aus.
+
+»Bä-cke-rei,« buchstabierte mein Junge, der auf seine Lesekünste sehr
+stolz war; »hurra! -- da gibt's immerzu weiße Brötchen,« rief er und
+machte einen Luftsprung -- Semmeln waren sein Leibgericht, »-- dahin
+ziehen wir!«
+
+Und schon lief er am Gartenzaun entlang, mit dem großen schwarzen Hund
+dahinter um die Wette. In der Tür erschien der Meister, dicht hinter
+seinem breiten Rücken lugte neugierig der kleine Lehrling hervor, beide
+mehlbestaubt, und an ihnen vorbei trat grüßend, den gewichtigen
+Schlüsselbund über der weißen Schürze, die blonde Hausfrau. Eben erst
+hatten sie das Haus gebaut, erzählte sie lebhaft, als wir die
+blankgescheuerte Treppe hinaufstiegen, und schon hätten sie die
+Kundschaft der ganzen Gegend. An der »feinen« Wohnung im ersten Stock
+gingen wir vorüber, trotz der neuen städtischen Möbel, die sie uns
+anpries.
+
+»Hier droben in den Stuben steht halt nur der alte Bauernkram,« meinte
+sie entschuldigend und stieß die Türe auf. Ein blauer Schrank mit roten
+Herzen darauf, eine alte Pendeluhr mit blumenbestreutem Zifferblatt und
+einem kreuztragenden Christus darüber, eine breite gewichtige Truhe voll
+bunter Heiligenbilder lachten uns an, wie die Wiesen draußen, so
+farbenfroh. Einem Vogelnest ähnlich hing ein kleiner Balkon vor der
+Glastür, und durch die Fenster guckte der Waxenstein mit seinem faltigen
+Felsengesicht.
+
+»Da bleiben wir,« sagte ich, und mein Junge lief durchs Haus in den
+Garten, und den Hügel hinauf zum Wald und wieder hinunter auf die Wiese,
+als müsse er von allem ringsum Besitz ergreifen.
+
+Wie gut es war, wieder schlafen zu können und die müden Augen in lauter
+Grün und Blau gesund zu baden! Von den Bauern im Dorf erkannte mich
+keiner. Nur der Sepp, mein alter Spielkamerad, rückte mit einem
+flüchtigen Aufblitzen des Erkennens in den Augen an seinem verblichenen
+grünen Hut. Morgens, während mein Junge sich unten am See aus Moos und
+Steinen einen kunstvollen Hafen baute, saß ich auf der alten Bank, dem
+Rosenhaus gegenüber, das sich mit seinen geschlossenen Läden und
+blumenlosen Altanen still und verzaubert im grünen Wasser spiegelte.
+Alle Rosenbüsche vor der Terrasse waren fort.
+
+»Letzten Herbst hat die alte Frau Baronin sie ausgraben lassen,«
+erzählte meine Hausfrau. »Sie wird wohl nimmer wiederkommen,« fügte sie
+hinzu.
+
+»Warum nicht?!« fragte ich erstaunt.
+
+»Schon wie sie wegfuhr, war sie nicht zum Erkennen. Auch so arg brummig
+und bös. Der alte Doktor von Garmisch meint, sie macht's nimmer lang.«
+
+Ich erschrak. Von ihrer Krankheit wußte ich, aber nicht, daß es so
+schlimm um sie stand.
+
+»Das Fräulein von Kleve ist allweil um sie, Tag und Nacht,« berichtete
+die kleine blonde Frau weiter, die froh war, wenn sie schwatzen konnte,
+»aber die Theres', die alte Köchin, hat mir kurz vor der Abreis' noch
+erzählt, daß die Frau Baronin Herzweh hat nach einer anderen,« -- dabei
+traf mich ein neugierig-forschender Blick -- »einer, die sich grad so
+schreibt, wie Sie --«
+
+Ich antwortete nicht ... Mit meiner Ruhe war es wieder vorbei. Alles
+wurde lebendig, was unter diesen Buchen, an diesem See, angesichts
+dieser Berge an Haß und Liebe, an Sehnsucht und Verzweiflung, an
+Trennungsweh und Zukunftshoffnung geweint und gejauchzt, geseufzt und
+gelächelt hatte. Ich war nie mehr allein, und es war nie mehr still um
+mich. Wo ich ging und stand, -- meine ganze Vergangenheit umringte mich,
+und wenn ich schlafen wollte, flüsterte es mir ins Ohr: anklagend,
+höhnend, drohend.
+
+Eines Vormittags, -- ich saß wieder am alten Platz, mit dem Buch im
+Schoß und sah zu dem toten Haus hinüber, -- kam der Bub vom Bärenbauern
+mir nachgelaufen:
+
+»A Depeschen wär da für Sie --« Ich riß sie ihm aus der Hand, sie
+bestätigte nur, was ich erwartet hatte: »Baronin Artern heute morgen
+verschieden. Ihr sofortiges Kommen erwünscht.«
+
+Wir reisten noch am selben Tage nach Augsburg. Mich erfüllte nur ein
+Gefühl: daß ich ihr viel zu verdanken hatte und sie im Kummer um mich
+gestorben war.
+
+In voller Sommerpracht blühte der Garten um das schöne Haus. Weinend
+empfing mich die Theres'.
+
+»Warum sind's bloß nit a Wochen früher gekommen --,« sagte sie immer
+wieder. Ich vertraute meinen Sohn ihrem Schutz. »Du herzig's Buberl,«
+schluchzte sie, »wenn die Frau Baronin nur dich gekannt hätt'!« Ich fing
+an zu begreifen, und jetzt erst fiel mir ein, daß der Tod dieser Frau
+meines Sohnes ganze Zukunft sichern sollte.
+
+Einen Augenblick lang fröstelte mich. Aber nein: wie konnt' ich nur
+zweifeln, -- auch die alte Theres' sah in ihrer Liebe zu mir nur
+Gespenster. Meinem Vater hatte die Tote ihr Wort verpfändet. Ich wandte
+mich zur Treppe.
+
+»Gnä' Frau wollen doch nicht --,« rief die Theres' und griff nach meinem
+Arm.
+
+»Selbstverständlich,« antwortete ich und nahm den Strauß frischer
+Maiglöckchen vom Grainauer Wald aus ihrer Hülle.
+
+»Sie sind alle oben, -- die Herren Leutnants und das Fräulein,«
+flüsterte sie ängstlich.
+
+Ich warf den Kopf zurück und richtete mich gerade auf. »Hier bin ich zu
+Hause gewesen, nicht sie,« sagte ich laut und schritt die Stufen empor.
+Hinter der Türe des Eßzimmers hörte ich Stimmengewirr.
+
+»Sie wird nicht kommen --,« sagte einer. Ich trat ein. Wie vor einer
+Geistererscheinung sprangen sie von den Stühlen, meine Vettern und
+Basen, die sich hier häuslich niedergelassen hatten. Ich ging ohne Gruß
+an ihnen vorüber, durch die Flucht der Zimmer mit ihren kostbaren
+Teppichen und seidenen Möbeln, die mir alle so lebendig schienen, so
+vollgesogen von Vergangenheit. Im Musiksaal, vor der letzten Türe
+zögerte ich. Mir klang in den Ohren, was die Tote vor Jahrzehnten aus
+diesem Flügel hervorgezaubert hatte. Ich war ein Kind gewesen damals;
+die Töne waren an mir vorbeigerauscht; jetzt erst verstand ich sie:
+wieviel Leidenschaft, wieviel ungestillte Sehnsucht hatte das Herz der
+Frau bewegt, die nun auf immer verstummt war.
+
+Sie lag aufgebahrt, vom betäubenden Duft unzähliger Blumen umgeben, auf
+ihrem Lager. Ich stand wie erstarrt. Ich konnte nicht in die Kniee
+sinken und nicht den Blick losreißen von ihr: das war sie doch gar
+nicht, -- das war eine Fremde! Nie hatte ich um ihren Mund diesen
+grausamen Zug gesehen und auf ihrer Stirn diese vielen finsteren Falten.
+Die ich gekannt hatte, die mich liebte, war eine andere gewesen. Ich
+hielt den Strauß Maiglöckchen noch in der Hand, als ich das Haus
+verließ.
+
+Wir geleiteten sie zu Grabe. All jene alten augsburger Familien mit den
+berühmten Namen und unberühmten Nachkommen folgten ihrem Sarge. Aber vor
+der dunkeln Pforte des Erbbegräbnisses der Artern weinten von allen, die
+es umgaben, nur zwei: die alte Theres' und ich. Und von denen, die mir
+einst nahe gestanden hatten, grüßte mich nur einer: mein alter Lehrer,
+der Pfarrer.
+
+Er besuchte mich am Nachmittag im Hotel, und erzählte mir von seinem
+letzten Zusammensein mit der Verstorbenen. Vor kaum zwei Monaten war es
+gewesen; sie hatte ihn zu sich bitten lassen, um von mir zu sprechen.
+
+»Sie hat Ihretwegen mehr gelitten, als sie sich merken ließ,« sagte er.
+
+»Meinen Sie?!« fragte ich zweifelnd und dachte an das fremde Gesicht,
+das ich auf dem Totenbett gesehen hatte.
+
+»Ich bin dessen sicher,« antwortete er; »sie wird es Ihnen auch noch
+beweisen,« fügte er bedeutungsvoll hinzu.
+
+Dann kam ihr Bankier, um mir über den Zeitpunkt der Testamentseröffnung
+Mitteilung zu machen. »Frau Baronin hat mich ausdrücklich beauftragt,
+Sie, als ihre Haupterbin, um Ihre Anwesenheit zu ersuchen,« erklärte er.
+
+Etwas wie Freude begann heimlich von meinem Herzen Besitz zu ergreifen,
+und Dankbarkeit löschte alle Erinnerung an die grausamen Züge der Toten
+aus. Sie hatte mir, da sie lebte, oft bitter weh getan, und nun nahm sie
+die schwere Sorgenlast des Lebens auf einmal von mir!
+
+Es kränkte mich, daß die Theres' mich so mitleidig ansah.
+
+»Ich weiß, was ich weiß --,« sagte sie, »die da oben --« und sie ballte
+die Faust nach dem Zimmer, wo die Kleves mit dem Testamentsvollstrecker
+verhandelten, »-- waren immer bei ihr, -- ich hab' oft genug gehört,
+wie sie von Alix Brandt erzählten --.«
+
+Acht Tage später versammelten sich die Erben zur Testamentseröffnung im
+Gerichtsgebäude. Ein nüchterner Raum mit kahlen Wänden. Kastanienbäume
+vor den Fenstern, durch die kein Sonnenstrahl drang. An den Pulten der
+grauköpfige Richter, der krumme Schreiber. Auf den steifen Stühlen wir
+alle in schwarzen Kleidern. Zwei Schriftstücke aus verschiedenen Zeiten
+wurden verlesen. Das erste entsprach der Mitteilung ihres Bankiers. Das
+zweite, -- sie hatte es sechs Wochen vor ihrem Tode auf dem Krankenbett
+geschrieben, -- enthielt nur ein paar Zeilen: »Hiermit enterbe ich meine
+Nichte, Frau Alix Brandt, geborene von Kleve, weil sie in Wort und
+Schrift der Umsturzpartei dient.«
+
+Es wurde ganz still im Zimmer. Die Köpfe all derer, die neben mir saßen,
+senkten sich; mich aber überkam ein Gefühl des Triumphes. Mit fester
+Hand setzte ich als Erste meinen Namen unter das Protokoll und verließ
+das Zimmer, an den anderen vorbeigehend, die scheu zur Seite wichen,
+erhobenen Hauptes.
+
+Jetzt war meiner Überzeugung auch das letzte zum Opfer gefallen. Die
+Schmach von Dresden war ausgewischt. Das Schicksal selbst zwang mich auf
+meine eigenen Füße. Nun war ich stark genug, allein zu gehen.
+
+
+
+
+Fünfzehntes Kapitel
+
+
+Draußen auf dem Asphalt brannte die Sommersonne. Ein Geruch von Pech und
+Staub erfüllte die gewitterschwere Luft. In dem dunkelsten Winkel einer
+jener öden Straßen Berlins, die keine anderen Farben haben als die
+grellbunten der Firmenschilder, die kein neugierig flanierendes Publikum
+kennen, weil ihnen die Anziehungskraft glänzender Schaufenster fehlt,
+hatte der Sommer sein ganzes Füllhorn ausgeschüttet: Ein enger Hof war
+zum Blumenteppich geworden, eine graue Eingangshalle zum Laubengang. Und
+öffnete sich die Doppeltür des hohen Gebäudes dahinter, so schlug
+Sommerblumenduft dem Eintretenden entgegen. War er von der nüchternen
+Straße in einen Palast geraten? Zwischen blühenden Büschen standen weiße
+Bänke, auf den Tischchen davor rote Rosen in Gläsern von geschliffenem
+Kristall. Eine Flucht fürstlicher Räume schloß sich daran, mit weichen
+Teppichen auf dem Estrich und Gobelins an den Wänden und tiefen Sesseln
+vor den Kaminen. Frauenbildnisse hingen in den langen Galerien daneben;
+ein Rascheln und Knistern von Frauenkleidern, ein Wispern und Flüstern
+von Frauenlippen war darin. In den großen Sälen saßen dicht gedrängt von
+früh bis spät lauter Frauen und lauschten mit sehnsüchtigen Augen und
+heißen Wangen den Rednerinnen, die ihnen vom Kampf und Sieg, vom
+Wünschen und Hoffen ihres Geschlechts erzählten.
+
+Das Weltparlament der Frauen tagte hier. Während acht Tagen wurde in
+vier Sektionen zugleich verhandelt. Kunst und Wissenschaft, Erziehung
+und Unterricht, Recht und Sitte -- nicht ein Gebiet, das das Leben des
+Weibes berührt, blieb unerörtert. Die Großen sprachen und die Kleinen,
+die Vorsichtigen und die Draufgänger, die Weiten und die Engen. Es war
+eine Revue der Frauenbestrebungen, ein neutraler Boden für alle
+Richtungen, eine freie Bahn, um einander kennen zu lernen. Nur die
+Sozialdemokratie Deutschlands hatte sich selbst ausgeschlossen, obwohl
+die Leitung des Kongresses ihr alle Referate über die Arbeiterinnenfrage
+hatte überlassen wollen und ihr damit die Gelegenheit geboten worden
+wäre, das Elend der Massen zu schildern, das sonst in diese Säle keinen
+Eingang fand, und die Lehren des Sozialismus zu verkünden, die die
+Hunderte und Tausende, die hierher kamen, nur in den Zerrbildern seiner
+Gegner gesehen hatten.
+
+Vor acht Jahren hatte ich mich diesem Beschluß gefügt: die christliche
+Idee der notwendigen Einheit von Glaubensdienst und Selbstaufopferung,
+die ich durch ein Leben der Selbstbehauptung glaubte überwunden zu
+haben, hatte in dem Augenblick wieder von mir Besitz ergriffen, wo ich
+mich der Sozialdemokratie anschloß. Die »Sache« war die mystische Macht
+gewesen, die über mir gestanden hatte. Sie war bei mir, wie bei
+Hunderttausenden meiner Genossen, -- als wolle Gott, der von uns
+verlassene, sich an uns rächen, -- an seine Stelle getreten. Nun aber
+war der Bann gebrochen. Daß ich den zur Hochburg der Frauen verwandelten
+Musikpalast Berlins betrat, war ein erstes Zeichen innerer Befreiung.
+
+Ich sprach überall, wo die Interessen der Arbeiterinnen zur Debatte
+standen. Und allmählich strömten die Frauen mir nach, wenn ich von einem
+Saal zum anderen ging, und manche Diskussion, manche persönliche
+Unterhaltung bewies mir besser als Beifallssalven, die oft nur der
+Freude an der Sensation gelten mochten, daß der Samen des Sozialismus
+auf guten Boden gefallen war. Gewiß, solche Wirkungen lassen sich nicht
+messen, sie kommen nicht in den Zahlen der Partei- oder
+Gewerkschaftsmitglieder zu sichtbarem Ausdruck, aber auch sie rufen in
+Haus und Schule, in Gesellschaft und Staat jene Kräfte hervor, die von
+innen heraus an der allmählichen Umwandlung der Geistesrichtung der
+Menschen tätig sind. Während ich hin und herging und diese und jene
+hörte, sah ich wie groß die Wandlung schon war, die die Frauenbewegung
+im Laufe des letzten Jahrzehnts durchgemacht hatte.
+
+Damals hatten sie sich vor mir gefürchtet, als ich in ihrem Kreise der
+Sozialdemokratie Erwähnung tat, heute stimmten die meisten von ihnen in
+ihren wesentlichen Gegenwartsforderungen mit denen der Partei überein.
+Damals war es innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung eine vereinzelte
+Tat gewesen, als ich das Frauenstimmrecht in öffentlicher Versammlung
+forderte, heute wurde in den Mauern Berlins der Bund für
+Frauenstimmrecht gegründet So ging es doch vorwärts, auch da, wo meine
+Parteigenossen nichts als Stillstand sahen, nichts anderes bemerken
+wollten, weil sie meinten, den dunkeln Hintergrund einer einheitlichen
+Reaktion nötig zu haben, um sich selbst in um so hellerem Licht zu
+sehen, statt auch aus leisen Tönen den Siegesmarsch des Sozialismus
+herauszuhören. Mein Mann hatte ein wenig spöttisch den Mund verzogen, --
+zu einem wirklichen Lächeln kam es bei ihm kaum mehr, -- als ich an dem
+Kongreß teilnahm.
+
+»Du bist ein Trotzkopf,« hatte er gesagt; »du übersiehst in dem Eifer,
+mit dem du dich dem Beschluß der Genossinnen entgegenstemmst, die
+Folgen, die solch eine Handlungsweise für dich haben kann. Man wird dich
+vollends boykottieren.«
+
+Ich zuckte die Achseln.
+
+»Solltest du wirklich schon so weit über den Dingen stehen?!« fragte er
+zweifelnd. Ich wandte mich ab. Er sollte nicht sehen, daß ich schwächer
+war, als ich mich zeigte.
+
+Als ich sichtlich erfrischt aus den Verhandlungen nach Hause kam, meinte
+er unmutig: »Vor acht Jahren gefielst du mir besser als jetzt, wo du
+dich freust, weil dieselben Leute dir Beifall klatschen, die damals
+sittlich entrüstet waren --«
+
+Ich unterbrach ihn heftig: »Wie kannst du mich so mißverstehen! --
+Gewiß, ich bin nicht von Stein, ich freue mich, wenn ich höre, wie die
+Ideen meiner 'Frauenfrage' Verbreitung gefunden haben, ich
+freue mich, daß die Mutterschaftsversicherung, daß selbst die
+Haushaltungs-Genossenschaft aus dem Stadium des Bewitzelns in das
+ernster Erörterung getreten ist, und ich leugne auch gar nicht, daß
+Anerkennung mir wohl tut, als tröpfle mir jemand ein schmerzstillendes
+Mittel in eine unheilbare Wunde, -- aber das Alles ist doch nicht die
+Ursache meiner Befriedigung. Mein Glaube an die Entwicklung im Sinne des
+Sozialismus ist das einzig Feste, was mir noch nach all dem
+Zusammenbruch geblieben ist. Wenn ich nur das Geringste entdecke, was
+ihn zu stützen, zu kräftigen vermag, so macht mich das stärker.«
+
+»Du bist doch noch sehr jung und sehr bescheiden!« warf Heinrich ein.
+Ich unterdrückte einen Seufzer. Seine morose Stimmung war imstande, jede
+Spur erwachter Freudigkeit wieder zu zerstören, wie der Fluß, wenn er im
+Frühjahr aus seinen Ufern tritt, mit öder weiter Wasserfläche die
+blühenden Wiesen bedeckt. Ich fühlte, wie auch meine Arbeitskraft
+darunter litt, wie Gedanke und Gefühl erstarrten, sobald sie in die
+eisige Atmosphäre seiner Deprimiertheit gerieten.
+
+Leise, unmerklich zunächst und doch von Tag zu Tag mehr, löste ich mich
+von ihm. Das Problem der Ehe wuchs, eine üppige Schlingpflanze, und
+drohte zu überwuchern, was noch an Liebe zu blühen verlangte.
+
+ * * * * *
+
+Für die Frauenbewegung war der Kongreß neuer Wind in die Segel gewesen.
+Alle Fragen, die sie umfaßte, standen wieder im Mittelpunkt der
+öffentlichen Diskussion. Das Für und Wider wurde leidenschaftlich
+erörtert, und in der konservativen kirchlichen Presse erhoben sich
+lauter als früher die Stimmen derer, die mit dem Feldgeschrei: Erhaltung
+der Ehe und der Familie! den Emanzipationsbewegungen des weiblichen
+Geschlechts gegenübertraten. In einer Versammlung, die von einem der
+bürgerlichen Frauenvereine einberufen worden war, sollte diesen
+Angriffen begegnet werden. Ich ging hin. Mehr aus Neugierde, und weil es
+mich belustigte, daß lauter ehelose alte Mädchen sich für berufen
+hielten, über diese Probleme zu urteilen, als in der Absicht selbst zu
+sprechen.
+
+Die Referentin verteidigte zuerst die Frauenbewegung als die Begründerin
+eines neuen, schöneren, festeren Ehe- und Familienlebens:
+
+»Gerade der Bund zwischen zwei gleichen, geistig und sittlich gereiften
+Menschen ist der glücklichste, dauerndste,« sagte sie. »Der Mann wird in
+der Frau nicht mehr nur die Geliebte, die Mutter seiner Kinder sehen,
+sondern eine Kameradin, die seine Interessen teilt und fördert. Das
+Familienleben wird sich dadurch erneuern, denn der Mann braucht nicht
+mehr außerhalb seines Hauses geistiger Anregung, geistigem Austausch
+nachzugehen...«
+
+Mich reizte der salbungsvolle Ton, mit dem sie sprach, und die Art, wie
+sie die Wogen der Frauenbewegung durch das Öl unbeweisbarer
+Prophezeiungen zu besänftigen suchte. Ich meldete mich zum Wort.
+
+»All Ihre schönen Argumente,« rief ich aus, »beruhen auf einem
+Trugschluß: der Instinkt der Sinne ist doch nicht identisch mit dem
+geistigen Verständnis! Nichts gibt die Gewähr dafür, daß zwei geistig
+reiche Individualitäten, die einander in heißer Liebe begehren, nun auch
+mit all den feinen Regungen ihres Seelen- und Geisteslebens
+zusammenstimmen, Regungen, die um so differenzierter sind, je höher
+entwickelt der Einzelne ist. Und wer vermag zu sagen, ob nicht trotz
+geistiger Übereinstimmung die Liebe erkaltet oder sich auf einen anderen
+Gegenstand richtet? Denn auch die Liebesgefühle und das Liebesbegehren
+ist vielgestaltiger, differenzierter geworden und nicht mehr so leicht
+und so unbedingt zu befriedigen ... Nein, meine Damen, lassen Sie sich
+nicht einlullen durch falsche Prophezeiungen, sammeln Sie vielmehr Ihre
+Kräfte durch die klare Erkenntnis neuer Probleme. Mit dem durch die
+Angst um die Gefährdung alten geliebten Besitztums geschärften Spürsinn
+des Feindes haben die Gegner bald empfunden, was ihnen droht: Je mehr
+sich das Weib zur selbständigen Persönlichkeit entwickelt, mit eigenen
+Ansichten, Urteilen und Lebenszielen, desto mehr ist die alte Form der
+Ehe bedroht. Ihr Glück beruhte nicht auf Gleichheit, sondern auf
+Unterordnung, nicht auf Arbeitsgemeinschaft, sondern auf Arbeitsteilung.
+Für den Mann war die Ehe von einst, an der Seite einer von den Kämpfen
+der Zeit unberührten, nur der Sorge des Hauses lebenden Gattin, der
+Hafen der Ruhe. Heute findet er daheim neben der ihm geistig
+ebenbürtigen Frau dieselbe Nervosität, dasselbe geistig angespannte
+Leben wie draußen. Für die Frau war er das einzige Symbol alles äußeren
+Lebens, allein von ihm empfing sie gläubig die Botschaften der Welt, die
+Ansichten und Urteile über sie. Jetzt kennt sie das Leben aus eigener
+Anschauung, sie denkt selbständig, sie übersteht ihn vielfach; sie
+findet in ihm so wenig den Schöpfer ihres inneren Lebens, als er in ihr
+die Quelle der Ruhe und des Behagens findet. Was früher einte: das
+Zusammenleben, kann heute schärfer trennen, als jede äußere Trennung es
+vermag ... Es kommt aber auch gar nicht darauf an, daß wir mit heißem
+Bemühen die Ehe retten; mag sie an der Entwicklung zerschellen, wie
+manche andere Lebensform, wenn nur der Kern erhalten bleibt: die Liebe.«
+
+Man hatte mir mit steigender Erregung zugehört. Ich sah, wie eine Frau
+nach der anderen sich mit hochrotem Gesicht zum Worte meldete. Sie
+überfielen mich förmlich. Als eine Vertreterin der freien Liebe, eine
+mit deren Ideen ihre Begebungen nicht das mindeste zu tun hätten,
+griffen sie mich an.
+
+»Ihre Verteidigung nützt Ihnen nichts,« antwortete ich nochmals. »Die
+ersten Träger einer Entwicklung sind nur in seltenen Fällen zugleich die
+Propheten ihrer letzten Konsequenzen gewesen. Als Luther seine 93 Thesen
+an die Schloßkirche zu Wittenberg schlug, glaubte er, die Zyklopenmauer
+der katholischen Kirche, die hier und da abzubröckeln begann, fester
+aufzubauen. Als Montesquieu seinen 'Esprit des lois' und Rousseau seinen
+'Emile' schrieb, glaubten sie einige dunkle Gebiete des Staats und der
+Gesellschaft aufzuhellen. Keiner von ihnen wußte, daß sie die
+Brandfackel in das ganze Gebäude warfen. Auch Sie propagieren Reformen
+und werden zu Trägern der Revolution...«
+
+Als ich geendet hatte, kämpfte lautes Zischen mit vereinzeltem Beifall;
+als ich aber den Saal verließ, leuchteten mir aus jungen Gesichtern
+dankerfüllte Blicke entgegen; es war nicht nur mein eigenes Erleben
+gewesen, das ich in Worte gefaßt hatte.
+
+An der Türe traf ich meinen Mann, der mir, ohne daß ich es wußte,
+gefolgt war. Ich errötete unwillkürlich.
+
+»War das ein Bekenntnis?« fragte er. Ich nickte. »Wollen wir nicht auch
+unsere Liebe retten?« fuhr er leise fort und zog meinen Arm durch den
+seinen. Mir wurde warm ums Herz: wie gut er war! Ein tiefes
+Schuldbewußtsein bemächtigte sich meiner: Waren es nicht im Grunde
+lächerliche Kleinigkeiten, die uns voneinander entfernten, war es nicht
+frevelhaft, aus selbstischen Motiven den großen Schatz der Liebe aufs
+Spiel zu setzen? Ein böser Zauber hatte ihn in die Tiefe versenkt, war
+er es nicht wert, daß ich ihn durch meine Hingabe erlöste?
+
+Ich wußte, was meinen Mann bedrückte, aber ich hatte es bisher nicht
+sehen wollen. Je mehr er litt, desto schweigsamer wurde er; nur an den
+gefurchten Zügen, an den finsteren Blicken, und hie und da an einem
+hingeworfenen Wort erkannte ich, daß er sich in selbstquälerischen
+Vorwürfen verzehrte. Die Schatten des Dresdener Kongresses fielen noch
+breit über den Weg der Partei, -- er fühlte sich mitschuldig daran. Und
+er hatte in einem Moment fortgeworfen, wodurch er der Partei wieder
+hätte helfen können, die Schatten zu bannen: die Neue Gesellschaft.
+
+»Das Aufgeben der Zeitschrift war heller Wahnsinn,« sagte er zuweilen.
+Aber war nicht der Verkauf des Archivs schon Wahnsinn gewesen? Und ich
+hatte ihn darin bestärkt, ich war mitschuldig, wenn er Schiffbruch litt!
+Und in diesem Augenblick hatte ich ihn im Stiche lassen wollen! Hatte
+mich bitter gekränkt gefühlt, weil er seine Stimmung nicht beherrschte,
+weil er es an Liebesbeweisen fehlen ließ!
+
+Ich wußte auch, was ihm helfen würde. Oft genug sprach er davon: die
+Neue Gesellschaft wollte er wieder erscheinen lassen. Aber wenn er mich
+dabei fragend ansah, so schwieg ich, und ein heftiges Wort schwebte mir
+jedesmal auf der Zunge. Richtete er eine direkte Frage an mich, so
+äußerte ich rücksichtslos meinen Widerspruch.
+
+»Nicht drei Monate würden wir mit dem bißchen, was wir aus dem
+Zusammenbruch gerettet haben, die Zeitschrift halten können,« sagte ich,
+»und ich habe schon zu viel an Sorgen ertragen, um sehenden Auges dem
+vollständigen Ruin entgegenzugehen.«
+
+ * * * * *
+
+Wenn Graf Bülow im Reichstag über den Dresdener »Jungbrunnen« höhnte,
+wenn jedes ernste Wort unserer Fraktionsredner im Gelächter der
+bürgerlichen Parteien erstickte und die Kraft unserer 81 Abgeordneten
+lahmgelegt blieb seit Dresden, so waren das nicht vereinzelte
+Erscheinungen, sondern Symptome der allgemeinen Stimmung der Partei
+gegenüber. Und ein Wochenblatt sollte imstande sein, sie zu zerstreuen?
+Immer deutlicher rückte alles ab von uns, was uns nahegestanden hatte.
+Noch kam ich zuweilen in Künstler- und Literatenkreise, aber ich fühlte
+sogar ein persönliches Sichzurückziehen. Das Interesse wandte sich
+augenscheinlich ganz anderen Gebieten zu. Die l'art pour l'art-Stimmung
+breitete sich aus. Mit dem Verschwinden der Arme-Leute-Bilder und Dramen
+verschwand die oppositionelle Gesinnung. Dichter und Maler, die noch vor
+kurzem wenigstens durch lange Haare, Samtjacken und fliegende Krawatten
+den Bohemien markiert hatten, exzellierten jetzt in tadellos
+weltmännischen Allüren und beurteilten den lieben Nächsten nach seinem
+Schneider. Wie vor wenigen Jahren noch der Weg ins Volk die Parole der
+künstlerisch-literarischen Jugend gewesen war, so wurde jetzt die
+Vornehmheit Trumpf. Nicht jene echte der Bewegung und Gesinnung, die der
+Gefahr des Kopiertwerdens nicht ausgesetzt ist, sondern die müde der
+Dekadenz, die sich jeder aneignen kann, dessen Finger genügend lang,
+dessen Gestalt genügend schmal und dessen Charakter genügend biegsam
+ist.
+
+»Und von diesem dürren Boden glaubst du ernten zu können?!« fragte ich
+meinen Mann.
+
+»Nein,« entgegnete er, »aber ich bin optimistisch genug, um auch ihn für
+bearbeitungsfähig zu halten.«
+
+Wir widersprachen einander immer. Nur wenn die Ereignisse in der
+Sozialdemokratie die feindliche Haltung gegen die Revisionisten gar zu
+deutlich hervortreten ließen, kam es vor, daß er selber sagte:
+
+»Es ist doch vielleicht noch zu früh!«
+
+Jeder geringfügige Anlaß genügte, um in der Partei den heftigsten Streit
+hervorzurufen. So war einem der in die Dresdener Skandale verwickelten
+Revisionisten die Kandidatur eines sächsischen Wahlkreises angeboten
+worden. Alle höheren Parteiinstanzen erklärten sich dagegen; die
+Vernichtung der bisher geltenden Autonomie der Wahlkreise war die Folge,
+und nun entspann sich eine leidenschaftlich erregte Diskussion in der
+Presse, die auch in Volksversammlungen ihr Echo fand.
+
+»Die Minderheit hat sich der Mehrheit zu fügen,« hieß es kategorisch auf
+Seite der Radikalen.
+
+»Die Sozialdemokratie hat jede Art von Machtentfaltung, die die
+Minderheit in ihrer Existenz bedroht, zu bekämpfen, also zu allererst
+die in den eigenen Reihen. Es ist Despotie und nicht Demokratie, wenn
+die Rechte der Minderheit schutzlos sind,« lautete die Antwort auf Seite
+der Revisionisten.
+
+In einem anderen Fall vertrat ein Parteigenosse in bezug auf die
+Zollfragen theoretisch von den Ansichten der Partei abweichende
+Meinungen. Er wurde einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen, und sein
+Ausschluß aus der Partei war die Forderung vieler. Wortglaube,
+nicht Geistesglaube war für die Dogmatiker Voraussetzung der
+Parteizugehörigkeit.
+
+Ich hörte überall dieselbe Dissonanz heraus, die in mir tönte:
+Selbstbehauptung gegen Selbsthingabe, -- Individualismus gegen
+Sozialismus, -- dieselbe Dissonanz, die dem Dresdener Konzert
+zugrundegelegen und keine Auflösung gefunden hatte. Ob mein Mann und mit
+ihm seine politischen Freunde wohl im Rechte waren, wenn sie
+behaupteten, daß die Einheit in der praktischen Tagespolitik über diese
+inneren Gegensätze hinweghelfen würde?
+
+Wenn ich meine Zweifel äußerte, so war es Reinhard vor allem, der sie
+auf Grund seiner Erfahrungen zu entkräften suchte.
+
+»Sie sollten bei uns in den Gewerkschaften lernen,« sagte er; »da
+besteht diese Einheit tatsächlich und ist die Grundlage unseres
+wachsenden Einflusses geworden.«
+
+Ich erinnerte mich dann der Zeiten, wo er unter den Politikern der
+radikalsten einer gewesen war, und ich konnte mich der Empfindung des
+Bedauerns nicht erwehren: damals durchglühten die Ideale des
+Sozialismus seine Reden, heute schien nicht nur sein Handeln, sondern
+auch sein Denken den Horizont des Auges nicht mehr zu überschreiten.
+Arbeiterrechte und Freiheiten rang er mit eiserner Energie dem
+Unternehmertum ab und richtete den Blick bei jedem Schritt vorwärts
+konsequent nur auf den nächsten Schritt. Darin lag vielleicht seine
+Kraft. Aber die Stimmung praktischer Nüchternheit, die ihn beherrschte,
+war nicht die Atmosphäre, in der die umfassenden Ideen der
+Menschheitsbefreiung sich entfalten.
+
+Mein Mann, der gerade in dieser Richtung auf die Forderungen des Tages
+das Heilmittel für die inneren Schäden der Partei zu finden glaubte,
+beschäftigte sich viel mit den Gewerkschaften.
+
+»Das sind die Kerntruppen,« meinte er, »ihre Wünsche und Bedürfnisse
+müssen wir kennen, wenn wir einmal mit unserer Zeitschrift wirken
+wollen.«
+
+Wir besuchten ihre Versammlungen. Ruhige Arbeit herrschte hier. Mit
+tiefgründiger Kenntnis wurden sozialpolitische Fragen behandelt,
+besonders die des Heimarbeiterschutzes, die damals im Mittelpunkt des
+Interesses standen. Es war bezeichnend für den Geist der
+Gewerkschaftsbewegung gewesen, daß fast zu gleicher Zeit, wo die
+Einladung zum Frauenkongreß von den Sozialdemokratinnen abgelehnt
+worden war, die Generalkommission der Gewerkschaften den
+Heimarbeiterschutz-Kongreß einberufen und die Interessenten aus
+bürgerlichen Kreisen zur Teilnahme aufgefordert hatte.
+
+Aber wenn die bewußte Beschränkung der Bewegung auf der einen Seite
+einen erstaunlichen Grad von Wissen, von Energie, von Zielsicherheit
+zeitigte, so entwickelte sich auf der anderen Seite eine gewisse
+Engigkeit, ein Organisationsegoismus, der vom Standesdünkel alter Zeiten
+nicht zu weit entfernt war. Ich agitierte selbst für die Gewerkschaften;
+ich verfocht in Versammlungen die Forderungen zum Heimarbeiterschutz,
+die wir im Kongreß aufgestellt hatten, ich wußte, wie notwendig das
+alles war, aber ich hätte darin nicht aufzugehen vermocht, und es schien
+mir nicht unbedenklich, daß so viele tüchtige Kräfte, von der
+politischen Bewegung angewidert, mehr und mehr darin aufgingen. Tönte
+nicht der starke Pulsschlag der Zeit nur gedämpft hierher, wo sich
+Kräfte und Gedanken im engen Kreis der Organisationsarbeit, der
+Sozialreform bewegten? Lagen hier nicht die Keime einer gefährlichen
+Entwicklung von Egoismus gegen Sozialismus?
+
+Allmählich war's, als öffneten sich mir immer neue Tore mit weiten
+Ausblicken auf unbekannte Gebiete der Arbeiterbewegung. Eine
+Schulvorlage, die von der preußischen Regierung schon lange in Aussicht
+gestellt war und auf Einführung konfessioneller Schulen hinauslief, rief
+in der Presse und in Versammlungen eine lebhafte Kontroverse über
+Erziehungsfragen hervor. Der bloße selbstverständliche Protest dagegen,
+die bloße Forderung der Trennung von Schule und Kirche genügte nicht
+mehr. Wer sich aus Arbeiterkreisen an den Debatten beteiligte, der hatte
+sich auch mit den Details der Frage beschäftigt, und ein Verlangen nach
+weiterer Aufklärung wurde laut. In einer kleinen Versammlung vor den
+Toren Berlins hörte ich einen alten Arbeiter von Pestalozzi sprechen. Er
+hatte ihn nicht nur gelesen, sondern in sich aufgenommen und schilderte
+die Arbeitsschule der Zukunft, die an Stelle der »Paukschule« der
+Gegenwart treten würde, mit demselben Enthusiasmus, wie ein anderer sich
+über den Zukunftsstaat verbreitet haben würde. Auf solche und ähnliche
+Erfahrungen hin wagte ich es, die »pädagogische Provinz«, Goethes
+Erziehungsutopie, zum Gegenstand eines Vortrags zu machen. Ein
+Riesenauditorium, das nur aus Arbeitern bestand, folgte mit gespannter
+Aufmerksamkeit allem, was ich sagte, und in der Diskussion zeigte sich
+nicht nur, daß ich verstanden worden war, sondern auch wie viele ihren
+Goethe gelesen hatten. Jetzt fing ich an, mit erwachtem Interesse den
+nicht politischen Versammlungen nachzugehen, und ich entdeckte mit
+wachsendem Staunen suchende Menschen, nicht nur fordernde. Wo religiöse,
+wo philosophische Fragen angeschnitten wurden, war das Interesse am
+stärksten. Jener brutale philosophische Materialismus, der alles
+leugnete, was sich nicht mit Händen greifen ließ, und für die Masse der
+Sozialdemokraten um so mehr an die Stelle kirchlich-dogmatischen
+Glaubens getreten war, als sie ihn in naheliegender Begriffsverwirrung
+mit dem Grundprinzip des Marxismus, dem historischen Materialismus,
+zusammengeworfen hatten, beherrschte nicht mehr so uneingeschränkt wie
+früher die Gemüter. Der Unglaube, der geblieben war und neben alles
+Unabweisbare sein Fragezeichen aufrichtete, schien erfüllt von Sehnsucht
+und Heimweh.
+
+Junge und alte Männer begegneten mir, die in ihrer freien Zeit
+verschlangen, was ihnen an philosophischen Schriften erreichbar war:
+neben Kant und Schopenhauer das seichteste Gewäsch sogenannter
+Popularphilosophie, neben Dietzgen, dem Parteiphilosophen, allerhand
+theosophische, selbst spiritistische Schriften. In der Qual, mit der sie
+immer wieder versuchten, die geistige Vernachlässigung ihrer Jugendjahre
+zu überwinden, die Grundlagen des Denkens und Wissens, die ihnen
+fehlten, nachzuholen, lag eine größere Tragik als in der leiblichen Not.
+
+»Wir sind alle gute Sozialdemokraten,« sagte mir einmal ein
+älterer Mann, der es vom einfachen Arbeiter zum einflußreichen
+Gewerkschaftsbeamten gebracht hatte, »und der Sozialismus ist das, was
+uns zusammengeschweißt hat, uns im Kampf gegen die Feinde unüberwindbar
+macht; aber nun will doch jeder auch etwas für sich sein.«
+
+Das war der Wunsch nach Persönlichkeit, der sich regte, die Reaktion
+gegen die geistige Nivellierung, die die Stärke und die Schwäche des
+Sozialismus war.
+
+Und alles Wünschen und Suchen ging in die Irre. Niemand antwortete
+darauf, niemand sprang hinzu, um Taumelnde zu halten, Blinde zu führen.
+Eintönig, wie die Zukunftsprophezeiungen der ersten Christen, klang
+ihnen aus dem Munde ihrer Führer immer dieselbe Formel entgegen:
+
+»Die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch den
+Klassenkampf bringt allen Erlösung.«
+
+Sie fühlten mehr, als daß es ihnen deutlich zum Bewußtsein kam: Über die
+Befreiung von Not und Elend hinaus muß es ein persönliches Ziel geben,
+für das die Erreichung dieses ersten, rohesten nichts als der
+Ausgangspunkt ist. Würden sie im Suchen danach nicht auf Abwege geraten,
+sich nicht entfernen vom Wege, der notwendig zuerst zu jener ersten
+Etappe führen mußte?
+
+ * * * * *
+
+In Rußland warf die Revolution ihre Brandfackel in Städte und Dörfer.
+Die Blüte der Jugend, die geistige Elite des Landes trugen die Fahne
+voraus, und die schwerfällige Masse des Riesenvolkes geriet in eine
+ungeheure Bewegung. Selbst die Bauern in ihren einsamen Steppen grüßten
+das Licht, das sie flammen sahen, als ihren Befreier. Hunderte fielen,
+Hunderte verschwanden im grausigen Dunkel russischer Zitadellen,
+Hunderte wurden in Ketten in die Bergwerke Sibiriens verschleppt, aber
+Tausende füllten die Lücken wieder aus, die ihr Verschwinden gerissen
+hatte. Die Zeit forderte Helden, und sie wuchsen empor; das Leben galt
+ihnen nichts mehr, wo der Tod die Saat der Freiheit war. Das große
+Reich, der Hort der europäischen Reaktion, schien in seinen Grundvesten
+erschüttert. Vor Arbeitern und Bauern, vor Studenten und Frauen streckte
+der Absolutismus die Waffen. Wir sahen, wie der Himmel über der Grenze
+sich rötete. Und vielen, auf deren Seelen der häßliche Parteizank
+lastete, die sich ernüchtert fühlten durch den langen staubigen Weg, den
+sie an Stelle des Schlachtfeldes gefunden hatten, wurde der Glanz zu
+einem Hoffnungsschimmer.
+
+Von der Weltenwende der russischen Revolution, von dem Zusammenbruch des
+Zarismus sprachen prophetisch die Redner in unseren politischen
+Versammlungen.
+
+»Wir leben in den Tagen der glorreichen russischen Revolution --,«
+damit wurden die Nörgler und Zweifler niedergeschlagen.
+
+»Sehen Sie nicht, daß die Zeit gekommen ist, die Marx voraussah, wo die
+Evolution in die Revolution umschlägt --?«
+
+Daran entflammte sich die Begeisterung der Massen. Meine Empfindung,
+meine Phantasie war auf ihrer Seite, meine Hoffnung entzündete sich
+daran.
+
+ * * * * *
+
+Oft, wenn ich als Kind am Weihnachtsabend erwartungsvoll im dunkeln
+Zimmer saß, hatte der Lichtstrahl, der aus dem Raum daneben, wo die
+Mutter den Baum putzte, durch das Schlüsselloch drang, mir die ganze
+Seele erhellt und alle Angst vor der Finsternis um mich vertrieben. So
+war mir jetzt zumut: es drang ein Lichtstrahl in das Dunkel. Noch kannte
+ich seine Quelle nicht; nur daß er da war, bannte die Furcht.
+
+Heinrich hatte recht: es gab für uns nur eine Aufgabe: die Neue
+Gesellschaft wieder ins Leben zu rufen, durch sie zusammenzufassen, was
+in der Arbeiterbewegung nach allen Richtungen auseinanderzufließen
+drohte: den geistigen Hunger der Massen, die praktische Arbeit der
+Gewerkschaften und Genossenschaften, die Schwungkraft der kämpfenden
+Partei. Und wie sie auf dem Wege zu einer neuen tieferen Einheit
+Richtung geben sollte, so sollte sie im Kreise der intellektuellen
+Jugend dem Sozialismus Anhänger werben. Wir bedurften dieser Jugend, das
+lehrte uns Rußland, das predigten uns die stummen Lippen all der
+Suchenden, die der geistigen Führer entbehrten. »Die Wissenschaft und
+die Arbeiter«, -- ein Kind dieses Bundes war der Sozialismus gewesen,
+ihn zu zerstören und zu verleugnen war der eigentliche Parteiverrat.
+
+Nun war es nicht mein Mann, nun war ich es, die zuerst wieder von
+unserer Zeitschrift sprach. Und was ich so lange entbehrt hatte,
+geschah: Heinrichs verdüsterte Züge erleuchteten sich wie von innen
+heraus. Jetzt endlich kamen die Stunden innerer Gemeinschaft zurück, und
+im Überschwang der Freude glaubte ich das Mittel wieder gefunden, das
+auch die klaffenden Wunden unserer Ehe schließen würde. In gemeinsamer
+Arbeit, mit demselben großen Ziel vor Augen würden wir enger,
+unauflöslicher zusammenwachsen.
+
+Ein Umstand half uns, mit etwas größerer Zuversicht an die Arbeit zu
+gehen. Meine Schwester, eine der sechs Erben der verstorbenen Tante,
+hatte, empört über die mir widerfahrene Ungerechtigkeit, versucht, die
+Annullierung des letzten Testaments, das meine Enterbung aussprach,
+durchzusetzen. Und als die Verwandten einmütig erklärt hatten, den
+letzten Willen der Toten respektieren zu müssen, tat sie allein, was sie
+von den anderen verlangt hatte, und verzichtete in Anerkennung meines
+Anspruchs auf den sechsten Teil ihres Erbes zu meinen Gunsten. Es war
+zunächst nur wenig, was ich bekam, -- der größte Teil des Vermögens lag
+in Grundstücken fest, -- aber für uns, die wir von Anfang an mit einer
+so geringen Summe rechnen mußten, daß kaum ein anderer daraufhin den Mut
+gehabt hätte, eine Zeitschrift zu gründen, war es eine willkommene
+Hilfe. Nur ganz flüchtig dachte ich daran, die paar tausend Mark für
+meinen Jungen festlegen zu wollen, -- ich errötete dabei über mich
+selbst. Drüben, im Osten, opferten sie ihr Leben ihrer Sache, und ich
+könnte mit dem lumpigen Gelde knausern!
+
+ * * * * *
+
+Es war ein frohes Arbeiten damals. Wir fanden Mitarbeiter im eigenen
+Lager, die unsere Ideen teilten, wir fanden aber auch Künstler und
+Schriftsteller, die nicht abgestempelte Genossen waren und mit Freuden
+die Gelegenheit ergriffen, einmal zum Volk zu sprechen. Und zuerst
+leuchteten uns überall die aus den schwarzen Schornsteinen glutrot
+aufsteigenden Flammen der Neuen Gesellschaft entgegen.
+
+Daß innerhalb der Parteiorganisationen schon gegen uns gehetzt, vor
+einem Abonnement unserer Zeitschrift gewarnt wurde, daß uns die Genossen
+wieder als »Geschäftssozialisten« öffentlich an den Pranger stellten, --
+dafür hatten wir nur ein Achselzucken. Sie glaubten, wir wollten wühlen,
+kritisieren; sie würden sich bald eines Besseren belehren lassen, denn
+wir dachten nur daran, aufzubauen. Am Himmel der Zeit stiegen
+Sturmwolken auf, und wer wetterkundig war, der sah dahinter erfrischte
+Luft, zu neuem Segen durchtränkte Erde.
+
+Der Strom der russischen Revolution, der drüben alles mit sich riß,
+schien zuerst an Deutschland vorüberzubrausen, als wäre die Grenze ein
+Felsengebirge. Allmählich aber begannen seine Fluten Tunnel zu bohren,
+und die deutsche Reaktion warf angstvoll Wälle auf. In den Einzelstaaten
+kam es zu Wahlrechtsverschlechterungen, und die Angriffe auf das
+allgemeine Reichstagswahlrecht wurden lauter. Unter dem Deckmantel der
+scheinbar harmlosen Schulvorlage ging der preußische Landtag darauf aus,
+mit den Seelen der Kinder die Zukunft dem Fortschritt zu entwinden. Doch
+das Proletariat lernte von den russischen Freiheitskämpfern. Zum
+erstenmal in Deutschland eroberten sich die Arbeiter die Straße zu
+gewaltigen Massendemonstrationen. In Leipzig, in Dresden, in Chemnitz
+durchzogen Tausende und Abertausende, dem Polizeiaufgebot trotzend, die
+Stadt. Und wenn sie auch der Hartnäckigkeit der Regierung nichts
+abzutrotzen vermochten, sie fühlten sich nicht geschlagen, denn die
+Siege jenseits der Grenzen stärkten immer wieder ihren Mut: in dunkeln
+Massen, dicht gedrängt, mit einem Schweigen, das mehr als drohende Rufe
+von finsterer Entschlossenheit zeugte, war die wiener Partei vor dem
+Parlament aufmarschiert, während in ganz Österreich die Arbeit ruhte,
+und eroberte im gleichen Augenblick eine Wahlreform, die vor wenigen
+Wochen noch von der Regierung abgelehnt worden war. Und angesichts der
+blutgetränkten Straßen Petersburgs, der rauchenden Trümmer baltischer
+Schlösser versprach der russische Zar dem Volke die Verfassung.
+
+Jetzt galt es auch in Preußen, gegen die Hochburg der Reaktion Sturm zu
+laufen: gegen den Landtag. Wir schürten in unserer Zeitschrift mit allen
+Mitteln den Brand.
+
+»Trotz aller Anerkennung des stark pulsierenden Lebens, das in den
+Spalten der Neuen Gesellschaft herrscht,« schrieb mir Romberg damals,
+»bleibt Ihre Schornsteinzeitung mir unsympathisch, -- jetzt vollends, wo
+ich mit aufrichtiger Trauer sehe, daß Sie jene Vornehmheit preisgeben,
+deren Aufrechterhaltung durch alle Fährnisse proletarischer Versuchung
+mir bisher so bewundernswert erschien. Den ganzen giftigen Zorn der
+Renegaten schütten Sie über Ihre eigenen Klassengenossen, die Junker,
+aus.«
+
+»Über Ihren Geschmack streite ich nicht mit Ihnen,« antwortete ich, »er
+führt uns, fürchte ich, weit voneinander. Aber mir die Preisgabe der
+Vornehmheit vorzuwerfen, dazu haben Sie kein Recht. Gerade weil ich
+Aristokratin war und blieb, weiß ich zu scheiden zwischen dem Adligen
+und dem Junker. Die Hutten und Berlichingen, die Mirabeau und Lafayette,
+die Struve und Krapotkin, -- das waren Aristokraten, das heißt freie
+Herren, keine Fürstenknechte, keine Sklaven des Herkommens. Ich bin
+stolz, zu ihnen zu gehören und werde, wie sie, bis zum letzten Atemzug
+gegen die Junker, das heißt die Dienstmannen, kämpfen.«
+
+Im Abgeordnetenhause erklärte Graf Roon: »Wenn jemals die Regierung
+daran denken sollte, uns in Preußen die geheime Wahl zuzumuten, so
+würden wir zur schärfsten Opposition übergehen.«
+
+»Auf das nachdrücklichste lege ich dagegen Verwahrung ein, daß das
+allgemeine geheime Wahlrecht als Wahlrecht der Zukunft hingestellt
+wird,« sekundierte ihm Herr von Manteuffel. Hüben und drüben schlossen
+sich die Reihen der Kämpfer. Sollte die Schlacht schon bevorstehen?
+
+In den Köpfen der Parteigenossen spukte diese Frage, der die andere auf
+dem Fuße folgte: wie bereiten wir uns vor? Das Mittel immer wiederholter
+Arbeitseinstellungen hatte sich in Rußland als das eindrucksvollste
+erwiesen. Es wurde nun auch in der deutschen Partei erörtert. Es trennte
+die Geister nach einem Schema, auf das die Bezeichnung Revisionisten und
+Radikale nicht mehr passen wollte. Mein Temperament riß mich rückhaltlos
+auf die Seite derer, die den Massenstreik verteidigten; mein Mann stand
+im entgegengesetzten Lager, wo die Gewerkschafter sich vereinigt hatten.
+Auch die Ansichten unserer Mitarbeiter gingen auseinander.
+
+»Glauben Sie, es läßt sich beschließen, übermorgen nachmittag um vier in
+den Massenstreik einzutreten?« höhnte Reinhard. »Revolutionen sind keine
+Paraden, die vorher einexerziert werden.«
+
+»Aber die Truppen müssen dafür vorbereitet sein wie für die Kriege,«
+entgegnete einer unserer Mitarbeiter; »wir müssen den Gedanken in die
+Köpfe hämmern, damit er zur rechten Zeit zur Tat reift.«
+
+»Von unseren drei Millionen Wählern sind nur viermalhunderttausend
+politisch organisiert, und von zwölf Millionen Arbeitern nur anderthalb
+Millionen gewerkschaftlich!« rief Reinhard aus. »Mir scheint, wir müssen
+zuerst die Köpfe _haben_, ehe wir daran denken können, eine Idee in sie
+hineinzuhämmern.«
+
+Das Feuer meiner Begeisterung verflog angesichts des neu entfachten
+theoretischen Streites, der bei uns Deutschen so oft an Stelle des
+Handelns tritt. Die Demonstrationen gegen den preußischen Landtag
+beschränkten sich auf ein paar große Versammlungen, denen erst das
+Aufgebot von Polizei und Militär Bedeutung verlieh. Die Schulvorlage
+wurde angenommen. Graf Bülows Politik der Ablenkung des Volksinteresses
+bewährte sich wieder einmal: die Blicke aller derer, die nicht zu
+unseren Kerntruppen gehörten, richteten sich wie hypnotisiert auf die
+internationalen Verwickelungen. Von der feindseligen Verstimmung sprach
+der Reichskanzler, als die neue Flottenvorlage dem Reichstag zuging:
+»Deutschland muß stark genug sein, sich im Notfall allein behaupten zu
+können!«
+
+Von dem Ernst der Zeit, von der Notwendigkeit, eine stets schlagbereite
+Armee zu haben, sprach der Kaiser. So wurde gegen die revolutionäre die
+patriotische Stimmung ausgespielt.
+
+ * * * * *
+
+Wir hatten gearbeitet, den Blick krampfhaft vorwärts gerichtet,
+besinnungslos. Wir hatten unser Programm erfüllt, waren jeder tieferen
+Volksregung nachgegangen; es hatte an aufrichtiger Anerkennung nicht
+gefehlt, und trotz allen lauten und leisen Wühlens gegen uns war in
+kurzer Zeit ein Stamm von Lesern gewonnen worden. Aber die Kosten der
+Zeitschrift überstiegen bei weitem die Einnahmen. Wir konnten nicht
+länger die Augen davor verschließen, daß unsere Mittel auf einen
+winzigen Rest zusammengeschmolzen waren.
+
+»Drei Jahre müssen Sie aushalten können, dann haben Sie sich
+durchgesetzt,« sagte uns ein treuer Genosse, der zugleich ein guter
+Geschäftsmann war.
+
+»Drei Jahre!« wiederholte ich in Gedanken. »Wo wir kein Vierteljahr mehr
+gesichert sind!«
+
+»Wir dürfen die Flinte nicht ins Korn werfen, heute weniger als je,«
+erklärte mein Mann; »denn jetzt schädigen wir dadurch die Sache.«
+
+Die Furcht flüsterte mir zu: »Gib auf, solang es noch Zeit ist.«
+
+»Heinrich ertrüge es nicht,« antwortete die Stimme meines Herzens.
+
+ * * * * *
+
+Um jene Zeit kam meine Schwester nach Berlin zurück. Sie war in einem
+Sanatorium gewesen und hatte dann eine lange Seereise gemacht.
+
+»Nun bin ich heil und gesund,« damit trat sie wieder vor mich hin, »und
+jetzt komme ich zu dir und will arbeiten.« Mit ungläubigem Lächeln sah
+ich sie an. »Meinst du etwa, ich hielte auf die Dauer solch zweckloses
+Leben aus?« schmollte sie, weil ich sie nicht ernst nehmen wollte.
+
+»Im Sanatorium war einer mein Tischnachbar, der ein heimlicher Genosse
+ist,« fuhr sie zu plaudern fort. »Er holte nach, was du zu tun
+versäumtest; gab mir Bücher und Zeitungen und klärte mich auf. Ich bin
+überzeugte Sozialdemokratin.«
+
+»Aber Ilse!« lachte ich. »Du?! Die Ästhetin?! Du mit deinem Grauen vor
+dem Pöbel?!«
+
+Nun wurde sie wirklich böse. »Ist es so unwahrscheinlich, daß man sich
+entwickelt? -- Bist du vielleicht als Genossin auf die Welt gekommen?!
+-- Ich bildete mir ein, dir mit dieser Nachricht eine besondere Freude
+zu machen, und nun glaubst du mir nicht! Aber ich werde dir beweisen,
+wie ernst ich es meine: noch heute will ich mich dem Vertrauensmann
+meines Wahlkreises vorstellen, ich werde sogar Flugblätter austragen,
+wenn er mich brauchen kann.«
+
+Ich war noch ganz benommen von der erstaunlichen Wandlung meiner
+Schwester, als Heinrich sie begrüßte. Er fand sich rascher in die
+veränderte Situation.
+
+»Da hätten wir ja eine neue Mitarbeiterin,« sagte er lebhaft.
+
+»Ja, -- ob ich aber schreiben kann?!« meinte sie zögernd.
+
+»Sind nicht alle ihre Briefe druckreifes Manuskript?« wandte er sich an
+mich. »Und prädestiniert sie nicht ihre ganze Vergangenheit, gerade das
+wichtige, noch so sehr vernachlässigte Gebiet der künstlerischen
+Volkserziehung zu dem ihren zu machen?«
+
+Alles Fremde, das seit Jahren zwischen uns gestanden hatte, war jetzt
+vergessen. Die kleine Ilse war wieder mein Kind, wie einst, da sie
+nichts so gerne hörte wie meine Geschichten, mit nichts spielen mochte
+als mit den Spielen, die ich erfand. Ich streckte ihr beide Hände
+entgegen:
+
+»Du brauchst keine Flugblätter auszutragen, um zu beweisen, daß du zu
+uns gehörst. In der Partei ist viel Raum für Kräfte wie die deinen.«
+
+Am Abend sah ich an Heinrichs grüblerischem Gesichtsausdruck, daß
+irgendein Gedanke ihn beschäftigte. Er ging schweigsam im Zimmer auf und
+nieder. Endlich blieb er vor mir stehen: »Was meinst du, wenn wir Ilse
+aufforderten, sich an der Neuen Gesellschaft mit einem Kapital zu
+beteiligen?«
+
+Ich hob die Hände, als gelte es einer Gefahr zu begegnen.
+
+»Um Gottes willen nicht!« rief ich aus.
+
+»Du scheinst deiner Schwester wenig zuzutrauen,« entgegnete er
+stirnrunzelnd. »Daß wir alles aufs Spiel setzen, ist dir
+selbstverständlich; daß Ilse einen Bruchteil ihres Vermögens opfern
+soll, kommt dir unmöglich vor. Und doch könnte das ihr geben, was ihr
+fehlt: einen ernsten Lebensinhalt, einen Antrieb zur Arbeit, die mehr
+ist als Laune und Spielerei.«
+
+Ich widersprach auf das heftigste: »Was wir tun und lassen, ist unsere
+Sache, aber die Verantwortung für Ilse dürfen wir nicht auf uns nehmen.
+Niemals ertrüg' ich's, sie in unseren Ruin hineinzuziehen!«
+
+Heinrich brauste auf. »Wie kannst du von Ruin sprechen, wo uns nichts
+fehlt als die Mittel, noch einige Zeit auszuhalten, -- wo wir in zwei,
+drei Jahren über das schlimmste hinaus sein werden! Hast du so gar
+keinen Glauben an die eigene Sache?«
+
+»Ich habe ihn, Heinz, ich hab ihn gewiß --,« meine Hände preßten sich
+flehend ineinander, »-- aber lieber will ich mir die Finger blutig
+schreiben, lieber will ich von Ort zu Ort gehen, um die Mittel für die
+Neue Gesellschaft zusammenzubringen, als daß ich mich an Ilse wende.«
+
+Mit gerunzelten Brauen sah Heinrich mich an. »Ich finde deinen
+Standpunkt kleinlich, -- deiner und deiner Schwester unwürdig. Sie wird
+sich freuen, mit einem Teil ihres Überflusses etwas Nützliches leisten
+zu können.«
+
+Aber ich ließ mich nicht überzeugen. »Laß uns wenigstens noch versuchen,
+ob sich nicht auf anderem Wege Hilfe schaffen läßt,« bat ich. Heinrich
+schwieg, sichtlich verletzt.
+
+Alle Schritte, die er in den nächsten Wochen unternahm, waren umsonst.
+Immer näher rückte die Zeit, die uns vor die letzte Entscheidung
+stellte. Mich schauderte im Gedanken daran.
+
+Als ich ihn eines Abends wieder von einer vergeblichen Reise
+zurückkehren sah, -- so müde, so gebrochen, da hielt es mich nicht
+länger: »Geh zu Ilse,« sagte ich.
+
+ * * * * *
+
+War es der Leichtsinn der Jugend, war es die Überzeugungskraft der
+Reife, die Ilse ohne einen Augenblick des Überlegens dem Vorschlag
+Heinrichs entsprechend handeln ließ? Wie kam es nur, daß in dem
+Augenblick, wo sie sich nicht nur im Denken, sondern auch im Handeln mit
+mir vereinte, ein kalter Reif auf die kaum wieder entfaltete Blume
+meiner Schwesterliebe fiel? Irgendeine Fessel, die die freie Bewegung
+meiner Glieder hemmte, wurde schmerzhaft angezogen.
+
+Eine Unrast der Arbeit packte mich, die mich jede ruhige Stunde als
+Unterlassungssünde empfanden ließ. Selbst in den Augenblicken, wo die
+Sache, der ich diente, mich ganz zu packen schien, fiel mir ein, daß ich
+arbeiten mußte, um das Geld meiner Schwester nicht zu verlieren. Daß die
+Arbeitsgemeinschaft mit meinem Mann unsere Liebe zueinander festigen
+sollte, -- daran dachte ich kaum mehr. Kam mir in heißen Nächten nach
+gehetzten Tagen die Erinnerung daran, so grauste mich's. Ich saß meinem
+Mann gegenüber, tagaus, tagein, über Manuskripte und Korrekturen
+gebeugt. Ich hatte keine Gedanken mehr, mich für den Geliebten zu
+schmücken, keine Zeit mehr für das süße Spiel der Liebe, für Suchen und
+Finden, Zurückstoßen und Wiedererobern. Nur für mein Kind stahl ich mir
+morgens und abends noch eine Stunde; aus der Frische seines Denkens und
+Fühlens floß mir der Tropfen Lebensfreude, den ich brauchte, um weiter
+schaffen zu können.
+
+Meinen kleinen Haushalt überließ ich nun schon lange der Berta. Zuweilen
+wunderte ich mich wohl, daß er bei seiner Einfachheit so kostspielig
+war. Aber jede Spur von Mißtrauen lag mir fern. Opferte die Berta uns
+nicht ihre ganze Arbeitskraft? War sie es nicht, die unter Hinweis auf
+die entstehenden Kosten jede fremde Hilfe ablehnte und alles allein
+besorgte?
+
+Eines Tages sah ich ein goldenes Armband auf ihrem Nähtisch liegen.
+»Mein Onkel hat es mir zum Geburtstag geschenkt,« sagte sie.
+
+Bald darauf brachte die Portierfrau, als sie abwesend war, ein Paket für
+»Fräulein Berta«, die Uhrkette sei darin, die sie sich durch sie habe
+besorgen lassen, fügte sie erklärend hinzu. Ich wurde stutzig und ließ
+mich in ein Gespräch mit ihr ein.
+
+»Auch das Armband hat mein Mann besorgt,« schwatzte sie, »es kostete nur
+sechzig Mark. Und Fräulein Berta kann sich wohl mal was selber gönnen,
+nachdem sie immer das viele Geld nach Hause schickt.«
+
+Nach Hause?! dachte ich verblüfft, ihr Vater war doch, wie sie oft
+genug erzählt hatte, in behäbiger Lage. Nun verfolgte ich erst
+aufmerksam ihr Tun und Lassen. Im Lauf einer Woche hatte ich alle
+Beweise in der Hand: seit Jahren war ich von ihr betrogen worden. Im
+ersten Gefühl der Empörung wollte ich ihre Unterschlagungen zur Anzeige
+bringen. Aber dann schämte ich mich. War ich nicht die Schuldige
+gewesen? Ich, die ich dem einfachen Bauernmädchen eine Freiheit
+gelassen, eine Selbständigkeit aufgebürdet hatte, der sie geistig und
+moralisch nicht gewachsen war; ich, die ich sie aus Dankbarkeit mit
+Geschenken überhäuft hatte, die ihre Eitelkeit, ihre Habsucht erwecken
+mußten? Sie war für die Lebenssphäre, in die sie zurücktreten mußte, bei
+mir und durch mich verdorben worden.
+
+Ich entließ sie; ich bekannte meinem Mann meine Schuld. Von nun an mußte
+ich mich um die täglichen Sorgen des Haushalts kümmern, mußte vor allem
+die Zeit erübrigen, um mit meinem Buben ins Freie zu gehen. Ich war viel
+zu ängstlich, um ihn sich selbst zu überlassen. Wie müde fühlte ich
+mich, wenn ich abends schlafen ging! Wie zerschlagen, wenn ich morgens
+erwachte! Wie lange noch würde ich aushalten können?!
+
+Und mehr denn je verlangte unsere Arbeit die ganze Nervenkraft, die
+volle Anspannung des Willens. Ein neuer Parteiskandal forderte
+gebieterisch unsere Stellungnahme. Die Auseinandersetzungen über den
+Massenstreik hatten in einem Teil unserer Tagespresse wieder die Formen
+persönlichen Gezänks, gegenseitiger Verdächtigungen angenommen. Zur
+Empörung der radikalen Berliner vertrat das Zentralorgan der Partei den
+Standpunkt der Gewerkschaften, und obwohl der Jenaer Parteitag eine
+wenigstens äußere Verständigung zwischen beiden Richtungen herbeiführte
+und auch die Preßfehde zu schlichten schien, ließ sich Groll und
+Mißtrauen nicht durch Resolutionen beseitigen. Trotz aller gegenseitigen
+Versicherungen blieb die Mehrheit der Vorwärts-Redaktion, die ihre
+Ansichten weder dem Votum der Masse unterwerfen, noch sich zu einem
+Inquisitions-Tribunal hergeben wollte, des Revisionismus verdächtig.
+Kaum war der Parteitag vorüber, als der Parteivorstand mit den Berlinern
+in Verhandlungen eintrat, deren Resultat die Entlassung und der Ersatz
+eines oder mehrerer Redakteure und die Neugestaltung der
+Mitarbeiterschaft über den Kopf der Redaktion hinweg sein sollte. Hinter
+verschlossenen Türen, mit strengstem Schweigegebot für die Teilnehmer
+und -- unter Ausschluß der Angeklagten ging das alles vor sich. Ein
+Fehmgericht nach demselben Prinzip wie das, dem ich einmal seitens der
+Frauen unterworfen worden war. Wo war hier die Gleichheit, wo die
+Brüderlichkeit?! Als die Redaktion trotz aller Vorsichtsmaßregeln von
+den Vorgängen erfuhr und der Parteivorstand ihren Protest gegen ein
+allen Grundsätzen der Demokratie hohnsprechendes Verhalten schroff
+zurückwies, handelte sie, wie organisierte Arbeiter handeln, wenn der
+Unternehmer ihre Kameraden ohne sie zu hören mit Aussperrung bedroht:
+sie erklärte sich in ihrer Mehrheit solidarisch, reichte ihre Entlassung
+ein und begründete ihre Handlungsweise vor der Öffentlichkeit. Mit
+gezückten Schwertern standen einander nun wieder zwei Richtungen in der
+Partei gegenüber. Aber die Masse vertrat nicht die Prinzipien der
+Demokratie, sondern die der Despotie.
+
+»Wie können wir noch mit freier Stirn unsere Ideale gegenüber der
+Willkürherrschaft monarchischen Absolutismus verteidigen,« schrieben wir
+in der Neuen Gesellschaft, »wie können wir die Selbstherrlichkeit des
+Unternehmertums, seinen rücksichtslosen Herrenstandpunkt gegenüber dem
+Arbeiter angreifen, wenn der Gegner uns mit den eigenen Waffen zu
+schlagen vermag? Wie können wir an den endlichen Sieg unserer Sache
+glauben und uns unterfangen, andere davon überzeugen zu wollen, wenn die
+Ansichten einzelner, -- hier des Parteivorstands, ganz besonders die
+Bebels, -- zum Kredo erhoben werden und jeder Andersgläubige der
+Ketzerei beschuldigt wird, -- ungehört, wie bei den Hexenprozessen? ...
+Die Redakteure haben ihre Schuldigkeit getan, tun wir die unsere! ...«
+
+Wie der Stein, der in den Teich geworfen wird, nicht nur weite und immer
+weitere Kreise zieht, sondern auch den Grund aufwühlt, sodaß dieser
+plötzlich in das klare Wasser schwarz und schlammig emporsteigt, so war
+es hier. Man hatte vergessen, den Grund zu säubern und auszumauern, ehe
+der frische Quell des Sozialismus hineingeleitet wurde. Die Moral der
+bürgerlichen Gesellschaft, die ihr das Christentum mit Feuer und Schwert
+und Verfolgung eingeimpft hatte, beherrschte alles menschliche Denken
+und Fühlen.
+
+»Besser unrecht leiden, als unrecht tun,« predigten salbungsvoll unsere
+Parteiblätter; also sich beugen, sich der Macht unterwerfen, Demut und
+Unterwürfigkeit für der Tugenden größte erklären, -- konnte, durfte das
+die Ethik des Sozialismus bleiben?
+
+Ich empfand das alles nur dumpf, wie einen Traum; ich hatte keine Zeit,
+Gedanken zu formen; ich hatte auch keine Kraft.
+
+Sonderbar, wie elend ich mich fühlte. Als stünde mir eine große
+Krankheit bevor. Ich ballte die Hände, sodaß die Nägel mich in der
+Handfläche schmerzten: ich durfte nicht krank werden. Oft wenn ich mit
+meinem Sohn durch die Straßen ging, überfiel mich ein Schwindel. Dann
+lehnte ich mich an irgend eine Mauer, und er blieb vor mir stehen, die
+großen ernsten Augen ängstlich auf mich gerichtet. Und wenn ich abends
+mit irgend einer notwendigen Näharbeit bei ihm war, und er mir mit all
+dem überzeugten Pathos des Kindes vorlas, -- Märchen und Gedichte, die
+feierlichsten am liebsten, -- dann brauste es mir vor den Ohren, sodaß
+ich kaum seine Stimme noch hörte. Was war das nur?
+
+Meinem Mann verschwieg ich meinen Zustand. Mein Junge war mein
+Vertrauter und mein Verbündeter zugleich. Er hatte mir versprechen
+müssen, dem Vater nichts zu sagen.
+
+»Papachen hat soviel Ärger, er soll sich nicht auch noch um mich Sorge
+machen!« -- Und dies erste Zeichen eines freundschaftlichen Vertrauens
+seiner Mutter hatte ihn sichtlich reifer gemacht.
+
+Aber dann kam ein grauer Tag; der Regen klatschte unaufhörlich an die
+Scheiben; um meinen Kopf lag es wie ein Band von Eisen. Plötzlich aber
+mußte ich vom Stuhle springen, auf dem ich zusammengekauert gesessen
+hatte; ein Gedanke traf mich, blendend wie ein Blitz. Wie hatte ich nur
+so lange fragen können, was mir fehlte: ich war guter Hoffnung. »Guter«
+Hoffnung?! Sehnsüchtig hatte ich mir oft noch ein Kind gewünscht, hatte,
+wenn ich meinen Buben ansah, es fast als ein Naturgebot empfunden, mehr
+seinesgleichen zu gebären. Und jetzt? Wie anders fühlte ich mich, als da
+ich ihn unter dem Herzen trug: schwach, schwermütig, arbeitsunfähig. Und
+ich mußte doch arbeiten!
+
+Seit wir in dem letzten Parteikampf so energisch die Rechte der
+Minderheit vertreten hatten, regnete es Angriffe auf das
+»parteischädigende Treiben der Neuen Gesellschaft«. Auf wessen Tisch die
+rotleuchtende Flammenschrift unseres Blattes entdeckt wurde, der
+erschien schon verdächtig.
+
+Wenn meine Schwester kam, wurde mir heiß und kalt. Etwas wie
+Schuldbewußtsein machte mich ihr gegenüber immer scheuer. Wir mußten uns
+durchsetzen, -- um jeden Preis! -- Und ich biß die Zähne zusammen und
+trug schweigend meine Qual, bis ich nicht mehr konnte.
+
+Meine Ärztin machte ein ernstes Gesicht: »Sie müssen sich vollkommen
+ruhig halten, sich vor jeder Aufregung hüten,« sagte sie mit scharfer
+Betonung.
+
+Ich verzog den Mund zu einem Lächeln und ging heim, als schleppte ich
+eine Zentnerlast mit mir. Und wenn ich mich in irgend einen Erdenwinkel
+hätte verkriechen können, sie würde weiter drückend auf mir liegen. Wen
+einmal die Sorge umstrickt, den hält sie fest.
+
+Eine krankhafte Angst bemächtigte sich meiner. Ich fürchtete mich vor
+dem keimenden Leben in mir wie vor einem Mörder. Ich malte mir in
+dunkeln Nachtstunden den Augenblick schreckhaft aus, wo der Ruin vor der
+Türe stand.
+
+Und dann brach ich zusammen. Ehe das Kind in meinem Schoß Leben gewesen
+war, starb es. Während der langen dunkeln Stunden, die ich nun
+regungslos auf dem Rücken lag, richtete das Ungeborene zwei starre Augen
+auf mich, anklagend, richtend. Und ich beweinte es, als hätte es schon
+in meinen Armen gelegen.
+
+Als ich wieder aufstehen durfte, nahm ich aus meiner Großmutter
+Zeichenmappe ein kleines, in zarten Farben gemaltes Bild: ein Köpfchen
+mit weißen Rosen bekränzt, -- ihr jüngstes Kind, das gestorben war, ehe
+seine Lippen das erste »Mutter« zu lallen vermochten. Ich stellte es auf
+den Schreibtisch vor mich hin. Es sollte mich zu jeder Stunde daran
+erinnern, daß mein Kind zum Opfer gefallen war.
+
+Ich erholte mich schwer. Mir fehlte der Wille zur Kraft.
+
+Eines Abends saß ich mit meinem Sohne zusammen unter der grünumschirmten
+Lampe. Er war in das Buch vertieft, das aufgeschlagen vor ihm auf dem
+Tische lag.
+
+»Das mußt du hören, Mama,« rief er aus; seine Augen glänzten vor
+Entzücken.
+
+ »Nun geht in grauer Frühe
+ Der scharfe Märzenwind,
+ Und meiner Qual und Mühe
+ Ein neuer Tag beginnt ...«
+
+las er. In den Stuhl zurückgelehnt, hörte ich ihm zu.
+
+ »Kein Dräuen soll mir beugen
+ Den Hochgemuten Sinn;
+ Ausduldend will ich zeugen,
+ Von welchem Stamm ich bin..«
+
+Ich richtete mich auf. »Ausduldend will ich zeugen, von welchem Stamm
+ich bin,« wiederholte ich leise, nahm meines Kindes Kopf zwischen beide
+Hände und küßte ihn auf die Stirn. Es war ein Gelöbnis.
+
+
+
+
+Sechzehntes Kapitel
+
+
+»Wie die Hasen auf der Treibjagd werden die Revolutionäre von den
+Soldaten zusammengeschossen,« -- »fünfzehntausend Gefallene bedecken
+Straßen und Barrikaden --,« so meldete der Telegraph aus Moskau; »die
+Regierung hat uns betrogen! Der Zar hat sein Versprechen gebrochen! Die
+Knute der Kosaken herrscht wieder über uns,« -- so klangen die
+Verzweiflungsschreie der Freiheitskämpfer über die Grenze. Und schwer
+und dumpf grüßten die Glocken das Jahr 1906.
+
+Auf den eroberten Gebieten des Absolutismus halten unsere russischen
+Brüder ihre Siegeszeichen aufgepflanzt, und an ihnen waren die üppigen
+Ranken unserer Hoffnung wuchernd emporgewachsen. Jetzt lagen sie am
+Boden. Die Soldaten der Reaktion traten darauf.
+
+ * * * * *
+
+Und doch bedurften wir in dem Kampf, den wir führten, der
+Siegeszuversicht. Ein rocher de bronce war Preußen noch immer, dem er
+galt, denn als die Frage der Abänderung des Dreiklassenwahlrechts im
+Landtag endlich zur Besprechung kam, da erklärte die Regierung: das
+Reichstagswahlrecht ist unannehmbar, und fügte der Absage durch den
+Mund des Ministers von Bethmann Hollweg die versteckte Drohung hinzu:
+»das Gefühl der Unlust besteht ja auch im Reiche, wo wir noch dieses
+angeblich ideale Wahlrecht besitzen.« Noch! -- Wir hatten achtzig
+Abgeordnete im Parlament, und doch würde Preußens Reaktion sie mit einer
+Handbewegung beiseite schieben. Es klang wie ein Hohn unserer Ohnmacht,
+wenn der Kanzler die Machtmittel des Staats für ausreichend erklärte, um
+»Pöbelexzesse zu verhindern.« Er hatte recht. Es kam zu keinen Exzessen.
+
+ * * * * *
+
+Die Einführung des Zolltarifs stand vor der Türe. Mit neuen Steuern und
+Abgaben drohte eine Reichsfinanzreform. Im Hintergrund lauerte das
+Raubtier des Kriegs, und die Diplomaten, die mondelang in Algeciras
+beisammensaßen, um es in Ketten zu legen, schienen es statt dessen groß
+zu füttern. Für neue Kriegsschiffe agitierten die Regierungsparteien und
+malten den Weltbrand glutrot auf die leere Leinwand der Zukunft. Aber
+das Volk hörte gleichgültig zu, als ginge es das alles nichts an. Wo es
+im Laufe der letzten Jahre bei Nachwahlen zum Reichstag um sein Verdikt
+gefragt worden war, hatte es Junkern und Junkergenossen das Feld
+überlassen.
+
+»Mir ist eine kleine Schar überzeugter Genossen lieber, als eine große
+Menge unsicherer Mitläufer,« hatte Bebel wiederholt gesagt. Das sollte
+ein Trost sein und war bei Licht besehen nur die Konstatierung einer
+Tatsache, denn der Zuzug aus bürgerlichen Kreisen hatte sich verlaufen.
+Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, -- das war der Trunk gewesen, an
+dem sich deutsche Träumer von jeher berauscht hatten. Diesmal war er von
+der Sozialdemokratie kredenzt worden. Als sie aber erwachten und die
+Welt noch immer nicht ihren Dichteridealen entsprach, und die Genossen
+die Ritter vom heiligen Gral nicht waren, die sie in ihnen gesehen
+hatten, da versanken sie wieder in politische Gleichgültigkeit.
+
+In die Maienpracht junger Hoffnungen war der Reif der Enttäuschung
+gefallen. Es schien fast, als ob alle Knospen daran sterben sollten.
+
+An jenem »roten Sonntag«, der in ganz Preußen der Demonstration gegen
+das Dreiklassenwahlrecht gewidmet war, sprach ich in einem kleinen
+Fabrikort Brandenburgs. Es war ein trüber Abend; der Saal lag abseits
+zwischen hohen Mauern in einem feuchten Grunde. Mein Appell an die
+Begeisterung, an die Widerstandskraft verhallte wirkungslos. Und es war
+nicht nur meine Schuld, daß das Feuer nicht brennen wollte. Regenschauer
+hatten das Holz naß gemacht, so daß es nur knisterte. Wir protestierten
+gemeinsam gegen die preußische und gegen die russische Reaktion, aber
+mir schien, als stünde hinter diesem Protest nicht der Wille zur Tat,
+sondern ein resigniertes Gefühl der Ohnmacht.
+
+ * * * * *
+
+Die Neue Gesellschaft führte die Sprache der Kraft. War sie nicht mehr
+die der Massen, daß sie sie nicht hören wollten?
+
+Frühling und Sommer zogen an unseren Fenstern vorbei. Wir saßen gebückt
+am Schreibtisch und wagten nicht, einander in das Antlitz zu schauen.
+Zuweilen war mir wie einem, der in eine Hütte mit blinden Scheiben
+gesperrt ist und nichts sieht als den Staub und die Dürftigkeit der
+nächsten Nähe. Dann durstete ich so sehr nach Luft und Sonne, daß ich
+jeden Hauch, der durch die Türe drang, jeden Strahl, der sich hinein
+verirrte, wie einen Boten der Erlösung begrüßte.
+
+Meine Schwester hatte sich verlobt.
+
+»Jetzt erst weiß ich, was Liebe ist,« hatte sie mir mit glühenden Wangen
+und heißen Augen zugeflüstert. Das Leben war ihr viel schuldig
+geblieben, darum glaubte ich freudig daran, und ihr Glück ließ mich ihr
+gegenüber freier atmen, darum unterdrückte ich jeden Zweifel. Sie führte
+uns ihren Verlobten zu, einen jungen Arzt, hinter dessen auffallender
+Schweigsamkeit ich den Menschen zu sehen mich zwang, den sie lieben
+konnte. Sie heirateten bald. Auf den Höhen der Schwäbischen Alb übernahm
+er die Leitung eines Sanatoriums. Sie schrieb Briefe, die ein einziger
+Jubel waren, und sandte Bilder mit Bergen und Wäldern und weiten Blicken
+über friedliche Täler. Aber es fiel auf meine Seele nur wie ein
+Sonnenstrahl aus dem Gewölk, das sich danach nur noch dichter und
+dunkler zusammenzog.
+
+ * * * * *
+
+Um jene Zeit erging von einem aus den Anhängern der verschiedensten
+Parteien bestehenden englischen Komitee, dem unter anderen auch eine
+große Zahl englischer Parlamentsmitglieder angehörte, an die Zeitungen
+aller deutschen Parteien die Einladung zu einem Besuch nach England.
+Angesichts der gewissenlosen Hetze und der Kriegstreiberei
+höfisch-militärischer Kreise und ihrer Werkzeuge in der Presse sollte
+diese Veranstaltung dazu dienen, die wahre Gesinnung des englischen
+Volkes kennen zu lernen und die freundschaftlichen Beziehungen der
+beiden Länder wieder fördern zu helfen. Keir Hardie, der Führer der
+englischen Arbeiterpartei, hatte die Einladung mit unterzeichnet. Auch
+bei der Redaktion der Neuen Gesellschaft lief sie ein, von einem Brief
+meines alten Freundes Stead begleitet, der die Hoffnung aussprach, wir
+würden ihr Folge leisten.
+
+England! Wieviel Erinnerungen wurden in mir wach! Es war mir das
+Sprungbrett des neuen Lebens gewesen. Vielleicht, daß es mich nun aus
+seinem Labyrinth wieder ins Freie zu führen vermöchte! Meine Hoffnung
+sah einen Weg aus der Not und der Enge heraus, -- und wenn's nur ein
+flüchtiges Aufatmen wäre in freier Luft! Mein Mann legte die Einladung
+beiseite wie etwas selbstverständlich Abgetanes.
+
+»Meinst du nicht, daß ich sie annehmen könnte, -- in unserem Namen,«
+fragte ich zögernd. »Ich möchte fort, -- hinaus, ein einziges Mal nur!«
+--
+
+Er sah verwundert von der Arbeit auf. »Wenn dir soviel daran liegt,
+bedarf es gar nicht der tragischen Gebärde!« antwortete er ruhig.
+
+Nun erschien mir mein Wunsch doch im Lichte sträflicher
+Vergnügungssucht. Ich mußte mich und ihn beruhigen, der nicht anders
+denken mochte: »Ich werde Berichte schreiben, -- neue Beziehungen
+anknüpfen. Vielleicht verschaffe ich mir sogar bei der Gelegenheit die
+Korrespondenz für ein englisches Blatt.«
+
+Der Gedanke besonders elektristerte mich: das wäre doch eine Sicherheit,
+wenn die Neue Gesellschaft zusammenbräche.
+
+Kurz vor meiner Abreise besuchte uns Reinhard. »Ich lese Ihren Namen
+unter denen der Journalisten, die nach England fahren,« begann er
+erregt.
+
+»Gewiß,« entgegnete ich, »und was haben Sie dagegen? Keine der berühmten
+bindenden Parteitagsresolutionen hindert mich daran!«
+
+»Aber Ihr Gefühl müßte es tun,« brach er los; wollen Sie sich denn
+gewaltsam jeden Vertrauens berauben?! Kein Genosse wird es begreifen,
+daß Sie mit einer Reihe unserer ärgsten Gegner gemeinsame Sache machen!«
+
+»Schlimm genug, wenn dem wirklich so sein sollte!« rief ich aus. »Haben
+wir nicht auf dem Heimarbeiterschutzkongreß mit Gegnern zusammen
+gearbeitet, tun wir es nicht dauernd im Parlament? Und mir sollte es
+verdacht werden, wenn ich mich an einer Reise beteilige, deren Zweck
+durchaus im Interesse der Partei liegt? Wir Mitreisenden sollen uns doch
+nicht untereinander verbrüdern; uns wird nichts als die Gelegenheit
+geboten, es mit aufrichtigen Friedensfreunden in England zu tun.«
+
+»Das mag alles so sein, wie Sie sagen,« antwortete er, »trotzdem dürfen
+Sie -- gerade Sie, deren Stellung doch schon schwierig genug ist --
+nicht als einzelne der Empfindung der Massen entgegenhandeln.«
+
+Ich warf den Kopf zurück. Jetzt erst wußte ich, daß diese Reise nicht
+nur meine persönliche Angelegenheit war. »Ich verstehe Ihre gute
+Absicht,« sagte ich, »aber wenn etwas mich in meinem Vorhaben noch
+bestärken könnte, so sind es die Gründe, durch die Sie mich davon
+abbringen wollen. Nichts ist mir von jeher so verächtlich gewesen wie
+Lakaiengesinnung, gleichgültig ob sie vor dem einzelnen oder vor der
+Masse zum Ausdruck kommt --«.
+
+»Ich mute Ihnen doch nicht Lakaiengesinnung zu!« unterbrach er mich
+heftig.
+
+»Was ist es anderes, wenn Sie verlangen, ich sollte mich der Empfindung
+der Masse beugen, nicht weil sie die rechte, sondern weil sie die
+herrschende ist?! Wir kommen nie vom Fleck, wenn wir unsere bessere
+Einsicht nicht zur Geltung bringen; wir erziehen dadurch im Volk nur
+einen noch beschränkteren, noch despotischeren Herrscher, als unsere
+Fürsten es sind.«
+
+»Im Grunde bin ich ja Ihrer Meinung,« lenkte er ein; »es handelt sich
+doch in diesem Fall nur um eine kleine Konzession, für die Sie größere
+Werte eintauschen werden.«
+
+Ich lachte spöttisch auf: »Meinen Sie?! Man wird mir nicht mehr
+vertrauen und mich nicht weniger verleumden, wenn ich auf die Reise
+verzichte. Aber man wird wissen, daß ich kein Zeug zum Demagogen habe,
+wenn ich auf meinen Entschluß beharre, -- auch jetzt, wo mir die Folgen
+klar sind.«
+
+Reinhard verabschiedete sich kühl und fremd. Er war einer der Besten
+und Selbständigsten unter den Genossen. »Ich fürchte, wir haben ihn
+verloren,« sagte mein Mann. Ich unterdrückte einen schweren Seufzer.
+
+ * * * * *
+
+Mitte Juni reisten wir ab. Schon im Zuge, der uns nach Bremerhaven
+führte, freute ich mich der Gegenwart Theodor Barths; -- ein freier
+Mensch und ein Gentleman, also einer der Seltenen, mit denen sich über
+alle trennenden Schranken der Politik verkehren läßt. Auf dem Schiff
+fanden sich die übrigen Reisegefährten ein: neunundvierzig Journalisten,
+unter denen ich die einzige Frau war. Ich empfand, wie meine Anwesenheit
+sie beunruhigte. Sollten sie mich als Dame oder als Sozialdemokratin
+behandeln? Sie entschlossen sich in der Mehrzahl, ihrer politischen
+Gesinnung auch auf dem neutralen Boden unseres Dampfers unverfälschten
+Ausdruck zu geben. Offenbar störte es sie nur, daß ich ihnen durch mein
+Benehmen keinen besseren Anlaß dazu bot.
+
+Ich kümmerte mich wenig um sie; mit durstigen Zügen atmete ich die
+frische Salzluft ein, und mit jeder Meile, die wir uns von der Küste
+entfernten, fiel mehr und mehr von mir ab, was lastend und quälend mein
+Herz bedrückte. Ich stand lange am Zwischendeck, wo sie beieinander
+hockten, all die Männer, Frauen und Kinder, die das Vaterland
+ausgestoßen hatte. In dem Antlitz der meisten blitzte etwas wie
+Zukunsfshoffnung auf. Fast dünkte es mich beneidenswert: das alte Leben
+hinter sich zu lassen und nur mit dem leichten Bündel unter dem Arm
+einem neuen entgegen zu gehen.
+
+In London hatte Beerbohm Tree in seinem Theater für die deutschen Gäste
+den ersten Empfang bereitet. Ich ging nicht hin; unsere heimische
+Bühnenkunst hat uns den Geschmack für ein Komödiantentum verdorben, das
+vielleicht vor fünfzig Jahren auch bei uns noch das herrschende war. Ich
+erwartete statt dessen Stratfords Besuch.
+
+»Wissen Sie noch, wie wir damals voneinander gingen?« fragte er nach der
+ersten Begrüßung.
+
+Ich nickte lächelnd: »Ein Mann, wie Sie, gehört der Sache des
+Sozialismus, sagte ich Ihnen.«
+
+»Wären nur nicht der Fesseln so viele, antwortete ich, und Sie riefen
+mir zu: 'wir werden sie beide zerbrechen müssen' -- nun haben wir sie
+zerbrochen!«
+
+Überrascht sah ich ihn an.
+
+»Ich kandidiere als Vertreter der Arbeiterpartei für das Parlament,«
+fügte er mit einem Aufleuchten in den hellen Augen hinzu.
+
+Ich drückte ihm die Hand.
+
+Er schien einen Ausdruck größerer Freude erwartet zu haben. »Haben Sie
+das Kettenbrechen bereut?!« fragte er zweifelnd.
+
+»Nein, lieber Freund,« antwortete ich mit starker Betonung, »nein! Ich
+erinnerte mich nur der wunden Hände, die es kostet.«
+
+Am nächsten Morgen sprach ich John Burns auf der Themseterrasse des
+Parlaments. Mir schien, als sei es gestern gewesen, daß er mir auf den
+Marmortisch die Situation der deutschen Sozialdemokratie aufgezeichnet
+hatte.
+
+»Habe ich nicht recht behalten?« fragte er im Laufe des Gesprächs.
+
+»Nicht ganz,« entgegnete ich; »der Druck von außen preßt uns zwar
+zusammen, aber er hindert nicht nur die Wirkung über seinen Ring hinaus,
+er trägt auch dazu bei, daß wir unsere Kräfte im gegenseitigen
+Kleinkrieg verzetteln.«
+
+»Sie übertreiben,« meinte er leichthin. »Jeder Kampf ist Leben und weckt
+Leben! Sie sind wie der Akteur auf der Bühne, der das Ganze nicht
+übersehen kann, während wir, die Zuschauer, von fern mit unserem
+Opernglas Handlung und Szenerien begreifen. Der deutsche Revisionismus
+siegt nicht nur, -- er hat schon gesiegt.«
+
+Ich lächelte ein wenig von oben herab zu seinen apodiktischen Sätzen und
+lenkte die Unterhaltung auf sein eigenes Wirken.
+
+»Ich bin nach wie vor Sozialist, gerade weil mich keine Arbeit schreckt,
+wenn es gilt, meiner Überzeugung auch nur einen Fuß breit Boden zu
+gewinnen,« sagte er, »ich scheue nichts, wenn der Preis dafür mehr Macht
+ist. Wer immer nur zuschaut und schimpft und kritisiert und dazwischen
+moralische Bomben wirft, ist in meinen Augen Anarchist.«
+
+Einer der deutschen Englandfahrer näherte sich in respektvoller Haltung.
+Unser langes Gespräch setzte ihn offenbar in Erstaunen. Er wartete
+darauf, vorgestellt zu werden. Und erst jetzt fiel mir ein: der John
+Burns von heute war ja Minister!
+
+Der Gastfreundschaft, mit der uns die Engländer empfingen, entzog ich
+mich von da an nur selten. Ich hatte meine leise Freude an den
+verblüfften Gesichtern meiner Reisegefährten, die allmählich einsahen,
+daß im Lande alter Kultur nur die Erziehung, nicht aber die politische
+Stellung des Einzelnen gesellschaftliche Unterschiede herbeiführt, und
+ich merkte erst jetzt, wo ich einmal wieder als Gleiche von Gleichen
+behandelt wurde, wieviel ich entbehrt hatte.
+
+Eines Vormittags besichtigten wir den Tower. Schon als ich aus dem Hotel
+trat, war mir aufgefallen, daß die photographischen Kameras der
+englischen Reporter sich plötzlich auf mich richteten.
+
+Auf dem Wege kam Bernard Shaw mir entgegen und reichte mir mit einem
+sarkastischen: »Da haben Sie wieder einmal ein unverfälschtes Zeugnis
+der deutschen Sozialdemokratie,« ein englisches Morgenblatt.
+
+Es enthielt ein Telegramm aus Berlin: »Der 'Vorwärts' beschuldigt Frau
+Alix Brandt, die einzige Vertreterin der sozialdemokratischen Presse bei
+der Englandreise deutscher Journalisten, des Parteiverrats und kündigt
+ihr an, daß sie ihres unbotmäßigen Verhaltens wegen zur Rechenschaft
+gezogen werden würde.«
+
+Ich ballte das Blatt Papier heftig zusammen und schleuderte es zu Boden.
+»Das glaube ich nicht,« stieß ich zornig hervor.
+
+Shaw lachte: »Und doch ist nichts gewisser, weil nichts folgerichtiger
+ist! Die deutsche Partei ist von nichts freier als von -- Freiheit. Sie
+ist die konservativste, die respektabelste, die moralischste und die
+bürgerlichste Partei Europas. Sie ist keine rohe Partei der Tat, sondern
+eine Kanzel, von der herab Männer mit alten Ideen eindrucksvolle
+Moralpredigten halten. Mit Millionen von Stimmen zu ihrer Verfügung,
+widersteht sie den Lockungen des Ehrgeizes und denen realer Vorteile,
+die ein öffentliches Amt mit sich bringt, und bezeichnet denjenigen, der
+sich von den Freuden tugendhafter Entrüstung zu den Arbeiten praktischer
+Verwaltung wendet oder auch nur an einer allgemeinen Veranstaltung in
+öffentlichem Interesse teilnimmt, als einen Abtrünnigen und Verräter.
+Freiheit vom Dogmenglauben ist eines der Grundprinzipien des echten
+Sozialismus, -- die Deutschen sind dogmatischer als die Kirchenväter.
+Der Wille zur Macht ist ein anderes, -- die Deutschen machen den Willen
+zur Phrase daraus. Die Herrschaft des Geistes ist ein letztes, im
+Gegensatz zur Herrschaft des Kapitals, -- die Deutschen stellen das auf
+den Kopf und verlangen die Unterwerfung unter die Herrschaft der Masse.«
+
+Ich hatte seinen raschen Redefluß, den der Zorn diktierte, nicht
+unterbrochen. Ich hörte den gleichen Ton heraus wie bei den Worten von
+Burns, und in mir begann eine Saite, die schon lange leise tönte,
+lebhaft mitzuschwingen.
+
+Noch am selben Abend bekam ich einen Brief von Keir Hardie.
+
+»... Ich bin ganz außerstande, zu begreifen, welches der Grund sein
+konnte, Ihre Teilnahme an der Englandreise zu verurteilen,« hieß es
+darin. »Es ist für uns Sozialisten in England eine selbstverständliche
+Gewohnheit, gelegentlich mit Nichtsozialisten zusammenzugehen, wenn es
+im Interesse der Förderung einer großen und guten Sache gelegen ist.
+Unsere Erfahrung hat uns bewiesen, daß der Sozialismus dadurch nur
+gestärkt werden kann. Ich will damit nicht behaupten, daß unsere
+deutschen Genossen unserem Beispiel unbedingt folgen müßten, aber im
+vorliegenden Fall bleibt ihre Haltung Ihnen gegenüber mir vollständig
+unverständlich ...«
+
+Ich stand nun plötzlich im Mittelpunkt des Interesses und wurde von
+Interviewern belagert, die von der ganzen Sache keine andere Auffassung
+hatten, als daß die große deutsche Arbeiterpartei sich dadurch dem
+Gelächter der Welt ausgesetzt habe. Und ich gab ihnen stets die gleiche
+Antwort: »Die Sozialdemokratie, der ich stolz bin anzugehören, hat mit
+den Quertreibereien einzelner von preußischem Polizeigeist durchseuchter
+Genossen nichts zu tun.« Als aber mein Mann mir die Zeitungen schickte,
+-- nicht nur den 'Vorwärts', sondern eine ganze Anzahl anderer
+Parteiblätter, -- da schämte ich mich und ging den Interviewern so weit
+als möglich aus dem Wege, um nicht reden zu müssen. Und doch war es
+weniger die beleidigende Form der Angriffe, die mich verletzte, als die
+Gehässigkeit, die dabei zum Ausdruck kam. Wie stark mußte sie sein, um
+alle Klugheit, alle Rücksicht auf das Ansehen der Partei beiseite zu
+schieben? Oder gab es etwas Lächerlicheres, als meine Reise, --
+gleichgültig, ob man sie verurteilte oder nicht, -- zu einem
+Parteiskandal aufzubauschen? Nur eine tiefe, innere Krankheit konnte
+solche Symptome zeitigen. Ich kämpfte noch mit mir, ob es nicht meiner
+unwürdig wäre, mich gegen Ausbrüche der Pöbelgesinnung zu verteidigen,
+als ich die Antwort erhielt, die mein Mann der Parteipresse hatte
+zugehen lassen. Das waren Rutenstreiche, -- es blieb mir nichts zu
+sagen übrig. Seltsam nur, daß die Ritterlichkeit, mit der er für mich
+eintrat, eine alte Wunde aufs neue bluten machte, statt sie zu
+schließen.
+
+Der Schatten, der sich mir über Englands schöne Sommertage breitete,
+wich nicht mehr.
+
+ * * * * *
+
+Ich hatte immer gegen Massen-Museumsführungen, gegen Gesellschaftsreisen
+und dergleichen eine ausgesprochene Abneigung gehabt. Wem Kunst und
+Natur mehr sein soll als ein Gesprächsthema, der muß ihnen Auge in Auge
+still und allein gegenüberstehen. Und wer vor den Heiligtümern der
+Menschheit seine Andacht verrichten will, der kann es nur in Gegenwart
+derer, die seine Nächsten sind.
+
+Wir traten zusammen an Shakespeares Grab, -- es war wie ein Sakrileg.
+Wir kamen in sein Geburtshaus und in die blumenumrankte, strohgedeckte
+Hütte seiner Liebsten, -- aber Shakespeares Geist floh vor uns.
+
+Wir kamen nach Cambridge, jener alten Universität, die sich den Typus
+der mittelalterlichen Klosterstadt noch erhalten hat. Wer ihre
+Säulenhallen um alte Gärten allein betreten könnte, dem müßten die Bäume
+in den Weisen derer rauschen und flüstern, die hier dichteten: eines
+Marlowe, Milton, Byron. Und wer sich still an einen alten Pfeiler lehnen
+und in die dämmernden Bogengänge blicken dürfte, dem würde aus dunkel
+geschnitzten Pforten Erasmus von Rotterdam entgegentreten, und Cromwell,
+und Newton.
+
+Wir sahen nur freundliche Professoren und Photographen und hörten Reden
+und Tellergeklapper.
+
+ * * * * *
+
+Als die Mehrzahl der Geladenen England wieder verlassen hatte, sprach
+ich meinen Freund Stead, der als Reisemarschall der Gäste unaufhörlich
+in Anspruch genommen gewesen war, zum erstenmal allein.
+
+»Ihnen geht es gut,« sagte er, als wir einander in seinem Heim gegenüber
+saßen.
+
+»Woher wissen Sie das?« fragte ich mit einem bitteren Gefühl im Herzen.
+
+»Sollten Sie etwa noch den alten Glücksbegriffen huldigen?« fragte er
+dagegen.
+
+»Jeder hat seine persönlichen,« antwortete ich ausweichend.
+
+»Und sollte nur einen haben, aus dem sich alle anderen entwickeln:
+leistungsfähig zu sein,« ergänzte er. War ich schon so alt, daß er mir
+solch einen Glücksbegriff zumutete, der mir nur mit äußerster
+Selbstverleugnung Hand in Hand zu gehen schien?
+
+»Sie mißverstehen mich,« meinte er. »Ich begreife darunter die stärkste
+Selbstbehauptung: die Entwicklung aller Fähigkeiten zum äußersten Maß
+ihrer Leistungskraft ...« Wir wurden unterbrochen; es war gut so, denn
+um so stärker prägten sich mir seine Worte ein.
+
+Nun blieb mir noch übrig, ehe ich heimfuhr, zu erreichen, was ich mir
+vorgenommen hatte. Ich verhandelte mit verschiedenen Redaktionen wegen
+der Übernahme einer deutschen Korrespondenz. In den Briefen meines
+Mannes spürte ich immer deutlicher den schweren Atem der Sorgen. Um
+irgend eine ihrer Lasten erleichtert, mußte ich nach Hause kommen. Aber
+so oft ich auch durch die glutheißen Straßen Londons von einem Bureau
+zum anderen ging, meine Abreise immer wieder aufschiebend, weil eine
+neue leise Hoffnung mich festhielt, das Ergebnis blieb ein negatives.
+Inzwischen war auch die bürgerliche Presse Deutschlands meiner Reise
+wegen über mich hergefallen, -- die vereinzelten Stimmen der
+Verteidigung waren im Chor der Schreier verhallt, -- das mochte die
+höflich ablehnende Haltung mit verursachen. Ich mußte mich entschließen,
+mit leeren Händen zurückzukehren. Nur einer Einladung wollte ich noch
+Folge leisten.
+
+In Warwick, einem Städtchen am Avon, das von den dicken Türmen einer
+uralten Burg überragt wird, fand eines jener historischen Festspiele
+statt, an denen sich alljährlich in den verschiedenen Gegenden Englands
+die ganze Bevölkerung beteiligt. Ich fuhr hin und sah im Park des
+Schlosses die Darstellung jenes glanzumflossenen Teiles der englischen
+Geschichte, von der seine Mauern noch erzählen. Auf der weiten, von
+mächtigen Bäumen zu beiden Seiten abgeschlossenen Rasenfläche, mit dem
+Fluß in der Mitte, der zwischen blühenden Rosenbüschen und hängenden
+Weiden lautlos vorüberzieht, und dem Hintergrund einer sanft
+verschwimmenden Hügellandschaft zogen Jahrhunderte vorüber. Und zuletzt
+vereinigten sich noch einmal zweitausend Menschen zu Fuß und zu Pferde
+in den Rüstungen und Gewändern aller Zeiten. Nun kommt die
+Schlußapotheose, dachte ich, mit der Büste des Königs und einem »Rule
+Britannia« aus allen Kehlen. Ich erhob mich, um zu gehen.
+
+Aber da sah ich, wie die Ritter und Edeldamen, die Fürsten und Könige
+langsam und leise hinter Bäumen und Büschen verschwanden. Nur einer
+blieb zurück, allein, weltbeherrschend, als wäre die jahrhundertelange
+Entwicklung nur notwendig gewesen, um diesen einen hervorzubringen, der
+größer ist als alle: William Shakespeare.
+
+ * * * * *
+
+Der Wille zur Macht, -- die höchstmögliche Entwicklung der
+Persönlichkeit als Ziel des einzelnen, -- der Übermensch als Ziel der
+Menschheit --: zu einem einzigen vollen Akkord vereinigten sich
+plötzlich die Klänge, die mir diesmal in England entgegengetönt hatten.
+Mein Herz schlug zum Zerspringen wie das eines Gefangenen, dem die
+Ketten vom Fuße gelöst werden und die Pforten sich öffnen zur freien
+Wanderschaft. Er sieht nichts wieder als die alte vertraute Welt seiner
+Jugend, und doch erscheint sie ihm wie ein Wunder so neu. Ein halbes
+Kind war ich gewesen, als ich aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft den
+ersten Ruf persönlicher Befreiung vernahm: »Das Leben sagt: Folge mir
+nicht nach; sondern dir! sondern dir!« -- Galt nicht derselbe Ruf heute
+der Menschheit?
+
+ * * * * *
+
+Am letzten Tage meines londoner Aufenthalts traf ich auf der Straße eine
+Kapitänin der Heilsarmee, die mich herzlich begrüßte.
+
+»Sie kennen mich wohl nicht mehr?« fragte sie lächelnd; »aber der Nacht
+in Whitechapel vor elf Jahren erinnern Sie sich gewiß.«
+
+Im Augenblick sah ich das Weib wieder vor mir, die, von den Gefährten
+ihres Jammers umringt, im Schmutz der Gasse geboren hatte. Ich streckte
+meiner einstigen Führerin erschüttert die Hand entgegen.
+
+»Sie würden mir heute, nach all den Reformen des Grafschaftsrats, nichts
+Ähnliches zeigen können,« sagte ich.
+
+»Man hat aufgeräumt, -- gewiß,« antwortete sie ruhig, »und an Stelle
+mancher elenden Häuser neue gebaut, aber das Elend ist immer dasselbe.
+Die einen sterben, andere wandern zu ...«
+
+»Entsetzlich!« rief ich aus. »Wie können Sie das nur ertragen?!
+Erscheint Ihnen nicht Ihre ganze Arbeit hoffnungslos?!«
+
+Sie lächelte freundlich: »Ich habe viele Seelen gewonnen, denen für
+allen Erdenjammer der Himmel offen steht.«
+
+Noch nie war mir der Christenglaube so grausam erschienen als in diesem
+Augenblick. Wie eine Zyklopenmauer richtete er sich auf zwischen den
+Menschen und ihrer Erlösung. Ich verabschiedete mich rasch. Den vollen
+Akkord, den ich eben noch vernommen hatte, durchtönte eine schrille
+Dissonanz. Ich war der schaffende Künstler nicht, der die einheitliche
+Lösung hätte finden können. Als ich aber dann heimwärts fuhr,
+beherrschte mich nicht mehr jene niederdrückende Empfindung, mit leeren
+Händen zu kommen.
+
+ * * * * *
+
+Mein Mann empfing mich mit wehmütiger Zärtlichkeit, sodaß ich ihm
+angstvoll forschend ins Auge sah. »Es ist nichts, Kind, nichts!« wehrte
+er in nervöser Erregung ab. »Ich bin nur abgespannt, -- nur müde.« Aber
+allmählich erfuhr ich doch, was geschehen war: eine Gruppe von
+Parteigenossen seines Wahlkreises forderte von ihm die Niederlegung
+seines Mandats, weil -- ich mich an der Englandreise beteiligt hatte,
+und ein außerordentlicher Kreistag sollte darüber entscheiden.
+
+Glühende Sommerhitze brütete über der Mark; an den Bäumen in den Straßen
+hingen die Blätter schon gelb und tot; kein Lüftchen rührte sich, und
+doch umgaben dichte Staubwolken den Wagen, der uns von Gusow nach
+Platkow führte. In dem kleinen Saal herrschte unerträgliche Schwüle. Er
+war schon gefüllt, als wir kamen: von lauter schweigenden Menschen mit
+harten Zügen und finsteren Blicken. Unsere alten Kampfgefährten rührten
+kaum an die Mütze bei unserem Eintritt. Einen Augenblick lang
+umklammerte ich den Arm meines Mannes, -- außer ihm hatte ich hier
+keinen Freund mehr. Die Anklage wurde verlesen. Es war die Sprache des
+»Vorwärts«, den sie führte. »Das hat Berlin diktiert!« rief Heinrich.
+Die Falten auf der Stirn unserer Richter vertieften sich.
+
+Mein Mann antwortete zuerst. Er erinnerte daran, wie häufig schon
+hervorragende Parteigenossen sich mit politischen Gegnern zu gemeinsamer
+Arbeit vereinigt hätten, wie es auch an Beispielen für das harmlosere
+Zusammensein zu geselligen Zwecken nicht gefehlt habe. Und als einer
+wütend dazwischen schrie: »Die Monarchentoaste!« erklärte er, daß die
+Teilnahme an dieser Form internationaler Höflichkeit um so weniger als
+eine Verleugnung der republikanischen Gesinnung angesehen werden könne,
+nachdem wir uns den viel ernsteren Treueiden der Landtagsabgeordneten
+unterwerfen müßten. Als er geendet hatte, hoben sich ein paar Hände zu
+schüchternem Applaus; die Mehrzahl der Genossen aber verharrte weiter in
+finsterem Schweigen. Die nach ihm sprachen, hatten ihre Reden alle auf
+einen Ton gestimmt: daß die Partei durch uns geschädigt worden sei.
+
+»Für uns jibt's nur ein rechts und links,« rief der Maurer Merten; »die
+Akademiker, die nich Fleisch sind von unserem Fleisch, die zieht's eben
+immer wieder zu den Bourgeois. Ich aber sage Euch, Jenossen« -- dabei
+hieb er mit der breiten Faust auf den Tisch -- »sowas dürfen wir uns
+nich länger gefallen lassen, am wenigsten von unserem Abgeordneten. Was
+wäre verloren, wenn die Jenossin Brandt nich nach England jefahren
+wäre?! Es wäre ooch noch so! Nu aber, wo sie hinfuhr, sehen wir, daß sie
+kein proletarisches Bewußtsein hat; daß sie den Klassenkampf in
+Harmonieduselei verwandeln möchte und statt gegen die Gegner neben uns
+zu stehen mit ihnen bei Schampagner un Braten techtelmechtelt ...«
+
+»Bravo, Bravo« -- klang es von allen Seiten, während mein Mann wütend
+vom Stuhl sprang und ein »Unverschämt!« zwischen den Zähnen hervorstieß.
+Mich packte ein jäher Schreck, als habe sich plötzlich vor mir die Erde
+gespalten: standen wir allein auf der einen Seite und jenseits die
+selbsterwählten Gefährten?!
+
+»Die Genossin Brandt hat das Wort,« hörte ich wie von weit her sagen.
+Ich sammelte mich rasch. Aller Augen sah ich auf mich gerichtet.
+
+»Mein Vorredner,« begann ich, »hat einen konsequenten Standpunkt
+vertreten, er hätte nur hinzufügen müssen, warum bei uns zum Verbrechen
+gestempelt wird, was anderen kein Härchen krümmte: wir sind des
+Revisionismus verdächtig. Das Schauspiel, das Sie hier aufführen, wäre
+noch kläglicher, als es so wie so schon ist, wenn nicht im Hintergrund
+tiefere Differenzen schliefen. Sie stehen auf dem Boden des
+Klassenkampfes, -- wir auch; Sie hassen die kapitalistische
+Wirtschaftsordnung, -- wir auch. Aber ihrer selbst unbewußt, führen Sie
+den Klassenkampf im Sinne des Krieges; Sie wollen den Gegner
+niederzwingen, Sie wollen sein Land erobern. Sie, die Sie seit
+Jahrtausenden die Lastträger der Menschheit sind, würden es schon als
+gerecht empfinden, wenn nur die Rollen der Unterdrücker und
+Unterdrückten vertauscht würden. Sie sehen in jedem Vertreter der
+herrschenden Gesellschaft einen Feind, weil Sie ihm als die Abhängigen,
+Unfreien gegenüberstehen, weil Sie ihm schon das bloße Sattsein neiden
+müssen. Wir können Ihren von der Bitterkeit des eigenen Herzens
+genährten Haß nicht mitfühlen, denn nicht persönliches Leiden machte uns
+zu Ihren Genossen. Uns ist das Ziel des Kampfes nicht die veränderte
+Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern die uneingeschränkte
+Herrschaft der Menschheit über die Natur. Die Erde wollen wir erobern,
+um gleiche Entwicklungsbedingungen für alle zu schaffen, nicht
+Feindesland, das Unterworfene beackern sollen ...«
+
+Ein unwilliges Gemurmel erhob sich. Im Saal fing es an zu dämmern. Ich
+unterschied nur noch die Zunächstsitzenden. Sonst war alles eine
+schwarze Masse, aus der nur hie und da ein kahler, breiter Schädel, ein
+weißer Bart, der glühende Punkt einer Zigarre herausleuchtete.
+
+»Die Diktatur des Proletariats!« klang es mit tiefer Stimme drohend aus
+dem dunkelsten Winkel.
+
+Die Jakobiner! antwortete es in meinem Innern. Ich fühlte, die Luft war
+geladen mit Sprengstoff gegen mich.
+
+Den Faden meiner Rede hatte ich verloren, und unsicher und leise fuhr
+ich fort: »Ich habe Schulter an Schulter mit Ihnen gekämpft, -- was
+bedeutet das gegenüber der Tatsache, daß ich mit politischen Gegnern auf
+demselben Schiff nach England fuhr! Wir haben zusammen diesen Wahlkreis
+erobert, und in jener Nacht, da die alte rote Fahne als Zeichen des
+Sieges über uns flatterte, hat uns ein starkes Gefühl, wie ich glaubte,
+auf immer verbunden, -- aber was bedeutet das gegenüber dem Verbrechen
+der Kaisertoaste! Der Zweck der Reise war nichts anderes, als was im
+Interesse des Sozialismus gelegen ist, -- was bedeutet das gegenüber der
+Sünde, mit Nichtsozialisten an einem Tische gesessen zu haben! Dafür
+ist's nicht genug, daß unsere Presse mich beschimpfte, wie kein
+bürgerliches Blatt jemals zuvor, -- nein, es muß auch noch ein Exempel
+statuiert werden: der Genosse Brandt muß fallen! ... Nicht um
+unsertwillen, denn nicht wir sind die Unterlegenen, wenn Sie den
+vorliegenden Antrag annehmen, sondern im Interesse der Partei erwarte
+ich von Ihnen seine Ablehnung. Leisten Sie ihm Folge, so enthüllen Sie
+eine schwärende Wunde, und das in einem Augenblick, wo die bürgerliche
+Welt gierig darauf wartet, uns bei einer Schwäche ertappen zu
+können ...«
+
+Keine Hand rührte sich. Die Petroleumlampe, die von einem roten
+Papierschirm umgeben, von der Decke herabhing, flammte auf und warf ein
+unsicher flackerndes Licht über heiße Gesichter.
+
+Mein Mann sprach noch einmal, -- kalt, zornig. »Ich verlange nicht nur,
+daß Sie den Antrag ablehnen, sondern daß Sie ihn zurückziehen,« sagte
+er.
+
+Der Geruch der qualmenden Lampe machte mich schwindeln. Während der
+Pause, die die Genossen zur internen Beratung anberaumt hatten,
+verließen wir den Saal. Draußen empfing uns die stille, mondhelle Nacht.
+Das Armenhaus gegenüber warf einen breiten, schwarzen Schatten auf den
+Sand.
+
+»Der Antrag, den Genossen Brandt zur Niederlegung seines Mandats zu
+veranlassen, ist zurückgezogen,« erklärte der Vorsitzende, als wir
+wieder eintraten.
+
+Die Versammlung ging ruhig auseinander. Wir verabschiedeten uns mit
+einem förmlichen Gruß. Auf unserem Wege nach der Station geleitete uns
+niemand.
+
+Kaum waren wir ein paar Tage lang in unsere Arbeit wieder vertieft, als
+ich erfuhr, daß die Berliner Parteileitung mich aus der offiziellen
+Rednerliste der Partei gestrichen habe. Ich legte Protest ein und
+verlangte, gehört zu werden.
+
+Man lud mich vor. Rings um den Saal saßen die Männer, in der Mitte an
+einer langen Tafel die Frauen, Wanda Orbin an ihrer Spitze. Sie waren
+meine Ankläger gewesen. Martha Bartels war der Staatsanwalt. Sie zählte
+alle meine Sünden auf, von einer Agitationsreise an, die ich vor vier
+Jahren hatte absagen müssen, bis zur Englandfahrt. Aber auch meine
+Verteidigung war eine Anklage: ich verschwieg nichts. Mitten in meiner
+Rede erhob sich Wanda Orbin ungestüm von ihrem Platz; ich sah, wie ein
+Zittern ihren Körper durchlief, wie der Zorn ihre Züge verzerrte. Im
+nächsten Augenblick stand sie vor mir und erhob die Faust, -- einer der
+zunächst sitzenden Genossen sprang dazwischen.
+
+»So diskutieren wir nicht!« rief er empört.
+
+Der Beschluß, meinen Namen von der Rednerliste zu entfernen, wurde
+aufgehoben. Das Verhalten Wanda Orbins mochte die Genossen stutzig
+gemacht haben. Trotzdem war mein Sieg nur ein scheinbarer; in seinen
+Folgen blieb der Beschluß bestehen.
+
+Eine tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich meiner. Jeder Kampf um
+Ideen wirkt erfrischend, selbst wenn er mit den schärfsten Waffen
+geführt wird. Aber was ich erlebte, war so eng, so klein, hinterließ
+einen so arm, mit einem so bitteren Geschmack auf der Zunge. Nicht
+Gewitterschwüle war's, die lastend auf mir ruhte und die Hoffnung auf
+Blitz und Wolkenbruch weckt, sondern feuchtwarmer Nebel, ganz dichter,
+undurchdringlicher. Und er umschlang mit seinen langen Armen, die sich
+nicht greifen, noch weniger zurückstoßen lassen, die ganze Partei.
+
+ * * * * *
+
+Unter dem Zeichen der siegreichen russischen Revolution hatte der Jenaer
+Parteitag gestanden, eine tiefe Erregung, die nach Taten schrie, hatte
+sich aller bemächtigt; die Resolution zum Massenstreik hatte angesichts
+dieser Stimmung, so vorsichtig sie gefaßt war, wie eine Fanfare
+geklungen. Und nun war der Rausch vorüber; die Ernüchterung allein
+blieb. In kleinlichem Hader, in gegenseitigen Vorwürfen machte sie sich
+Luft.
+
+Mit steigendem Mißbehagen empfanden die Nur-Politiker den leisen Hohn,
+mit dem die Gewerkschafter ihnen begegneten. Sie hatten von jeher dem
+Theoretisieren über den Massenstreik skeptisch gegenübergestanden, und
+auf ihrem Kongreß in Köln sprachen sie sich rückhaltlos aus; von der
+Unfruchtbarkeit der Partei, von dem stagnierenden Sumpf der
+gegenwärtigen Situation, von der kläglichen Lage, in die wir durch die
+wirkungslos verpuffte Landtagswahldemonstration gekommen seien, von dem
+Mißverhältnis zwischen Worten und Taten war viel die Rede. Nicht ohne
+berechtigten Stolz wiesen sie darauf hin, daß die anderthalb Millionen
+gewerkschaftlich Organisierter eine stärkere Macht repräsentierten als
+die viermalhunderttausend Mitglieder der sozialdemokratischen
+Wahlvereine.
+
+»Ich habe die Möglichkeit einer Spaltung der Partei immer weit von mir
+gewiesen,« sagte einer der gewerkschaftlichen Führer; »aber wenn die
+Dinge sich weiter entwickeln wie jetzt, dann reißt uns, weiß Gott, die
+Geduld! Die Radikalen, die, wenn man den Firnis abkratzt, nichts sind
+als gewöhnliche Spießer, bilden sich ein, wir tanzen nach ihrer Pfeife,
+bloß weil sie so laut ist. Sie sollen sich wundern!«
+
+Auf dem Parteitag zu Mannheim kam es zu einem Duell zwischen Bebel und
+Legien. Keiner war unbestrittener Sieger, Wunden trugen beide davon, die
+sogenannte Einigungsresolution war nichts als ein Pflaster. Und die
+schweren Nebelschwaden senkten sich tiefer.
+
+Plötzlich aber erhob sich ein Sturm, den kein Wetterkundiger
+vorausgesehen hatte: die Regierung forderte einen Nachtragsetat für den
+Krieg gegen die Hereros, der im Verhältnis zu den Millionen, die die
+Reichstagsmehrheit bisher für die Kolonien bewilligt hatte, eine
+Lappalie war. Von den Rednern des Zentrums und der Sozialdemokratie
+wurde dabei die ganze Kolonialpolitik mit ihren Gewaltmaßregeln, ihren
+Grausamkeiten aufgerollt, und zu allgemeiner Überraschung wurde der
+Kredit für Südwest-Afrika abgelehnt. Das erschien der Regierung als der
+geeignete Moment, dem Volke durch die Tat zu beweisen, daß der
+Konstitutionalismus in Deutschland nur auf dem Papiere steht: nicht der
+Kanzler und die Minister danken ab, wenn die Volksvertreter sie
+desavouieren, sondern die Volksvertreter werden mit einem Fußtritt
+hinausgeworfen, wenn sie das persönliche Regiment nicht jasagend
+anerkennen.
+
+Wir erfuhren die Nachricht der Reichstagsauflösung, als wir mit Romberg
+im Kaffee des Kaiserhofs saßen. Und hier, wo eine Anzahl der politischen
+Berichterstatter größerer Zeitungen zu verkehren pflegten, rief sie
+einen Aufruhr hervor, wie ihn Berlin sonst nicht kannte.
+
+»Eine unglaubliche Dummheit der Regierung!« rief der eine stirnrunzelnd,
+der andere frohlockend.
+
+»Nun geht's in den Kampf --« Ich mußte an mich halten, um es nicht
+jubelnd herauszustoßen. Ich sah wieder entwölkten Himmel, weiten
+Horizont.
+
+»Wenn die Partei sich selbst zerfleischt, so ist noch immer die
+Regierung zugesprungen, um die Wunden zu heilen,« sagte mein Mann.
+Romberg zuckte die Achseln:
+
+»Die Kolonialfrage als Wahlparole?! Ich fürchte, Sie täuschen sich über
+ihre Bedeutung.«
+
+ * * * * *
+
+Der Winter war ungewöhnlich hart damals. Gerade die Not, die ihn zum
+Gefolge hat, macht ihn zu unserem Agitator, dachte ich. Alle unsere
+Gegner, an ihrer Spitze der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie und
+der Flottenverein, rüsteten sich bis an die Zähne wider uns. Ich war
+überzeugt: das steigere nur unsere Kampflust und festige unsere
+Einigkeit wieder. Fürst Bülow selbst trat auf das Schlachtfeld und rief
+die staatserhaltenden Kräfte gegen die Sozialdemokratie auf. Dieses
+Eingreifen des höchsten Staatsbeamten wird selbst unsere lauen Anhänger
+zu hellem Zorn entflammen, -- dessen war ich gewiß.
+
+Und der Kampf begann. Über knirschenden Schnee flog der Schlitten, der
+mich von einem Dorf zum anderen trug. Oft bestieg ich ihn, glühheiß von
+der eben gehaltenen Rede, und die Luft, die mir den Atem am Munde
+gefrieren ließ, schien mir eine Wohltat. In den niedrigen Sälen fanden
+sich die Menschen ein wie sonst, aber der Sturm, der in den
+Schornsteinen heulte, der Schnee, der in dichten Flocken gegen die
+Fenster flog, trieb ihnen kühle Schauer über den Rücken.
+
+Je näher der Tag der Entscheidung rückte, desto fieberhafter arbeiteten
+wir. Den Husten, der mir des Nachts den Körper erschütterte, suchte ich
+zu ersticken, meine Stimme, die versagen wollte, zwang ich unter meinen
+Willen. Wir glaubten an den Sieg. Und in Augenblicken selbstvergessener
+Hoffnung, wo die bösen Geister der Sorge vor unserer Zuversicht die
+Flucht ergriffen, wo alle Furcht sich verkroch wie Schakale vor der
+aufgehenden Sonne, da fühlte ich, wie mein Herz heiß wurde und der
+Aberglaube Gewalt über mich bekam: von der Entscheidung hängt auch
+unsere Zukunft ab.
+
+ * * * * *
+
+Wieder, wie vor vier Jahren, saßen wir am Abend der Wahl im
+Gewerkschaftshaus zu Frankfurt. Und wieder hatte die Gärtnersfrau den
+Korb voll roter Nelken neben sich, und die Fahne lehnte eingerollt an
+der Wand. Aber die Genossen, die sich allmählich hereindrängten, machten
+ernste Gesichter, und die Boten, die kamen, brachten lauter Hiobsposten.
+Kein Ort, ohne einen Rückgang unserer Stimmen! Dazwischen die Depeschen
+aus anderen Kreisen: Verlust um Verlust. Noch ehe die letzten
+Nachrichten gekommen waren, leerte sich die Straße unter unseren
+Fenstern, und aus dem Saal schlich sich leise einer nach dem anderen. Es
+schlug Mitternacht, -- die Nelken welkten schon im Korbe. Wir waren nur
+noch ein Häuflein in dem großen öden Raum, -- wir wollten uns nichts
+ersparen: die Schlacht war endgültig verloren.
+
+Wenige Tage später -- in der Nacht nach den Stichwahlen -- gingen wir
+durch die Straßen Berlins: da kamen sie in langen Zügen, unsere
+Überwinder -- kein Polizeisäbel, kein Schutzmannskordon hielt sie auf.
+Vor dem Königsschloß sammelten sie sich in schwarzen Massen. »Heil dir
+im Siegerkranz --« brausend stiegen die Töne durch die klare Winterluft
+zu dem hellen Fenster empor, an dem der sich zeigte, der heute in
+Wahrheit der Sieger war: der Kaiser.
+
+
+
+
+Siebzehntes Kapitel
+
+
+Vor einem halben Menschenalter war's. Ich stand allein auf Bergesspitze
+im Gewittersturm. Dicht über mir hingen die Wolken, aus denen das Wasser
+brausend in die Tiefe schoß, unter mir ballten sie sich zusammen und
+verdeckten jeden Ausblick auf stille Dörfer und freundliche Heimstätten.
+Der Donner rollte; die Berge antworteten ihm, -- ein Gelächter der
+Riesen über das kleine Menschengeschlecht. Jeder Blitz öffnete die
+Wolkenwand; das Himmelsgewölbe dahinter stand in Flammen.
+
+Ich aber konnte nicht vor, -- nicht zurück. Ich mußte mich dem Wetter
+preisgeben, -- und ich fürchtete mich -- --
+
+ * * * * *
+
+Wir lagen nächtelang wach. Jeder tat, als schliefe er, aus Schonung für
+den anderen. Unsere Arbeit lähmte Hoffnungslosigkeit. Wir lächelten, als
+wären wir froh, um dem anderen nicht wehe zu tun.
+
+»Ilse meldet sich an --,« sagte Heinrich, als er eines Morgens die Post
+durchsah.
+
+»Jetzt?!« rief ich erschrocken. Sie kam schon am nächsten Tage, hatte
+einen seltsam verängstigten Zug im Gesicht und ein erzwungen
+leichtsinniges Lächeln um die Lippen.
+
+»Ich muß einmal wieder Großstadtluft atmen,« meinte sie; »die Stille bei
+uns ist oft schaurig.«
+
+Mir schien, als zittere sie dabei. Von nun an war der Telegraphenbote
+unser häufigster Gast. Zuerst glaubte ich, ihres Mannes besorgte,
+sehnsüchtige Liebe käme in diesem Depeschenwechsel zum Ausdruck. Warum
+hatte sie denn nur jedesmal rote Augen, wenn ein Telegramm gekommen war?
+
+Da, eines Morgens, stürmte einer in unser Zimmer, die Haare zerzaust,
+die Augen rot unterlaufen, -- der Gatte meiner Schwester. Vor seinen
+Verfolgern sollten wir ihn schützen, schrie er verzweifelt und barg den
+dunkeln Kopf in Ilsens Schoß, die mit erloschenem Blick auf ihn
+niedersah, die kleinen schwachen Hände auf seinem Haar. Noch am selben
+Tage kam er ins Irrenhaus. Er war tobsüchtig. Dann brach auch Ilse
+zusammen; aber sie weinte nicht, sie sprach nicht über ihr Schicksal,
+sie war nur wie erstarrt. Auch als sich herausstellte, daß ein großer
+Teil ihres Vermögens am Sanatorium ihres Mannes verloren gegangen war,
+zuckte sie nur die Achseln.
+
+Um so furchtbarer traf es uns. Bisher wäre der Verlust des Geldes, mit
+dem sie sich an der Neuen Gesellschaft beteiligt hatte, keine ernste
+Frage für sie gewesen. Jetzt war sie es. Hatte ich vor ihrem Kommen
+geglaubt, zusammenzubrechen, jetzt kam mir die Kraft zurück, eine des
+Fiebers.
+
+»Wir müssen aushalten, Heinz, wir müssen!« sagte ich, und wenn eine
+seiner vielen Bemühungen, Hilfe zu schaffen, wieder vergeblich gewesen
+war, so trieb ich ihn zu immer neuen Versuchen an. Und hie und da
+glückten sie. Für ein paar Monate konnten wir weiter schaffen, konnten
+leben. Aber jedesmal, wenn wir Hoffnung schöpften, erschien sicherlich
+irgendein Hetzartikel in der Parteipresse gegen uns, oder in den
+Wahlvereinen wurden wir von radikalen Genossen einer neuen Ketzerei
+beschuldigt, oder der alte Vorwurf des Geschäftssozialismus wurde laut.
+Wir spürten das alles an der Abnahme der Abonnenten.
+
+Wie kann ich Geld schaffen, -- wie?! Die Frage beherrschte meine
+Gedanken immer mehr. Ein »freier« Schriftsteller war ich, -- einer von
+den Tausenden, die ausziehen, ihre Feder zu führen wie ein Schwert. Aber
+die Not heftet sich an ihre Füße, zuerst ein Zwerg, und dann ein Riese,
+der sie in seine Dienste zwingt.
+
+»Lieber sterben!« stöhnte ich.
+
+Doch dann sah ich mein Kind, -- wie es blaß war, welch forschende Augen
+es auf mich richtete! Ich riß es in meine Arme:
+
+»Unter jedes Joch beuge ich meinen Nacken für dich,« dachte ich
+verzweifelt.
+
+Ich beschloß, Vorträge zu halten gegen Entree. Das war nichts
+Erniedrigendes. Jeder Dozent an der Universität bekommt ein Honorar für
+die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die er den Hörern vermittelt.
+Trotzdem widerstrebte es mir. Ein Gefühl grenzenloser Scham trieb mir
+den Angstschweiß jedesmal auf die Stirn, wenn ich die Rednertribüne
+betrat. Ich hatte immer einen vollen Saal. Ich »zog«, -- ich war eine
+Sensation. Wie ein gezähmter Löwe im Zirkus. Gegen ein paar Mark
+Eintritt konnte sich nun die beste Gesellschaft, ohne sich etwas zu
+vergeben, die berüchtigte Sozialdemokratin ansehen, -- mit dem Opernglas
+sogar. Meine Zuhörer trugen rauschende Kleider und viele Brillanten an
+den weißen Händen, mit denen sie Beifall klatschten, um zu erzwingen,
+daß ich mich vor ihnen verbeugte.
+
+»Unglaublich von einer Genossin, in diesem goldstrotzenden Saal zu reden
+und sich von diesem Publikum bezahlen zu lassen --,« sagte eine
+Besucherin, als ich gerade an ihr vorüber ins Freie trat. Ich preßte die
+Lippen zusammen, um nicht heftig aufzufahren --.
+
+Sobald ich sprach, erschrak ich vor der Stimme, die nicht mehr die meine
+war. Im letzten Wahlkampf hatte sie ihren Klang verloren, war heiser und
+rauh geworden. Und ich hatte sie geliebt, weil sie meine Worte so leicht
+und willig bis in jeden Winkel trug. Doch: -- was bedeutete das jetzt?!
+Es war mehr verloren gegangen als der helle Ton meiner Stimme.
+
+Ich fing an zu reisen; von einer Stadt in die andere. Zuweilen auf die
+Einladung irgendeines literarischen Vereines hin. In Hannover sagte mir
+der Vorsitzende:
+
+»Nicht wahr, Sie richten sich darauf ein, daß Offiziere unter unseren
+Mitgliedern sind.«
+
+In Köln hieß es: »Wir rechnen darauf, daß Sie auf unsere jungen Mädchen
+Rücksicht nehmen.«
+
+Hätte ich ihnen doch den Rücken kehren können!
+
+Wenn ich nach Hause kam, umklammerte mich mein Sohn mit überströmender
+Zärtlichkeit. Wie ich ihm fehlte! Niemand hatte Zeit für ihn! Und doch
+bedurfte er immer mehr der Freundschaft der Eltern! Über hundert
+Rätselfragen des Daseins begann er in seinen vielen einsamen Stunden
+nachzugrübeln. Und seine Phantasie, deren üppige Ranken ohne Stütze
+blieben, ohne die Hand des Gärtners, der sie zur rechten Zeit zu
+beschneiden versteht, überwucherten sein Gefühl. Er fürchtete sich oft
+vor seinen eigenen Träumen, so daß ich ihn des Nachts zu mir betten
+mußte.
+
+»Du verzärtelst den Jungen --,« sagte Heinrich dann ärgerlich. Und für
+übertriebene Sentimentalität hielt er es, wenn ich von der Atmosphäre
+des Unglücks sprach, die sichtlich auf des Kindes Seele lastete. So
+lernte ich schweigen, auch über das, was mir am tiefsten das Herz
+bewegte. Und in sehr dunkeln Stunden bemächtigte sich meiner ein
+fremdes, böses Gefühl. Dann häufte ich auf meinen Mann alle Schuld.
+
+In solch einer Stimmung traf mich Romberg. Er war voll aufrichtiger
+Teilnahme.
+
+»Lange halte ich es nicht mehr aus,« sagte ich, den Kopf in den Händen
+vergraben. Er sollte nicht sehen, daß meine Kraft nicht einmal mehr
+ausreichte, um die Tränen zurückzuhalten.
+
+»Ich wüßte eine Hilfe,« begann er dann langsam, »eine, durch die Sie
+frei würden und sorgenlos.«
+
+Ich hob den Kopf; alles Blut strömte mir zum Herzen. Eine Hilfe! Er
+zögerte. Dann sah er mich an mit einem festen warmen Blick, der die
+Freundschaft langer Jahre in sich schloß und sagte, jedes Wort betonend:
+
+»Trennen Sie sich von Ihrem Mann.«
+
+Als Minuten vergingen, ohne daß ich antwortete, erhob er sich.
+
+»Zürnen Sie mir?« fragte er.
+
+»Nein,« antwortete ich, ihm die Hand entgegenstreckend. Dann überliefs
+mich kalt. Auch jetzt lag die seine schlaff und kraftlos zwischen meinen
+Fingern.
+
+Ich überlegte seinen Rat und erschrak nicht einmal vor der kühlen Ruhe,
+mit der ich es zu tun vermochte. Er hatte recht: allein mit meinem Sohn,
+der Last der Zeitschrift ledig, die das meiste verschlang, was ich
+verdiente, würde ich, wenn auch noch so bescheiden, von meiner Arbeit
+leben können. Und ich wäre frei, -- frei! Unwillkürlich streckte ich die
+Arme weit aus, als gelte es, die Welt zu umfassen. Aber dann sah ich
+ihn: meinen Mann, meinen Kampfgefährten, meinen Leidensgenossen, -- den
+Vater meines Kindes! Ich fing an, ihn zu beobachten. Wie er leiden
+mußte. Und wie er mich liebte!
+
+Er brachte mir täglich ein paar Blumen mit, und wenn es nur wenige
+Veilchen waren. Das schlimmste suchte er mir aus dem Wege zu räumen, so
+lange es ging. Er hatte eine ritterliche, zurückhaltende Zärtlichkeit
+für mich. Und mein Junge hing an dem Vater.
+
+»Ich kann nicht, lieber Freund,« sagte ich mit einem wehen Lächeln, als
+Romberg wiederkam. Er runzelte die Stirn und wandte sich ab. Ich legte
+ihm die Hand auf den Arm.
+
+»Sie müssen versuchen, mich zu verstehen, Sie vor allem!« bat ich.
+»Haben Sie mich nicht selbst verspottet, als ich einmal die freie Liebe
+predigte, weil ich überzeugt war, das Eheproblem dadurch lösen zu
+können? Heute weiß ich, daß der Zettel auf dem Standesamt nicht die
+stärkste Fessel ist, die sie unfrei macht. Ich habe Frauen gesehen, die
+sich voll Idealismus dem Mann ihrer Wahl vermählten, ohne ihren Bund
+nach außen sanktionieren zu lassen. Nach kurzer Zeit sind sie
+bedauernswertere Sklavinnen geworden als die staatlich abgestempelten
+Ehefrauen. Ihre und ihres Kindes Existenz war von ihrem Manne abhängig,
+und jeden Tag konnte er sie verlassen. Darum klammerten sie sich an ihn,
+unterwarfen sich ihm, ertrugen seine Brutalität, seine Launen, seine
+Treulosigkeiten. Ich erkannte, daß die wirtschaftliche Selbständigkeit
+der Frau die Voraussetzung des freien Liebesbundes sein muß..«
+
+»Nun -- und sind Sie etwa wirtschaftlich abhängig?! Sie, mit Ihrer
+Begabung, Ihrer Arbeitskraft?« unterbrach er mich heftig.
+
+»Nein, gewiß nicht,« entgegnete ich; »diese Fessel trag' ich nicht mehr,
+und keine Frau brauchte ihre Menschenwürde von ihr erdrosseln zu lassen,
+wenn sie arbeiten gelernt hat. Aber es gibt andere Fesseln, -- zart und
+weich wie Seide, -- die unzerreißbar sind. Mein Sohn liebt seinen Vater.
+Wie kann ich sein Kinderherz verwunden, solch einen Zwiespalt in seine
+Seele tragen?«
+
+»Ein Kind überwindet rasch,« antwortete Romberg mit einer wegwerfenden
+Handbewegung.
+
+Ich verstummte. Er, der mir so nahe gewesen war, rückte plötzlich weit,
+weit von mir ab. Ihm von Heinrichs Liebe, von seinem Unglück und den
+anderen für mich unzerreißbaren Fesseln zu reden, wäre mir wie eine
+Preisgabe vorgekommen.
+
+Und doch: irgend etwas mußte geschehen.
+
+»Bald, -- bald reise ich nicht mehr fort ohne dich,« hatte ich immer
+wieder beim Abschiednehmen mein Kind getröstet.
+
+»Wann bleibst du wieder bei mir, Mamachen?« fragte es, und jedesmal
+wurde der Ausdruck seines Gesichtchens quälender.
+
+ * * * * *
+
+Meine nächste Vortragsreise führte mich nach Leipzig. Dort wohnte einer
+jener stillen Genossen, der für den Revisionismus eine offene Hand zu
+haben pflegte. Als mein Mann sich im Interesse der Neuen Gesellschaft
+einmal schriftlich an ihn gewandt hatte, war seine Antwort ein
+unfreundliches glattes Nein gewesen. Trotzdem hoffte ich noch auf die
+Wirkung einer persönlichen Unterredung. Es galt einen letzten
+verzweifelten Versuch.
+
+Ich werde die Reise nie vergessen, nie den Augenblick, wo ich, zitternd
+vor Scham und Angst, in des reichen Mannes Zimmer trat. Er mochte ahnen,
+daß ich als Bittende kam. Es dauerte Sekunden, ehe er mich zum Sitzen
+nötigte. Vielleicht würde er es gar nicht getan haben, wenn er nicht
+gesehen hätte, daß mir die Kniee bebten. Ich hatte einen Mantel an.
+Während der Zeit, die ich bei ihm war, nahm er ihn mir nicht ab. Er ließ
+mich reden, ohne eine Miene zu verziehen. Und dann sprach er -- langsam,
+jedes Wort betonend, sodaß es mir weh tat, wie lauter Schläge: »Ihr
+Mann ist ein guter Redakteur; das hat er am Archiv bewiesen. Aber er ist
+ein schlechter Geschäftsmann, sonst hätte er das prosperierende Archiv,
+das ihm eine sichere und angesehene Stellung bot, nicht hingegeben, um
+ein aussichtsloses Unternehmen zu beginnen. Ich mag nicht Wasser in ein
+hohles Faß schöpfen.«
+
+»Und doch erkannten Sie, wie ich hörte, selber an, daß die neue Aufgabe,
+die er sich stellte, wichtig, ja notwendig war,« wandte ich ein.
+
+»Ja. Für einen Mann, der ausreichende Mittel hat, um die Sache
+durchzuführen.« Damit erhob er sich.
+
+Ich war entlassen. Mir klebte die Zunge am Gaumen. Nun war der Moment,
+der einzige, der mir noch blieb. Ich war ja nicht gekommen, um einen
+Rechtsanspruch durchzusetzen, -- ich mußte bitten -- bitten. Ich fühlte
+die Tränen der Aufregung mir heiß die Augen füllen. Nur nicht weinen, --
+jetzt nicht weinen, dachte ich und biß die Zähne aufeinander. Da aber
+sah ich plötzlich mein Kind vor mir -- ganz deutlich: mit dem ernsten
+Blick und der sehnsüchtigen Frage auf den Lippen. Mein Kind! Glühende
+Schweißtropfen bedeckten meine Stirn, der Atem stockte. Mit einer
+raschen Bewegung warf ich den schweren Mantel von mir und riß das
+Fenster rücksichtslos weit auf. Ein konvulsivisches Schluchzen, dessen
+ich nicht Herr werden konnte, erschütterte meinen Körper. Dann wandte
+ich mich um und hob den Mantel von der Erde auf.
+
+»So will ich gehen --,« kam es tonlos über meine Lippen, -- ich konnte
+nicht bitten, ich konnte nicht!
+
+»Setzen Sie sich!« -- Es war wie ein Kommando. Die Erschöpfung, nicht
+der Gehorsam zwang mich, ihm zu folgen.
+
+»Ich werde Ihnen helfen, -- Ihnen persönlich, -- dieses eine Mal --«
+
+Ich kehrte zum Hotel zurück. Plötzlich fiel mir ein, daß ich die kühle
+Hand mit meinen Fingern dankend umschlossen hatte. Die Hand des Mannes,
+vor dem ich mich so erniedrigt hatte!
+
+ * * * * *
+
+Und nun ging es zu Ende. Unweigerlich. Trotzdem ich noch hergab, was ich
+eben empfangen hatte. Ein einziges Mal noch stieg unsere Hoffnung hoch
+auf, wie eine Leuchtkugel. Heinrich erhielt von einem, der helfen
+konnte, ein festes Versprechen. Er schloß darauf hin aufs neue mit dem
+Drucker ab und mit dem Papierlieferanten. -- Aber die Leuchtkugel
+zerplatzte, und es wurde ganz, ganz dunkel.
+
+Ich verlangte Klarheit von meinem Mann, -- rückhaltlose. Er gab sie mir
+mit einer Ruhe, von der ich glaubte, daß sie eine erzwungene sei: Alles
+war verloren. Da wir den Konkurs vermeiden wollten, blieb uns eine
+Schuldenlast, an der wir Jahre zu tragen haben würden. Um die
+allernächsten Zahlungen leisten und selbst leben zu können, gab es nur
+einen Ausweg.
+
+»Wir verpfänden unsere Möbel --,« sagte Heinrich, mit einem Ton, als
+spräche er von dem Gleichgültigsten von der Welt.
+
+Bisher hatte ich zusammengekauert auf dem großen Stuhl gesessen, der mir
+immer wie etwas Lebendiges gewesen war, weil seine Lehne den müden Kopf
+stützte, seine Arme sich schützend an mich schmiegten.
+
+Jetzt fuhr ich auf. »Das Letzte soll ich hergeben?! Und du meinst, ich
+täte das so kaltblütig wie du es aussprichst?!« rief ich, vor Entrüstung
+am ganzen Körper zitternd. »Das hier ist der Rest Heimat, den ich habe.
+Fast jedes Stück erinnert mich an den Vater, -- die Großmutter, -- an
+Georg, an meine Jugend --« Tränen erstickten meine Stimme.
+
+Mein Mann maß mich mit einem kühl-erstaunten Blick. »Stellung, Vermögen,
+Familie, -- alles hast du geopfert ohne ein Wort der Klage, und nun
+jammerst du um diesen Trödel,« sagte er kopfschüttelnd. Mein Verstand
+gab ihm recht, aber mein Herz blutete, als wäre ihm die schwerste Wunde
+geschlagen worden.
+
+In der Nacht darauf öffnete sich die Tür zu meines Sohnes Zimmer, er
+stürzte auf mich zu, umschlang meinen Hals und schluchzte verzweifelt:
+»Warum weinst du nur so? Warum weinst du nur so?!«
+
+In diesem Augenblick wußte ich, daß ich ein Opfer bringen mußte wie
+keines zuvor. Ich weinte nicht mehr. Ich war ganz still und ganz
+entschlossen. »Otto darf den Zusammenbruch nicht mit erleben,« sagte ich
+zu meinem Mann. »Schon jetzt ist er wie vergiftet, -- gar kein Kind
+mehr --«
+
+Ich erwartete eine heftige Szene.
+
+Statt dessen erhellten sich Heinrichs Züge. »Nun bist du wieder meine
+tapfere Alix« -- damit drückte er mir die Hand, so herzlich wie seit
+Monden nicht -- »natürlich ist das für alle Teile das Beste. Wir beide
+bauen ungehindert ein neues Leben auf, und er wird irgendwo auf dem Land
+wieder ein starker, froher Junge ...«
+
+Ich hörte seine Stimme nur noch wie ein fernes Brausen. So nahm er auf,
+wovon ich nie gesunden würde: -- fast froh! Ich starrte ihn an; die
+schreckliche Erregung verzerrte mir sein Bild, als hätte ich ihn noch
+nie gesehen. Mit diesem Mann hatte ich mein Leben verknüpft, -- und eben
+noch den Gedanken an eine Trennung weit, weit von mir gewiesen?! Mir
+schien, als wäre die Trennung vollzogen, lange schon, sonst hätte er in
+dieser Stunde, da mein ganzes Leben zusammenbrach, so nicht zu mir
+sprechen können, -- so nicht!
+
+ * * * * *
+
+Ich schrieb an einen Freund Egidys, den ich seit der Zeit, da ich ihn in
+dessen Hause traf, hie und da wiedergesehen hatte. So selten das gewesen
+war, mit einem Gefühl warmer gegenseitiger Anteilnahme waren wir uns
+immer begegnet. Jetzt leitete er eine Schule hoch oben im Thüringer
+Wald. Ich sprach ihm rückhaltlos von der Lage, in der wir uns befanden.
+»Mein Sohn leidet darunter, halb unbewußt, und ich will ihm das
+Schlimmste ersparen, will seine Jugend nicht hineinreißen in den Strudel
+unseres künftigen Lebens. Sie sehen, es ist ein Freundschaftsopfer das
+ich von Ihnen erwarte --,« hier zitterte mir die Hand und versagte den
+Dienst.
+
+Er antwortete umgehend, mit einem zarten Takt, der mir wohltat: »Ihr
+Sohn soll uns von Herzen willkommen sein. Und kein drückendes Gefühl
+darf Ihnen daraus entspringen. Überlassen Sie ruhig der Zukunft die
+materielle Seite der Sache. Da er Ihr Kind ist, wird er unserer Schule
+mehr geben, als er erhält und sich durch Gold aufwiegen läßt..«
+
+Zu Ostern wollte ich ihn hinbringen, aber ich verschob es von Tag zu
+Tag, mit ihm davon zu sprechen; er war so glücklich, daß ich auf einmal
+immer bei ihm war, mit ihm spielte, mit ihm spazieren ging, ihm
+Geschichten erzählte wie in der schönen alten Zeit.
+
+ * * * * *
+
+Indessen erschien die letzte Nummer der Neuen Gesellschaft, mit einem
+kurzen Abschiedswort an die Leser. Keiner von unseren Gesinnungsgenossen
+hatte ein Wort des Bedauerns dafür, niemand von denen, für deren
+Überzeugung sie gekämpft hatte, ohne sich durch gehässige Angriffe und
+gemeine Verleumdungen vom Wege ablenken zu lassen, der ihr als der
+rechte erschien, kümmerte sich um uns. Keinem konnte es ein Geheimnis
+sein, daß wir alles verloren hatten, aber kaum ein einziger hatte auch
+nur eine teilnehmende Frage danach. Wir waren abgetan, -- fertig. Die
+Genossen gingen über uns hinweg wie die Soldaten im Krieg über die
+gefallenen Kameraden auf dem Schlachtfeld.
+
+Damals hatte ich dafür nur eine verächtliche Gebärde. Große Schmerzen
+sind ein Palliativmittel gegen die kleinen.
+
+Nur eins erfüllte mich mit tiefer Bitterkeit: daß auch Romberg nicht
+wiederkam. Er hatte eine Auseinandersetzung mit meinem Mann gehabt, bei
+der seine lange im stillen herrschende Feindschaft gegen ihn zu offenem
+Ausbruch gekommen war. Ich erfuhr nicht viel davon. Aber um mich mochte
+sich's gehandelt haben und darum, daß Romberg meinem Mann vorwarf, unser
+Unglück verschuldet zu haben, und dieser sich jede Einmischung in unser
+Tun und Lassen verbat. War das Grund genug, um mich gerade jetzt im
+Stich zu lassen? Und an seine aufrichtige Freundschaft hatte ich
+geglaubt!
+
+ * * * * *
+
+Ein Ostermorgen war es, hell und leuchtend. Ein Auferstehungsfest, das
+die geflügelten Musikanten der Natur mit hundertstimmigem Gesang
+begrüßten. Mit lauter lustigen goldgelben Flecken bedeckte die Sonne den
+Erdboden unter den Kieferstämmen. Wir gingen durch den Grunewald nach
+Schildhorn, mein Sohn und ich. Wie er sich freute! Jedes armselige
+Blümlein, das der karge Sand hervorsprießen ließ, bewunderte er. Und die
+Luft, die ein Odem erwachenden Lebens war, sog er ein mit tiefen
+durstigen Zügen.
+
+»Ich hasse die Stadt,« sagte er mit der ganzen Energie seiner zehn
+Jahre. »Warum können wir nicht auf dem Lande leben?«
+
+Das war der rechte Augenblick, um ihm von Waltershof zu sprechen, der
+Schule im Thüringer Wald. Mit stockender Stimme begann ich, und erzählte
+von dem freien Leben dort und den vielen Kindern.
+
+Seine Augen glänzten. »Das denke ich mir riesig fein!« rief er.
+
+»Möchtest du am Ende gar selber hingehen?« fragte ich zögernd.
+
+Er machte einen Luftsprung. »Natürlich! Aus der scheußlichen Stadt
+heraus auf die Berge, -- was gibt es Schöneres!«
+
+Ich hätte mich freuen müssen, -- aber die Tränen traten mir in die
+Augen. So würde ihm der Abschied nicht allzu schwer werden!
+
+ * * * * *
+
+Ein paar Tage später reisten wir ab. Er war wie umgewandelt; in
+leuchtenden Farben malte er sich das Leben aus, das seiner wartete.
+Zuweilen schien er zu stutzen, wenn er mich ansah.
+
+»Und du besuchst mich oft, sehr oft, nicht wahr, Mamachen? Und zu den
+Ferien komme ich immer nach Haus?« sagte er dann, im Gefühl, mich
+trösten zu müssen.
+
+Von der Station fuhren wir mit dem Wagen bergauf durch dichte
+Tannenwälder. Mein Sohn verstummte und schmiegte sich an mich. Ob ihn
+nun der Abschiedsschmerz packen würde? Das Herz klopfte mir
+erwartungsvoll. »Ein bißchen geniere ich mich doch vor den fremden
+Jungens,« meinte er.
+
+Oben auf der Hochebene, wo der Wind über freie Felder strich und mit den
+kleinen runden Frühlingswölkchen spielte wie ein Kind mit dem Fangball,
+verlor er seine scheue Stimmung wieder.
+
+»Wie wunder -- wunderschön das ist,« sagte er mit einem Blick in die
+Ferne.
+
+In stiller großer Einsamkeit reihte sich Berg an Berg; die kleinen
+grauen Menschenwohnungen verschwanden in den tiefen Tälern.
+
+Der Direktor begrüßte uns wie vertraute Freunde. Die Schüler
+betrachteten aus gemessener Entfernung den Ankömmling. Er umfaßte wie
+schutzsuchend meine Hand. Jetzt, -- jetzt wird er bei mir zu bleiben
+verlangen! -- Da trat ein brauner Bursche aus der Schar.
+
+»Sieh mal die Wiese dort,« sagte er zu meinem Jungen und wies auf den
+gelbblühenden Abhang, der sich hinter dem Hause in die Tiefe senkte;
+»willst du da hinunter mit mir um die Wette laufen?«
+
+Und im selben Augenblick, -- kaum daß er Zeit gefunden hatte, mir Mantel
+und Mütze zuzuwerfen, -- flog er mit ihm davon. Wie heller Sonnenschein
+tanzten ihm die blonden Locken um den Kopf. Ich starrte ihnen nach. Mir
+gingen dabei die Augen über. Hinter den Fichtenstämmen, -- weit, weit im
+Tal, erloschen sie.
+
+»Er wird sich rasch zu Hause fühlen,« sagte der Direktor.
+
+Er wird sich rasch zu Hause fühlen --!
+
+Ich verließ Waltershof schon am nächsten Morgen. Jede Stunde, die ich
+blieb, kam wie ein verschlagener Räuber und stahl mir stückweise mein
+Liebstes.
+
+Ehe ich in den Wagen stieg, umarmte mich mein Sohn mit stürmischer
+Heftigkeit. Nun endlich wird es ihn übermannen --! Ich preßte ihn an
+mich, ich hielt ihn fest. Dieser Schoß hat dich geboren, an diesem
+Herzen wuchsest du empor, -- schrie es in mir, -- nur ein Wort der Liebe
+sag mir, ein Wort der Sehnsucht, und ich verteidige deinen Besitz gegen
+Hölle und Himmel! Aber er schwieg. Seine Augen blieben hell. Ringsum
+standen die Lehrer und die Schüler --. Ich nahm seinen Kopf zwischen
+meine Hände und küßte ihn. Ich grüßte noch einmal lächelnd nach rechts
+und links. Dann zogen die Pferde an --
+
+ * * * * *
+
+Damals, vor einem halben Menschenalter, als ich im Gewittersturm auf dem
+Berge stand, dem Wetter preisgegeben, fürchtete ich den Tod. Was hätte
+ich jetzt noch fürchten können?
+
+
+
+
+Achtzehntes Kapitel
+
+
+In Schleier aus durchsichtigem Silber gewoben hüllte sich der blaue
+Frühlingshimmel. Milde lächelnd glänzte sein großes Sonnenauge. Und die
+kleinen weißen Wolken standen ganz still wie erwartungsvoll staunende
+Kinder, ehe der Vorhang vor dem Märchenspiel aufgeht. Die Luft
+streichelte mit weichen Händen die Erde, als wäre sie sehr, sehr krank.
+
+Jetzt trugen sie den letzten Hausrat aus der alten Wohnung. Der große
+gelbe Wagen vor der Tür wartete darauf, ihn in die neue hinüberzufahren.
+
+Ich sah mich um in den leeren Räumen: auf dem Boden lag Papier und Stroh
+und Scherben, in den Winkeln Staub in großen grauen Flocken. Zögernd,
+als hielte eine unsichtbare Hand mich zurück, öffnete ich die Tür zu
+meines Sohnes Zimmer. Von seinen unruhigen Füßchen war die Diele
+zertreten. Dunkel zeichnete sich der Platz am Boden ab, wo sein Bett
+gestanden hatte; -- wie oft, seitdem er fort war, hatte ich den Kopf in
+die leeren Kissen vergraben --
+
+Eine Hand berührte meine Schulter.
+
+»Komm, Alix,« sagte Heinrichs weiche, tiefe Stimme hinter mir. Auf
+seinen Arm gestützt, mit tief gebeugtem Nacken ging ich die Treppen
+hinab. Auf der Straße versagte mir der Atem; mein Begleiter hatte einen
+so raschen, elastischen Schritt, daß ich ihm nicht zu folgen vermochte.
+Er trug auch den Kopf ganz hoch, wie einer, der noch als Eroberer ins
+Leben tritt. Und waren wir nicht Geschlagene?! Ich hatte meinen Gedanken
+laut werden lassen. Heinrich blieb stehen.
+
+»Hast du die Waffen gestreckt?!« fragte er stirnrunzelnd mit scharfer
+Betonung. »Ich nicht! Was uns nicht umbringt, das macht uns stärker.«
+
+Ich senkte den Kopf noch tiefer; eine jähe Röte schoß mir in die
+Schläfen.
+
+Er hatte die Türe zu unserer neuen Wohnung mit Blumen bekränzen lassen.
+Daß ich sie nicht abriß, geschah nur, um ihm nicht wehe zu tun. Drinnen
+empfingen uns schon die stummen vertrauten Gefährten unseres Lebens.
+Aber an dem großen Schreibtisch stand jetzt nur noch ein Stuhl. Ich
+hatte ein eigenes kleines Zimmer.
+
+»Das ist der erste Schritt zur Ehetrennung,« lächelte mein Mann, mit
+einem Blick auf mich, in dem eine ernste Frage lag. Ich blieb ihm die
+Antwort schuldig.
+
+»Freust du dich denn gar nicht, daß all der Kram dir nun doch erhalten
+blieb?!« sagte er nach einer Pause in einem erzwungen leichten Ton. »Wie
+hast du darum gezittert, du armer Angsthase du!« Und wieder stieg mir
+das Blut ins Gesicht. Ich schämte mich, daß ich so hatte empfinden
+können.
+
+»Dem, der mir dazu verhalf, werde ich immer dankbar sein,« sagte ich
+leise, -- es war keiner der alten Freunde, keiner der offiziellen
+Vertreter der »Brüderlichkeit« gewesen! -- »Aber mehr darum, weil ich
+doch noch einen Menschen mit warmem Herzen gefunden habe, als um der
+Stühle und Schränke und Kisten und Kasten willen ...«
+
+Heinrich drückte mir die Hand. Dann nahm er eine der letzten Nummern der
+Neuen Gesellschaft aus dem Bücherschrank.
+
+»'Solchen Menschen, welche mich etwas angehen, wünsche ich Leiden,
+Verlassenheit, Mißhandlung, Entwürdigung, -- ich wünsche, daß ihnen das
+Elend der Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit
+ihnen, weil ich ihnen das einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob
+Einer Wert hat, oder nicht, -- daß er standhält ...'« las er. »Diese
+Worte Nietzsches habe ich abgedruckt, weil sie meine eigene tiefe
+Überzeugung aussprechen.«
+
+Seine Kraft verletzte mich fast. Ich wollte nicht überwinden. Es kam mir
+wie ein Verrat an meinem Kinde vor, wenn auch mich ein Gefühl ergriff,
+als ginge ich gestärkt einem neuen Leben entgegen. Ich pflegte mein Leid
+mit selbstquälerischer Wollust. Ich liebte es.
+
+Aber -- seltsam --: Je länger es neben mir herging, desto mehr wandelte
+sich sein gräßliches Medusenhaupt in das stille, ernste Antlitz eines
+Freundes. Es nahm mich bei der Hand und führte mich langsam, Schritt vor
+Schritt, -- mein Herz ertrug es nicht anders, -- einen hohen Berg
+hinauf. Und von da oben sah ich in das Tal meines Lebens. Ich erkannte
+seine großen Umrisse und geraden Linien, aber all die Hindernisse auf
+den Wegen -- den Unrat auf den Straßen -- sah ich nicht mehr.
+
+ * * * * *
+
+Eines Tages trat mein Mann mit einem großen Strauß duftender Rosen in
+mein Zimmer.
+
+»Zum Zeichen, daß ich dir wieder Blumen bringen kann,« sagte er
+lächelnd. Nun erfuhr ich erst von seiner Arbeit, von den Plänen, die
+ihrer Verwirklichung entgegengingen, -- rein geschäftlichen
+Unternehmungen, denen er neben seiner literarischen Tätigkeit all seine
+Kräfte widmete, ohne sich eine Stunde der Ruhe, eine Pause der Erholung
+zu gönnen, -- nur das eine Ziel im Auge: die drückenden Schulden zu
+zahlen, uns eine Existenz zu gründen und -- er sprach es so leise aus,
+als ob er sich scheue, daran zu rühren -- »dir dein Kind zurückzugeben.«
+
+»Heinz!« rief ich, -- die Tränen stürzten mir aus den Augen, -- ich
+griff nach seinen beiden Händen und drückte sie zwischen den meinen.
+
+»Was meinst du, wenn du den Buben holen gingst?!« Und vorsichtig, als
+wäre ich etwas sehr Zerbrechliches, zog sein Arm mich an sich.
+
+Ich fuhr schon am nächsten Morgen nach Waltershof. Wie langsam schlich
+der Zug durch die blühende Sommerpracht, wie endlos hielt er sich an all
+den vielen Stationen auf! Endlich, endlich kam ich an. Droben auf der
+Höhe, wo jetzt das Korn in hohen Garben stand und alle Ähren grüßten und
+nickten, als wüßten sie um mein Glück, kam mir mein Junge
+entgegengelaufen -- --
+
+Wie groß und wie braun, und wie stark und wie froh er war! Sonderbar,
+daß irgend etwas dabei mich schmerzte. Er küßte und herzte mich immer
+wieder, -- aber nicht mit dem Bedürfnis nach Schutz, nach Anlehnung,
+wie die kleinen Kinder, wenn sie sich an die Mutter schmiegen. Ich sah
+ihn dann im Kreise der Kameraden auf der grünen Wiese, im Tannenwald:
+wie er seine Kräfte an den ihren maß. Ich dachte an unsere Straße,
+unsere enge Wohnung; -- ich wagte noch nicht, ihm zu sagen, warum ich
+gekommen war. Und als ich am nächsten Vormittag dem Unterricht
+beiwohnte, in Klassen, wo kaum mehr als zehn Kinder beieinandersaßen und
+der Lehrer imstande war, sich mit jedem einzelnen zu beschäftigen, auf
+seine Interessen und Fähigkeiten einzugehen, -- da dachte ich an die
+überfüllten städtischen Gymnasien mit all ihrem Gefolge von Krankheit
+und Laster und Stumpfsinn; ihre unglückseligen Opfer fielen mir ein, die
+den Martern des Geistes und Körpers den Tod vorzogen. Mich schauderte:
+hatte ich ein Recht, über mein Kind zu verfügen nach meinem Gefallen?
+Kein Zweifel: sein Instinkt hatte für Freiheit und Natur entschieden.
+
+»Ich komme morgen nach Haus, und komme -- allein,« schrieb ich an meinen
+Mann. »Otto ist ein selbständiger Mensch geworden, und ich habe hier
+gelernt, was keine pädagogische Buchweisheit mir hätte beibringen
+können: daß auch die Kinder sich selbst gehören, nicht uns; daß die
+Kindheit einen Wert an sich hat. Es mußte so sein, wie es ist. Wenn
+unser Sohn stark genug ist, um auch neben uns ein Eigener zu bleiben,
+wird er vielleicht freiwillig zurückkehren ... Ich schreibe das Alles so
+hin, und die Worte sehen aus, als kosteten sie mich nichts. Ich glaube,
+ich brauche Dir nicht erst zu sagen, was ich überwinden mußte. Es wird
+noch lange dauern, bis ich von meiner Mutterliebe abgestreift haben
+werde, was jeder Liebe eigentümlich ist: den Willen zum Besitz. Seitdem
+Du mich fühlen ließest, daß auch Du unser Kind entbehrst, weiß ich: Du
+wirst Geduld mit mir haben.«
+
+Jetzt erst wurde ich mir der ganzen Leere meines Lebens bewußt: war ich
+schon so alt, um nur noch in philosophischer Ruhe seine Resultate zu
+ziehen? Um abseits zu stehen wie Zuschauer am Schlachtfeld?
+
+ * * * * *
+
+Als mir von seiten der Gewerkschaften die Aufforderung zuging, einige
+ausschließlich Bildungszwecken dienende Vorträge im internen Kreise
+organisierter Arbeiter zu übernehmen, ergriff ich die Gelegenheit, von
+der ich glaubte, daß sie mir wenigstens eine befriedigende Tätigkeit
+eröffnen würde. Seit dem Jahre 1906 hatten die Partei und die
+Gewerkschaften, einem Beschluß des Mannheimer Parteitags folgend, den
+Bildungsbestrebungen tatkräftigeres Interesse zugewandt. Außer der
+Partei- und Gewerkschaftsschule in Berlin und ähnlichen Einrichtungen in
+den größeren Provinzstädten, wo eine beschränkte Zahl ausgewählter
+Schüler systematischen historischen und nationalökonomischen Kursen
+regelmäßig folgte, wurden Referate gehalten, die Allen zugänglich waren,
+die ihre Mitgliedschaft zu einer Arbeiterorganisation nachweisen
+konnten. Die Lehrer der Parteischule waren Radikale strengster
+Observanz. Sie sprachen von »bürgerlicher« Wissenschaft, »bürgerlicher«
+Kunst, zu der die vom Zukunftsstaat zu erwartende in scharfem Gegensatz
+stünden. Sie waren Geist vom Geist des preußischen Kultusministers, der
+einen Privatdozenten abgesetzt hatte, weil er Sozialdemokrat war. In
+ihrem Kreise waren die kühnen Sätze gefallen, daß die Philosophie eine
+ideologische Begleiterscheinung der Klassenkämpfe und ihre Geschichte
+eine Geschichte bürgerlichen Denkens sei.
+
+Die Gewerkschaften standen zu ihnen in einem leisen aber darum nicht
+weniger starken Gegensatz, der auch in der Wahl ihrer Referenten zum
+Ausdruck kam. Schon als ich zum erstenmal sprach, -- vor einer
+Zuhörerschaft von ein paar hundert Arbeiterinnen, -- wurde mir erzählt,
+wie empört die führenden Genossinnen seien, daß man mich dazu
+aufgefordert habe.
+
+Durch Fragen, durch Bitten um Ratschläge für ihre selbständige
+Fortbildung, durch Bücher, die ich auslieh, und die mir persönlich
+zurückgebracht wurden, kam ich in Berührung mit Männern und Frauen, die
+noch nicht zu den »gehobenen Existenzen« gehörten. In der Nüchternheit
+des Alltagslebens, fern der Begeisterung, die Feste und Kämpfe
+entzünden, lernte ich ihr Leben, ihr Denken und Fühlen kennen. Es stand
+fast ausnahmslos unter dem Zeichen der Unzufriedenheit, des Mangels an
+einem Inhalt, der über die Misere des Daseins hinaus stark und
+hoffnungsfroh macht. Eine gewisse seelische Leere kam vielen zum
+Bewußtsein, etwa wie ein Gefühl dauernden Frierens. Die Ideale des
+Sozialismus hatten, da ihre Verwirklichung so fern gerückt war, für das
+persönliche Leben viel von ihrem Feuer verloren.
+
+Aber gerade in der zum Ausdruck kommenden Unzufriedenheit mit den
+äußeren Erfolgen und den inneren Werten der Partei lag eine starke
+latente Kraft, die bereit war, jeden Augenblick alles Lastende,
+Hindernde fortzuschieben, wenn nur irgendwo der Weg ins Freie sich
+zeigte.
+
+Nach einer meiner Versammlungen begrüßte mich Reinhard. Er war zuerst
+ein wenig verlegen, als ich aber harmlos und freundlich blieb, taute er
+auf. Ich erzählte ihm von meinen Beobachtungen. »Ich bilde mir natürlich
+nicht ein, daß sie maßgebend sind, aber ich halte sie doch für
+Symptome.«
+
+Er gab mir recht. »Wir befinden uns zweifellos in einer inneren Krisis,«
+sagte er, »die sich immer wieder nach außen bemerkbar macht. Jetzt
+beginnt der Zank schon wieder. Diesmal um die Frage der
+Budgetbewilligung. Sobald wir versuchen durch eine Politik, die immer
+mehr oder weniger auf Konzessionen beruht, Schritte nach vorwärts zu
+tun, Vorteile oder Einfluß zu gewinnen, kommen die anderen und schwenken
+mit Geschrei die angeblich von uns verratene Fahne des Prinzips. Ich
+möchte wissen, was geschehen soll, wenn wir einmal in den Parlamenten
+eine Vertretung haben, mit der gerechnet werden muß? Ob wir dann das
+prinzipienfeste Neinsagen unseren Wählern gegenüber verantworten können?
+-- Ich sehe schwarz in die Zukunft, Genossin Brandt, sehr schwarz! Ich
+fürchte, wenn erst einmal unsere Alten tot sind, dann fällt die Partei
+auseinander.«
+
+»Und wäre das wirklich so fürchterlich?« wandte ich ein. Er fuhr auf.
+Seine Augen blitzten mich an wie früher.
+
+»Genossin Brandt!« rief er entrüstet. »Sollten die Leute recht haben,
+die von Ihnen behaupten, daß Sie nicht mehr die unsere sind?!«
+
+»So --,« sagte ich gedehnt, »das also erzählt man von mir?! Und Ihnen
+erscheint es möglich, weil ich eine Spaltung der Partei nicht für den
+schrecklichsten der Schrecken halte?! Es zeugt für ein sehr geringes
+Vertrauen in die Notwendigkeit der Entwicklung zum Sozialismus, wenn wir
+annehmen wollten, daß solch ein Ereignis einen mehr als vorübergehenden
+Nachteil nach sich zöge. Unser Ziel bleibt doch unverändert dasselbe, in
+wie viel Heerscharen wir ihm auch entgegenmarschieren!«
+
+Reinhards Gesicht färbte sich dunkelrot. »Sie scheinen ja ein solches
+Unglück fast zu wünschen!« sagte er mit verbissenem Grimm.
+
+»Davon bin ich ebensoweit entfernt wie Sie,« antwortete ich. »Ich suche
+nur, Sie und mich von der Angst davor zu befreien. Dabei frage ich mich,
+ob es nicht viel korrumpierender für den einzelnen und lähmender für die
+Aktion der Masse ist, wenn immer wieder um der äußeren Einheit willen
+Resolutionen angenommen werden, die für sehr viele nur auf dem Papiere
+stehen, und das Erfurter Programm krampfhaft aufrecht erhalten wird,
+obwohl immer weitere Kreise von Genossen ganze Sätze daraus für
+unrichtig halten. Die Radikalen, die in der Form des Ausschlusses aus
+der Partei eigentlich nichts anderes wollen als eine Spaltung, gehen
+dabei von einer ganz richtigen Empfindung aus: daß die innere Einheit
+die Voraussetzung der äußeren sein muß. Nur daß sie wie Kurpfuscher an
+den Symptomen herumkurieren.«
+
+»Und Sie wüßten ein Mittel, die Krankheit zu heilen?« Dabei sah Reinhard
+mich an, als erwartete er eine Offenbarung von mir.
+
+Ich lachte. »Wenn ich ein Mittel wüßte, glauben Sie, ich hätte es nicht
+schon längst auf allen Gassen ausgeschrien?! Nur einen Weg dahin glaube
+ich zu wissen. Die Übel, unter denen wir leiden, lassen sich alle auf
+eine Ursache zurückführen: die fehlende richtige Grundlage unserer
+Bewegung. Was bisher als solche galt, hat sich zu einem Teil als falsch
+oder nicht ausreichend erwiesen.«
+
+Er machte ein enttäuschtes Gesicht: »Also ein neues Programm! Wenn es
+weiter nichts ist!«
+
+»Ich las gestern in einem Brief von Hegel einen Satz, der sich mir ins
+Gedächtnis geprägt hat,« fuhr ich fort, »'die theoretische Arbeit bringt
+mehr in der Welt zustande als die praktische; ist das Reich der
+Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht stand'.
+Gerade wir Revisionisten haben diese tiefe Wahrheit fast vergessen. Sie
+auch, wie ich sehe. Und doch glaube ich, hätten wir ein Programm, das
+alle inzwischen zweifelhaft gewordenen Theorien beiseite ließe, alle
+praktischen Forderungen den Entscheidungen des Tages anheimgäbe und nur
+den Ausgangspunkt feststellte, -- den Klassenkampf, -- und das Ziel, --
+die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln; wir würden
+weniger zerrüttende Kämpfe in unseren Reihen haben, und Millionen
+Außenstehender würden nicht Mitläufer, sondern Parteigenossen werden.«
+
+»Ich wundere mich, daß Sie bei Ihrem gründlichen Aufräumen den
+Klassenkampf nicht auch zum Fenster hinauswerfen,« spottete Reinhard mit
+einem Anflug von Ärger.
+
+»Sie sind hellsehend, lieber Genosse,« entgegnete ich, »denn die Form,
+in die er vor einem halben Jahrhundert gezwängt wurde, ist freilich
+unbrauchbar geworden. Leute wie ich zum Beispiel haben keinen Platz in
+ihr. Man redet uns ein, und wir glaubten es, daß wir aus reinem
+selbstlosen Edelmut in die Partei eintraten; wir blieben infolgedessen,
+als nicht recht dazu gehörig, unsichere Kantonisten in den Augen der
+geborenen Klassenkämpfer. Ich bin inzwischen schon für mich allein von
+dem Kothurn dieses Edelmuts herabgestiegen und habe gefunden, daß ich
+mit demselben Recht wie der Arbeiter im Klassenkampf stehe. War ich
+nicht, mittellos, auf meine Arbeit angewiesen? War ich nicht abhängig
+von meiner Familie, also unfrei? Der hungernde Arbeiter sucht freilich
+in erster Linie Brot; aber das könnte ihm auch eine vernünftige
+bürgerliche Sozialreform sicherstellen. Er ist Sozialdemokrat, weil er
+mehr will: Freiheit. Genau dasselbe, wonach ich verlangte, als es mich
+in die Partei trieb; genau dasselbe, wonach Hunderttausende sich sehnen,
+-- lauter Abhängige, -- lauter geborene Klassenkämpfer, die die Partei
+mit ihrem engen: 'die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der
+Arbeiter selbst sein', mit der 'Diktatur des Proletariats' als
+notwendiges Befreiungsmittel zurückstößt, im besten Falle nur
+duldet ...«
+
+Wir waren vor der Tür meiner Wohnung angekommen.
+
+»Selbst wenn Sie recht hätten, -- was ich nicht weiß --,« sagte
+Reinhard; »die radikale Tradition ist viel zu stark innerhalb der
+Arbeiterschaft, als daß solch eine Programmänderung möglich wäre. Mir
+scheint auch, es würde immer noch etwas fehlen --«
+
+Ich nickte. »Es fehlt noch immer etwas, -- ja --,« meinte ich
+nachdenklich. Dann trennten wir uns.
+
+ * * * * *
+
+Als mein Vortragskursus zu Ende war, bekam ich keine Aufforderungen
+mehr. An meinen Zuhörern lag das nicht; ihr regelmäßiges Erscheinen, ihr
+wachsendes Interesse zeugte dafür. Aber der Einfluß der Zionswächter des
+Radikalismus war stärker als sie.
+
+»Nun haben sie dich wieder an der Arbeit verhindert,« sagte mein Mann
+ärgerlich.
+
+»Es ist vielleicht für mich das beste,« meinte ich. »Zuviel
+Zweifelfragen sind in mir wach geworden. Jahrelang hat das Fieber der
+Tagesforderungen sie immer wieder unterdrückt. Jeder denkende Mensch
+sollte eigentlich die Möglichkeit haben, sich hie und da von der Welt
+zurückziehen zu können, um zu sich selbst zu kommen. Trappistenklöster
+für Ungläubige, -- das wäre eine erlösende Einrichtung.«
+
+»Möchtest du den Schleier nehmen?!« fragte er, -- etwas wie Besorgnis
+sprach sich in seiner Frage aus.
+
+»Für ein paar Monate, ja!« entgegnete ich. »Um als ein starkes und
+frohes Weltkind zurückzukehren.«
+
+Aber wenn ich ihn ansah, schämte ich mich, solche Wünsche zu haben. Er
+war abgespannt und müde. Er bedurfte mehr als ich einer Zeit der Ruhe.
+So wenig er von sich selber sprach, ich erfuhr doch, daß das Mißlingen
+sich mit grausamer Hartnäckigkeit an seine Fersen heftete.
+
+Die Sorgen, die er hatte von unserer Türe fernhalten wollen, krochen
+durch die Fenster herein; aber wenn ich sah, wie er ruhig blieb, wie
+neue Hindernisse nur immer neue Widerstände in ihm entwickelten, dann
+überkam mich das Bedürfnis, mich an ihn zu schmiegen, ganz dicht,
+geschlossenen Auges, voll tiefen Vertrauens ...
+
+Im Herbst begann ich meine Vortragsreisen wieder. Ich mußte Geld
+verdienen. Und was dies Publikum verlangte: ein wenig Anregung, ein
+wenig Sensation, war ich fähig zu geben. Es wurde mir diesmal leichter
+als sonst. Viele Menschen kreuzten meinen Weg, und was mir bei den
+Proletariern begegnet war, das fand ich in anderer Form wieder: wer
+nicht im Genußleben ertrank oder im Kampf ums Dasein zerrieben wurde,
+den beherrschte ein Gefühl brennender Unzufriedenheit, ein unbestimmtes
+Suchen.
+
+Es war die Zeit, wo Fürst Bülow, in der Hoffnung auf diese Weise die
+Steuerforderungen der Regierung durchzusetzen, die unnatürliche
+Verbindung zwischen Liberalen und Konservativen herbeigeführt hatte. Wer
+noch vom echten Liberalismus einen Blutstropfen in sich fühlte, mußte
+sich dieser Paarung schämen.
+
+Die besten Elemente des Bürgertums waren politisch obdachlos. Ihr
+steuerloses Schiff näherte sich unwillkürlich wieder der Flut des
+Sozialismus.
+
+»Den Kulturwert der Arbeiterbewegung erkennt wohl jeder von uns an,«
+sagte mir ein junger Gelehrter in einer kleinen Universitätsstadt. »Und
+daß ihr ökonomisches Streben zugleich ein sittliches ist, wird kein
+objektiv Denkender bestreiten. Sie ist im Kampf gegen die Reaktion auch
+die Hoffnung derer, die nur zusehen müssen.«
+
+Der Kreis der modernen Snobisten, die aus der Erkenntnis der
+Notwendigkeit sauberer Wäsche und reiner Nägel eine Weltanschauung
+konstruiert und Rombergs Ausspruch, daß Bildung und Politik unvereinbare
+Begriffe wären, zu dem ihren gemacht hatten, schrumpfte sichtlich
+zusammen.
+
+Und auch auf anderen Gebieten geistiger Interessen wuchs die
+Innerlichkeit, der Ernst. Aus einer Spielerei müßiger Stunden wurde die
+Kunst zu einer Angelegenheit persönlichen Lebens, -- eine Kunst, die von
+den Göttern und Madonnen zur Erde herabgestiegen war, die den
+charakteristischen Stempel innerer Notwendigkeit allem aufprägte, -- vom
+geringfügigen Gebrauchsgegenstand bis zum hamburger Bismarckdenkmal. Aus
+einer Tradition, der man sich nur an jedem Feiertag erinnerte, wurde die
+Religion zu einer die Gemüter erregenden Bewegung; daneben drängten
+pädagogische und sexuelle Probleme sich mehr und mehr in den
+Vordergrund, und neben den alten Werten der Schule, der Ehe, der
+Familie, erschienen wie aus Flammen gebildet riesengroße Fragezeichen.
+
+Als eine reaktionäre Masse wurde die Bourgeoisie nach altem Rezept von
+der Partei bezeichnet. Die Wirklichkeit strafte sie Lügen. Was ich sah,
+war wie ein Strom, dessen Wassermassen der alten Dämme zu spotten
+schienen und sich nun wahllos, ziellos ausbreiteten. Es fehlte nur das
+neue Bett, um ihre große Kraft zu vereinen und nutzbar zu machen.
+
+Ich fühlte, wie ich froh wurde angesichts der neuen Erkenntnis, wie
+meine Hoffnung ihre Flügel regte und Überzeugungen, die im Sturm der
+Zweifel geschwankt hatten, nur noch tiefere Wurzeln schlugen.
+
+Aber es war, als stünde unser Leben unter einem bösen Zauber: Sahen
+junge Triebe der Freude mit einem hellen Frühlingslächeln aus dem
+Erdboden hervor, so prasselten Hagelkörner vom Himmel und schlugen sie
+grausam nieder.
+
+Mitten in einer Vortragsreise versagte meine Stimme völlig. Was die
+Ärzte schon lange vorausgesagt hatten, geschah: von einer Tätigkeit wie
+der bisherigen konnte keine Rede sein.
+
+ * * * * *
+
+Was nun? Ich saß vor meinem Schreibtisch, -- einem ganz alten aus hellem
+Birnbaumholz mit schwarzen Säulchen, der früher irgendwo in einem Winkel
+gestanden hatte, -- und lehnte mich müde in den tiefen Stuhl zurück.
+Großmutters Stuhl! Mir war, als sähe ich sie vor mir: das schmale,
+dunkle Gesicht mit den großen Augen, und einem Lächeln um die feinen
+Lippen, das über alles Erdenleid zu triumphieren schien. Viel, viel zu
+früh hatte ich sie verloren! Plötzlich fielen mir die Papiere ein, die
+ich von ihr besaß: Briefe, Tagebuchnotizen, Stammbücher. Sie hatte sie
+mir hinterlassen, mir allein. Als ob sie mir sich selbst habe schenken
+wollen. Ich suchte sie hervor und las und las. Aus den vergilbten
+Blättern duftete der Frühling berauschend, und die Sonne schien bis tief
+hinein in das winterstarre Herz, und aus schweren dunkeln Wolken strömte
+warmer Regen, segenspendender. Und eine weiche Hand streichelte mich,
+als wäre auch ich krank, sehr krank.
+
+Ihr Leben war voll stiller Kämpfe gewesen, und aus einem jeden war sie
+stärker hervorgegangen. Es hatte ihr den Geliebten ihrer Jugend, hatte
+ihr Freunde und Kinder geraubt, und ihr Herz war bei jedem Verlust nur
+reicher geworden an Kraft und Liebe. Dann war sie einsam
+zurückgeblieben, zwischen lauter Fremden, und war doch nicht bitter
+geworden, und verstand auch den Fernsten und den Ärmsten. Nur eins
+überwand sie nie: das unverschuldete Elend in der Welt --.
+
+Ich ging jeder Regung ihrer Seele, jeder Spur ihres Daseins nach. Dabei
+entdeckte ich ein Gewebe feiner Fäden, das sich von ihr bis zu mir
+herüberspann, eine ununterbrochene Folge von Ursache und Wirkung, eine
+eherne Gesetzmäßigkeit.
+
+Nun schrieb ich das Buch von ihr, weil ich es schreiben mußte. Von früh
+bis spät arbeitete ich. Es war dabei sehr still um mich und in mir. Nur
+wenn ein Brief von meinem Kinde kam, -- einer jener kurzen, frohen,
+lebensprühenden Zeichen seiner Jugendkraft, -- nahmen meine Gedanken
+eine andere Richtung an. Aber sie trieben mir nicht mehr die Tränen in
+die Augen: denn mein Sohn lebte, mein Sohn blieb mir nah, auch wenn er
+fern war. Meiner Großmutter Kinder waren ihr fern gewesen, wenn sie sie
+mit Händen hatte greifen, mit Augen hatte sehen können. Und auch daran
+war sie nicht zugrunde gegangen. Sie hatte standgehalten.
+
+Ich schrieb wie im Fieber. Die Arbeit war wie eine Wünschelrute. Sie
+schloß in meinem Innern lauter verschüttete Quellen auf.
+
+Von dem glühenden Abendhimmel der klassischen Periode Weimars war der
+Großmutter Jugend umstrahlt gewesen; die geistigen Heroen des
+neunzehnten Jahrhunderts hatten auf ihren Lebensweg breite Schatten
+geworfen. Je deutlicher mir der geistige Werdegang der Vergangenheit
+entgegentrat, zu desto klareren Bildern schoben sich die scheinbar wirr
+durcheinanderlaufenden Zeichen der Gegenwart zusammen. Unter dem Gesetz
+dieses großen Entwicklungsprozesses stand auch ihr Leben; das gab ihm
+seine Bedeutung, so eng, so still es an sich auch gewesen war.
+
+Mein Buch erschien. Und plötzlich schien die Großmutter nicht nur für
+mich lebendig geworden. Sie stand da, mitten in der Welt und redete mit
+den Menschen. Selbst aus den verstimmten Instrumenten der Seelen lockte
+sie wie einst Melodien hervor. Viele kamen und dankten mir, als ob ich
+sie geschaffen hätte!
+
+Nur in der Parteipresse gab es Leute, die mich beschimpften; es war in
+dem Buch auch von Fürsten und Aristokraten die Rede, die keine Schufte
+waren. Als ich es las und mein Herz dabei nicht einmal schneller
+klopfte, erschrak ich: Sollte ich so stumpf geworden sein? Oder stand
+ich den alten Genossen so fern? Erst allmählich fing ich an, mich selbst
+zu verstehen.
+
+»Geht es dir so nahe, daß du nicht darüber zu sprechen vermagst?« fragte
+mich mein Mann.
+
+»Es ärgert mich nicht einmal,« antwortete ich.
+
+Sein Gesicht leuchtete auf: »So stehst du endlich über den Dingen und
+wertest die Menschen, wie sie es verdienen.«
+
+»Du verstehst mich nicht ganz,« wandte ich ein. »Nicht nur weil ich
+weiß, daß sie mir in Wahrheit nichts anhaben können, gräme ich mich
+nicht mehr über Urteile wie diese, sondern weil ich sie verstehe --«
+
+Er sah mich ungläubig lächelnd an.
+
+»Ja, ich verstehe sie,« wiederholte ich. »Uns trennt ein
+unüberbrückbarer Abgrund: der der inneren Kultur. Wie die Genossinnen
+sich ständig über mein Äußeres ärgerten, -- weil ich eben anders war als
+sie, -- so muß der Durchschnitt der Genossen an meinem Wesen Anstoß
+nehmen.«
+
+»Hm --,« machte mein Mann, »das klingt --«
+
+»Sehr hochmütig,« vollendete ich. »Ganz gewiß! Und doch ist es weit von
+jedem Hochmut entfernt. Was ich wurde, bin ich anderen schuldig: Nicht
+nur meinen Vorfahren, sondern auch den vielen Tausenden, die deren
+gesicherte Existenz, deren geistige Entwicklung durch ihr sklavisches
+Arbeitsleben erst möglich machten.«
+
+»Folgerst du nun aus deiner Behauptung, daß Menschen wie du sich von der
+Partei fern halten müßten? Daß also der Satz: 'Die Befreiung der
+Arbeiterklasse kann nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein' im
+Sinne der radikalen Genossen, die heute jeden Überläufer zurückweisen
+möchten, aufgefaßt werden darf?« fragte Heinrich interessiert.
+
+»Damit würde ich mich selbst negieren,« rief ich lebhaft. »Ich folgere
+zunächst etwas rein Persönliches: daß ich den Genossen unrecht tat, wenn
+ich ihnen ihre Feindseligkeit zum Vorwurf machte; daß es himmelblauer,
+allen realen Erfahrungen spottender Idealismus war, wenn ich von ihnen
+Anerkennung, Verständnis, Anteilnahme erwartete. Sind sie uns denn in
+ihrer Masse persönlich anziehend? Stören uns nicht schon eine Menge
+bloßer Äußerlichkeiten? Verstehen wir sie denn so gut?«
+
+»Du vergißt, wie mir scheint,« warf Heinrich ein, »daß eine Reihe
+Akademiker ganz im Proletariat aufging --«
+
+»Ich glaube es nicht, so demagogisch sie sich auch gebärden mögen, um
+den Anschein zu erwecken, es wäre so,« entgegnete ich. »Wenn ihre Kultur
+nicht nur Tünche ist, so rächt sich ihre Heuchelei in stillen Stunden
+bitter an ihnen. Weißt du --,« fügte ich langsam hinzu, »sobald ich mir
+Wanda Orbins früh gealterte, durchfurchte Züge vergegenwärtige, bin ich
+gewiß, daß sie empfindlich darunter leidet --«
+
+Heinrich runzelte die Stirn: »Du gehst denn doch ein wenig weit in
+deinem Mitgefühl. Willst du vielleicht auch ihr Verhalten gegen dich
+beschönigen?«
+
+»Beschönigen -- nein; erklären -- ja! Sie muß herrschen, um die
+Preisgabe der inneren Freiheit ertragen zu können. Infolgedessen
+beseitigt sie jeden, der ihr im Wege steht, -- ganz abgesehen davon, daß
+ich ihrem fanatischen Radikalismus als Schädling erscheinen mußte!«
+
+»Das Endresultat deiner Erwägungen,« sagte mein Mann mit einem leisen
+Spott im Ton der Stimme, »ist demnach ein erhaben christliches: Liebet
+eure Feinde, segnet, die euch fluchen --«
+
+Ich hob abwehrend beide Hände. »Nein, nein, nein!« rief ich aus und
+stand auf, um mit raschen Schritten im Takt meines Herzschlages auf und
+ab zu gehen. »Vom Christentum bin ich weiter entfernt denn je. Die tief
+eingewurzelte christliche Auffassungsweise ist es ja, die uns zu so
+falscher Stellungnahme getrieben hat. Da ist zunächst die christliche
+Idee der Selbstaufopferung. Keiner von uns Überläufern, mich selbst
+eingeschlossen, hat sich nicht zuweilen mit einer Art pfäffischer
+Selbstzufriedenheit an seinem eigenen Opfermut berauscht, hat sich nicht
+innerlich vorgerechnet, was er alles um der Sache willen aufgab, hat
+sich nicht das Leben in dem Gefühl verbittert, daß die Genossen dieses
+Opfer nicht zu würdigen verstehn. Wenn ich schon als Kind außerstande
+war, den Opfertod Christi als solchen zu empfinden, -- nicht nur, weil
+er als Gottessohn die Gewißheit ewigen Lebens besaß, sondern weil es mir
+nicht so heldenhaft erschien, in der Ekstase des Glaubens für die
+Erlösung der ganzen Menschheit zu sterben, -- so weiß ich jetzt, daß
+unser Opfer gar kein Opfer ist, sondern im Gegenteil Selbstbehauptung.
+Es wäre ein Opfer gewesen, -- und eine Sünde wider den Geist wie jedes
+'Opfer', -- wenn ich mich nicht zum Sozialismus bekannt hätte. Seiner
+Überzeugung nicht folgen, die Stimmen seines Innern nicht hören wollen,
+-- das allein sind Opferungen; die sie bringen, sind arme
+Lebensschwache. Auch ich habe mich solcher Sünden schuldig gemacht: als
+ich mich einmal Wanda Orbin unterwarf, als ich Forderungen meines
+Geistes und Herzens zum Schweigen brachte.«
+
+»Auch des Herzens?« unterbrach mich mein Mann.
+
+»Weißt du nicht mehr, -- damals, -- als meine Sehnsucht nach dir rief --
+und ich sie unterdrückte!«
+
+Er nickte mit gesenktem Kopf. »Ich habe mir schweren Schaden getan,«
+bekannte ich, als spräche ich jetzt nur mit mir selber, »die Liebe ist
+eine Quelle der Kraft. Daß so viele Frauen so klein sind und so
+armselig, liegt wohl nur daran, daß sie sich selbst verurteilen, daneben
+zu stehn, während die anderen die freien Glieder in ihrem brausenden
+Strome baden.«
+
+Heinrich sah auf. Sein Blick forschte in meinen Zügen. »Hast du -- noch
+andere Opfer gebracht? Herzensopfer -- meine ich,« fragte er langsam.
+Ich preßte die Handflächen krampfhaft aneinander.
+
+»Mein Kind --,« kam es mühsam über meine Lippen.
+
+Wir schwiegen beide. Ich mußte mir ein paarmal mit der Hand über die
+Stirne streichen; mit schweren, grauen Schwingen strichen die Vögel
+meiner Schmerzen mir um das Haupt.
+
+»Ich habe dich aus deinem Gedankengang gerissen, -- verzeih!« knüpfte
+Heinrich das Gespräch nach einer langen Pause wieder an. »Von der
+christlichen Idee der Selbstaufopferung gingst du aus --«
+
+»Mit ihr haben wir nur immer uns selbst irre geführt,« fuhr ich fort,
+»aber mit den anderen führen wir die Massen irre: mit der Gleichheit
+aller im Sinne gleichen Wertes und gleicher Entwicklungsfähigkeit, mit
+der Brüderlichkeit im Sinne gegenseitigen Verständnisses. Als ob die
+Natur, die jeden Grashalm vom anderen unterschied, den Menschen nicht
+eine noch reichere Mannigfaltigkeit ermöglichen sollte; -- als ob wahre
+Brüderlichkeit nicht immer seltener, dafür aber immer tiefer würde, je
+mehr wir uns entwickeln! Natürliche Schranken respektieren, statt sie
+niederzureißen, -- Distanzen anerkennen, statt sie mit Phrasen zu
+überbrücken, -- kurz, im Sinne der Entwicklung handeln, die stets vom
+Einförmigen zum Vielfachen schreitet, -- das wäre unsere Aufgabe! Statt
+dessen ziehen wir unter der Maske der Brüderlichkeit den Dünkel groß,
+rotten die Ehrfurcht vor den Heroen des Geistes aus, so daß schließlich
+jeder Hans Narr einen Goethe Bruder nennt. Von dem Dreigestirn der
+Forderungen, das die Revolution vom Christentum übernahm und der
+Sozialismus von beiden, wird nur eins übrig bleiben: die Freiheit!«
+
+Es wurde wieder sekundenlang still zwischen uns. »Vielleicht begegnen
+wir einander allmählich in unseren Gedankengängen und könnten dann
+wenigstens noch zu jener seltenen Brüderlichkeit gelangen --,« sagte
+Heinrich schließlich.
+
+Mit einer raschen Bewegung näherte ich mich ihm und legte den Arm um
+seinen Hals. Der Klang seiner Stimme tat mir zu weh. Er löste sich sanft
+aus der Umschlingung. »Nicht so, Alix --,« sagte er leise; »weißt du
+noch, wie du einmal zu mir sagtest: der Stunde sollten wir warten, der
+wir gehorchen müssen?! -- Ich fürchte, sie ist noch fern --!« Und in
+ruhigem Gesprächston fuhr er fort: »Du wirst dich darüber in keiner
+Täuschung befinden: Alles, was du sagtest, ist für die heutige
+Sozialdemokratie Ketzerei.« Ich nickte.
+
+»Noch kennt sie niemand als du. Aber sollten die losen Gedanken sich zur
+Kette zusammenschieben, so werde ich den Schatz nicht in meine Truhe
+legen.«
+
+»Auch wenn sie dich bezichtigen, falsches Gold zu fabrizieren?!«
+
+Ich warf den Kopf zurück. Ein heißes Gefühl der Kampflust strömte mir
+durch die Adern und bewies mir, daß ich lebte. »Auch dann!«
+
+ * * * * *
+
+Das Erbe meiner Großmutter befreite mich von einem gut Teil äußerer
+Sorgen. Und jetzt erst, da die Not, dieser Sklavenhalter, nicht mehr
+hinter mir stand, fühlte ich alle Striemen, mit denen ihre
+Peitschenschläge meinen Körper gezeichnet hatten. Ich sah die Blässe
+meiner Wangen, die Falten um meinen Mund, die müden Augen. Und doch
+wollte ich nicht alt sein, denn noch lag ein Leben vor mir, und ich
+wollte nicht häßlich sein, denn eine tiefe, tiefe Sehnsucht trieb mir
+heißes Blut durch die Adern.
+
+Ich ging in ein Sanatorium in die Nähe von Dresden, um gesund zu werden.
+Unter dem Menschenschwarm aus der alten und neuen Welt, der sich dort
+ein Stelldichein zu geben schien, traf ich auch einen Bekannten:
+Hessenstein. Meinen alten Tänzer, einen der glänzendsten Kavaliere der
+Westfälischen Gesellschaft, hätte ich in dem grauhaarigen Mann mit dem
+gebeugten Rücken kaum wiedererkannt.
+
+»Merkwürdig,« sagte er nach der ersten Begrüßung, »Sie sind immer noch
+Alix von Kleve! -- Eben las ich Ihr Buch. Daraus erfuhr ich, daß Sie
+auch innerlich noch Alix von Kleve sind, oder -- besser gesagt -- daß
+Sie heimkehrten.«
+
+»Wie meinen Sie das?« fragte ich lächelnd. »Ich brauchte nicht
+heimzukehren, denn ich war immer bei mir!«
+
+»Auch als Sie noch zu den Singer, Stadthagen, Luxemburg, und wie die
+Zierden der Partei alle heißen mögen, gehörten?!«
+
+»Ich war und bin Sozialdemokratin, -- damit gehöre ich meiner
+Überzeugung, nicht den Menschen,« antwortete ich merklich kühler
+werdend.
+
+»Wie, Sie sind nicht aus der Partei ausgetreten und konnten dies
+schreiben --,« er zog das Buch von der Großmutter aus der Tasche,
+»-- das Werk eines vollendeten Aristokraten --«
+
+»Sie haben einmal andere Ansichten gehabt, Herr von Hessenstein,«
+unterbrach ich ihn.
+
+»Wer von uns hätte nicht törichten Träumen nachgehangen?!« meinte er.
+
+Wir sahen einander oft, und es tat mir wohl, einem teilnehmenden
+Menschen von meinem Leben zu erzählen.
+
+An einem kühlen Herbsttag, -- dem letzten vor meiner Abreise, wanderten
+wir auf die Heide hinaus. »Ich liebe sie,« sagte Hessenstein, »sie geht
+mit so stiller Würde dem Winter entgegen, ohne sich durch überflüssige
+Stürme über die Hoffnungslosigkeit der Situation aufzuregen.«
+
+»Nun weiß ich endlich, warum ich sie nicht liebe,« antwortete ich;
+»diese Ergebung in das Schicksal wird mir immer fremd sein. Ich würde
+mich an den Sommer klammern, wenn es Winter werden wollte.«
+
+Er sah mich kopfschüttelnd an: »Nach all Ihren Erfahrungen diese
+Lebenskraft?! Nachdem all Ihre Opfer nutzlos waren?!«
+
+Ich schwieg betroffen still. Die Frage, ob ich genutzt hatte oder nicht,
+hatte ich mir selbst nie gestellt. Ich überlegte: all die Reformen, für
+die ich in hartem Kampf gegen die Genossen eingetreten war, kamen mir
+jetzt, aus der Vogelperspektive, nicht mehr so welterschütternd vor.
+Aber immerhin; sie hatten sich durchgesetzt. Die Dienstbotenbewegung
+war im Gang, die Mutterschaftsversicherung war zur Forderung der Partei
+geworden; die Haushaltungsgenossenschaft stand wenigstens
+auf dem Diskussionsprogramm; selbst jene Zentralstelle der
+Arbeiterinnenbewegung, deren Forderung mir fast den Hals gekostet hatte,
+war vor ein paar Jahren geschaffen worden und funktionierte
+vortrefflich. Und wie viele mochte ich dem Sozialismus gewonnen haben?
+Ich sah wieder glänzende Augen auf mich gerichtet, fühlte den Druck
+schwieliger Hände, hörte den Siegesjubel mich umbrausen --.
+
+»Nein,« sagte ich hell und laut, »meine Arbeit ist nicht nutzlos
+gewesen! Es gibt kein Wort, das nicht die Luft in Schwingung versetzt,
+keinen Gedanken, der sich nicht weiterpflanzt! -- Und daß ich in der
+Partei aushalte?! Meinen Sie denn, es würde an meiner Überzeugung irgend
+etwas geändert werden, wenn ich ihr nicht offiziell angehörte, oder wenn
+sie, -- was ich nicht für unmöglich halte, -- mich noch einmal gehen
+heißt? Gewiß, ich zweifle an der Richtigkeit mancher ihrer
+Programmforderungen, ich halte ihre Taktik sehr oft für falsch, ich
+sehe, daß sie von hundert Schönheitsfehlern behaftet ist, -- aber all
+das vermag die Hauptsache nicht zu erschüttern. Der Sozialismus ist das
+einzige Mittel, um die Menschheit aus dem Zustand der Barbarei auf die
+erste Stufe der Kultur zu erheben --«
+
+Er legte beschwichtigend seine schmale, blaugeäderte Hand auf die meine.
+»Sie sind in keiner Volksversammlung,« sagte er; »sie brauchen nicht so
+starke Farben aufzutragen --«
+
+»Ich trage sie nicht auf. Ich spreche in ruhigster Überlegung,« fuhr ich
+fort. »Oder ist es etwa keine Barbarei, daß die überwiegende Masse der
+Menschheit, daß Millionen, viele Millionen, von Kindheit an bis zum
+Greisenalter zu härtestem Frondienst verurteilt sind, daß sie von dem
+einzigen Sinn des Lebens, der Entfaltung der Persönlichkeit zur höchsten
+Potenz ihrer Leistungs- und Genußkraft, durch den Zufall der Geburt und
+des Besitzes ausgeschlossen sind?! Die Befreiung des Menschen von den
+blinden Gesetzen des Schicksals, die vollkommene Unterjochung der
+Materie unter den Geist, -- das ist uns das Ziel; einer fernen Zukunft
+aber wird es zweifellos erst als der Anfang der Menschheitsentwicklung
+erscheinen.«
+
+Mein Begleiter blieb stumm. Erst als wir droben von der Heide in den
+herbstbunten Wald schritten, sprach er wieder. »Ich bewundere Ihren
+Glauben. Sollte wirklich die Vergesellschaftung der Produktionsmittel
+solchem Ziel entgegenführen?! Dann wäre es allerdings sträflich, sich
+ihrer Durchsetzung entgegenzustemmen!«
+
+»Ich sehe zunächst kein anderes,« antwortete ich. »Freilich: ein
+aktuelles Problem ist sie nicht. Aber so etwas wie eine regulative Idee.
+Im übrigen: ich schwöre ja nicht darauf. Ich kann mir vorstellen, daß
+sie einmal durch andere Forderungen ergänzt werden müßte. Aber das Ziel
+ist für mich unverrückbar.«
+
+Wir näherten uns wieder dem Sanatorium. »Sie gehen nach Java zurück?«
+fragte ich, ehe wir uns trennten. »Nein,« entgegnete er. »Dreizehn Jahre
+habe ich da unten gelebt, -- eine böse Zahl! -- Ich bin dabei ein
+reicher Mann geworden. Aber kein glücklicher. Jetzt will ich --,« er
+schürzte in bitterer Selbstverhöhnung die Lippen, »-- mein Leben als
+Europäer genießen. Sie sehen: Ihre ersehnte Beherrschung der Materie ist
+keine zuverlässige Grundlage des Glücks.«
+
+»Glücklichsein -- im Sinne der Befriedigung unserer Triebe ist doch auch
+nur ein Herdenideal. Wessen Leben es ausfüllt, der ist entweder ein
+Schwächling oder ein Greis --«
+
+Er drückte mir die Hand. »Sie sind eine merkwürdige Frau. Vielleicht
+komme ich nach Berlin und lerne auf meine alten Tage noch leben. Nur
+eins geben Sie mir bitte jetzt schon auf den Weg: Sind Sie so kalt, daß
+Sie das Glück ganz auszuschalten vermögen, und -- wenn nicht -- was
+verstehen Sie darunter?«
+
+Ich atmete tief auf. Ich sah mich an einem Tage wie diesem mit dem
+Geliebten im Wald, -- die Sehnsucht packte mich, so heiß, so stark, daß
+ich erschauerte. Aber dem fremden Mann, der erwartungsvoll vor mir
+stand, hätte ich nicht sagen können, was mich bewegte. »Kampf, --
+Kraftentfaltung, -- Widerstände beseitigen, -- sie aufsuchen, wenn sie
+sich nicht von selbst ergeben, -- darin kulminiert das Lebensgefühl der
+Starken,« sagte ich.
+
+Er verabschiedete sich. Ich sah ihn im Hause verschwinden, mit gebeugtem
+Rücken, sehr müde.
+
+ * * * * *
+
+Auf der Heimfahrt klopfte mir das Herz unruhiger als sonst. Ich dachte
+an Heinrich. Seine Lebensauffassung war's, der ich Worte geliehen, an
+der ich mich selbst zuerst aufgerichtet hatte, und die nun wie
+ein Fluidum in meine Seele geströmt war. Ein Gefühl tiefer
+Zusammengehörigkeit überkam mich, das ich noch nie empfunden hatte, --
+am wenigsten dann, als wir, an den gleichen Pflug gespannt,
+unzertrennlich waren. Vielleicht, daß Freunde so miteinander leben und
+arbeiten können; -- Liebende nicht, sicher nicht! Aber sind es nicht die
+besten Ehen, die zur Freundschaft werden? Oder ist das nicht auch eine
+jener alle Natürlichkeit knechtenden Anschauungen, die wir armen
+Menschen uns von der Moral des Christentums einpauken ließen, einer
+Moral, für die die Sinne und die Sünde identisch waren, der ihre
+Überwindung als der Tugend Krone erschien?! Ehe ist der Bund zweier
+Liebenden; wo sie zur bloßen Freundschaft wurde, sind die Sinne tot oder
+äugen sehnsüchtig nach anderer Befriedigung.
+
+Die Ehe von einst beruhte auf der Autorität des Mannes gegenüber der
+Frau, der Autorität der Eltern gegenüber den Kindern, -- ein Staat im
+kleinen mit Herren und Knechten. Jetzt aber stehen Individualitäten
+einander gegenüber. Das Leben von einst läßt sich ihnen wohl noch
+aufzwingen, aber sie zerbrechen daran. Zur Herdflamme wird die Liebe
+nicht mehr. Aber zum lodernden Opferbrand an den hohen Festen des
+Lebens!
+
+Für die Liebe ist der sicherste Tod die Unfreiheit. Sie wächst mit dem
+Pathos der Distanz.
+
+Wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Male liebt, wagte ich kaum mir
+selbst zu gestehen, was ich fühlte. Als mein Mann mich am Bahnhofe
+empfing und mir die Hand küßte, errötete ich. Und abends ertappte ich
+mich dabei, wie ich im Spiegel forschend meine Züge musterte und die
+Haare anders zu stecken versuchte. -- Er war jetzt immer so förmlich,
+so ritterlich zu mir! Ob ich am Ende zu alt war: -- Zweiundvierzig
+Jahre! In Paris hatte ich Frauen gesehen, die älter waren als ich und
+doch noch schön. Freilich: das Leben hatte mich gezeichnet! -- Ganz
+heimlich -- ich hätte mich sonst vor ihm zu sehr geschämt! -- fing ich
+an, mich mehr zu pflegen als sonst, die Farbe meiner Kleider, die Form
+meiner Hüte sorgfältiger auszuwählen. Ich verschwendete fast. Ganz, ganz
+in der Ferne sah ich einen neuen Sommer voll Glanz und Glut. Noch lag er
+im Zauberschlaf, tief unten in der winterstarren Erde. Aber meine
+Sehnsucht trog mich nicht: er mußte kommen.
+
+
+
+
+Neunzehntes Kapitel
+
+
+In Eis gepanzert, einen langen Mantel von Schnee um die Schultern, trat
+das neue Jahr seine Herrschaft an. Gleichgültig sahen seine kalten Augen
+über die Menge hinweg, die jammernd die Arme zu seinem Thron erhob.
+
+Die Not war groß. Brot und Fleisch waren teuer, und für die
+Menschenkraft, die sich billig anbot, gab es keine Arbeit. Der Winter
+trieb die Arbeitslosen in Scharen in die Wärmehallen; vom frühen
+Nachmittag an drängten sich die Obdachsuchenden vor den Asylen. Wer in
+ihre Nähe kam, den trafen Blicke, in denen der Haß gegen die
+Herrschenden, der Groll mit dem Schicksal flammte. Das waren keine
+Almosen heischenden Bettler mehr, keine in ein gottgewolltes Geschick
+Ergebenen.
+
+Das Proletariat füllte den ganzen Winter über die Säle, um gegen eine
+Politik zu protestieren, die zwar mit den Insignien des
+Konstitutionalismus prunkte, aber nur ein Werkzeug des Absolutismus war.
+Es wußte von den Millionen neuer Steuern, die drohten, es hatte
+erfahren, daß es gegen die geeinte Reaktion machtlos war, daß die
+eiserne Hand Preußens auf ihm ruhte, wenn es sich aufrichten wollte. Es
+erkannte, daß es Mauern und Gräben zu bewältigen galt, ehe die feste
+Burg, der Staat, ihm zufiele. Junker und Pfaffen hielten sie besetzt,
+bereit, nur über ihre Leichen den Weg frei zu geben.
+
+Der erste Akt des Dramas begann.
+
+ * * * * *
+
+Vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin eine dichtgedrängte Menschenmasse.
+Polizisten zu Fuß und zu Pferd, den Revolver im gelben Gürtel, halten
+die Zufahrt frei. Und hinter ihnen stehen Tausende, Männer, Frauen,
+Kinder. Sie warten. Sie besetzen die Auffahrt des gegenüberliegenden
+Kunstgewerbemuseums. Sie halten Umschau von oben. Und plötzlich biegt in
+scharfem Trabe eine Karosse um die Ecke der Prinz Albrechtstraße. »Der
+Reichskanzler!« gellt es laut. Die Menge flutet ihm entgegen, ihm nach,
+eine einzige dunkle Welle. Und brausend tönt es um ihn: »Hoch das freie
+Wahlrecht!« Dann wieder Stille. Sie wartet weiter.
+
+Und auf der Rednertribüne des Abgeordnetenhauses erscheint Fürst Bülow
+zur Beantwortung des freisinnigen Antrags: Einführung des allgemeinen,
+gleichen und direkten Wahlrechts mit geheimer Stimmabgabe für den
+preußischen Landtag. Mit unterschlagenen Armen, ruhig und selbstbewußt,
+den harten Ausdruck geborener Herrscher auf den Zügen, sitzt die
+Mehrheit vor ihm. Sie weiß, was sie zu erwarten hat; dieser Mann ist ein
+Erwählter des Kaisers, nicht des Volkes, und der Kaiser ist der Ihre.
+
+»... Für die Königliche Staatsregierung steht es nach wie vor fest, daß
+die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen dem Staatswohl
+nicht entspricht und daher abzulehnen ist. Auch kann die Königliche
+Staatsregierung die Ersetzung der öffentlichen Stimmabgabe durch die
+geheime nicht in Ansicht stellen.«
+
+Scharf, ohne die liebenswürdigen Floskeln des Weltmannes, ohne das
+verbindliche Lächeln des Diplomaten, klingt die Erklärung durch den
+Saal.
+
+Das Volk draußen wartet. Da nahen neue Schutzmannspatrouillen; hart
+schlägt ihr Tritt auf den Asphaltboden auf, Pferdehufe klappern
+dazwischen, -- die Begleitung zum Text des Kanzlerliedes.
+
+Das Volk zieht sich zurück.
+
+ * * * * *
+
+Zwei Tage später. Ein heller Wintersonntag. Mittags Unter den Linden das
+gleiche Bild wie immer: flanierende Damen und Herren, Offiziere und
+Studenten, hinter den Spiegelscheiben der Kaffees neugierige
+Sonntagsbummler.
+
+Wir gehen langsam dem Schloßplatz entgegen. Schutzleute erscheinen. Aus
+allen Nebenstraßen blitzen ihre Helmspitzen auf. Im Zeughaus, vor dem
+Museum, am Dom und rings um das Schloß -- lauter Pickelhauben. Mit
+klingendem Spiel zieht die Wache auf, bunt und glänzend, eine Augenweide
+für alle Farbenfrohen. An der Kreuzung der Friedrichstraße stockt der
+Zug der Soldaten, ein anderer überschreitet seinen Weg, ein einförmig
+dunkler: Arbeiter, die aus dem Innern der Stadt kommen, wo heute die
+Wahlrechtsversammlungen tagen. Schweigend zieht er vorüber. Es ist, als
+ob er auf alle Gesichter seinen Schatten geworfen habe.
+
+Da -- Signaltöne aus der Hupe. Die Spaziergänger stutzen; drei gelbe
+Automobile rasen vorbei, dem Schlosse zu. Der Kaiser. Kein Hurra, kein
+Gruß, alles bleibt still, -- wie benommen.
+
+Und plötzlich, als hätte die Erde sie ausgespieen, wimmelt es auf der
+breiten Straße von Menschen; im selben Augenblick bildet sich vor dem
+Schloß eine Mauer von Polizistenleibern. Die Menge mißt ihre Gegner mit
+dem spöttischen Blick der Überlegenheit: Wenn wir wollten --! Aber sie
+wollen nicht. Sie haben stärkere Mauern zu stürmen.
+
+Aus der Ferne klingen Töne, wie Donnerrollen. Sie schwellen an. Sie
+begleiten den gleichmäßigen Tritt Tausender: -- soweit das Auge die
+Friedrichstraße hinunter gen Süden reicht -- ein Meer von Menschen. Es
+überflutet die Linden. Rechts und links weichen die Spaziergänger
+zurück. Noch nie hat die Allee der Fürstentriumphe solch einen Aufzug
+gesehen! Eine Schwadron Berittener sprengt den Demonstranten entgegen,
+mitten in ihren Zug hinein. Ein Aufkreischen ängstlicher Weiberstimmen,
+-- dann gewitterschwangere Stille.
+
+Einsam liegt das Königsschloß. Leer gefegt ist der weite Raum ringsum.
+Schwer hängt die Kaiserstandarte in der unbewegten Luft. Hier hält das
+Leben seinen Atem an.
+
+Aber ringsum, von Norden und Osten, von Süden und Westen, strömen sie
+jetzt herbei in hellen Scharen. Sie singen. Niemand hat den Taktstock
+geschwungen, sie sehen einander nicht einmal, und doch ist es dasselbe
+Lied, das aus den Kehlen aller dringt, das die Bastille gestürmt hat und
+die Barrikaden: die Marseillaise. Es schlägt gegen die Mauern der
+Kirchen und der Paläste, -- und ihr Echo muß es wiedergeben. Es braust
+sieghaft hinweg über die Ketten der Hüter der Ordnung. Hoch über dem
+Königsschloß fluten seine Töne zusammen, -- es klingt wie das Klirren
+scharfer Klingen, -- wie Wotans gespenstisches Heer.
+
+Und nun hüllt der Abend die Stadt in seinen dunkeln Mantel. Der Gesang
+verstummt. Das Pferdegetrappel der Polizisten, das Geschrei der
+Verfolgten tönt nur noch von weit her.
+
+Mir aber ist, als sähe ich in einen unermeßlichen Saal. An seinen Wänden
+prangen die Bilder verflossener Jahrhunderte: die Geschichten von den
+Königen und den Kriegen; Marmorstatuen stehen ringsum: Feldherrn und
+Fürsten, Priester und Propheten. In der Mitte aber auf goldenem Stuhl
+thront Er. Um das Haupt den Krönungsreif wie einen Heiligenschein; die
+Finger der Linken um den Reichsapfel gespannt, -- die Weltenkugel; in
+der rechten das Zepter, -- eine Peitsche, um Nacken zu beugen,
+Widerspenstige zu zähmen; auf der Brust ein großes leuchtendes Kreuz.
+Ich staune ihn an: Alles Vergangene lebt in ihm. Alles, was uns tot ist,
+umgibt ihn. Gegen die Nacht, die nur sein Glanz erhellt, erscheint das
+Licht des Tages grau und kalt.
+
+Er ist kein einzelner. Er ist die Welt, die wir überwinden müssen.
+
+ * * * * *
+
+Eine kleine Gruppe von Parteigenossen fand sich in einem Restaurant der
+Friedrichstadt in der Nacht nach den Wahldemonstrationen zufällig
+zusammen. Die Erregung, die in allen noch nachzitterte, verscheuchte
+jede Müdigkeit. Große Ereignisse lösen die Lippen. Auch die Kühlen waren
+warm geworden. Man diskutierte lebhaft: über die heutige Eroberung der
+Straße, über die künftige Entwickelung der Bewegung, über die
+Möglichkeit, in diesem Augenblick, wo es sich nicht um die Aufrichtung
+des Zukunftsstaates, sondern um die Niederwerfung der Junkerherrschaft
+handelte, das liberale Bürgertum und alle Schmollenden, die unsicher
+abseits standen, mobil zu machen. »Ein Riesenkampf gegen die Reaktion,
+-- das ist's, was die stagnierenden Gewässer in Fluß bringen würde!«
+sagte einer.
+
+»Er würde die Geister scheiden, wie nichts zuvor --,« ergänzte
+enthusiastisch ein anderer.
+
+»Sie glauben wirklich, daß das Ziel des allgemeinen Wahlrechts für den
+preußischen Landtag solch weltbewegende Kräfte entfesseln könnte?«
+fragte ich. Mein Spott rötete die Gesichter der Begeisterten noch mehr.
+
+»Und gerade Sie waren vor einer Stunde bis zur Stummheit ergriffen!«
+meinte vorwurfsvoll mein Nachbar.
+
+»Ich bin es noch,« antwortete ich; »mir war, als hätte ich wirklich den
+Flügelschlag der neuen Zeit gefühlt. Ich fürchte nur, sie rauscht an uns
+vorüber.«
+
+»Das aber liegt doch an uns!« rief über den Tisch herüber ein jungem
+Literat, der darauf brannte, sich die politischen Sporen zu verdienen.
+»Wir müssen sie festhalten, wir müssen das Eisen schmieden, solange es
+warm ist.«
+
+»Womit, wenn ich fragen darf?« --
+
+Die Antworten schwirrten von allen Seiten durcheinander: »Durch die
+Aussicht auf eine wahrhaft liberaldemokratische Ära,« -- »auf
+wirtschaftliche Reformen großen Stils,« -- »Verminderung der Steuern,«
+-- »der Militärlasten,« -- »Trennung von Kirche und Staat --«
+
+»Lauter Einzelforderungen, die große, heute noch indifferente Massen
+kaum begeistern, die heterogene Elemente nicht zusammenschweißen werden,
+die, vor allen Dingen, kein sicher wirkendes Scheidewasser sind,« sagte
+ich ruhig.
+
+»So nennen Sie es, wenn Sie es wissen!«
+
+Ich sah mich scheu im Kreise um. Sobald ein Gespräch Fragen berührte,
+die mir sehr nahe gingen, überkam mich oft eine gewisse verlegene
+Unbeholfenheit. »Stünde ich vor einer Volksversammlung, so würde es mir
+leichter werden als vor all Ihren forschenden, erwartungsvollen und --
+lächelnden Mienen,« meinte ich.
+
+»So wollen wir streng parlamentarisch verfahren,« sagte mein Nachbar
+sichtlich belustigt; »wir sind die letzten Gäste, beherrschen also im
+Moment die Situation. Silentium, meine Herren! Frau Alix Brandt hat das
+Wort.«
+
+Ich sah zu meinem Mann hinüber. Er nickte mir zu. Ich klammerte meinen
+Blick an den seinen und erhob mich. Was mir diese Nacht zum erstenmal
+klar vor Augen gestanden hatte, das sollte ich in Worte fassen. -- Mir
+war die Kehle wie zugeschnürt. Und doch fühlte ich, es mußte sein.
+Nicht um dieser Tafelrunde willen, -- sondern meinetwegen. Der Gedanke
+zerflattert, wenn er nicht in die Form der Sprache gepreßt wird.
+
+»Mir scheint,« begann ich zögernd, »daß es nicht so sehr darauf ankommt,
+einzelne praktische Ziele zu setzen. Das haben die Parteien schon längst
+getan und sind über die Verschiedenheit ihrer Einzelforderungen in
+Gruppen und Grüppchen auseinander gefallen. Alle großen entscheidenden
+Weltbewegungen sind von _einem_ Geist getragen worden --« »Und die
+materialistische Geschichtsauffassung?!« unterbrach mich ein Genosse.
+
+»Von _einem_ Geist --,« fuhr ich unbeirrt fort, »der sich
+selbstverständlich erst aus den allgemeinen wirtschaftlichen und
+sozialen Verhältnissen heraus entwickeln konnte und immer erst dann
+entstand, wenn der Widerspruch der Gegenwart zur Vergangenheit überall
+schmerzhaft fühlbar geworden war. Das gilt für das Christentum, -- den
+Muhamedanismus --« »die Revolution,« rief einer dazwischen.
+
+»Nein,« antwortete ich. »Es gibt Zeiten, in denen der Geist der
+Verneinung, wie ich ihn einmal nennen will, nicht zu reinem, vollem
+Ausdruck kommt, wo er nur beschränkte Schichten des Volkes ergreift, --
+wie zur Zeit der Renaissance, der Revolution, -- und wo er darum
+schließlich gezwungen wird, mit dem Geist der Vergangenheit zu
+paktieren. So baute die Renaissance christliche Kirchen, und die
+Revolution übernahm die Phraseologie des Christentums. Auch wir
+versuchen mit jener Geistesfaulheit, die sich scheut, zu Ende zu denken,
+neuen Wein in alte Schläuche zu gießen. Ich erinnere an die Bemühungen,
+die Kirche zu modernisieren, an das Bestreben, in der Partei die Ethik
+Kants für den Sozialismus in Anspruch zu nehmen.«
+
+Hier unterbrach mich mein Nachbar, ein begeisterter Kantianer, und
+vergaß im Eifer des Widerspruches die von ihm selbst gewollte
+parlamentarische Ordnung.
+
+»Der kategorische Imperativ, von seiner transzendentalen Herkunft
+losgelöst, ist tatsächlich der dirigierende Geist, auf den Sie offenbar
+hinauswollen,« rief er.
+
+»Das bestreite ich. Schon weil er sich von dieser transzendentalen
+Herkunft nicht loslösen läßt, weil er Geist vom Geist des Christentums
+ist, weil wir auf Grund unserer Kenntnis der historischen Entwicklung
+und Umwandlung sittlicher Ideale wissen, daß es ein allgemein gleiches,
+verpflichtendes Sittengesetz nicht gibt, weil nicht einmal zwischen
+Einzelindividualitäten eine Äquivalenz der Handlungen besteht --«
+
+»Ich höre Alix Brandt, und es ist Friedrich Nietzsche!« spottete jemand.
+Die anderen lächelten vielsagend.
+
+»Sie haben mir vorgegriffen,« entgegnete ich ruhig. »Ich hätte den Namen
+des Mannes genannt, der zwar nicht der Erlöser, wohl aber sein Prophet
+sein kann.«
+
+»Aber, Genossin Brandt, Sie verirren sich,« hörte ich entrüstet rufen;
+»wie vermögen Sie Ihre sozialdemokratische Gesinnung mit dem Nachbeten
+Nietzschescher Lehren zu vereinigen?! Denken Sie doch an seine
+Vergötterung der 'Herrenmenschen', an seine Verhöhnung jedes
+'Sklavenaufstands'!«
+
+»Diesen Einwand mußte ich erwarten. Ich erinnere Sie demgegenüber
+zunächst nur daran, daß es derselbe Nietzsche war, der anerkannte, daß
+die einzelne starke Individualität am leichtesten in einer
+demokratischen Gesellschaft sich erhalten und entwickeln könne. Aber
+diese Idee ist zwischen uns, wie ich glaube, schon so sehr zum
+unbestreitbaren Gemeinplatz geworden, daß ich nicht weiter darauf
+einzugehen brauche. Natürlich gebe ich _den_ Nietzsche preis, der unsere
+große soziale Bewegung weder kannte, noch kennen wollte. Und ich kann
+das um so leichter, weil er unbewußt selbst im Flusse dieser Bewegung
+schwamm, weil er dem Sozialismus das gab, was wir brauchen: eine
+ethische Grundlage.«
+
+Von allen Seiten wurde mir heftig widersprochen, aber jetzt, da ich mir
+selbst immer klarer wurde, störte mich das nicht mehr.
+
+»Alle seine großen Ideen leben in uns: der Trieb zur Persönlichkeit, die
+Umwertung aller Werte, das Jasagen zum Leben, der Wille zur Macht. Wir
+brauchen die blitzenden Waffen aus seiner Rüstkammer nur zu nehmen, --
+und wir sollten es tun. Mit dem Ziel des größten Glücks der größten
+Anzahl, -- an das ich glaubte, wie Sie alle, -- schaffen wir eine
+Gesellschaft behäbiger Kleinbürger.... Und spüren Sie den Geist der
+Verneinung nicht in allem, was heute lebenskräftig ist und vorwärts
+will? Kunst und Literatur, Wissenschaft und Politik setzen ihr Nein der
+Vergangenheit entgegen, die noch Gegenwart sein will. Was ihr Tugend
+war, -- Unterwürfigkeit, Demut, Ergebung in das Schicksal, Ungehorsam
+gegen sich selbst, wenn der Gehorsam gegen Obere es fordert, --
+erscheint uns mindestens als Schwäche, wenn nicht als Unrecht. Der
+Glaube an die gottgewollten Zustände von Armut und Reichtum, von
+Herrschaft und Dienstbarkeit ist weit über die Kreise der Partei hinaus
+zerstört. Und mit alledem, das wir unbewußt und bewußt von uns geworfen
+haben, panzert sich der Riese der Reaktion. Vor neunzehnhundert Jahren
+unterwarf die Moral des Christentums die heidnische Welt. Vergebens hat
+die Renaissance und die Revolution sich gegen sie empört, -- die Zeit
+war noch nicht reif. Heute aber ist sie es; der Sozialismus hat ihr den
+Boden bereitet. Wäre ihre Fahne voll entfaltet, so würden sich vor ihr
+die Feigen von den Mutigen, die Schwachen von den Starken sondern, und
+alles würde ihr zuströmen, was jungen Geistes ist, was Zukunft in sich
+hat. Den Weg zu unserem Ziel finden wir nur, wenn die Idee der ethischen
+Revolution der Idee der ökonomischen Umwälzung Flügel verleiht....«
+
+Die Türe ging auf. Ein verschlafener Kellner musterte mißmutig die
+seßhaften Gäste. Ich erwachte wie aus einem Traum. Die anderen blieben
+stumm. Ob aus Überraschung, aus Empörung, aus Müdigkeit? »Ich möchte
+heim,« sagte ich leise zu meinem Mann. Wir gingen allein und schweigsam
+nach Hause.
+
+Ich hörte danach, daß man mich verspottete: Die Sozialdemokratin und
+Verkünderin der »Herrenmoral«! Mir schien, als gingen mir die Genossen
+noch mehr als sonst aus dem Wege. Aber es kränkte mich nicht.
+
+ * * * * *
+
+Ein feuchter Märzwind strich durch die Straßen. Die Bäume und Büsche
+zitterten in seiner Umarmung, denn er flüsterte ihnen vom Frühling die
+frohe Botschaft zu. Auch um meine Stirne wehte sein weicher Atem. Hatte
+ich nicht geglaubt, daß ich den Lenz wie alte Leute grüßen würde:
+versunken in Erinnerungen? --
+
+Ich saß am Fenster und las meines Sohnes Briefe. Seit einiger Zeit
+schrieb er mir oft: Seiten und Seiten voller Fragen und erregter
+Geständnisse. Zum erstenmal stand sein junger Geist in offenem Kampf mit
+der Wahrheit und den Autoritäten. Und er unterwarf sich nicht. Er war
+mein Kind.
+
+Noch immer hatte ich mich gescheut, Heinrich zu zeigen, was er schrieb.
+Wir waren früher heftig aneinander geraten, weil ich schon des kleinen
+Kindes Selbständigkeit respektierte. Und jetzt hatte ich mehr zu
+fürchten als nur den väterlichen Zorn. Ein Prüfstein würde es sein auch
+für unsere Beziehungen. Ich liebte meinen Mann. Viel mehr, viel tiefer
+als zu jener Zeit, da ich mich ihm zuerst verband. Denn damals kannte
+ich ihn nicht. Aber meine Liebe war zu groß, um Unterwerfung ertragen zu
+können. Wenn er das Kind nicht verstand, so würde er auch mich nicht
+verstehen. Wieder aneinander gebunden sein, so daß jeder selbständige
+Schritt des einen den anderen ins Fleisch schneiden muß; die Blume der
+Liebe, die nichts als der Persönlichkeit reichste Entfaltung ist,
+abpflücken, nur damit sie die Brust des anderen schmückt, zu frühem
+Welken verurteilt, -- das vermochte ich nicht mehr --
+
+Es läutete draußen, lang und heftig. Ich sprang auf, beide Hände auf das
+wild klopfende Herz gepreßt. Wer lärmte zu früher Morgenstunde so
+ungeduldig an der Türe? Wer?! Schon sprang sie auf, und ins Zimmer flog
+es herein wie ein Wirbelwind, und zwei Arme umschlangen mich, und ein
+glühendes Gesicht mit zwei glänzenden Augen hob sich zu mir empor. »Mein
+Kind! Mein Kind!« --
+
+Der Rucksack flog im Bogen von den Schultern. »Davongelaufen bin ich --
+bei Nacht und Nebel, -- ich hielt's nicht länger aus,« sprudelte es
+hervor, atemlos, triumphierend.
+
+Ich hörte kaum, was er sprach, ich sah nur, daß er da war, wirklich da
+war!
+
+Ein fester Tritt auf dem Flur weckte mich aus meiner Versunkenheit. »Der
+Vater!« rief ich angstvoll und legte wie schützend den Arm um meinen
+Sohn. Der aber riß sich los, lachte mich an und lief mit einem: »Ich
+fürchte mich nicht!« dem Kommenden entgegen.
+
+Ich stand wie angewurzelt. Ich hörte einen Wortwechsel, dann ein langes,
+ernstes Gespräch. Frage und Antwort. Hand in Hand kamen sie zu mir ins
+Zimmer. »Nun werden wir den Schlingel doch wohl behalten müssen,«
+lächelte mein Mann, »und heute soll für uns drei ein Feiertag sein.«
+
+Wir gingen durch den Wald nach Paulsborn. Die Kiefern standen schwarz
+gegen den hellen Himmel, und lichtgrün schmiegten sich die Büsche ihnen
+zu Füßen. Auf dem See tanzten die Sonnenstrahlen. Und weit voraus sprang
+unser Sohn.
+
+»Weißt du noch?!« sagte Heinrich.
+
+»Ich weiß! Damals schüttelte der Sturm die Bäume. Mich fror, und du
+schlugst deinen Mantel um mich --«
+
+»Und habe dich doch nicht schützen können --«
+
+»Ich danke es dir, denn dadurch wurde ich stark.«
+
+»So stark, daß du allein zu gehen vermagst --,« seine Stimme schwankte
+dabei. Mich traf's wie blendendes Licht, -- ich sah auf dem Wasser
+nichts mehr als die goldene, schimmernde Sonnenstraße.
+
+»Damals warnte ich dich vor mir,« fuhr er fort.
+
+»Ich aber ließ dich nicht --«
+
+»Und heute?! --«
+
+»Du siehst: ich gehe auf eigenen Füßen, aber neben dir --«
+
+Wo die dunkle Allee sich der weiten, sonnenbeglänzten Wiese öffnet,
+tauchte die schlanke Gestalt unseres Sohnes auf. Er hielt einen Zweig
+jungen Grüns in der hochgehobenen Hand. Der wehte über ihm wie eine
+Fahne.
+
+ * * * * *
+
+Und dann kam das Leben wieder und der Alltag, und sein Pfad blieb rauh.
+Aber ich hatte ihn freiwillig gewählt, und meines Herzens Glut schützte
+mich vor dem Frost. Er blieb einsam. Aber ich wußte vorher: wer eigene
+Wege sucht, findet wenig Gefährten. Und über das Donnern der Sturzbäche
+hinweg flog siegreich hin und her der Gruß der Liebe.
+
+Einmal, als der Föhn mich umheulte und die Steine meine Füße
+verwundeten, sah ich forschend zurück. Und ich erkannte, daß ich nicht
+irre gegangen war.
+
+
+
+
+
+End of Project Gutenberg's Memoiren einer Sozialistin, by Lily Braun
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MEMOIREN EINER SOZIALISTIN ***
+
+***** This file should be named 16302-8.txt or 16302-8.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
+ https://www.gutenberg.org/1/6/3/0/16302/
+
+Produced by richyfourtytwo and the Online Distributed
+Proofreading Team at https://www.pgdp.net
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+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
+copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
+protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
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+do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
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+such as creation of derivative works, reports, performances and
+research. They may be modified and printed and given away--you may do
+practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
+subject to the trademark license, especially commercial
+redistribution.
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+THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
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+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
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+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
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+works. See paragraph 1.E below.
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+work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
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+electronic work, or any part of this electronic work, without
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+License as specified in paragraph 1.E.1.
+
+1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
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+access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
+that
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+- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
+ the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
+ you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
+ owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
+ has agreed to donate royalties under this paragraph to the
+ Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
+ must be paid within 60 days following each date on which you
+ prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
+ returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
+ sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
+ address specified in Section 4, "Information about donations to
+ the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
+
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+ you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
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+ License. You must require such a user to return or
+ destroy all copies of the works possessed in a physical medium
+ and discontinue all use of and all access to other copies of
+ Project Gutenberg-tm works.
+
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+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
+ electronic work is discovered and reported to you within 90 days
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+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
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+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
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+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
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+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
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+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
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+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at https://pglaf.org
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+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit https://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including including checks, online payments and credit card
+donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ https://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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+The Project Gutenberg EBook of Memoiren einer Sozialistin, by Lily Braun
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+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
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+Title: Memoiren einer Sozialistin
+ Kampfjahre
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+Author: Lily Braun
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+Release Date: July 15, 2005 [EBook #16302]
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+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MEMOIREN EINER SOZIALISTIN ***
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+Produced by richyfourtytwo and the Online Distributed
+Proofreading Team at https://www.pgdp.net
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+<h1>Memoiren einer Sozialistin</h1><p><a name="Page_-1" id="Page_-1"></a></p>
+
+<h2>Kampfjahre</h2>
+
+
+<h2>Roman</h2>
+
+<h2>von</h2>
+
+<h2>Lily Braun</h2>
+
+<h2>Albert Langen, M&uuml;nchen</h2>
+
+<h2>1911</h2><p><a name="Page_0" id="Page_0"></a></p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_1" id="Page_1"></a></p>
+<h2><a name="Erstes_Kapitel" id="Erstes_Kapitel"></a>Erstes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Eine gewitterschw&uuml;le Juninacht. In der Kabine
+unten hatte ich es nicht ausgehalten. Die eingeschlossene
+Luft legte sich zentnerschwer auf
+Kopf und Brust, und das melancholisch eint&ouml;nige Anschlagen
+der Wellen an die Fenster pre&szlig;te mir das Herz
+zusammen, als ob das Ungl&uuml;ck selbst es in seinen harten
+H&auml;nden hielte.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin seefest,&laquo; hatte ich der warnenden Stewarde&szlig;
+zugerufen, als ich die schwankende Treppe hinaufgestiegen
+war. Zwei-, dreimal atmete ich auf, tief
+und schwer, wie nach &uuml;berstandener Anstrengung, ehe ich
+mich in den Korbstuhl fallen lie&szlig;. Am Himmel jagte,
+vom Wind gepeitscht, ein schwarzes Wolkenheer. Dunkel
+und drohend rollten die Wellen dem Schiff entgegen.
+Kein Mondstrahl spiegelte sich in ihnen, kein Stern
+erleuchtete das finstere Firmament. Langsam verschwanden
+am Horizont die K&uuml;ste von Holland und mit ihr die
+letzten freundlichen Lichter.</p>
+
+<p>Ich war allein &mdash; ganz allein. Ich sammelte meine
+Gedanken, die das Fieber der letzten Tage durcheinandergewirbelt
+hatte wie der Sturm die Schaumperlen auf
+dem Wasser. War das Geb&auml;ude meines neuen Lebens,
+das ich mir droben auf den Bergen mit eigenen H&auml;nden
+stolz und selbstsicher errichtet hatte, nichts als ein Kartenhaus<a name="Page_2" id="Page_2"></a>
+gewesen, das ein Sto&szlig; mit der Hand umzuwerfen
+vermochte? Ich griff suchend in die Tasche meines
+Mantels, es war kein Traum, sondern grausame Wirklichkeit:
+meiner Mutter Brief knisterte noch darin. Ich
+konnte ihn auswendig. Schon auf der Fahrt von Grainau
+nach Berlin hatte ich ihn gewi&szlig; zehnmal gelesen.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist mir, Gott sei Dank, m&ouml;glich gewesen, Deinen
+Brief ohne Wissen Deines Vaters in die Hand zu bekommen,&laquo;
+hie&szlig; es darin, &raquo;und ich schreibe Dir in
+gr&ouml;&szlig;ter Hast, Gott anflehend, da&szlig; es meinen Worten
+gelingen m&ouml;chte, das Schrecklichste von uns allen abzuwenden.
+Was ich immer schon f&uuml;rchtete, als ich mit
+anh&ouml;ren mu&szlig;te, wie Dein verstorbener Mann und Du
+unseren Herrn und Heiland verleugnetet, und in Euren
+&#8250;Ethischen Bl&auml;ttern&#8249; las, wie Ihr immer wieder f&uuml;r die
+Umsturzpartei eintratet, das ist jetzt geschehen. Der
+Samen, den Georg in Deine Seele streute, ist aufgegangen:
+k&uuml;hl und gesch&auml;ftsm&auml;&szlig;ig, als handle es sich
+um den Plan eines Spaziergangs, teilst Du uns mit,
+da&szlig; Du Deine Redaktionsstellungen aufgegeben hast, um
+Dich ganz und gar der Sozialdemokratie in die Arme
+zu werfen. Deine gro&szlig;e Verirrung, Dein Unglaube
+haben Dich, wie es scheint, f&uuml;r alles, was Pflicht, Gehorsam,
+Liebe und R&uuml;cksicht hei&szlig;t, blind und taub gemacht,
+sonst m&uuml;&szlig;test Du wissen, da&szlig; Du mit einem
+solchen Schritt Deinem ganzen bisherigen Verhalten
+Deinen Eltern, Deiner Familie gegen&uuml;ber die Krone
+aufsetzest. Dieser Partei, die alles besudelt und mit
+F&uuml;&szlig;en tritt, was uns heilig ist: Gott und Christentum,
+Familie, Ehe, Monarchie und Milit&auml;r, sollen wir unser<a name="Page_3" id="Page_3"></a>
+Kind &uuml;berlassen? Es w&auml;re in dem Augenblick f&uuml;r uns
+gestorben! Aber freilich, das ist Dir einerlei, Du wirfst
+leichten Herzens alles &uuml;ber Bord, was Deinem Eigensinn,
+Deinem Ehrgeiz, Deiner Eitelkeit hindernd in den
+Weg tritt. Wenn Du aber damit Deinen armen Vater
+mordest &mdash; von mir will ich gar nicht reden, eine
+Mutter scheint dazu da zu sein, da&szlig; die Kinder sie mit
+F&uuml;&szlig;en treten&nbsp;&mdash;, wirst Du auch dann noch Deiner Selbstherrlichkeit
+froh werden k&ouml;nnen?! Du wei&szlig;t, da&szlig; es ihm
+in letzter Zeit gar nicht gut geht. Vor ein paar Tagen
+fiel er vom Pferd; er sagt, er sei gest&uuml;rzt, Bruder
+Walter aber, der dabei war, ist &uuml;berzeugt, da&szlig; es ein
+leichter Schlaganfall gewesen ist. Die kleine Braune,
+deren Ruhe du kennst, machte keinerlei Bewegung, er
+glitt eben einfach aus dem Sattel. Seitdem leidet er
+an Schwindel und Kopfschmerz und ist schwerer zu behandeln
+denn je. Jede Aufregung kann einen neuen
+Anfall hervorrufen, der ihn t&ouml;tet. Ich wollte nur, ich
+k&ouml;nnte dann mit ihm sterben, ehe ich so etwas mit Dir
+erleben m&uuml;&szlig;te ...!&laquo;</p>
+
+<p>Als ich diesen Brief erhalten hatte, waren meine
+Austrittserkl&auml;rungen aus den Redaktionen der &raquo;Ethischen
+Bl&auml;tter&laquo; und der &raquo;Frauenfrage&laquo; schon versandt worden.
+Kaum in Berlin angekommen, fand ich die Mitteilung
+davon in der Presse und die n&ouml;tigen Kommentare dazu:
+&raquo;Frau von Glyzcinski hat den l&auml;ngst erwarteten Schritt
+getan, und die Sozialdemokratie kann sich ob dieser
+ebenso interessanten wie pikanten Aquisition ins F&auml;ustchen
+lachen&laquo; ... so und &auml;hnlich lauteten sie.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen in aller Fr&uuml;he war meine
+Schwester bla&szlig; und ver&auml;ngstigt zu mir gelaufen:</p>
+<p><a name="Page_4" id="Page_4"></a></p>
+<p>&raquo;Wir sind mit dem Arzt im Komplott,&laquo; hatte sie mit
+stockender Stimme gesagt, w&auml;hrend die Tr&auml;nen ihr unaufhaltsam
+&uuml;ber die Wangen liefen, &raquo;er verbietet Papa,
+auszugehen. So liest er wenigstens im Kasino die Zeitungen
+nicht. Und die Post wird dem Briefboten an
+der Hintertreppe abgenommen ... Ach, Alix, &mdash; du
+wei&szlig;t nicht, wie gr&auml;&szlig;lich es zu Hause ist .. Ich mu&szlig;
+Papa immer was vormachen, damit er nichts merkt und
+Mama nicht zu sehr qu&auml;lt .. Am liebsten liefe ich
+selber davon ...&laquo;</p>
+
+<p>Zu Tisch war ich dann mit ihr zu den Eltern gegangen.</p>
+
+<p>Meines Vaters Anblick hatte mich ersch&uuml;ttert.</p>
+
+<p>&raquo;Kommst du wirklich noch zu einer halben Leiche?!&laquo;
+hatte er bitter lachend gesagt. &raquo;Ihr k&ouml;nnt's ja wohl
+gar nicht erwarten, da&szlig; eine ganze draus wird. Herr
+Gott, &mdash; wie h&uuml;bsch k&ouml;nntet ihr dann eurem Vergn&uuml;gen
+leben!&laquo;</p>
+
+<p>Mama begleitete mich nach Hause: &raquo;Habe den Mut,
+ihm deinen Entschlu&szlig; ins Gesicht zu sagen! &mdash; So einen
+Brief schreiben und alle Folgen auf Mutter und
+Schwester abw&auml;lzen, &mdash; das ist freilich eine Heldentat,
+die dir &auml;hnlich steht!&laquo;</p>
+
+<p>Abends war Frau Vanselow noch gekommen, &mdash; tief
+bek&uuml;mmert. &raquo;Ich verstehe Ihren Entschlu&szlig;, &mdash; wenn
+ich so jung w&auml;re wie Sie, ich t&auml;te dasselbe&nbsp;&mdash;, aber
+das hindert mich nicht, ihn schmerzlich zu bedauern.
+Unsere &#8250;Frauenfrage&#8249; ist nichts ohne Sie. Und darum
+bitte ich Sie recht herzlich: wenn ich schon die Mitredakteurin
+verlieren soll, so doch wenigstens nicht die
+Mitarbeiterin. Mehr als je k&ouml;nnen Sie jetzt f&uuml;r die<a name="Page_5" id="Page_5"></a>
+Einheit der ganzen Frauenbewegung wirken.&laquo; Und
+dann hatte sie mir die Einladung zum Internationalen
+Frauenkongre&szlig; nach London vorgelesen, die auf unser
+beider Namen lautete. &raquo;Wie viel k&ouml;nnten gerade Sie,
+meine liebe, junge Freundin, dort lernen und leisten &mdash; England,
+das klassische Land der Frauenemanzipation&nbsp;...!&laquo;</p>
+
+<p>In der Nacht k&auml;mpfte ich einen schweren Kampf.
+Meine &Uuml;berzeugungen, meine Zukunftstr&auml;ume, meine
+Hoffnungen standen alle bis an die Z&auml;hne gewappnet
+auf wider mich.</p>
+
+<p>Sehr langsam, sehr m&uuml;de schlich ich am Tage darauf
+zu den Eltern. Noch nie war mir der Flur, in
+dem auch heute, an einem strahlenden Fr&uuml;hsommertage,
+das kleine L&auml;mpchen brannte, so eng, so dunkel vorgekommen
+und die Zimmer mit ihren schweren Vorh&auml;ngen
+so kalt.</p>
+
+<p>Rasch, wie ein Schulm&auml;dchen, das den eingelernten
+Vers herunterhaspelt, um nur nicht stecken zu bleiben,
+erz&auml;hlte ich von der Einladung nach England.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn ihr nichts dagegen habt, m&ouml;chte ich mit Frau
+Vanselow hin&uuml;berreisen. Ich kann dabei viel gewinnen.
+Die englische Frauenbewegung ist uns weit
+voraus, die ganze soziale Hilfst&auml;tigkeit ist gl&auml;nzend organisiert, &mdash; ich
+werde mir f&uuml;r meine eigene Arbeit
+ein Muster nehmen k&ouml;nnen. In schlechte Gesellschaft
+komme ich auch nicht,&laquo; hatte ich mit erzwungenem
+L&auml;cheln hinzugef&uuml;gt, &raquo;denn Gr&auml;finnen und Herzoginnen
+sind unsere Gastgeber&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Mama verstand. Sie strahlte. Klein-Ilschen, die
+sich bei meiner Ankunft versch&uuml;chtert in eine Ecke ge<a name="Page_6" id="Page_6"></a>fl&uuml;chtet
+hatte, sprang auf und wirbelte lustig im Zimmer
+umher, der Vater schien f&ouml;rmlich elektrisiert von all den
+Aussichten, die sich mir boten. Er studierte das Kursbuch,
+das Konversationslexikon und schickte die Minna
+zum n&auml;chsten Buchh&auml;ndler, um den neuesten B&auml;decker
+von London zu holen.</p>
+
+<p>Immer wieder griff er verstohlen nach meinen H&auml;nden
+und streichelte sie so sanft, so leise, da&szlig; ich den Kampf
+der Nacht verga&szlig; und nichts f&uuml;hlte als seine Liebe.</p>
+
+<p>Die Reisevorbereitungen, der Abschied, &mdash; der Vater
+hatte sich's nicht nehmen lassen, mich fr&uuml;hmorgens zur
+Bahn zu bringen und mir, wie ein feuriger Liebhaber,
+einen Strau&szlig; bl&uuml;hender Rosen in die Hand zu dr&uuml;cken, &mdash; die
+Eisenbahnfahrt in Begleitung von Frau Vanselow
+und Frau Schwabach, die unaufh&ouml;rlich von ihrer
+Vereinsarbeit sprachen, hatten mich bis zu diesem Augenblick
+nicht zu Atem kommen lassen.</p>
+
+<p>Ach, und warum schlief ich nicht jetzt, statt heraufzubeschw&ouml;ren,
+was vergangen war, und in schmerzhafter
+Sehnsucht an den zu denken, den ich nicht erwecken
+konnte? Ich sah die Nacht um mich her und
+die gro&szlig;e Einsamkeit &mdash; war Georg nicht erst jetzt f&uuml;r
+mich gestorben? Mich fr&ouml;stelte; feucht und kalt klebten
+mir die Kleider am Leibe.</p>
+
+<p>&raquo;Ich will schlafen gehen,&laquo; murmelte ich&nbsp;... und die
+Augen fielen mir zu&nbsp;.....</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_7" id="Page_7"></a></p>
+
+<p>Im Morgengrauen lag die K&uuml;ste Englands vor
+mir, unfreundlich und n&uuml;chtern. Mit jener unwirschen
+R&uuml;cksichtslosigkeit aller Unausgeschlafenen
+hasteten und stie&szlig;en sich die Schiffspassagiere. Ich
+lie&szlig; mich schieben, &mdash; es war ja alles so schrecklich
+gleichg&uuml;ltig.</p>
+
+<p>&raquo;Frau von Glyzcinski?!&laquo; &mdash; &Uuml;berrascht sah ich auf.
+&raquo;Mister Stratford?&laquo; &mdash; Der rotblonde H&uuml;ne, der
+mich eben begr&uuml;&szlig;t hatte, nickte erfreut. Wie einen
+Gru&szlig; von Georg, so empfand ich seinen H&auml;ndedruck;
+er war sein bester Freund gewesen, seine Schriften,
+seine Briefe hatten ihn mir wie ein Echo Georgs erscheinen
+lassen. Und mit leisem L&auml;cheln mu&szlig;te ich der
+Stunde gedenken, in der mir der Verstorbene gestanden
+hatte, da&szlig; er zwischen uns den Heiratsvermittler habe
+spielen wollen, ehe er daran zu denken wagte, ich
+k&ouml;nne ihn &mdash; den armen Gel&auml;hmten &mdash; jedem anderen
+vorziehen.</p>
+
+<p>Stratford war &uuml;berzeugter Sozialist, wie Georg, nur
+da&szlig; er noch mit aller Energie an dem Standpunkt
+der Ethischen Gesellschaft festhielt: sich offiziell keiner
+Partei anzuschlie&szlig;en. Wir gerieten w&auml;hrend der Eisenbahnfahrt
+nach London in eine eifrige Debatte.</p>
+
+<p>&raquo;Grade Menschen wie wir k&ouml;nnen f&uuml;r die Verbreitung
+der Ideen des Sozialismus au&szlig;erhalb der politischen
+Organisation weit mehr und nachhaltiger wirken, als
+wenn wir ihre eingetriebenen Mitglieder w&auml;ren,&laquo; sagte
+er. &raquo;Wir verzetteln und verzehren unsere Kr&auml;fte nicht
+im Kleinkram des Parteilebens, wir finden Geh&ouml;r, wo
+wir sonst von vornherein auf Mi&szlig;trauen sto&szlig;en w&uuml;rden.&laquo;</p>
+<p><a name="Page_8" id="Page_8"></a></p>
+<p>&raquo;Und Sie als Ethiker k&ouml;nnen es verteidigen, da&szlig; wir
+mit geschlossenem Visier k&auml;mpfen und unsere &Uuml;berzeugungen
+durch Hintert&uuml;ren in die H&auml;user tragen?&laquo;
+rief ich. &raquo;Ich komme mir dabei vor wie ein Feigling
+und ein Betr&uuml;ger!&laquo;</p>
+
+<p>Er lenkte ein: &raquo;Sie m&ouml;gen in Deutschland, wo der
+ganze Sozialismus sich in der Partei konzentriert, zu
+dieser Empfindung ein Recht haben, bei uns gibt es
+nichts, das der deutschen Sozialdemokratie auch nur ann&auml;hernd
+&auml;hnlich w&auml;re. Wir sind viel zu individualistisch,
+um uns herdenweise zusammenscharen zu lassen; Sie
+werden daher unseren Sozialismus und seine Ausbreitung
+nicht nach dem Dutzend kleiner Vereine beurteilen m&uuml;ssen,
+sondern nach den Scharen freier Sozialisten, die in allen
+Gesellschaftsschichten zu finden sind.&laquo;</p>
+
+<p>Meine Unwissenheit in bezug auf englische Verh&auml;ltnisse
+fiel mir pl&ouml;tzlich schwer aufs Gewissen. Ich lie&szlig;
+meinen Begleiter erz&auml;hlen, der sich, wie es schien, gern
+reden h&ouml;rte, und warf nur hie und da eine Frage dazwischen,
+um seinen Redeflu&szlig; auf die von mir gew&uuml;nschten
+Bahnen zu lenken. Ein Kaleidoskop bunter Bilder
+reihte sich vor mir auf: von der Ethischen Gesellschaft
+an, deren Sprecher er war, bis zu den politischen
+K&auml;mpfen zwischen der konservativ-unionistischen Koalition
+gegen das liberale Ministerium Rosebery-Harcourt.
+Ich war ganz benommen, als wir uns London n&auml;herten.</p>
+
+<p>Einzelne H&auml;user tauchten auf, grau, n&uuml;chtern, mit
+tr&uuml;ben Fensterscheiben und d&uuml;nnen schwarzen Schornsteinen;
+sie schoben sich rechts und links zusammen, enger
+und enger, sie verdr&auml;ngten schlie&szlig;lich das letzte Streifchen
+gr&uuml;nen Rasens; schmal, feuchtgl&auml;nzend wie Riesen<a name="Page_9" id="Page_9"></a>w&uuml;rmer,
+wanden sich unten die Stra&szlig;en zwischen den
+Mauern. Ein schmutzig-grauer Nebel umh&uuml;llte alles,
+nicht wie ein Schleier, der phantastische Vorstellungen
+von dahinter verborgener Sch&ouml;nheit zu wecken vermag, &mdash; wie
+ein nasses Tuch vielmehr, das die H&auml;&szlig;lichkeit
+der Formen betont und jede Farbe verwischt, die sie
+mildern k&ouml;nnte. In der Bahnhofshalle brannten die
+Bogenlampen, sie wirkten wie flackernde &Ouml;ll&auml;mpchen im
+Dunkel eines Kohlenbergwerks. Wir fuhren durch die
+Stadt: leichte Wagen und schwerf&auml;llige Omnibusse, Reiter
+und Radler schoben und dr&auml;ngten sich hin und her, kein
+Fu&szlig;breit Weges blieb frei zwischen ihnen. Auf den
+B&uuml;rgersteigen daneben hasteten die Fu&szlig;g&auml;nger; gleichg&uuml;ltig,
+nur auf das eigene Vorw&auml;rtskommen bedacht,
+ohne einen Blick nach rechts und links. Selbst die
+Kinder liefen ernsthaft, gradausschauend weiter. Da
+war keiner, der Zeit hatte&nbsp;&mdash;, unsichtbar schienen in der
+Menge die Fronv&ouml;gte der grausamen Herrin Arbeit ihre
+Gei&szlig;eln zu schwingen.</p>
+
+<p>Hier sollte ich Frieden finden und eine sichere Richtschnur
+f&uuml;r das kommende Leben?!</p>
+
+<p>&raquo;Westminster! &mdash; das Parlament,&laquo; h&ouml;rte ich meinen
+Begleiter sagen. Ich blickte auf. An einem Palast mit
+gotischen T&uuml;rmen und Fenstern fuhr der Wagen langsam
+vorbei. In vornehmer Abgeschlossenheit, hinter
+hohen Gittern lag er gestreckt am breit dahinflutenden
+Strom. Sch&uuml;chterne Sonnenstrahlen brachen durch den
+Nebel, leuchteten durch das feine gotische Ma&szlig;werk,
+blitzten auf den Turmkn&auml;ufen, sprangen hin&uuml;ber zu der
+altehrw&uuml;rdigen Kirche und lie&szlig;en ihre bunten Fenster
+aufgl&uuml;hen, als st&uuml;nde sie im Feuer.</p>
+
+<p><a name="Page_10" id="Page_10"></a>Ein schmaler Weg am Ufer der Themse, hinter dem
+Parlament, einfach und still wie eine Dorfstra&szlig;e, nahm
+uns auf. Wir waren am Ziel.</p>
+
+<p>Meine Wirte, zwei alte Leute, hatten fast ihr ganzes
+Haus den Besuchern des Frauenkongresses zur Verf&uuml;gung
+gestellt. Sie empfingen mich so herzlich, als
+w&auml;ren wir alte Freunde. Man versammelte sich grade
+zum Fr&uuml;hst&uuml;ck. Warum waren die Leute nur alle so
+feierlich? Selbst Stratford legte das Gesicht in w&uuml;rdevolle
+Falten, &mdash; f&uuml;nf himmelblau gekleidete Dienstm&auml;dchen
+traten ein, &mdash; ein Harmonium ert&ouml;nte, &mdash; helle
+Stimmen sangen einen Choral. Dann las der Hausherr
+mit dem Tonfall katholischer Priester einen Bibelabschnitt, &mdash; ein
+Gebet folgte. Alles kniete nieder, den
+Kopf in den H&auml;nden vergraben, &mdash; auch Stratford,
+Georgs Freund, der Atheist. Ich f&uuml;hlte, wie ich rot
+wurde vor innerem Zorn; ich allein blieb stehen.</p>
+
+<p>&raquo;Wie k&ouml;nnen Sie nur?!&laquo; frug ich ihn emp&ouml;rt, als
+er sich verabschiedete.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist ja nur eine Form!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Durch all unsere R&uuml;cksicht auf die Form helfen wir
+die Sache erhalten!&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Am Abend wurde der Kongre&szlig; durch einen feierlichen
+Empfang der ausl&auml;ndischen Delegierten
+er&ouml;ffnet. Eine Schar wei&szlig;gekleideter M&auml;dchen,
+mit breiten Sch&auml;rpen in den Landesfarben &uuml;ber der
+Brust, bildete Spalier auf der Treppe von Queenshall;
+in ein Meer von Licht war der Riesenraum getaucht,
+und alle Blumen des Sommers leuchteten und dufteten
+<a name="Page_11" id="Page_11"></a>rings umher. In gro&szlig;er Toilette erschienen die Delegiertinnen,
+bei jeder Eintretenden ging ihr Name fl&uuml;sternd
+von Mund zu Mund. Und wie sie bekannt waren, so
+kannten sie sich untereinander und begr&uuml;&szlig;ten sich wie
+alte Kriegskameraden. Ich kam allein in meinem schwarzen
+Trauerkleid, &uuml;ber das der Witwenschleier schwer herunterfiel.
+Es war ein leerer Raum um mich, als ob meine
+dunkle Erscheinung alles Bunte, Helle von sich stie&szlig;e.
+Mich kannte niemand. Ein scheu-verwundertes &raquo;Wer
+ist das?&laquo; schlug an mein Ohr.</p>
+
+<p>Auf der Estrade versammelten sich die Delegiertinnen,
+und jede von ihnen begr&uuml;&szlig;te im Namen ihres Heimatlandes
+die wogende Menschenmasse unter uns. Da
+waren sie alle, die alten Vork&auml;mpferinnen, die Frauen
+Amerikas und Australiens, die ihrem Geschlecht die H&ouml;rs&auml;le
+der Universit&auml;ten und die Pforten zum Parlament
+er&ouml;ffnet hatten. Ein neuer Weibestypus: statt der
+weichen Madonnengesichter, die die Stille und Enge
+h&auml;uslichen Lebens formt, schmale, scharf geschnittene
+Z&uuml;ge, wie sie die Welt ihren B&uuml;rgern mei&szlig;elt; statt
+des treuen, warmen Blicks, der &uuml;ber Kinderstube und
+K&uuml;chengarten nicht hinauszuschauen braucht, die wissenden,
+ernsten, leidenschaftdurchfunkelten Augen jener,
+denen des Lebens dunkle Abgr&uuml;nde sich offenbaren.
+Neben ihnen, den Siegerinnen, standen die noch immer
+Besiegten: die dunkel&auml;ugige T&uuml;rkin im schimmernden
+M&auml;rchengewande der Scheherezade, die Abgesandte Indiens,
+den schlanken braunen Leib in weiche Schleier
+geh&uuml;llt. Stolz erz&auml;hlten die einen von ihren Triumphen,
+klagend die anderen von ihren Leiden, &mdash; Triumphen auf
+dem Gebiete des wissenschaftlichen, des sozialen, des
+<a name="Page_12" id="Page_12"></a>politischen Lebens, &mdash; Leiden, hervorgerufen durch sexuelle,
+soziale und rechtliche Unterdr&uuml;ckung, als ob Befreiung
+und Not ihres Geschlechtes damit ersch&ouml;pft w&auml;ren.
+Immer heftiger schlug mir das Herz: ich sah wie im
+Traum vor den T&uuml;ren dieses gl&auml;nzenden Saales Scharen
+blasser Frauen im farblosen Kleide der Arbeit, wie Werkst&auml;tten
+und Fabriken sie allabendlich zu Tausenden in
+ihr elendes Heim entlassen. Und als mein Name gerufen
+wurde, und die wei&szlig;e brillantengeschm&uuml;ckte Hand
+der Pr&auml;sidentin sich mit einer leise bevormundenden Bewegung
+auf meine Schultern legte, w&auml;hrend sie von
+Deutschlands rechtlosen Frauen, von meinem ersten Auftreten
+f&uuml;r ihre politische Gleichstellung sprach, da wu&szlig;te
+ich, was ich zu sagen hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Die Millionen Frauen, die unsere Hemden weben
+und unsere Kleider n&auml;hen, haben mich nicht delegiert,
+aber ich f&uuml;hle mich als ihre Abgesandte und nur als
+die ihre.&laquo;</p>
+
+<p>Sekundenlanger Beifall unterbrach mich, &mdash; galt er
+nicht mehr meinem gebrochenen Englisch und meiner
+Trauerkleidung als meinen Worten? Mit einem Blick
+voll Geringsch&auml;tzung streifte ich die elegante Zuh&ouml;rerschaft.
+Ich werde euch schon verstummen machen&nbsp;&mdash;, dachte
+ich.</p>
+
+<p>&raquo;Ihre Vorsitzende r&uuml;hmte mich als die erste deutsche
+Frau, die in &ouml;ffentlicher Versammlung das Stimmrecht
+f&uuml;r ihr Geschlecht gefordert habe. Ich mu&szlig; dieses
+Lob ablehnen. Seit Jahren tragen deutsche Arbeiterinnen
+von Ort zu Ort die Fahne der politischen
+Gleichberechtigung, und an der Spitze der Arbeiterpartei,
+der Sozialdemokratie, steht ein Mann, dem die<a name="Page_13" id="Page_13"></a>
+Frauen der ganzen Welt zu Dank verpflichtet sind: August
+Bebel.&laquo;</p>
+
+<p>Ich hielt unwillk&uuml;rlich inne, ich erwartete einen Tumult,
+statt dessen erhoben sich alle H&auml;nde zu einm&uuml;tigem
+Applaus, und selbst die Damen des Pr&auml;sidiums, unter
+denen sich die vornehmsten Frauen Englands befanden,
+l&auml;chelten mir freundlich zu.</p>
+
+<p>Am Ausgang des Saals trat mir eine starkknochige
+&auml;ltere Frau entgegen. In dem Druck ihrer harten, unbehandschuhten
+Hand erkannte ich die Arbeiterin. &raquo;Ich
+bin Sozialdemokratin,&laquo; sagte sie, &raquo;und m&ouml;chte Sie als
+Genossin begr&uuml;&szlig;en.&laquo; Auf dem Heimweg begleitete sie
+mich, und ich gab meiner Verwunderung und meiner Freude
+Ausdruck &uuml;ber das Erlebte. Sie lachte geringsch&auml;tzig.
+&raquo;Was wollen Sie?! Wir sind in England! Wenn ein
+Prinz Anarchist und eine Aristokratin Sozialistin ist, so
+gilt das als ganz besonders interessant. Passen Sie
+auf: man wird sich um Sie rei&szlig;en. F&uuml;r unsere Sache
+aber hat das gar keine Bedeutung.&laquo; Sie nannte mir
+ihren Namen &mdash; Amie Hicks &mdash; und ihre Wohnung,
+fern im &auml;u&szlig;ersten Norden Londons. &raquo;Besuchen Sie
+mich einmal; ich werde Sie in Arbeiterkreise f&uuml;hren.&laquo;</p>
+
+<p>Im Trubel der n&auml;chsten Zeit war daran nicht zu
+denken. Der Kongre&szlig; und seine Veranstaltungen nahmen
+mich ganz in Anspruch. Ich fehlte zwar oft; nicht nur,
+um den Morgen- und Abendandachten aus dem Wege
+zu gehen, mit denen die Sitzungen regelm&auml;&szlig;ig eingeleitet
+und geschlossen wurden, sondern auch, um Zeit zum
+Schreiben zu gewinnen.</p>
+
+<p>In Gedanken an meine zusammenschmelzende Barschaft
+stieg mir das Blut oft siedendhei&szlig; in die<a name="Page_14" id="Page_14"></a>
+Schl&auml;fen. Das sogenannte Gnadenquartal war mir als
+Witwe eines Universit&auml;tsprofessors freilich bewilligt
+worden, aber schon vom n&auml;chsten Monat ab hatte ich
+nichts Sicheres zu erwarten als meine kleine Pension
+von hundert Mark monatlich. Ich hatte kaum an den
+pekuni&auml;ren Ausfall gedacht, als ich meine Redaktionsstellungen
+aufgab. Nun hie&szlig; es: arbeiten, zusammenschreiben,
+was ich zum Leben n&ouml;tig hatte. Ich wu&szlig;te
+nicht einmal, wie viel das war. Ich hatte nie mit dem
+Pfennig gerechnet. Wie gut, da&szlig; mein Trauerkleid mir
+wenigstens ersparte, den Luxus der anderen mitzumachen.</p>
+
+<p>Mit Einladungen wurden wir &uuml;bersch&uuml;ttet: vom Lord-Major
+an, der uns mit dem ganzen Pomp seiner unnachahmlich
+w&uuml;rdevollen Stellung empfing, wetteiferte
+alles in schier grenzenloser Gastfreundschaft. Hinaus
+aufs Land f&uuml;hrten uns Extraz&uuml;ge, &mdash; jenes Land voll
+r&uuml;hrender, weicher Sch&ouml;nheit, mit seinen gr&uuml;nen, sanft
+geschwungenen H&uuml;geln, seinen dunklen Buchengruppen
+und stillen, rosenumsponnenen H&auml;usern. Fast unmerklich
+f&uuml;r Auge und Sinn geht die freie Natur in den
+Blumengarten, in den Schlo&szlig;park &uuml;ber, nicht wie bei
+uns, wo die ihr mit allen Mitteln m&uuml;hsam aufgezwungene
+Kultur oft so verletzend wirkt wie protziger
+Reichtum neben d&uuml;rrer Armut. Und in die H&auml;user Londons
+waren wir geladen, die, wie Menschen von alter Kultur,
+nach au&szlig;en die gleichf&ouml;rmige, oft langweilig wirkende
+Maske guter Erziehung tragen und erst dem Gast, dem
+sich die Pforten &ouml;ffnen, den ganzen inneren Reichtum
+individuellen Lebens zeigen. Berlin und die Berliner
+fielen mir dabei ein, wo Fassaden und Kleider, um
+Originalit&auml;t vorzut&auml;uschen, einander an Buntheit zu
+<a name="Page_15" id="Page_15"></a>&uuml;bertreffen suchen, w&auml;hrend im Inneren Tapeziergeschmack
+und Konvention uneingeschr&auml;nkt herrschen.</p>
+
+<p>In Wohlt&auml;tigkeits- und Bildungsanstalten aller Art
+wurden wir eingef&uuml;hrt, und wie in der Frauenbewegung,
+so imponierte mir hier die Einheitlichkeit ihrer Organisation,
+deren gewaltige R&auml;derwerke so selbstverst&auml;ndlich
+ineinander griffen wie die jener Dampfturbinen, bei
+deren Anblick wir nicht wissen, ob wir die praktische
+Kunst ihrer Sch&ouml;pfer oder die fremdartig-neue Sch&ouml;nheit
+ihres Baus mehr bewundern sollen.</p>
+
+<p>Der Kongre&szlig; selbst war eine Parade, wie fast alle Kongresse.
+Die Reden, die gehalten, die Berichte, die gegeben
+wurden, waren den Eingeweihten ihrem Inhalt
+nach aus B&uuml;chern und Brosch&uuml;ren bekannt. Der Austausch
+von Meinungen, der das wichtigste gewesen w&auml;re,
+wurde an zweite Stelle ger&uuml;ckt, er h&auml;tte die Ordnung
+und den Glanz der Heerschau am Ende tr&uuml;ben k&ouml;nnen.
+So w&auml;re als Gewinn allein die Ankn&uuml;pfung pers&ouml;nlicher
+Beziehungen &uuml;brig geblieben, aber auch er war bei
+n&auml;herem Zusehen f&uuml;r mich nur gering: diese Frauen
+hatten mir nichts Neues zu sagen. Ihr A und O, das
+Frauenstimmrecht, war f&uuml;r mich in dem Augenblick erledigt
+gewesen, als ich die Selbstverst&auml;ndlichkeit seiner
+Forderung erkannt hatte.</p>
+
+<p>Bei einer internen Sitzung der Delegationen wurde
+ich zur Pr&auml;sidentin f&uuml;r Frauenstimmrecht in Deutschland
+gew&auml;hlt. Meine ablehnende Haltung wurde unter allgemeinem
+Erstaunen als eine Aufgabe des Prinzips betrachtet.</p>
+
+<p>&raquo;Sie alle haben ihre ganze Kraft auf die L&ouml;sung
+dieser einen Frage konzentriert,&laquo; sagte ich in dem Ver<a name="Page_16" id="Page_16"></a>such,
+mich verst&auml;ndlich zu machen, &raquo;ich bewundere Sie,
+aber ich kann Ihnen nicht folgen. Das Frauenstimmrecht
+ist heute f&uuml;r mich nicht mehr das Ziel, f&uuml;r das
+ich mein Leben einsetze, es ist nur ein Ziel, nur eine
+Etappe ...&laquo;</p>
+
+<p>Man verstand mich nicht, von irgend einer Seite fiel
+sogar das scharfe Wort: &raquo;... unbrauchbar f&uuml;r praktische
+Arbeit.&laquo;</p>
+
+<p>Gleich nach der Schlu&szlig;sitzung des Kongresses wechselte
+ich mein Domizil. Freunde von Stratford &mdash; ein liberaler
+Parlamentarier und seine sch&ouml;ne elegante Frau &mdash; hatten
+mich in ihr Haus am Hydepark eingeladen.
+Alles trug dort den Anstrich ausgesuchtester Vornehmheit:
+vom Zeremoniell der Lebensweise, dem deutschen
+Hauslehrer und der franz&ouml;sischen Gouvernante bis zu
+dem w&uuml;rdevollen, glattrasierten Bedienten und dem niedlichen
+Kammerm&auml;dchen. Hausherr und Hausfrau verstie&szlig;en
+mit keiner Miene und keiner Bewegung gegen
+die Regeln der guten Gesellschaft, und doch wurde ich
+den Eindruck nicht los, der uns gegen&uuml;ber guten Kopien
+gro&szlig;er Meisterwerke oft bef&auml;llt: wir erstaunen &uuml;ber die
+Technik und vermissen um so schmerzhafter den Geist.
+Da&szlig; Stratford sich hier heimisch f&uuml;hlte, mit allen Fibern
+die parf&uuml;mierte Luft dieser von tausend Nichtigkeiten
+&uuml;berladenen Salons einatmete, machte ihn mir noch
+fremder. Und als ich ihn in der Ethischen Gesellschaft
+reden h&ouml;rte inmitten einer Korona von lauter typischen
+Vertretern der Geldaristokratie, denen seine Sittenpredigten
+dieselbe angenehme Emotion boten wie die Moral
+der biblischen Geschichten den Frommen in der Kirche,
+da mu&szlig;te ich mir seine Briefe, seine Schriften ins Ge<a name="Page_17" id="Page_17"></a>d&auml;chtnis
+rufen, um noch Georgs Freund in ihm zu erkennen.</p>
+
+<p>Er ging den Weg, den ich nach dem Wunsche meiner
+Familie gehen sollte, &mdash; wie w&uuml;rde ich jemals imstande
+dazu sein?!</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind sehr ungerecht,&laquo; sagte er eines Tages, als
+ich ihm in meiner heftigen Art, die der Unruhe meines
+eigenen Innern entsprang, &uuml;ber seine T&auml;tigkeit als
+&raquo;Modeprediger&laquo; Vorw&uuml;rfe machte. &raquo;Sie kennen mich
+nur von der einen Seite.&laquo; Noch am selben Abend
+sollte ich die andere kennen lernen.</p>
+
+<p>An der Ecke von zwei engen Stra&szlig;en, beim Scheine
+einer tr&uuml;be flackernden Laterne sprach er &uuml;ber die
+Ethik des Sozialismus. Zuerst blieben nur ein paar
+neugierige Bummler stehen, aber je st&auml;rker seine
+Stimme von den Mauern widerhallte, desto mehr
+Menschen sammelten sich um ihn. M&uuml;de, zerlumpte
+Gestalten krochen wie Nachtgespenster aus den Kellern
+hervor, Hoft&uuml;ren &ouml;ffneten sich, und umwogt von einer
+Wolke ekler Ger&uuml;che erschienen Frauen mit zerw&uuml;hlten
+Z&uuml;gen, halbw&uuml;chsige M&auml;dchen, deren freches Grinsen
+allm&auml;hlich zuckendem Schluchzen wich. Mit w&uuml;stem Geschrei
+stie&szlig;en sich trunkene Burschen aus der n&auml;chsten
+Kneipe heraus, und nach und nach entz&uuml;ndeten sich
+Lichter des Verstehens in ihren eben noch bl&ouml;d glotzenden
+Augen. Die Stra&szlig;e wurde schwarz vor Menschen.
+Stratford sprach mit steigender Begeisterung. Um seinen
+roten Bart tanzten die Lichter der Laternen, seine Augen
+strahlten vom eigenen Feuer. Ich h&ouml;rte kaum, was er
+sagte, ich sah nur die Wirkung seiner Worte. Aus den
+vertiertesten Gesichtern brach ein Schein von Menschen<a name="Page_18" id="Page_18"></a>tum
+hervor, ein froher Zug von Hoffnung verwischte
+tiefe Kummerfalten.</p>
+
+<p>Wir gingen schweigsam durch die Nacht nach Hause.
+Vor der T&uuml;re reichte ich ihm die Hand.</p>
+
+<p>&raquo;Ich w&uuml;rde Sie nach dem, was ich eben erlebte,
+um Verzeihung bitten, meiner Vorw&uuml;rfe wegen, wenn
+ich nicht grade dadurch w&uuml;&szlig;te, da&szlig; Sie doppelt schuldig
+sind. Ein Mann wie Sie geh&ouml;rt der Sache des Sozialismus,
+und keiner anderen ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vielleicht haben Sie recht,&laquo; antwortete er leise,
+&raquo;w&auml;ren nur nicht der Fesseln so viele, die uns an das
+andere Leben schmiedeten &mdash;&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wir werden sie beide zerbrechen m&uuml;ssen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Im Hause meiner Gastfreunde drehte sich das
+Interesse fast ausschlie&szlig;lich um Fragen der
+Politik. Was f&uuml;r andere Frauen der Gesellschaft
+der Flirt, die Kunst, die Toilette, das Theater
+war: Reizmittel f&uuml;r ihr Nervensystem, &mdash; das war die
+Politik f&uuml;r Mrs. Dew. Fast t&auml;glich war ich mit ihr
+im Parlament; sei es, da&szlig; wir den Kommissionsberatungen
+des neuen Fabrikgesetzes beiwohnten &mdash; das
+Publikum hatte ohne weiteres Zutritt &mdash; oder in den
+Wandelg&auml;ngen und auf der Themseterrasse zwischen Tee
+und Eis mit den Abgeordneten debattierten. Seltsam:
+man nahm uns ernst; vergebens erwartete ich auf den
+Z&uuml;gen der M&auml;nner jenes g&ouml;nnerhaft mitleidige L&auml;cheln,
+mit dem meine Landsleute die politisierende Frau zu
+betrachten pflegten. Eine gewisse Zur&uuml;ckhaltung mir
+gegen&uuml;ber entsprang weniger der Tatsache, da&szlig; ich ein<a name="Page_19" id="Page_19"></a>
+Weib, als da&szlig; ich eine Deutsche war, die offenbar nur
+im Bilde der &raquo;guten Hausfrau&laquo; im Bewu&szlig;tsein der
+Engl&auml;nder lebte.</p>
+
+<p>Schon war es gewitterschw&uuml;l in den feierlich-hohen
+Hallen des Parlaments, bei jeder Gelegenheit drohte ein
+Wetterstrahl die Regierung zu st&uuml;rzen, und die von
+Elektrizit&auml;t geladene Luft drang bis hinter die engen
+Gitterst&auml;be der Damengalerie. Unruhiger als sonst
+raschelten die seidenen Kleider, unterdr&uuml;ckte Erregung
+durchzitterte die Fl&uuml;stergespr&auml;che. Man achtete kaum
+der Redner im Saal, man erwartete nur die Katastrophe.
+Da pl&ouml;tzlich klang eine Stimme von unten empor, rollend
+wie ferner Donner, &mdash; dann wieder tief und schwer wie
+der Ton riesiger alter Kirchenglocken, &mdash; die Damen verstummten, &mdash; dr&auml;ngten
+sich enger an das Gitter, &mdash; und
+aus ihrer bequemen Stellung auf den weichen Polstersitzen
+reckten sich die Abgeordneten auf. Ich h&ouml;rte nur
+die Stimme, den Redner sah ich nicht, aber ich empfand
+ihn als einen, der zum Herrschen bestimmt war. &raquo;Wer
+ist das?&laquo; &mdash; &raquo;John Burns!&laquo; &mdash; John Burns &mdash; der
+Verr&auml;ter?! So war er in der deutschen sozialistischen
+Presse von dem Augenblick an bezeichnet worden, wo er
+sich grollend von der englischen Partei losgesagt hatte.
+Noch am selben Abend stellte Mr. Dew ihn mir vor.
+Ich war zuerst entt&auml;uscht: Alles &uuml;berragend hatte ich
+den Tr&auml;ger dieser Stimme mir gedacht, nun trug er
+auf dem untersetzten kr&auml;ftigen K&ouml;rper nur den Kopf
+eines Riesen: Dunkle Haare erhoben sich widerspenstig
+&uuml;ber der breiten, scharf durchfurchten Stirn; hinter
+buschigen Brauen gl&auml;nzte ein Augenpaar, das in
+seiner m&auml;chtigen F&auml;rbung und fieberhaften Lebendig<a name="Page_20" id="Page_20"></a>keit
+der Herkunft aus diesem hell&auml;ugigen Volke Hohn
+sprach.</p>
+
+<p>Er sch&uuml;ttelte mir kr&auml;ftig die Hand. Die seinige war
+breit und schwer, sie zeugte von dem Hammer, den sie
+gef&uuml;hrt hatte; &mdash; wie war es m&ouml;glich gewesen, da&szlig; ihr
+die rote Fahne entglitt, die sie einst an der Spitze des
+Heers der Arbeitslosen durch das entsetzte London getragen
+hatte? War dieser Mann nicht der geborene
+Sch&ouml;pfer und F&uuml;hrer einer gro&szlig;en, einigen sozialistischen
+Partei Englands? Ich unterdr&uuml;ckte keine der Fragen,
+die sich mir aufdr&auml;ngten.</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig;, da&szlig; die Sozialdemokraten, besonders die
+deutschen, mich f&uuml;r einen Verr&auml;ter halten,&laquo; sagte er,
+&raquo;aber sie verstehen die Situation nicht. In Deutschland
+w&uuml;rde ich nicht anders handeln als Bebel und
+Liebknecht, aber hier ...&laquo; mit einer raschen Bewegung
+schob er die Teetasse beiseite und zeichnete auf die wei&szlig;e
+Marmorplatte des Tischs einen Punkt mit einem gro&szlig;en
+Kreis rings herum. &raquo;Sehen Sie,&laquo; fuhr er fort, &raquo;dieser
+Punkt ist der Sozialismus, um den Kreis herum steht
+die deutsche Regierung, Ihr Milit&auml;r, Ihre Polizei, und
+diese treiben naturgem&auml;&szlig; alle freidenkenden Elemente
+dem Mittelpunkt zu, mit dem sie sich, infolge des
+&auml;u&szlig;eren Drucks, fest vereinigen. Bei uns besteht der
+Mittelpunkt, aber der Kreis fehlt, und so str&ouml;men die
+Strahlen dieser sozialistischen Sonne ungehindert nach
+allen Richtungen aus.&laquo; Ich l&auml;chelte ein wenig ungl&auml;ubig.
+&raquo;Ich werde Ihnen beweisen, was ich sage,&laquo;
+f&uuml;gte er rasch hinzu. &raquo;Sie kommen morgen mit mir&nbsp;&mdash;,&laquo;
+er lie&szlig; mir gar keine Zeit zu Einwendungen, sondern
+bestimmte Ort und Stunde f&uuml;r unsere Zusammenkunft.</p>
+
+<p><a name="Page_21" id="Page_21"></a>Von da an trafen wir uns oft, im Parlament wie
+im Londoner Grafschaftsrat. Ich sah erstaunt, mit
+welchem Respekt Mitglieder aller Parteien diesem Manne
+begegneten, der noch vor wenigen Jahren im unterirdischen
+London Gasleitungen gelegt hatte; aber noch
+mehr erstaunte ich &uuml;ber den freudigen Stolz, mit dem
+er mir st&auml;dtische Einrichtungen als &raquo;Strahlen der sozialistischen
+Sonne&laquo; erkl&auml;rte, in denen ich nichts anderes
+sehen konnte als b&uuml;rgerlich-soziale Reformen.</p>
+
+<p>&raquo;Der deutsche Marxismus hat Sie blind und taub
+gemacht,&laquo; sagte er eines Tages ungeduldig, als ich mich
+f&uuml;r die Kommunalisierung der Verkehrsmittel durchaus
+nicht begeistern konnte. &raquo;Lassen Sie sich von den Fabiern
+in die Schule nehmen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Den Fabiern?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Eine Gesellschaft von &#8250;Salonsozialisten&#8249;, w&uuml;rde man
+bei Ihnen in Deutschland sagen. T&uuml;chtige Leute darunter ...&laquo;</p>
+
+<p>Mit einem ihrer Begr&uuml;nder und Leiter, Sydney
+Webb, machte er mich im Teezimmer des Grafschaftsrats
+bekannt. Ich wu&szlig;te von seiner Frau, die als
+junges Ding ihr reiches Elternhaus verlassen hatte,
+um der Sache der Arbeiter zu dienen, und nun, gemeinsam
+mit ihrem Mann, durch Wort und Schrift
+f&uuml;r Genossenschaften und Gewerkschaften t&auml;tig war. Ich
+wu&szlig;te auch, da&szlig; sie der Frauenbewegung fern, ja ihren
+Forderungen sogar vielfach feindlich gegen&uuml;berstand. Gelesen
+hatte ich keines ihrer B&uuml;cher, nur mit einer gewissen
+Scheu ging ich darum zu ihr. Eine bl&uuml;hend
+sch&ouml;ne Frau fand ich, mit dem ganzen Reiz starken
+geistigen Lebens in den Z&uuml;gen und einer G&uuml;te und<a name="Page_22" id="Page_22"></a>
+Anmut des Wesens, der meine Steifheit nicht lange
+standhielt. Durch sie erfuhr ich von der Macht und
+Gr&ouml;&szlig;e der englischen Gewerkschaftsbewegung und fand
+den Weg in die H&auml;user jener Arbeiter, die sich durch
+die Kraft ihrer Organisation aus physischer und geistiger
+Versklavung befreit hatten. Wie ein St&uuml;ck verwirklichter
+Zukunftsstaat kam es mir vor, wenn ich sie
+drau&szlig;en, vor Londons Toren, in ihren G&auml;rten traf
+oder vor dem Kamin ihres Wohnzimmers oder am gut
+besetzten Tisch. Wahrhaftig: hier hatten die Strahlen
+der sozialistischen Sonne aus &ouml;dem Land neues Leben
+hervorgerufen.</p>
+
+<p>In den Versammlungen der Fabier, die ich von da
+an regelm&auml;&szlig;ig besuchte, wurden theoretische und praktische
+Fragen des Sozialismus von allen Seiten beleuchtet
+und er&ouml;rtert. Jene Scheu, zu sagen, was man
+denkt, die die Menschen &uuml;berall schwach und klein macht,
+wo religi&ouml;ser, sittlicher oder politischer Fanatismus die
+Wahrheit an sich zu besitzen vorgibt, schien hier verschwunden,
+und mir war, als fiele Licht auf den Weg,
+den ich zu gehen hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist nicht wahr, da&szlig; die Befreiung der Arbeiterklasse
+nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann, &mdash; es
+ist nicht wahr, da&szlig; der Klassenkampf das Grundelement
+der sozialistischen Bewegung ist, &mdash; es ist nicht
+wahr, da&szlig; die Entwicklung des Sozialismus mit der
+Sicherheit eines Naturgesetzes notwendig zur Expropriation
+der Expropriateure f&uuml;hren wird ...&laquo; Eine
+&uuml;berschlanke Gestalt stand auf der Rednertrib&uuml;ne, mit
+schmalem, gelblich blassem Gesicht, in das weiche blonde
+Haare wirr hineinfielen. &raquo;Es waren und sind die
+<a name="Page_23" id="Page_23"></a>revoltierenden S&ouml;hne der Bourgeoisie selbst &mdash; Lassalle,
+Marx, Liebknecht, Morris, Hyndman, Bax &mdash; alle, wie
+ich, Bourgeois mit Mischung von Kavaliersblut, die die
+rote Fahne entfalteten. Der Hunger der Armen treibt
+zur Revolte, der Geist allein zur Revolution ...&laquo;
+Wie Hochverrat an den grundlegenden Dogmen des
+Sozialismus klang mir, was dieser Mann hart und
+scharf in den Saal hinausschleuderte. Aber ein Ton
+blieb mir hartn&auml;ckig im Ohr und weckte etwas in mir,
+das stark und stolz war. In selbstentsagender Askese
+hatte ich mich, ein schlichter Soldat, als mein Lebensgl&uuml;ck
+zusammenbrach, in den Dienst der Partei stellen
+wollen. Kraft und Jugend kehrten mir wieder: sollte
+ich nicht f&auml;hig sein und berufen, dem Sozialismus den
+Urwald erobern zu helfen, den alle Giftpflanzen des
+Vorurteils und des Stumpfsinns noch &uuml;ppig durchwucherten?</p>
+
+<p>Ich suchte des Redners Bekanntschaft. Es war Bernard
+Shaw, der Theaterkritiker der Saturday Review,
+der Entdecker Ibsens und Richard Wagners nicht nur
+f&uuml;r England, sondern f&uuml;r den Sozialismus, der bissige
+Sp&ouml;tter, von dessen Witzen die englische Gesellschaft nie
+recht wu&szlig;te, ob sie &uuml;ber sie lachen, oder sich vor ihnen
+f&uuml;rchten sollte. Mich verlangte nach einer Erkl&auml;rung
+dessen, was er in lapidaren S&auml;tzen eben vor mich hingestellt
+hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Sie waren drau&szlig;en in Letshfield?&laquo; frug er mich
+statt aller Antwort. &raquo;Und haben die Bewohner in ihren
+Heimen gesehen? ... Nat&uuml;rlich auch bewundert?!&laquo;
+Ich nickte. &raquo;Und nicht bemerkt, wie drastisch solch eine
+Miniatur-Zufriedenheitsexistenz lehrt, da&szlig; der Arbeiter
+<a name="Page_24" id="Page_24"></a>in seiner Masse nichts mehr verlangt, als ein Bourgeois
+zu werden!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ist es nicht auch das w&uuml;nschenswerteste Ziel, ihn
+zun&auml;chst wenigstens satt zu machen?&laquo; warf ich ein.</p>
+
+<p>&raquo;Sicherlich, denn Armut ist ein Laster&nbsp;&mdash;, wenn nur
+die satt gewordenen nicht am raschesten derer vergessen
+w&uuml;rden, die noch immer hungern. Im Grunde sind die
+Arbeiter das konservativste Element im Staat, und wir
+Freigelassenen der Bourgeoisie sind dazu da, sie aufzur&uuml;tteln.&laquo;</p>
+
+<p>Der Kreis der Fabier war von nun an derjenige,
+der mich am meisten anzog, aber die politischen Ereignisse
+auf der einen, und jenes Gef&uuml;hl der Unfreiheit
+auf der anderen Seite, das mit der Annahme auch der
+weitherzigen Gastfreundschaft untrennbar verbunden ist,
+rissen mich wieder nach anderen Richtungen fort. Die
+Abstimmung &uuml;ber eine an sich unbedeutende Milit&auml;rfrage
+f&uuml;hrte zu einer Niederlage der Regierung und
+damit zum R&uuml;cktritt des Ministeriums. Eine Erregung,
+die sich vom Parlament aus mit Windeseile auf alle
+Stra&szlig;en fortpflanzte, die Gesichter der &uuml;berall in Gruppen
+Zusammenstehenden h&ouml;her f&auml;rbte und alle Augen blitzen
+lie&szlig;, bem&auml;chtigte sich der Londoner. Sie steigerte sich
+zur Fieberhitze an jenem Abend in Albert-Hall, wo sich
+die Menschenmassen vom Parterre dieses Riesenzirkus
+bis hoch unter die Kuppel zusammendr&auml;ngten und die
+gest&uuml;rzten Minister Rosebery und Harcourt in die vom
+Atem Tausender und der zitternden Glut des Julitages
+lebendigen Luft gegen die neue Regierung leidenschaftliche
+Anklagen erhoben. Selbst die Nachmittagstees
+des londoner Westens gestalteten sich zu Agitationsver<a name="Page_25" id="Page_25"></a>sammlungen.
+Die Leidenschaft des Hasardspielers schien
+alle ergriffen zu haben, und gespannt, als gelte es dem
+Einsatz der ganzen Existenz, hingen die Blicke an der
+rollenden Roulettekugel des Wahlkampfes.</p>
+
+<p>Eines Morgens atmete ich wie erl&ouml;st aus einem
+Banne auf, als ich nicht mehr in dem eleganten Zimmer
+von Princes Gardens erwachte, wo dichte gelbseidene
+Vorh&auml;nge mir stets die Sonne vorget&auml;uscht hatten und
+das blitzende Messinggestell meines Betts mich oft selbst
+unter der Daunendecke fr&ouml;steln machte. Hinter wei&szlig;en
+Mullgardinen sah ich jetzt gr&uuml;ne Zweige schaukeln, und
+in einem Bett aus warm get&ouml;nten hellem Holz hatte
+ich traumlos geschlafen. Es waren Deutsche von Geburt,
+Engl&auml;nder aus freier Wahl, die mich f&uuml;r die
+letzte Zeit meines londoner Aufenthaltes zu sich in ihr
+K&uuml;nstlerheim geladen hatten. Jedes M&ouml;belst&uuml;ck, jeder
+Teppich und jede Vase standen in den sch&ouml;nen lichten
+R&auml;umen des Hauses in feiner Harmonie zueinander,
+nur die Gem&auml;lde an den W&auml;nden schienen sie mi&szlig;t&ouml;nig
+zu zerst&ouml;ren, und in dem gro&szlig;en Atelier schrieen sie f&ouml;rmlich.
+Bilder des Elends waren es, des Hungers und
+der Verzweiflung, Bilder des Krieges, auf denen von
+Wunden grauenvoll Zerrissene die H&auml;nde krampfhaft
+gespreizt oder w&uuml;tend geballt gen Himmel streckten.
+Der Hausherr malte sie und nichts als sie, &mdash; ein milder,
+g&uuml;tiger Mann mit grauem Patriarchenbart und den
+Augen eines J&uuml;nglings. Wo immer das Leid der
+Kreatur zum Ausdruck kam, war sein Herz und sein
+Interesse, von der Friedensbewegung an bis zur Tierschutzbewegung.
+Er geh&ouml;rte zu den Menschen, die &uuml;berall
+im einzelnen helfen und wirken wollen, wie der un<a name="Page_26" id="Page_26"></a>gelernte
+G&auml;rtner, der da und dort einem armen Pfl&auml;nzlein
+durch k&uuml;nstliche Nahrung oder durch den st&uuml;tzenden
+Stab aufhelfen will, aber bei all seinem aufreibenden
+Eifer nicht steht, da&szlig; der ganze Boden schlecht ist. Sein
+wei&szlig;blondes zartes Frauchen l&auml;chelte oft ganz heimlich,
+wie eine kleine Mutter zu den Spielen ihres Kindes,
+die sie mit der Weisheit der Erwachsenen nicht st&ouml;ren will.</p>
+
+<p>Ihr Haus &uuml;bte eine magnetische Anziehungskraft auf
+Alles aus, was abseits der gro&szlig;en Heerstra&szlig;e ging.
+Shaw traf ich hier wieder als h&auml;ufigen Gast; Peter
+Krapotkin geh&ouml;rte zu den Intimen des Hauses, &mdash; der
+gro&szlig;e Revolution&auml;r, der doch ein Kind war: gut und
+vertrauensselig und voll phantastischer Tr&auml;ume wie ein
+solches. William Stead, dessen r&uuml;cksichtsloser Kampf
+gegen die sittliche F&auml;ulnis der londoner Gesellschaft ihm
+einen europ&auml;ischen Ruf verschafft hatte, begegnete mir
+hier zum erstenmal und zog mich in den Bannkreis
+seiner starken Pers&ouml;nlichkeit. Seine Augen, deren opalisierende
+Lichter wie durch geheimnisvoll dar&uuml;ber gebreitete
+Schleier schienen, &uuml;bten eine faszinierende Wirkung
+aus, und wenn er von seinem Verkehr mit den
+Geistern Abgeschiedener erz&auml;hlte, wenn er von den Kr&auml;ften
+der Seele sprach, die unerweckt auch in mir schlummern
+m&uuml;&szlig;ten, so bedurfte ich der ganzen N&uuml;chternheit meines
+Verstandes, der ganzen St&auml;rke meiner fanatisch materialistischen
+Weltanschauung, um mich seinem Einflu&szlig;
+zu entziehen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich will mich nicht mit Problemen besch&auml;ftigen, die
+mich von dem Problem ablenken k&ouml;nnten, dessen L&ouml;sung
+meine einzige Aufgabe ist: dem des Elends in der Welt ...&laquo;
+antwortete ich ihm eines Tages, als er mich mit Annie<a name="Page_27" id="Page_27"></a>
+Besant bekannt machen wollte, die sich eben vom Sozialismus
+abgewandt hatte und zur begeisterten Verk&uuml;nderin
+theosophischer Ideen geworden war. &raquo;M&ouml;gen andere
+heute, wo die Zeit dr&auml;ngt, es vor sich selbst verantworten,
+wenn sie ihren Tr&auml;umen nachh&auml;ngen...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie werden nie mehr tr&auml;umen?!&laquo; Mit einem Blick
+und einem L&auml;cheln begleitete Stead seine Frage, die
+mir das Blut in die Wangen trieben. Er nahm meine
+beiden H&auml;nde zwischen die seinen &mdash; H&auml;nde, die in ihrer
+Kraft und ihrer Weiche zum Sch&uuml;tzen wie zum Streicheln
+gleich geschaffen waren&nbsp;&mdash;, und seine Augen bohrten sich
+in meine Z&uuml;ge.</p>
+
+<p>&raquo;Ich liebe Ihre Tapferkeit und Ihre Klugheit, aber
+was mich Ihre Freundschaft suchen lie&szlig;, das ist Ihr
+unbewu&szlig;tes Ich, das sind Ihre Tr&auml;ume, die Sie
+vergessen, wenn Sie wachen, von denen mir aber noch
+Ihre Augen erz&auml;hlen, &mdash; das ist die tiefe Sehnsucht,
+die Ihr Wesen &uuml;ber sich selbst hinauszieht.&laquo;</p>
+
+<p>Ich fuhr an jenem Tage mit ihm hinaus nach Wimbledon,
+wo sich zwischen hohen Hecken und alten B&auml;umen
+sein kleines, stilles Haus versteckte. Und im verwilderten
+Garten unter dem schattenden Laubdach duftender
+Linden lag ich in der H&auml;ngematte und lie&szlig; mir von
+ihm die Kissen unter den Kopf schieben.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind m&uuml;de?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sehr!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ihr Leben ist Seelen-Selbstmord.&laquo;</p>
+
+<p>Seine Hand glitt sanft &uuml;ber meine Stirn. Viele
+bunte Schmetterlinge gaukelten &uuml;ber ein Meer gelber
+Blumen, und zwei Libellen tanzten &uuml;ber dem kleinen
+stillen Teich z&auml;rtlich miteinander. Vom Herzen aus
+<a name="Page_28" id="Page_28"></a>zuckte ein schneidendes Weh mir durch den K&ouml;rper, die
+Augen f&uuml;llten sich mit Tr&auml;nen. Was war es nur, das
+mich &uuml;berw&auml;ltigte?!</p>
+
+<p>&raquo;Wie Ihre Jugend um ihr Leben weint!&laquo; sagte leise
+der Mann neben mir. Meine Jugend?! Kaum wu&szlig;te
+ich noch, ob ich alt war oder jung. Ich stand wohl
+schon lange jenseits jeden Alters!</p>
+
+<p>Schweigsam fuhren wir beide nach London zur&uuml;ck.
+Ich f&uuml;hlte die Hand meines Begleiters auf der meinen &mdash; streichelnd,
+sch&uuml;tzend. Nachts schluchzte ich verzweifelt
+in die Kissen, und morgens, als ich mich zur gewohnten
+Arbeit am Fenster niedersetzte, schweiften meine Gedanken
+weit hinaus &uuml;ber die Baumwipfel &mdash; in den gl&uuml;henden
+Sommertag &mdash; in das Leben. Ich ging umher, mir
+selbst fremd geworden, mit anderen Augen. Ich entdeckte
+im Spiegel mein Gesicht wie das einer Fremden.
+Mechanisch l&ouml;ste ich die Witwenhaube aus den Haaren.
+&raquo;Georg &mdash; Georg&nbsp;&mdash;&laquo; schrie es in mir, &raquo;nie bin ich
+deine Frau gewesen &mdash; wie kann ich deine Witwe sein?!&laquo;</p>
+
+<p>Die Menschen um mich kamen mir ver&auml;ndert vor:
+ich f&uuml;hlte M&auml;nnerblicke, die das Weib in mir suchten
+und nicht die Gesinnungsgenossin, und H&auml;ndedr&uuml;cke, die
+andere Empfindungen verrieten als die blo&szlig;er Freundschaft.
+Und wenn ich auf den gr&uuml;nen Wiesen im Hydepark
+blonde rosige Kinder sah, kam ich mir vor wie
+eine Ausgesto&szlig;ene. Drangen aber gar durch die Nacht
+aus den G&auml;rten rings umher sehns&uuml;chtig-s&uuml;&szlig;e Lieder an
+mein Ohr, so war mir, als h&auml;tte ich jetzt schon Georgs
+Verm&auml;chtnis die Treue gebrochen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_29" id="Page_29"></a></p>
+
+<p>Eines Nachmittags &mdash; mein Aufenthalt neigte
+sich seinem Ende zu &mdash; trat eine einfache, starkknochige
+Frau, die wei&szlig;en Haare straff aus der
+Stirn gezogen, an unseren Teetisch und streckte mir eine
+harte, unbehandschuhte Hand entgegen: &raquo;Sie kennen mich
+wohl nicht mehr?&laquo; Ich sprang auf, fast h&auml;tte ich sie
+in die Arme gezogen: &raquo;Amie Hicks?! Sie haben mir
+Londons Elend zeigen wollen! Wollen Sie es noch
+tun, &mdash; gleich jetzt?&laquo; Sie lachte verwundert &uuml;ber
+meinen pl&ouml;tzlichen Eifer, aber ich lie&szlig; sie nicht los und
+wir verabredeten zun&auml;chst einen gemeinsamen Besuch im
+Bureau des Zentralkomitees f&uuml;r Frauenarbeit.</p>
+
+<p>Was ich dort kennen lernte, erregte mein h&ouml;chstes Interesse:
+Man hatte sich zur Aufgabe gestellt, die Lage
+der erwerbst&auml;tigen Frauen zu untersuchen und die Resultate
+zu ver&ouml;ffentlichen, gewerkschaftliche Organisationen
+zu schaffen und zu unterst&uuml;tzen, die Arbeiterinnenschutz-Gesetzgebung
+zu studieren und ihre Weiterentwicklung
+durch m&uuml;ndliche und schriftliche Propaganda zu f&ouml;rdern.
+&raquo;Wir sind gewisserma&szlig;en ein Arsenal und liefern der
+Arbeiterbewegung die Waffen,&laquo; sagte mir eine der Leiterinnen;
+&raquo;und wir schaffen zugleich die M&ouml;glichkeit,
+da&szlig; die Frau der beg&uuml;terten Kreise die Lage der Arbeiterin
+kennen lernt, und die Arbeiterin andererseits sich
+der Kenntnisse der b&uuml;rgerlichen Frau bedienen kann,&laquo;
+f&uuml;gte eine andere hinzu. Der Plan, etwas &Auml;hnliches
+in Berlin zu gr&uuml;nden, reifte in mir: der Arbeiterbewegung
+Waffen liefern, war mindestens so n&uuml;tzlich, als
+selbst die Waffen tragen. Es war praktisch im Grunde
+dasselbe, was die Fabier theoretisch leisteten, es w&uuml;rde
+<a name="Page_30" id="Page_30"></a>wertvolle Kr&auml;fte in den Dienst des Sozialismus zwingen, &mdash; ihrer
+selbst fast unbewu&szlig;t. Es erm&ouml;glichte mir, au&szlig;erhalb
+der Partei f&uuml;r die Partei zu wirken. Mit krampfhafter
+Anstrengung zuerst und dann mit wachsender Anteilnahme
+vertiefte ich mich in das Studium meiner
+Aufgabe. Ich fl&uuml;chtete aus den bl&uuml;henden G&auml;rten in
+die engen Stra&szlig;en zwischen die geschw&auml;rzten Mauern,
+wo kein Baum und kein Vogel den Sommer verr&auml;t
+und seine Glut, die drau&szlig;en vor den Toren die Knospen
+wach k&uuml;&szlig;t, nichts hervorruft, als ekle D&uuml;nste und giftige
+Miasmen. Je mehr ich ihm entfloh, desto grauer und
+stiller wurde es auch wieder in mir. Eilig, wie die
+andern, ohne rechts oder links zu sehen, lief ich durch
+die Stadt, &uuml;ber klebrige H&ouml;fe, steile Treppen hinauf in
+die Bureaus der Fabrikinspektionen und der Gewerkschaften,
+zu Besuchen, Sitzungen und Versammlungen.
+Zahlen, nichts als Zahlen h&ouml;rte ich &mdash; neben den Lohntabellen,
+die Arbeitsstunden und die Wochen der Arbeitslosigkeit&nbsp;&mdash;,
+sie verfolgten mich bis in meine Tr&auml;ume,
+verschwammen ineinander und schoben sich vor meinen
+Augen dichter und dichter zusammen, bis sie nichts waren
+als ein einziges schwarzes Trauergewand, das Himmel
+und Erde verh&uuml;llte.</p>
+
+<p>&raquo;Nun bleibt mir nur noch &uuml;brig, die Illustration zu
+Ihren Tabellen zu sehen,&laquo; sagte ich eines Abends zu
+Amie Hicks, die die Arbeiterinnen der Z&uuml;ndholzfabrikation &mdash; ihre
+Kolleginnen &mdash; organisiert hatte. Sie
+wandte sich an eine junge Soldatin der Heilsarmee, die
+bescheiden im Hintergrund stand. &raquo;Wollen Sie unsere
+deutsche Freundin heute nacht nach Whitechapel mitnehmen?&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_31" id="Page_31"></a>Das M&auml;dchen sah mich zweifelnd an: &raquo;Wenn die
+Dame sich nicht f&uuml;rchtet &mdash; und sich entschlie&szlig;t, unsere
+Kleidung anzuziehen.&laquo; Ich war nat&uuml;rlich zu allem bereit.
+Ehe wir uns am sp&auml;ten Nachmittag auf den Weg
+machten, steckte ich mir die Taschen voll kleiner Kupferm&uuml;nzen.
+&raquo;Das hat keinen Zweck,&laquo; l&auml;chelte meine Begleiterin,
+&raquo;es sind ihrer viel zu viele!&laquo; Unterwegs erz&auml;hlte
+sie mir von ihrer Arbeit: einem unaufh&ouml;rlichen
+Kampf mit Laster und Not, einer st&uuml;ndlichen Aufopferung
+der eigenen Person, und ihr schmales Gesichtchen
+strahlte dabei wie das ihrer Altersgenossinnen, wenn
+sie von Karnevalstriumphen zu berichten haben. &raquo;Was
+f&uuml;hrte Sie zu Ihrem Beruf?&laquo; frug ich. &raquo;Jesus rief
+mich!&laquo; antwortete sie einfach.</p>
+
+<p>Es fing an zu d&auml;mmern. Die Stra&szlig;en schrumpften
+zusammen, w&auml;hrend die Menschenmassen unheimlich anschwollen.
+In ihrer Kleidung schienen die Farben mehr
+und mehr zu erl&ouml;schen, und die Unterschiede zwischen
+Alter und Jugend verwischte ein gleichm&auml;&szlig;iger Ausdruck,
+zwischen Leid, Stumpfsinn und Gemeinheit schwankend.
+Kinder keuchten mit S&auml;cken beladen &uuml;ber die Gassen &mdash; &raquo;Heimarbeiter&laquo;,
+bemerkte meine Begleiterin lakonisch&nbsp;&mdash;,
+an den Rinnsteinen hockten andere in langen Reihen,
+und w&uuml;hlten mit schmutzstarrenden, mageren Fingerchen
+im Stra&szlig;enkehricht. Ein kleiner Bub mit krummen
+Beinen wollte sich eben heimlich mit dem gefundenen
+Rest einer Banane aus dem Kreis der Gef&auml;hrten davon
+schleichen. Ein triumphierendes Grinsen verzerrte sein
+Gesichtchen. Aber schon fielen die anderen wutheulend
+&uuml;ber ihn her und rissen ihm die fadenscheinigen Lumpen
+von dem armen rhachitischen K&ouml;rper. Er weinte nicht,
+<a name="Page_32" id="Page_32"></a>er duckte sich nur ein wenig und versuchte die zertretene
+Banane vom Pflaster abzukratzen, aus seinen
+verschwollenen Augen traf mich dabei ein Blick voll
+grenzenloser Verzweiflung.</p>
+
+<p>Wir bogen in eine langgestreckte schmale Sackgasse
+ein. &raquo;Nehmen Sie sich in acht,&laquo; warnte meine Begleiterin,
+als wir in eines der offenen H&auml;user traten,
+&raquo;die Treppen haben keine Gel&auml;nder.&laquo; Ich tastete mich
+hinter ihr vorw&auml;rts, w&auml;hrend ein pestilenzialischer Geruch
+mir den Atem benahm. Wir stie&szlig;en eine T&uuml;re
+auf, die weder Griff noch Schl&uuml;ssel hatte. Ein schwerer
+grauer Dunst von Staub und Schwei&szlig; schlug uns entgegen,
+gespensterhaft bewegten sich die Gestalten der
+Bewohner dahinter, w&auml;hrend das Rattern und Quietschen
+schlecht ge&ouml;lter N&auml;hmaschinen jeden anderen Ton verschlang.
+Dicht aneinandergedr&auml;ngt sa&szlig;en M&auml;nner und
+Frauen um den Tisch, auf dem ein kleines L&auml;mpchen
+vergebens versuchte, sp&auml;rliches Licht zu verbreiten; an
+dem einzigen Fenster standen die Maschinen, von zwei
+Kindern in Bewegung gesetzt. Keines der dunkeln K&ouml;pfe
+hob sich bei unserem Eintritt. Nur als mein Kleid
+eine der Frauen streifte, sahen ein paar schwarze Augensterne
+mich pr&uuml;fend an. &raquo;Russische Juden,&laquo; sagte meine
+Begleiterin und wandte sich dem finstersten Winkel des
+Zimmers zu. Eine durchsichtig wei&szlig;e Hand streckte sich
+ihr entgegen. &raquo;Er ist schwinds&uuml;chtig,&laquo; fl&uuml;sterte sie.
+Z&ouml;gernd trat ich n&auml;her. In einem armseligen Bett,
+mit Haufen bunter Stoffreste statt mit Kissen gef&uuml;llt,
+lag ein Mann, das blasse durchgeistigte Antlitz von
+schwarzen, langen Haaren umrahmt; strahlend richteten
+sich seine fiebergl&auml;nzenden Augen auf das junge M&auml;dchen,
+<a name="Page_33" id="Page_33"></a>aber die Milch, die sie aus ihrem K&ouml;rbchen nahm, entt&auml;uschte
+ihn; erst als sie ein kleines Buch in seine
+schlanken Finger legte, l&auml;chelte er sie dankbar an. &raquo;Ich
+habe auch wieder ein Gedicht geschrieben&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte er
+und zog einen Fetzen Zeitungspapier aus den Lumpen
+hervor, am Rande dicht bekritzelt.</p>
+
+<p>&raquo;Nicht einmal Kn&ouml;pfe kann er mehr ann&auml;hen,&laquo; t&ouml;nte
+eine rohe Stimme neben uns. &raquo;Wenn es doch bald zu
+Ende w&auml;re, &mdash; gestern spuckte er Blut auf ein fertiges
+Hemd&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich mu&szlig;te mich einen Augenblick schwindelnd an den
+Pfosten des Torweges lehnen, als wir hinunterkamen.
+Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Unter der
+n&auml;chsten T&uuml;re stand ein M&auml;dchen mit entbl&ouml;&szlig;ter Brust
+und spr&uuml;henden Augen. &raquo;Marianne!&laquo; &mdash; Vorwurfsvoll
+t&ouml;nte die Stimme meiner Begleiterin. Ein rauhes
+Lachen antwortete ihr. &raquo;Ich will leben!&laquo; stie&szlig; das
+M&auml;dchen zwischen den Z&auml;hnen hervor. &mdash; &raquo;Leben!&laquo; &mdash; wiederholte
+sie noch einmal mit einem langgezogenen
+Nachtigallenton. Wir gingen an ihr vorbei in die niedrige
+Stube; eine verrostete Eisenbettstelle, ein paar
+Kisten bildeten die ganze Einrichtung. Am Herd in
+der Ecke stand ein altes Weib mit den gedunsenen Z&uuml;gen
+der Trinkerin, auf dem feuchtgl&auml;nzenden Lehmboden kroch
+eine Schar kleiner Kinder. Meine Begleiterin hatte
+gerade begonnen, einem der kleinsten die wunden F&uuml;&szlig;chen
+zu verbinden, da sprang unter w&uuml;stem Gekreisch die
+T&uuml;re auf: &mdash; das M&auml;dchen von drau&szlig;en stolperte, von
+ein paar braunen F&auml;usten gesto&szlig;en, ins Zimmer, zwei
+Schwerbetrunkene hinter ihr. Sie warf sich aufs Bett, &mdash; ich
+floh, von Entsetzen gepackt, aus dem Hause.</p>
+
+<p><a name="Page_34" id="Page_34"></a>In den Stra&szlig;en br&uuml;tete gewitterschwangere Julinacht.
+Junge und alte Weiber, von Elend, Laster und Krankheit
+gr&auml;&szlig;lich gezeichnet, M&auml;nner, deren Kleidung
+einen Fuselgeruch ausstr&ouml;mte, Kinder, die eine Kindheit
+nie gekannt hatten, strichen an uns vorbei. &raquo;Gibt es
+in der Welt noch einmal solche H&ouml;lle,&laquo; st&ouml;hnte ich und
+wischte mir die Schwei&szlig;tropfen von der Stirn. &raquo;O, &mdash; in
+Glasgow, in Liverpool, in Manchester ist es ebenso&nbsp;&mdash;,&laquo;
+sagte meine Begleiterin ruhig.</p>
+
+<p>An der n&auml;chsten Stra&szlig;enecke ballten sich die Menschen
+zu einem schwarzen Kn&auml;uel. Qualvolle Schmerzensrufe
+drangen daraus hervor. Wir liefen vorw&auml;rts, &mdash; alles
+machte uns Platz, &mdash; die Uniform der Heilsarmee war
+wie ein Freibrief, den selbst die Rohesten respektierten.
+Auf dem Pflaster lag ein Weib und wand sich in Mutterschmerzen.
+&raquo;Er hat sie hinausgepr&uuml;gelt,&laquo; schrie ein
+M&auml;dchen, das neben ihr kniete und ballte w&uuml;tend die
+F&auml;uste. Meine Begleiterin war im Augenblick bei
+ihr. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. In die
+Menschen um uns her kam ein seltsames Leben,
+sie liefen in die n&auml;chsten H&auml;user, atemlos, &mdash; sie
+kehrten zur&uuml;ck, &mdash; auch der Elendeste mit vollen H&auml;nden.
+T&uuml;cher, Kissen, Decken breiteten sich um die Krei&szlig;ende
+aus; ein wei&szlig;haariges M&uuml;tterchen mit gekr&uuml;mmtem
+R&uuml;cken schleppte st&ouml;hnend Eimer voll Wasser herbei,
+ein alter Mann humpelte hastig auf seiner Kr&uuml;cke n&auml;her
+und legte mit zitternden H&auml;nden seine zerschlissene Jacke
+&uuml;ber die Jammernde. Ein Sekunde lang war es ganz
+still, &mdash; das Leben schien den Atem anzuhalten, da &mdash; ein
+gellender Schrei, der die Nacht zerri&szlig;, &mdash; das Kind
+war geboren, das unselige Kind der Stra&szlig;e. Zur&uuml;ckgelehnt<a name="Page_35" id="Page_35"></a>
+in dem Scho&szlig; der N&auml;chsten lag das Weib.
+Laternenlicht fiel grell auf ihre eingesunkenen Wangen,
+die weitaufgerissenen Augen drehten sich in den H&ouml;hlen,
+suchend griffen die Finger in die leere Luft, dann noch
+ein Zucken, ein rauhes R&ouml;cheln, &mdash; es war vor&uuml;ber.
+Und um die tote Mutter knieten ringsum im Schmutz
+der Stra&szlig;e die Genossen ihres Jammers ...</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Der Sonnenzauber hatte keine Macht mehr
+&uuml;ber mich.</p>
+
+<p>Ich hatte nur noch ein Achselzucken, wenn
+ich die Macht der Gewerkschaften preisen h&ouml;rte &mdash; &raquo;die
+Sattgewordenen verga&szlig;en zuerst der Hungernden&laquo;&nbsp;&mdash;, und
+ein ver&auml;chtliches L&auml;cheln f&uuml;r die Gr&ouml;&szlig;e und Einheitlichkeit
+sozialer Hilfsarbeit, die sich von Rechts wegen
+bankerott erkl&auml;ren m&uuml;&szlig;te. Hier galt es nicht mehr,
+Einzelne vor dem Ertrinken zu retten, und Wunden zu
+verbinden, hier galt nur eins: die alte Welt, die ihre
+eigenen Kinder mordete, zu zerst&ouml;ren, um der neuen
+Platz zu schaffen.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_36" id="Page_36"></a></p>
+<h2><a name="Zweites_Kapitel" id="Zweites_Kapitel"></a>Zweites Kapitel</h2>
+
+
+<p>&raquo;Sie wollen wirklich alle B&uuml;cher verkaufen?!&laquo;</p>
+
+<p>Der junge Student, der vor mir stand,
+blickte mich vorwurfsvoll an. Er war gekommen,
+mir beim Ordnen der philosophischen Bibliothek
+meines verstorbenen Mannes behilflich zu sein.</p>
+
+<p>&raquo;Mit wenigen Ausnahmen, &mdash; ja!&laquo; antwortete ich
+mit erzwungener Ruhe. &raquo;Sie sehen selbst: in der
+neuen Wohnung fehlt es an Platz f&uuml;r sie, &mdash; und au&szlig;erdem
+werde ich sie kaum je benutzen. Ich werde mit
+&Uuml;berlegung einseitig!&laquo; Dabei wies ich l&auml;chelnd auf
+die dickleibigen Fabrikinspektorenberichte, die vor mir
+lagen. Er begab sich stumm, gesenkten Kopfes an die
+Arbeit. Wie herzlos, da&szlig; ich Georgs geliebte B&uuml;cher
+verkaufte, dachte er jetzt gewi&szlig;. Durfte ich ihm sagen,
+da&szlig; ich sie verkaufen mu&szlig;te? Da&szlig; ich gestern mit dem
+letzten, was ich besa&szlig;, Georgs Grabdenkmal bezahlt
+hatte, &mdash; einen sch&ouml;nen hohen Marmorblock, auf dem in
+gro&szlig;en goldenen Lettern sein Wahlspruch stand, der nun
+auch der meine war: &raquo;Wir leben durch die Menschen,
+la&szlig;t uns f&uuml;r die Menschen leben.&laquo;</p>
+
+<p>Mama hatte mir eben aus Pirgallen entr&uuml;stet &uuml;ber
+meine Verschwendung geschrieben: &raquo;Ein schlichter Stein
+mit Georgs Namen w&auml;re ausreichend gewesen.&laquo; Ich
+l&auml;chelte unwillk&uuml;rlich. Arm sind doch nur die Menschen,
+<a name="Page_37" id="Page_37"></a>die niemals verschwenden k&ouml;nnen! Ich war ja sonst so
+schrecklich vern&uuml;nftig. Treppauf, treppab war ich seit
+meiner R&uuml;ckkehr aus England gelaufen, um eine Wohnung
+zu finden, die meinen Mitteln entsprach. In
+einem Hof der Kleiststra&szlig;e, drei Treppen hoch, hatte ich
+sie endlich gefunden: zwei Zimmer mit dem Blick auf
+eine Mauer, die eine riesige gemalte Schweizer Landschaft
+schm&uuml;ckte. Zu allerhand &ouml;der journalistischer Tagesarbeit
+hatte ich mich verpflichtet, um in der &uuml;brigbleibenden
+Zeit meiner Aufgabe leben zu k&ouml;nnen. In vier
+Wochen zog ich um, bis dahin mu&szlig;te auch sie festere
+Gestalt gewinnen.</p>
+
+<p>Ich hatte mich zun&auml;chst schriftlich an eine Anzahl hervorragender
+Politiker und Sozialpolitiker gewandt, bei
+denen ich ein Interesse f&uuml;r die Sache voraussetzen
+konnte, und ihnen meinen Plan eines Zentralausschusses
+f&uuml;r Frauenarbeit auseinandergesetzt. Sehr h&ouml;flich, sehr
+zuvorkommend hatten sie mir geantwortet. &raquo;Ihr Plan
+hat meine volle Sympathie,&laquo; schrieb mir eben Theodor
+Barth. &raquo;Ich habe nur Bedenken, ob er sich in seinem
+vollen Umfang in absehbarer Zeit durchf&uuml;hren l&auml;&szlig;t.
+Nach meinen Erfahrungen scheitern sehr viele an sich
+vortreffliche Reformbestrebungen gerade daran, da&szlig; das
+Ziel von vorn herein zu weit gesteckt ist. Meines Erachtens
+sollte man zun&auml;chst einmal an eine Sammlung
+und Sichtung von Material, die Bedingungen der
+Frauenarbeit betreffend, herangehen, wie das <em class="antiqua">sub</em> 1
+Ihres Programms ja auch in Aussicht genommen ist.
+Unternehmer und Arbeiter m&uuml;&szlig;ten allerdings zusammenwirken
+und Vorurteile &mdash; speziell auch gegen die Sozialdemokratie &mdash; d&uuml;rften
+keine Rolle spielen&nbsp;... Leider
+<a name="Page_38" id="Page_38"></a>ist meine Arbeitskraft schon anderweitig so stark in
+Anspruch genommen, da&szlig; ich wohl mitraten, aber nicht
+mittaten kann&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Diesen Satz enthielt noch jeder Brief, den ich erhalten
+hatte. Warnungen vor der Gefahr sozialpolitischer
+Dilettantenarbeit, Besorgnisse, Wasser auf die M&uuml;hlen
+der Sozialdemokratie zu treiben, bedenkliche Fragen nach
+der finanziellen Fundierung des Unternehmens wiederholten
+sich oft. &raquo;Auf alle F&auml;lle ist der Zeitpunkt schlecht
+gew&auml;hlt,&laquo; hie&szlig; es in einem Schreiben, das <em class="antiqua">Dr.</em> Jacob,
+mein alter Gegner aus der Ethischen Gesellschaft, an
+mich richtete, &raquo;jetzt, im Jubil&auml;umsjahr, wo das unverantwortliche,
+antipatriotische Verhalten der Sozialdemokratie
+selbst solche Kreise erbittern mu&szlig;, die vielen ihrer
+Forderungen sympathisch gegen&uuml;berstanden, ist nicht der
+Augenblick, um zu gemeinsamer Arbeit aufzurufen. Ich
+bezweifle auch, da&szlig; Sie Kapitalien finden, die Ihnen
+zu solchem Zweck die immerhin recht erheblichen Mittel
+zur Verf&uuml;gung stellen werden.&laquo; Und Frau Schwabach,
+die einzige unter den Frauenrechtlerinnen, der ich ein
+ernsteres Verst&auml;ndnis der Sache zutraute, war gleichfalls
+voller Bedenken gewesen. &raquo;Wir m&uuml;ssen zuerst die
+Peinlichkeiten ausbilden, die zu solcher Arbeit f&auml;hig
+sein sollen,&laquo; hatte sie gesagt. Das alte Lied, das die
+Gewissen einlullt, das Selbstvertrauen bet&auml;ubt und die
+Schuld tr&auml;gt, wenn vor lauter Vorbereitung zur Tat
+die Tat selbst von einem Tage zum andern verschoben wird.</p>
+
+<p>Heute nun erwartete ich Martha Bartels mit zwei
+ihrer Freundinnen &mdash; Arbeiterinnen wie sie&nbsp;&mdash;, um
+ihr Urteil zu h&ouml;ren und ihren Rat, der mir der weitaus
+wichtigste erschien, zu erbitten.</p>
+<p><a name="Page_39" id="Page_39"></a></p>
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen f&uuml;r heute aufh&ouml;ren, mein lieber Schmidt,&laquo;
+wandte ich mich an den Studenten, der vor den letztem
+Regalen des B&uuml;cherschranks hoch oben auf der Leiter
+stand, &raquo;es ist unverantwortlich von mir, da&szlig; ich Ihre
+Kraft und Zeit schon so lange in Anspruch nehme.&laquo;</p>
+
+<p>Er fuhr, wie aus einem Traum erwachend, zusammen
+und strich sich die dichten schwarzen Haare aus der
+hei&szlig;en Stirn.</p>
+
+<p>&raquo;Mu&szlig; ich wirklich schon fort?&laquo; Hastig wandte er sich
+um und rieb die roten, knochigen H&auml;nde wie fr&ouml;stelnd
+aneinander. Ich nickte, denn schon h&ouml;rte ich drau&szlig;en
+die Klingel. Langsam stieg er die Leiter hinab.</p>
+
+<p>&raquo;Ach, &mdash; wenn ich doch wirklich etwas f&uuml;r Sie tun
+k&ouml;nnte&nbsp;&mdash;,&laquo; damit senkte er den Kopf tief auf meine
+Hand.</p>
+
+<p>In dem Augenblick &ouml;ffnete sich die T&uuml;re, und die
+drei Frauen traten ein. Sie sahen uns, wechselten
+sekundenlang einen vielsagenden Blick, ein leises sp&ouml;ttisches
+L&auml;cheln kr&auml;uselte die Lippen der einen, der
+gro&szlig;en, hageren; &mdash; ein Gef&uuml;hl, als h&auml;tte mich jemand
+mit Schmutz beworfen, beschlich mich. Fl&uuml;chtig erinnerte
+ich mich, da&szlig; meine Mutter die Anwesenheit eines
+jungen Herrn bei mir, der Witwe, f&uuml;r unpassend erkl&auml;rt
+hatte, &mdash; aber waren nicht diese Frauen Vork&auml;mpferinnen
+einer freien Weltanschauung?! Ich richtete
+mich gerade auf, zog meine Hand aus der sie noch
+immer umklammernden; mit einer ungeschickt eckigen
+Verbeugung dr&uuml;ckte sich der junge Student an den neuen
+G&auml;sten vorbei zur T&uuml;re hinaus.</p>
+
+<p>Bei Kaffee und Kuchen &uuml;berwanden meine Besucherinnen
+die erste Verlegenheit. Sie hatten sich in den
+<a name="Page_40" id="Page_40"></a>besten Sonntagsstaat geworfen und sa&szlig;en kerzengerade
+auf den weichen Lehnst&uuml;hlen; bei jeder Bewegung
+krachten die engen Taillen ihrer schwarzen Kleider, und
+die vielen bunten Blumen auf ihren H&uuml;ten schwankten
+hin und her. Nur Martha Bartels, die nicht zum
+ersten Male hier war, gab sich ungezwungener.</p>
+
+<p>Irgend etwas in dem Gesicht der kleinen N&auml;herin
+hatte sich seit unserem letzten Zusammensein ver&auml;ndert.</p>
+
+<p>&raquo;Nun, Genossin Glyzcinski, was haben Sie uns Gutes
+mitzuteilen,&laquo; sagte sie mit einem leisen g&ouml;nnerischen Ton
+in der Stimme, den sie damals noch nicht gehabt hatte,
+als sie mich &raquo;Frau von Glyzcinski&laquo; nannte. Freilich,
+sie hatte ja im Grunde ein Recht dazu, ich war ja jetzt
+nur eine Novize in ihren Reihen&nbsp;&mdash;, dachte ich und
+bezwang die gereizte Stimmung, die sich meiner zu bem&auml;chtigen
+drohte.</p>
+
+<p>Mit steigendem Eifer, an der eigenen Sache mich erw&auml;rmend,
+setzte ich ihnen meine Pl&auml;ne auseinander.
+&raquo;Ich brauche dabei Ihre Mitarbeit,&laquo; schlo&szlig; ich; &raquo;wir
+k&ouml;nnen f&uuml;r die Arbeiterinnen nichts tun, was nicht mit
+ihnen geschieht&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Tiefe Stille. Die drei l&ouml;ffelten in ihren Kaffeetassen,
+stie&szlig;en einander unter dem Tische an und wollten nicht
+mit der Sprache heraus. &raquo;Ja&nbsp;&mdash;,&laquo; meinte Martha
+Bartels schlie&szlig;lich gedehnt, &raquo;das ist ja alles ganz
+sch&ouml;n und gut, aber was uns das eigentlich angeht&nbsp;&mdash;!
+Wir wissen doch l&auml;ngst, wie's bei uns aussieht, und um
+die Neugierde der Bourgeoisdamen und -herren zu befriedigen,
+oder sie gar in unseren Organisationen herumst&auml;nkern
+zu lassen, &mdash; dazu sind wir nicht da.&laquo;</p>
+
+<p>Frau Resch, die Hagere, nickte eifrig und warf mir einen
+<a name="Page_41" id="Page_41"></a>giftigen Blick zu. Frau Wiemer, ein rundliches Frauchen
+mit gutm&uuml;tigen braunen Augen, drehte sich hastig auf dem
+Stuhle um, so da&szlig; die Sprungfedern knackten. &raquo;Da bin
+ich nun ganz und gar anderer Meinung,&laquo; rief sie, &raquo;wir
+w&auml;ren sch&ouml;n dumm, wenn wir so eine Unterst&uuml;tzung von
+der Hand weisen wollten. Wir haben, wei&szlig; Gott, keinen
+&Uuml;berflu&szlig; an Kr&auml;ften, und wenn wir sie noch dazu nach
+unserem Gutd&uuml;nken benutzen k&ouml;nnen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Martha Bartels trommelte mit den zerstochenen Fingern
+auf dem Tisch. &raquo;In meinem Kreis, Genossin Wiemer,
+kann ich daf&uuml;r keine Stimmung machen,&laquo; sagte sie scharf.</p>
+
+<p>&raquo;Na, was das schon ist: Ihr Kreis. Ein halb Dutzend
+Frauen haben Sie neulich in der Versammlung zur Vertrauensperson
+gew&auml;hlt, &mdash; das macht den Kohl nicht
+fett!&laquo; sp&ouml;ttelte die Angeredete. &raquo;Die M&auml;nner haben, gottlob,
+auch noch ein W&ouml;rtchen mitzureden!&laquo;</p>
+
+<p>Frau Resch kicherte: &raquo;Sie freilich meinen immer, Sie
+haben die M&auml;nner am B&auml;ndel&nbsp;&mdash;!&laquo;</p>
+
+<p>Stumm, in wachsender Verbl&uuml;ffung h&ouml;rte ich der Debatte
+zu, die sich mehr und mehr ins Pers&ouml;nliche verlor.</p>
+
+<p>&raquo;Im &uuml;brigen: was ereifern wir uns,&laquo; sagte Martha
+Bartels endlich, w&auml;hrend sie sich mit hochrotem Gesicht
+in den Stuhl zur&uuml;cklehnte. &raquo;Zu allererst werden wir
+doch Genossin Orbins Urteil h&ouml;ren m&uuml;ssen.&laquo;</p>
+
+<p>Die Frauen verstummten. Wanda Orbin: das war
+die anerkannte F&uuml;hrerin der Arbeiterinnen-Bewegung,
+eine Frau, die ich aus der Ferne schon l&auml;ngst zu bewundern
+gelernt hatte. Mit der aufreizenden Leidenschaftlichkeit
+ihrer Rednergabe vermochte sie alles mit sich
+fortzurei&szlig;en.</p>
+
+<p>Meine G&auml;ste verabschiedeten sich, k&uuml;hl und verlegen.<a name="Page_42" id="Page_42"></a>
+Nur Frau Wiemer sch&uuml;ttelte mir kr&auml;ftig die Hand und
+z&ouml;gerte beim Hinausgehen. &raquo;Wir reden noch mal miteinander &mdash; unter
+vier Augen,&laquo; fl&uuml;sterte sie.</p>
+
+<p>Entt&auml;uscht &mdash; mutlos blieb ich zur&uuml;ck. Tiefes Verst&auml;ndnis,
+freudige Zustimmung, warme Kameradschaftlichkeit
+hatte ich erwartet&nbsp;&mdash;!</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen kam ein Brief von Martha
+Bartels: &raquo;Seit gestern wei&szlig; ich nicht, ob Sie wirklich
+unsere Genossin sind. Was Sie da vorschlagen, das
+kann jede Frauenrechtlerin auch. Es zeigt, da&szlig; Sie
+mit der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft noch nicht gebrochen
+haben, und deshalb k&ouml;nnen wir kein rechtes Vertrauen
+gewinnen. Ich sehe nun, da&szlig; man immer unrecht tut,
+wenn man den sch&ouml;nen Gef&uuml;hlen der Bourgeoisdamen
+Glauben schenkt.&laquo; Hatte sie zu ihrer Entt&auml;uschung nicht
+ein gr&ouml;&szlig;eres Recht als ich zu der meinen? War mein
+ganzes Verhalten nicht wirklich ein R&uuml;ckzug? Versuchte
+ich nicht, nach links und rechts Konzessionen zu machen,
+damit ich nur selbst fein s&auml;uberlich auf dem normalen
+Mittelweg mich erhalten konnte?</p>
+
+<p>In meinen Hoffnungen und W&uuml;nschen sehr herabgestimmt,
+machte ich mich in den n&auml;chsten Tagen auf den
+Weg, um die F&uuml;hrer der sozialdemokratischen Partei
+aufzusuchen, bei denen ich mich schon angek&uuml;ndigt hatte.</p>
+
+<p>Ich ging zuerst zu Liebknecht. Er wohnte drau&szlig;en
+in der Kantstra&szlig;e, wo inzwischen das neue Berlin
+aus der Erde scho&szlig; wie eine wildwuchernde Urwaldpflanze.
+In der Tauentzienstra&szlig;e, die vor f&uuml;nf Jahren
+nicht viel mehr als ein breiter Feldweg gewesen
+war, reihte sich ein Neubau an den andern, &mdash; hohe
+vier- und f&uuml;nfst&ouml;ckige H&auml;user, mit lauter Wohnungen
+<a name="Page_43" id="Page_43"></a>zu neun bis zw&ouml;lf Zimmern. Wo kam der Reichtum
+nur her, der so &uuml;ppig zu wohnen vermochte? dachte ich.
+Und weiter nach dem Westen zogen sich Stra&szlig;en und
+Stra&szlig;en hinaus, &mdash; lange Spinnenarme, die &uuml;ber die
+Felder griffen bis fernhin, wo der Grunewald, eine
+schwarze schmale Linie, am Horizont auftauchte. Ratternd
+und fauchend bewegte sich die Dampfstra&szlig;enbahn den
+Kurf&uuml;rstendamm hinauf ihm entgegen. Wie viel kleine
+gem&uuml;tliche einst&ouml;ckige H&auml;uschen zwischen Birkenw&auml;ldchen
+und Kartoffelfeldern waren der Spitzhacke hier zum
+Opfer gefallen! Und der Riesenbaum, der an der Stra&szlig;enkreuzung
+ein Wahrzeichen der Gegend gewesen war
+hatte einer Kirche weichen m&uuml;ssen. Gut, da&szlig; er fiel,
+dachte ich; wie h&auml;tten die Mauern den alten Recken beengt,
+wie h&auml;tte seine trotzige, rauhe Sch&ouml;nheit ihre
+Fassadenpracht L&uuml;gen gestraft. Die Kirche hatte sich
+noch immer ihrer Umgebung angepa&szlig;t, auch hier hatte
+sie sich zu ihr nicht in Widerspruch gesetzt.</p>
+
+<p>In die Kantstra&szlig;e bog ich ein. Dicht an der Stadtbahnbr&uuml;cke,
+im dritten Stock, wohnte Liebknecht. Er
+empfing mich vor einem alten Schreibpult in seinem
+winzigen Arbeitszimmer, das vollgestopft mit Papieren
+und Zeitungen war, so da&szlig; dazwischen kaum ein freier
+Raum zum Treten &uuml;brig blieb. Sein hartgeschnittenes
+Gesicht mit den tiefen Furchen, dem Blick, der unter
+buschigen Brauen wie abwesend &uuml;ber einen hinwegsah,
+den wirren dunkeln Haaren &uuml;ber der hohen geraden
+Stirn, dem grauen ungepflegten Bart um das breite
+Kinn und den seltsam schiefstehenden gro&szlig;en Mund,
+dazu der Rock, der an den Ellbogen und auf dem R&uuml;cken
+speckig gl&auml;nzte, das Hemd darunter mit dem weichen
+<a name="Page_44" id="Page_44"></a>halboffenen Umlegekragen, die ausgetretenen Pantoffeln
+an den graubestrumpften F&uuml;&szlig;en, &mdash; das alles wirkte zun&auml;chst
+wenig anziehend. Dann gab er mir fl&uuml;chtig die
+Hand, die weich und zart war, &mdash; ich mu&szlig;te ihn wirklich
+noch einmal betrachten, um zu glauben, da&szlig; sie diesem
+Manne geh&ouml;rte. Sie gab mir Mut zu reden, ich w&auml;re
+ohne sie am liebsten wieder umgedreht. Ich erz&auml;hlte
+ihm auch von meinen Erfahrungen mit den Frauen. Er
+l&auml;chelte mit einem gutm&uuml;tigen Spott in den Augen.
+&raquo;Soll ich Ihnen einen wirklich freundschaftlichen Rat
+geben?&laquo; sagte er. &raquo;K&uuml;mmern Sie sich nicht um sie, wenn
+Sie was erreichen wollen. Die sind noch r&uuml;ckst&auml;ndiger
+als die M&auml;nner, k&ouml;nnen gar nicht anders sein. Wo
+sollen sie auch die Erkenntnis hernehmen, die armen
+Weiber?! Schon alles m&ouml;gliche, wenn sie rein aus ihrem
+proletarischen Instinkt heraus gute Parteigenossinnen sind.&laquo;</p>
+
+<p>Vergebens suchte ich ihn bei meinem Thema festzuhalten,
+es interessierte ihn offenbar nicht; dagegen rief
+der Name England eine Flut von Gedankenverbindungen
+in ihm wach. Er glaubte meinen rettungslos bourgeoisen
+Standpunkt daran zu erkennen, da&szlig; ich zwar mit Burns
+und den Fabiern, nicht aber mit Hyndman und der sozialdemokratischen
+F&ouml;deration, die allein den Marxismus
+in England repr&auml;sentierten, verkehrt habe. Mit den
+sprunghaften &Uuml;berg&auml;ngen eines gl&auml;nzenden Geistes, der
+weder die F&auml;higkeit hat, auf die Interessen des anderen
+einzugehen, noch die F&auml;higkeit, sich in eine Frage zu vertiefen,
+kam er von da auf unsere ausw&auml;rtige Politik zu
+sprechen, auf das berechtigte Mi&szlig;trauen Englands den
+offenbaren Weltmachtgel&uuml;sten unseres Kaisers gegen&uuml;ber,
+auf Ru&szlig;land, an das wir um so n&auml;her uns anschlie&szlig;en
+<a name="Page_45" id="Page_45"></a>w&uuml;rden, je weiter wir von England abr&uuml;ckten, auf den
+k&uuml;nstlich ausgepeitschten Hurrapatriotismus der Kriegserinnerungsfeiern
+der Gegenwart, der letzten Endes nur
+dazu da sei, gegen die Sozialdemokratie mobil zu machen
+und die gescheiterte Umsturzvorlage in anderer Form
+wieder aufleben zu lassen.</p>
+
+<p>Mir war diese Gespr&auml;chswendung unbehaglich. Gut,
+da&szlig; ich, ohne aufzufallen, schweigen konnte. Hafteten
+die Eierschalen der Vergangenheit noch so fest an mir,
+da&szlig; die Artikel des &raquo;Vorw&auml;rts&laquo; &uuml;ber die Gedenkfeiern
+an den &raquo;bruderm&ouml;rderischen Krieg&laquo; mir das Blut in
+Wallung brachten? Sie vertraten doch zweifellos Menschlichkeit
+und Gerechtigkeit in weit h&ouml;herem Ma&szlig;e, als all
+die mit Orden und B&auml;ndern beh&auml;ngten Kriegervereinler,
+die sich wie die Wilden an der blutigen Unterdr&uuml;ckung
+eines Nachbarvolkes noch in der Erinnerung berauschten.
+Liebknecht war in seiner Gegnerschaft gegen jede Art
+von Chauvinismus ein Fanatiker. &raquo;National gesinnt
+ist meines Erachtens nur, wer das Recht und das Wohl
+anderer Nationen ebenso zu achten wei&szlig;, wie das der
+eigenen,&laquo; sagte er. Und mir wurde bewu&szlig;t: er f&uuml;hlte
+international, w&auml;hrend ich nur die Idee der Internationalit&auml;t
+k&uuml;hl verstandesm&auml;&szlig;ig anerkannte. Ich sprach
+das aus, und er nickte eifrig: &raquo;Nat&uuml;rlich, &mdash; das ist der
+Unterschied, &mdash; und der kommt zum gro&szlig;en Teil daher,
+da&szlig; das Jahr 48 und das Sozialistengesetz mir das
+Vaterland nahmen und die Welt zur Heimat machten.
+Auch der Proletarier, der nichts besitzt, und der Arbeit
+&uuml;ber alle Grenzen hinweg nachrennen mu&szlig;, ist von Herzen
+international, und die Hammerstein und Konsorten,&laquo; &mdash; er
+lachte boshaft&nbsp;&mdash;, &raquo;die sich vom Vaterland den Schmer<a name="Page_46" id="Page_46"></a>bauch
+m&auml;sten lassen, predigen uns Verruchten Patriotismus!&laquo;
+Er unterbrach sich und stand auf. Ich wollte
+gehen &raquo;Daraus wird nichts, &mdash; nun m&uuml;ssen Sie noch
+bei meiner Frau Kaffee trinken.&laquo;</p>
+
+<p>Ich wurde ins Wohnzimmer gef&uuml;hrt. Bei Frau
+Major X. in Bromberg und bei Frau Hauptmann Z.
+in Brandenburg war es nicht viel anders gewesen&nbsp;&mdash;,
+nur da&szlig; hier statt der Familienbilder die von Marx,
+Engels und Lassalle an den W&auml;nden prangten, statt des
+Stichs der Sixtina Walter Cranes Maifestzug, und ich
+damals noch nicht in die rechte Sofaecke gen&ouml;tigt wurde.
+Frau Liebknecht war die typische Gouvernante aus vornehmen
+H&auml;usern, der Bildung und Lebensform nicht
+die Haut war, sondern das Kleid. Ihm war ich irgendwer
+gewesen, ihr: &raquo;Frau von Glyzcinski.&laquo;</p>
+
+<p>Es d&auml;mmerte schon, als ich mit ihm das Haus verlie&szlig;.
+Er ging in seine Redaktion, ich in die Ansbacherstra&szlig;e,
+wo ich die Eltern aus Pirgallen zur&uuml;ckerwarten
+sollte. &raquo;Und f&uuml;r meinen Plan kann ich auf Ihre
+Unterst&uuml;tzung nicht rechnen?&laquo; fragte ich nun doch noch
+einmal. Er blieb stehen. &raquo;Meine Unterst&uuml;tzung?! Das
+w&uuml;rde keinem von uns n&uuml;tzen. &Uuml;berlegen Sie sich's
+selbst noch mal, ob er Ihrer eigenen Unterst&uuml;tzung
+wert ist!&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Die Stimmung war keine rosige, in der ich Eltern
+und Schwester empfing, und auch sie schienen
+erregt und niedergeschlagen: Mama hatte die
+Lippen fest zusammengekniffen, so da&szlig; sie nur noch wie
+ein schmaler, blasser Strich erschienen, der Vater war
+<a name="Page_47" id="Page_47"></a>feuerrot im Gesicht und r&auml;usperte sich ununterbrochen,
+Ilschen hatte verweinte Augen. &raquo;Alles ging so gut,&laquo;
+fl&uuml;sterte sie mir hastig zu, als die Eltern ins Zimmer
+getreten waren, und hielt mich im Flur zur&uuml;ck, &raquo;da
+kam es gestern abend wegen der dummen Hammerstein-Geschichte
+zu einer Auseinandersetzung zwischen Onkel
+Walter und Papa. Das Vertuschungssystem sei unanst&auml;ndig,
+sagte er, w&auml;hrend Onkel es f&uuml;r notwendig
+erkl&auml;rte im Interesse der Partei. Schlie&szlig;lich schimpfte
+Papa &mdash; du kannst dir denken, wie&nbsp;&mdash;, und Onkel
+sagte, Papa habe sich wohl bei seiner Tochter, der
+&#8250;Genossin&#8249;, angesteckt, &mdash; ein Wort gab das andere,
+Onkel zeigte Papa schlie&szlig;lich die Kreuz-Zeitung mit der
+Notiz &uuml;ber dich &mdash;&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So, &mdash; nun haben wir miteinander zu reden&nbsp;&mdash;,&laquo;
+unterbrach meines Vaters vor Erregung rauhe Stimme
+die Schwester. Es war ein f&ouml;rmliches Verh&ouml;r&nbsp;...</p>
+
+<p>&raquo;Mitglied der sozialdemokratischen Partei bin ich noch
+nicht&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte ich. Er lehnte sich tief aufatmend mit
+geschlossenen Augen in den Stuhl zur&uuml;ck. Ich wollte
+fortfahren. Er wehrte mit beiden H&auml;nden ab: &raquo;Genug &mdash; genug!
+Mehr will ich nicht h&ouml;ren &mdash; mehr nicht!&laquo;
+Dann erhob er sich schwerf&auml;llig, ging zum Schreibtisch
+und setzte ein Telegramm auf: &raquo;Baron Walter von
+Golzow, Pirgallen. Ich habe Alix' Wort. Verlange
+nunmehr von dir Ehrenerkl&auml;rung. Hans.&laquo; Ich wollte
+widersprechen, &mdash; des Vaters rotunterlaufene Augen
+blitzten mich herrisch an, Ilse faltete hinter ihm mit
+bittender Geb&auml;rde die H&auml;nde&nbsp;&mdash;, ich schwieg. War es
+Feigheit? War es R&uuml;cksicht? Oder nichts als schlaffe
+Erm&uuml;dung?</p>
+
+<p><a name="Page_48" id="Page_48"></a>Beim Abendessen wurde mir mitgeteilt, da&szlig; die
+Gartenwohnung auf derselben Etage frei geworden sei.
+&raquo;Wir h&auml;tten andernfalls umziehen m&uuml;ssen, nun ersparen
+wir das, und du ziehst einfach hierher,&laquo; sagte der Vater;
+&raquo;dann haben wir Alten wieder unsere beiden T&ouml;chter,&laquo;
+f&uuml;gte er mit einem Anflug liebevoller Heiterkeit hinzu
+und streckte mir &uuml;ber den Tisch die Hand entgegen.
+Nur z&ouml;gernd legte ich die meine hinein.</p>
+
+<p>&raquo;Sehr g&uuml;tig, Papa, da&szlig; du an mich dachtest, aber
+ich habe schon eine Wohnung.&laquo; Er brauste w&uuml;tend
+auf. Schweigend lie&szlig; ich den Wortschwall &uuml;ber mich
+ergehen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe euch meine &Uuml;berzeugung geopfert,&laquo; sagte
+ich dann fest, &raquo;meine Freiheit opfere ich euch nicht&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Durch die sternenlose Augustnacht ging ich nach Hause.
+&Uuml;ber die menschenleere Stra&szlig;e schwankten ein paar Betrunkene.
+Wie f&uuml;rchtete ich mich sonst vor ihnen, &mdash; gleichg&uuml;ltig
+schritt ich heute vorbei, &mdash; meinetwegen
+h&auml;tten sie mit mir tun k&ouml;nnen, was sie wollten. Ich
+war ja gar nicht ich, nur ein Schatten dessen, das
+einst lebendig war. In meiner einsamen dunkeln Wohnung
+warf ich mich angekleidet aufs Bett und gr&uuml;belte
+stumpfsinnig dem einen Gedanken nach: Warum ich
+eigentlich den Morgen erwarten m&uuml;&szlig;te &mdash; und den Tag &mdash; und
+wieder einen Tag, und so in endloser Reihe
+die ganze Leere des Lebens?!</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_49" id="Page_49"></a></p>
+
+<p>In meinen stillen Zimmern lastete die Luft auf
+mir. Die Sonne strahlte durch die gr&uuml;numsponnenen
+Fenster, &uuml;ber die lachenden G&auml;rten, &mdash; w&auml;re
+ich nur erst in meinem neuen Heim, wo ich
+nichts sah, als eine gemalte Landschaft! Von innerer
+Unruhe getrieben, lief ich in der Stadt umher, blieb
+vor den Schaufenstern stehen und ertappte mich auf
+einem halb unbewu&szlig;ten Verlangen nach hellen Kleidern.
+Ich sa&szlig; allein vor dem alten verr&auml;ucherten Kaffee Josty
+und sah &uuml;ber den Potsdamer Platz hinweg den Menschen
+nach, die schwatzten und lachten und kokettierten, und
+unter die ich mich nicht mischen durfte. Ein Gef&uuml;hl
+von wohliger W&auml;rme &uuml;berkam mich, wenn bewundernde
+Blicke mich trafen, &mdash; ach, und Sehnsucht packte mich,
+unb&auml;ndige Sehnsucht nach Lebensfreude.</p>
+
+<p>Damals begegnete mir Graf Oer, einer meiner
+alten T&auml;nzer; er hatte den schlechtesten Ruf und war
+doch einer der verw&ouml;hntesten M&auml;nner der berliner Gesellschaft.
+Eine aufreizende, schw&uuml;le Atmosph&auml;re verfeinerter
+Sinnenlust umgab ihn; schon sein forschender
+Blick aus halbgeschlossenen Augen, sein weicher, langsamer
+H&auml;ndedruck lie&szlig; die Frauen err&ouml;ten, denen er sich
+n&auml;herte. Mir gegen&uuml;ber war er ganz teilnehmender
+Freund. &raquo;Ihre Bl&auml;sse erh&ouml;ht zwar nur Ihren Reiz,
+sch&ouml;nste Frau,&laquo; sagte er, &raquo;aber im Verein mit Ihrer
+sylphidenhaften Gestalt&laquo; &mdash; seine Blicke wanderten
+f&ouml;rmlich &uuml;ber meinen K&ouml;rper &mdash; &raquo;finde ich sie be&auml;ngstigend.
+Sie brauchen Sonnenweide wie ein Rassepferd.
+Was meinen Sie, wenn ich Ihnen t&auml;glich ein paar
+Stunden lang meinen Wagen schicke und Sie in den<a name="Page_50" id="Page_50"></a>
+Grunewald fahre oder nach Wannsee?&laquo; Trotz meiner
+Ablehnung, die nicht sehr energisch gewesen sein mochte,
+hielt sein elegantes Juckergespann am n&auml;chsten Morgen
+vor meiner T&uuml;re. War das wonnig, so in den jungen
+Tag hineinzurollen; mit geschlossenen Augen vorbei an
+den &ouml;den Feldern des Kurf&uuml;rstendamms, in den Grunewald
+hinein, dessen vereinzelte Villen sich rasch verloren,
+bis zu dem kleinen F&ouml;rsterhaus am stillen See, in dem
+die Sonne sich, ihrer Sch&ouml;nheit froh, eitel bespiegelte.
+&raquo;Wie Sie genie&szlig;en k&ouml;nnen!&laquo; sagte Graf Oer, als
+wir beim Fr&uuml;hst&uuml;ck im G&auml;rtchen sa&szlig;en. &raquo;Und Sie wollen
+lebendigen Leibes ins Kloster gehen! Die Welt ist so
+sch&ouml;n und wartet nur darauf, Sie zu empfangen, &mdash; lassen
+Sie mich Ihr F&uuml;hrer sein&nbsp;&mdash;&laquo; Ich f&uuml;hlte seine
+feuchten, k&uuml;hlen Lippen auf meiner Hand, sein Knie
+dicht an dem meinen, &mdash; ein unbezwinglicher Ekel
+schn&uuml;rte mir die Kehle zusammen. Ich sprang auf,
+raffte mein Kleid und verlie&szlig; ohne ein Wort, ohne
+einen Blick den Garten. Waren Genu&szlig; und Gemeinheit
+Zwillingsgeschwister, so wollt' ich wahrlich ins
+Kloster gehen!</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Zu Hause erinnerte mich ein Brief an den letzten
+und wichtigsten Besuch, den ich im Interesse des
+Zentralausschusses machen wollte: bei Bebel. Er
+lud mich zum Mittagessen ein, &raquo;dabei l&auml;&szlig;t sich am besten
+besprechen, was Ihnen am Herzen liegt und mich lebhaft
+interessiert.&laquo;</p>
+
+<p>In der Gro&szlig;g&ouml;rschenstra&szlig;e wohnte er, einer jener
+neuen Stra&szlig;en, die jede Fassadenpracht verschm&auml;hte und
+<a name="Page_51" id="Page_51"></a>deren &uuml;ppiger Blumenschmuck verriet, da&szlig; die vielen
+kleinen Balkons die Sommerfrische ihrer Bewohner waren.</p>
+
+<p>Ein l&auml;chelndes Dienstm&auml;dchen in blendend wei&szlig;er
+Sch&uuml;rze &ouml;ffnete mir auf mein L&auml;uten an der blank geputzten
+Klingel. Ein leichter Geruch nach frischer Seife
+drang mir entgegen, und in dem hellen Zimmer, das
+ich betrat, blinkte die Politur der M&ouml;bel, da&szlig; sich die
+Bilder an den W&auml;nden darin spiegelten. Die vollkommenste
+Einfachheit herrschte hier, jede Spur k&uuml;nstlerischer
+Kultur fehlte, aber es fehlte auch jeder Versuch,
+Nichtvorhandenes vort&auml;uschen zu wollen. Die
+kleine, runde Frau, die mich herzlich willkommen hie&szlig;,
+mit der schwarzen Sch&uuml;rze &uuml;ber dem schlichten Kleid,
+den von G&uuml;te strahlenden Z&uuml;gen unter den glatten
+Scheiteln, war wie ein Teil dieses Raumes. Sie
+n&ouml;tigte mich in den Lehnstuhl neben dem N&auml;htischchen
+am Fenster, meine Hand fest in der ihren haltend.</p>
+
+<p>&raquo;So eine arme, junge Frau,&laquo; sagte sie mitleidig;
+&raquo;ich mu&szlig;te oft an Sie denken und an Ihre Einsamkeit, &mdash; ich
+w&auml;re l&auml;ngst bei Ihnen gewesen, wenn ich
+nicht gef&uuml;rchtet h&auml;tte, zudringlich zu erscheinen.&laquo; Mir
+wurden die Augen feucht, &mdash; meiner Einsamkeit hatten
+sich auch die N&auml;chsten nicht erinnert. Mit jener Kunst
+verst&auml;ndnisvollen Zuh&ouml;rens, die selbst die beste Erziehung
+nicht zu geben vermag, wenn die Teilnahme des Herzens
+fehlt, lie&szlig; sie sich von meinen kleinen Wohnungs- und
+Wirtschaftsk&uuml;mmernissen erz&auml;hlen. &raquo;Was, im Wirtshaus
+essen Sie&nbsp;&mdash;?!&laquo; Sie schlug die H&auml;nde erstaunt zusammen. &mdash; &raquo;Kein
+Wunder, da&szlig; Sie so bla&szlig; und schmal werden;
+ordentlich herausfuttern m&uuml;&szlig;te man Sie&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Bebel trat ein, mit einem raschen, elastischen Schritt,
+<a name="Page_52" id="Page_52"></a>die gl&auml;nzenden Augen gerade auf mich gerichtet, w&auml;hrend
+ein B&uuml;schel Haare ihm keck, wie bei einem
+Knaben, in die Stirne fiel. Von einer breiten Hand &mdash; zu
+schwer fast f&uuml;r den schm&auml;chtigen K&ouml;rper &mdash; f&uuml;hlte
+ich meine Finger umschlossen. &raquo;Ich freue mich Ihres
+Besuchs&nbsp;&mdash;,&laquo; seine Stimme klang im Zimmer viel
+weicher und voller als auf der Rednertrib&uuml;ne, &raquo;&mdash;&nbsp;nicht
+mehr allein, weil Sie Glyzcinskis Witwe sind. Nach
+dem Schriftst&uuml;ck hier&nbsp;&mdash;,&laquo; er hielt das Programm des
+Zentralausschusses in der Hand, &raquo;&mdash;&nbsp;haben wir von
+Ihnen viel Gutes zu erwarten.&laquo;</p>
+
+<p>Er n&ouml;tigte mich in sein Arbeitszimmer, einen kleinen
+Raum mit wenigen gestrichenen Holzm&ouml;beln, blank gescheuerter
+Diele und musterhafter Ordnung. Wir er&ouml;rterten
+alle Einzelheiten meines Plans.</p>
+
+<p>&raquo;Sie k&ouml;nnen mit Ihrer Arbeit da einspringen, wo
+die Regierung nicht eine, sondern hundert L&uuml;cken gelassen
+hat. Unsere Beteiligung freilich wird sich wohl
+nur auf Ratschl&auml;ge beschr&auml;nken.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Damit ist mir nicht gedient!&laquo; rief ich. &raquo;Wie k&ouml;nnen
+wir in die Arbeits- und Lebensverh&auml;ltnisse der Arbeiter
+Einblick gewinnen, wenn Sie uns nicht die verschlossenen
+T&uuml;ren &ouml;ffnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, glauben Sie, ich w&auml;re der liebe Gott?!&laquo; lachte
+er. &raquo;Ich k&ouml;nnte etwa den Gewerkschaften befehlen, Ihren
+Bestrebungen Vertrauen entgegenzubringen, oder gar
+unseren Frauen!!&laquo;</p>
+
+<p>Wir wurden zu Tisch gerufen. Kein Diner hatte mir
+je so gut gemundet wie dieses einfache Mittagsmahl.
+Die besten St&uuml;cke wurden mir auf den Teller geh&auml;uft.</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Sie, wie's schmeckt, wenn man nicht tr&uuml;b<a name="Page_53" id="Page_53"></a>selig
+allein an einer schmuddeligen Wirtstafel sitzt!&laquo;
+sagte Frau Bebel, befriedigt &uuml;ber meinen Appetit. Sie
+schwieg sonst meist. Nur wenn der lebhafte Gatte gar
+zu heftig irgendeinen Gegner angriff, warf sie ein
+paar bes&auml;nftigende oder entschuldigende Worte ein, und
+als er gegen die Junker wetterte, sah sie zuerst ihn,
+dann mich vielsagend an.</p>
+
+<p>&raquo;Ach soo&nbsp;&mdash;,&laquo; er unterbrach sich ein wenig verlegen,
+&raquo;&mdash;&nbsp;Sie geh&ouml;ren ja am Ende auch zu ihnen! &mdash; Aber
+mein Schimpfen ist wahrscheinlich ein sanftes Fl&ouml;tenspiel
+gegen die T&ouml;ne, die angesichts der Kreuzzeitungsaff&auml;re
+in Ihren eigenen Kreisen angeschlagen werden.
+Der Fall Hammerstein, diese Dekouvrierung eines der
+Edelsten und Besten, kommt den privilegierten Besch&uuml;tzern
+von Religion und Sittlichkeit gerade jetzt gewaltig
+in die Quere. Und die Sache ist noch lange
+nicht zu Ende, &mdash; die ganze Kreuzzeitungspartei, die den
+jungen Kaiser vor ein paar Jahren als Zugpferd vor
+ihren eignen Wagen spannen wollte, wird daran glauben
+m&uuml;ssen.&laquo; Er verbreitete sich, immer lebendiger werdend,
+&uuml;ber die politische Lage und die n&auml;chsten Zukunftsaussichten.
+Er sah &uuml;berall Symptome f&uuml;r den Zusammenbruch
+der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft, und auf der
+anderen Seite Etappen zum Siege des Sozialismus.
+&raquo;Die Weltmachtpolitik, die, einmal begonnen, nicht mehr
+aufzuhalten sein wird, ist der Anfang vom Ende. Sie
+appelliert zwar an die st&auml;rksten, an die brutalen Instinkte,
+aber sie f&uuml;hrt schlie&szlig;lich mit Notwendigkeit zur
+Auspowerung der Massen und treibt sie uns damit in
+die Arme, &mdash; gewisser, als alle Agitation von unserer
+Seite es verm&ouml;chte. Selbst ein m&ouml;glicher Weltkrieg
+<a name="Page_54" id="Page_54"></a>zwischen den Kolonialm&auml;chten w&auml;re nur der Auftakt
+der Revolution.&laquo;</p>
+
+<p>Ich dachte an Shaw und seine unbedingte Gegnerschaft
+zu dieser ans Fatalistische streifenden Auffassung
+von der Entwicklung zum Sozialismus und warf in
+diesem Sinn eine bescheidene Frage in die Unterhaltung:
+&raquo;Stehen wir nicht in Gefahr, als blo&szlig;e Zuschauer
+die H&auml;nde in den Scho&szlig; zu legen, wenn uns
+die Naturgesetzlichkeit des Sozialismus so zweifellos
+fest steht?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ein Einwurf, der nach dem Katheder schmeckt!
+M&uuml;ssen wir nicht die Menschen f&uuml;r diese Entwicklung
+vorbereiten?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Also ist alle Gegenwartspolitik der Partei nie Selbstzweck&nbsp;&mdash;?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sondern nur Mittel zum Ziel,&laquo; rief er lebhaft,
+&raquo;und ihr Wert ist nur von diesem Gesichtspunkt aus
+zu bemessen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie habe ich danach Ihr Interesse f&uuml;r meinen
+Plan einzusch&auml;tzen?&laquo; frug ich l&auml;chelnd. &raquo;Als blo&szlig;e H&ouml;flichkeit
+etwa?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Treiben wir Sozialpolitik aus H&ouml;flichkeit?! Doch
+nur, weil eine gesunde, kr&auml;ftige Arbeiterschaft, die Zeit
+hat zum Denken und zum Wirken, die Armee ist, die
+wir haben m&uuml;ssen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich streifte mechanisch die Handschuhe &uuml;ber die Finger.
+Mein Herz schlug in dem raschen Takt der Melodie,
+die dieser Mann angeschlagen hatte. Der Glaube an
+die Sache&nbsp;&mdash;, das war das Un&uuml;berwindliche in ihr.
+An der T&uuml;r hielt mich Bebel noch einmal auf: &raquo;Ich
+rate Ihnen, wenn Sie irgend etwas im Kreise unserer<a name="Page_55" id="Page_55"></a>
+Genossinnen erreichen wollen, &mdash; setzen Sie sich mit
+Wanda Orbin in Verbindung. Am besten, fahren Sie
+zu ihr. Ist sie gegen Ihren Plan, so haben Sie alle
+miteinander gegen sich!&laquo;</p>
+
+<p>Noch am selben Abend schrieb ich an Frau Orbin,
+um ihr meinen Besuch anzuk&uuml;ndigen; zugleich bat ich
+sie, in ihrer Zeitschrift, der &raquo;Freiheit&laquo;, meine Idee zur
+Diskussion stellen zu d&uuml;rfen. Sie antwortete umgehend,
+aber was sie schrieb, klang wenig ermutigend: Wenn
+mein Weg mich &uuml;ber Stuttgart f&uuml;hre, so w&uuml;rde ihr
+mein Besuch willkommen sein; zu einer Reise, eigens
+ihretwegen, k&ouml;nne sie mir jedoch nicht raten, da sie
+zwecklos sein w&uuml;rde; von einer Ver&ouml;ffentlichung meines
+Plans in ihrer Zeitschrift k&ouml;nne auch keine Rede sein:
+&raquo;... die &#8250;Freiheit&#8249; ist ein rein sozialdemokratisches Blatt,
+an dem ich grunds&auml;tzlich nur solche Mitarbeiter zulasse,
+die auf dem Boden des Klassenkampfes stehen.&laquo; Trotzdem
+beschlo&szlig; ich, zu ihr zu fahren, und w&auml;re es nur,
+um die Bekanntschaft dieser Frau zu machen, deren
+Leben und deren Pers&ouml;nlichkeit ein wahrhaft vorbildliches
+zu sein schien. Bebel, den ich in dieser Zeit
+&ouml;fter sah, erz&auml;hlte mir viel von ihr: wie sie sich mit
+Peter Orbin, einem russischen Sozialisten, in freier Ehe
+verbunden habe, ihm nach Paris in Elend und Verbannung
+gefolgt sei und das schwere Siechtum, das
+&uuml;ber ihn hereinbrach, jahrelang vor ihren Freunden zu
+verstecken verstand, indem sie in seinem Namen korrespondierte,
+in seinem Namen Artikel schrieb und mit
+zwei kleinen Kindern und dem kranken, st&auml;ndiger Pflege
+bed&uuml;rftigen Mann nicht nur das t&auml;gliche Brot f&uuml;r alle
+schaffte, sondern auch imstande war, f&uuml;r die Partei un<a name="Page_56" id="Page_56"></a>erm&uuml;dlich
+zu agitieren. Mir schwindelte vor dieser
+Leistungskraft; meine Schmerzen, meine K&auml;mpfe schrumpften
+davor kl&auml;glich zusammen.</p>
+
+<p>&raquo;Ihre Nerven freilich hat sie dabei ruiniert,&laquo; f&uuml;gte
+Bebel schlie&szlig;lich hinzu.</p>
+
+<p>An einem Abend hatte ich Liebknechts und Bebels
+zu mir geladen. L&auml;ngst erloschene Gesellschaftsvorfreuden
+empfand ich wieder in der Erwartung dieser
+G&auml;ste. Zum erstenmal vermi&szlig;te ich schmerzlich all die
+vielen grazi&ouml;sen Ger&auml;te, mit denen ich als Haustochter
+die Festtafel zu schm&uuml;cken verstand, &mdash; ich hatte nicht
+einmal genug Messer und Gabeln! Schweren Herzens
+entschlo&szlig; ich mich, bei den Eltern zu borgen, was am
+notwendigen fehlte.</p>
+
+<p>&raquo;Du gibst Gesellschaften?&laquo; frug Mama erstaunt. &raquo;Kaum
+ein halbes Jahr nach dem Tode deines Mannes?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nur ein paar Interessenten meines Zentralausschusses&nbsp;&mdash;,&laquo;
+antwortete ich ausweichend, w&auml;hrend die
+Scham &uuml;ber diese verlogene Geheimniskr&auml;merei mich err&ouml;ten
+machte. War es Zufall oder Absicht, da&szlig; mein
+Vater, kurz ehe ich meine G&auml;ste erwartete, zu mir kam
+und Anstalten machte zu bleiben? In qu&auml;lender Angst
+sa&szlig; ich vor ihm, alle erdenklichen Gr&uuml;nde ersinnend, um
+ihn, ohne ihn zu verletzen, zum Gehen zu n&ouml;tigen. Endlich
+stand er auf. &raquo;Meine eigene Tochter wirft mich
+hinaus,&laquo; sagte er mit einem m&uuml;den, wehen Ton in der
+Stimme. &raquo;Lieber &mdash; lieber Papa!&nbsp;&mdash;&laquo; ich schlang die
+Arme um seinen Hals und k&uuml;&szlig;te ihn. In diesem Augenblick
+kam ich mir vor wie ein Verr&auml;ter. Der Abend,
+auf den ich mich so gefreut hatte, war f&uuml;r mich eine
+Qual.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_57" id="Page_57"></a></p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen fuhr ich nach Stuttgart.
+Ein unbestimmtes Hoffen, das wie durchleuchtet
+war von froher Ahnung, erf&uuml;llte mich:
+irgend etwas ganz Ungew&ouml;hnliches w&uuml;rde geschehen.
+Auf dem Bahnhof empfing mich Frau Orbin. Ihre
+Erscheinung war nicht die imponierende, die ich mir vorgestellt
+hatte. Ich sah zun&auml;chst nichts als eine breite
+untersetzte Gestalt und einen gro&szlig;en Hut mit zerzausten
+Federn, der windschief auf ihrem Kopfe sa&szlig; und ihre Z&uuml;ge
+beschattete. Fast h&auml;tte ich sie nicht wiedererkannt, als sie ihn
+abgenommen hatte und sich im Speisezimmer des Hotels zu
+mir setzte. Rotblonde Haare bauschten sich wellig um
+Stirn und Schl&auml;fen, helle Augen, in allen Lichtern des
+Regenbogens spielend, sahen mir gerade ins Gesicht, auf
+der Stirn, um Nase und Mund gruben sich kleine senkrechte
+Falten, die zu der noch jugendlich-weichen Rundung der
+Wangen in peinlichem Mi&szlig;verh&auml;ltnis standen. Ohne alle
+H&ouml;flichkeitspr&auml;liminarien begann sie sofort meinen Plan
+r&uuml;cksichtslos zu zerzausen. Sie sprach mit nerv&ouml;ser &Uuml;berst&uuml;rzung,
+die Worte jagten einander, als wollte eins das
+andere verschlucken. &raquo;An eine Zusammenarbeit von uns
+und Ihnen ist nat&uuml;rlich gar nicht zu denken. Sollte von
+anderer Seite etwas der Art f&uuml;r m&ouml;glich erkl&auml;rt worden
+sein&nbsp;&mdash;,&laquo; ein mi&szlig;trauisch-fragender Blick traf mich, &mdash; &raquo;so
+w&uuml;rde ich jede solche Absicht auf das Sch&auml;rfste bek&auml;mpfen.
+Der politische Kampf ist f&uuml;r uns das A und
+O. Darum ist jede Harmonieduselei mit b&uuml;rgerlichen
+Elementen vom &Uuml;bel und kann nur verwirrend wirken,
+den Klassenkampfcharakter unserer Bewegung verwischen.
+Nicht die Gegens&auml;tze &uuml;berbr&uuml;cken, wie b&uuml;rgerliche Idea<a name="Page_58" id="Page_58"></a>listen
+und Ethiker w&uuml;nschen, sondern sie auf das Sch&auml;rfste
+betonen, ist f&uuml;r uns die Hauptsache. Reinliche Scheidung, &mdash; ohne
+Konzessionen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich seufzte tief auf. Sie verstand mich falsch und
+ein feines ironisches L&auml;cheln kr&auml;uselte fl&uuml;chtig ihre
+Lippen. &raquo;Das ist freilich nicht immer ganz bequem, aber
+f&uuml;r Menschen wie Parteien die einzig m&ouml;gliche Grundlage
+ihrer Existenz.&laquo;</p>
+
+<p>Sie lud mich f&uuml;r den folgenden Tag zu sich ein.
+H&auml;tte mich die Frau nicht gereizt, der Sache wegen
+schien der Besuch keinen Zweck mehr zu haben.</p>
+
+<p>In einer Wohnung von puritanischer Schlichtheit empfing
+sie mich, aber ein unbestimmtes Etwas, sei es die
+Wahl der Bilder, der Fall der Vorh&auml;nge oder nur die
+ganze Farbenstimmung des Raumes, verriet das
+k&uuml;nstlerische Empfinden der Bewohnerin. Und als ihre
+beiden frischen Buben hereinst&uuml;rmten, rotwangig und
+gl&auml;nzenden Auges, sah ich hinter der R&uuml;stung der
+K&auml;mpferin den Menschen, die Mutter. Wie reich war
+sie! &mdash; Wir gingen nachmittags hinaus vor die Stadt,
+die bewaldeten H&uuml;gel hinan, die sie so z&auml;rtlich umschlie&szlig;en.
+Die Kinder und die Natur schienen Wanda
+Orbin zu verwandeln. Sie war viel milder heute. Sie
+sprach &uuml;ber Kunst und Literatur mit dem Verst&auml;ndnis
+eines selbst&auml;ndigen Geistes und der Wehmut ungl&uuml;cklich
+Liebender. &raquo;Das alles ist eingeschlafen, hat einschlafen
+m&uuml;ssen gegen&uuml;ber der gro&szlig;en, umfassenden Aufgabe,&laquo;
+sagte sie schlie&szlig;lich, und ihre Augen bekamen wieder den
+fiebrigen Glanz des Fanatismus.</p>
+
+<p>Kaum waren wir in ihrer Wohnung, als ein Mann
+zu ihr hereinst&uuml;rzte, atemlos eine Depesche hin- und
+<a name="Page_59" id="Page_59"></a>herschwenkend, w&auml;hrend ihm hinter den Augengl&auml;sern
+die dicken Tr&auml;nen &uuml;ber die b&auml;rtigen Wangen liefen.
+&raquo;Engels &mdash; Engels ist tot&nbsp;&mdash;,&laquo; stie&szlig; er m&uuml;hsam hervor.
+Mit einer abwehrenden Bewegung der H&auml;nde &mdash; breiter
+kurzfingeriger H&auml;nde, die aussahen, als h&auml;tte der Bildhauer
+Natur sie nur in rohen Umrissen skizziert und
+vergessen, sie auszuf&uuml;hren &mdash; starrte Wanda Orbin dem
+Ungl&uuml;cksboten sekundenlang ins Gesicht. Dann warf
+sie die Arme empor und brach in ein konvulsivisches
+Schluchzen aus, unter dem ihr K&ouml;rper immer heftiger
+zu zittern begann. Ihre F&uuml;&szlig;e w&uuml;rden die Schwankende
+nicht mehr tragen, dachte ich, und schob ihr vorsichtig
+einen Sessel zu, in dem sie haltlos versank. Inzwischen
+hatte sich das Zimmer gef&uuml;llt: die Eintretenden tauschten
+miteinander warme H&auml;ndedr&uuml;cke. Alles sammelte sich
+um die weinende Frau, leise Fl&uuml;stergespr&auml;che, als l&auml;ge
+der Tote mitten unter ihnen, flogen nach langer be&auml;ngstigender
+Stille hin und her. Eine Familie war
+dies, die St&auml;rkeres zusammengeschwei&szlig;t hatte als das
+Blut: aus gemeinsamen Empfindungen, Gedanken und
+Idealen entsprang die Tiefe gemeinsamer Trauer um
+den, der ihr F&uuml;hrer gewesen war. Auf Zehenspitzen
+schlich ich hinaus und f&uuml;hlte doch mit &uuml;berw&auml;ltigender
+Gewi&szlig;heit, da&szlig; ich dazu geh&ouml;rte.</p>
+
+<p>Sp&auml;t am Abend kam Wanda Orbin noch einmal zu
+mir, &mdash; sehr weich, sehr liebevoll. &raquo;Sie h&auml;tten bleiben
+d&uuml;rfen, Sie sind uns doch keine Fremde,&laquo; sagte sie.
+Da gewann ich Vertrauen und erz&auml;hlte ihr von den
+Zweifeln und K&auml;mpfen der letzten Wochen. Ich
+sah, wie sie l&auml;chelte, &mdash; nachsichtig wie eine Mutter
+&uuml;ber Kinderleiden, aber es verletzte mich nicht. &raquo;Im<a name="Page_60" id="Page_60"></a>
+Zwiespalt der Empfindungen kann niemand dem anderen
+helfen,&laquo; meinte sie dann. &raquo;Ich wei&szlig; nur eins gewi&szlig;:
+ist Ihre &Uuml;berzeugung erst vollkommen klar und unersch&uuml;tterlich,
+so verschwindet vor ihr das blo&szlig;e Gef&uuml;hl,
+wie Sommerschw&uuml;le vor dem Gewitter. Zu dieser &Uuml;berzeugung
+zu gelangen, das ist freilich das schwerste.
+Die Logik der Tatsachen, die Lebensverh&auml;ltnisse pauken
+dem Proletariat eine Auffassungsweise ein, die sich der
+b&uuml;rgerliche Idealist mit gro&szlig;er M&uuml;he aneignen mu&szlig;,
+wenn es ihm &uuml;berhaupt trotz aller Ehrlichkeit gelingt,
+den alten Adam der b&uuml;rgerlichen Ideen abzulegen. Es
+ist so furchtbar schwer, aus seiner Haut zu fahren, sich
+von dem zu befreien, was Vererbung und Milieu aus
+uns gemacht haben.&laquo; Ihre Augen schauten wie nach
+innen.</p>
+
+<p>Wir sprachen noch lange miteinander. Sie riet mir
+jetzt zur Ausf&uuml;hrung meines Planes; ich w&uuml;rde durch
+ihn vielleicht am besten zur Klarheit kommen, und an
+Rat und &mdash; inoffizieller &mdash; Hilfe von ihr sollte es nicht
+fehlen. &raquo;Setzen Sie sich in Berlin mit den Gewerkschaften
+in Verbindung, und zwar speziell mit den Konfektionsarbeitern,
+die infolge der Bewegung, in der sie
+augenblicklich stehen, Ihre Sache als eine Unterst&uuml;tzung
+betrachten d&uuml;rften. Und dann, vor allen Dingen, suchen
+Sie unseren Genossen <em class="antiqua">Dr.</em> Heinrich Brandt f&uuml;r sich
+zu interessieren. Gewinnen Sie ihn, so ist Ihnen geholfen:
+er setzt alles durch, was er will.&laquo;</p>
+
+<p><em class="antiqua">Dr.</em> Brandt! &mdash; Ich schlo&szlig; unwillk&uuml;rlich die Lider,
+verloren in Erinnerung. &raquo;Alle Str&ouml;me flie&szlig;en in unser
+Meer,&laquo; h&ouml;rte ich eine dunkle klingende Stimme sagen,
+und fl&uuml;chtig &mdash; ein Traumbild &mdash; tauchte ein Mann
+<a name="Page_61" id="Page_61"></a>vor mir auf, blond und schlank, und tiefe graue Augen
+versanken sekundenlang in den meinen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Nach meiner R&uuml;ckkehr schrieb ich sofort an Johannes
+Reinhard, den F&uuml;hrer der Konfektionsarbeiter-Bewegung,
+und an Heinrich
+Brandt. Reinhard k&uuml;ndigte mir umgehend seinen Besuch
+an; kurz darnach bestimmte Brandt daf&uuml;r dieselbe
+Stunde. Im ersten Gef&uuml;hl starker Freude,
+&uuml;ber deren Ursache ich mir nicht so recht klar war,
+wollte ich Reinhard abschreiben, um den anderen bald
+und zuerst zu sehen. &Uuml;ber mich selbst err&ouml;tend, zerri&szlig;
+ich die Karte wieder, die ich zu schreiben begonnen
+hatte, und bat statt dessen Brandt, seinen Besuch zu
+verschieben. &raquo;Schade,&laquo; antwortete er mir, &raquo;ich w&auml;re
+gern gleich gekommen. Vorgestern las ich in der wiener
+&#8250;Zeit&#8249; einen Artikel von Ihnen, der mich so entz&uuml;ckte,
+da&szlig; der Wunsch, die Verfasserin kennen zu lernen, in
+mir rege wurde. Diesem Wunsch begegnete noch am
+selben Morgen Ihr Brief.&laquo;</p>
+
+<p>Und nun stand Reinhard vor mir, unter der linken
+Schulter die Kr&uuml;cke, das Gesicht noch gelber, als da
+ich ihn zum letztenmal in der Egidyversammlung gesehen
+hatte, die schwarzen, d&uuml;nnen Haarstr&auml;hnen wie festgeklebt
+um den breiten Sch&auml;del und die tief eingefallenen
+Schl&auml;fen.</p>
+
+<p>&raquo;Hielte ich Ihren Plan nicht f&uuml;r gut, f&uuml;r notwendig
+sogar in diesem Augenblick, wo der Reichskanzler den
+Stillstand der Sozialreform nicht nur zugab, sondern
+verteidigte, ich w&uuml;rde nicht so rasch hier sein,&laquo; be<a name="Page_62" id="Page_62"></a>gann
+er die Unterhaltung, indem er sich m&uuml;hsam, das
+linke Bein gerade ausgestreckt, auf dem Stuhl niederlie&szlig;.
+&raquo;Wir stehen in der Konfektion seit Beginn des Jahres
+in einer Bewegung, die mir Tag und Nacht keine Ruhe
+l&auml;&szlig;t &mdash;&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig;: um die Durchsetzung von Betriebswerkst&auml;tten
+handelt es sich,&laquo; unterbrach ich ihn. &raquo;Der Zentralausschu&szlig;
+k&ouml;nnte nichts Besseres beginnen, als Sie
+darin unterst&uuml;tzen.&laquo;</p>
+
+<p>Er sah erfreut auf. &raquo;Ich sehe, Sie sind orientiert,
+und so brauche ich nur hinzuzuf&uuml;gen, da&szlig; Ihr Zentralausschu&szlig;
+auch nirgends reicheres Material zur Frage
+der Frauenarbeit finden k&ouml;nnte als bei uns. Ihren
+londoner Eindr&uuml;cken, von denen ich in den Zeitungen
+gelesen habe, w&uuml;rden die berliner nicht nachstehen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich zweifelte an der M&ouml;glichkeit &auml;hnlichen Elends
+bei uns. Nicht einmal in der Nacht, wenn ich aus
+Versammlungen gekommen war, hatte ich so bittere Not
+gesehen, wie sie mir in London bei hellem Tage begegnet war.</p>
+
+<p>&raquo;Unsere &Auml;rmsten sch&auml;men sich, &mdash; das ist vielleicht der
+letzte Rest Menschlichkeit in ihnen,&laquo; meinte er; &raquo;seit
+Wochen mache ich fast nichts anderes als Besuche bei
+den Heimarbeitern. Eben erst war ich bei einem alten
+gel&auml;hmten Weibe, das hier im Westen, f&uuml;nf Treppen
+hoch, ein einfenstriges Zimmer und eine fensterlose, winzige
+K&uuml;che mit ihrer Tochter und deren vier kleinen
+Kindern bewohnt. Von fr&uuml;h f&uuml;nf bis nachts um elf
+trampelt die Tochter die N&auml;hmaschine, um bestenfalls
+neun Mark in der Woche zu verdienen. Vor wenigen
+Tagen war ich in einem engen Kellerloch, wo eine Witwe
+mit zwei Kindern wohnt; auf den schimmeligen<a name="Page_63" id="Page_63"></a>
+M&ouml;beln, auf dem einzigen wackeligen Bett, liegen elegante
+Damenblusen, f&uuml;r die sie ganze f&uuml;nf Mark w&ouml;chentlich
+einnimmt.&laquo; Reinhard erhob sich, rote Flecken
+brannten auf seinen Backenknochen, und w&auml;hrend er
+weitersprach, humpelte er im Zimmer aufgeregt hin
+und her. &raquo;In einem anderen Keller, wo die Dielen
+faulen und die Fenster tief unter der Erde liegen, arbeiten
+zwei Schwestern, &mdash; junge, bleichs&uuml;chtige Dinger, &mdash; f&uuml;r
+die, die oben in Luft und Sonne lachend vor&uuml;bergehen.
+Ist die Ehre, die ihr bewahrt habt, das
+elende Leben wert, &mdash; h&auml;tte ich ihnen am liebsten zugerufen.
+Dicht unter dem Dach, in zwei kleinen L&ouml;chern,
+sah ich ein Ehepaar mit f&uuml;nf Kindern und einem Schlafm&auml;dchen;
+den Mann zerfri&szlig;t auf dem Lager voll Lumpen
+der Kehlkopfkrebs, die Frau n&auml;ht Knopfl&ouml;cher f&uuml;r ganze
+vier Mark in der Woche,&laquo; &mdash; klipp &mdash; klapp &mdash; klipp &mdash; klapp, &mdash; rascher
+und rascher schlug Reinhards Kr&uuml;cke
+den Takt zu der grausen Melodie&nbsp;&mdash;; &raquo;eine arme Mutter
+fand ich in einem sonnenlosen Winkel im Norden, sie
+n&auml;hte Hemden, halbfertig lagen sie auf dem Bett,
+wo zwei diphtheritiskranke Kinder mit dem Tode rangen.
+Und, denken Sie nur&laquo;, &mdash; er blieb stehen und lachte grell
+auf, &raquo;&mdash;&nbsp;einen schneewei&szlig;en Mantel, bestimmt f&uuml;r nackte
+Schultern sch&ouml;ner Frauen, sah ich einmal in den H&auml;nden
+einer Syphilitischen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Um Gottes willen &mdash; h&ouml;ren Sie auf!&laquo; Auch ich
+erhob mich. &raquo;Warum schreien Sie diese Tatsachen nicht
+auf &ouml;ffentlichem Markte aus? Warum kleben Sie Ihre
+Berichte nicht an alle Stra&szlig;enecken? &mdash; Kein Reichskanzler
+w&uuml;rde mehr wagen, den Stillstand der Sozialreform
+zu verteidigen.&laquo;</p>
+<p><a name="Page_64" id="Page_64"></a></p>
+<p>&raquo;Wir sind dabei, es zu tun,&laquo; antwortete er, und seine
+Sprechweise nahm wieder den Ton der alten sachlichen
+Ruhe an. &raquo;Eine Brosch&uuml;re, an der ich arbeite, wird
+allen ma&szlig;gebenden Pers&ouml;nlichkeiten zugeschickt und unserem
+diesj&auml;hrigen Parteitag vorgelegt werden; wir haben au&szlig;erdem,
+wie Sie wissen, die Unternehmer vor die Alternative
+gestellt, Betriebswerkst&auml;tten einzurichten, oder einer
+allgemeinen Arbeitseinstellung gew&auml;rtig zu sein. Kommt
+es dazu, so wird die &Ouml;ffentlichkeit sich mit uns besch&auml;ftigen
+m&uuml;ssen. &Uuml;brigens:&nbsp;&mdash;,&laquo; er dachte einen Augenblick
+nach, &raquo;wie w&auml;r's, wenn Sie die T&auml;tigkeit Ihres Zentralausschusses
+auf eigene Faust beginnen und mich bei
+meinen Recherchen zuweilen begleiten w&uuml;rden?&laquo;</p>
+
+<p>Dankbar nahm ich sein Anerbieten an. In der
+n&auml;chsten Zeit brachte ich fast t&auml;glich ein paar Stunden
+mit ihm zu. Wir kamen in Stadtteile, die ich noch
+nie gesehen hatte, lange, n&uuml;chterne Stra&szlig;enzeilen, die
+H&auml;user regelm&auml;&szlig;ig aufgereiht, gleichm&auml;&szlig;ig grau get&uuml;ncht;
+die &Ouml;de des Anblickes nur noch erh&ouml;ht durch die &auml;u&szlig;ere
+Ordnung und Reinlichkeit. Wir schritten durch enge
+H&ouml;fe in dunkle Hinterh&auml;user, die das Licht der Stra&szlig;e
+nicht mehr f&uuml;rchteten und ohne Scham die Bl&ouml;&szlig;en
+ihrer Not enth&uuml;llten. Nach Osten, nach S&uuml;den f&uuml;hrte uns
+der Weg, wo mitten im kahlen, der Stadt schon preisgegebenen
+Boden hohe Mietskasernen an zerw&uuml;hlten,
+werdenden Stra&szlig;en standen. Hier, zwischen den feuchten
+W&auml;nden, hauste das Elend und starrte uns an mit den
+glanzlosen Blicken erloschenen Lebens, die grausamer in
+die Seele schneiden als die wildesten Schreie der Verzweiflung.</p>
+
+<p>Oft, wenn wir aus dem Dunkel sparsam verteilter<a name="Page_65" id="Page_65"></a>
+Laternen kamen und das Licht der Friedrichstadt uns
+blendend empfing, haftete mein Auge staunend an den
+gl&auml;nzenden Spiegelscheiben der L&auml;den und der Restaurants.
+Prahlend breiteten sich hinter den einen all die
+Herrlichkeiten aus, die den Gaumen laben, den K&ouml;rper
+schm&uuml;cken, das Leben bereichern; lachend, scherzend, mit
+vollen Taschen und gl&auml;nzenden Augen sa&szlig;en hinter den
+anderen die reizenden Frauen, deren einziger Daseinszweck
+ihre Sch&ouml;nheit zu sein schien, und die M&auml;nner,
+die ihnen huldigen. Wie war es nur m&ouml;glich, da&szlig; die
+von drau&szlig;en, aus den grauen H&auml;userzeilen und den
+werdenden Stra&szlig;en, nicht dicht gedr&auml;ngt, auf leisen
+Sohlen, wie Nachtgespenster, hierher sich schoben, um
+all die Pracht zu zertr&uuml;mmern, das Lachen erstarren
+zu machen?!</p>
+
+<p>Und in meinem Herzen nistete der Ha&szlig; sich ein f&uuml;r
+alle die, die nicht mehr hassen konnten.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Am fr&uuml;hen Morgen des 18. August war es. Eine
+arme Frau hatte ich besucht, die ich auf einem
+unserer Wege gefunden hatte. Sie war sterbenskrank, &mdash; ach,
+und wie gern wollte sie sterben, wenn nur
+die Kinder nicht gewesen w&auml;ren, die sie fester als alle
+Arzeneien der Welt ans Leben ketteten. Die durchsichtigen
+Finger durften sich nicht zum Schlafen friedlich
+ineinanderfalten, sie hielten krampfhaft die wei&szlig;e Leinwand
+fest, um zierliche Namensz&uuml;ge, stolze Freiherrn- und
+Grafenkronen hineinzusticken. Ein wenig Hoffnung
+hatte ich ihr gebracht, &mdash; Hoffnung, da&szlig; sie bald ruhig
+werde sterben d&uuml;rfen. Nun ging ich nach Hause, den<a name="Page_66" id="Page_66"></a>
+Kopf gesenkt; die Sonne tat mir weh. An der K&ouml;nigsstra&szlig;e
+geriet ich in einen Menschenschwarm, der mich
+mit sich ri&szlig;: geputzte Frauen mit jenem aus Neugierde,
+Aufregung und Nervenspannung gemischten Ausdruck in
+den Z&uuml;gen, der gew&ouml;hnliche Menschen bei allen gro&szlig;en
+Ereignissen, &mdash; seien es Feuersbr&uuml;nste oder Hochzeitsfeiern, &mdash; charakterisiert,
+M&auml;nner im Sonntagsstaat,
+irgend eine Medaille oder ein Kreuz auf der Brust,
+das in diesen Tagen der Freibrief f&uuml;r alles war: Betrunkenheit &mdash; man
+nannte sie Begeisterung&nbsp;&mdash;, Roheit
+gegen Nichtdekorierte, &mdash; man nannte sie Vaterlandsliebe.
+Ich sah um mich: Fahnen flatterten von den
+H&auml;usern, Stra&szlig;enverk&auml;ufer boten mit kr&auml;hender Stimme
+Kaisermedaillen aus, von ferne klang Trommelwirbel,
+Pferdegetrappel. Richtig: die Grundsteinlegung des
+Nationaldenkmals war heute.</p>
+
+<p>Mit liebevoller Wehmut, wie die Greisin vergilbte
+Liebesbriefe, hatte der Vater gestern die Generalsuniform
+aus ihren Seidenpapierh&uuml;llen herausgeholt,
+hatte die Stickerei, die Kn&ouml;pfe und die vielen Orden
+selbst mit einem Lederl&auml;ppchen abgestaubt und war
+gewi&szlig; heute fr&uuml;h, voll Erregung, zum Schlo&szlig; gefahren.</p>
+
+<p>Jetzt waren wir selbst bis dicht hinter die Schutzmannsketten
+vorgedrungen. Ein Vorw&auml;rts gab's nicht
+mehr, ein Zur&uuml;ck noch weniger. Es galt, auszuhalten.
+Die Galawagen der deutschen F&uuml;rsten rollten vor&uuml;ber
+in ihrer altert&uuml;mlich schwerf&auml;lligen Pracht, dr&ouml;hnenden
+Schrittes r&uuml;ckte die Garde auf den Schlo&szlig;platz, hinter
+ihr mit wehenden Fahnen Ulanen, Dragoner und im
+blitzenden K&uuml;ra&szlig; die Gardedukorps.</p>
+
+<p><a name="Page_67" id="Page_67"></a>Von hinten hauchte mir ein hei&szlig;er Atem in den Nacken,
+der nach klebrigem Biere roch; aus dem Halsausschnitt
+der dicken, kleinen Frau neben mir stieg ein s&uuml;&szlig;licher
+Schwei&szlig;geruch. Mich ekelte vor der Erregung der
+Menge; eindruckslos rauschte sogar die mich sonst
+elektrisierende Musik an meinem Ohre vor&uuml;ber; wie ein
+schlechtes Ausstattungsst&uuml;ck empfand ich das bunte Schauspiel
+vor mir. Unwillk&uuml;rlich fiel mir das Modell des
+Nationaldenkmals ein: wie gut pa&szlig;te es hierher mit
+seinen unruhigen Tier- und Menschengestalten, seinen
+Fahnen, Kanonen, Gewehren und S&auml;beln und dem
+theatralisch daherschreitenden Engel, der des alten Kaisers
+vierschr&ouml;tiges Schlachtro&szlig; f&uuml;hrt. Von seinem k&uuml;nftigen
+Standort, dem Winkel vor dem Schlo&szlig;, den man noch
+dazu dem Wasser hatte abringen m&uuml;ssen, t&ouml;nten Hammerschl&auml;ge,
+Kanonendonner fiel ein, die Luft ersch&uuml;tternd,
+von tiefen Glockenkl&auml;ngen untermischt.</p>
+
+<p>Glocken und Kanonen, &mdash; die f&uuml;hrenden Instrumente
+im Orchester der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft, mit denen
+sie das Weinen und Klagen der Millionen zu &uuml;bert&ouml;nen
+glaubt! Ich aber h&ouml;rte es, und ich wu&szlig;te: der
+Tag wird kommen, wo die Glocken vor ihm schweigen
+und die Kanonen vor ihm verstummen werden.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Vor dem Spiegel stand ich in meinem Schlafzimmer.
+Wie lange war es her, da&szlig; ich
+nichts als fl&uuml;chtige Blicke hineingeworfen
+hatte, die nur der Ordnung meiner Haare, meiner
+Kleidung galten. Heute sah ich mich wieder: sch&auml;rfer
+<a name="Page_68" id="Page_68"></a>waren meine Z&uuml;ge geworden und schmaler mein Gesicht,
+meine Gestalt aber war noch immer die eines
+jungen M&auml;dchens. Ich l&auml;chelte: &#8250;Frau&#8249; von Glyzcinski &mdash; und
+ein M&auml;dchen, ein altes M&auml;dchen sogar von
+drei&szlig;ig Jahren! Aber ich wollte nicht alt sein, &mdash; heute
+nicht. Ich f&uuml;hlte wieder, wie ich rot wurde.
+Da&szlig; das Weib in mir sich nicht t&ouml;ten lie&szlig;! Wo doch
+so vieles schon gestorben war!</p>
+
+<p>Es klingelte. Kurz und scharf. Die Aufw&auml;rterin
+hatte ich fr&uuml;h schon nach Hause geschickt, sie war so alt
+und so h&auml;&szlig;lich. Dem Besuch, den ich erwartete, wollte
+ich selber &ouml;ffnen.</p>
+
+<p>&raquo;Gn&auml;dige Frau?!&laquo; &mdash; Eine &uuml;berraschte, fragende
+Stimme. Ich unterschied im D&auml;mmerlicht der Treppe
+und des Flurs die Silhouette eines Mannes, mit dem
+weiten Mantel &uuml;ber den Schultern, dem breiten Schlapphut
+auf dem Kopf. Ich selbst in meinem schwarzen
+Kleid mu&szlig;te ihm nur wie ein Schatten erscheinen. Ich
+ging ihm voran ins Zimmer, das flutendes Sonnenlicht
+durchstrahlte, wie einst, da ich zum erstenmal &uuml;ber die
+Schwelle trat. Ich wendete mich um, &mdash; meine Hand
+blieb vergessen in der Heinrich Brandts. &raquo;Wir sind
+uns &mdash; keine Fremden&nbsp;&mdash;,&laquo; stotterte ich verlegen. &raquo;Nein, &mdash; nein&nbsp;&mdash;,&laquo;
+antwortete er und sah mich noch immer
+an. Die Uhr auf dem Schreibtisch holte zum Schlagen
+aus. Ich zuckte zusammen, setzte mich hastig, und steif
+und f&ouml;rmlich lud ich auch ihn zum Sitzen ein.</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; wiederholte er, und seine Augen lie&szlig;en
+mich noch immer nicht los, w&auml;hrend sein Gesicht
+heller zu werden schien, &raquo;&mdash;&nbsp;Sie sind mir keine
+Fremde. Kennen Sie das?&laquo; Er zog das graue Heft
+<a name="Page_69" id="Page_69"></a>der Wiener &raquo;Zeit&laquo; aus seiner Rocktasche. &raquo;Im Grunde
+ein ganz dummer, kleiner Artikel, den Sie da geschrieben
+haben, und doch so wundervoll! Ein ganzer Mensch
+steckt dahinter!&laquo;</p>
+
+<p>Mir wurde warm ums Herz. Seine Worte streichelten
+mir die Wangen, seine Stimme erf&uuml;llte die Luft
+um mich mit einem einzigen Wohllaut.</p>
+
+<p>&raquo;Und Ihr Plan interessiert mich sehr. Ich habe
+auch gar nicht abgewartet, bis Sie endlich die Gnade
+hatten, mich herzubefehlen&laquo;, &mdash; er l&auml;chelte ein wenig
+maliti&ouml;s, &raquo;Sie haben, wie ich h&ouml;re, Freund Reinhard
+den Vortritt gelassen, &mdash; ich habe indessen, ohne zu
+fragen, den Schritt getan, von dessen Erfolg Ihre ganze
+Sache abh&auml;ngt.&laquo; Ich sah fast erschrocken auf. &raquo;Oder
+sollten Sie wirklich nicht daran gedacht haben, da&szlig;
+Geld, viel Geld dazu geh&ouml;rt?&laquo; Ich nickte l&auml;chelnd.
+&raquo;Ich schrieb an einen unserer ernsthaftesten und reichsten
+Sozialreformer und schickte ihm Ihr Programm. Ich
+zweifle nicht, da&szlig; er die Sache in angemessener Weise
+finanzieren wird.&laquo;</p>
+
+<p>Ich versuchte, ihm zu danken; es kam vor tiefer
+innerer Erregung ungeschickt und h&ouml;lzern heraus.</p>
+
+<p>&raquo;Lassen Sie doch diese Formalit&auml;ten!&laquo; sagte er.
+&raquo;Wenn jemand Dank verdient, so sind Sie es, die den
+Gedanken hatten. Ich bin bestenfalls nichts als sein
+untergeordnetes Werkzeug.&laquo;</p>
+
+<p>Wir sprachen noch lange miteinander. Ich erz&auml;hlte
+von allem, was mir seit den letzten Wochen das Herz
+bewegte, und Leidenschaft und Ha&szlig; und Liebe brachen
+durch die D&auml;mme, die Einsamkeit und Zur&uuml;ckhaltung
+um sie aufgeschichtet hatten.</p>
+<p><a name="Page_70" id="Page_70"></a></p>
+<p>&raquo;Sie sind wie eine Flamme, die lodernd gen Himmel
+strebt,&laquo; fl&uuml;sterte er wie zu sich selbst.</p>
+
+<p>Als er gegangen war, blieb ich regungslos, die H&auml;nde
+fest ineinandergekrampft, mitten im Zimmer stehen. War
+das ein Traum gewesen, oder hatte er wirklich hier vor
+mir gestanden?! In diesem selben Zimmer, wo ich Georg,
+meinen einzigen Freund, gefunden und verloren hatte?!</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Tag gegen Abend kam er wieder.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin zudringlich, nicht wahr?&laquo; lachte er mir entgegen.
+&raquo;Aber Sie kommen mir vor, wie ein verflogenes
+V&ouml;gelchen, das sich an Scheiben und W&auml;nden den Kopf
+st&ouml;&szlig;t und einer Hand bedarf, die es f&auml;ngt und ins
+Freie l&auml;&szlig;t.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&ouml;gen recht haben. Ich bilde mir wohl nur
+ein, da&szlig; ich in Freiheit fl&ouml;ge, und die anderen Leute
+waren bisher kurzsichtig genug, mich darin zu best&auml;rken,
+wohl gar zu bewundern&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Es d&auml;mmerte. &raquo;Entschuldigen Sie einen Augenblick,&laquo;
+sagte ich und ging hinaus, um die Lampe zu holen.
+Als ich wiederkam, fand ich ihn &uuml;ber das Manuskript
+eines Artikels gebeugt, den ich eben vollendet hatte.
+&Auml;rgerlich wollte ich ihn vom Schreibtisch weg an mich
+rei&szlig;en. &raquo;Verzeihen Sie&nbsp;&mdash;&laquo;, fest dr&uuml;ckte er die Hand
+darauf, &mdash; &raquo;das geh&ouml;rt zu meinem Vogelfang. Wie
+kommen Sie dazu, dergleichen zu schreiben?!&laquo; Ich erschrak
+vor dem finsteren Gesicht, das er mir pl&ouml;tzlich
+zuwandte. &raquo;'Londoner Gef&auml;lligkeit'! Haben Sie nichts
+Besseres zu tun?!&laquo; Sein Blick blieb an der Lampe
+haften, die ich zitternd auf den Tisch stellte. Seine Stirn
+gl&auml;ttete sich, forschend sahen die gro&szlig;en grauen Augen
+mir ins Gesicht.</p>
+<p><a name="Page_71" id="Page_71"></a></p>
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen sich selbst bedienen? &mdash; Sie &ouml;ffnen mir
+immer selbst?!&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich senkte einen Augenblick lang den Kopf.</p>
+
+<p>&raquo;Wie Sie sehen: ja!&laquo; Meine Stimme, die zuerst
+ein wenig verschleiert klang, wurde klar und fest. &raquo;Ich
+kann mir ein Dienstm&auml;dchen nicht halten, und ich mu&szlig;
+solche Artikel schreiben, weil ich von meiner Pension
+nicht leben kann.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Verzeihen Sie, &mdash; aber wie konnte ich ahnen&nbsp;&mdash;&laquo;
+Er sah mir tief in die Augen.</p>
+
+<p>Wir waren von da an t&auml;glich zusammen, sei es, da&szlig;
+er mich zu einem Spaziergang abholte, sei es, da&szlig; wir
+uns in der Stadt trafen. Mit tiefer Begl&uuml;ckung empfand
+ich die zarte Sorgfalt, mit der er mich umgab.
+Wenn ich jetzt zu den Eltern kam und der Vater in
+heller Aufregung &uuml;ber die Sozialdemokraten schimpfte, &mdash; &raquo;lauter
+Hochverr&auml;ter, die man h&auml;ngen sollte&laquo;, &mdash; so
+h&ouml;rte ich nur mit halbem Ohre hin, es verletzte
+mich nicht; um mich lag es wie ein warmer, kugelfester
+Mantel, den die Freundschaft um mich geschlungen
+hatte.</p>
+
+<p>Die Freundschaft! &mdash; Ich glaubte an sie, &mdash; ich
+wollte an sie glauben, auch wenn die hei&szlig;en Wellen
+meines Herzens mich zu &uuml;berfluten drohten. &raquo;Sie
+m&uuml;ssen bald einmal mit mir hinauskommen zu meiner
+Frau und meinen Buben. Sie ist anders wie Sie, &mdash; ganz
+anders, aber klug und gut, &mdash; Sie werden einander
+verstehen,&laquo; hatte er mir einmal gesagt. Es kam
+aber noch immer nicht dazu, und ich dr&auml;ngte nicht
+danach.</p>
+
+<p>Eines Nachmittags sa&szlig;en wir zusammen auf dem
+<a name="Page_72" id="Page_72"></a>schmalen Balkon des Kaffee Klose. In weichem, silbernen
+Sonnenlicht fluteten unter uns auf der Leipziger Stra&szlig;e
+die Menschen auf und nieder. Ein fr&uuml;her Herbstnebel,
+zart und duftig wie Feenschleier, spielte um die endlosen
+H&auml;userreihen, und es schien, als d&auml;mpfte er selbst
+das Rasseln der Wagen.</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Sie nur, was ich heute bekam,&laquo; damit hielt
+ich ihm einen Brief entgegen. &raquo;Die Wiener Fabier
+fordern mich zu einem Vortrag auf&laquo; &mdash; Er nickte
+erfreut, ich sah ihn von der Seite an. &raquo;Ich habe
+keine Beziehungen in Wien,&laquo; fuhr ich nachdenklich
+fort, &raquo;&mdash;&nbsp;sollten Sie auch hier meine Vorsehung gewesen
+sein?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und wenn dem so w&auml;re?!&laquo;</p>
+
+<p>Ich reichte ihm still die Hand. Ganz sanft, als ob
+sie sehr zerbrechlich w&auml;re, nahm er sie in die seine, &mdash; eine
+zarte Hand mit dichtem Ge&auml;der und nerv&ouml;sen
+Fingern.</p>
+
+<p>&raquo;Glauben Sie,&laquo; fragte er langsam, nach einem Schweigen,
+das die N&auml;he zweier Menschen zueinander verr&auml;t, &raquo;glauben
+Sie, da&szlig; ein Tag kommen k&ouml;nnte, an dem unsere Freundschaft
+uns zwingt, einander &#8250;du&#8249; zu sagen?&laquo;</p>
+
+<p>Ein Zittern durchlief meinen K&ouml;rper. Ich antwortete
+nicht. Stumm standen wir auf, stumm fuhren
+wir zu mir nach Hause. Drinnen im Zimmer sahen
+wir uns an, das Herz schlug mir zum Zerspringen,
+die Finger erstarrten mir zu Eis.</p>
+
+<p>&raquo;Alix&nbsp;&mdash;,&laquo; wie ein Hauch kam mein Name &uuml;ber seine
+Lippen.</p>
+
+<p>&raquo;Du&nbsp;&mdash;,&laquo; mehr vermochte ich nicht zu sagen. Es
+dunkelte mir vor den Augen. Einen Herzschlag lang
+<a name="Page_73" id="Page_73"></a>f&uuml;hlte ich seinen Mund auf dem meinen, &mdash; dann schlug
+die T&uuml;re, &mdash; ich war allein.</p>
+
+<p>Und die W&auml;nde schienen um mich zu kreisen, und
+der Glanz der Abendsonne wurde zu gl&uuml;henden Flammen.
+Wie Gesang lag es in der Luft von lauter Harfen, &mdash; meines
+Herzens Jubel hatte sie zum Klingen gebracht.
+In allen Weisen der Welt, im Ton s&uuml;&szlig;er Wiegenlieder
+und stolzer Siegeshymnen sang und jauchzte es:
+ich liebe.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wir verkehrten wie fr&uuml;her miteinander. Nur
+die Augen wagten es hier und da, eine
+andere Sprache zu sprechen als der Mund.
+Ich war mitten im Packen; schon starrten die lieben
+R&auml;ume mich fremd und &ouml;de an, als sein Weib kam,
+mich zu besuchen. Entgeistert sah ich sie an, als sie
+vor mir stand: sie war hochschwanger.</p>
+
+<p>Rasch warf ich die Kleider vom Sofa und n&ouml;tigte
+sie hinein, ihr vorsichtig die Kissen in den R&uuml;cken
+legend. Seine Frau! Sein Kind!! &mdash; Der Gedanke
+bohrte sich mir ins Gehirn, da&szlig; es mir den Kopf zu
+sprengen drohte. Nie, &mdash; nie hatte er mir von Liebe
+gesprochen, dachte ich, w&auml;hrend ich gleichg&uuml;ltig freundliche
+Phrasen mit ihr wechselte, nur immer von Freundschaft.
+Und dieser Frau vor mir mit den gro&szlig;en,
+breiten H&auml;nden und den stechenden dunklen Augen hatte
+ich nichts genommen &mdash; nichts, was ich nicht nehmen
+durfte. Denn da&szlig; ich ihn liebte, was schadete das
+ihr?! Und war nicht mein eigenes, gro&szlig;es, wundervolles
+Gef&uuml;hl und seine Freundschaft Gl&uuml;ckes genug
+<a name="Page_74" id="Page_74"></a>f&uuml;r mich, die ich gelernt hatte, auf alles Gl&uuml;ck zu verzichten?</p>
+
+<p>&raquo;Wir ziehen im Winter auch in die Stadt,&laquo; sagte sie
+ruhig, &raquo;sonst bekomme ich meinen Mann nicht mehr zu
+sehen&nbsp;&mdash;.&laquo; War das eine Anspielung? Ihr Gesicht blieb
+unbewegt. &raquo;&Uuml;brigens sah ich eben im Hause, wo Sie
+mieteten, eine Wohnung, die gut f&uuml;r uns passen w&uuml;rde.
+Das w&auml;re f&uuml;r alle Teile das beste&nbsp;&mdash;, und ich h&auml;tte
+doch auch etwas von Ihnen. K&ouml;nnte auch von Ihnen
+lernen, was mir leider noch an Verst&auml;ndnis f&uuml;r die
+Interessen meines Mannes fehlt.&laquo; Ich begriff sie nicht;
+war das echt, was sie sagte, oder lauerte Bosheit dahinter
+und Mi&szlig;trauen? Feuchtkalt lag ihre Hand beim
+Abschied in der meinen. Die Schleppe ihres seidenen
+Kleides raschelte hinter ihr her wie eine Schlange.
+Ich mu&szlig;te mich ans Fenster in die Sonne stellen, um
+wieder warm zu werden, nachdem sie mich verlassen
+hatte.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>&raquo;Gute Botschaft bringe ich!&laquo; Am fr&uuml;hen Morgen,
+ich sa&szlig; noch beim Fr&uuml;hst&uuml;ck, trat Heinrich
+Brandt in mein Zimmer, freudestrahlend.
+&raquo;Die Sache ist entschieden.&laquo; Ich griff hastig nach dem
+Brief, den er brachte und las. &raquo;Nach reiflicher &Uuml;berlegung
+habe ich mich dahin entschieden, das mir vorgelegte
+Projekt eines Zentralausschusses f&uuml;r Frauenarbeit
+insoweit zu unterst&uuml;tzen, als ich zun&auml;chst eine
+Summe von achttausend Mark j&auml;hrlich daf&uuml;r aussetze,
+die, wenn der Umfang der Arbeiten es sp&auml;ter notwendig
+macht, entsprechend gesteigert werden kann. Ich hoffe,<a name="Page_75" id="Page_75"></a>
+Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor, der Sie ja ausdr&uuml;cklich
+erkl&auml;rten, nur die Rolle eines unbeteiligten Vermittlers
+zu spielen, nicht zu nahe zu treten, wenn ich Sie bitte,
+Frau von Glyzcinski mitzuteilen, da&szlig; die Voraussetzung
+meiner Unterst&uuml;tzung, von der ich unter keinen Umst&auml;nden
+abweiche, die ist, da&szlig; die Leitung der Sache nicht in den
+H&auml;nden von Sozialdemokraten ruht. Diese meine Forderung
+entspringt keinerlei pers&ouml;nlicher Animosit&auml;t, sondern
+nur der Erkenntnis, der sich gegenw&auml;rtig kaum
+jemand verschlie&szlig;en kann, da&szlig; die Sozialdemokratie zu
+ruhiger Reformarbeit unf&auml;hig ist und die ma&szlig;gebenden
+Kreise einer von ihr ausgehenden Bewegung mit Recht
+ablehnend gegen&uuml;berstehen w&uuml;rden.&laquo;</p>
+
+<p>Ich hatte zuerst laut und freudig, dann immer langsamer
+und leiser gelesen. &raquo;Das nennen Sie eine gute
+Botschaft?&laquo; frug ich kopfsch&uuml;ttelnd. &raquo;Gerade heute sah
+ich in der Presse, wie alles von rechts und links nach
+einer neuen Auflage der Umsturzvorlage schreit. Und
+gestern erz&auml;hlte mein Vater, da&szlig; man im Kasino schon
+die Ma&szlig;regeln er&ouml;rtert, durch die die Sozialdemokraten
+mundtot gemacht werden sollen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Brandt unterbrach mich: &raquo;Nun &mdash; und? Wird Ihre
+Aufgabe dadurch etwa &uuml;berfl&uuml;ssig?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig; nicht. Aber f&uuml;r mein Gewissen kann es eine
+gr&ouml;&szlig;ere Aufgabe geben: mich in dem Augenblick der
+Verfolgung an die Seite derer zu stellen, die verfolgt
+werden. Die eigene &Uuml;berzeugung in die Tasche zu
+stecken, l&auml;&szlig;t sich nur so lange entschuldigen, als es keine
+Feigheit ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben recht &mdash; wie immer, wenn Ihre erste
+Empfindung spricht,&laquo; er dr&uuml;ckte mir die Hand, fest und
+<a name="Page_76" id="Page_76"></a>kameradschaftlich, &raquo;und doch m&ouml;chte ich Sie bitten: &uuml;berlegen
+Sie ruhig, ehe Sie antworten. Die Ausnahmegesetze
+sind bisher nichts als W&uuml;nsche und Drohungen,
+und das kl&auml;gliche Ende der Umsturzvorlage d&uuml;rfte kaum
+zu einer Wiederholung reizen.&laquo; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;...&nbsp;H&auml;ngt am Tage von St. Sedan Trauerfahnen
+aus, erhebt feierlichen Protest gegen den Massenmord
+und ehrt diejenigen, die zum Kriege hetzen, wie es ihnen
+geb&uuml;hrt: steckt sie als Verbrecher ins Zuchthaus.&laquo; Mein
+Vater hatte mir einen Zeitungsausschnitt geschickt, der
+diesen Satz aus der sozialdemokratischen Breslauer &#8250;Volkswacht&#8249;
+zitierte. Roh und h&auml;&szlig;lich, unw&uuml;rdig vor allem
+war er. Die geistigen Waffen, die wir f&uuml;hren, sollten
+blanker und damit auch sch&auml;rfer sein, dachte ich.</p>
+
+<p>Wenige Tage sp&auml;ter ver&ouml;ffentlichten die b&uuml;rgerlichen
+Zeitungen in Riesenlettern den Trinkspruch, den der
+Kaiser am Sedantag ausgebracht hatte:</p>
+
+<p>&raquo;...&nbsp;In die gro&szlig;e hohe Festesfreude schl&auml;gt ein Ton
+hinein, der wahrlich nicht dazu geh&ouml;rt; eine Rotte von
+Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen,
+wagt es, das deutsche Volk zu schm&auml;hen; wagt es, die
+uns geheiligte Person des allverehrten verewigten Kaisers
+in den Staub zu ziehen. M&ouml;ge das gesamte Volk in
+sich die Kraft finden, diese unerh&ouml;rten Angriffe zur&uuml;ckzuweisen.
+Geschieht es nicht, nun, dann rufe ich Sie,
+um der hochverr&auml;terischen Schar zu wehren, um einen
+Kampf zu f&uuml;hren, der uns von solchen Elementen befreit.&laquo;</p>
+
+<p>Wortlos reichte ich Brandt das Blatt, als er kam.
+&raquo;Was haben Sie beschlossen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Rotte von Menschen sind meine Br&uuml;der und
+Schwestern. &mdash; Ich lehne ab.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_77" id="Page_77"></a></p>
+<h2><a name="Drittes_Kapitel" id="Drittes_Kapitel"></a>Drittes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Ich stand in Wien auf der Rednertrib&uuml;ne des
+Ronachersaals und verneigte mich noch einmal
+vor dem applaudierenden Publikum. Ich wu&szlig;te:
+ich hatte nicht gesprochen wie sonst. Schon als der Vorsitzende
+mich an den dichtgedr&auml;ngten Reihen vorbeigef&uuml;hrt
+hatte, an den eleganten, grazi&ouml;sen Frauen, deren Toiletten
+nicht wie die der Berlinerin dazu da zu sein
+schienen, die Tr&auml;gerin unter der Last des Glanzes vergessen
+zu machen, sondern ihre Individualit&auml;t betonten,
+ihre Reize unterstrichen, an den jungen und alten
+Herren im Frack und Smoking mit den geschmeidigen
+Gestalten und dem s&uuml;ffisanten L&auml;cheln des Weltmanns,
+war mir der Kontrast zwischen dem k&uuml;hlen Ernst meines
+Vortrags und dieser Umgebung zum Bewu&szlig;tsein gekommen.
+Dann war ein Wogen von bunten H&uuml;ten,
+ein Knistern von seidenen Kleidern, ein Funkeln von
+Brillanten unter mir gewesen. Operngl&auml;ser aus Silber
+und Perlmutter hatten sich auf mich gerichtet, und um
+das mattschimmernde Rokokoornament an den Decken
+und W&auml;nden des reizenden Konzertsaales hatte ein
+feiner, zarter Nebel geschwebt, gewoben aus Zigarettenrauch
+und Parf&uuml;m.</p>
+
+<p>Ich stieg die Stufen hinab. Man klatschte noch
+immer. Ich mu&szlig;te wohl so etwas wie eine neue Sen<a name="Page_78" id="Page_78"></a>sation
+gewesen sein, wie sie in Gestalt von S&auml;ngern,
+Taschenspielern und Diseusen auf dieser Trib&uuml;ne gew&ouml;hnlich
+zu erscheinen pflegte.</p>
+
+<p>&raquo;Ich gratuliere Ihnen&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte eine dunkle Stimme
+neben mir. Nur ein Mann in der Welt hatte solche
+Stimme! Es war Brandt. Und als meine Hand
+in der seinen lag, war mir, als st&uuml;nde ich allein mit
+ihm hoch auf einer Felseninsel und in der Ferne nur
+brandete das Meer der Welt.</p>
+
+<p>&raquo;Sie in Wien, &mdash; meinem geliebten Wien, und ich
+nicht neben Ihnen, &mdash; es kam mir absurd vor,&laquo; h&ouml;rte
+ich ihn leise sagen. Aber schon sah ich den Kreis, der
+sich um uns gebildet hatte: Menschen, die warteten,
+mich begr&uuml;&szlig;en zu k&ouml;nnen, mir vorgestellt zu werden,
+der Vorstand der Fabier, der mich zum Essen geladen
+hatte. Ich gewann meine Fassung wieder, und w&auml;hrend
+mein Herz hoch aufschlug vor Freude, hatte ich das Bed&uuml;rfnis,
+gegen alle, die sich mir n&auml;herten, doppelt und
+dreifach freundlich zu sein.</p>
+
+<p>In einem halbdunkeln verr&auml;ucherten Kaffee sp&auml;t am
+Abend trafen wir uns wieder. Brandt erwartete mich
+mit <em class="antiqua">Dr.</em> Geier, seinem Schwager, dem F&uuml;hrer der &ouml;sterreichischen
+Sozialdemokratie, und einem Kreis von Parteigenossen,
+die mitten in einer Debatte j&auml;h verstummten,
+als ich eintrat. Sie hatten sich offenbar gezankt, was
+ich mit der ganzen Empfindlichkeit der Frohgelaunten sofort
+empfand. Man stand auf, man begr&uuml;&szlig;te mich, aber
+meine Anwesenheit wirkte sichtlich st&ouml;rend. Eine kleine
+br&uuml;nette Frau mit gl&auml;nzenden braunen Augen f&uuml;hlte
+das Peinliche der Situation und zog mich auf einen
+Stuhl neben sich.</p>
+<p><a name="Page_79" id="Page_79"></a></p>
+<p>&raquo;Ich bin Adelheid Popp,&laquo; sagte sie einfach, &raquo;ich
+habe mich so an Ihrem Vortrag gefreut und w&uuml;nschte
+nur, unsere Arbeiterinnen h&auml;tten ihn h&ouml;ren k&ouml;nnen.&laquo;
+&raquo;Das h&auml;tte ich auch gew&uuml;nscht, &mdash; er w&auml;re dann
+besser gewesen,&laquo; antwortete ich. Ihre Augen lachten
+mich an. &raquo;Wissen Sie was?!&laquo; rief sie lebhaft.
+&raquo;Wiederholen Sie ihn in einer Volksversammlung!&laquo;
+Mit freudiger Zustimmung schlug ich in die dargebotene
+kleine, warme Hand. &raquo;Aber garantieren kann ich nicht,
+da&szlig; es derselbe Vortrag wird!&laquo; Wir vertieften uns in
+ein Gespr&auml;ch, und ich erfuhr, da&szlig; diese zierliche Frau
+eine arme Arbeiterin gewesen war, von dem Augenblick
+an aber, wo sie der Sozialismus gewonnen hatte, zu
+einer begeisterten Vork&auml;mpferin der Arbeiterbewegung
+sich entwickelt habe. Ganz anders war sie wie unsere
+deutschen Frauen: heiter und gutm&uuml;tig, ohne eine Spur
+jener steifen Zur&uuml;ckhaltung, die daheim all meinem Entgegenkommen
+zu spotten schien. &raquo;Sie sollen mal schauen,
+was in Wien eine Volksversammlung hei&szlig;t!&laquo;</p>
+
+<p>Das Gespr&auml;ch der anderen hatte indessen da wieder
+angekn&uuml;pft, wo ich den Faden zerrissen hatte. Ich
+h&ouml;rte zu.</p>
+
+<p>&raquo;Ist es nicht unerh&ouml;rt f&uuml;r einen praktischen Politiker,
+sich auf Seite der breslauer Hundertachtundf&uuml;nfzig zu
+stellen und einen blutleeren Theoretiker wie Kautsky
+zu verteidigen?!&laquo; rief Brandt, w&auml;hrend die dunkeln
+Brauen sich ihm eng zusammenzogen und die Augen
+dem Gegner zornig entgegenblitzten.</p>
+
+<p>&raquo;Bist du vielleicht in deiner gegenteiligen Stellung
+zur Agrarfrage weniger Theoretiker als er?!&laquo; sp&ouml;ttelte
+Geier. &raquo;Die G&uuml;ter, auf denen du dir die Sporen des<a name="Page_80" id="Page_80"></a>
+Praktikus verdient hast, liegen doch auf dem Monde!&laquo;
+Mit einer entschuldigenden Geb&auml;rde wandte er sich mir
+zu. &raquo;Verzeihen Sie, wenn wir uns auch in Ihrer
+Gegenwart noch mit so uninteressanten Dingen besch&auml;ftigen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie brauchen sich vor mir nicht zu entschuldigen,&laquo;
+antwortete ich, &raquo;mich haben die Verhandlungen des
+breslauer Parteitags lebhaft interessiert, und da ich leider
+bis heute noch nicht wei&szlig;, auf welcher Seite ich stehe,
+so h&ouml;re ich Debatten wie den Ihren besonders gerne zu.&laquo;</p>
+
+<p>Und nun wogte der Streit wieder hin und her.
+Brandt verteidigte die von der Mehrheit des breslauer
+Parteitages abgelehnten Vorschl&auml;ge der Agrarkommission,
+als &raquo;notwendige Forderungen der Gegenwartspolitik&laquo;,
+als ein erfreuliches Zeichen f&uuml;r die wachsende Erkenntnis,
+da&szlig; eine Partei von der Gr&ouml;&szlig;e der deutschen Sozialdemokratie
+die Interessen weiterer Volkskreise vertreten
+m&uuml;sse, als nur die der Industriearbeiter. &raquo;&Uuml;brigens,
+was zanken wir uns, lieber Viktor?&laquo; meinte er schlie&szlig;lich
+und warf mit einer hochm&uuml;tigen Geste den Kopf
+zur&uuml;ck. &raquo;Du w&auml;rst der Erste, die Vorschl&auml;ge nicht nur zu
+akzeptieren, sondern selbst zu machen und gegen alle
+Welt zu verteidigen, oder &mdash; wie Sch&ouml;nlank treffend
+sagte &mdash; eine Revision der Vorstellungsweise in der
+Partei herbeizuf&uuml;hren, wenn du in die Lage versetzt
+w&uuml;rdest, Landagitation treiben zu m&uuml;ssen.&laquo;</p>
+
+<p>Geier hieb w&uuml;tend auf den Tisch, da&szlig; die Tassen
+klirrten und der Kellner, der verschlafen an einer S&auml;ule
+lehnte, erschrocken die Augen aufri&szlig; und dienstfertig
+die Serviette schwenkte. &raquo;Da liegt doch gerade der
+Hase im Pfeffer: ich bin eben nicht in der Lage und<a name="Page_81" id="Page_81"></a>
+Ihr, trotz Eurer anderthalb Millionen Stimmen auch
+nicht! Konzentriert doch Eure Werbekraft auf die Millionen
+Lohnarbeiter, die Euch noch fehlen, und la&szlig;t
+Eure Enkel sich &uuml;ber die h&ouml;here Bauernf&auml;ngerei den
+Kopf zerbrechen! Was du praktisch nennst, ist eben unpraktisch
+im h&ouml;chsten Grade. Das Aufrollen dieser
+schwierigen und g&auml;nzlich unaufgekl&auml;rten Fragen, &mdash; ob
+die Konzentration des Kapitals in der Landwirtschaft
+sich nach denselben Gesetzen vollzieht wie in Industrie
+und Handel oder nicht, ob wir daher mit der Proletarisierung
+der Bauern oder mit der Vermehrung der
+l&auml;ndlichen Kleinbetriebe zu rechnen haben werden, &mdash; all
+das noch dazu auf einem seiner ganzen Zusammensetzung
+nach inkompetenten Parteitag, ist nur geeignet,
+die Parteigenossen zu verwirren. &Uuml;ber theoretischem
+Gez&auml;nk, das Ihr Reichsdeutsche so liebt, wird ein gut
+Teil praktischer Arbeit zum Teufel gehen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und glaubst du etwa, die Annahme der lendenlahmen
+Resolution Kautsky, die die Agrarfrage doch
+nicht aus der Welt schafft, sondern ihre L&ouml;sung nur
+auf die lange Bank schiebt, wird dies Gez&auml;nk verhindern?
+Im Gegenteil! Die Bebel und Sch&ouml;nlank
+und David werden sich nicht mundtot machen lassen,&laquo;
+entgegnete Brandt.</p>
+
+<p>Geier sch&uuml;ttelte &auml;rgerlich den gro&szlig;en Kopf mit den
+wirren blonden Haaren. &raquo;Bebel wird sich dem Beschlu&szlig;
+des Parteitages f&uuml;gen; &mdash; die anderen freilich,
+geborene Krakehler, getrieben durch den eigentlichen geheimen
+Generalstabschef des ganzen Feldzuges, Vollmar,
+werden die Parteidisziplin ihrer Rechthaberei
+opfern.&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_82" id="Page_82"></a>Die Diskussion der leidenschaftlichen M&auml;nner fing
+an, mich zu beunruhigen, &mdash; nicht ihrem Inhalt, wohl
+aber ihrer Form nach. Ich hatte Brandt noch nie so
+erregt gesehen, und etwas wie Furcht befiel mich. Kurz
+entschlossen erhob ich mich.</p>
+
+<p>&raquo;Verzeihen Sie, wenn mein Weggehen Sie st&ouml;rt wie
+mein Kommen, aber ich bin sehr m&uuml;de.&laquo; Alles brach
+auf, sichtlich erleichtert. Kalter Regen, mit kleinen
+spitzen Schneeflocken gemischt, schlug uns ins Gesicht,
+als wir heraustraten. Menschenleer war's in den engen
+Gassen. Ist das wirklich Wien, die Kaiserstadt? dachte
+ich fr&ouml;stelnd. Geier und Brandt begleiteten mich; wir
+verabredeten allerhand f&uuml;r den n&auml;chsten Tag. Ich erz&auml;hlte
+von den verschiedenen Einladungen, die ich bekommen
+hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Zu den Protzen werden Sie doch nicht gehen, die
+nur Staat mit Ihnen machen wollen?!&laquo; Brandts Stimme
+klang grollend, wie ferner Donner, und sein Blick ruhte
+beinahe drohend auf mir. Und doch erschrak ich nicht;
+es lag im Ton etwas, das mir das Blut in Wallung
+brachte, etwas, das klang, wie ein Besitzergreifen. &raquo;Bist
+du Frau von Glyzinskis Vormund?&laquo; brummte Geier.</p>
+
+<p>&raquo;Verzeihen Sie mir meine Heftigkeit&nbsp;&mdash;,&laquo; fl&uuml;sterte
+Brandt, und im raschen Wechsel seines Mienenspiels
+hatte seine Stirn sich wieder gegl&auml;ttet, war sein Auge
+wieder klar geworden. Ich senkte stumm den Kopf.</p>
+
+<p>Z&ouml;gernd, als fesselten sie magnetische Kr&auml;fte, glitten
+unsere H&auml;nde auseinander. Er betrat mit mir das
+Hotel. &raquo;Du &mdash; wohnst auch hier?!&laquo; sagte Geier &uuml;berrascht.</p>
+
+<p>Ich schlief nicht in dieser Nacht. Es lag schwer<a name="Page_83" id="Page_83"></a>
+und dumpf auf mir, und ich wollte &mdash; wollte nicht
+denken.</p>
+
+<p>Wir fuhren am n&auml;chsten Morgen zusammen nach
+Sch&ouml;nbrunn.</p>
+
+<p>Alle Einladungen hatte ich abgelehnt.</p>
+
+<p>Graue Sp&auml;therbststimmung beherrschte die Natur. Die
+letzten Bl&auml;tter rieselten von den B&auml;umen, ohne da&szlig; ein
+Windhauch sich regte.</p>
+
+<p>Im freien Walde sind selbst die dunkeln Tage sch&ouml;n:
+des Laubes beraubt, reckt sich nackt und kraftvoll das
+starke schwarze Ge&auml;st gen Himmel, ein wundervoller
+Teppich vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Rot in halb
+verblichenen weichen Farben spielend, breitet sich unter
+ihm aus. Aber die G&auml;rten, die des Menschen Kunst
+gestaltet, starren uns an wie der Tod. Sie leben nur,
+wenn im Rasenteppich die bunten Beete bl&uuml;hen, wenn
+das Laub der geschnittenen Hecken und der Kugelb&auml;ume
+die armen krummen, um ihr nat&uuml;rliches Wachstum betrogenen
+&Auml;stchen dicht umkleidet, wenn von den Terrassen
+herunter, aus den Tritonenbecken empor das
+Wasser rauscht und springt, und die Sonne sich lachend
+in den Scheiben der Schlo&szlig;fenster spiegelt. Dann spielen,
+wie gro&szlig;e Schmetterlinge, Kinder in hellen Kleidern
+auf den breiten gelben Kieswegen, soda&szlig; der Garten
+voll Freude sogar der sch&ouml;nen Damen in Reifrock und
+Puderper&uuml;cke vergi&szlig;t, die einst mit dem grazi&ouml;sen Geschw&auml;tz
+ihrer roten Lippen und dem lustigen Klappern
+ihrer St&ouml;ckelschuhe seine G&auml;nge belebten.</p>
+
+<p>Heute waren wir allein, zwei graue Gestalten, zwischen
+bl&auml;tterlosen Laubeng&auml;ngen und schlafenden Font&auml;nen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind so bla&szlig;,&laquo; sagte Brandt, &raquo;der Heimweg
+<a name="Page_84" id="Page_84"></a>gestern im Schnee hat Ihnen geschadet&nbsp;&mdash;.&laquo; Ich sch&uuml;ttelte
+den Kopf. &raquo;Meine Roheit hat Sie verletzt?&laquo; Ich sah zu
+ihm auf, aber das L&auml;cheln, das ich ihm zeigen wollte,
+erstarb mir auf den Lippen. So m&uuml;de, so traurig war
+sein Blick. In dem meinen blieb er hangen. Es war
+wie ein Abschiednehmen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe es mir &uuml;berlegt, stunden-, n&auml;chtelang,&laquo;
+kam es tonlos &uuml;ber seine Lippen, &raquo;ich mu&szlig; fort von
+Berlin &mdash; mit meiner Fr&nbsp;...&nbsp;&mdash;,&laquo; er stockte, &raquo;mit Rosalie&nbsp;&mdash;,&laquo;
+verbesserte er sich hastig, &raquo;bis &mdash; bis die Entbindung
+vor&uuml;ber ist. Es ist besser, &mdash; besser f&uuml;r uns
+alle.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja,&laquo; sagte ich, die Kehle schn&uuml;rte sich mir zusammen.</p>
+
+<p>Dann gingen wir. Wo waren wir doch nur noch
+an diesem Tage? Ich entsinne mich nicht. Meine Augen
+nahmen Bilder auf, von denen meine Seele nichts wu&szlig;te.</p>
+
+<p>Sp&auml;ter trafen wir wieder irgendwo in einem Kaffee
+mit Geier zusammen. Es kamen noch allerlei Menschen,
+die ich an meinem Vortragsabend gesehen hatte, sie
+gingen mit k&uuml;hlem Gru&szlig; und vieldeutigem L&auml;cheln an
+uns vor&uuml;ber.</p>
+
+<p>&raquo;Du siehst,&laquo; h&ouml;rte ich Geier leise sagen, w&auml;hrend er
+mich in die Zeitung vertieft glaubte, &raquo;zum mindesten
+h&auml;ttest du nicht im selben Hotel mit ihr wohnen d&uuml;rfen.&laquo;
+Brandt fuhr auf. Flehend sah ich zu ihm hin&uuml;ber.
+Er schwieg. Die Kellner brachten die Abendbl&auml;tter.
+&raquo;Na, da haben wir's ja,&laquo; rief Geier, nachdem er sie
+rasch &uuml;berflogen hatte, und st&uuml;rzte mit einem kurzen
+Gru&szlig; davon in seine Redaktion.</p>
+
+<p>Ich las. &raquo;Aus Berlin wird uns soeben mitgeteilt:
+Nachdem seit einiger Zeit die politische Polizei eine
+<a name="Page_85" id="Page_85"></a>fieberhafte T&auml;tigkeit entwickelte und Haussuchungen umfassender
+Art bei fast allen bekannten Mitgliedern der
+sozialdemokratischen Partei stattfanden, bringt der Reichs- und
+Staatsanzeiger heute folgende Bekanntmachung:
+&#8250;Es wird hiermit zur &ouml;ffentlichen Kenntnis gebracht,
+da&szlig; nachstehende Vereine: die sechs sozialdemokratischen
+Wahlvereine, die Pre&szlig;kommission, die Agitationskommission,
+die Lokalkommission, der Verein &ouml;ffentlicher
+Vertrauensm&auml;nner, der Parteivorstand der sozialdemokratischen
+Partei Deutschlands auf Grund des &sect;8 des
+Versammlungs- und Vereinsrechts vorl&auml;ufig geschlossen
+sind.&#8249;&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Kurz vor der Volksversammlung, in der ich sprechen
+sollte, besuchte ich Geier in seiner Redaktion,
+engen, halbdunklen R&auml;umen im Souterrain eines
+alten Hauses. Von fast undurchdringlichem Tabaksqualm
+war sein Zimmer gef&uuml;llt, das den merkw&uuml;rdigen
+Mann, der grundh&auml;&szlig;lich war und hinrei&szlig;end sch&ouml;n sein
+konnte, der stotterte und doch der gl&auml;nzendste Redner
+war, phantastisch umwogte. &raquo;Ich habe nur eine kurze
+Frage an Sie,&laquo; sagte ich, &mdash; nichts war ihm widerw&auml;rtiger,
+wie &uuml;berfl&uuml;ssiges Weibergeschw&auml;tz, &mdash; &raquo;ich
+m&ouml;chte in die Partei eintreten, &mdash; was halten Sie davon?&laquo;</p>
+
+<p>Er sah mich pr&uuml;fend an, von oben bis unten, strich
+sich mit der feinen Hand den wirren rotblonden Schnurrbart
+und zuckte die Achseln. &raquo;Bleiben Sie drau&szlig;en,&laquo;
+antwortete er schroff, &raquo;eine Krokodilshaut geh&ouml;rt dazu, &mdash; ich
+zweifle, da&szlig; Sie die haben&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und wenn ich Sie h&auml;tte?!&laquo;</p>
+<p><a name="Page_86" id="Page_86"></a></p>
+<p>&raquo;Dann, &mdash; ja dann tragen Sie wie wir Ihre Knochen
+auf den Markt der Partei&nbsp;&mdash;.&laquo; Er reichte mir mit
+kurzem Kopfnicken die Hand, &mdash; ich war entlassen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Und wieder stand ich auf der Rednertrib&uuml;ne,
+vor mir ein gro&szlig;er Saal, n&uuml;chtern wie eine
+Scheune, von flackernden Gasflammen erhellt.
+Von rechts und links str&ouml;mten die Menschen
+herein: junge und alte Frauen in Kopft&uuml;chern und
+Sch&uuml;rzen, die verfrorenen roten H&auml;nde and&auml;chtig gefaltet,
+M&auml;nner in Arbeitsblusen, tiefen Ernst auf
+den durchfurchten Gesichtern. Sie richteten alle die
+Augen auf mich, staunend, fragend, erwartungsvoll.
+Kopf an Kopf dr&auml;ngten sie sich um die schmale, niedrige
+Stufe, die mich &uuml;ber sie emporhob. Sie kauerten zu
+meinen F&uuml;&szlig;en, eng aneinandergeschmiegt: ein kleines
+Fabrikm&auml;dchen mit zerzaustem Blondhaar, ein junger
+Mann mit den klassischen R&ouml;merz&uuml;gen des S&uuml;dtirolers,
+ein altes M&uuml;tterchen, die welke Hand horchend hinter
+das Ohr gelegt. Und mir war, als w&ouml;lbe sich der
+niedrige Saal zum Dom; als tr&auml;ten die Abgesandten
+der Menschheit durch seine hohen weitge&ouml;ffneten Pforten.
+Tiefe, dem&uuml;tige Andacht erf&uuml;llte mich. Die Welt, die
+drau&szlig;en war, versank. Denen, die mich umringten, geh&ouml;rte
+von dieser Minute an meine Kraft und meine
+Hoffnung. Da&szlig; ich mich ihnen gab: meinen Arm den
+Schwachen, meine Beredsamkeit den Stummen, meinen
+an Gipfelwanderungen gewohnten Fu&szlig; den Lahmen, und
+den Blinden mein Auge, das die Befreiung sah, &mdash; das
+war dieser Stunde stilles Gel&ouml;bnis.</p>
+<p><a name="Page_87" id="Page_87"></a></p>
+<p>&raquo;Genossen und Genossinnen&nbsp;&mdash;&laquo; Hell und scharf,
+wie ein Schlachtruf, klang meine eigene Stimme mir
+ins Ohr. Der Jubel der Menge umbrauste mich, w&auml;hrend
+ich weiter sprach. Das blasse Gesicht des kleinen
+Fabrikm&auml;dchens vor mir fing an zu gl&uuml;hen, dem alten
+M&uuml;tterchen rollten die Tr&auml;nen &uuml;ber die welke Wange
+und die klassischen R&ouml;merz&uuml;ge des Tirolers strafften sich
+in eiserner Energie.</p>
+
+<p>Als ich geendet hatte, war es sekundenlang still, &mdash; dann
+eine Beifallssalve, zahllose H&auml;ndedr&uuml;cke von schwieligen
+F&auml;usten, und lauter und lauter anschwellend der
+Kriegsgesang der Arbeitermarseillaise. In ihrem Takt
+schob sich die Menge hinaus, auf der Stra&szlig;e klang sie
+fort, zog mit den Wandernden rechts und links in die
+nachtstillen Gassen, und auf dem ganzen Heimweg verfolgte
+mich ihre Melodie: aufreizend, siegesbewu&szlig;t.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Einen Tag sp&auml;ter als Brandt kam ich nach
+Berlin zur&uuml;ck. Er empfing mich am Bahnhof,
+bleicher, &uuml;bern&auml;chtiger als je. Wir fuhren zusammen
+nach der Kleiststra&szlig;e, wo wir nun schon zwei
+Monate wohnten, er mit seiner Familie im Vorderhaus,
+ich im Gartenhaus, in den zwei kleinen St&uuml;bchen.
+Wir konnten einander an der Mauer mit der Schweizer
+Landschaft vorbei in die Fenster sehen. Oft, wenn er
+bei mir gewesen war, tauchte hinter den wei&szlig;en Vorh&auml;ngen
+dr&uuml;ben ein Schatten auf, der mit gespenstischer
+Schnelle sein Gesicht zu verdunkeln schien. Dann erhob
+er sich, sah mich kaum an und verlie&szlig; das Zimmer.</p>
+
+<p>&raquo;Rosalie will nicht reisen, mit mir nicht,&laquo; erz&auml;hlte
+<a name="Page_88" id="Page_88"></a>er w&auml;hrend der Fahrt. &raquo;Sie behauptet, meine N&auml;he
+steigere nur ihr &Uuml;belbefinden, deshalb habe sie sich
+entschlossen, allein zu gehen und zwar &mdash; nach England.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nach England?&laquo; fragte ich erstaunt. &raquo;In dieser Jahreszeit?!
+Hat sie Freunde dort?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Niemanden! &mdash; Die fixe Idee einer Schwangeren,
+sagt der Arzt.&laquo;</p>
+
+<p>Ich schwieg, auf das tiefste betroffen. Mir, dem
+Weibe, schien sonnenklar, was ihre Beweggr&uuml;nde waren.
+Das Recht der Abwesenden wollte sie zur Geltung
+bringen, und ein instinktives Gef&uuml;hl trieb sie nach England&nbsp;&mdash;,
+woher ich gekommen war, wo ich, wie sie
+meinte, mir an Kenntnissen und Interessen erworben
+hatte, was ihren Mann an mich fesselte.</p>
+
+<p>Der Wagen hielt. &raquo;Ich komme gegen Abend hin&uuml;ber,&laquo;
+sagte ich und verabschiedete mich hastig vor der
+Haust&uuml;r. Ich mu&szlig;te allein sein. Meine Zimmer fand
+ich mit Blumen geschm&uuml;ckt, wie zu einem Fest. &raquo;Der
+Herr Doktor&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte die Aufw&auml;rterin mit s&uuml;&szlig;lichem
+L&auml;cheln und einem vertraulichen Blick.</p>
+
+<p>&raquo;Schon gut&nbsp;&mdash;,&laquo; unterbrach ich sie hastig und warf
+die T&uuml;re hinter mir ins Schlo&szlig;.</p>
+
+<p>Was nun?! Sie durfte nicht fort. Wirklich nicht?!
+Ein kalter Schauer lief mir &uuml;ber den R&uuml;cken. War es
+Furcht? Oder nicht vielmehr Freude &mdash; Freude, die wie
+ein orkangepeitschtes Meer alle D&auml;mme &uuml;berflutete, alles
+Denken begrub?! Allein &mdash; allein mit ihm &mdash; tage-,
+wochen-, monatelang! Ein ganzes Leben der Entsagung
+war kein zu teurer Preis daf&uuml;r! Wenn sie wiederkam,
+w&uuml;rde ich gehen, &mdash; aus seinem Gesichtskreis still ver<a name="Page_89" id="Page_89"></a>schwinden, &mdash; und
+zu ihr w&uuml;rde er zur&uuml;ckkehren, &mdash; zu
+ihr &mdash; und dem Kinde&nbsp;...</p>
+
+<p>Es klopfte. &raquo;Frau <em class="antiqua">Dr.</em> Brandt l&auml;&szlig;t gn&auml;dige Frau
+zum Abendbrot bitten&nbsp;&mdash;&laquo; &raquo;Ich komme&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Wir sa&szlig;en um den gedeckten Tisch: Brandt schweigsam,
+mit gerunzelten Brauen, die beiden kleinen Knaben &mdash; seine
+S&ouml;hne aus seiner ersten Ehe &mdash; versch&uuml;chtert
+und &auml;ngstlich von einem zum anderen blickend, ich, eine
+Unterhaltung m&uuml;hsam aufrecht erhaltend; sie allein schien
+lustig, fast &uuml;berm&uuml;tig, ihre Augen flimmerten, ihre
+gro&szlig;en wei&szlig;en H&auml;nde, die mir immer vorkamen, als
+h&auml;tten sie ein eigenes Leben, als w&auml;ren sie junge
+Raubtiere, &mdash; bewegten sich ruhelos, streichend, klopfend,
+sich dehnend, um sich gleich wieder zur Faust zu ballen,
+auf dem Tisch. Das M&auml;dchen kam und brachte einen
+Eisk&uuml;bel mit einer Flasche Champagner. Brandt sah
+mi&szlig;billigend auf seine Frau. &raquo;Wie kannst du, Rosalie, &mdash; in
+deinem Zustand!&laquo;</p>
+
+<p>Sie lachte.</p>
+
+<p>&raquo;Nur heute, &mdash; wo wir ein Fest miteinander feiern
+und ihr dasitzt wie &Ouml;lg&ouml;tzen und nicht lustig seid, &mdash; lustig
+wie ich! &mdash; Trinkt, Kinder, trinkt, so ein Abend
+kommt nicht so leicht wieder!&laquo; Sie st&uuml;rzte das erste
+Glas in einem Zug hinunter. Und dann sprach sie unaufh&ouml;rlich,
+fieberhaft. Von der Reise, die sie machen
+werde, von den Herrlichkeiten, die sie daf&uuml;r schon eingekauft
+habe &mdash; &raquo;drei seidene Kleider und H&uuml;te dazu,
+und einen Rohrplattenkoffer f&uuml;r zweihundert Mark, &mdash; mach'
+keine entsetzten Augen, Heinrich; ich wei&szlig; ja, du
+bezahlst es gern, &mdash; so gern!&laquo;&nbsp;&mdash;, von ihren Tr&auml;umen.
+&raquo;Ich sehe immer denselben Mann, der mir winkt, zu
+<a name="Page_90" id="Page_90"></a>dem ich hin mu&szlig;,&laquo; &mdash; ihre Stimme sank und ihre
+Augen weiteten sich, da&szlig; das Wei&szlig;e unheimlich gro&szlig;
+um die dunklen Pupillen stand &mdash; &raquo;und der mir helfen
+wird.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Trinken Sie nicht mehr&nbsp;&mdash;,&laquo; bat ich ersch&uuml;ttert und
+legte meine Hand auf die ihre, die eiskalt war. Sie
+sch&uuml;ttelte sie ab wie eine l&auml;stige Fliege.</p>
+
+<p>&raquo;Sie glauben, ich spr&auml;che im Rausch?!&laquo; sagte sie.
+&raquo;Sie irren. Ich bin n&uuml;chtern, ganz n&uuml;chtern, &mdash; ich
+wei&szlig; nur mehr als Sie, viel mehr, und &mdash; und ich
+glaube an Tr&auml;ume!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bist du denn nicht eifers&uuml;chtig auf deinen Rivalen,
+zu dem ich reise?&laquo; Damit wandte sie sich mit einem
+lauernden Blick aus halb geschlossenen Augen an ihren
+Mann.</p>
+
+<p>&raquo;Rosalie!&laquo; st&ouml;hnte er gequ&auml;lt. Rasch stand ich auf.
+Ich konnte die Blicke der Kinder nicht mehr ertragen.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist schon zu sp&auml;t f&uuml;r euch,&laquo; redete ich sie an und
+griff nach ihren H&auml;nden, &raquo;kommt, &mdash; ich bring' euch zu
+Bett.&laquo; Sie lachten dankbar.</p>
+
+<p>&raquo;Ach, Tante, bring uns doch immer zu Bett!&laquo; fl&uuml;sterte
+der &Auml;lteste, als er in den Kissen lag, und seine melancholischen
+Zigeuneraugen sahen mich flehend an. &raquo;Und
+morgen, bitte, bitte, erz&auml;hl uns eine Geschichte,&laquo; f&uuml;gte
+der J&uuml;ngste hinzu und richtete sich im Bett noch einmal
+auf.</p>
+
+<p>Indessen war es im Wohnzimmer zu einer heftigen
+Szene gekommen. Rosalie lag schluchzend auf dem
+Diwan. &raquo;Er will mich nicht reisen lassen, er will mich
+umbringen, &mdash; mich und das Kind,&laquo; schrie sie. &raquo;So
+m&auml;&szlig;ige dich doch, um Gottes willen!&laquo; beschwor sie Brandt
+<a name="Page_91" id="Page_91"></a>mit einem Blick auf die Glast&uuml;r, hinter der sich der
+Schatten des M&auml;dchens hin und her bewegte. Sie
+achtete nicht auf ihn, ihre Stimme wurde nur noch
+lauter und heftiger. &raquo;Ich halte es nicht mehr aus, &mdash; ich
+mag deine Bevormundung nicht, und deine schlechte
+Laune. Ich laufe davon&nbsp;&mdash;&laquo; Und ihr Schluchzen wurde
+zum Weinkrampf.</p>
+
+<p>Der Arzt wurde geholt. &raquo;Sie m&uuml;ssen ihrem Willen
+nachgeben, wenn Sie nicht das schlimmste riskieren
+wollen,&laquo; entschied er schlie&szlig;lich. &raquo;Nat&uuml;rlich darf sie
+nicht ohne Pflegerin reisen, &mdash; ich kann Ihnen eine
+empfehlen, auch eine gute deutsche Pension in London.&laquo;</p>
+
+<p>Schon am n&auml;chsten Morgen kam Rosalie zu mir, um
+Abschied zu nehmen. Sie war v&ouml;llig verwandelt, weich,
+freundlich, ruhig. Es war fast ein strahlendes L&auml;cheln,
+mit dem sie mir im Weggehen sagte: &raquo;Nun wei&szlig; ich
+gewi&szlig;: Alles &mdash; Alles wird gut werden.&laquo;</p>
+
+<p>Wie unter dem Zwang einer stillschweigenden Verabredung
+sahen Brandt und ich uns in der n&auml;chsten
+Zeit selten und nie allein. Ich a&szlig; dr&uuml;ben bei ihm mit
+den Kindern, nahm sie mit bei meinen Ausg&auml;ngen und
+sorgte f&uuml;r sie, soviel mir an Zeit daf&uuml;r &uuml;brig blieb.
+Mit wehm&uuml;tiger Freude sah ich, wie sie t&auml;glich mehr
+an mir hingen und mit all ihren kleinen W&uuml;nschen
+und K&uuml;mmernissen zu mir kamen. Weihnachten stand
+vor der T&uuml;r. &raquo;Einen richtigen Weihnachtsbaum machst
+du uns, Tante, nicht wahr?&laquo; bettelte W&ouml;lfchen, der
+J&uuml;ngste. &raquo;Im vorigen Jahr war er man soo klein.&laquo;
+&raquo;Ich m&ouml;chte am liebsten zur Mutter fahren, &mdash; wie
+ganz fr&uuml;her,&laquo; meinte Hans, der &Auml;lteste, und seine Augen
+schimmerten feucht. &raquo;Zur Mutter&nbsp;&mdash;?!&laquo; staunte ich.</p>
+<p><a name="Page_92" id="Page_92"></a></p>
+<p>&raquo;Nun ja, du wei&szlig;t doch, unsere richtige Mutter
+wohnt weit, weit weg in Wien,&laquo; plauderte Wolf; &raquo;sie
+ist immer krank. Aber im Sommer, da d&uuml;rfen wir sie
+besuchen, wenn sie in Schruns ist oder in Klobenstein&nbsp;&mdash;&laquo;
+&raquo;Die Rosalie ist gar nicht mit uns verwandt,
+aber auch gar nicht,&laquo; unterbrach ihn Hans eifrig,
+und mit einem fragenden Blick auf mich fuhr er z&ouml;gernd
+fort: &raquo;Unsere Marie sagt, sie kommt nicht wieder und &mdash; und
+du bleibst bei uns?!&laquo;</p>
+
+<p>Ich blieb ihm die Antwort schuldig. J&auml;her Schreck
+l&auml;hmte mir die Zunge. Ich hatte Brandt nach seiner
+ersten Frau nie gefragt, hatte geglaubt, sie sei fr&uuml;h
+gestorben. Welche Schicksale lasteten auf dem Mann,
+den ich liebte &mdash; t&auml;glich verzehrender, sehns&uuml;chtiger&nbsp;&mdash;,
+und rissen die jungen Seelen dieser Kinder in ihren
+Wirbeltanz?!</p>
+
+<p>Z&auml;rtlich zog ich die Knaben in meine Arme: &raquo;Seid
+brav, recht brav, da&szlig; der Vater sich an euch freut, dann
+sollt ihr einen Weihnachtsbaum haben wie noch nie!&laquo;</p>
+
+<p>Mit gl&uuml;hendem Eifer, der mich alles andere vergeben
+lie&szlig;, bereitete ich das sch&ouml;nste Fest des Jahres vor.
+Freude wollte ich um mich verbreiten, lauter &uuml;berschwengliche
+Freude. Mit dem Geld, das ich mir von
+Brandt f&uuml;r seine Kinder erbat, und das er mir verwundert
+gab &mdash; er hatte an Weihnachten gar nicht
+gedacht&nbsp;&mdash;, und den Goldst&uuml;cken, die mir ein paar Artikel
+eben eingetragen hatten, kaufte ich einen ganzen Jahrmarkt
+voll Spielzeug; und Pfefferkuchen und Marzipan
+und Schokolade, dazu Sch&uuml;rzen, B&auml;nder, und ein
+himmelblaues Kleid f&uuml;r das Dienstm&auml;dchen, das mich
+mit ihren kleinen blanken Augen immer so lustig an<a name="Page_93" id="Page_93"></a>lachte.
+Am Morgen des Weihnachtstages schlo&szlig; ich
+mich im E&szlig;zimmer ein und putzte die gro&szlig;e duftende
+Edeltanne mit lauter blitzendem Kram, mit roten Rosen
+und bunten Lichtern. Leuchten sollte sie wie das lebendig
+gewordene Gl&uuml;ck. Vielleicht wird sie ihm ein einziges
+frohes L&auml;cheln entlocken! dachte ich.</p>
+
+<p>Nachmittags mu&szlig;te ich zuerst zu den Eltern. Es
+wurde fr&uuml;h beschert, weil alle Familienmitglieder bei
+Onkel Walters geladen waren. Im Salon stand wie
+immer der Baum: farblos, schneewei&szlig;, sehr k&uuml;hl, sehr
+vornehm. Und davor unsere Tische, beladen mit Geschenken.
+Der Vater hatte sich einmal wieder nicht genug
+tun k&ouml;nnen. Er war in letzter Zeit f&uuml;r mich von
+einer G&uuml;te, die mir wehe tat, weil ich wu&szlig;te, da&szlig; sie
+nur einer T&auml;uschung ihr Dasein verdankte. Meine
+wiener Volksversammlungsrede hatte die deutsche Presse
+ignoriert, auch sonst mu&szlig;te es ihm scheinen, als z&ouml;ge
+ich mich mehr und mehr zur&uuml;ck. Was ich f&uuml;r die
+Tagespresse schrieb, &mdash; ich fing damals an, auch am
+&raquo;Vorw&auml;rts&laquo; gelegentlich mitzuarbeiten&nbsp;&mdash;, erschien ohne
+meine Unterschrift; die wesentlich literarisch-kritischen
+Artikel in den Wochenbl&auml;ttern hatten meist seinen Beifall.
+&raquo;Ich wollte dir handgreiflich zeigen, wie zufrieden
+ich mit dir bin&laquo;, &mdash; damit entschuldigte er gleichsam die
+F&uuml;lle der Gaben. Da&szlig; ich das wei&szlig;e Kleid und den
+Spitzenschal und die seidenen Str&uuml;mpfe und zierlichen
+Schuhe mit solcher Freude empfing, weil ich allein dessen
+gedachte, f&uuml;r den sie mich schm&uuml;cken sollten, &mdash; er ahnte
+es nicht! Nur die Mutter hatte schon hie und
+da mi&szlig;trauisch nach Brandts Gattin gefragt, wenn sie
+ihn allein bei mir traf, und zuweilen war uns die<a name="Page_94" id="Page_94"></a>
+Schwester begegnet und hatte uns mit vielsagendem
+L&auml;cheln begr&uuml;&szlig;t.</p>
+
+<p>Der Vater wollte mich durchaus nicht heimgehen
+lassen, wollte bei Onkel Walters absagen: &raquo;Wenn sie
+meine Tochter nicht haben wollen, so m&ouml;gen sie auch
+auf mich verzichten.&laquo; Es kostete M&uuml;he, ihn umzustimmen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin ja nicht allein&laquo;, sagte ich schlie&szlig;lich &mdash; sehns&uuml;chtig
+dachte ich an die erwartungsvollen Knabengesichter,
+an den stillen Abend mit ihm&nbsp;&mdash;, &raquo;ich mu&szlig;
+noch zur Bescherung im Kinderheim&laquo;, dabei wandte ich
+den Kopf dunkel ergl&uuml;hend zur Seite.</p>
+
+<p>Endlich konnt' ich gehen. Und mein bunter, lustiger
+Weihnachtsbaum funkelte und spr&uuml;hte, ein Fanal der
+Freude, ein Sonnwendfeuer, ein Gru&szlig; an das steigende
+Licht. Der Jubel der Kinder klang durch die R&auml;ume.
+&raquo;Du &mdash; du Zauberin,&laquo; fl&uuml;sterte eine tiefe Stimme mir
+ins Ohr.</p>
+
+<p>Still und feierlich, in ihr weiches glitzerndes Schneekleid
+geh&uuml;llt, erwachte die Erde am n&auml;chsten Morgen.
+Der Arbeitsl&auml;rm des Alltags war verstummt, und R&auml;derrollen
+und Menschenschritte klangen ged&auml;mpft auf dem
+Winterteppich. Es war Feiertag.</p>
+
+<p>Und im Festgewand stand ich und wartete dessen, der
+kommen mu&szlig;te.</p>
+
+<p>Mein Herzblut, das ich bereit war, restlos f&uuml;r ihn zu
+vergie&szlig;en, hatte es mit roten Rubinen bestickt, Schn&uuml;re,
+an denen die Tr&auml;nen meiner Sehnsucht schimmernd gereiht
+waren, schm&uuml;ckten mir den Nacken, mit Smaragden
+der Hoffnung waren die seidenen Schuhe besetzt an
+meinen F&uuml;&szlig;en, die ihm entgegengingen, und auf meinen
+Armen, die ihn umfassen wollten, funkelten, alle Farben
+<a name="Page_95" id="Page_95"></a>und allen Glanz der Welt in sich vereinend, die Diamanten
+meiner Leidenschaft. Und er kam, er sah mich, &mdash; und
+die armen kleinen Liebesworte sch&auml;mten sich
+ihrer millionenfachen Entweihung und verstummten.</p>
+
+<p>Nicht wie die Tage, die wie Kugeln am Z&auml;hlbrett
+gleichg&uuml;ltig rechnend weiter geschoben werden, waren
+die jenes sonnendurchleuchteten Winters. Die Nacht
+gebar einen jeden als Wesen g&ouml;ttlicher Art, ewigen
+Lebens voll. Hoch &uuml;ber die Erde trugen sie uns auf
+starken Fl&uuml;geln, und mochte drunten riesenhaft die
+schwarze Gestalt der Schuld die Arme drohend gegen
+uns recken, &mdash; wir sahen sie nicht. &mdash; Bis einer kam,
+der h&auml;&szlig;lich war und neidisch, und mit Faustschl&auml;gen an
+der T&uuml;re uns weckte aus unserem erdenfernen Liebestraum.</p>
+
+<p>Wir kehrten vom Wannsee zur&uuml;ck, wo wir unter blauem
+Himmel auf spiegelglattem Eis gemeinsam unsere Kreise
+gezogen hatten. Mit &auml;ngstlichem Gesicht hielt die gute
+Marie uns einen Brief entgegen. &raquo;Rohrpost &mdash; und
+Rosaliens Schrift&nbsp;&mdash;&laquo; Heinrichs Gesicht entf&auml;rbte sich.
+&raquo;Ich bin in Berlin und ersuche dich, mich vom Hotel
+aus abzuholen. Unser Kind soll im Vaterhause geboren
+werden,&laquo; schrieb sie. Noch am Abend traf sie ein. Ich
+sah ihren dunklen Schatten hinter den Vorh&auml;ngen. Ich
+wu&szlig;te, was er mir bedeutete: kein Verzichten nach kurzem
+gestohlenem Gl&uuml;ck, wie ich es einst geglaubt hatte, sondern
+Kampf um den Einsatz des ganzen Lebens. Mit
+dem Recht der Liebe geh&ouml;rte Heinrich mir. Alles andere
+&raquo;Recht&laquo; ist nur verschleiertes Unrecht.</p>
+
+<p>Sie verlangte meinen Besuch. Ich fand sie im Bett
+liegend, vollkommen ruhig, w&auml;hrend die Pflegerin damit
+<a name="Page_96" id="Page_96"></a>besch&auml;ftigt war, das Zimmer umzur&auml;umen. &raquo;In vierzehn
+Tagen etwa erwarte ich,&laquo; sagte sie nach gemessener
+Begr&uuml;&szlig;ung, &raquo;Heinrich ist nat&uuml;rlich sehr ungl&uuml;cklich, da&szlig;
+ich ihn jetzt schon ausquartiere,&laquo; mit sp&ouml;ttischem L&auml;cheln
+sah sie zwischen uns hin und her. Ich verabschiedete
+mich so rasch als m&ouml;glich und nahm mir vor, diese
+Kom&ouml;die freundschaftlicher Besuche nicht weiter zu spielen.</p>
+
+<p>Da&szlig; es jetzt f&uuml;r mich an der Zeit gewesen w&auml;re, zu
+gehen, fern von Berlin in aller Stille die Entwicklung
+der Dinge abzuwarten, &mdash; das f&uuml;hlte ich instinktiv. Aber
+die Leidenschaft, die mich beherrschte, machte mich taub
+f&uuml;r die leisen Stimmen meines Inneren. Ich konnte
+ja gar nicht fort, beruhigte ich mein Gewissen, ich hatte
+kaum die Mittel, um zu leben, wie viel weniger, um
+zu reisen, &mdash; ich war gerade jetzt unentbehrlich in
+Berlin, wo der Konfektionsarbeiterstreik t&auml;glich ausbrechen
+konnte.</p>
+
+<p>Es kamen auch viele einsame Stunden, wo meine
+Phantasie b&ouml;se Tr&auml;ume spann: Ich sah ein winziges
+Kinderh&auml;ndchen von unheimlicher Kraft, das mir
+den Geliebten entrei&szlig;en wollte. Nein: ich konnte
+nicht fort!</p>
+
+<p>Er besuchte mich seit Rosaliens R&uuml;ckkehr nur selten.
+Sie hatte ihr Bett und ihren Stuhl am Fenster so gestellt,
+da&szlig; sie zu mir her&uuml;bersehen konnte. Auch einen
+kleinen Spiegel hatte sie anbringen lassen, durch den
+ihr niemand entging, der den Hof betrat. Oft, wenn
+ich das Haus verlie&szlig;, um ihn zu treffen, war mir, als
+verfolge mich dies gl&auml;nzende runde Ding mit dem
+bohrenden Auge darin durch alle Stra&szlig;en. Zuweilen
+bemerkte ich auch, wie die Pflegerin, eine Johanniter<a name="Page_97" id="Page_97"></a>schwester
+mit einem ausgemergelten fanatischen Asketengesicht
+mir von ferne nachschlich. Im Traum sah ich
+sie dann auf meinem Bette sitzen und mit hungrigen
+Augen die Schrift gluthei&szlig;er Liebe lesen, die mir im
+Herzen geschrieben stand.</p>
+
+<p>Wir w&auml;hlten immer andere Orte f&uuml;r unsere Zusammenkunft:
+kleine Weinstuben, stille Konditoreien, wo
+es nach saurem Wein und altem Kuchen roch und die
+Kellner die Wissenden spielten. Es war so widerw&auml;rtig,
+da&szlig; wir es schlie&szlig;lich vorzogen, in Wind und Wetter
+drau&szlig;en im Wald zu sein, wo reine Luft unsere
+Stirnen k&uuml;hlte. Einmal f&uuml;hrte uns der Weg durch
+den Wald nach Paulsborn. Dicht lag der Nebel &uuml;ber
+dem See, ein feiner Regen st&auml;ubte vom Himmel. Er
+hatte mit seinem Arm seinen Mantel auch um mich
+geschlungen.</p>
+
+<p>&raquo;Vergi&szlig; mich, Alix, wenn du kannst,&laquo; sagte er, &raquo;la&szlig;
+den armen Kerl laufen, der allen Ungl&uuml;ck bringt, die
+ihm zu nahe kommen.&laquo;</p>
+
+<p>&Auml;ngstlich forschte ich in seinen verschlossenen Z&uuml;gen.
+&raquo;Willst du, da&szlig; ich gehe?&laquo; frug ich mit Betonung.</p>
+
+<p>Er zog mich fester an sich. &raquo;Ich m&uuml;&szlig;te es wollen,
+um deinetwillen! Und doch, wenn ich mir vorstelle, du
+t&auml;test es &mdash; lieber br&auml;cht' ich dich um!&laquo;
+Z&auml;rtlich dr&uuml;ckte ich meine Wange an seine Schulter.
+&raquo;Wenn das der Tod ist, den ich allein zu f&uuml;rchten
+habe, so werd' ich ewig leben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wei&szlig;t du denn auch, was dir bevorsteht&nbsp;&mdash;?&laquo; &raquo;Ja,&laquo;
+l&auml;chelte ich, &raquo;dein Weib werde ich sein, dein gl&uuml;ckseliges
+Weib!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Glaubst du so sicher, da&szlig; sie in die Scheidung
+<a name="Page_98" id="Page_98"></a>willigt, da&szlig; sie nicht vielmehr alles tun wird, um dich,
+um uns zu verderben?&laquo;</p>
+
+<p>Ich dachte schaudernd ihrer lauernden Blicke und
+ihrer Raubtierh&auml;nde. Aber ich verscheuchte das Angstgef&uuml;hl,
+das mich zu unterjochen drohte.</p>
+
+<p>&raquo;Nur die Trennung von dir w&auml;re mein Verderben,
+und die erzwingt sie nicht. Dir werd' ich geh&ouml;ren, auch
+wenn ich's vor der Welt nicht darf!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie werden alle mit Steinen nach dir werfen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Hast du mich lieb, bin ich unverwundbar&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>St&auml;rker str&ouml;mte der Regen, dicht &uuml;ber den schwarzen
+Kiefern schienen die Wolken zu lagern. Am warmen
+Ofen im Wirtshaus trockneten unsere M&auml;ntel. An
+Heimkehr war zun&auml;chst nicht zu denken. O, da&szlig; eine
+Sintflut uns umschl&ouml;sse wie eine Insel und kein Schiff
+den Weg zur&uuml;ckf&auml;nde in die Welt!</p>
+
+<p>&raquo;Kaum ein Jahr ist es her, da&szlig; ich Rosalie heiratete,&laquo;
+begann er nachdenklich, &raquo;wie heller Wahnsinn erscheint
+mir heute, was ich tat. In zarter R&uuml;cksicht hast du,
+Gute, nie gefragt und hast doch ein Recht, mehr von
+mir zu wissen, als da&szlig; ich dich liebe. Nach sechsj&auml;hriger
+Ehe, &mdash; Jahren steigender Qualen, in denen wir uns
+immer weiter voneinander entwickelten, &mdash; verlie&szlig; mich
+meine erste Frau. Ich h&auml;tte es ihr l&auml;ngst verziehen &mdash; sie
+litt ja wie ich!&nbsp;&mdash;, aber da&szlig; sie die beiden kleinen
+Kinder im Stiche lie&szlig;, das begriff ich nicht, werde es
+nie begreifen. Im Scheidungsproze&szlig; wurden sie mir
+zugesprochen. Und nun begann ein Leben dauernder
+Aufregung. Wohl zehnmal am Tage, wenn ich im
+Redaktionsbureau sa&szlig;, packte mich die Angst um die
+Kleinen. Ich sah sie von den unzuverl&auml;ssigen W&auml;rte<a name="Page_99" id="Page_99"></a>rinnen
+unbeaufsichtigt gelassen, von der Mutter heimlich
+entf&uuml;hrt, und fuhr gehetzt zwischen der Wohnung und
+dem Bureau hin und her. St&auml;ndig war ich auf der
+Suche nach jemandem, dem ich die Kinder anvertrauen
+konnte. Ich klagte meine Not einem Freunde. &#8250;Ich
+w&uuml;&szlig;te eine Dame, mit der Sie das gro&szlig;e Los ziehen
+w&uuml;rden,&#8249; sagte der, &#8250;aber sie wird eine Stellung kaum
+annehmen wollen. Sie ist reicher Leute einziges Kind,
+ist aus Liebe zur leidenden Menschheit Krankenpflegerin
+geworden, und dabei die sch&ouml;nste Frau der Welt.&#8249; Ich
+war wie elektrisiert. Er mu&szlig;te mir Namen und Adresse
+nennen, und in der n&auml;chsten Stunde schon war ich bei
+ihr. Wie ein Geschenk des Himmels schien es mir,
+da&szlig; sie ohne viel &Uuml;berlegung ja sagte. Sie war gut
+zu meinen Kindern. Ich konnte ruhig arbeiten. Ich
+fand ein behagliches Zuhause, wenn ich heimkam. Da&szlig;
+sie weder die sch&ouml;nste Frau der Welt, noch reicher Leute
+Kind war, sondern irgendwo im Osten in einer Tagel&ouml;hnerkate
+das Licht der Welt erblickt hatte, war mir
+eher willkommen, als da&szlig; es mich entt&auml;uscht h&auml;tte.
+Ihre Vorliebe f&uuml;r seidene Kleider, auf die sie all ihren
+Verdienst verwandte, mochte das M&auml;rchen um sie gesponnen
+haben. Ich lie&szlig; es geschehen, da&szlig; &mdash; da&szlig; sie
+mich liebte. Ich hatte Jahre und Jahre jede Liebe
+entbehrt und hielt nun meine Dankbarkeit f&uuml;r Liebe.
+Nur daran, mich zu fesseln, dachte ich nicht. Zu schwer
+lastete die Erinnerung an die Ehe auf mir. Da warf
+mich ein heftiges Nervenfieber aufs Krankenlager. Und
+w&auml;hrend ich noch matt und elend zu Bette lag, erkl&auml;rte
+mir Rosalie, mich noch am selben Tage verlassen zu
+wollen, wenn ich ihr nicht die Heirat verspr&auml;che. Ich
+<a name="Page_100" id="Page_100"></a>war emp&ouml;rt, aber viel zu schwach zu energischem Widerstand.
+Ich dachte an meine Kinder. Sie ging schon
+am n&auml;chsten Tage mit unseren Papieren aufs Standesamt,
+um das Aufgebot anzumelden. So wurden wir
+Mann und Frau&nbsp;&mdash;&laquo;. Er schwieg. &raquo;Und trotz alledem
+wirst du mich lieb behalten?&laquo; fragte er dann leise.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn du mich lieb beh&auml;ltst nach meiner Beichte,&laquo;
+antwortete ich und erz&auml;hlte ihm von meiner Jugendliebe.
+&raquo;Wei&szlig;t du&nbsp;&mdash;&laquo; sagte ich zum Schlu&szlig; tr&auml;umerisch, w&auml;hrend
+seine Hand leise die meine streichelte, &raquo;mein Herz
+ist wie die Erde: ohne den Fr&uuml;hling w&auml;re der Sommer
+mit seiner gl&uuml;henden Sonne und seinen voll erbl&uuml;hten
+Rosen nicht gekommen. Und darum werde ich noch im
+Winter an ihn denken m&uuml;ssen.&laquo;</p>
+
+<p>Sp&auml;t kamen wir nach Hause. Vor dem Tore stand
+die Johanniterschwester. Wie Flederm&auml;use flatterten
+ihre schwarzen Haubent&uuml;cher im Wind.</p>
+
+<p>An meiner T&uuml;r empfing mich die Aufw&auml;rterin mit
+grinsender Untert&auml;nigkeit. &raquo;Herr Reinhard ist da,&laquo;
+sagte sie, &raquo;ich wu&szlig;te nicht, da&szlig; gn&auml;dige Frau so lange
+fort bleiben w&uuml;rden &mdash; bei dem Wetter.&laquo; Ich h&ouml;rte
+seine Kr&uuml;cke hart und heftig aufschlagen.</p>
+
+<p>&raquo;Fast w&auml;re ich wieder gegangen,&laquo; grollte er, &raquo;ich&nbsp;&mdash;&laquo;
+er legte starken Nachdruck auf dies &#8250;ich&#8249; &mdash; &raquo;ich habe
+keine Zeit, um Ausfl&uuml;ge zu machen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Verzeihen Sie, da&szlig; Sie warten mu&szlig;ten. H&auml;tten
+Sie mir Ihren Besuch mit einem Worte angek&uuml;ndigt&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Er lachte bes&auml;nftigt. &raquo;Schon gut &mdash; schon gut! Wir
+wollen uns bei Pr&auml;liminarien nicht aufhalten. Die
+Entscheidung steht vor der T&uuml;r&nbsp;&mdash;, an eine friedliche
+<a name="Page_101" id="Page_101"></a>denke ich, nach der allgemeinen Stimmung zu urteilen,
+nicht mehr. Werden wir auf Sie rechnen k&ouml;nnen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Selbstverst&auml;ndlich. Aber da&szlig; Sie gerade jetzt, wo
+die &ouml;ffentliche Meinung sich mehr und mehr auf Seite
+der Arbeiter stellt, wo einflu&szlig;reiche Kreise der Bourgeoisie
+&ouml;ffentlich f&uuml;r sie eintreten, an einer befriedigenden L&ouml;sung
+verzweifeln, begreife ich nicht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Welch ein Neuling Sie doch sind!&laquo; Er sch&uuml;ttelte
+verwundert den breiten Kopf. &raquo;Weil einigen b&uuml;rgerlichen
+Idealisten all das aufgedeckte Elend an die
+Tr&auml;nendr&uuml;sen geht, darum, meinen Sie, werden die
+Unternehmer nachgeben?! Wo der eigene Geldbeutel
+in Frage kommt, h&ouml;rt die Sentimentalit&auml;t auf. Immerhin:
+wir werden bis zum &auml;u&szlig;ersten warten, und&nbsp;&mdash;&laquo;
+seine Lippen kr&auml;uselten sich h&ouml;hnisch &mdash; &raquo;hoffen. Bei
+der miserablen Organisation, trotz der Hundearbeit der
+ganzen letzten Monate, ist es kein Kinderspiel, die Verantwortung
+f&uuml;r den Streik auf sich zu nehmen.&laquo;</p>
+
+<p>Er erz&auml;hlte mir noch von den intimen Verhandlungen
+mit den Meistern der Damenm&auml;ntelkonfektion, von der
+m&uuml;hseligen Ausarbeitung eines detaillierten Lohntarifs,
+von den Pl&auml;nen f&uuml;r die n&auml;chste Zukunft, und empfahl
+sich, nachdem ich ihm nochmals versprochen hatte, als
+Rednerin &uuml;berall zur Stelle zu sein, wo er mich w&uuml;rde
+brauchen k&ouml;nnen. Mein Gewissen schlug. &Uuml;ber dem
+eigenen Schicksal war ich nahe daran gewesen, das Geschick
+der Hunderttausende zu vergessen. Schon waren
+Schriften aller Art erschienen, die das Leben der Konfektionsarbeiter
+malten, wie ich es oft genug gesehen
+hatte. Warum war keine von mir? Und in den Versammlungen
+der b&uuml;rgerlichen Frauenvereine wurde pl&ouml;tz<a name="Page_102" id="Page_102"></a>lich
+entdeckt, da&szlig; die Not der Arbeiterin gr&ouml;&szlig;er war
+als die h&ouml;herer T&ouml;chter, in der Ethischen Gesellschaft
+wurden die Mittel zu ihrer Abhilfe lebhaft debattiert.
+Und ich allein schwieg!</p>
+
+<p>Von nun an fehlte ich nirgends mehr. Und ich
+f&uuml;hlte: je weiter ich mich von mir selbst entfernte, desto
+st&auml;rker wurde ich. In einer Reihe gro&szlig;er Versammlungen
+wurden die Forderungen der Konfektionsarbeiter
+noch einmal klargelegt, ihre Lage beleuchtet, der sie Abhilfe
+schaffen sollten. Ich war in den Feensaal gegangen,
+wo Martha Bartels sprach. Kaum, da&szlig; ich noch Einla&szlig;
+fand, denn auf der Stra&szlig;e schon stauten sich die
+Menschen. So viel Armut war wohl noch nie aus
+ihren dunklen H&ouml;hlen hervorgekrochen. Und noch nie
+hatten sich so viel elegante Frauen in ihrer n&auml;chsten
+N&auml;he befunden.</p>
+
+<p>In dem tief eingewurzelten Gef&uuml;hl, das noch immer
+hinter dem sch&ouml;nsten Kleid die gr&ouml;&szlig;te Respektsperson
+vermutet, dr&auml;ngten sich die Armen sch&uuml;chtern an den
+W&auml;nden entlang. Alte Frauen mit m&uuml;den, rot ger&auml;nderten
+Augen standen auf, um seidenrauschenden
+Damen Platz zu machen. Keinen Blick des Neides
+sah ich, keinen des Hasses. Als Martha Bartels
+sprach, schlicht, fast n&uuml;chtern, und ihnen die Geschichte
+ihres eigenen Leides erz&auml;hlte, da weinten viele. Aber
+es waren nicht die fruchtbaren Tr&auml;nen der Erkenntnis,
+unter deren hei&szlig;er Flut die Kraft des Widerstandes gedeiht,
+es waren die Tr&auml;nen der Verzweiflung, die armseligen
+Tropfen, die in den Kirchen flie&szlig;en, wenn der
+Pfarrer von der Kanzel die Ergebenheit in Gottes
+Willen predigt. Zorn und Leid stritten in mir: Zorn, &mdash; <a name="Page_103" id="Page_103"></a>da&szlig;
+Armut und Religion die Menschheit so um ihre
+W&uuml;rde hatten betr&uuml;gen k&ouml;nnen, Leid, &mdash; da&szlig; von dieser
+Menschen Kampfeslust und Ausdauer Sieg oder Niederlage
+abh&auml;ngen w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Beim Ausgang traf ich meine Mutter. Mit einer
+Anzahl bekannter Damen hatte sie der Versammlung
+beigewohnt. Sie waren alle erf&uuml;llt von dem Geh&ouml;rten.
+Die Ruhe der Rednerin und der Zuh&ouml;rer hatte den
+Eindruck nur verst&auml;rkt.</p>
+
+<p>In weitesten Kreisen, von den Nationalsozialen bis
+in die Reihen der Konservativen hinein, schien das
+Interesse f&uuml;r die Heimarbeiter rege zu sein. Meine
+Mutter war voll Eifer; ich hatte sie um einer solchen
+Sache willen nie so erregt, so lebhaft gesehen. Sie
+zwang mich f&ouml;rmlich, an einer Zusammenkunft teilzunehmen,
+die am n&auml;chsten Tage bei einem bekannten berliner
+Geistlichen stattfinden sollte.</p>
+
+<p>Ich holte sie ab, um mit ihr hinzugehen, und fand
+selbst meinen Vater voller Teilnahme. &raquo;Da ist dein
+Platz, da kannst du was leisten,&laquo; sagte er, mir die Hand
+sch&uuml;ttelnd, &raquo;da findest du uns alle an deiner Seite,
+wenn es gilt, den j&uuml;dischen Konfektion&auml;ren, diesen
+Menschenschindern und Ausbeutern, das Handwerk zu
+legen.&laquo; Eine &auml;hnliche Stimmung beherrschte die Sitzung,
+wenn auch der Wunsch nach einer friedlichen L&ouml;sung
+des Konflikts und die bestimmte Hoffnung auf seine
+Erf&uuml;llung von dem Einberufer sehr betont wurde.</p>
+
+<p>Er berichtete von dem Komitee, das sich k&uuml;rzlich auf
+Anregung der Ethischen Gesellschaft gebildet hatte, um
+zwischen den Arbeitern und den Unternehmern eine Verst&auml;ndigung
+anzubahnen. M&auml;nner und Frauen der ver<a name="Page_104" id="Page_104"></a>schiedensten
+Parteirichtungen, deren Namen in der &Ouml;ffentlichkeit
+einen guten Klang hatten, geh&ouml;rten ihm an.
+Man beschlo&szlig;, sich ihm gleichfalls anzuschlie&szlig;en. &raquo;Kommt
+es trotz alledem zum Streik, so schaffen wir eine Hilfskasse,&laquo;
+rief eine lebhafte kleine Dame, deren Energie
+beim Durchsetzen ihrer Pl&auml;ne sie bekannt gemacht hatte.
+Man stimmte ihr ohne weiteres zu. &raquo;Wir m&uuml;ssen alle
+Gesch&auml;fte boykottieren, die die Forderungen der Arbeiter
+nicht bewilligen,&laquo; erkl&auml;rte eine andere, und man &uuml;berbot
+sich in steigender Erhitzung in Vorschl&auml;gen zugunsten
+der Sache. Ich erinnerte mich im stillen des Streiks
+der westph&auml;lischen Bergarbeiter. Auch damals sprach
+sich die &ouml;ffentliche Meinung, soweit sie mir zu Ohren
+kam, zugunsten der K&auml;mpfenden aus, aber sie tatkr&auml;ftig
+zu unterst&uuml;tzen, daran wagte noch niemand zu denken.
+Also doch ein Fortschritt?! Mein Optimismus regte
+sich wieder.</p>
+
+<p>Ich berichtete Reinhard von dem Erlebten. &raquo;Halten
+Sie die Leute vor allen Dingen bei ihrem Unterst&uuml;tzungsversprechen
+fest. Alles andere ist Mumpitz,&laquo; sagte er.
+Und ich lief von einem zum anderen, und lie&szlig; mir, wo
+es irgend anging, schriftliche Zusicherungen geben. Inzwischen
+arbeiteten im stillen auch die Vermittler, und
+zu gleicher Zeit sah ich Martha Bartels und ihre Gef&auml;hrtinnen,
+wie sie unerm&uuml;dlich nach ihrer eigenen Arbeit
+treppauf, treppab stiegen, um die Begeisterung f&uuml;r
+den Kampf anzufachen, der ihnen nicht nur unausbleiblich,
+sondern erw&uuml;nscht war. Sie schimpften laut
+und leise &uuml;ber das Z&ouml;gern und Warten der F&uuml;nferkommission:
+&raquo;Wir pfeifen auf alle Vers&ouml;hnungsduselei,
+bei der wir doch nur den k&uuml;rzeren ziehen. Wir wollen
+<a name="Page_105" id="Page_105"></a>eine ehrliche Entscheidung auf dem Schlachtfeld.&laquo; Die
+Ereignisse schienen ihnen recht zu geben.</p>
+
+<p>Am Abend des Kaisergeburtstages kam ich durch die
+menschenwimmelnde Friedrichsstadt. N&uuml;chtern wie
+immer gl&auml;nzten die Tausende elektrischer Birnen an
+den Gesch&auml;ftsh&auml;usern, verschlangen sich zur Kaiserkrone,
+zum W. II, und nirgends zeigten sich Spuren einer von
+Liebe befruchteten Phantasie, die neue pers&ouml;nlichere Huldigungen
+h&auml;tte schaffen k&ouml;nnen. Irrte ich mich, oder
+waren die Fassaden der gro&szlig;en Konfektionsh&auml;user sogar
+um einen Schein dunkler als sonst? Das Kaisertelegramm
+an den Burenpr&auml;sidenten Kr&uuml;ger schien, so hie&szlig; es, den
+Absatz deutscher Waren nach England lahmzulegen. Und
+w&auml;hrend Alldeutsche und Antisemiten jubelten, ballten
+die Unternehmer die F&auml;uste im Sack.</p>
+
+<p>Die Versammlung, in die ich kam, bot ein anderes
+Bild als die letzte: es war vor allem eine der M&auml;nner.
+Und die Arbeiterinnen, die erschienen waren, geh&ouml;rten
+zu den besser Bezahlten, zu den Aufgekl&auml;rteren, den
+Selbstbewu&szlig;ten. Etwas wie Siegeszuversicht schien sie
+zu beherrschen. Sie wiesen mit Fingern auf die Herren
+im Gehrock und Zylinder, sie tuschelten einander die
+Namen der Chefs und Zwischenmeister zu, die der Einladung
+der Arbeiterkommission heute gefolgt waren, sie
+warfen hochm&uuml;tig den Kopf zur&uuml;ck, wenn einer von
+ihnen eine vertrauliche Begr&uuml;&szlig;ung zu wagen versuchte.
+Reinhard sprach. Er erl&auml;uterte die Forderungen der
+Arbeiter. Seinem Temperament tat er sichtlich Gewalt
+an. Eisige Ruhe begleitete w&auml;hrend der ersten Viertelstunde
+seine Rede. Dann unterbrach ihn eine gr&ouml;hlende
+Stimme: &raquo;Bezahlter Agitator&nbsp;&mdash;&laquo;, das war das Signal
+<a name="Page_106" id="Page_106"></a>f&uuml;r die anderen. Kein Satz blieb ohne Zwischenruf. Je
+dunkler die Flecken auf Reinhards Backenknochen sich
+r&ouml;teten, je mehr die straffen Haarstr&auml;hnen ihm an den
+feuchten Schl&auml;fen klebten, und je heftiger die knochigen
+H&auml;nde ihm zitterten, desto lauter, roher, unfl&auml;tiger
+wurde das Gebr&uuml;ll der Zuh&ouml;rer. Er sprach ruhig
+weiter &mdash; von den elenden L&ouml;hnen der Frauen, von
+ihrer sittlichen Gef&auml;hrdung. &raquo;Sei man stille, Quasselkopp,&laquo;
+schrie dicht neben mir ein dicker Kerl, mit Brillantringen
+auf den roten Wurstfingern, &raquo;die M&auml;chens wissen
+schon, wof&uuml;r wir jut zahlen.&laquo; Alles lachte. &raquo;Frag mal,
+von wo die Kleene da ihren s&uuml;&szlig;en, roten Lockenkopp
+hat,&laquo; rief ein anderer. &raquo;Von de sittliche Jef&auml;hrdung,&laquo;
+br&uuml;llte aus dem Hintergrund eine &ouml;lige Stimme. Es
+war kein Halten mehr. Man &uuml;berbot sich in zynischen
+Witzen. Und die Frauen, die vorhin so kampfbereit, so
+unnahbar schienen? Sie kicherten in ihre Taschent&uuml;cher,
+einige lachten kokett die &auml;rgsten Zotenrei&szlig;er an. Reinhard
+schwieg ersch&ouml;pft. Die Diskussion war von der
+allgemeinen Ulkstimmung beherrscht. Nur zuletzt, als
+es zur Abstimmung gehen sollte, erhob sich einer der
+Meister, um eine Programmrede zu halten. Er sprach
+vom Mittelstand, &raquo;dem sittlich gesunden Kern des Volkes,
+der wahre Religion und echtes deutsches Familienleben
+pflegt und hochh&auml;lt,&laquo; und den &raquo;die Sozialdemokratie in
+ihrer Respektlosigkeit angesichts der heiligsten G&uuml;ter der
+Nation&laquo; vernichten wolle. &raquo;Auch dieser uns angedrohte
+Kampf ist nichts anderes als ein Vorsto&szlig; der Umsturzpartei
+gegen die Staatsordnung, und zum Kanonenfutter
+lassen die Dummen unter den Arbeitern sich gebrauchen.
+Wir aber stehen wie ein Fels im Meer;&laquo; &mdash; unter
+<a name="Page_107" id="Page_107"></a>dem Bravogeschrei der Zuh&ouml;rer warf er sich stolz
+in die Brust und bewegte pathetisch die Arme. &raquo;Wir
+sagen nein und abermals nein und wissen, da&szlig; wir
+trotz dem Geschrei der Gegner, trotz Streikdrohung,
+immer noch so viel Arbeiter kriegen, als wir brauchen, &mdash; und
+wenn wir sie von den Hottentotten nehmen
+sollten.&laquo;</p>
+
+<p>Am Ausgang erwartete ich Reinhard. Ich sah, wie
+Martha Bartels, von einer Schar lebhaft gestikulierender
+Frauen umgeben, erregt auf ihn einsprach. &raquo;Es ist
+kein Halten mehr,&laquo; sagte er im N&auml;hertreten. &raquo;Nun
+ist's aber auch h&ouml;chste Zeit,&laquo; rief ich, noch hei&szlig; vor
+Entr&uuml;stung. &raquo;Wir m&uuml;ssen das Eisen schmieden, solange
+es warm ist, &mdash; in allen Kreisen findet der Streik
+Unterst&uuml;tzung.&laquo; &raquo;Sachte, sachte, liebe Genossin,&laquo; wehrte
+er ab. &raquo;Im Augenblick sind uns st&auml;rkere Kn&uuml;ppel
+zwischen die Beine geworfen worden, als Ihre hilfsbereiten
+Damen aufheben k&ouml;nnen. Wenn England die
+deutsche Konfektion boykottiert, so k&ouml;nnen wir einpacken.&laquo;</p>
+
+<p>Der Termin f&uuml;r die Antwort der Unternehmer wurde
+abermals herausgeschoben. In den Arbeiterkreisen begann
+es bedenklich zu g&auml;ren; es gab Leute, die schon
+von Intrigen, Schmiergeldern und offenem Verrat
+munkelten. In Hamburg, in Erfurt, in Stettin, in
+Breslau brach der Streik aus, &mdash; in Berlin z&ouml;gerte
+man noch immer, scheinbar um dem Vermittelungskomitee
+Zeit f&uuml;r seine Verhandlungen zu gew&auml;hren, in Wirklichkeit
+aber, um die Entwickelung der Dinge in England
+abzuwarten. Man glaubte an einen Krieg, zum
+mindesten an einen wirtschaftlichen. Endlich liefen, so
+zahlreich wie sonst, bei den gro&szlig;en Konfektion&auml;ren die<a name="Page_108" id="Page_108"></a>
+Bestellungen ein; und in einer Versammlung der Ethischen
+Gesellschaft wurde, zugleich mit einer r&uuml;ckhaltlosen Sympathieerkl&auml;rung
+an die k&auml;mpfende Arbeiterschaft, das
+v&ouml;llige Scheitern der Einigungsversuche mitgeteilt.</p>
+
+<p>Im Bureau der Schneider-Gewerkschaft trat die Arbeiterkommission
+zusammen. Es war wie im Hauptquartier
+eines Krieges. Wir empfingen die Streikerkl&auml;rung als
+unsere Parole und unseren Marschbefehl. In riesigen
+Plakaten wurde die Bev&ouml;lkerung am n&auml;chsten Morgen
+zu den Versammlungen eingeladen, mein Name stand
+unter denen der vierzehn Referenten.</p>
+
+<p>Ich sa&szlig; mit meiner Rede besch&auml;ftigt am Schreibtisch,
+als es drau&szlig;en zweimal heftig klingelte. Der Vater! &mdash; &raquo;Dein
+Name steht auf den Litfa&szlig;s&auml;ulen unter lauter
+Sozialdemokraten,&laquo; brauste er mich an.</p>
+
+<p>&raquo;Du bist auf der Seite der Streikenden, wie ich
+wei&szlig;, du selbst hast mich ermuntert.&laquo; Er lie&szlig; mich nicht
+ausreden. &raquo;Nicht um ein ungesetzliches Vorgehen zu
+unterst&uuml;tzen, &mdash; du mu&szlig;t deinen Namen augenblicklich
+zur&uuml;ckziehen&nbsp;&mdash;&laquo;. Er stierte mich an mit dem wilden
+Blick, den ich so f&uuml;rchtete. Ich lehnte mich zitternd an
+den Schreibtisch. &raquo;Fahnenfl&uuml;chtig?! Nein! W&auml;r' ich's,
+du w&uuml;rdest dich bei ruhiger &Uuml;berlegung meiner sch&auml;men
+m&uuml;ssen.&laquo; Er umklammerte mein Handgelenk. &raquo;Soll ich
+mein Kind verlieren?&laquo; stie&szlig; er hervor, sein Atem keuchte,
+die Augen traten aus den H&ouml;hlen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann mein Wort nicht brechen, &mdash; auch mir
+selbst gegen&uuml;ber nicht,&laquo; fl&uuml;sterte ich. Ein Ruck ging
+durch seinen K&ouml;rper, meine Hand stie&szlig; er von sich, fa&szlig;te
+sich ein paarmal mit den Fingern an den Kragen, als
+w&uuml;rde er ihm zu eng, und schritt festen Schrittes, wort<a name="Page_109" id="Page_109"></a>los,
+der T&uuml;re zu. Ich h&ouml;rte sie zufallen, &mdash; eine zweite
+knarrend sich &ouml;ffnen, &mdash; heftig ins Schlo&szlig; zur&uuml;ckschlagen;
+ich lief ans Fenster: ein alter Mann ging &uuml;ber den Hof,
+sehr langsam, tief geb&uuml;ckt, schwer auf den Stock sich
+st&uuml;tzend. O, da&szlig; er nur ein einziges Mal den Kopf noch
+wenden m&ouml;chte, &mdash; aber der starre Nacken bewegte sich
+nicht. Schluchzend brach ich zusammen.</p>
+
+<p>&raquo;Alix!&laquo; Heinrichs entsetzter Ruf brachte mich wieder
+zu mir. Er hatte den Vater fortgehen sehen und war,
+alle Vorsicht vergessend, zu mir geeilt. &raquo;Wirst du heut
+abend sprechen k&ouml;nnen?!&laquo; &raquo;Gewi&szlig;, &mdash; nun bin ich ja
+ganz &mdash; ganz frei!&laquo; Die Tr&auml;nen waren versiegt, mir
+war, als l&auml;ge mein Herz zu Eis erstarrt in meiner
+Brust. Selbst der Geliebte kam mir pl&ouml;tzlich fern und
+fremd vor.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>F&uuml;r die Kriegserkl&auml;rung, die ich heute abzugeben
+hatte, war es die rechte Vorbereitung: kein
+weiches Gef&uuml;hl konnte mich &uuml;berw&auml;ltigen, eiserne
+Entschlossenheit beherrschte mich. Zu<em class="spaced"> einer</em> Riesenkraft
+wollte ich die schwarze Menschenmasse vor mir zusammenschwei&szlig;en,
+von<em class="spaced"> einem</em> unbeugsamen Willen beseelt.
+Und ich richtete die Pal&auml;ste der Unternehmer vor ihren
+Augen auf, die ihre Arbeit gebaut hatte, und wies auf
+ihre &uuml;ppigen Tafeln, die ihr Hunger deckte. Ich zeigte
+ihnen die seidenen Kleider ihrer Frauen und ihrer M&auml;tressen,
+an denen der Schwei&szlig; der Arbeiterinnen klebte,
+und ihre Edelsteine, in denen das Augenlicht derer gefangen
+war, die es in n&auml;chtlicher Arbeit verloren hatten.
+Ich f&uuml;hlte: schon war die Luft erf&uuml;llt vor unsichtbarem<a name="Page_110" id="Page_110"></a>
+Sprengstoff. Und nun sprach ich von der kommenden
+Schlacht, die nichts sei als ein Teil des gro&szlig;en Krieges
+zwischen unverschuldeter Armut und schuldbeladenem
+Reichtum; sprach von alledem, was der Preis ihres
+Mutes, ihrer Ausdauer sein w&uuml;rde, und doch nur darum
+von unsch&auml;tzbarem Werte sei, weil es sie geistig
+und k&ouml;rperlich f&auml;hig mache, den Menschheitsfeldzug bis
+zu Ende zu f&uuml;hren. &raquo;Eure Sache ist die Sache der
+ganzen Arbeiterschaft. Jede Schw&auml;che von euch ist ein
+Verrat an ihr&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Eine demagogische Hetzrede,&laquo; sagte jemand, als ich die
+Trib&uuml;ne verlie&szlig;. &raquo;Prachtvoll&laquo; &mdash; versicherte mir ein sozialdemokratischer
+Reichstagsabgeordneter h&auml;ndesch&uuml;ttelnd.
+Ich sah fragend um mich: erstaunte, bewundernde, auch
+tr&auml;nenfeuchte Blicke begegneten den meinen, aber vom
+Fieberfanatismus der Kriegslust bemerkte ich nichts.
+Verst&auml;ndnislose Verlegenheit lag zum Teil auf den abgeh&auml;rmten
+Z&uuml;gen der Frauen. &raquo;Was hat sie gemeint?&laquo;
+h&ouml;rte ich fl&uuml;stern. &raquo;Was sollen wir tun?&laquo; &raquo;Und wie
+gerade die Damenm&auml;ntel dann bezahlt werden, sagte sie
+nicht&laquo; &mdash; &raquo;ob wir gleich in die Betriebswerkst&auml;tten
+kommen?&laquo; &mdash; Mir sank der Mut. Heinrichs Lob &mdash; er
+hatte sich's nicht nehmen lassen, mich zu begleiten &mdash; schien
+mir von Mitleid diktiert.</p>
+
+<p>Zu Hause fiel ich sofort in den Schlaf der Ersch&ouml;pfung.
+Mitten in der Nacht fuhr ich entsetzt aus
+dem Traum; irgendein langgezogener Ton weckte mich.
+Ich sprang aus dem Bett. Aus den Fenstern dr&uuml;ben
+drang helles Licht. Die Schatten vieler Menschen bewegten
+sich hastig hin und her. Gellende Schreie klangen
+&uuml;ber den Hof.</p>
+
+<p><a name="Page_111" id="Page_111"></a>Jetzt &mdash; jetzt wand sich das ungl&uuml;ckselige Weib, das
+ich betrogen hatte, in gr&auml;&szlig;lichen Schmerzen, &mdash; und das
+Kind &mdash; meines Geliebten Kind! &mdash; kam zur Welt. Kalter
+Schwei&szlig; trat auf meine Stirne. Das flackernde Licht
+von dr&uuml;ben malte gespenstische Gestalten in mein Zimmer.
+Ein gro&szlig;es Ungeheures beugte sich &uuml;ber mich, die
+zusammengekauert, frostgesch&uuml;ttelt am Fenster hockte. Es
+griff mir in den Nacken mit spitzen Krallen, es wuchs &mdash; wuchs,
+erf&uuml;llte den ganzen Raum &mdash; die Wohnung &mdash; das Haus &mdash; die Welt.
+&raquo;Ich bin die Schuld &mdash; deine
+Schuld!&laquo; gellte es in meinen Ohren mit dem letzten
+Schrei des Weibes dr&uuml;ben&nbsp;...</p>
+
+<p>&raquo;Es steht gut &mdash; Mutter und Kind sind wohl&nbsp;&mdash;&laquo;
+Heinrich stand vor mir, leichenbla&szlig;; &raquo;aber
+du&nbsp;&mdash;&laquo; er sah mich erschrocken an, wie eine
+schwere Krankheit lag die Nacht hinter mir, &mdash; &raquo;wenn
+du jetzt schon zusammenbrichst, wo das Schwerste bevorsteht!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nachdem ich das &uuml;berstanden, gibt es nichts Schwereres&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich war in der n&auml;chsten Zeit fast nie zu Hause.
+Wenn ich fr&uuml;h erwachte, m&uuml;de, als h&auml;tte ich
+kein Auge zugetan, so schien mir's, als st&uuml;nde
+jenes gro&szlig;e Ungeheure hinter mir, vor dem ich unaufh&ouml;rlich
+die Flucht ergreifen mu&szlig;te. Nur wenn ich drau&szlig;en
+war, fern dem Bannkreis dieses Hauses, wenn die Not
+der anderen, die der Streik aufdeckte und gebar, sich
+zwischen mich schob und meine Schuld, atmete ich freier.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_112" id="Page_112"></a></p>
+
+<p>Ich sa&szlig; auf der Reichstagstrib&uuml;ne, als die nationalliberale
+Interpellation, die Lage der Konfektionsarbeiterinnen
+betreffend, zur Verhandlung
+kam und alle b&uuml;rgerlichen Parteien ihr arbeiterfreundliches
+Herz entdeckt zu haben schienen. Was noch
+kein preu&szlig;ischer Minister zu denken gewagt hatte &mdash; da&szlig;
+eine Arbeitseinstellung berechtigt sein kann&nbsp;&mdash;, das
+erkl&auml;rte Herr von Berlepsch vor der deutschen Volksvertretung
+angesichts dieses Streiks. Kein Zweifel: der
+Riesenkampf, den die &Auml;rmsten der Armen k&auml;mpften, wird
+kein vergeblicher sein, eine neue &Auml;ra sozialer Reformen
+bricht an. Und dem Verdikt des Reichstags werden die
+Unternehmer sich beugen m&uuml;ssen. Ich verstand nicht,
+warum der Redner der sozialdemokratischen Fraktion sich
+angesichts dieser Kundgebungen so skeptisch &auml;u&szlig;ern konnte.
+Im ganzen Reich wurde f&uuml;r die Streikenden gesammelt.
+Neben den Bureaus der Streikkommission,
+in denen Streikkarten ausgestellt und Unterst&uuml;tzungsgelder
+gezahlt wurden, richteten b&uuml;rgerliche Vereine
+Hilfsstellen ein, wo Nahrungsmittel und Kleidungsst&uuml;cke
+zur Verteilung kamen.</p>
+
+<p>Stolz, oft &uuml;berm&uuml;tig in ihrer Hoffnungsfreudigkeit
+stellten sich in den ersten Tagen die Streikenden ein.
+Von Unterst&uuml;tzung wollten sie nichts wissen, nur ihre
+Karten lie&szlig;en sie sich geben.</p>
+
+<p>&raquo;Wir halten aus,&laquo; sagte ein junges, bleichs&uuml;chtiges
+M&auml;del, und ihre Augen blitzten dabei. &raquo;Die Unternehmer
+haben uns f&uuml;r sich hungern lassen, nun hungern
+wir mal f&uuml;r uns selber&nbsp;&mdash;&laquo; und, ein Liedchen tr&auml;llernd,
+war sie wieder drau&szlig;en. Selbst auf den Ge<a name="Page_113" id="Page_113"></a>sichtern
+alter m&uuml;der Frauen lag ein stilles Leuchten.
+Ein halbw&uuml;chsiger Bengel, der in Begleitung seiner
+Mutter kam, verk&uuml;ndete triumphierend: &raquo;Wir arbeeten
+jetzt for drei, damit Muttern feiern kann,&laquo; und l&auml;chelnd
+streichelten ihre zerstochenen Finger seine Wange: &raquo;Nu
+kommen ooch janz andere Zeiten!&laquo;</p>
+
+<p>Oft standen die engen Bureaur&auml;ume gedr&auml;ngt voll
+Wartender. Dann flogen Witze hin und her; vom
+&raquo;Meester&laquo; erz&auml;hlten sie einander, der mit der &raquo;Ollen&laquo;
+h&auml;nderingend in der leeren Bude stand. &raquo;Noch janz
+anders soll die Gesellschaft winseln! La&szlig;t man erst acht
+Tage ins Land jehen, denn werden sie zu uns bitten
+kommen,&laquo; rief ein krummbeiniges Schneiderlein. &raquo;Wir
+werden ihr Mores lehren, der Rasselbande!&laquo; f&uuml;gte
+z&auml;hneknirschend ein anderer hinzu.</p>
+
+<p>Allm&auml;hlich &auml;nderte sich das Bild: Blasse Frauen, die
+unsicher und &auml;ngstlich blickten, mit Kindern auf den
+Armen und an der Sch&uuml;rze, dr&auml;ngten sich um die Zahlstellen;
+das morgens angeh&auml;ufte Geld, das mir unersch&ouml;pflich
+schien, war jeden Abend wieder ausgegeben.
+Auch M&auml;nner kamen, Familienv&auml;ter, mit zusammengepre&szlig;ten
+Lippen. Die Witze verstummten. Finstere Entschlossenheit
+lag in dem Schweigen der Wartenden.
+Aber immer noch traten welche an den Tisch, die nichts
+verlangten, als die Ausf&uuml;llung ihrer Streikkarten. Auch
+Frauen waren unter ihnen. Eingesunkene Wangen,
+trockene Lippen, fiebrige Augen sprachen vom Heldenmut
+der Hungernden. Verlegen schob sich wohl auch ein
+junges M&auml;del durch die T&uuml;re und streckte die Hand
+nach dem Gelde aus. &raquo;Sch&auml;mst du dir nicht!&laquo; schrie
+einer einmal eine h&uuml;bsche Br&uuml;nette an, mit Rosen
+<a name="Page_114" id="Page_114"></a>auf dem kecken Filzhut, und ri&szlig; sie unsanft zur&uuml;ck, &raquo;hat
+noch so'n Deckel auf'n Kopp und Glac&eacute;nene an die
+Finger und will den ollen Weibern das Brot nehmen?!&laquo;
+Kam aber gar ein kr&auml;ftiger Mann, so hagelte es emp&ouml;rte
+Schimpfworte: ein Verr&auml;ter, wer in seinem Opfermut
+nicht bis zum &Auml;u&szlig;ersten ging.</p>
+
+<p>Und dann kamen die Tage, wo sie in dichtgedr&auml;ngten
+Scharen bis auf die Stra&szlig;e hinunterstanden, und keiner
+mehr war, den der Hunger nicht bezwungen h&auml;tte. Viele
+sch&auml;mten sich, da&szlig; sie unterlegen waren; sie wagten kaum
+den Kopf zu heben, wenn sie vor den Zahltisch traten.
+Zusammengesunken erschienen andere vor Mutlosigkeit.
+&raquo;Erreichen wir's?&laquo; fl&uuml;sterte fragend der eine, &raquo;geben sie
+endlich nach?!&laquo; der andere. Tr&auml;nenumflorte Augen
+richteten die Frauen auf uns, scheue Blicke voll Zweifel
+und Mi&szlig;trauen die M&auml;nner. Und nichts als Schweigen,
+als Achselzucken konnte die Antwort sein. Die Kassen
+f&uuml;llten sich langsamer; der aus r&uuml;hrseliger Sentimentalit&auml;t
+entstandene Enthusiasmus b&uuml;rgerlicher Kreise verpuffte
+wie ein Feuerwerk. Die Unternehmer hielten aus;
+sie hatten noch immer genug zu essen. Und die Opferwilligkeit
+der deutschen Arbeiterschaft f&uuml;r die k&auml;mpfenden
+Br&uuml;der hatte ihre &auml;u&szlig;erste Grenze erreicht.</p>
+
+<p>Ich sah Reinhard nur fl&uuml;chtig. Die hektische R&ouml;te
+wich nicht mehr von seinen Backenknochen. Er hatte
+keine ruhige Minute.</p>
+
+<p>&raquo;Wir sind am Ende,&laquo; sagte er mir mit rauher
+Stimme, als wir uns in einem der Streikbureaus
+wieder begegneten. Es traf mich wie ein Peitschenschlag.
+Was hatte ich damals denen, die ich zum
+Streik aufrief, als sicheren Lohn ihres Ausharrens in<a name="Page_115" id="Page_115"></a>
+Aussicht gestellt! W&uuml;rden sie mir jemals wieder vertrauen
+k&ouml;nnen?! &raquo;Die Forderung der Betriebswerkst&auml;tten
+werden wir fallen lassen m&uuml;ssen&nbsp;&mdash;.&laquo; &raquo;Gerade
+das?! Die Hauptsache!&laquo; rief ich. &raquo;Das einzige Mittel
+vielleicht, um dem Elend der Heimarbeit, um der Ausbeutung
+der Zwischenmeister ein Ende zu machen!&laquo; &mdash; &raquo;Gerade
+das. Wir wollen froh sein, wenn sich der
+Lohntarif durchsetzen l&auml;&szlig;t und der Reichstag sein Versprechen
+einer durchgreifenden Gesetzgebung einl&ouml;st.&laquo;</p>
+
+<p>Schweren Herzens kam ich an jenem Tag in das
+Bureau. Es war &uuml;berf&uuml;llt, und lautes Stimmengewirr
+drang mir entgegen. &raquo;Die F&uuml;hrer verraten uns!&laquo; rief
+einer. &raquo;Wir k&ouml;nnen hungern, und sie stopfen sich die
+Taschen&nbsp;&mdash;,&laquo; br&uuml;llte ein anderer. Ein paar keifende
+Weiber hieben mit F&auml;usten auf den Zahltisch: &raquo;Betr&uuml;ger
+seid Ihr, &mdash; Ausbeuter, &mdash; schlimmer als die
+Meister,&laquo; schrien sie den Dahinterstehenden ins Gesicht,
+die das Geld abz&auml;hlten. &raquo;Wir haben nichts mehr&nbsp;&mdash;,&laquo;
+fl&uuml;sterte einer der Gewerkschaftsbeamten mir hastig zu,
+&raquo;&mdash;&nbsp;es war ein Ansturm ohnegleichen.&laquo; Ich lief die
+Treppe wieder hinab, sprang in die n&auml;chste vor&uuml;berfahrende
+Droschke und fuhr zur Zentralstelle der Ethischen
+Gesellschaft. Heute, so hatte man mir mitgeteilt, sei
+eine betr&auml;chtliche Summe eingelaufen. Ich lie&szlig; mir
+geben, was zur Verf&uuml;gung stand, &mdash; es war auch nur
+ein Tautropfen, der im Augenblick in der durstenden
+Erde verschwinden w&uuml;rde, &mdash; und fuhr zur&uuml;ck, so rasch
+der arme Schimmel laufen konnte. Vor dem Bureau
+stauten sich die Menschen. Ein paar Polizisten hielten
+m&uuml;hsam die Stra&szlig;e frei. Ich sprang aus dem Wagen
+und versuchte mich vorzudr&auml;ngen. &raquo;Wat, so eene biste,
+<a name="Page_116" id="Page_116"></a>da&szlig; de erster J&uuml;te f&auml;hrst?&laquo; schrie mich eine rohe Stimme
+an, und eine Faust stie&szlig; mich in den R&uuml;cken. Ein paar
+Burschen, die nach Fusel rochen und mit den Konfektionsarbeitern
+sichtlich nicht das Geringste zu tun hatten,
+&uuml;bersch&uuml;tteten mich mit unfl&auml;tigen Redensarten. Ich
+versuchte, mir mit ein paar Ellbogenst&ouml;&szlig;en freie Bahn
+zu schaffen, w&auml;hrend meine H&auml;nde die Geldtasche angstvoll
+umklammerten. &raquo;So loof doch, loof &mdash; wir werden
+dir Beene machen,&laquo; gr&ouml;hlten sie und ich f&uuml;hlte ihre
+F&auml;uste wieder auf meinem R&uuml;cken. Ich schrie laut auf.
+Im Augenblick war ich von bekannten Gesichtern umgeben,
+ich h&ouml;rte noch ein paar Ohrfeigen rechts und
+links und war halb getragen, halb geschoben im Zimmer.</p>
+
+<p>Am Abend war auch das letzte Geld verteilt.</p>
+
+<p>In diesem Augenblick der Not kam es zu einer &uuml;berraschenden
+Wendung: ein Teil der Zwischenmeister, emp&ouml;rt
+dar&uuml;ber, da&szlig; die Unternehmer ihnen alle Schuld
+an den schlechten L&ouml;hnen zuzuschieben suchten, machten
+gemeinsame Sache mit den Arbeitern, und die Fabrikanten,
+die nunmehr ernstlich in Gefahr standen, die
+Einnahmen der Saison zu verlieren, die aber andererseits
+auch genug von der Lage der Dinge unterrichtet
+waren, um zu wissen, da&szlig; die Streikenden das Ende
+ihrer Widerstandskraft erreicht hatten, riefen offiziell die
+Vermittlung des Gewerbegerichts an. Die F&uuml;nferkommission
+der Arbeiter, davon in Kenntnis gesetzt, z&ouml;gerte
+nicht, auch ihrerseits mit dem Einigungsamt in Verbindung
+zu treten. Im B&uuml;rgersaal des berliner Rathauses,
+vor einem vielhundertk&ouml;pfigen Publikum, kam
+es zur Verhandlung und zur endlichen Unterzeichnung
+eines Vertrags, dessen wichtigste Bedingungen die Er<a name="Page_117" id="Page_117"></a>h&ouml;hung
+der L&ouml;hne und die Gegenseitigkeitsverpflichtungen
+in bezug auf die Durchf&uuml;hrung der Lohntarife waren.
+Von den Betriebswerkst&auml;tten war gar keine Rede mehr.</p>
+
+<p>Die Streikleitung berief die Referenten zu einer neuen
+Sitzung. In &ouml;ffentlichen Versammlungen sollten wir
+das Ende des Streiks verk&uuml;nden. Ich versuchte, mich
+frei zu machen. &raquo;Wir haben Ihr Wort, Genossin Glyzcinski,&laquo;
+sagte einer der F&uuml;hrer mit scharfer Betonung.
+&raquo;Wie kann ich diesen Ausgang als einen Sieg verteidigen,&laquo;
+wandte ich ein. &raquo;Dar&uuml;ber m&ouml;gen Sie denken,
+was Sie wollen,&laquo; entgegnete Martha Bartels heftig,
+&raquo;hier haben Sie einfach Ihre Pflicht zu tun, wie wir
+alle.&laquo; Fl&uuml;chtig fuhr mir durch den Kopf, da&szlig; ich aus
+meiner Welt dem Zwang der Pflicht entflohen war, um
+meiner &Uuml;berzeugung zu folgen, aber ich f&uuml;hlte mich viel
+zu m&uuml;de, um jetzt dar&uuml;ber nachzudenken. Ich f&uuml;gte mich
+stillschweigend. Als eine Wohltat sah ich es an, da&szlig;
+ich wenigstens nicht in demselben Saal, vor denselben
+Menschen sprechen mu&szlig;te. Weit in den Osten, in die
+Andreasstra&szlig;e, schickte man mich. &raquo;Sie werden keinen
+leichten Stand haben,&laquo; sagte Reinhard beim Weggehen,
+&raquo;es ist das Hauptquartier der Anarchisten.&laquo;</p>
+
+<p>Heinrich Brandt begleitete mich auf dem Wege zur
+Versammlung. Wir hatten uns in der Zwischenzeit nur
+immer auf Minuten gesehen. Erst jetzt, wo Rosalie
+schon seit einigen Tagen aufgestanden war, schwand
+unsere Angst um sie. Das Wochenbett war normal
+verlaufen; sie n&auml;hrte den Kleinen und schien seelenruhig.
+Trotzdem war Heinrich heute wortkarg, und sein ausdrucksvolles
+Gesicht, das jede Stimmung verriet, erschreckte
+mich. Aber soviel ich auch in ihn drang, er
+<a name="Page_118" id="Page_118"></a>meinte, es sei nichts, gar nichts geschehen, ich solle
+lieber an meinen Vortrag denken, als &uuml;ber die Ursache
+seiner schlechten Laune nachgr&uuml;beln.</p>
+
+<p>Der kleine Saal war schon voll, als ich kam. In
+allen H&auml;nden sah ich wei&szlig;e Zettel, mein Auge fiel auf
+lauter erregt ger&ouml;tete Gesichter. Bei der Wahl des
+Bureaus siegte der F&uuml;hrer der Anarchisten mit riesiger
+Mehrheit &uuml;ber unseren Kandidaten. Ich empfand es
+fast wie eine Erleichterung&nbsp;&mdash;, &raquo;nun werden sie mich
+gar nicht reden lassen,&laquo; fl&uuml;sterte ich Heinrich zu. Aber
+schon stand der junge blonde Mann mit den zarten
+M&auml;dchenz&uuml;gen auf der Trib&uuml;ne: &raquo;Ich erteile der Referentin
+Frau von Glyzcinski das Wort&laquo;, und mit einer
+h&ouml;flichen Handbewegung machte er mir neben sich Platz.</p>
+
+<p>Ich sprach schlecht. Keinen Augenblick konnte ich
+meiner eigenen Empfindung, meinen innersten Gedanken
+folgen. Ich war nur ein Sprachrohr. Trotz der musterhaften
+Leitung des jungen Anarchisten, der die Ruhe
+immer wieder herzustellen suchte, unterbrachen mich Zurufe
+aller Art: sarkastische, gemeine, w&uuml;tende. Dazu
+Heinrichs Gesicht, auf dem meine Blicke immer wieder
+haften blieben&nbsp;&mdash;, ich verlor den Faden, verwirrte mich,
+wurde &auml;ngstlich. Man rief h&ouml;hnisch &raquo;Bravo&laquo;, als ich
+geendet hatte. Und dann sprach der Vorsitzende. Seine
+ganze Rede war ein feuriger Appell an das Proletariat,
+eine gl&uuml;hende Anklage der Streikleitung. Im Moment,
+wo aus England Millionen an Unterst&uuml;tzung zu erwarten
+seien, habe sie sich feige den Kapitalisten unterworfen
+und die Sache des Volks verraten. An ihm sei es nun,
+zu zeigen, da&szlig; es sich von keiner Seite knebeln lasse,
+da&szlig; es den Kampf nicht nur fortsetze, sondern ausdehne,
+<a name="Page_119" id="Page_119"></a>bis ein Generalstreik dem Volk die Macht verleihe,
+dem Unternehmertum seine Gesetze zu diktieren. In
+jedem Wort, das er aussprach, brannte das Feuer seiner
+&Uuml;berzeugung, und alles jauchzte ihm zu. Meine Resolution
+wurde abgelehnt, die seine, die die Fortsetzung
+des Streiks erkl&auml;rte, angenommen. Durch einen Nebeneingang
+lie&szlig; man mich hinaus. Man h&auml;tte mich sonst
+vor den Insulten der fanatisierten Menge nicht sch&uuml;tzen
+k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Der Streik war trotzdem zu Ende. Die englischen
+Millionen waren nichts als ein M&auml;rchen. Ein paar
+Tollk&uuml;hne hungerten noch eine Woche l&auml;nger&nbsp;&mdash;, das
+war alles.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wir gingen durch den Tiergarten heimw&auml;rts,
+Heinrich und ich. Die K&auml;lte tat mir
+wohl. &raquo;Am liebsten z&ouml;ge ich selbst solch
+Schneekleid an, um ganz, ganz kalt zu werden,&laquo; murmelte
+ich. Eine gro&szlig;e Hoffnungslosigkeit hatte sich
+meiner bem&auml;chtigt.</p>
+
+<p>&raquo;Nun sollst du auch wissen, was mir fehlt,&laquo; sagte
+Heinrich, auf dessen Arm ich mich m&uuml;de st&uuml;tzte. &raquo;Ich
+hatte heute eine b&ouml;se Szene mit Rosalie. Sie will in
+den S&uuml;den &mdash; auf Monate &mdash; mit mir. Um unsere
+Ehe wieder herzustellen, wie sie sagt. Ich weigere
+mich, brauchte lahme Ausreden, die sie durchschaute.
+Sie bekam einen Weinkrampf, dann warf sie mir vor,
+da&szlig; ich das Kind t&ouml;ten wolle, indem ich sie, die n&auml;hrende
+Mutter, nicht schone.&laquo;</p>
+
+<p>Er blieb aufatmend stehen.</p>
+<p><a name="Page_120" id="Page_120"></a></p>
+<p>&raquo;Und du?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich versprach ihr jede R&uuml;cksicht, &mdash; nur mit ihr
+reisen k&ouml;nne ich nicht. Jetzt fordert sie eine Auseinandersetzung,
+auch mit dir. Zwei Tage hat sie mir Zeit gegeben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie hat recht,&laquo; sagte ich, &raquo;auch sie zieht ein Ende
+mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vor.&laquo;</p>
+
+<p>Ich zwang mich zur Ruhe, &mdash; seinetwegen.</p>
+
+<p>Die beiden Tage schleppten sich hin wie ebenso viele
+Jahre, jede Stunde beladen mit Qualen, mit Selbstvorw&uuml;rfen,
+mit Zweifelfragen. Hatte ich nicht das
+Leben dieser Menschen zerst&ouml;rt, hatte den, der mir auf
+der Welt der liebste war, in einen Kampf gerissen, der
+f&uuml;r ihn vielleicht des Einsatzes nicht wert sein w&uuml;rde,
+hatte dem Kinde schon im Mutterleibe den Vater gestohlen!</p>
+
+<p>Und dann kam der Tag und die Stunde. Ich wartete
+von mittags bis abends. Jeder Schritt auf dem
+Hof lie&szlig; mich auffahren, vor jedem Laut, der von
+dr&uuml;ben klang, zitterte ich. Minuten gab es, in denen
+ich die H&auml;nde faltete, wie ein kleines Kind, wenn sinnlose
+Angst es den sch&uuml;tzenden Vater im Himmel suchen
+lie&szlig;. Aber durfte ich beten &mdash; ich!&nbsp;&mdash;, selbst wenn ich
+noch glauben k&ouml;nnte?! Die Bilder auf meinem Schreibtisch
+starrten mich an und sahen mir nach, wohin ich
+auch im ruhelosen Auf- und Abwandern mich wandte:
+der Vater, der einst einen braven Offizier seines Regiments
+f&uuml;r unw&uuml;rdig erkl&auml;rt hatte, weiter des K&ouml;nigs
+Rock zu tragen, weil er das Weib eines andern liebte;
+die Mutter, deren ganzes Leben unter dem einen Gesetz
+der Pflichterf&uuml;llung stand; &mdash; aber lugte nicht neben ihr
+<a name="Page_121" id="Page_121"></a>aus dem Rahmen ein stilles, edles Antlitz hervor mit
+g&uuml;tigen dunkeln Augen? &raquo;Gro&szlig;mama,&laquo; schluchzte ich
+leise. O, da&szlig; ich den Kopf in ihrem Scho&szlig; vergraben,
+ihr beichten und aus ihrem Munde mein
+<em class="antiqua">Absolve te</em> h&ouml;ren d&uuml;rfte!</p>
+
+<p>War das nicht sein Schritt? Ich ri&szlig; das Fenster
+auf. Klang nicht ein Ruf z&auml;rtlich aus dem Dunkel?
+Mit angehaltenem Atem horchte ich. Klopfte es nicht
+an der Pforte? Oder war es mein eigenes Herz, das
+ich h&ouml;rte? Ich blieb auf dem engen, kleinen Flur, an
+die Mauer gelehnt, mit krampfhaft aufgerissenen Augen
+und pochenden Schl&auml;fen. Die Treppe drau&szlig;en knarrte,
+ich griff an die Klinke, die T&uuml;re sprang auf &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;Alix!&laquo; Welch ein Ton war in seiner Stimme!
+Halb bewu&szlig;tlos sank ich in seine weitge&ouml;ffneten Arme.</p>
+
+<p>&raquo;Sie willigt in die Scheidung.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_122" id="Page_122"></a></p>
+<h2><a name="Viertes_Kapitel" id="Viertes_Kapitel"></a>Viertes Kapitel</h2>
+
+
+<p>An einem jener norddeutschen Apriltage, wo
+Fr&uuml;hling und Winter einander wie Feinde vor
+dem Ausbruch des Kampfes lauernd umschleichen,
+die Sonne auf hellen Pl&auml;tzen Sommergr&uuml;&szlig;e
+vom Himmel sendet und daneben der feuchtkalte Wind
+triumphierend durch schattige Stra&szlig;en fegt, ging ich
+zum Abschiednehmen zu den Eltern.</p>
+
+<p>Seit jenem Tage, wo mein Vater mich im Zorn
+verlassen hatte, war ich nicht mehr bei ihnen gewesen.
+Selbst die notwendigen gesch&auml;ftlichen Auseinandersetzungen,
+die sich an den Tod einer Verwandten und der mir und
+meiner Schwester zugefallenen kleinen Erbschaft kn&uuml;pften,
+hatte mein Vater schriftlich erledigt. Jetzt aber hatte er
+mich vor meiner Abreise noch einmal sehen wollen.</p>
+
+<p>Er empfing mich ernst und gemessen. &raquo;Du siehst
+schlecht aus,&laquo; sagte er dann und ein liebevoll besorgter
+Blick strafte seine &auml;u&szlig;ere Strenge L&uuml;gen. Ich wu&szlig;te
+es: die letzten Monate hatten meine Nervenkraft ersch&ouml;pft;
+ich bedurfte der Erholung, aber mehr noch des
+Fernseins von Berlin w&auml;hrend des bevorstehenden Scheidungsprozesses.
+&raquo;Die Erbschaft kommt dir wirklich zustatten,&laquo;
+fuhr er fort. Er ahnte nicht, in welchem Umfang
+er recht hatte!</p>
+
+<p><a name="Page_123" id="Page_123"></a>Eine konventionelle Unterhaltung entspann sich. Und
+doch war mir das Herz so voll: ich allein wu&szlig;te von
+uns allen, wie weit ich mich mit diesem Abschied von
+ihnen entfernte, &mdash; vielleicht auf Nimmerwiedersehen.
+Ein Wort der Dankbarkeit, der Liebe h&auml;tte ich gern
+gesagt; &mdash; in der Temperatur, die zwischen uns herrschte,
+erfror es, noch ehe es &uuml;ber die Lippen kam.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist mir nicht recht, da&szlig; du allein in die Welt
+hineinreist,&laquo; sagte mein Vater, als ich schon an der T&uuml;re
+stand, &raquo;Ihr Jungen denkt anders dar&uuml;ber, &mdash; Einflu&szlig;
+habe ich keinen mehr, &mdash; ich kann nur hoffen, da&szlig; du
+dich stets erinnerst, was du deinem Namen schuldig bist.&laquo;
+Seine Augen ruhten forschend auf mir. Ich reichte
+ihm stumm die Hand: &raquo;Lebewohl, Papa&nbsp;&mdash;&laquo; Ich zwang
+meine Stimme, nicht zu zittern. &raquo;Lebwohl,&laquo; antwortete
+er mit einem Seufzer. Einen Ku&szlig; gab er mir nicht
+mehr.</p>
+
+<p>Die Mutter begleitete mich auf den Flur.</p>
+
+<p>&raquo;Hast du etwas besonderes zu schreiben,&laquo; sagte sie
+mit Betonung, &raquo;so lege stets einen besonderen Zettel
+dem Brief an mich bei, damit ich ihn Hans ohne Schaden
+zeigen kann.&laquo; Ich hatte die Empfindung, da&szlig; mein
+Weggehen sie erleichtere. Ilse kam noch bis auf die
+Stra&szlig;e mit mir.</p>
+
+<p>&raquo;Du, Schwester, ist es wahr, da&szlig; <em class="antiqua">Dr.</em> Brandt sich
+deinetwegen scheiden l&auml;&szlig;t?!&laquo; fl&uuml;sterte sie hastig mit gl&auml;nzenden
+Augen. Aufs peinlichste &uuml;berrascht starrte ich sie
+an. Sie pre&szlig;te mir st&uuml;rmisch die Hand: &raquo;Du, &mdash; das
+ist furchtbar interessant! Freilich&nbsp;&mdash;&laquo; und nachdenklich
+kaute sie an der Unterlippe &mdash; &raquo;mit Papa werden wir
+wieder aushalten m&uuml;ssen!&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_124" id="Page_124"></a>Ein Regenschauer trieb sie ins Haus zur&uuml;ck. Fr&ouml;stelnd
+zog ich den Mantel fester, der Wind zerrte daran und
+warf mir eiskalte Tropfen ins Gesicht.</p>
+
+<p>Am Abend fuhr ich nach M&uuml;nchen, wo Heinrich den
+Zug bestieg. Er hatte seine S&ouml;hne in Pension, Rosalie
+und den Kleinen mit der Pflegerin aufs Land gebracht.</p>
+
+<p>&raquo;Es gab wieder eine Szene,&laquo; erz&auml;hlte er, &raquo;ihre innere
+Stimme, an die sie nun einmal glaubt, hat ihr gesagt,
+da&szlig; du mich ungl&uuml;cklich machen w&uuml;rdest. Aus Mitleid
+wollte sie darum alles verzeihen und mich in Gnaden
+wieder aufnehmen. Als ich darauf verzichtete, prophezeite
+sie mir mit dem Pathos einer Kassandra, ich w&uuml;rde
+noch einmal knief&auml;llig um ihre Liebe betteln. Und als
+auch das ohne Eindruck blieb, machte sie allerlei dunkle
+Andeutungen &uuml;ber Zeugenaussagen im Proze&szlig;, und die
+Pflegerin lachte mich dabei so impertinent an, da&szlig; ich
+grob wurde.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nicht umsonst habe ich mich immer vor ihr gef&uuml;rchtet,&laquo;
+sagte ich tr&uuml;bsinnig.</p>
+
+<p>&raquo;Mein armer, kleiner Angsthase!&laquo; l&auml;chelte er, halb
+ungeduldig, halb belustigt. Im Lexikon seiner Gef&uuml;hle
+hatte das Wort &raquo;Furcht&laquo; keinen Platz gefunden. &raquo;Du
+bist so tapfer und kannst so feige sein! Haben wir
+nicht bisher schon &uuml;ber alles Erwarten Gl&uuml;ck gehabt,
+und du willst verzagen &mdash; gerade jetzt, wo wir dem
+Fr&uuml;hling entgegenfahren?&laquo;</p>
+
+<p>Voll tiefen Vertrauens lehnte ich mich in den Arm
+zur&uuml;ck, der mich umschlang, und sah still den wei&szlig;en
+Flocken zu, die vor den Fenstern tanzten, und den in
+dunkeln Schleiern schwer herabh&auml;ngenden Wolken, die
+der Zug durchschnitt. Es tat so gut, sich in der Obhut
+<a name="Page_125" id="Page_125"></a>des Geliebten zu wissen, seinen starken Schultern aufzub&uuml;rden,
+was ich allein nicht h&auml;tte tragen k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Auf dem Brenner gl&auml;nzte die Sonne &uuml;ber frisch gefallenem
+Schnee, aber von den Bergen st&uuml;rzten schon
+fr&uuml;hlingsfroh die entfesselten Wasser. In Gossensa&szlig;,
+wo die Bergw&auml;nde sich noch einmal finster zusammenschoben,
+braute wieder der Nebel um dunkle Fichten
+und winterstarres Geb&uuml;sch, hinter Franzensfeste jedoch
+stand das breite Tal in bl&uuml;hendem Lenzkleid und &ouml;ffnete
+die Arme weit, um all die frierenden Wanderer an
+seine warme Brust zu ziehen. Frohlockend wiesen von
+allen H&ouml;hen wei&szlig;e Kirchlein mit spitzen Fingern hinauf
+zur Sonne, die behaglich lachend am blauen Himmel
+stand. Auf den knorrigen &Auml;sten alter Obstb&auml;ume sa&szlig;en
+junge lustige rote und wei&szlig;e Bl&uuml;ten. Ohne Ehrfurcht
+vor dem grauen Alter der Ruinen, der n&uuml;chternen Heiligkeit
+der Kl&ouml;ster, fluteten in blauen Kaskaden die
+s&uuml;&szlig;-sehns&uuml;chtigen Blumendolden der Glyzinien &uuml;ber die
+Mauern, vom Liebesspiel buntschillernder K&auml;fer umtanzt.</p>
+
+<p>Im brixener Gasthof zum Elefanten machten wir
+Rast. Nur das riesige Bild des R&uuml;sseltiers, dem er
+seinen Namen verdankt, erinnerte noch an die Zeit, wo
+Kaiser und K&ouml;nige auf der Romfahrt hier Einkehr
+hielten. Jetzt sa&szlig;en nur wenige unscheinbare Leute in
+dem niedrigen, dunkel get&auml;felten Gastzimmer. Sicher:
+hier kannte uns niemand. Aber kaum sa&szlig;en wir vor
+der Sch&uuml;ssel, die verhei&szlig;ungsvoll nach gut &ouml;sterreichischer
+Mahlzeit duftete, als ein Herr an unseren Tisch trat,
+Heinrich freudig begr&uuml;&szlig;end. Umsonst, da&szlig; dieser die abweisendste
+Miene machte, den Fremden weder n&ouml;tigte,
+Platz zu nehmen, noch ihn mir vorstellte. In seiner<a name="Page_126" id="Page_126"></a>
+Freude, einen Bekannten zu treffen, besorgte er das
+ohne weiteres selbst; er hielt mich f&uuml;r Heinrichs Frau
+und k&uuml;ndigte uns mit vielem Ger&auml;usch die Bekanntschaft
+seiner Familie an. &raquo;Wir werden nicht bleiben k&ouml;nnen,&laquo;
+sagte Heinrich langsam, als er sich endlich empfahl, &raquo;es
+sind Berliner.&laquo; Ich zuckte die Achseln. &raquo;Diesmal bin
+ich die Mutigere von uns beiden. Mir ist nichts so
+gleichg&uuml;ltig als der Klatsch.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber ich dulde nicht, da&szlig; man dich verd&auml;chtigt,&laquo;
+brauste er auf.</p>
+
+<p>In aller Fr&uuml;he am n&auml;chsten Morgen fuhren wir
+weiter bis nach Trient. &raquo;Hierher kommt keiner unsrer
+Landsleute,&laquo; hatte Heinrich gesagt. Und in der
+Tat: in den gro&szlig;en Palastr&auml;umen des Hotel Trento
+sprachen selbst die Kellner nur ein gebrochenes Deutsch.
+Ob wir uns hier ein paar Wochen w&uuml;rden ausruhen
+k&ouml;nnen? Wir hatten sehr das Bed&uuml;rfnis danach.</p>
+
+<p>Vor dem Balkon meines Zimmers lag der weite Platz
+mit dem ehernen Denkmale Dantes. M&auml;chtig zeichnete sich
+seine schwarze Silhouette gegen den blauen Himmel ab,
+zu beiden Seiten von den starren Felskulissen der Berge
+eingerahmt. Aber der Platz zu seinen F&uuml;&szlig;en mit ein
+wenig Rasen und ein paar kleinen immergr&uuml;nen B&uuml;schen
+sah im gelben Licht der Sonne &ouml;de aus.</p>
+
+<p>Wir gingen durch die Stra&szlig;en: lauter graue H&auml;user mit
+verwaschenen Farben und tr&uuml;ben Fenstern, Pal&auml;ste dazwischen
+mit verblichenen Fresken, H&ouml;fe mit alten ausgetrockneten
+Brunnen und S&auml;uleng&auml;ngen, unter denen
+zerlumpte W&auml;sche hing, stolze wappengekr&ouml;nte Tore mit
+Firmenschildern aus Blech und Anzeigen aus Papier
+benagelt und beklebt; ein Dom, geschm&uuml;ckt mit den zier<a name="Page_127" id="Page_127"></a>lichsten
+romanischen Galerien, die hohen Portale von
+s&auml;ulentragenden L&ouml;wen bewacht, und darin auf dem
+ausgetretenen Estrich, zwischen den Grabm&auml;lern edler
+Geschlechter, ein paar alte Weiber, die kniend den
+Rosenkranz durch schmutzige Finger zogen und mit zahnlosem
+Munde Gebete pl&auml;rrten. Und &uuml;ber der Stadt,
+sie beherrschend, der pr&auml;chtige Renaissancebau des alten
+f&uuml;rstbisch&ouml;flichen Schlosses, ein unvergleichlicher Rahmen
+&uuml;ppiger Hofhaltungen, &mdash; eine Kaserne heute. In der
+d&auml;mmernden Loggia auf dem Brunnenhof, wo die
+W&uuml;rdentr&auml;ger des f&uuml;rstbisch&ouml;flichen Stuhls in roten
+und violetten Gew&auml;ndern beim Gesang des leise pl&auml;tschernden
+Wasserstrahls die kunstvollen Lettern pergamentgebundener
+B&uuml;cher zu lesen pflegten, sa&szlig;en Soldaten
+und putzten Gewehre; in den hohen S&auml;len, von deren
+gemalten Decken die G&ouml;tter des Olymps auf die tafelnden
+Priester des Gekreuzigten einst l&auml;chelnd herniedersahen,
+standen Eisenbetten mit rauher Leinwand gedeckt,
+an den W&auml;nden, hinter deren kalkwei&szlig;er T&uuml;nche pr&auml;chtige
+Bilder schlummern, hingen in Reih und Glied
+K&auml;ppis und Tornister.</p>
+
+<p>Wir gingen schweigsam zur&uuml;ck. In den Gassen
+l&auml;rmten ein paar Kinder: M&auml;dchen mit seidenen Schleifen
+im Haar und zerschlissenen R&ouml;ckchen &uuml;ber den blo&szlig;en
+Beinen, Knaben, die gierig um ein paar Kreuzer
+rauften. Vor den Wirtsh&auml;usern auf dem schmalen
+Trottoir sa&szlig;en in sch&auml;biger Eleganz junge Leute, die
+lange Virginiazigarre zwischen den schwarzen Z&auml;hnen.
+Die Sonne schien, aber ihre Strahlen trafen auf keinen
+Lebenssamen, den sie h&auml;tten wecken k&ouml;nnen; die kahlen
+Mauern, die baumlosen Stra&szlig;en warfen nur sengende<a name="Page_128" id="Page_128"></a>
+Glut zur&uuml;ck. F&uuml;rsten erbauten diese Stadt, und Bettler
+haben sie daraus vertrieben.</p>
+
+<p>Wir aber suchten den Fr&uuml;hling. Ein Postwagen mit
+vier Pferden davor entf&uuml;hrte uns aus Trient. Je weiter
+wir uns von der Stadt entfernten, die wie ein steinerner
+Sarkophag in der Tiefe schlief, desto lachender wurde
+die Natur. Auf den Wiesen bl&uuml;hten Lilien und
+Glockenblumen, um die elendesten H&uuml;tten leuchteten
+in rosiger Pracht die Mandelb&auml;ume. In Caldonazzo,
+einem stillen Nest am Ende des Sees, der den klaren
+Himmel auf die Erde zu zaubern schien, blieben wir.
+Unter der Laube im Obstgarten der Trattoria, die von
+gelben Rosen &uuml;berwuchert war, wurde uns gedeckt.
+Vino santo funkelte goldfarbig in den Gl&auml;sern, ein
+kleines M&auml;dchen mit gro&szlig;en runden Augen, wie geschliffene
+Kohlen, setzte noch eine blaue Vase mit wei&szlig;en
+Lilien mitten auf den Tisch. Dann war es ganz, ganz
+still um uns, ein heiliges Abendschweigen, das wir mit
+keinem lauten Wort zu st&ouml;ren wagten. Unsere H&auml;nde
+schlangen sich ineinander, fester zog mich sein Arm an
+seine Brust, und sehns&uuml;chtiger wurden unsere K&uuml;sse.</p>
+
+<p>Schl&uuml;sselklirrend ging der Wirt durch den Garten.
+Wir standen auf. Vor der T&uuml;r meines Zimmers blieben
+wir stehen, stumm, mit herabh&auml;ngenden Armen, unsere
+Augen versanken ineinander, und die ganze verzehrende
+Qual unserer Liebe lag in unserem Blick. &raquo;Gute
+Nacht!&laquo; &mdash; er ber&uuml;hrte mit den hei&szlig;en Lippen nur
+meine Fingerspitzen.</p>
+
+<p>Ich schlief nicht. Durch das offene Fenster strich die
+laue Luft und trug die s&uuml;&szlig;en Ger&uuml;che der Wiesen auf
+ihren Fl&uuml;geln. Ich pre&szlig;te die Z&auml;hne zusammen, um
+<a name="Page_129" id="Page_129"></a>nicht den zu rufen, nach dem mein Herz verbrannte,
+ich dr&uuml;ckte die spitzen N&auml;gel meiner Finger mir ins
+Fleisch, um mit dem Schmerz die Qual zu bet&auml;uben,
+die mein Blut durch die Adern peitschte.</p>
+
+<p>Drau&szlig;en im Garten knirschte der Kies, &mdash; das Weinlaub
+am Fenster bewegte sich, &mdash; schlich nicht ein Schatten
+leise vor&uuml;ber? &mdash; O, warum kommst du nicht, &mdash; sind meine
+Arme nicht weich, lockt nicht mein Busen wie Perlmutter
+gl&auml;nzend in der Stille der hellen Mondnacht? Was
+geht mich die Welt an?! Die sanften H&ouml;hen dieses bl&uuml;henden
+Tales umschlie&szlig;en die meine! Und die Menschen?
+Da doch niemand ist, als ich und du! Und die Vergangenheit?
+Sie geh&ouml;rt uns nicht mehr! Und die Zukunft?
+Nichts ist unser als dieser Fr&uuml;hlingsnacht
+zauberische Gegenwart! &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Aus kurzem, schwerem Morgenschlaf erwachte ich m&uuml;de
+und einsam. Wir trafen uns in der Rosenlaube, und die
+Spuren n&auml;chtlicher K&auml;mpfe lagen auch auf seinen Z&uuml;gen.</p>
+
+<p>Der Telegraphenbote ri&szlig; uns aus der Versunkenheit
+unserer tr&uuml;ben Stimmung. Eine Depesche von Heinrichs
+Rechtsanwalt: &raquo;Frau Brandt verlangt Schl&uuml;ssel Ihrer
+Wohnung, kehrt nach Berlin zur&uuml;ck. Stimmung nach
+Mitteilung ihres Anwalts wesentlich ver&auml;ndert.&laquo; Das
+Telegramm war uns von Bozen nachgesandt worden
+und trug das Datum von vorgestern. &raquo;Ich mu&szlig; nach
+Berlin &mdash; sofort&nbsp;&mdash;. Sie kann alles zerst&ouml;ren,&laquo; knirschte
+Heinrich, &raquo;und du &mdash; du Arme?!&laquo; &raquo;Zun&auml;chst begleite
+ich dich, &mdash; alles weitere besprechen wir unterwegs.&laquo;</p>
+
+<p>In sausender Fahrt ging es bergab. Die Peitsche
+des Kutschers pfiff &uuml;ber die schwei&szlig;triefenden Pferde.
+Wir mu&szlig;ten den Schnellzug erreichen. Unterwegs be<a name="Page_130" id="Page_130"></a>kam
+ich einen Herzkrampf. Als ich wieder zu mir kam,
+ratterte der Wagen &uuml;ber das Pflaster Trients, und
+Heinrichs angstentstelltes Gesicht beugte sich &uuml;ber mich.
+&raquo;Wirst du weiter k&ouml;nnen?&laquo; Ich nickte. Man hob mich
+in den Zug. Ich erholte mich soweit, um ruhig denken
+zu k&ouml;nnen. Dicht bei Brixen lag unter gro&szlig;en Nu&szlig;b&auml;umen
+ein kleines Dorf, Vahrn genannt; dort wollte
+ich bleiben, bis&nbsp;&mdash;. &raquo;Bis alles gut ist, mein armer
+Liebling,&laquo; fl&uuml;sterte er; &raquo;wenn ich nur sicher w&auml;re, da&szlig;
+du deiner Angst, deiner Aufregung Herr wirst, &mdash; f&uuml;r
+mich ist der Kampf ein Kinderspiel&nbsp;&mdash;&laquo; Der Triumph
+des Sieges blitzte schon aus seinen Augen. In Brixen
+blieben uns noch ein paar Stunden bis zum Abschied.
+Auf der Post fand sich ein Brief an mich von der
+Mutter mit einer Beilage in verstellter Schrift: &raquo;Diesen
+anonymen Wisch bekam ich soeben. Ich habe ihn, Gott
+Lob, vor Hans verstecken k&ouml;nnen. Da aber Wiederholungen,
+wom&ouml;glich direkt an ihn gerichtete, wahrscheinlich
+sind, und ich von deinem Anstandsgef&uuml;hl doch
+noch so viel erwarte, da&szlig; der Inhalt dieses Schriftst&uuml;ckes
+eine Verleumdung ist und <em class="antiqua">Dr.</em> Brandt nicht mit
+dir reist, so ersuche ich dich, zu veranlassen, da&szlig; er
+uns seine Anwesenheit in Berlin auf irgendeine Weise
+dokumentiert&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bereits morgen wird das geschehen,&laquo; sagte Heinrich,
+&raquo;du stehst, wie notwendig es ist, da&szlig; wir das Opfer
+dieser Trennung bringen. Es wird die letzte sein!&laquo;</p>
+
+<p>Mit einem leisen Vorwurf sah ich ihn an: &raquo;Fast
+scheint's, als freutest du dich, da&szlig; du fort mu&szlig;t!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich freue mich der Hindernisse, die sich uns in den
+Weg legen. Mir w&auml;re bange geworden vor der Gr&ouml;&szlig;e
+<a name="Page_131" id="Page_131"></a>meines Gl&uuml;ckes, wenn sein Besitz keine Opfer kosten
+w&uuml;rde.&laquo; Ich sch&auml;mte mich meiner Trauer, und wir
+nahmen Abschied voneinander, fast als w&auml;re es ein Willkommen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Im Turmzimmer des Gasthofes zu Vahrn zog
+ich am selben Abend noch ein. Von meinem
+Fenster sah ich ins Schalderer Tal mit seinen
+dunkeln Fichten am klaren Bach. Stundenlang sa&szlig; ich
+hier in wachen Tr&auml;umen. Zuweilen folgte ich dem
+stillen Waldweg bis hinauf nach Schalders. Aber es
+mu&szlig;te ein heller Tag sein, sonst f&uuml;rchtete ich mich und
+sah, wie einst als Kind, hinter jedem Baum Gespenster
+lauern. Abends stieg ich nach Salern hinauf und sa&szlig;
+zwischen dem alten Gem&auml;uer der Ruine bis breite Bergschatten
+das Tal von Brixen verh&uuml;llten und die Spitzen
+der Dolomiten fern am Horizont aufgl&uuml;hten wie
+verl&ouml;schende Fackeln.</p>
+
+<p>Des Nachts aber kamen die finsteren Gedanken. Dann
+las ich wieder und wieder seine Briefe und suchte
+zwischen den Zeilen, was er aus Schonung verschweigen
+mochte: &raquo;Rosalie macht Besuche bei allen Bekannten,
+und ich sehe an den Mienen der Leute, was sie erz&auml;hlt&nbsp;&mdash;&laquo;,
+sie suchte Zeugen gegen mich; der Preis der
+Scheidung w&uuml;rde die Verhinderung unserer Heirat sein!
+&raquo;Sie hat neuerdings Freunde im Egidyschen Kreis&laquo;&nbsp;&mdash;,
+sie suchte eine Verbindung mit den Eltern, sie wird zum
+Vater gehen, ihm erz&auml;hlen, &mdash; und er ertr&uuml;ge es nicht,
+so nicht, &mdash; er w&uuml;rde Heinrich vor die Pistole fordern!</p>
+
+<p>Noch geschah nichts dergleichen. Meines Vaters<a name="Page_132" id="Page_132"></a>
+Briefe waren erregt, aber nur &uuml;ber die Ereignisse des
+Tages: die Verurteilung Hammersteins wegen Urkundenf&auml;lschung
+zum Zuchthaus, &raquo;ein Menetekel f&uuml;r den Adel,
+dessen junger Nachwuchs das goldene Kalb umtanzt
+und dabei unabweisbar dem Schwindel verf&auml;llt,&laquo; den
+Austritt St&ouml;ckers aus der konservativen Partei, &raquo;dieses
+t&uuml;chtigen Mannes, den die Sozialdemokraten mit ihrer
+verdammten Manier der Ver&ouml;ffentlichung von gestohlenen
+Privatbriefen auf dem Gewissen haben,&laquo; &uuml;ber die in
+seinen Jubil&auml;umsreden stets deutlicher zutage tretenden
+Weltmachtgel&uuml;ste des Kaisers, &raquo;die uns vom erprobten
+geraden Wege altpreu&szlig;ischer Sparsamkeit und
+dem bewu&szlig;ten Sichbescheiden auf den angestammten
+Boden und seine Bearbeitung in die Politik abenteuernder
+Seefahrer hineinrei&szlig;t.&laquo; Ich mu&szlig;te mein Erinnerungsverm&ouml;gen
+immer erst m&uuml;hsam auf die Welt au&szlig;er
+mir einstellen, wenn seine Briefe Antwort heischten.</p>
+
+<p>Eines Morgens kam ein Expre&szlig;brief von Heinrich,
+den ich in Erwartung erf&uuml;llter b&ouml;ser Tr&auml;ume zitternd
+&ouml;ffnete. &raquo;Deine Liebe soll noch eine harte Probe bestehen,&laquo;
+schrieb er. &raquo;Rosalie will sich nur unter der
+Bedingung scheiden lassen, da&szlig; ich ihr mein ganzes
+Verm&ouml;gen gebe. Es ist an sich nur klein, wie Du
+wei&szlig;t, aber es ist alles. Wirst Du stark genug sein,
+einen Mann zu heiraten, der nichts besitzt? Der Dir
+nur seine Liebe in die Ehe mitbringt und seinen festen
+Willen, Dir trotz alledem ein gl&uuml;ckliches Leben zu
+erk&auml;mpfen?... Antworte mir nach reiflicher &Uuml;berlegung.
+Aus Deiner Hand w&uuml;rde ich jedes Geschick ohne Murren
+empfangen. F&uuml;rchte nichts von mir, wenn Du nein
+sagen mu&szlig;t. Das Gl&uuml;ck, das Deine Liebe mir schenkte,
+<a name="Page_133" id="Page_133"></a>war schon so gro&szlig;, da&szlig; ich Dir auch dann noch dankbar
+bleibe...&laquo; Ich l&auml;chelte, von einem Alpdruck befreit;
+so viele Worte um solch eine Kleinigkeit! Nicht
+einen Augenblick des Besinnens gab es f&uuml;r mich. &raquo;Gib,
+was sie fordert,&laquo; telegraphierte ich. Aber noch immer
+schien sie nicht genug zu haben. Ein paar Tage sp&auml;ter
+verlangte sie eine Summe, die Heinrichs Verm&ouml;gen &uuml;bertraf.
+Und als der Anwalt ihr vorhielt, da&szlig; Heinrich
+Wucherschulden machen m&uuml;sse, wenn er ihren Wunsch
+erf&uuml;llen solle, sagte sie ruhig: &raquo;Mag sein, &mdash; aber sonst
+lasse ich die Scheidung nicht zu.&laquo; Sie war uners&auml;ttlich.
+In meinen n&auml;chtlichen Tr&auml;umen sah ich sie: gro&szlig;,
+dunkel, mit der Schleppe, die wie eine Schlange hinter
+ihr her raschelte, und den wei&szlig;en Raubtierh&auml;nden.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Der Tag der Entscheidung nahte. Am Vorabend
+fuhr ich nach M&uuml;nchen.
+Die Stunden schlichen, die Zeiger an der
+Uhr wollten nicht von der Stelle r&uuml;cken. Ich h&ouml;rte, wie
+das Leben drau&szlig;en verstummte, die letzten Pferde m&uuml;de
+zum Stalle trotteten, das letzte L&auml;uten der Stra&szlig;enbahn
+verklang. Und ich h&ouml;rte wieder, wie es erwachte, wie
+die ersten Marktwagen im D&auml;mmerlicht grauenden
+Morgens &uuml;ber das Pflaster ratterten und die Tritte der
+B&auml;ckerjungen stra&szlig;enweit zu verfolgen waren; wie das
+R&auml;derrollen allm&auml;hlich anschwoll zu einem brausenden
+Ton, und kein einzelner Schritt unter den vielen mehr
+zu unterscheiden war. Dann kamen die Stunden, die
+&uuml;ber mein Schicksal entschieden. Sie waren wie lebendige
+Wesen, die mit meinem Herzen Fangball spielten.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_134" id="Page_134"></a></p>
+
+<p>&raquo;Frei!&laquo; &mdash; Ich hatte das Telegramm dem Boten
+aus der Hand gerissen, &mdash; ich starrte das Wort
+an, bis mir die Augen &uuml;bergingen. Im Zimmer
+ertrug ich's nicht mehr. Zu gro&szlig; war mein Gl&uuml;ck. Und
+selbst als der Himmel sich &uuml;ber mich spannte, war mir's,
+als m&uuml;&szlig;te es sein blaues Gew&ouml;lbe zersprengen.</p>
+
+<p>Zwei Tage mu&szlig;te ich des Geliebten warten. &raquo;Nachdem
+Dein heimlicher Wunsch, Du emanzipationsl&uuml;sterne
+Frau, eine freie Ehe zu schlie&szlig;en, an meinem reaktion&auml;ren
+Eigensinn endg&uuml;ltig zu Schanden wurde&laquo; schrieb
+er neckend, &raquo;mu&szlig; ich unserer altmodisch ordentlichen
+Verbindung auch eine b&uuml;rgerliche Grundlage schaffen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich lief indessen in der Stadt umher und suchte,
+meinem &uuml;bervollen Herzen Luft zu machen. Ein Bettler
+stand an der Ecke mit einem Plakat vor der Brust:
+&raquo;Ein armer Taubstummer bittet um eine milde Gabe,&laquo;
+ich dr&uuml;ckte ihm ein Goldst&uuml;ck in die Hand, was ihn so
+verbl&uuml;ffte, da&szlig; er seiner Stummheit verga&szlig; und ein Mal
+&uuml;ber das andere ein &raquo;Vergelt's Gott&laquo; stammelte. Vor
+allen Schaufenstern blieb ich stehen, in denen die Maisonne
+z&auml;rtlich &uuml;ber Spitzen und Schleier strich. Und
+das Sch&ouml;nste, was ich sah, war nur gerade sch&ouml;n genug,
+um mich f&uuml;r ihn zu schm&uuml;cken.</p>
+
+<p>Meines Lebens hohe Zeit stand vor der T&uuml;re; k&ouml;niglich
+sollte sie empfangen werden. Niemand durfte ihr
+begegnen, der Trauergew&auml;nder trug. Keines Menschen
+Tr&auml;ne durfte den Willkommtrunk verbittern, mit dem
+ich sie begr&uuml;&szlig;en wollte. Und im geschliffenen Kristall
+des Pokals sollte sich nur die Sonne spiegeln.</p>
+
+<p>Der Gedanke an die Eltern krampfte mir das Herz
+<a name="Page_135" id="Page_135"></a>zusammen. Ich sah sie in der dunkeln Wohnung hinter
+den schweren Vorh&auml;ngen, die immer an den Winter
+glauben lie&szlig;en. W&uuml;rde mein Gl&uuml;ck hell genug sein, um
+hindurchzudringen? Ich f&uuml;hlte, wie dumpf die Luft bei
+ihnen war. W&uuml;rde mein Gl&uuml;ck stark genug sein, sie zu
+zerstreuen?</p>
+
+<p>An einem hellen Morgen, &uuml;ber den der Himmel
+leuchtete wie ein geheimnisvoll glei&szlig;ender Opal, trug
+ich ein wei&szlig;es Kleid und Rosen im G&uuml;rtel, die lauter
+Sonnenlicht getrunken hatten und die Bl&uuml;tenk&ouml;pfe
+senkten, schwer von Sch&ouml;nheit. Ich wartete des Geliebten.
+Durch die vielen Scheiben der Bahnhofshalle
+funkelte und spr&uuml;hte das Morgenlicht und malte tanzend
+helle Flecke auf den Asphalt. Wie blasse Mondscheiben,
+wenn der Tag noch herrscht, standen die gro&szlig;en,
+runden Bogenlampen &uuml;ber dem hastenden Leben. Hin
+und her str&ouml;mten bunte Menschenschw&auml;rme. Reisefieber,
+das in blaue Fernen treibt, sorgender Ernst, der der
+Tagesarbeit entgegenstrebt, lachende Hoffnung, die in
+die Arme der Liebe verlangt, bange Angst, die vor der
+Fremde zittert, malten sich in den vielen Gesichtern.
+Die Z&uuml;ge brachten und empfingen sie in unaufh&ouml;rlichem
+Wechsel. Ich allein stand in der Flut ganz still, die
+Augen auf das helle riesige Bogenrund gerichtet, in das
+die gro&szlig;en schwarzen Schlangen fauchend untertauchten,
+und aus dem sie, die welterobernden Ungeheuer, brausend
+hervorquollen. Endlich! Ein schriller Pfiff aus einer
+Lokomotive, die ihre m&auml;chtigen, blanken Glieder majest&auml;tisch
+hereinw&auml;lzte, zwei zischende Garben wei&szlig;er Wasserd&auml;mpfe&nbsp;&mdash;,
+sie stand. Lauter Schatten liefen und dr&auml;ngten
+an mir vor&uuml;ber, ich sah nur ihn, &mdash; und er zog mich
+<a name="Page_136" id="Page_136"></a>in die Arme, ganz fest&nbsp;&mdash;, alle Rosen fielen mir aus dem
+G&uuml;rtel, und streuten ihre Bl&auml;tter um uns, glutrote ...</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>&raquo;Und unsere Hochzeit, mein Lieb, wo soll sie sein?&laquo;
+&raquo;Irgendwo zwischen hohen Bergen, im
+Walde, wo der Dompfaff uns traut&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und wann, &mdash; wann?&laquo; hei&szlig; fl&uuml;sterte seine Stimme
+an meinem Ohr.</p>
+
+<p>&raquo;Still mu&szlig; es um uns sein, ganz still, dann wird
+die Stunde kommen, der wir gehorchen m&uuml;ssen ...&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wir fuhren nach Augsburg zu Tante Klotilde,
+meines Vaters Schwester. Vielleicht, da&szlig;
+sie sich f&uuml;r uns gewinnen lie&szlig;, da&szlig; ihr
+Einflu&szlig; den Vater beruhigen k&ouml;nnte. Am Bahnhof
+trennten wir uns, er ging ins Hotel, mich f&uuml;hrte ihr
+Wagen durch das alte schmiedeeiserne Tor vor das
+sch&ouml;ne Haus mitten im bl&uuml;henden Garten. Mit ungewohnter
+Z&auml;rtlichkeit empfing sie mich: &raquo;Du hast mir
+etwas zu sagen, Kind? F&uuml;rchte dich nicht&nbsp;&mdash;, du wei&szlig;t,
+ich habe viel an dir gut zu machen.&laquo; Ich f&uuml;rchtete
+mich doch, &mdash; aber nicht vor ihr. Wenn sie mich verdammte,
+so wu&szlig;te ich: das Herz w&uuml;rde ihr darum nicht
+bluten. Um den Vater nur bangte mir, wenn sie die
+Verst&auml;ndigung nicht w&uuml;rde herbeif&uuml;hren wollen. Ich
+erz&auml;hlte, da&szlig; ich verlobt sei. Ich verschwieg nicht, da&szlig;
+er sich hatte scheiden lassen, &mdash; um meinetwillen. Aber
+von der ersten Ehe erz&auml;hlte ich nichts, und nichts von
+dem Kinde, das vor wenigen Monden erst geboren
+<a name="Page_137" id="Page_137"></a>worden war. Ich bekannte ehrlich, da&szlig; er, wie ich,
+Sozialdemokrat von Gesinnung sei, aber ich betonte,
+da&szlig; seine T&auml;tigkeit allein auf neutralem wissenschaftlichem
+Gebiete liege. Und als sie die Frage stellte, die,
+wie ich wu&szlig;te, f&uuml;r sie von ausschlaggebender Bedeutung
+war: &raquo;In welcher Lage ist er?&laquo; &mdash; da log ich: &raquo;In der
+besten&nbsp;&mdash;&laquo; Was ging das alles die anderen an?!
+Mein Leben war es, f&uuml;r das ich allein die Verantwortung
+trug. Nur dem Vater wollte ich es leicht
+machen, und die Mutter sollte sich nicht gr&auml;men, und
+mein blondes Schwesterchen sollte nicht weinen!</p>
+
+<p>Heinrich wurde zum Essen geladen. Seine ruhige,
+fast hochm&uuml;tige Zur&uuml;ckhaltung der &raquo;Frau Baronin&laquo;
+gegen&uuml;ber imponierte ihr. Sie schrieb noch am Abend
+einen langen Brief an den Vater. Und am n&auml;chsten
+Mittag kam seine telegraphische Antwort: &raquo;Tief ger&uuml;hrt
+&uuml;ber die Liebe, mit der du Alix in deinen Schutz nimmst,
+versage ich ihr nicht den Segen ihrer schmerzbewegten
+Eltern.&laquo;</p>
+
+<p>Heinrich reiste nach M&uuml;nchen zur&uuml;ck, &mdash; es w&auml;re ja
+nicht passend gewesen, ein Brautpaar beieinander zu
+lassen! &mdash; ich blieb noch, um in ein paar Tagen mit
+Freunden, &mdash; wie ich vorgab, &mdash; nach Tirol zu gehen.
+Inzwischen kamen die Briefe der Eltern. Von der
+Mutter zuerst. Sehr liebevoll, aber doch voller Sorge.
+&raquo;Ich danke Gott und der lieben Klotilde,&laquo; schrieb sie,
+&raquo;da&szlig; Dein Vater die gro&szlig;e unerwartete Sache so aufnahm
+und ruhig ist, trotzdem ihm alles furchtbar schwer
+wird und er noch nicht imstande ist, an Dich zu schreiben.
+Wenn nur seine Gesundheit aush&auml;lt, um die ich oft sehr
+besorgt bin, besonders bei so gro&szlig;en Ersch&uuml;tterungen&nbsp;...<a name="Page_138" id="Page_138"></a>
+Ilschen hat sich reizend benommen; ihre kindliche, z&auml;rtliche
+Art, ihrem Papa alles recht gut und sch&ouml;n darzustellen,
+ihre Bitten und Tr&auml;nen haben ihn tief ger&uuml;hrt ...
+Um Deines Vaters willen bitte ich Dich, Deine Verlobung
+wenigstens solange geheimzuhalten, bis er bei Klotilde
+in Grainau ist, die ihn so freundlich einlud und ihn am
+leichtesten wird beruhigen k&ouml;nnen. Auf diese Weise entgeht
+er am besten dem Zeitungsklatsch, an dem es wohl leider
+nicht fehlen wird ... Mir ist das Herz so &uuml;bervoll,
+da&szlig; ich keine Worte finde. Gott f&uuml;hre alles zum Besten ...&laquo;
+Und dann kam der erste Brief des Vaters, aus dem ich
+erfuhr, da&szlig; er wu&szlig;te, was ich ihm schonend verschwiegen
+hatte. &raquo;Wenn Du &auml;lter geworden sein wirst,&laquo; hie&szlig; es
+darin, &raquo;so wirst Du verstehen, da&szlig; ich nicht Dein Gl&uuml;ck
+st&ouml;ren will, sondern nur mit der Erfahrung eines Mannes,
+der am Ende seines Lebens steht, da kein Gl&uuml;ck sehe, wo
+Du seinen Gipfel glaubst erstiegen zu haben ... Dr. Brandt
+mu&szlig;te bei mir und Mama zuerst um die Erlaubnis zur
+Verbindung mit Dir nachsuchen, es mu&szlig;ten mir ganz
+klar die &auml;u&szlig;eren Verh&auml;ltnisse dargetan werden, die zur
+Scheidung f&uuml;hrten, und die Lebenslage, die Dr. Brandt
+Dir bietet. Von alledem ist nichts geschehen, und ich bin
+und bleibe der vor Gott und den Menschen f&uuml;r Dich
+verantwortliche Vater; auf mir, Mama, Ilse bleibt jeder
+&ouml;ffentliche Skandal sitzen. Sage selber, wie soll ich
+Vertrauen zu einem Manne haben, der zweimal geschieden
+ist? Ich kenne die Gr&uuml;nde nicht, kann also nur
+bei meinem theoretischen Urteile bleiben, da&szlig; es ihm
+zweimal nicht gelungen ist, seine ihm &#8250;bis der Tod uns
+trennt&#8249; angetraute Frau an sich zu fesseln. Es kommt
+hinzu, da&szlig; selbst roheste Naturen Piet&auml;t daf&uuml;r haben,
+<a name="Page_139" id="Page_139"></a>wenn dem Manne eben von seiner Frau ein Kind geschenkt
+worden ist. Diesen Augenblick zur Scheidung
+zu w&auml;hlen, ist gewi&szlig; nicht feinf&uuml;hlig. Meine Tochter
+ist mir zu schade, als da&szlig; ich ruhig zusehen k&ouml;nnte,
+wenn sie in solche Verh&auml;ltnisse verwickelt wird ...&laquo;</p>
+
+<p>Es entspann sich eine erregte Korrespondenz. Ich
+war viel zu empfindlich, besonders gegen&uuml;ber Angriffen
+auf den Geliebten, als da&szlig; ich mich wenigstens &auml;u&szlig;erlich
+h&auml;tte beherrschen k&ouml;nnen. Mein strahlendes Gl&uuml;ck
+hatte mich blind gemacht f&uuml;r die Welt, in der meine
+Eltern lebten und dachten. Ich empfand als bittere
+Kr&auml;nkungen, was von ihrem Standpunkt aus sorgende
+Liebe war. &raquo;Ich begreife nicht, da&szlig; Du scheinbar gar
+nicht ahnst, wie schwer uns Deine Heirat werden mu&szlig;,&laquo;
+schrieb Mama in Beantwortung eines meiner Briefe,
+&raquo;willst Du denn durchaus nicht die Wirklichkeit sehen?
+Mu&szlig; ich ganz deutlich werden und dir sagen, wie selbst
+Dir wohlwollende Menschen &uuml;ber Dich den Kopf sch&uuml;tteln?
+Du ahnst wohl gar nicht, was und wie man &uuml;ber Euch
+spricht! Und jetzt erw&auml;hnst Du wie etwas Selbstverst&auml;ndliches,
+da&szlig; Ihr Euch hier in Berlin wollt trauen lassen.
+Ich finde den Gedanken unglaublich. Denke doch nur
+an das Aufsehen, und was das f&uuml;r ein Licht auf uns
+alle werfen w&uuml;rde! Wir wollen der Welt gegen&uuml;ber
+betonen, da&szlig; Du mit unserem Segen heiratest&nbsp;&mdash;, hier
+w&uuml;rde nicht einmal unser Pfarrer, der so streng &uuml;ber
+Scheidungen denkt, Euch trauen wollen ... Heiratet in
+irgend einem stillen Ort S&uuml;ddeutschlands, wohin ich und
+Ilse zur Trauung kommen werden, und &uuml;berlegt vor
+allem, ob es nicht besser w&auml;re, wenn Ihr Euch dann
+fern von Berlin niederla&szlig;t? F&uuml;r alle Teile w&uuml;rde es
+<a name="Page_140" id="Page_140"></a>besser sein, solange der gemeine Klatsch &uuml;ber Euch nicht
+verstummt ist. Ich habe auch an Deinen armen Vater
+zu denken, den Du ganz zu vergessen scheinst, und dem
+jede neue Aufregung erspart werden mu&szlig; ...&laquo;</p>
+
+<p>Ich erw&auml;hnte in meiner Antwort der Schwierigkeiten,
+die eine Heirat an anderem Orte bereiten w&uuml;rde. Wir
+hatten l&auml;ngst beschlossen, uns ohne alles Aufsehen trauen
+zu lassen und gehofft, da&szlig; die Eltern angesichts der vollzogenen
+Tatsache sich um ihr Was und Wie nicht k&uuml;mmern
+w&uuml;rden. Im n&auml;chsten Brief meiner Mutter schrieb
+sie: &raquo;Du erw&auml;hnst nur der standesamtlichen Schwierigkeiten,
+also wollt Ihr wohl die Kirche umgehen, &mdash; wenn
+Du mir das noch antust, dann w&auml;re es besser,
+wir sehen uns nie wieder, denn das kann ich nicht &uuml;berwinden,
+das w&uuml;rde ich nie verzeihen, und Vater, Schwester
+und Tante auch nicht! Bedenket wohl, was Ihr damit
+tut: Ihr gebt unseren Beziehungen den Todessto&szlig; ...&laquo;</p>
+
+<p>Ich war schon wieder abgereist, als mir in Innsbruck
+berliner Zeitungen in die H&auml;nde fielen. Sie brachten
+mit mehr oder weniger h&auml;mischen Randbemerkungen die
+Mitteilung von Heinrichs Scheidung und meiner Verlobung.
+Und gleich darauf kam ein Brief des Vaters:
+&raquo;Was zu erwarten war, ist geschehen: alle Zeitungen
+besch&auml;ftigen sich mit Dir und ziehen meinen guten Namen
+in die Skandalgeschichte meiner Tochter. Sie sagen,
+da&szlig; Du Dich nun ganz der Sozialdemokratie in die
+Arme geworfen hast ... Du nahmst die Gewohnheit
+an, bei Deinen Handlungen nie an Deine Eltern, nie
+an Deine Schwester zu denken. Trotzdem bleibst Du
+unser Kind, und wir tragen an Dir mit, gleichg&uuml;ltig
+welches die B&uuml;rde ist, die Du uns auferlegst. Wenn
+<a name="Page_141" id="Page_141"></a>eine Tochter frank und frei erkl&auml;rt, sie geh&ouml;re zur Sozialdemokratie,
+so bleibt an den Eltern etwas h&auml;ngen. Ich
+bin alt und gebrechlich, meine Tage sind gez&auml;hlt, aber
+ich bin notwendig f&uuml;r Deine Mutter und Deine Schwester.
+Unehre jedoch ertrage ich nicht; wenn man mich ehrengerichtlich
+belangt, wegen Deiner Beziehungen zu einer
+staatsvernichtenden Partei, so mag man mich begraben.
+Da&szlig; die Sozialdemokratie es jetzt freudig ausbeutet,
+wenn die adlige Tochter eines allgemein bekannten
+Generals sich zu ihr bekennt, das begreife ich, es ist
+ihr Vorteil. Wer ein einziges Mal diese gemein aussehenden
+Leute im Reichstage gesehen hat und sich vergegenw&auml;rtigt,
+da&szlig; diese Rotte unheimlicher Kreaturen
+von den Pfennigen der Arbeiter sich m&auml;stet, die um so
+reichlicher flie&szlig;en, je mehr alles in den Schmutz getreten
+wird, was uns heilig ist, der mu&szlig; am Rande der Verzweiflung
+stehen, wenn er die eigene Tochter unter ihnen
+wei&szlig; ...&laquo; Ich antwortete nicht. Wie viel besser w&auml;re
+der offene Bruch gewesen, als da&szlig; ich, vom Verstande
+unkontrollierten Gef&uuml;hlen hingegeben, eine Br&uuml;cke &uuml;ber
+Un&uuml;berbr&uuml;ckbares zu schlagen versucht hatte. Ich hatte
+nicht wehe tun wollen&nbsp;&mdash;, litten die Eltern jetzt nicht
+mehr, wo sie mich von schleichender Vergiftung befallen
+glaubten, als wenn ich ihnen ganz gestorben w&auml;re?</p>
+
+<p>Am Morgen meines Geburtstages erwartete ich den
+Geliebten. Stille Wehmut d&auml;mpfte die Freude, mit der ich
+Heinrich empfing. Vor lauter Gl&uuml;ck bemerkte er meine
+Stimmung nicht. &raquo;Ich bringe dir ein sch&ouml;nes Geburtstagsgeschenk,&laquo;
+rief er, mich z&auml;rtlich umarmend.
+&raquo;Herr Charles Hall, der Deutschamerikaner, von dessen
+sozialpolitischen Interessen ich dir oft erz&auml;hlte, hat sich
+<a name="Page_142" id="Page_142"></a>bereit erkl&auml;rt, meine Zeitschrift zu unterst&uuml;tzen. Siehst
+du, nun hab' ich auch das durchgesetzt: die b&uuml;rgerliche
+Grundlage unserer gut b&uuml;rgerlichen Ehe! &mdash; D&uuml;rfen
+wir nun nicht Hochzeit feiern?!&laquo; f&uuml;gte er leiser hinzu.
+Ich sch&uuml;ttelte den Kopf und hing mich fest an seinen
+Arm: &raquo;La&szlig; mich erst wieder froh werden, mein Heinz!&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>An einem regenfeuchten Julitag kamen wir nach
+St. Jodok, einem kleinen Bergnest, das die
+Brennerbahn fauchend umkreist. &raquo;Morgen
+fruh scheint d' Sunn,&laquo; versicherte der F&uuml;hrer, mit dem
+wir &uuml;ber unsere Pl&auml;ne verhandelten, und so beschlossen
+wir, noch am Nachmittag zur Geraerh&uuml;tte zu gehen.
+Es war ein einf&ouml;rmig d&uuml;sterer Weg durch die Wiesen
+des Valser Tales mit ihren zahllosen braunen Heuschobern,
+auf die der Nebel tief hinunterhing, und dann
+die Anh&ouml;he hinan auf steinigem Pfad, von schwarzgrauen
+Bergen umgeben, deren Gipfel sich in den Wolken
+verloren. Und in der Nacht tobte der Wind um die
+Holzh&uuml;tte, und der Regen klatschte an die kleinen Fenster,
+da&szlig; ich mich fr&ouml;stelnd in die Decken h&uuml;llte und eine
+undurchdringliche Finsternis noch vor mir zu haben
+meinte, als der F&uuml;hrer morgens an die T&uuml;re pochte.
+&raquo;Sch&ouml;n wird's,&laquo; sagte er mit unersch&uuml;tterlicher Sicherheit.
+Wir traten hinaus, dicht vermummt, wie zu einer
+Winterreise. Fast w&auml;re ich schwindelnd zur&uuml;ckgewichen
+vor dem Bilde, das die flackernde Laterne unsicher beleuchtete:
+wie auf einer Insel im Wolkenmeer standen
+wir. Unten im Tal lagen die Nebel dicht geballt, nur
+hie und da streckte es sich aus ihnen hervor wie lange
+<a name="Page_143" id="Page_143"></a>schwarze Arme, die, kaum da&szlig; sie unsere H&ouml;he erreichten,
+verschwanden wie Gespenster beim Glockenschlag. Wir
+stiegen aufw&auml;rts, Schritt vor Schritt, lange Serpentinen
+bis zum Alpeiner Ferner. Frischgefallener Schnee deckte
+ihn wie ein Leichentuch, nur hie und da gl&auml;nzte das
+Eis hervor in tiefen, dunkelgr&uuml;nen Spalten, &mdash; geheimnisvoll
+lockende Gr&auml;ber. Kein Leben ringsum;
+selbst der Sturm war verstummt, unh&ouml;rbar versanken
+unsere F&uuml;&szlig;e im Schnee. Mich grauste. War es nicht
+das Reich des Todes, das wir betreten hatten?</p>
+
+<p>Da begann der Himmel &uuml;ber uns sich rosig zu f&auml;rben;
+noch einmal sah ich hinab in das Nebelmeer der Tiefe,
+dann stieg ich, so rasch meine F&uuml;&szlig;e mich tragen konnten,
+um die H&ouml;he zu erreichen, wenn die Sonne kam.</p>
+
+<p>Und sie war da. Gl&uuml;hend in junger Liebe, als k&uuml;sse
+sie die Erde zum erstenmal. In der hei&szlig;en Umarmung
+ihrer Strahlen ward die keusche Braut zum Weibe, das
+sich dem Geliebten schrankenlos hingibt. Sie warf die
+dunkeln Schleier von sich, in die sie sich eben noch scheu
+geh&uuml;llt hatte, und auch die letzten wei&szlig;en duftigen H&uuml;llen
+zerri&szlig; sie. In ihrer prangenden Sch&ouml;ne stand sie vor
+ihm, die schimmernde wei&szlig;e Stirn stolz gen Himmel
+gehoben, den schneeigen Busen rosig &uuml;berhaucht von
+dem Gru&szlig; dessen, der sie erl&ouml;ste.</p>
+
+<p>Wir standen ganz still und schauten uns an und lasen
+einander die Gedanken von den stummen Lippen. Auf
+dem Weg durch die Nacht und empor bis hierher, hatten
+wir die Vergangenheit noch einmal durchlebt, zusammengedr&auml;ngt
+in wenige Stunden. Nun aber war es vor&uuml;ber.
+Der Gipfel war unser. Und &uuml;ber das Schneefeld
+hinab, der Sonne zu, lag eingebettet in gr&uuml;ne<a name="Page_144" id="Page_144"></a>
+Matten ein kleines, helles Haus. Mit dem Bergstock,
+dessen Spitze rote Alpenrosen schm&uuml;ckten und wei&szlig;e
+Edelwei&szlig;sterne, wies ich hinab. &raquo;Dort will ich Hochzeit
+halten,&laquo; fl&uuml;stere ich. Da hob mich der Liebste jubelnd
+hoch empor, und miteinander sausten wir &uuml;ber den Schnee
+in die Tiefe.</p>
+
+<p>&raquo;Arg verliabt san's,&laquo; brummte der F&uuml;hrer gutm&uuml;tig,
+als wir aufatmend unten standen.</p>
+
+<p>Zitherspiel und Gesang empfing uns in der Dominikush&uuml;tte.
+Ein paar junge M&auml;nner, Studenten mit
+blondem Kraushaar und blitzenden Augen, sa&szlig;en um
+den Tisch, und ihre Stimmen f&uuml;llten den Raum mit
+lauter Frohsinn. Seil, Steigeisen und Eispickel lagen
+neben ihnen; die verstaubten Stiefel und die braunen
+Gesichter bewiesen: sie waren echte H&ouml;heneroberer. Solche
+S&ouml;hne will ich haben&nbsp;&mdash;, zog es mir durch den Sinn,
+als spr&auml;che es aus unbekannter Tiefe meines Wesens.</p>
+
+<p>Feierlich, mit Millionen goldenen Sternen am Himmel,
+senkte sich die Nacht in das Tal. Von Wiesen und
+W&auml;ldern ein starker Duft f&uuml;llte unsre braune Kammer.
+Und leise Winde, die von den Gipfeln kamen und noch
+keinen Staub getragen hatten, fl&uuml;sterten in den Fichten
+vor dem Fenster. Da bin ich sein Weib geworden ...</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_145" id="Page_145"></a></p>
+<h2><a name="Funftes_Kapitel" id="Funftes_Kapitel"></a>F&uuml;nftes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Warme Augustsonne flutete durch alle Zimmer
+und br&uuml;tete unten in gewitterschwangerer
+Hitze auf den jungen Anlagen des L&uuml;tzowplatzes.
+Unruhig wanderte ich von einem Raum in den
+anderen, r&uuml;ckte auf dem m&auml;chtigen Doppelschreibtisch,
+den wir uns zu gemeinsamer Arbeit hatten machen
+lassen, die Bilder der beiden Buben, die nun meine
+Stiefs&ouml;hne waren, noch ein wenig in den Vordergrund,
+ging in ihr Zimmer mit dem blumengeschm&uuml;ckten Balkon,
+von dem aus der Blick geradeaus weit &uuml;ber die dichtbelaubten
+B&auml;ume am Kanal schweifen konnte und
+rechts die Stra&szlig;e hinauf bis in die gr&uuml;ne Tiefe des
+Tiergartens, strich mechanisch die Bettdecken glatt und
+steckte den Kanarienv&ouml;geln, mit denen ich die Kinder
+&uuml;berraschen wollte, ein paar Kuchenkr&uuml;mel zu, die ich
+nebenan vom reichbesetzten Vespertisch geholt hatte.
+Immer wieder zog ich die Uhr: gleich mu&szlig;ten sie kommen,
+schon eine Stunde fast war Heinrich fort, um sie am
+Anhalter Bahnhof in Empfang zu nehmen. Ich lief
+durch unser Schlafzimmer mit seinen hellen M&ouml;beln
+und meergr&uuml;nen Vorh&auml;ngen auf die breite Loggia hinaus:
+von hier w&uuml;rde ich sie zuerst entdecken, wenn sie
+vom L&uuml;tzowufer auf den Platz einbiegen w&uuml;rden. Ich
+<a name="Page_146" id="Page_146"></a>musterte erwartungsvoll alle Menschen. Von der luftigen
+H&ouml;he meines vierten Stockes glichen sie aufgezogenen
+Puppen, wie sie die H&auml;ndler um Weihnachten
+auf dem Asphalt laufen lassen. Und der Herkules auf
+der Kanalbr&uuml;cke sah wie ein Knabe aus, der mit seinem
+Pudel spielt.</p>
+
+<p>Wehte dort nicht jemand gr&uuml;&szlig;end mit einem wei&szlig;en
+Tuch? Richtig: es war der kleine, schwarze Hans, der
+dem Vater und dem Bruder voranlief. Ich hatte doch
+rechtes Herzklopfen. &raquo;Du wirst sie lieb haben, meine
+Kinder,&laquo; hatte Heinrich gesagt, ehe er ging. Und mein
+&raquo;Ja&laquo; war aus vollem Herzen gekommen. Nun aber
+war mir bang. Sie waren bei ihrer Mutter gewesen&nbsp;&mdash;,
+w&uuml;rden sie der jungen Frau ihres Vaters nun nicht
+wie einer Feindin begegnen? W&uuml;rde all meine Liebe,
+die ich ihnen entgegenbrachte, weil sie Heinrichs S&ouml;hne
+waren, ihr Mi&szlig;trauen besiegen k&ouml;nnen?</p>
+
+<p>Sie st&uuml;rmten die Treppe hinauf. &raquo;Fein, da&szlig; du jetzt
+die Mama bist!&laquo; rief W&ouml;lfchen. Hans sah mich nur
+gro&szlig; an und kramte in seinem Rucksack nach einem halbverwelkten
+Alpenrosenstr&auml;u&szlig;chen, das er mir mitgebracht
+hatte. &raquo;Ihr m&uuml;&szlig;t recht brav sein, damit Ihr so eine
+gute Mama verdient,&laquo; sagte Heinrich. Ich warf ihm
+einen flehenden Blick zu. Er sollte mich nicht loben, &mdash; jetzt,
+da sie von der eigenen Mutter kamen. Aber ich
+hatte ihnen wohl tiefere Empfindungen angedichtet, als
+sie besa&szlig;en. Sie waren vergn&uuml;gt, selbst Hans wurde
+gespr&auml;chig; und als ich sie zu Bett brachte, waren sie
+ganz von selbst z&auml;rtlich zu mir geworden.</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke dir, Alix,&laquo; sagte Heinrich mit warmer
+Betonung. &raquo;Noch hast du zum Dank keine Ur<a name="Page_147" id="Page_147"></a>sache,&laquo;
+antwortete ich. Mir war seltsam beklommen
+zumute.</p>
+
+<p>Als wir schlafen gingen, &ouml;ffnete ich gedankenlos die
+T&uuml;r zum Zimmer der Kinder, &mdash; es hatte mir in den
+acht Tagen seit unserem Einzug als Ankleideraum gedient&nbsp;&mdash;,
+erschrocken fuhr ich zur&uuml;ck: &raquo;Bist du's, Mutter?&laquo;
+rief eine schlaftrunkene Stimme. Ganz leise zog ich die
+T&uuml;re wieder ins Schlo&szlig;; auf Zehenspitzen schlich ich ins
+Bett. &raquo;Liebste &mdash; Einzigste!&laquo; fl&uuml;sterte Heinrich und zog
+mich in seine Arme. Noch waren wir in den Flitterwochen
+unserer jungen Ehe, und uns war, als ob jeder
+Tag und jede Nacht uns einander aufs neue schenkte.
+Heute aber wehrte ich dem Geliebten mit einem &auml;ngstlichen
+Blick auf die T&uuml;r, &mdash; kaum da&szlig; ich seinen Ku&szlig;
+zu erwidern wagte. Wir waren nicht mehr allein. Zehnj&auml;hrige
+Knaben sind hellh&ouml;rig.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen ging ich mit ihnen in die Stadt.
+Ich hatte mich &uuml;berzeugt, da&szlig; sie ganz neu eingekleidet
+werden mu&szlig;ten, auch die Schulb&uuml;cher galt es anzuschaffen.
+In recht gedr&uuml;ckter Stimmung kam ich nach
+Hause; die Eink&auml;ufe hatten ein gro&szlig;es Loch in mein
+Portemonnaie gerissen. Siebenzig Mark, &mdash; das war
+der ganze Rest meiner Erbschaft; auf unsere Reisen,
+auf die Wohnungseinrichtung war sie draufgegangen;
+Heinrich hatte schlie&szlig;lich auch noch den ganzen Haushalt
+der geschiedenen Frau mitgegeben, und es war
+nun n&ouml;tig geworden, alles Fehlende zu ersetzen. Gewi&szlig;:
+ich h&auml;tte weniger ausgeben k&ouml;nnen&nbsp;&mdash;; ich hatte
+an nichts anderes gedacht, als unserer Liebe ein Heim
+zu schaffen, das ihrer w&uuml;rdig war. Gl&uuml;ckselig hatten
+wir in den Tag hineingelebt; nun erst schien das All<a name="Page_148" id="Page_148"></a>tagsleben
+anzufangen, ganz n&uuml;chtern, ganz prosaisch,
+mit seinen t&auml;glichen kleinen Forderungen und seinen
+pers&ouml;nlichen Sorgen, in deren Schw&uuml;le der Altruismus
+so leicht verdorrt und der Egoismus &uuml;ppig emporwuchert.
+Mir sank der Mut: wie w&uuml;rde Heinrich, der,
+wie es schien, an die Unersch&ouml;pflichkeit meiner Kasse
+ebenso fest geglaubt hatte wie ich, die unerwartete
+Nachricht aufnehmen? Ich war bei Tisch, &mdash; dem ersten
+Mittag zu Hause, wir hatten bis dahin wie lustige
+Studenten stets irgendwo drau&szlig;en gegessen, &mdash; nicht gerade
+redselig. Gut, da&szlig; die Buben so viel zu erz&auml;hlen
+wu&szlig;ten!</p>
+
+<p>Als wir uns am Schreibtisch allein gegen&uuml;bersa&szlig;en,
+Korrekturen und Manuskripte vor uns, bekannte ich
+Heinrich meine Entdeckung. Er sah mich ganz entgeistert
+an. &raquo;Aber das ist doch nicht m&ouml;glich!&laquo; sagte
+er schlie&szlig;lich und strich sich mit der Hand &uuml;ber die
+hei&szlig;e Stirn. &raquo;Du hast dich bestehlen und betr&uuml;gen
+lassen&nbsp;&mdash;&laquo;, fuhr er dann los mit einem Ausdruck und
+einer Stimme, die ihn mir vollkommen fremd erscheinen
+lie&szlig;en. Entsetzt starrte ich ihn an: so hatte mein Vater
+ausgesehen, wenn ich vor dem Ausbruch seines Zorns
+ver&auml;ngstigt aus dem Zimmer entfloh. Mir st&uuml;rzten die
+Tr&auml;nen aus den Augen. &raquo;Und nun weinst du auch
+noch, &mdash; als ob damit geholfen w&auml;re&nbsp;&mdash;&laquo; rief Heinrich
+aufgeregt. Ich dr&uuml;ckte mein Taschentuch vor die Augen,
+stand auf und riegelte ger&auml;uschvoll die Schlafzimmert&uuml;r
+hinter mir zu. Ich h&ouml;rte, wie er die Entreet&uuml;r krachend
+ins Schlo&szlig; warf. Es war die erste, ernste Differenz
+in unserer Ehe. Aber schon als ich ihn mit langen
+Schritten unten &uuml;ber den L&uuml;tzowplatz gehen sah, war
+<a name="Page_149" id="Page_149"></a>mein Kummer verflogen. Ich h&auml;tte ihn, ohne R&uuml;cksicht
+auf die Verwunderung der Menschen, zur&uuml;ckgerufen,
+wenn meine Stimme ihn erreicht haben w&uuml;rde. Nun
+stand ich weit hinausgelehnt auf der Loggia und winkte
+mit dem Tuch, das noch feucht von meinen Tr&auml;nen war.
+Mitten auf dem Platz stand eine alte Frau mit einem
+Korb voll Rosen. Seine Schritte verlangsamten sich,
+als er in ihre N&auml;he kam. Z&ouml;gernd ging er an ihr
+vor&uuml;ber. Dann aber drehte er um, ganz rasch, als
+habe er etwas sehr Wichtiges vergessen; ich sah, wie er
+der alten Frau alle Rosen aus dem Korbe nahm, und
+den Weg hastig zur&uuml;ckging, den er gekommen war. In
+diesem Augenblick hob er den Kopf und sah mich. Er
+winkte mit der Hand voll Blumen. Ich lief die Treppe
+hinab, ihm entgegen. Wir sanken einander in die Arme.
+&raquo;Verzeih mir, Geliebte, verzeih!&laquo; fl&uuml;sterte er. &raquo;Was
+sollte ich dir zu verzeihen haben ...!&laquo;</p>
+
+<p>Noch am Abend fuhr er nach Frankfurt, um Hall
+um einen Vorschu&szlig; zu bitten; vierundzwanzig Stunden
+sp&auml;ter depeschierte er: &raquo;Anstandslos bewilligt. Sei
+ohne Sorgen.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>&raquo;Nun m&uuml;ssen wir doch wohl ein paar Besuche
+machen,&laquo; meinte Heinrich seufzend, ein paar
+Tage sp&auml;ter, &raquo;bei meinem Bruder, bei August,
+bei dem Alten&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Wir gingen zuerst zum &raquo;Vorw&auml;rts&laquo; in die Beuthstra&szlig;e,
+in dessen Redaktion mein Schwager t&auml;tig war,
+Dunkle, schmierige Steintreppen f&uuml;hrten hinauf. Nur
+sp&auml;rlich drang das Tageslicht in die Redaktionsr&auml;ume,
+<a name="Page_150" id="Page_150"></a>vor deren Fenstern ein gro&szlig;es Fabrikgeb&auml;ude mit dem
+Rattern seiner Maschinen und den grauen Gestalten,
+die sich eilig hin- und herbewegten, als st&auml;ndiges Menetekel
+f&uuml;r die Vertreter der Arbeiterschaft dr&uuml;ben aufgerichtet
+schien. Zwischen Haufen von B&uuml;chern und
+Zeitungen sa&szlig; mein Schwager, bla&szlig; und abgespannt.</p>
+
+<p>Er war immer &uuml;berarbeitet, denn zu seiner redaktionellen
+T&auml;tigkeit lastete er sich stets noch tausend andere
+Dinge auf.</p>
+
+<p>&raquo;Du interessierst dich ja f&uuml;r die Konfektionsarbeiter,&laquo;
+wandte er sich an mich, &raquo;Reinhard und ich bereiten
+eine Enquete vor. Man mu&szlig; die &Ouml;ffentlichkeit immer
+wieder mit der Nase auf die Dinge sto&szlig;en. Berlepsch
+ist abges&auml;gt, die Konfektion&auml;re haben ihr Wort gebrochen,
+ohne da&szlig; ein Hahn darnach kr&auml;hte, jetzt gilt's
+wieder Spektakel machen, sonst ist's ganz und gar aus
+mit der Sozialreform.&laquo; Ich sicherte ihm freudig meine
+Hilfe zu. Und mit jener nerv&ouml;sen Unruhe, die stets
+das Zeichen geistiger &Uuml;berreiztheit ist, schnitt er in
+der n&auml;chsten halben Stunde ein Dutzend anderer Gespr&auml;chsthemen
+an, um schlie&szlig;lich von seinem Bruder bei
+der Frage des Vorw&auml;rtskonflikts festgehalten zu werden,
+der gerade die Gem&uuml;ter in der Partei erhitzte und die
+Gegner sehr besch&auml;ftigte, die &uuml;berall hoffnungsvoll Unfrieden
+witterten.</p>
+
+<p>&raquo;Ihr habt unrecht von Anfang bis zu Ende,&laquo; erkl&auml;rte
+Heinrich kategorisch. &raquo;Zuerst in der Ironisierung
+der Quarckschen Vorschl&auml;ge und dann in der unw&uuml;rdigen
+Behandlung des alten Liebknecht.&laquo; &raquo;Was verstehst
+du davon?&laquo; brummte Adolf.</p>
+
+<p>&raquo;Erlaube: von Sozialpolitik verstehe ich ebenso viel
+<a name="Page_151" id="Page_151"></a>wie du. Und Quarcks Vorschl&auml;ge liefen darauf hinaus,
+den Gewerkschaften eine intensivere Besch&auml;ftigung
+mit sozialpolitischen Fragen ans Herz zu legen. Darin
+hat er recht. Sie sind wichtiger, als leichtsinnig begonnene
+Streiks.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Regierung w&uuml;rde auf unsere sch&ouml;nsten sozialpolitischen
+Kongresse pfeifen, und die Folge w&auml;re nur
+eine Verwischung des Klassencharakters der Bewegung&laquo; &mdash; Adolf
+redete sich in steigende Erregung hinein; jede
+Unterhaltung schien sich in der Familie Brandt zum
+Streit auszuwachsen; &mdash; &raquo;selbst einen verlorenen Streik,
+der sie trotz alledem st&auml;rkt, weil er die Erbitterung
+steigert, ziehe ich einem Lieb&auml;ugeln mit b&uuml;rgerlicher Sozialreformerei
+vor. Und was den Alten betrifft&nbsp;&mdash;, ich
+m&ouml;chte sehen, was du t&auml;test, wenn du mit ihm in der
+Redaktion s&auml;&szlig;est!&laquo; &mdash; &raquo;Mich zanken &mdash; h&ouml;chst wahrscheinlich!
+Aber nicht vor der &Ouml;ffentlichkeit!&laquo; Ich hielt
+den Augenblick f&uuml;r kritisch und stand auf. &raquo;&Uuml;brigens
+habe ich noch was f&uuml;r dich, Schw&auml;gerin,&laquo; sagte Adolf
+und begann seine s&auml;mtlichen mit Papieren vollgestopften
+Taschen vor uns auszuleeren. Endlich fand sich der
+Zeitungsausschnitt, den er suchte.</p>
+
+<p>Ich las: &raquo;Zur Palastrevolution im Vorw&auml;rts &mdash; <em class="antiqua">cherchez
+la femme</em>! Wir erhalten von authentischer
+Seite folgende interessante Aufkl&auml;rung &uuml;ber die tieferen
+Beweggr&uuml;nde der Emp&ouml;rung der Vorw&auml;rtsredaktion gegen
+ihren Chef, Wilhelm Liebknecht. Frau von Glyzcinski,
+alias Fr&auml;ulein Alix von Kleve, heiratete k&uuml;rzlich <em class="antiqua">Dr.</em> Brandt,
+einen der Vorw&auml;rtsredakteure. Ihr brennender Ehrgeiz,
+der das Ziel verfolgt, das Zentralorgan der Partei in
+die Hand zu bekommen, ist es, der die Intrige an<a name="Page_152" id="Page_152"></a>zettelte.
+Eine Dynastie Brandt d&uuml;rfte die Dynastie
+Liebknecht nunmehr abl&ouml;sen.&laquo; &raquo;Verlogenes Pack!&laquo; knirschte
+Heinrich. Adolf lachte. &raquo;Beruhige dich,&laquo; sagte er zu
+ihm, &raquo;wir bringen heute schon eine Berichtigung&nbsp;&mdash;&laquo;
+&raquo;Und wir gehen sofort zu Liebknechts, um der Geschichte
+die Spitze abzubrechen.&laquo;</p>
+
+<p>Adolf hielt uns noch einmal zur&uuml;ck: &raquo;Ich rate euch
+dringend, den Besuch zu unterlassen. Der Alte k&uuml;mmert
+sich freilich um keinerlei Geklatsch, aber Frau Natalie
+erz&auml;hlt in allen Parteikaffeekr&auml;nzchen R&auml;ubergeschichten
+&uuml;ber euch, die sie von deiner geschiedenen Frau geh&ouml;rt
+haben will. Sie ist euch noch feindseliger gesinnt als
+Leo.&laquo; &raquo;Leo?!&laquo; wiederholte Heinrich &uuml;berrascht. So
+hie&szlig; jener Freund, auf dessen enthusiastische Schilderung
+hin er die Bekanntschaft Rosaliens gesucht hatte.
+&raquo;Das wei&szlig;t du nicht?!&laquo; staunte Adolf. &raquo;Jedem, der
+es h&ouml;ren oder nicht h&ouml;ren will, z&auml;hlt er haarklein deine
+S&uuml;nden auf: da&szlig; du Rosalie gezwungen habest, nach
+England zu gehen, um hier &mdash; na, sagen wir: ungest&ouml;rt
+zu sein, da&szlig; du sie selbst im Wochenbett nicht
+geschont, sondern ihr die Einwilligung zur Scheidung
+durch unaufh&ouml;rliche Qu&auml;lerei erpre&szlig;t h&auml;ttest und sie,
+kaum da&szlig; sie aufstehen konnte, mit dem S&auml;ugling aus
+dem Hause getrieben hast.&laquo; Heinrich war au&szlig;er sich.
+Einer seiner besten Freunde war Leo gewesen, und er
+verurteilte ihn, ohne ihn geh&ouml;rt zu haben!</p>
+
+<p>Wir gingen schweigsam nach Hause. Auf dem L&uuml;tzowplatz
+sah ich Frau Vanselow uns entgegenkommen. Sie
+bemerkte uns, stutzte und bog hastig in einen Nebenweg
+ein. Heinrich sah mich forschend an und zog, wie
+zum Schutz, meinen Arm durch den seinen. &raquo;Mach dir
+<a name="Page_153" id="Page_153"></a>nichts draus, Schatz. Es ist alles Gesindel! Du stehst
+zu hoch, als da&szlig; es dich verletzen k&ouml;nnte.&laquo; &mdash; &raquo;Und
+dich?!&laquo; fragte ich und zwang mich zum L&auml;cheln. Er bi&szlig;
+sich die Lippen und schwieg.</p>
+
+<p>Fast immer, wenn ich ausging, hatte ich &auml;hnliche
+Begegnungen: Kein Zweifel, meine alten Gef&auml;hrtinnen
+aus der b&uuml;rgerlichen Frauenbewegung wollten mich nicht
+mehr kennen. Frau Schwabach ging mit hoch erhobenem
+Kopf vor&uuml;ber, wenn sie mich sah, und ich erfuhr aus
+den Zeitungen von den Vorbereitungen zum internationalen
+Frauenkongre&szlig;, den einzuberufen ich im Fr&uuml;hjahr
+noch mit beschlossen hatte. Man lud mich zu keiner
+Sitzung mehr ein, es fehlte nur noch, da&szlig; man mir
+das Referat &uuml;ber die Arbeiterinnenfrage fort genommen
+h&auml;tte, das mir seit Monaten &uuml;bertragen worden war.
+Ich schrieb an Frau Morgenstern, um sie daran zu erinnern.
+Sie antwortete in sichtlicher Verlegenheit: &raquo;Wir
+glaubten nicht, da&szlig; Sie noch Wert darauf legten, geschieht
+es dennoch, so k&ouml;nnen wir Sie nat&uuml;rlich nicht
+hindern.&laquo;</p>
+
+<p>Nach all diesen Erfahrungen sah ich dem Besuch bei
+Bebels nicht ohne Herzklopfen entgegen, obwohl wir zu
+unserer Hochzeit ein Gl&uuml;ckwunschschreiben erhalten hatten.
+Vielleicht war das nichts als eine H&ouml;flichkeit gewesen;
+ich fing an, mi&szlig;trauisch zu werden, und etwas wie
+Verbitterung bem&auml;chtigte sich meiner. Um so freudiger
+war ich &uuml;berrascht, als die gute Frau Julie uns herzlich
+willkommen hie&szlig;. Vor R&uuml;hrung und Dankbarkeit
+w&auml;re ich ihr fast um den Hals gefallen. Und wenn ich
+in Bebel bisher den Vork&auml;mpfer des Sozialismus bewundert
+hatte, &mdash; von dem Augenblick an, wo er mir
+<a name="Page_154" id="Page_154"></a>mit einem freundlichen: &raquo;Nun sind Sie ganz die unsere&laquo;
+kr&auml;ftig die Hand sch&uuml;ttelte, verehrte ich ihn um seiner
+Menschlichkeit willen.</p>
+
+<p>Ich beklagte mich &uuml;ber die Behandlung durch die
+vielen anderen, &mdash; selbst durch Parteigenossen. &raquo;Sie
+wundern sich noch, da&szlig; Ihre Geschichte so viel Staub
+aufgewirbelt hat?!&laquo; sagte Bebel. &raquo;Da kennen Sie unsere
+m&auml;nnlichen und weiblichen Philister schlecht! In der
+Theorie l&auml;&szlig;t man sich allerlei bieten, aber in der Praxis &mdash; nein,
+das geht doch nicht! Wo bliebe da die Moral!!
+Meine Frau und ich haben schon schwer f&uuml;r Sie
+k&auml;mpfen m&uuml;ssen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So la&szlig; doch, August, &mdash; das erz&auml;hlt man doch nicht!&laquo;
+wehrte Frau Julie err&ouml;tend ab, w&auml;hrend ich ihr dankbar
+die m&uuml;tterlich-weiche Hand dr&uuml;ckte.</p>
+
+<p>&raquo;Warum denn nicht?&laquo; meinte er. &raquo;Es ist besser,
+Brandts sind orientiert, als da&szlig; sie t&auml;glich aufs neue
+unangenehm &uuml;berrascht werden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich h&ouml;rte, da&szlig; Leo sich sehr feindselig benimmt?&laquo;
+fragte Heinrich.</p>
+
+<p>&raquo;Und ob! Aber auch mit Singer habe ich mich schon
+herumgestritten, so da&szlig; er mich schlie&szlig;lich fragte, ob ich
+ihn f&uuml;r einen Philister hielte, was ich bejahte. Da&szlig;
+Frau Liebknecht gegen Sie beide Partei ergreift, war
+bei ihren Anschauungen gar nicht anders zu erwarten.
+Bei den Frauen m&uuml;ssen Sie sowieso darauf gefa&szlig;t sein,
+da&szlig; sie von einem wahren <em class="antiqua">horror</em> ergriffen sind. Im
+Mittelalter h&auml;tten sie Sie als Hexe verbrannt, heute
+werden Sie von hundert M&auml;ulern begeifert und auf
+hundert Federn gespie&szlig;t.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und da l&auml;&szlig;t sich gar nichts machen?&laquo; Meinem<a name="Page_155" id="Page_155"></a>
+Mann schwollen die Adern an den Schl&auml;fen. &raquo;Warten
+Sie's ab, da&szlig; ist der einzige Rat, den ich geben kann.
+In vier Wochen st&uuml;rzen sich die Raubtiere auf irgendeinen
+anderen armen Piepmatz, der so vermessen ist,
+fliegen zu wollen.&laquo;</p>
+
+<p>Frau Julie fragte nach meinen Eltern. Ich erz&auml;hlte
+freim&uuml;tig, was wir durchgemacht hatten. &raquo;Arme, junge
+Frau &mdash; arme junge Frau,&laquo; wiederholte sie immer wieder
+und streichelte mir die Wange.</p>
+
+<p>&raquo;Mach unsere Genossin nicht noch weicher, als sie
+ist,&laquo; sagte er &mdash; &raquo;Sie m&uuml;&szlig;ten statt dessen in Drachenblut
+baden! Aber eins wird Sie tr&ouml;sten: die Arbeit in
+der Partei. Damit werden Sie schlie&szlig;lich auch die
+b&ouml;sesten Zungen zum Schweigen bringen.&laquo;</p>
+
+<p>Wir schieden wie Freunde. Ich f&uuml;hlte mich neu gekr&auml;ftigt
+und voll Hoffnung. Als wir ein paar Tage
+sp&auml;ter zu Bebels geladen wurden, sah ich diesem Ereignis
+mit erwartungsvoller Freude entgegen. Eine Gesellschaft
+freier Geister, die die h&ouml;chsten Ideale der
+Menschheit vertreten &mdash; meine Sehnsucht, seit ich denken
+konnte&nbsp;&mdash;, w&uuml;rde sich bei ihnen zusammenfinden: unsere
+Gef&auml;hrten auf dem Weg in die Zukunft.</p>
+
+<p>Lautes Stimmengewirr schlug uns entgegen, als wir
+an jenem Abend &uuml;ber die gastliche Schwelle traten. Es
+verstummte j&auml;hlings, sobald die T&uuml;re vor uns aufging.
+Sie haben eben von uns gesprochen, dachte ich unwillk&uuml;rlich.
+Ich wurde vorgestellt und aufs Sofa gezogen.
+Auf dem Tisch davor stand eine blendende Petroleumlampe.
+Neben mir sa&szlig; eine gro&szlig;e, dicke Dame, die sich
+nicht anlehnen konnte, weil sie zu eng geschn&uuml;rt war.
+Sie war selbstbewu&szlig;t wie anerkannte Sch&ouml;nheiten,
+<a name="Page_156" id="Page_156"></a>warf ihre braunen Augen siegessicher umher und behandelte
+mich sehr gn&auml;dig. Ein Herr mit einem
+schwarzen Vollbart, der wie gut gewichste Stiefel gl&auml;nzte,
+r&uuml;ckte ihr mit seinem Stuhl immer n&auml;her und schlug
+sich bei jedem Witz, den er erz&auml;hlte, schallend auf
+die Schenkel. Er versuchte, auch mich ins Gespr&auml;ch
+zu ziehen. &raquo;Sie sind ja, Gott Lob, auch eine vorurteilslose
+Frau,&laquo; sagte er und zwinkerte vertraulich
+mit den Augen. Ich wandte mich ostentativ zur anderen
+Seite den Damen zu, die Frau Bebel an den Tisch
+f&uuml;hrte. Aber die Unterhaltung blieb an den oberfl&auml;chlichsten
+Phrasen kleben. Dazwischen h&ouml;rte ich mit halbem
+Ohr das Gespr&auml;ch der beiden neben mir. Seine Witze
+wurden immer eindeutiger, in irgend einer Friedrichsstra&szlig;en-Bar
+mochte er sie nicht anders erz&auml;hlen. Endlich
+ging's zu Tisch; ich hatte den Ehrenplatz neben
+Bebel. Man sprach &uuml;ber die lieben Mitmenschen genau
+wie bei den &raquo;sauren M&ouml;psen&laquo; schrecklichen Angedenkens,
+die ich in den verschiedenen Garnisonen meines Vaters
+hatte mitmachen m&uuml;ssen, und an Stelle von Regiments- und
+Man&ouml;vergeschichten &uuml;ber interne Parteiaff&auml;ren.
+Da ich nichts von ihnen verstand, konnte ich
+die Gesellschaft um so mehr beobachten; die Damen
+waren sehr erhitzt, und wenn der Nachbar eine Bemerkung
+machte, kicherten sie unaufh&ouml;rlich. Die Hausfrau
+ging von einem zum anderen, um zum Essen zu n&ouml;tigen.
+Ich fing an, mich zu am&uuml;sieren, &mdash; nicht mit den
+G&auml;sten, sondern &uuml;ber sie, &mdash; und sch&auml;mte mich doch
+wieder, da&szlig; meine Beobachtung so kleinlich an lauter
+&Auml;u&szlig;erlichkeiten kleben blieb. Ich wu&szlig;te doch von vorn
+herein: hier waren keine Montmorencys. Aber so etwas
+<a name="Page_157" id="Page_157"></a>wie eine Gesellschaft bei Madame Roland vor 89 hatte
+ich mir doch wohl vorgestellt.</p>
+
+<p>Zwischen Fisch und Braten benutzte ich die Gelegenheit,
+um meines Nachbarn Ansicht &uuml;ber den bevorstehenden
+Frauenkongre&szlig; einzuholen. Eine Notiz in
+Wanda Orbins Zeitschrift hatte mir zu denken gegeben.
+&raquo;Die Genossinnen haben beschlossen, die Einladung zum
+Kongre&szlig; abzulehnen,&laquo; hie&szlig; es darin.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann Ihnen nur raten, sie ruhig anzunehmen,
+ohne R&uuml;cksicht darauf, wie Frau Wanda sich stellt,&laquo;
+sagte Bebel und warf mit einer lebhaften Bewegung die
+widerspenstigen Haare aus der Stirn. &raquo;Ich befinde mich
+mit ihr stets in kleinen Konflikten wegen der ungeschickten
+Taktik und der oft recht geh&auml;ssigen Art, mit der
+sie die b&uuml;rgerliche Frauenbewegung bek&auml;mpft. Sie
+k&auml;me mit einer sachlichen, ruhigen Darstellung viel
+weiter. Haben Sie zum Beispiel gelesen, was sie &uuml;ber
+die Resolutionen schrieb, die hier in vier gro&szlig;en Versammlungen
+zwischen der zweiten und dritten Lesung
+des B&uuml;rgerlichen Gesetzbuchs zur Annahme gelangten?&laquo;</p>
+
+<p>Ich nickte: &raquo;Mich hat &uuml;berhaupt gewundert, da&szlig; von
+seiten der sozialdemokratischen Frauen so wenig geschah.
+Das B&uuml;rgerliche Gesetzbuch h&auml;tte zu einer gro&szlig;en Protestbewegung
+Anla&szlig; genug gegeben!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sicherlich!&laquo; bekr&auml;ftigte er, &raquo;und statt den gegebenen
+Anla&szlig; zu benutzen, lehnte Frau Wanda den Anschlu&szlig; an
+den Protest der b&uuml;rgerlichen Damen ab&nbsp;&mdash;, nicht etwa
+wegen dem, was darin steht, sondern wegen dem, was
+nicht darin steht! Mich am&uuml;siert der Vorgang besonders
+deshalb, weil ich selbst den Resolutionen, die Frau
+Vanselow mir schickte, ihre letzte Form gegeben habe.&laquo;</p>
+<p><a name="Page_158" id="Page_158"></a></p>
+<p>&raquo;Sie scheinen mir mehr von der b&uuml;rgerlichen Frauenbewegung
+zu halten, als ich, die ich aus ihr hervorging,&laquo;
+meinte ich l&auml;chelnd.</p>
+
+<p>&raquo;Die Distanz ver&auml;ndert immer das Urteil,&laquo; antwortete
+er. &raquo;Ich mache mir aber keinerlei Illusionen,
+finde nur, da&szlig; es taktisch richtiger gewesen w&auml;re, die
+Emp&ouml;rung der b&uuml;rgerlichen Damen &uuml;ber die Haltung
+des Reichstags f&uuml;r uns auszunutzen, als sie so plump,
+wie Frau Wanda es tat, vor den Kopf zu sto&szlig;en. Die
+Frauen haben tats&auml;chliche Fortschritte gemacht und sind
+mit ihren m&auml;nnlichen Parteigenossen, den Liberalen, nicht
+in einen Topf zu werfen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich erinnerte ihn an das erwachende Interesse, das
+sie seit dem Konfektionsarbeiterstreik f&uuml;r die Arbeiterinnenfrage
+an den Tag legten. &raquo;Auch auf dem Kongre&szlig;
+wird sie im Verh&auml;ltnis zu fr&uuml;heren Zeiten einen
+breiten Raum einnehmen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ein Verdienst Glyzcinskis und Ihrer Zeitschrift&nbsp;&mdash;, das
+werden Sie sich hoffentlich nicht verhehlen,&laquo; warf er
+ein. &raquo;Im &uuml;brigen ist das nat&uuml;rlich die schw&auml;chste Seite
+der Damen und wird es bleiben. Sie k&ouml;nnen ihnen
+ja dar&uuml;ber t&uuml;chtig die Leviten lesen. Mit Ausnahme
+der christlich-sozialen Frauen j&uuml;ngerer Richtung verstehen
+sie nicht einen Deut von ihr.&laquo;</p>
+
+<p>Christlich-sozial, &mdash; das war das Stichwort zur
+Verallgemeinerung des Gespr&auml;chs. G&ouml;hre hatte eben
+sein Pfarramt niedergelegt, Naumann plante eine
+Tageszeitung; die offene Trennung der Gruppe, die
+sich um ihn gebildet hatte, von der St&ouml;ckerpartei, war
+eine schon fast vollendete Tatsache. Man stritt mit
+steigender Lebhaftigkeit &uuml;ber ihre Ansichten, &uuml;ber die<a name="Page_159" id="Page_159"></a>
+Bedeutung, die sie f&uuml;r die Sozialdemokratie haben
+k&ouml;nne.</p>
+
+<p>&raquo;Nichts als ein Unterschlupf f&uuml;r die M&ouml;chtegern- und
+Kanndochnicht-Politiker; Offiziere ohne Armee, die mit
+den Jahren nach rechts abschwenken,&laquo; sagte der mit dem
+schwarzen Bart und zog ihn schmeichelnd durch kranke,
+blutleere Finger &raquo;Es wird unsere Sache sein, ihnen
+die Entwicklung zu uns zu erm&ouml;glichen,&laquo; h&ouml;rte ich Heinrichs
+Stimme. &raquo;Sie sind immer ein Ideologe gewesen,
+lieber Brandt,&laquo; antwortete ihm eine andere, &raquo;sollten
+wir uns um eine Handvoll Intellektueller die Beine
+ablaufen, wo Millionen Arbeiter noch nicht die unseren
+sind?!&laquo; &raquo;Gerade um die Millionen zu gewinnen,
+brauchen wir eine solche Handvoll&nbsp;&mdash;,&laquo; entgegnete
+Heinrich.</p>
+
+<p>&raquo;Daf&uuml;r lassen Sie nur ruhig die Verh&auml;ltnisse sorgen,&laquo;
+sagte Bebel lebhaft, &raquo;sie werden uns schneller, als ihr
+alle glaubt, die Massen zutreiben. Noch ein paar Jahre
+Flottenrummel, einige Reden von S.&nbsp;M..&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und wir werden gl&uuml;cklich ein Dutzend Mandate
+mehr haben&nbsp;&mdash;, oder meinst du wirklich, wir spr&auml;ngen
+dann schon mit beiden Beinen in den Zukunftsstaat?!&laquo;
+Der mit gutm&uuml;tigem Spott gesprochen und bisher fast
+immer geschwiegen hatte, war Ignaz Auer. Auf meine
+rasch entz&uuml;ndliche Begeisterung, die Bebels Worte ganz
+anders erg&auml;nzte, wirkten die seinen wie ein kalter
+Wasserstrahl. Anderen schien es &auml;hnlich zu gehen, das
+Gespr&auml;ch verlor seinen allgemeinen Charakter; man stand
+auf. Nach ein paar H&ouml;flichkeitsphrasen wurde der weibliche
+Teil der Gesellschaft in das Wohnzimmer gen&ouml;tigt;
+die Herren r&uuml;ckten mit ihren Zigarren um den E&szlig;tisch
+<a name="Page_160" id="Page_160"></a>zusammen, und durch die T&uuml;r klang ihre laute Unterhaltung.
+Bei uns drinnen sprach man von Fleischpreisen
+und Kochrezepten; keine der anwesenden Frauen
+schien in der Parteibewegung irgend eine aktive Rolle
+zu spielen. Fragen von allgemeinerem Interesse wurden
+nicht ber&uuml;hrt. Nur die gro&szlig;e, dicke Frau, deren Sch&ouml;nheit
+und Geist mir inzwischen irgendwer gepriesen hatte,
+stellte sich wie ein Inquisitor kerzengerade vor mich hin
+und fragte: &raquo;Wie denken Sie &uuml;ber Ibsen?&laquo; Die anderen
+richteten selten ein Wort an mich; im Hintergrund
+schienen sie &uuml;ber mich zu tuscheln, und ich f&uuml;hlte ihre
+Blicke, die musternd auf mir ruhten.</p>
+
+<p>Auf dem Heimweg konnte ich mir endlich Luft
+machen. &raquo;Das sind ja alles Philister&nbsp;&mdash;,&laquo; brach ich
+los, &raquo;vom Herrn Amtsrichter in Neu-Ruppin h&auml;tte ich
+nichts anderes erwartet.&laquo; Heinrich lachte.</p>
+
+<p>&raquo;Glaubst du, die politischen Ideale k&ouml;nnten aus ihren
+Vertretern gewandte Salonhelden machen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das nicht. Aber freiere Menschen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dar&uuml;ber d&uuml;rften Generationen vergehen. Die Gewohnheit
+ist wie eine Haut und l&auml;&szlig;t sich nicht auf einmal
+abziehen. Du mu&szlig;t unsere Genossen bei der Arbeit
+kennen lernen, nicht beim Souper.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Die erste Gelegenheit dazu bot sich bald. Adolf
+lud uns ein, der Sitzung der Gewerkschaftskommission
+beizuwohnen, in der die Vorschl&auml;ge
+<em class="antiqua">Dr.</em> Quarcks er&ouml;rtert werden sollten. In einem Lokal
+der Kommandantenstra&szlig;e fand sie statt. Durch die enge
+Kneipe, wo es nach schlechtem Fett und s&uuml;&szlig;lichem Schnaps
+<a name="Page_161" id="Page_161"></a>roch, und den regenfeuchten dunkeln Garten, wo ein paar
+verk&uuml;mmerte Kastanien zwischen haushohen Mauern einen
+endlosen Todeskampf f&uuml;hrten, ging es in die gro&szlig;e,
+h&ouml;lzerne Veranda, deren sp&auml;rliche Gasflammen die
+dichtgedr&auml;ngte Menge unruhig beleuchteten. Gegen hundert
+verschiedene Berufe waren durch ihre Delegierten
+vertreten, fast lauter ernste, &auml;ltere M&auml;nner im Sonntagsrock,
+die Zigarre zwischen den Lippen, den Bierkrug
+vor sich; nur zwei Frauen unter ihnen: Martha Bartels
+und Ida Wiemer. Sie sahen uns kommen. Aber w&auml;hrend
+Martha Bartels den leeren Stuhl neben sich
+hastig aus der Reihe schob und meinen Gru&szlig; frostig
+und fremd erwiderte, kam uns Ida Wiemer freundlich
+entgegen und zog uns an ihren Tisch. &raquo;Haben Sie die
+Bartels gesehen?&laquo; fl&uuml;sterte sie mir zu. &raquo;Sie hat den
+Moralkoller, wie alle alten Jungfern.&laquo; M&uuml;hsam dr&auml;ngte
+sich Reinhard mit seinem steifen Bein durch die Reihen,
+um uns die Hand zu sch&uuml;tteln. &raquo;So kann ich Ihnen
+noch pers&ouml;nlich gratulieren,&laquo; sagte er herzlich, &raquo;und uns
+dazu, weil Sie nun ganz Genossin sind.&laquo;</p>
+
+<p>Er war der Referent des Abends. Mit einer Sch&auml;rfe,
+die mir die Wichtigkeit der Sache zu &uuml;bersch&auml;tzen schien,
+wandte er sich gegen die Vorschl&auml;ge Quarcks. Erst allm&auml;hlich
+h&ouml;rte ich das Leitmotiv aus seiner Rede heraus: den
+Gewerkschaften die Beratung und Beschlu&szlig;fassung sozialpolitischer
+Fragen &uuml;berlassen, hie&szlig;e den Frieden zwischen
+Gewerkschaft und Partei gef&auml;hrden, hie&szlig;e den Parteitagen,
+die sich bisher allein damit besch&auml;ftigt haben &mdash; &raquo;den
+Bed&uuml;rfnissen und Interessen der deutschen Arbeiterklasse
+vollst&auml;ndig entsprechend&laquo;&nbsp;&mdash;, Sonderorganisationen
+gegen&uuml;berstellen, in die der Einflu&szlig; b&uuml;rgerlicher Sozial<a name="Page_162" id="Page_162"></a>reformer
+einzudringen imstande sein w&uuml;rde. Die folgende
+Diskussion versch&auml;rfte noch den Eindruck, den ich
+gewonnen hatte.</p>
+
+<p>Es fielen harte Worte, vor denen ich erschrak, weil
+sie mir eine Vorahnung dessen gaben, was mir bevorstehen
+mochte. &raquo;Ein Mensch, der in seiner b&uuml;rgerlichen
+Existenz Fiasko gemacht hat, will uns, &mdash; lauter alte
+erprobte Gewerkschafter, &mdash; auf neue Wege f&uuml;hren,&laquo; sagte
+der eine unter dem Applaus der Anwesenden. &raquo;Erst soll
+er, wie jeder Arbeiter auch, in die Schule gehen, ehe
+er das Maul aufrei&szlig;t.&laquo; &mdash; &raquo;Eine Sozialpolitik, wie
+Quarck sie empfiehlt, ohne Parteipolitik, ist nichts als
+jene Politik b&uuml;rgerlicher Reformer, zu denen er im
+Grunde noch geh&ouml;rt,&laquo; rief ein anderer. &raquo;Wenn er mit
+seiner bescheidenen Parteistellung nicht zufrieden ist, dann
+h&auml;tte er lieber gleich sagen sollen: f&uuml;r einen so gro&szlig;en
+Mann wie mich mu&szlig; eine Extrawurst gebraten werden,
+statt seine W&uuml;nsche hinter die Forderung eines Zentral-Gewerkschaftsbureaus
+zu verstecken,&laquo; meinte ein dritter
+Redner, dem die verbissene Wut aus dem roten Gesicht
+leuchtete. Erhob sich die Debatte &uuml;ber pers&ouml;nliche Geh&auml;ssigkeiten
+hinaus, so stand auf der einen Seite die
+geschlossene Phalanx derer, die mit leidenschaftlichem
+Eifer den Nachdruck auf die Gewinnung der politischen
+Macht durch die Gesamtheit der Partei gelegt wissen
+wollten und den Gewerkschaften den internen Kampf
+um bessere Lohn- und Arbeitsverh&auml;ltnisse als alleinige
+Aufgabe zuwiesen, auf der anderen Seite die sehr
+Wenigen, aus deren Worten die Unzufriedenheit mit
+der praktischen Gegenwartspolitik der Partei leise herausklang,
+und die vom Einflu&szlig; der Gewerkschaften auf
+<a name="Page_163" id="Page_163"></a>die soziale Gesetzgebung ein Wiederaufleben der Sozialreform
+erhofften. Ganz nebenbei erw&auml;hnte auch jemand,
+da&szlig; unsere Vereinsgesetzgebung den Gewerkschaften
+aus der Besch&auml;ftigung mit Sozialpolitik einen Strick
+drehen und die Organisierung der Frauen unm&ouml;glich
+machen k&ouml;nnte. Keiner ging weiter auf diese Bemerkung
+ein, auch die Frauen schwiegen, ich war zu
+sch&uuml;chtern, um in diesem Kreis f&uuml;r mein Geschlecht eine
+Lanze zu brechen. Mir schien dieser Grund ausschlaggebend,
+um die Vorschl&auml;ge unausf&uuml;hrbar zu finden.</p>
+
+<p>Ich f&uuml;hlte mehr, als da&szlig; ich verstand: unter diesen
+M&auml;nnern, die so eifrig debattierten, die alle so selbstverst&auml;ndlich
+nur ein Ziel im Auge hatten, das Wohl
+ihrer Klasse, schlummerten Gegens&auml;tze, die irgendwann
+und -wo an die Oberfl&auml;che w&uuml;rden treten m&uuml;ssen.</p>
+
+<p>Wir gingen noch zusammen ins Kaffee: Reinhard, der
+Schwager, die beiden Frauen und wir. Martha Bartels
+hatte sich erst durch Reinhards langes Zureden dazu
+bewegen lassen. &raquo;Wir m&uuml;ssen doch unsere Enquete besprechen,&laquo;
+h&ouml;rte ich ihn noch sagen, als sie sich uns
+n&auml;herte. Ida Wiemer stie&szlig; mich mit dem Ellbogen an
+und schob dann vertraulich ihren Arm in den meinen:
+&raquo;Sie wissen doch: Genossin Bartels verbreitet, da&szlig; Sie
+nur, um einen Mann zu finden, in die Partei kamen.&laquo;</p>
+
+<p>Das gab meinem Herzen einen Stich: Martha Bartels
+war fast die einzige, die die Motive meines Schritts
+h&auml;tte richtig beurteilen m&uuml;ssen. Sie blieb steif und
+zur&uuml;ckhaltend und taute erst auf, als Adolf vorschlug,
+ein paar Frauenrechtlerinnen, die sich w&auml;hrend des
+Streiks bew&auml;hrt hatten, zur Arbeit heranzuziehen. &raquo;Niemals!&laquo;
+rief sie leidenschaftlich. &raquo;Wir werden ihnen doch
+<a name="Page_164" id="Page_164"></a>nicht die Beziehungen zur Arbeiterschaft vermitteln, die
+sie nur f&uuml;r ihre Zwecke ausnutzen w&uuml;rden. Die Christlich-Sozialen
+vor allem gehen nur auf den Gimpelfang
+aus!&laquo; Es war, als ob ich Wanda Orbin sprechen
+h&ouml;rte. Aber ich konnte nicht anders, als ihr recht
+geben. Halb mi&szlig;billigend, halb verwundert sah Frau
+Wiemer, die andrer Ansicht war, mich an, und beim
+Weggehen sagte sie mit einem gereizten Ton in der
+Stimme. &raquo;Sie stellen sich auf ihre Seite &mdash; nach allem,
+was ich Ihnen von ihr erz&auml;hlt habe?!&laquo; Die Reihe, zu
+staunen, war jetzt an mir: &raquo;Hier handelt es sich um die
+Sache, &mdash; nicht um die Person!&laquo;</p>
+
+<p>Auf der Heimfahrt f&uuml;hlte ich mich pl&ouml;tzlich sehr unwohl.
+War es der Tabaksqualm, den ich nicht vertragen
+konnte, war es die feuchte Nachtluft, &mdash; ich kam
+nur schwer die steilen vier Treppen hinauf und warf
+mich angekleidet aufs Bett. Heinrich z&uuml;ndete das Nachtl&auml;mpchen
+an. Es gl&uuml;hte auf dem Tisch wie ein verirrter
+Stern, &mdash; und die meergr&uuml;nen W&auml;nde waren
+wie ein milder Sommerabendhimmel, auf den das rote
+Glas der Lampe rosige W&ouml;lkchen malte. Heinrich nahm
+mir die Schildpattk&auml;mme aus den Haaren&nbsp;&mdash;, mein
+Kopf wurde freier; er zog mir Schuhe und Str&uuml;mpfe
+aus und rieb meine eiskalten F&uuml;&szlig;e zwischen seinen
+H&auml;nden, von denen wohlige W&auml;rme mir durch den
+ganzen K&ouml;rper str&ouml;mte. &raquo;Ist dir jetzt besser, mein
+Schatz?&laquo; fragte er besorgt mit dem weichsten Ton seiner
+Stimme. Ich sah ihn dankbar an&nbsp;&mdash;, dabei blieb mein
+Blick &uuml;ber seine Schulter hinweg an einem Bilde
+haften; ich hatte es selbst dorthin geh&auml;ngt, ich wollte
+es immer vor Augen haben, ich hatte verlegen gel&auml;chelt,
+<a name="Page_165" id="Page_165"></a>als Heinrich wissen wollte, warum. Und jetzt &mdash; in
+gl&uuml;ckseligem Erschrecken pre&szlig;te ich beide H&auml;nde aufs
+Herz&nbsp;&mdash;: gl&auml;nzte nicht in den tiefen Dichteraugen des
+lockigen Ganymed von Watts ein Funken lebendigen
+Lebens? Ich sank in die Kissen zur&uuml;ck, Tr&auml;nen str&ouml;mten
+mir aus den Augen, &mdash; war's m&ouml;glich, da&szlig; ich vor der
+Erf&uuml;llung meiner tiefsten Sehnsucht stand?!</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen kam die &Auml;rztin. Sie lachte
+&uuml;ber die Erregung, mit der ich sofort und ganz sichere
+Auskunft von ihr haben wollte, und sagte nichts anderes
+als: &raquo;Vielleicht!&laquo; Ich klammerte mich an dies Vielleicht,
+ich drehte es jeden Tag hundertmal hin und her,
+ob es sich nicht doch in ein Gewi&szlig; verwandeln k&ouml;nnte.
+Allerhand gespenstische Vorstellungen qu&auml;lten mich: als
+h&auml;tte die Frau, die mir hatte Platz machen m&uuml;ssen,
+eine geheimnisvolle Macht &uuml;ber meinen Scho&szlig;, als
+k&ouml;nnten ihre Raubtierh&auml;nde das F&uuml;nkchen Leben zerdr&uuml;cken.
+Mein Mann wurde heftig und schalt meine
+Torheit, wenn ich von meinen &Auml;ngsten sprach. So war
+ich denn ganz allein mit ihnen. H&auml;tte ich nur eine
+Freundin, &mdash; oder eine Mutter&nbsp;&mdash;, dachte ich oft.</p>
+
+<p>Um die Zeit kamen Mutter und Schwester aus Pirgallen
+zur&uuml;ck. &raquo;Ich mu&szlig; Euch, ehe Hans wieder in
+Berlin ist, allein sprechen,&laquo; schrieb sie und k&uuml;ndigte
+ihren Besuch f&uuml;r denselben Tag an. Ich war nicht
+ganz ohne Furcht: sie hatte es doch wohl &uuml;bel genommen,
+da&szlig; wir ihr Anerbieten, bei unserer Hochzeit
+zugegen zu sein, immer wieder abgelehnt hatten. Zuerst
+w&uuml;rde sie darum ein bi&szlig;chen steif sein, aber dann&nbsp;&mdash;,
+sie w&uuml;rde doch f&uuml;hlen m&uuml;ssen, wie es um mich stand!
+Mit ausgestreckten H&auml;nden ging ich ihr entgegen, &mdash; ich
+<a name="Page_166" id="Page_166"></a>sehnte mich nach einer Mutter! Aber sie &uuml;bersah sie, &mdash; vielleicht
+weil der Flur dunkel war. Und sie atmete
+rasch und war sehr rot, &mdash; vielleicht weil die Treppe
+sie &uuml;beranstrengt hatte. Sie sah sich gar nicht um in
+unserem Zimmer, &mdash; und ich hatte es ihr zum Empfang
+mit lauter leuchtenden Herbstblumen geschm&uuml;ckt.</p>
+
+<p>&raquo;Willst du nicht ablegen?&laquo; fragte ich zaghaft.</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; antwortete sie schroff und setzte sich auf den
+&auml;u&szlig;ersten Rand des gro&szlig;en Lehnstuhls, der sonst selbst
+den Fremdesten zwang, sich behaglich in seine Polster
+zu lehnen. &raquo;Ich komme nur, um eins zu erfahren, das
+&uuml;ber unsere k&uuml;nftigen Beziehungen entscheidet&nbsp;&mdash;&laquo; die
+ruhige k&uuml;hle Frau sprach so rasch, wie ich sie nie hatte
+sprechen h&ouml;ren. &raquo;Meinen brieflichen Fragen seid Ihr
+ausgewichen, mir ins Gesicht hinein k&ouml;nnt Ihr nicht
+l&uuml;gen: seid Ihr kirchlich getraut?&laquo; Noch h&auml;rter als
+das ihre klang jetzt mein &raquo;Nein&laquo;. Aus der Tiefe
+meines verletzten Gef&uuml;hles kam es. Die Mutter hatte
+ich erwartet!! Sie sprang vom Stuhl, blaurot im
+Gesicht, mit zitternden H&auml;nden ihren Schirm umklammernd.
+&raquo;So ist eure Ehe ein Konkubinat, und du bist
+seine M&auml;tresse,&laquo; schrie sie mit gellender Stimme. Ich
+f&uuml;hlte, wie das Zimmer sich um mich zu drehen begann
+und ein krampfhafter Schmerz meinen Leib zusammenzog.</p>
+
+<p>&raquo;So nehmen Sie doch R&uuml;cksicht auf Alix' Zustand&nbsp;&mdash;,
+schonen Sie ihr Kind!&laquo; rief Heinrich, mich fest umschlingend,
+da er sah, wie ich schwankte. Sie schien
+einen Augenblick Atem zu sch&ouml;pfen, dann lachte sie
+schneidend: &raquo;Schonen?! Hat sie etwa ihre Eltern je
+geschont?!&laquo;</p>
+
+<p>Ich verlor die Besinnung. Als ich wieder zu mir
+<a name="Page_167" id="Page_167"></a>kam, lag ich zu Bett. &raquo;Ist sie fort?!&laquo; fl&uuml;sterte ich und
+sah angstvoll fragend auf den Geliebten. Er nickte.</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;r diesmal ist es nichts!&laquo; sagte die &Auml;rztin ein
+paar Stunden sp&auml;ter. In meinem Blick mu&szlig; meine
+ganze Verzweiflung gelegen haben, denn sie streichelte
+mir die Wange wie einem kleinen Kinde und sagte
+tr&ouml;stend: &raquo;Um so sicherer wird es das n&auml;chste Mal sein!&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Ich erholte mich rasch. Mit der Arbeit versuchte
+ich gegen den Schmerz zu k&auml;mpfen. Es schien
+fast, als sollte die Waffe, die so oft un&uuml;berwindlich
+zu machen vermag, an seiner Riesenkraft zuschanden
+werden. Nicht einen Augenblick durfte ich sie
+aus den H&auml;nden lassen, er h&auml;tte mich sonst wieder in
+seine Gewalt bekommen. Ich bereitete meine Kongre&szlig;rede
+vor und studierte alles, was &uuml;ber die Lage der
+Arbeiterinnen irgend erreichbar war; ich arbeitete mit
+den Kindern und frischte heimlich l&auml;ngst vergessene
+Schulkenntnisse auf, um ihnen helfen zu k&ouml;nnen, ich
+versuchte, der K&ouml;chin die alten Kochk&uuml;nste beizubringen,
+die ich einst zu Hause gelernt hatte.</p>
+
+<p>Wanda Orbin &uuml;berraschte mich eines Morgens dabei.
+&raquo;Was, Sie k&ouml;nnen kochen?!&laquo; lachte sie. &raquo;Ich kann, &mdash; ja,&laquo;
+antwortete ich, &raquo;aber ich sehe, da&szlig; die Ausf&uuml;hrung
+meiner Kenntnisse teuer ist; ich werde meiner K&ouml;chin
+das Feld wieder r&auml;umen m&uuml;ssen&nbsp;&mdash;.&laquo; &raquo;Das wird f&uuml;r
+beide Teile das Beste sein. Ich hab's zwar auch jahrelang
+tun m&uuml;ssen, bin aber daf&uuml;r nicht als Generalstochter
+aufgewachsen.&laquo; Ein leiser Spott lag in ihren<a name="Page_168" id="Page_168"></a>
+Worten. &raquo;Sie werden &uuml;berhaupt noch viel lernen
+m&uuml;ssen, Genossin Brandt!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin davon &uuml;berzeugt und immer bereit dazu,&laquo;
+antwortete ich k&uuml;hl.</p>
+
+<p>&raquo;Dann wollen wir gleich damit anfangen. Ich fand
+ihren Namen auf dem Kongre&szlig;programm&nbsp;&mdash;, Sie m&uuml;ssen
+ihn zur&uuml;ckziehen!&laquo;</p>
+
+<p>&Uuml;berrascht sah ich auf. Sie hatte mit dem Ton einer
+Vorgesetzten gesprochen. &raquo;Warum?! Bebel hatte gegen
+meine Teilnahme nichts einzuwenden!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bebel! Er sieht die Dinge aus der Vogelperspektive,
+vor allem die Frauenbewegung. Die Genossinnen haben
+beschlossen, die Aufforderung zu offizieller Beteiligung
+abzulehnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig;,&laquo; entgegnete ich; &raquo;im Fr&uuml;hjahr aber, zur
+Zeit, als ich das Referat &uuml;bernahm, bestand dieser Beschlu&szlig;
+noch nicht. Ich w&uuml;rde meinen R&uuml;cktritt, so kurz
+vor dem Kongre&szlig;, f&uuml;r einen Wortbruch halten, der um
+so weniger zu entschuldigen w&auml;re, als ich selbstverst&auml;ndlich
+mein Thema auf Grund meiner politischen &Uuml;berzeugung
+behandeln werde und es f&uuml;r dies Publikum
+sehr n&uuml;tzlich ist, auch diese ihm ganz fremde Seite kennen
+zu lernen. Zahlreiche Elemente, die der b&uuml;rgerlichen
+Frauenbewegung in die Arme liefen &mdash; die Lehrerinnen,
+die Handelsangestellten, die Beamtinnen&nbsp;&mdash;, geh&ouml;ren ihrer
+ganzen Lage nach zu uns. Wir k&ouml;nnen sie nur gewinnen,
+wenn wir ihnen bis ins feindliche Lager nachgehen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Frau Orbin unterbrach mich. &raquo;Sie irren. Diese Leute
+kommen f&uuml;r uns zun&auml;chst gar nicht in Betracht. Und
+wenn Sie wirklich durch Ihre &Uuml;berredungsk&uuml;nste&laquo; &mdash; sie
+sch&uuml;rzte wieder sp&ouml;ttisch die Lippen &mdash; &raquo;zwei oder
+<a name="Page_169" id="Page_169"></a>drei gewinnen w&uuml;rden, st&uuml;nde der Nachteil, den Ihre
+Teilnahme an einer b&uuml;rgerlichen Veranstaltung zur Folge
+h&auml;tte, gar nicht im Verh&auml;ltnis zu diesem minimalen
+Gewinn.&laquo; Ich sah sie fragend an. Sie stand auf,
+ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder und blieb
+dann dicht vor mir stehen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind eben erst die Unsere geworden,&laquo; sagte sie
+mit einer Art m&uuml;tterlicher Freundlichkeit, &raquo;Sie sind
+Aristokratin, &mdash; Gr&uuml;nde genug, um Ihnen mi&szlig;trauisch
+zu begegnen, um Ihnen die T&auml;tigkeit in der Partei,
+von der ich so viel erwarte, sehr zu erschweren. Und
+nun wollen Sie noch als einzige, &mdash; gegen unseren
+Beschlu&szlig;, &mdash; an diesem einseitig feministischen Kongre&szlig;
+teilnehmen! Das verstehen die Genossinnen
+nicht. Und wenn Sie dabei mit Engelszungen
+den Sozialismus verk&uuml;ndigen w&uuml;rden, sie h&ouml;ren Sie
+nicht, &mdash; sie sehen darin doch nichts anderes, als da&szlig;
+Sie eben noch zu jenen geh&ouml;ren. Ich habe gestern
+Ihretwegen einen schweren Kampf gehabt: die Genossinnen
+weigern sich unbedingt, Sie zur internen Arbeit
+zuzuziehen, wenn Sie nicht durch Unterwerfung
+unter unseren Beschlu&szlig; Ihre Zugeh&ouml;rigkeit zu uns dokumentieren.&laquo;
+Sie z&ouml;gerte und sah mich erwartungsvoll
+an. Als ich noch immer schwieg, legte sie mir
+beide H&auml;nde auf die Schultern und fuhr mit eindringlicher
+Stimme fort: &raquo;Sie sind in die Partei eingetreten,
+um f&uuml;r sie zu wirken; wollen Sie sich aus R&uuml;cksicht
+auf die alten Kolleginnen Ihre k&uuml;nftige Stellung erschweren,
+wenn nicht gar unm&ouml;glich machen? Haben
+die Damen das um Sie verdient ...?&laquo; Sie machte
+abermals eine Pause. Ich erinnerte mich, wie Frau<a name="Page_170" id="Page_170"></a>
+Vanselow in einen Seitenweg eingebogen war, um mich
+nicht gr&uuml;&szlig;en zu m&uuml;ssen, wie Frau Schwabach mit hochm&uuml;tig
+erhobenem Kopf an mir vor&uuml;berging. Aber hatte
+ich durch meinen Brief an Frau Morgenstern das
+Referat nicht erzwungen, &mdash; konnte ich unter diesen
+Umst&auml;nden daran denken, zur&uuml;ckzutreten? Vor allem
+aber: entsprach es meiner &Uuml;berzeugung?</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&ouml;gen in allem recht haben, &mdash; nur in der
+Hauptsache nicht: in Ihrem Beschlu&szlig;. W&uuml;rde ich
+Ihnen nicht selbst als eine Heuchlerin, zum mindesten
+als ein Schw&auml;chling erscheinen, wenn ich mich ihm
+f&uuml;gen wollte wider besseres Wissen und Gewissen?!&laquo;
+sagte ich. Auge in Auge standen wir uns gegen&uuml;ber.
+Sie ballte die kleinen breiten F&auml;uste, aus ihrem
+Gesicht brannten hektische Flecke, ihre roten Haare umgaben
+es wie mit einem Feuerkranz. Ich dagegen erschien
+ganz ruhig, ganz k&uuml;hl; ich wu&szlig;te, da&szlig; kein
+Blutstropfen meine Wangen f&auml;rbte; und wie um meine
+sie &uuml;berragende Gestalt zu betonen, reckte ich mich gerade
+auf.</p>
+
+<p>&raquo;Noch nicht das Abc der Demokratie scheinen Sie
+gelernt zu haben!&laquo; rief sie aus. &raquo;Auers Worte kann
+ich Ihnen entgegenhalten, mit denen er in Frankfurt
+vor zwei Jahren seinen aufs&auml;ssigen Landsleuten diente:
+&#8250;Das geh&ouml;rt zum Demokraten und zum Sozialdemokraten,
+da&szlig; er sich sagt: Esel seid ihr zwar, aber ich mu&szlig; mich
+f&uuml;gen&#8249;. M&ouml;gen Sie uns meinetwegen f&uuml;r Esel halten &mdash; der
+Reichtum Ihrer Erfahrung gibt Ihnen ja wohl
+ein Recht dazu!&nbsp;&mdash;, wenn Sie aber zu uns geh&ouml;ren
+wollen, so haben Sie Ihre Person der Allgemeinheit
+unterzuordnen.&laquo; Jetzt war die untersetzte, kleine Frau
+<a name="Page_171" id="Page_171"></a>doch die &Uuml;berlegene. Ich wandte mich ab und lehnte
+die hei&szlig;e Stirn an die k&uuml;hle Fensterscheibe; &mdash; sie sollte
+nicht sehen, wie schwer es mir wurde, mich zu unterwerfen.
+Aber sie folgte mir.</p>
+
+<p>&raquo;Genossin Brandt&nbsp;&mdash;,&laquo; aus ihrer Stimme war der
+schrille Ton wieder verschwunden, der an den Kasernenhof
+erinnerte, &mdash; &raquo;wir haben uns alle opfern m&uuml;ssen&nbsp;&mdash;&laquo;
+Ich sah ihr ins Gesicht. Die scharfen Z&uuml;ge waren weich
+geworden. &raquo;So will ich Ihnen nicht nachstehen,&laquo; antwortete
+ich. In ihren Augen leuchtete es auf wie
+Triumph. Mir war, als ob ihr H&auml;ndedruck mich in
+neue unsichtbare Fesseln schl&uuml;ge.</p>
+
+<p>&raquo;So, &mdash; und nun soll Ihnen eine goldene Br&uuml;cke
+gebaut werden,&laquo; damit zog sie mich neben sich aufs
+Sofa. &raquo;Wir erlassen Ihnen den offiziellen R&uuml;cktritt,
+aber Sie benutzen die kurze Zeit, die Ihnen sowieso nur
+zur Verf&uuml;gung steht, zu einer Erkl&auml;rung Ihres Standpunktes
+und &uuml;berbringen dem Kongre&szlig; unsere Einladung
+zu den Volksversammlungen, in denen die Arbeiterinnenfrage
+in einem Umfang zur Er&ouml;rterung kommen wird,
+der ihrer Bedeutung allein entspricht. Sie m&uuml;ssen es ja
+selbst schon als eine skandal&ouml;se Zumutung empfunden
+haben, da&szlig; man Ihnen dieselben f&uuml;nfzehn Minuten zugestand,
+die man so weltersch&uuml;tternden Fragen wie den
+Volksk&uuml;chen oder den Kleinkinderschulen auch gew&auml;hrt
+hat&nbsp;&mdash;&laquo;. Ich bejahte, ohne recht hinzuh&ouml;ren, sie sprach
+weiter, wie ein unaufh&ouml;rlich knarrendes Wasserrad,
+immer rascher, ohne Absatz. &raquo;Den ersten Vortrag in
+unseren Versammlungen &uuml;bernehmen Sie,&laquo; &mdash; damit
+war ihr Redestrom endlich versiegt. Wir verabschiedeten
+uns. An der Treppe blieb sie noch einmal stehen: &raquo;Ich
+<a name="Page_172" id="Page_172"></a>h&auml;tte fast die Hauptsache vergessen: Wir haben morgen
+eine Sitzung. Holen Sie mich um acht Uhr ab; es
+wird f&uuml;r sie angenehmer sein, wenn ich Sie einf&uuml;hre.&laquo;</p>
+
+<p>So war ich also aufgenommen &mdash; endg&uuml;ltig, aber
+zu einer rechten Freude dar&uuml;ber kam ich nicht. So sehr
+sich mein Nachgeben begreifen und entschuldigen lie&szlig;,
+so notwendig es vielleicht in der gegebenen Situation
+f&uuml;r mich war, ich wurde das peinliche Gef&uuml;hl dabei
+nicht los, einen Wortbruch begangen zu haben. Was
+mir zuerst wie eine Erleichterung schien: die &raquo;goldene
+Br&uuml;cke&laquo;, &mdash; kam mir nun vollends wie eine T&auml;uschung
+vor. Aber ein Zur&uuml;ck gab es nicht mehr.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Die sozialdemokratische Frauenbewegung stand
+damals noch immer im Zeichen des K&ouml;ller-Kurses.
+Ihre Bildungsvereine waren unter
+den nichtigsten Vorw&auml;nden aufgel&ouml;st worden; ihre Vork&auml;mpferinnen
+mu&szlig;ten sich wiederholt polizeilichen Haussuchungen
+unterwerfen, jede Korrespondenz mit Gesinnungsgenossinnen,
+die man auffand, gen&uuml;gte, um sie
+als staatsgef&auml;hrliche Verbrecher hinter Schlo&szlig; und Riegel
+zu setzen. An der Frauenbewegung blieb daher der
+Charakter revolution&auml;ren Geheimb&uuml;ndlertums, den die
+Partei als solche mehr und mehr abstreifte, noch lange
+haften. F&uuml;r die Zusammenk&uuml;nfte, die notwendig waren,
+bedurfte es der gr&ouml;&szlig;ten Vorsichtsma&szlig;regeln, und nur
+ein kleiner Kreis vertrauensw&uuml;rdiger Frauen wurde dazu
+eingeladen. Die Sitzung, zu der wir gingen, Frau
+Orbin und ich, fand bei einem kleinen Parteibudiker in
+der Linienstra&szlig;e statt. Wir vermieden es, durch das<a name="Page_173" id="Page_173"></a>
+Lokal zu gehen &mdash; &raquo;hier gibt's &uuml;berall Spitzel,&laquo; meinte
+meine Gef&auml;hrtin&nbsp;&mdash;, und bogen in den dunkeln Torweg
+ein, stiegen vorsichtig tastend eine stockfinstere Treppe
+hinauf und standen einen Augenblick z&ouml;gernd vor einer
+T&uuml;r, durch deren Schl&uuml;sselloch ein schwacher Lichtschein
+drang. Ich bem&uuml;hte mich, hindurch zu sehen. &raquo;Drinnen
+ist niemand,&laquo; sagte ich, &raquo;eine Photographie h&auml;ngt an
+der Wand, &mdash; ein Mann mit schwarzem Bart und
+wei&szlig;en Locken.&laquo; &mdash; &raquo;Marx!&laquo; rief Wanda Orbin, &raquo;so
+sind wir richtig.&laquo; Wir durchquerten den fensterlosen
+Raum, dessen stickige Luft mir den Atem benahm, und
+traten in die niedrige Stube, die daneben lag. Eine
+Petroleumlampe hing von der geschw&auml;rzten Decke; mit
+einem Geruch von schlechtem Tabak schienen alle Gegenst&auml;nde
+im Zimmer, &mdash; die schmutzigen Vorh&auml;nge, die
+fettigen Zeitungen, die rotgew&uuml;rfelte Tischdecke, das alte
+Klavier im Winkel&nbsp;&mdash;, f&ouml;rmlich impr&auml;gniert zu sein. Und
+dazu hatte der frische September drau&szlig;en den Rest
+stickiger Sommergro&szlig;stadthitze hier hereingedr&auml;ngt. Die
+Frauen, die um den langen Tisch in der Mitte sa&szlig;en,
+schwitzten. Ich wurde vorgestellt. Mein verbindliches
+L&auml;cheln begegnete unfreundlich-neugierigen Blicken. Erst
+als Wanda Orbin mit ungew&ouml;hnlicher W&auml;rme von mir
+sprach, meinen Entschlu&szlig;, dem Kongre&szlig; eine Erkl&auml;rung
+abzugeben, statt den angek&uuml;ndigten Vortrag zu halten,
+mit gro&szlig;em Nachdruck herausstrich, kl&auml;rten die Mienen
+sich auf. Eine kleine runde Frau, die neben mir sa&szlig;,
+streckte mir die arbeitsharte Hand entgegen: &raquo;Na, sehen
+Se mal, det is scheen von Ihnen!&laquo; sagte sie laut mit
+feucht schimmernden &Auml;uglein. &raquo;Ruhe, Genossin Wengs!&laquo;
+rief die Bartels vom Tischende hinunter und trommelte
+<a name="Page_174" id="Page_174"></a>mit den Fingerkn&ouml;cheln auf den Tisch. Man versuchte
+parlamentarisch zu verhandeln, aber es entspannen sich
+immer wieder Privatunterhaltungen. Endlich schien sich
+das Interesse auf einen Punkt zu konzentrieren: die
+Kassenverh&auml;ltnisse eines der aufgel&ouml;sten Vereine wurden
+er&ouml;rtert. Da man B&uuml;cher und Protokolle aus Angst
+vor Polizei und Staatsanwalt nicht zu f&uuml;hren pflegte
+und das kleine Rechnungsbuch aus demselben Grunde
+eilig verbrannt worden war, so fehlte es an den n&ouml;tigen
+Unterlagen, um zu einem tats&auml;chlichen Ergebnis zu
+gelangen. Es kam zu einer heftigen Debatte. Die arme
+Frau, die Kassiererin gewesen war, wurde laut und leise
+der Unredlichkeit geziehen&nbsp;&mdash;, sie h&auml;tte unbedingt noch
+vier Mark haben m&uuml;ssen und behauptete schluchzend,
+nichts zu haben.</p>
+
+<p>&raquo;Zu all die Arbeet un Schreiberei, die ich vor nischt
+gemacht hab,&laquo; heulte sie, &raquo;soll ich nu noch als Diebin
+dastehn. In Zukunft macht Euren Dreck alleene!&laquo; Und
+hinaus war sie. Immer dr&uuml;ckender wurde die Luft.
+Das Fenster durfte nicht ge&ouml;ffnet werden, man h&auml;tte
+uns vom Hof aus h&ouml;ren k&ouml;nnen. Ich erstickte fast in
+dieser Atmosph&auml;re. Die anderen schienen an sie gew&ouml;hnt
+zu sein, niemand beklagte sich. &raquo;Wir m&uuml;ssen unbedingt
+die beiden Hauptpunkte unserer Tagesordnung heute
+noch erledigen,&laquo; erkl&auml;rte schlie&szlig;lich Wanda Orbin, nachdem
+man sich schon zwei Stunden um lauter pers&ouml;nliche
+Dinge hin- und hergezankt hatte. &raquo;Ich bitte daher ums
+Wort zur Frage des b&uuml;rgerlichen Frauenkongresses.&laquo;
+Man schwieg, und sie fuhr fort, indem sie nochmals den
+Standpunkt der Genossinnen begr&uuml;ndete, &mdash; mit einer
+Stimme und einer Ausf&uuml;hrlichkeit, als gelte es eine<a name="Page_175" id="Page_175"></a>
+Volksversammlung zu &uuml;berzeugen. Machte sie eine Pause,
+so gab Martha Bartels das Signal zu allgemeinem
+Applaus. &raquo;Wir sind in der vorigen Sitzung mit unserer
+Besprechung zu keinem Abschlu&szlig; gekommen. Ich frage
+die Genossinnen, ob sie sich meinen Antrag, in die Diskussionen
+des Kongresses einzugreifen, &uuml;berlegt haben,
+und wie sie sich dazu stellen?&laquo; Mit dieser mich nicht
+wenig &uuml;berraschenden Frage, schlo&szlig; sie ihre Rede. Alles
+blieb still. Martha Bartels sah erwartungsvoll von
+einer zur anderen. &raquo;Wir sind wohl alle einer Meinung,&laquo;
+meinte sie dann, &raquo;und k&ouml;nnen ohne weiteres zur Abstimmung
+schreiten.&laquo; Ich hatte bisher mit keinem Wort
+in die Debatte eingegriffen. Man sah mich mi&szlig;billigend
+an, als ich mich jetzt meldete. Wanda Orbin runzelte
+die Stirne. &raquo;Ich habe der Sitzung nicht beigewohnt,
+in der Sie, scheint's, die Angelegenheit schon hinreichend
+besprochen haben,&laquo; sagte ich, &raquo;mir fehlen daher, um zu
+einem sicheren Urteil zu kommen, Ihre Gr&uuml;nde. Ich
+m&ouml;chte mir deshalb nur die Frage erlauben, ob es
+nicht eine Inkonsequenz ist, die Beteiligung am Kongre&szlig;
+abzulehnen und die Teilnahme an der Diskussion
+zu beschlie&szlig;en?&laquo; Allgemeines, stummes Erstaunen. Nur
+Ida Wiemer, die neben mir sa&szlig;, stie&szlig; mich unter dem
+Tisch heimlich an und warf mir einen aufmunternden
+Blick zu. Mit endlosem Wortschwall suchte Wanda
+Orbin, vom Beifallsgemurmel der Anwesenden begleitet,
+die grunds&auml;tzliche Verschiedenheit beider Arten der Beteiligung
+auseinander zu setzen. &raquo;Es hie&szlig;e das Prinzip
+des Klassenkampfes preisgeben,&laquo; sagte sie, &raquo;wenn wir
+mit b&uuml;rgerlichen Elementen irgend etwas gemeinsam
+unternehmen wollten, aber es geh&ouml;rt zum Klassenkampf,
+<a name="Page_176" id="Page_176"></a>da&szlig; wir in der Debatte ihnen geschlossen gegen&uuml;ber
+treten.&laquo; &raquo;Niemand hinderte uns, in selbst&auml;ndiger Rede
+dasselbe zu tun&nbsp;&mdash;&laquo;, warf ich noch einmal ein. Meine
+Worte gingen im allgemeinen Geschw&auml;tz, das wieder
+entfesselt war, verloren. Wanda Orbin hatte alle
+Stimmen auf ihrer Seite, &mdash; auch Ida Wiemer.
+&raquo;Wenn man nicht mittut, wird man gehenkt&nbsp;&mdash;,&laquo; fl&uuml;sterte
+sie mir sich entschuldigend zu. Ich enthielt mich der Abstimmung.
+&raquo;Wir kommen zum n&auml;chsten Punkt der Tagesordnung:
+Parteitag,&laquo; sagte Martha Bartels, die den
+Vorsitz f&uuml;hrte. &raquo;Genossin Orbin hat das Wort.&laquo; &raquo;Der
+Parteitag in Gotha ist f&uuml;r uns ganz besonders bedeutungsvoll,&laquo;
+begann sie; &raquo;die Frauenagitation steht auf
+der Tagesordnung. Es ist infolgedessen w&uuml;nschenswert,
+da&szlig; viele der t&auml;tigen Genossinnen als Delegiertinnen
+anwesend sind, damit die praktische Erfahrung neben
+der theoretischen Schulung zu Worte kommt. Unsere
+Resolution ist Ihnen durch die &#8250;Freiheit&#8249; bekannt;
+es hat niemand an ihr etwas auszusetzen gehabt, sie
+wird ohne Zweifel zur Annahme gelangen, da sie
+nichts Neues bringt, sondern nur das bew&auml;hrte Alte
+zusammenfa&szlig;t. Nach anderer Richtung jedoch drohen
+uns K&auml;mpfe: es liegen Antr&auml;ge vor, die die Schaffung
+einer besonderen Arbeiterinnnenzeitung bezwecken. Ihre
+Verfasser sind mit unserer &#8250;Freiheit&#8249; unzufrieden. Es
+ist notwendig, da&szlig; die Berliner Genossinnen klipp und
+klar dazu Stellung nehmen.&laquo; Nun entwickelte sich etwas
+wie eine Diskussion. Ein paar Frauen, Martha Bartels
+voran, lobten die &#8250;Freiheit&#8249; in allen T&ouml;nen, Frau Wiemer
+allein sprach mit dem Wunsch nach etwas popul&auml;reren
+Artikeln zugleich einen leisen Tadel aus, den Frau<a name="Page_177" id="Page_177"></a>
+Orbin dadurch entkr&auml;ftete, da&szlig; sie erkl&auml;rte, die &#8250;Freiheit&#8249;
+sei gar nicht f&uuml;r die Massen bestimmt, sondern
+nur f&uuml;r die F&uuml;hrerinnen. Man war darnach ausnahmslos
+entschlossen, jede &Auml;nderung ihres Inhalts und jeden
+Plan eines Konkurrenzunternehmens abzulehnen. Als
+ich bemerkte, man m&ouml;ge wenigstens daf&uuml;r sorgen, da&szlig;,
+als wichtiges Mittel unserer Agitation, die allgemeine
+Parteipresse der Frauenfrage einen breiten Raum gew&auml;hre,
+lachte alles. &raquo;Da kennen Se unsere M&auml;nner
+schlecht,&laquo; meinte die dicke Frau Wengs neben mir, &raquo;die
+wollen von uns rein jar nischt wissen.&laquo; &raquo;Die mehrschten
+erlooben den Frauen nich, da&szlig; se in ne Versammlung
+jehn oder in 'nen Verein. Daheem sollen se sitzen un
+Str&uuml;mpe stoppen,&laquo; rief eine andere und ein allgemeines
+Klagelied &uuml;ber die M&auml;nner hub an; erst die energische
+Stimme der Orbin stellte die Ruhe wieder her: &raquo;Es
+ist zw&ouml;lf Uhr, &mdash; wir m&uuml;ssen zu Ende kommen.&laquo; &raquo;Jotte
+doch, schon zw&ouml;lwe, un ick habe soo'n weiten Weg,&laquo;
+jammerte Frau Wengs und erhob sich. Ein paar andere,
+die schon lange auf ihren St&uuml;hlen hin und herger&uuml;ckt
+waren, sprangen auf. &raquo;So bleiben Sie doch f&uuml;nf Minuten,
+Genossinnen,&laquo; kommandierte Martha Bartels,
+&raquo;wir m&uuml;ssen doch die Delegiertinnen zum Parteitag
+noch bestimmen.&laquo; Frau Wengs ging eilig zu ihrem
+Stuhl zur&uuml;ck, mit ihr die anderen; gespannte Neugierde
+dr&uuml;ckte sich in den Mienen aller aus. Die Bartels
+fuhr mit erhobener Stimme fort: &raquo;Vorgeschlagen sind
+Genossinnen Stein, Wolf und meine Wenigkeit.&laquo; Ein
+eifriges Geraune und Getuschel setzte ein. &raquo;Hat jemand
+andere Vorschl&auml;ge?!&laquo; Sie sah drohend umher. Ein
+Dutzend Frauen meldeten sich auf einmal. &raquo;Immer die<a name="Page_178" id="Page_178"></a>selben!&laquo;
+&mdash; &raquo;La&szlig;t doch ooch andere drankommen!&laquo; &mdash; &raquo;Die
+gewerkschaftlich t&auml;tigen Genossinnen werden
+nat&uuml;rlich &uuml;bergangen&nbsp;&mdash;!&laquo; schrie und l&auml;rmte es durcheinander.
+&raquo;Ick schlage die Jenossin Brandt vor&nbsp;&mdash;,&laquo;
+rief Frau Wengs. Es wurde still. Die Frauen sahen
+mich an, &mdash; mi&szlig;trauisch, feindselig. Ich hatte die Situation
+rasch erfa&szlig;t. &raquo;Ich danke der Genossin Wengs
+f&uuml;r ihre Freundlichkeit,&laquo; sagte ich, &raquo;aber ich f&uuml;hle mich
+noch viel zu jung in der Bewegung, als da&szlig; ich solch
+einen Ehrenposten annehmen k&ouml;nnte.&laquo; Wanda Orbin
+nickte mir, sichtlich erleichtert, zu: &raquo;Nun aber schnell zur
+Abstimmung, &mdash; wir vers&auml;umen ja noch die Pferdebahn! &mdash; Ich
+denke, wir bleiben bei unseren Vorschl&auml;gen&nbsp;&mdash;&laquo;
+Niemand widersprach, aber kaum war die Sitzung geschlossen,
+als die allgemeine Unzufriedenheit sich in lauter
+Unterhaltung wieder Luft machte. Man ging in kleinen
+Gruppen auseinander, &mdash; lauter feindliche Lager, wie
+mir schien. Wanda Orbin legte ihren Arm in den
+meinen, die Bartels begleitete uns; ihre Stimmung
+gegen mich war wieder umgeschlagen. Sie dr&uuml;ckte mir
+herzlich die Hand, als wir Abschied nahmen.</p>
+
+<p>Mein Mann erwartete mich im n&auml;chsten Kaffee. &raquo;Das
+hat aber lange gedauert,&laquo; meinte er. &raquo;Wenn die Bedeutung
+Eurer Beschl&uuml;sse der L&auml;nge der Zeit entspricht,
+die Ihr darauf verwandt habt&nbsp;&mdash;!&laquo; Ich lachte, aber
+es war nicht das Lachen gl&uuml;cklichen Humors, der den
+Ereignissen die komische Seite abgewinnt und sich dadurch
+&uuml;ber sie erhebt. Heute w&uuml;rde mich der Humor
+im Stich gelassen haben, auch wenn ich ihn je besessen
+h&auml;tte. Es war alles so eng gewesen, so dr&uuml;ckend, &mdash; wie
+die schmutzige Stube und die eingeschlossene Luft
+<a name="Page_179" id="Page_179"></a>in ihr; kein gro&szlig;er Gesichtspunkt war zutage getreten.
+&raquo;Wir Genossinnen sind immer einig,&laquo; hatte Wanda
+Orbin mir gesagt. Konnte sie wirklich f&uuml;r Einigkeit
+halten, was nichts war als die Beherrschung armer
+Frauen kraft ihres Willens und ihrer Intelligenz? &raquo;So
+wird es also deine Aufgabe sein, diesen Absolutismus
+zu brechen,&laquo; sagte Heinrich. &mdash; &raquo;Nachdem ich mich ihm
+selbst schon unterworfen habe?!&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Ich schritt die breite Treppe des Berliner Rathauses
+hinauf. Seit vier Tagen verhandelte
+der Frauenkongre&szlig; in dem festlichen B&uuml;rgersaal
+vor einem Publikum, das immer weniger aus Neugierde,
+immer mehr aus Interesse kam. Es war zwar
+im Grunde nichts als eine Truppenschau, bei der jede
+Teilnehmerin ihr Schlachtro&szlig; in raschem Galopp vorzuf&uuml;hren
+hatte. Aber Berlin sah zum erstenmal: Die
+Frauen konnten reiten. Heute war der Tag der gro&szlig;en
+Sensation: Die Arbeiterinnenfrage stand auf der Tagesordnung;
+man erwartete eine Schlacht zwischen den
+b&uuml;rgerlichen Frauen und den Proletarierinnen, und auch
+mir pers&ouml;nlich galt ein Teil der allgemeinen Spannung, &mdash; der
+Frau, deren Roman von Mund zu Mund ging,
+der Renegatin. An der T&uuml;re stand Egidy, mein alter
+Freund. Er dr&uuml;ckte mir die Hand: &raquo;Ich bin erst eben
+nach Berlin zur&uuml;ckgekehrt. Sonst w&auml;re ich schon bei
+Ihnen gewesen. Zwischen uns bleibt alles beim alten.&laquo;
+Ich l&auml;chelte dankbar. Bei meinem Eintritt in den &uuml;berf&uuml;llten
+Saal entstand eine bemerkbare Unruhe: Kleider
+raschelten, St&uuml;hle wurden ger&uuml;ckt, K&ouml;pfe wandten sich
+<a name="Page_180" id="Page_180"></a>nach mir um, man fl&uuml;sterte meinen Namen. Eine Gruppe
+russischer Studentinnen, an denen ich vor&uuml;ber mu&szlig;te,
+klatschte st&uuml;rmisch. Vom Vorstandstisch mahnte eine
+scharfe Stimme zur Ruhe. Die Genossinnen begr&uuml;&szlig;ten
+mich; die erwartungsvolle Erregung, in der sie sich befanden,
+steigerte ihre Freundlichkeit mir gegen&uuml;ber.
+Wanda Orbin n&ouml;tigte mich auf den Stuhl neben sich.
+Ich blieb trotzdem befangen und suchte mit den Augen
+meinen Mann, als m&uuml;&szlig;te ich mich wenigstens mit den
+Blicken an ihn klammern.</p>
+
+<p>Eine &Ouml;sterreicherin sprach zuerst &uuml;ber die Ergebnisse
+der Wiener Arbeiterinnen-Enquete. Ich kannte sie. Sie
+war eine &uuml;berzeugte Sozialdemokratin. Die f&uuml;nfzehn
+Minuten reichten aus, um ein ergreifendes Bild schrecklichen
+Elends zu malen. So hatte ich zu sprechen gedacht!
+Eine Engl&auml;nderin folgte ihr. Sie begr&uuml;ndete
+die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation
+der Frauen in wenigen scharf-umrissenen S&auml;tzen; in
+langer Rede h&auml;tte sie kaum mehr sagen k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>&raquo;Frau Alix Brandt hat das Wort&laquo;, &mdash; t&ouml;nte jetzt die
+heisere Stimme der Vorsitzenden durch den Saal. Ich stand
+auf und zw&auml;ngte mich durch die Stuhlreihen, am dichtbesetzten
+Tisch der Presse vorbei. &raquo;Sie wissen&laquo; &mdash; &raquo;Scheidungsproze&szlig;&laquo; &mdash; &raquo;Verh&auml;ltnis&laquo; &mdash; &raquo;Unglaublich&laquo;, &mdash; fl&uuml;sterte
+es. Mein Blut begann zu sieden. Ich stand
+auf der Trib&uuml;ne; &mdash; am Vorstandstisch zischte jemand,
+aus einer Ecke des Saales klang Beifallsgeklatsch und
+Getrampel. Das Zischen wurde st&auml;rker. Sekundenlang
+k&auml;mpften beide Laute miteinander, &mdash; die Vorsitzende
+r&uuml;hrte sich nicht. Helle Emp&ouml;rung bem&auml;chtigte sich
+meiner, &mdash; jetzt war ich bereit, ihnen meine Verachtung
+<a name="Page_181" id="Page_181"></a>ins Gesicht zu schleudern. Ich begann sehr ruhig, indem
+ich erkl&auml;rte, warum die Vertreterinnen der deutschen
+Arbeiterinnenbewegung es abgelehnt h&auml;tten, sich an den
+Arbeiten des Kongresses durch Delegierte zu beteiligen.
+&raquo;F&uuml;r sie, die auf dem Boden der Sozialdemokratie
+stehen, ist die Frauenfrage nur ein Teil der sozialen
+Frage, und als solche durch die mehr oder weniger gut
+gemeinten Bestrebungen b&uuml;rgerlicher Sozialreformer nicht
+l&ouml;sbar. Ich selbst teile diese Auffassung vollkommen.&laquo;
+Meine Stimme hob sich und wurde sch&auml;rfer; zu schneidendem
+Schwert sollte jedes meiner Worte sie schleifen.
+&raquo;Wer vorurteilslos und logisch denkt und sich eingehend
+mit der Frauenfrage, &mdash; wohl gemerkt, der ganzen
+Frauenfrage, nicht mit der Damenfrage, &mdash; besch&auml;ftigt,
+der mu&szlig; notwendig zur Sozialdemokratie gelangen.&laquo;
+St&uuml;rmische Choruse unterbrachen mich, die der Beifall
+der Genossinnen vergebens zu ersticken suchte. &raquo;Mit
+anderen Worten: wer es nicht tut, ist ein Dummkopf
+oder ein Heuchler?!&laquo; schrie eine der Damen vom Pressetisch
+zitternd vor Aufregung. Ich neigte mit sp&ouml;ttischer
+Zustimmung den Kopf; sie sprach aus, was zwischen
+meinen Worten klingen sollte. Die Unruhe wuchs, ich
+mu&szlig;te lauter sprechen, um durchzudringen. &raquo;Die Wertsch&auml;tzung
+und das Verst&auml;ndnis der b&uuml;rgerlichen Frauenbewegung
+f&uuml;r die Arbeiterinnenfrage wird durch nichts
+deutlicher charakterisiert, als durch die Tatsache, da&szlig;
+man mir zu einem Vortrag &uuml;ber sie, die die gr&ouml;&szlig;te
+Masse des weiblichen Geschlechts umschlie&szlig;t, und die
+entrechtete und ungl&uuml;cklichste, dieselben f&uuml;nfzehn Minuten
+gew&auml;hrt hat, wie etwa der Damenfrage der M&auml;dchengymnasien.
+Ich verzichte daher auf meinen Vortrag...&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_182" id="Page_182"></a>Die Zuh&ouml;rer schrieen und tobten, ein paar M&auml;nner
+sprangen auf die St&uuml;hle und drohten mir mit erhobenen
+Armen, in gr&ouml;&szlig;ter Erregung schwang die Vorsitzende
+unaufh&ouml;rlich die Glocke, deren wimmerndes
+Klagegeheul die Melodie zu der Begleitung br&uuml;llender
+Stimmen zu sein schien. Endlich verschaffte ich mir
+wieder Geh&ouml;r:</p>
+
+<p>&raquo;In zwei Volksversammlungen, die von uns einberufen
+worden sind, soll den Teilnehmerinnen des Kongresses
+Gelegenheit geboten werden, die Arbeiterinnenbewegung
+kennen zu lernen. Nicht als ob wir des
+frommen Glaubens lebten, auch nur eine von Ihnen
+f&uuml;r uns gewinnen zu k&ouml;nnen. Zu tief eingewurzelt ist
+der jahrhundertelang gen&auml;hrte Klassenegoismus, zu einschneidend
+in das Leben und Denken gerade der abh&auml;ngigen
+Frau sind die Interessen ihrer Klasse, als da&szlig;
+sie sich so leicht davon losrei&szlig;en k&ouml;nnte. Aber vielleicht
+wird Ihnen eine Ahnung davon aufgehen, da&szlig; es ein
+gr&ouml;&szlig;eres, ergreifenderes Elend gibt, als das der unbefriedigten,
+berufslosen T&ouml;chter Ihrer St&auml;nde; da&szlig;
+au&szlig;erhalb Ihrer Kreise ein Kampf gek&auml;mpft wird, der
+ernster, heiliger ist als der um den Doktorhut; da&szlig; der
+Schwung der Begeisterung, der Heldenmut der Aufopferung
+nur dort zu finden ist, wo M&auml;nner und Frauen
+ihre vereinten Kr&auml;fte f&uuml;r das eine gro&szlig;e Ziel einsetzen:
+Befreiung der Gesamtheit aus wirtschaftlicher und moralischer
+Knechtschaft ...&laquo;</p>
+
+<p>Ich stieg vom Podium. Es war ein Spie&szlig;rutenlaufen.
+Die eleganten Frauen Berlins, die in ihren
+sch&ouml;nen Herbsttoiletten die ersten Reihen besetzt hielten,
+hatten ihre ganze gesellschaftliche Haltung verloren. Sie
+<a name="Page_183" id="Page_183"></a>zischten, sie riefen mir Schimpfworte zu, wei&szlig;behandschuhte
+F&auml;uste erhoben sich in bedrohlicher N&auml;he. Aber
+schon war Heinrich neben mir und reichte mir den Arm.
+Ein paar Schritte weiter umringten mich die Genossinnen,
+Wanda Orbin schlo&szlig; mich st&uuml;rmisch in die Arme.</p>
+
+<p>Kurz vor dem Ausgang stand eine Gruppe von erhitzten
+Damen um den j&uuml;ngsten Philosophen Berlins geschart; er
+war ein Freund meines Mannes. &raquo;Sie haben Gift
+gespritzt,&laquo; schrie er mir zu. Mit einem Blick voll
+Zorn und Verachtung ma&szlig; ihn Heinrich. Den n&auml;chsten
+Augenblick trat mir Egidy entgegen. &raquo;Sie haben sich
+schwer vers&uuml;ndigt,&laquo; sagte er, seine blauen Augen funkelten
+zornig.</p>
+
+<p>An der T&uuml;re z&ouml;gerte ich. Mir war, als m&uuml;&szlig;te ich
+noch einmal r&uuml;ckw&auml;rts sehen, &uuml;ber die Menge hinweg
+in den festlich gl&auml;nzenden Saal: Von der Decke herab
+flutete das Licht in Strahlenb&uuml;ndeln; es schimmerte
+weich auf wei&szlig;en Marmorfiguren, es zauberte lebendige
+blutdurchflossene Adern in die S&auml;ulen von rotem Granit,
+es funkelte prahlend auf goldenen Gesimsen, und dem
+grauen Herbstabend drau&szlig;en wehrten die hohen farbigen
+Bogenfenster den Eintritt.</p>
+
+<p>Langsam gingen wir die breite Steintreppe hinab
+auf die schmutzige Stra&szlig;e.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Am S&uuml;dende der Friedrichstra&szlig;e, wo das Licht
+sp&auml;rlicher wird, lag der alte Tanzsaal, in dem
+ich am Abend sprechen sollte. Durch ein paar
+H&ouml;fe, die nur die gl&uuml;henden Augen breiter Fabrikfenster
+erhellten, f&uuml;hrte der Weg. Sie waren schwarz voll Menschen.<a name="Page_184" id="Page_184"></a>
+Auf den ausgetretenen Stufen der Holztreppe bis zum
+Saal war ein Vorw&auml;rtskommen fast unm&ouml;glich. Ein
+paar st&auml;mmige Ordner bahnten uns mit Ellbogenst&ouml;&szlig;en
+den Weg. &raquo;Die berliner Arbeiter wollen Sie alle
+sehen, Genossin Brandt,&laquo; sagte der eine. Ich senkte
+den Kopf. Wie ich mich freute! &Uuml;ber den Massen, die
+den Raum erf&uuml;llten, in den wir endlich gelangten,
+lagerte Tabaksqualm und Menschenschwei&szlig; in schweren,
+dunkeln Nebeln. Das Licht von den verstaubten Kronleuchtern
+drang nur tr&uuml;be durch den grauen Dunst.
+Ru&szlig;geschw&auml;rzt war die niedrige Decke, von den W&auml;nden
+br&ouml;ckelte der Kalk, blinde Spiegelscheiben warfen
+gespensterhaft verzerrt das Bild der Menschen zur&uuml;ck,
+die sich vor ihnen sammelten. Ein paar steile Stufen
+zu einer kleinen B&uuml;hne ging es empor, auf der grell
+gemalte Kulissen einen Wald von Palmen darstellen
+sollten. Unter mir stand jetzt die Menge Kopf an Kopf.
+Siedende Hitze stieg von ihr auf, da&szlig; der Atem mir
+sekundenlang stockte.</p>
+
+<p>&raquo;So warten sie schon seit zwei Stunden wie eine
+Mauer,&laquo; sagte Ida Wiemer, die den Vorsitz f&uuml;hrte.
+Der graub&auml;rtige Polizeileutnant sch&uuml;ttelte bedenklich den
+Kopf. &raquo;Ich kann nur einen kurzen Vortrag gestatten,&laquo;
+sagte er, &raquo;wenn ich nicht die Versammlung aufl&ouml;sen
+soll.&laquo; &raquo;Genossen,&laquo; rief Ida Wiemer so laut sie konnte
+in den Saal, &raquo;macht den fremden Kongre&szlig;delegierten
+Platz, die heute unsere G&auml;ste sind&nbsp;&mdash;.&laquo; Eine Anzahl
+Arbeiter versuchten, sich langsam hinauszuschieben. Aber
+die Scharen, die die T&uuml;ren belagerten, versperrten den
+Weg. &raquo;Das ist lebensgef&auml;hrlich,&laquo; wiederholte der Polizeileutnant
+und wischte sich den Schwei&szlig; von der Stirne.<a name="Page_185" id="Page_185"></a>
+&raquo;Fangen Sie an und machen Sie's kurz, &mdash; ein anderes
+Mittel gibt's hier nicht.&laquo;</p>
+
+<p>Ich trat vor. Kirchenstille umfing mich. Ich sprach
+gegen jene landl&auml;ufigen Vorw&uuml;rfe, durch die die Gegner
+der Sozialdemokratie sie t&ouml;dlich zu treffen glauben:
+Die Zerst&ouml;rung der Familie, die Propagierung der
+freien Liebe, die Vernichtung der Religion, den blutigen
+Umsturz. Und ich zeigte, wie die wirtschaftliche
+Not es ist, die das Familienleben zerst&ouml;rt, wie
+aus derselben Not die k&auml;ufliche Liebe w&auml;chst, die
+nichts gemein hat mit jener Freiheit der Liebe, die
+wir als die einzige Grundlage echten Familiengl&uuml;ckes
+den Menschen erobern wollen; wie es die Kirche ist und
+der Staat, die die Religion Christi vernichtet haben,
+wie die blutige Revolution nicht von uns, sondern von
+denen vorbereiten wird, die mit Flinten und S&auml;beln
+drohen, die der wehrhaften Jugend befehlen, auch auf
+Vater und Mutter zu schie&szlig;en, die den Ruf hungernder
+Arbeiter um ein paar Pfennige mehr Lohn, um ein
+paar Stunden weniger Arbeitszeit mit Gewehrsalven
+beantworten. Ich sah nichts mehr; zwischen mir und
+den Menschen da unten hingen dichte Schleier. Aber
+ich f&uuml;hlte ihren hei&szlig;en Atem, ich h&ouml;rte mit gesteigerten
+Sinnen ihr St&ouml;hnen, wenn ich ihr Elend malte, ihren
+Beifall, wenn ich von ihren K&auml;mpfen sprach, ihren
+hoffnungsstarken Jubel, wenn ich der Zukunft gedachte,
+die unser sein wird.</p>
+
+<p>Ich schwieg ersch&ouml;pft, &mdash; jetzt erst f&uuml;hlte ich, wie
+der Kopf mir brannte und der Atem nach Luft rang.
+Hundert H&auml;nde streckten sich mir entgegen, als ich
+zitternd die Stufen hinabstieg. Die Masse umdr&auml;ngte
+<a name="Page_186" id="Page_186"></a>mich. Dank, &mdash; Vertrauen, &mdash; Liebe las ich in ihren
+Mienen. Ein paar Frauenrechtlerinnen gingen mit steif
+erhobenen K&ouml;pfen an mir vorbei. Ich l&auml;chelte. Wie
+hatte ich mich nur je &uuml;ber ihre Feindseligkeit gr&auml;men
+k&ouml;nnen?! Ich kam nur langsam vorw&auml;rts. Mit lauter
+Fragen und Bitten wurde ich aufgehalten: &raquo;Nicht
+wahr, Sie sprechen auch bei uns einmal?&laquo; &mdash; &raquo;In
+unserem Kreis?&laquo; &mdash; &raquo;In meiner Gewerkschaft?&laquo; Und
+immer wieder sagte ich freudig ja. Die hier glaubten
+an mich und erwarteten von mir, da&szlig; ich ihnen etwas
+sein k&ouml;nnte. Im dunkeln Saal war mein Herz wieder
+warm und hell geworden.</p>
+
+<p>Wir gingen den weiten Weg durch die Nacht nach
+Haus. Am Kanalufer raschelten die gelben Bl&auml;tter uns
+zu F&uuml;&szlig;en und tanzten wie goldige Schmetterlinge in
+der feuchten Herbstluft.</p>
+
+<p>&raquo;Warum die Menschen trauern, wenn die Bl&auml;tter
+fallen?&laquo; sagte ich. &raquo;Sie machen doch nur den jungen
+Trieben Platz!&laquo; Mein Liebster k&uuml;&szlig;te mich. &raquo;Du, was
+denken die Leute?!&laquo; rief ich lachend und lief ihm davon.
+&raquo;Die Wahrheit!&laquo; sagte er, mich einholend, und
+pre&szlig;te mir die H&auml;nde mit einem starken Griff zusammen.
+&raquo;Da&szlig; wir ein Liebespaar sind!&laquo;</p>
+
+<p>Im Schlafzimmer droben ri&szlig; ich die Kleider vom
+Leibe, in denen der Dunst des Saales noch hing. Das
+rosige Licht der Lampe umflutete mich; meine Augen
+suchten den kleinen Ganymed. Unwillk&uuml;rlich faltete ich
+die H&auml;nde. Auch an diesen Fr&uuml;hling glaubte ich wieder.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_187" id="Page_187"></a></p>
+<h2><a name="Sechstes_Kapitel" id="Sechstes_Kapitel"></a>Sechstes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Goldener Herbst! Ein k&ouml;niglicher Verschwender
+bist du. Deiner Geliebten, der Sonne, gibst
+du in brennenden Farben zur&uuml;ck, was sie an
+Sommerglut der Erde geschenkt hat. Nichts ist dir zu
+gering, um es mit dem Glanz deiner Liebe zu &uuml;bersch&uuml;tten.
+Auf die &ouml;desten Mauern zaubert dein Blick
+jauchzende Melodien von Gelb und Rot. Aus dem
+armen Sand m&auml;rkischen Bodens lockst du der Sonnenblumen
+tropische Pracht hervor und lehrst sie, ihr
+Strahlenangesicht deiner Geliebten anbetend zuzukehren.
+Unter deinem Hauch reifen die Fr&uuml;chte, und schwer von
+Segen neigen sich die &Auml;ste vor dir. Von entbl&auml;tterten
+Bl&uuml;ten tr&auml;gt dein Atem zarte Samenf&auml;den &uuml;ber die
+Wiesen und sch&uuml;ttelt von den alten Eichen die Hoffnung
+kommender Jahre.</p>
+
+<p>Tage, &uuml;ber die der Himmel leuchtet wie fl&uuml;ssiges
+Silber, l&auml;&szlig;t du in N&auml;chten untergehen, die tief und
+dunkel sind, ein zukunftschwangeres Geheimnis.</p>
+
+<p>Nicht wie die jungen M&auml;dchen den Lenz begr&uuml;&szlig;en &mdash; sch&auml;mig
+err&ouml;tend und demutsvoll &mdash; empfing ich dich.
+Ich forderte von dir, erhobenen Hauptes, meinen Anteil
+an deinem Reichtum, F&uuml;rst des Jahres. Und, siehe,
+aus meinem Herzen wuchsen glutrote Blumen, meine<a name="Page_188" id="Page_188"></a>
+Seele wurde zu deinem Saitenspiel, mein Scho&szlig; zum
+Tempel des Lebens &mdash; &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Es kam &uuml;ber mich wie ein einziger gro&szlig;er Feiertag.
+Er duldete nichts Dunkles. Aus den Kammern vertrieb
+ich allen Staub der Vergangenheit, aus Kisten und
+Kasten alles, was moderte. Ich badete meine Augen,
+da&szlig; sie klar und hell wurden und die Welt ihnen in
+einem Glanz erschien, wie sie ihn nie vorher gesehen
+hatten. Wie der Herbstwind am Morgen die Nebel zerstreut,
+so flohen die Sorgen vor dem Sturm meiner
+Seligkeit. Ich ging der Sonne nach. Auch den verlorensten
+ihrer Strahlen fing ich auf und barg ihn in
+der Schatzkammer meiner Seele.</p>
+
+<p>Sonnengesegnet sollte es sein, mein Kind!</p>
+
+<p>Ich war nicht mehr Ich. Das geheimnisvoll neue
+Leben unter meinem Herzen hatte von mir Besitz ergriffen.
+Ich tr&auml;umte nicht mehr meine engen Tr&auml;ume,
+die sich im Kreise um mich selbst bewegten, und lebte
+nicht mehr meiner kleinen Hoffnung, die ihren Bogen
+nur bis zum Friedhofstor des eigenen Daseins spannte.
+Wie Wanderv&ouml;gel flogen meine Tr&auml;ume weit &uuml;ber mein
+Gesichtsfeld hinaus, und die Br&uuml;cke, die die Hoffnung
+baute, verband die Zeit mit der Ewigkeit.</p>
+
+<p>Ich ward mir selbst zum Heiligtum. Ich pflegte
+meinen K&ouml;rper wie der Gl&auml;ubige den Schrein, der das
+Allerheiligste birgt. Und meiner Seele Eingang h&uuml;teten
+goldgepanzerte W&auml;chter; die Sch&auml;rfe ihres Schwertes
+traf jeden b&ouml;sen Gedanken, ihren Speeren entging kein
+niedriges Gef&uuml;hl. Denn mein K&ouml;rper und meine Seele
+n&auml;hrten das neue Leben. Kein Tropfen Giftes durfte
+in ihnen sein.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_189" id="Page_189"></a></p>
+
+<p>Ich w&uuml;nschte mir einen Sohn. Einen, der ein
+F&uuml;hrer und Vork&auml;mpfer werden k&ouml;nnte. Aber
+die Erf&uuml;llung dieses Wunsches schien mir fast
+zu viel des Gl&uuml;cks. Und so dachte ich auch der Tochter &mdash; einer,
+die ein Vollmensch und darum ein echtes Weib
+sein sollte. Von nun an stand Watts Ganymed vor
+meinem Platz auf unserem gro&szlig;en Schreibtisch und neben
+ihm ein s&uuml;&szlig;es, blondes M&auml;delchen nach einem Portr&auml;t
+von Gainsborough. Ich sah von einem zum anderen,
+und tief in mein Herz pr&auml;gten sich die holden Kindergesichter.
+Mein Mann brachte mir t&auml;glich frische Blumen
+f&uuml;r sie. Einmal aber kam er nach Haus und stellte statt
+ihrer ein neues Bild mitten auf den Schreibtisch. Es
+war Meister D&uuml;rers furchtloser Ritter, der seelenruhig,
+im Schritt, den Kopf erhoben, das Auge gradaus gerichtet,
+an allen Schrecken des Daseins vor&uuml;berreitet.</p>
+
+<p>&raquo;La&szlig; kommen die H&ouml;ll, mit mir zu streiten, ich will
+durch Tod und Teufel reiten&nbsp;&mdash;,&laquo; ist sein Wahlspruch.
+&raquo;Wenn's ein Bub wird,&laquo; sagte der Liebste, &raquo;so soll's
+so einer sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du hast recht,&laquo; antwortete ich und dr&uuml;ckte ihm
+z&auml;rtlich die Hand, &raquo;ich habe schon zu viel an das
+Kind und zu wenig an den Mann gedacht,&laquo; dabei
+wies ich l&auml;chelnd auf die Wolken wei&szlig;en Linnens,
+die mich umgaben, und zeigte stolz die ersten winzigen
+Hemdchen, die daraus entstanden waren. Mein Mann
+hatte zuerst von dieser Arbeit nichts wissen wollen. &raquo;Du
+nimmst einer armen N&auml;herin das Brot und hast selbst
+weit Besseres zu tun,&laquo; war seine Ansicht gewesen. Aber
+<a name="Page_190" id="Page_190"></a>zum erstenmal hatte ich ihm widersprochen und meinen
+Willen durchgesetzt. Auf die Stoffe, die meines Kindes
+K&ouml;rper ber&uuml;hren sollten, durften keine Kummertr&auml;nen
+fallen; Mutterliebe mu&szlig;te die Nadel f&uuml;hren, Muttertr&auml;ume
+sich mit jedem Stich hinein verweben. Nun
+kam es freilich vor, da&szlig; ich im &Uuml;bereifer stundenlang
+&uuml;ber der Arbeit sa&szlig; und vernachl&auml;ssigte, was ich sonst
+zu tun hatte. &raquo;Das mu&szlig; anders werden, Heinz,&laquo; sagte
+ich laut und faltete die Leinwand zusammen. &raquo;Auch
+um des Kindes willen darf ich die Welt au&szlig;erhalb unserer
+vier W&auml;nde nicht vergessen, die doch auch seine
+Welt sein wird. Schau, hier ist ein Brief von Wanda
+Orbin&nbsp;&mdash;,&laquo; ich reichte ihn meinem Mann hin&uuml;ber, der
+sich an den Schreibtisch gesetzt hatte; &raquo;sie beklagt sich,
+weil ich zu wenig f&uuml;r die &#8250;Freiheit&#8249; schreibe; hier sind
+eine Reihe Aufforderungen zu Vortr&auml;gen, &mdash; ich war
+nahe daran, sie ablehnend zu beantworten&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und hier,&laquo; unterbrach er mich, &raquo;habe ich B&uuml;cher,
+die deiner Besprechung harren. An den Artikel, den
+du mir f&uuml;r mein Archiv versprochen hast, will ich schon
+gar nicht erinnern&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich stand auf und reckte mich mit einem Gef&uuml;hl tiefen
+Wohlbefindens. &raquo;Du wirst ihn bekommen! Ich verstehe
+nicht recht, warum so viele Frauen jammern, wenn
+sie guter Hoffnung sind. Ich f&uuml;hle Kraft f&uuml;r zwei!&laquo;</p>
+
+<p>Und mit Feuereifer st&uuml;rzte ich mich in die Arbeit,
+die ich nur stundenweise unterbrach, um frische Luft zu
+sch&ouml;pfen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_191" id="Page_191"></a></p>
+
+<p>Ich sollte mir t&auml;glich Bewegung machen und
+vermied den nahen Tiergarten, weil ich den
+Eltern zu begegnen f&uuml;rchtete. Ich wu&szlig;te: mein
+Herz w&uuml;rde sich schmerzhaft zusammenkrampfen, und
+ich wollte mich jetzt nicht gr&auml;men. So fuhren wir denn
+fast immer in den Grunewald und wanderten um die
+stillen Seen, die zwischen entlaubten B&auml;umen und schwarzen
+Kiefern dem Winter entgegentr&auml;umten, oder gingen
+auf den gepflegten Wegen der jungen Kolonie,
+all die vielen Villen betrachtend, die rascher als die
+Mietskasernen auf dem Kurf&uuml;rstendamm aus der Erde
+wuchsen. Sie waren anders als die, die noch vor
+wenigen Jahren entstanden waren, &mdash; heller, freundlicher.
+Die verlogenen Butzenscheibenerker und die altdeutschen
+Spr&uuml;che &uuml;ber den T&uuml;ren verschwanden mehr
+und mehr. Die Zeit wurde selbstbewu&szlig;ter und sch&auml;mte
+sich der erborgten Formen vergangener Jahrhunderte.
+Oft freilich sahen wir halb staunend, halb lachend
+H&auml;user, die aus lauter Originalit&auml;tssucht absurd geworden
+waren. Aber auch das war im Grunde nichts
+anderes, als der tolle Ausbruch &uuml;bersch&auml;umender Jugendkraft,
+und wenn mein Mann spotten wollte, erinnerte
+ich an Goethes Wort: Es ist besser, da&szlig; ein junger
+Mensch auf eigenem Wege irre geht, als da&szlig; er auf
+fremdem recht wandelt.</p>
+
+<p>Heute blieben wir in Schauen versunken vor einem
+H&auml;uschen stehen, das aus dem M&auml;rchenbuch ins
+Leben versetzt zu sein schien: ein tiefes Dach hing
+sch&uuml;tzend &uuml;ber den von rotem Weinlaub dicht um<a name="Page_192" id="Page_192"></a>sponnenen
+W&auml;nden, hinter kleinen blitzenden Fenstern
+hingen wei&szlig;e Vorh&auml;nge, auf den braunen Holzaltanen
+bl&uuml;hten noch rote Geranien, und davor auf dem glatten
+Rasenteppich warf ein kleiner Knabe jauchzend den
+bunten Ball in die helle Herbstluft. &raquo;Wenn doch mein
+Kind wie dieses in Wald und Garten wachsen k&ouml;nnte,&laquo;
+dachte ich. &raquo;Solch ein Haus m&ouml;cht' ich euch bauen,
+dir und dem Kinde,&laquo; sagte Heinrich im gleichen Augenblick.
+Ich lachte ein wenig gezwungen. &raquo;Wie sollte
+das m&ouml;glich sein, wo unsere Mietwohnung f&uuml;r uns
+schon zu teuer ist!&laquo; &raquo;Wenn wir Zinsen statt Miete zu
+zahlen h&auml;tten&nbsp;&mdash;,&laquo; meinte er nachdenklich; &raquo;Hall hat in
+dieser Weise schon mancher Familie die M&ouml;glichkeit verschafft,
+im eigenen H&auml;uschen und im Freien zu wohnen!&laquo;
+Wir gingen schweigsam weiter, nur hier und da fiel
+eine Bemerkung, die mir zeigte, das er denselben Gedanken
+weiter spann.</p>
+
+<p>Am Wildgatter nach Hundekehle holte uns eine gro&szlig;e
+Gesellschaft junger Radler ein; ihre blanken R&auml;der
+blitzten, knapp und elegant schmiegten sich die Sportanz&uuml;ge
+neuster Mode um die schlanken Gestalten. &raquo;Ist
+das nicht&nbsp;&mdash;,&laquo; rief ich unwillk&uuml;rlich, und mein Herz
+klopfte rascher, aber schon wandte das reizende M&auml;dchen,
+das dicht an mir vorbei geflogen kam, dunkelerr&ouml;tend
+den Kopf zur Seite. &raquo;Ilse, &mdash; kein Zweifel,&laquo; antwortete
+Heinrich. &raquo;Und sie gr&uuml;&szlig;t mich nicht einmal!&laquo;
+Tr&auml;nen verdunkelten mir den Blick. &raquo;Wollen wir umkehren?&laquo;
+frug mein Begleiter sanft und zog meinen
+Arm fest durch den seinen. &raquo;Nein,&laquo; entgegnete ich und
+versuchte zu l&auml;cheln; &raquo;sie kann ja nichts daf&uuml;r, die
+Kleine! Sie darf mich nicht kennen.&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_193" id="Page_193"></a>Unten vor dem Wirtshaus standen die R&auml;der. Wir
+wollten gerade links einbiegen, den Weg nach Paulsborn,
+der f&uuml;r uns so reich war an Erinnerungen, als
+Ilse, nach einem Augenblick des Z&ouml;gerns, quer &uuml;ber die
+Stra&szlig;e zu uns her&uuml;berlief. Sie umarmte mich st&uuml;rmisch.</p>
+
+<p>&raquo;Sei nicht b&ouml;se, Schwester,&laquo; rief sie atemlos und zog
+mich tiefer in den Wald hinein. &raquo;Sie w&uuml;rden mich zu
+Hause verraten, wenn ich dich gegr&uuml;&szlig;t h&auml;tte.&laquo; Z&auml;rtlich
+streichelte ich ihr das erhitzte Gesicht und dr&uuml;ckte ihr
+kleines H&auml;ndchen, das immer noch so weich und zart
+war, so unf&auml;hig zuzupacken und festzuhalten.</p>
+
+<p>&raquo;Die Eltern wollen nichts von mir wissen?&laquo; fragte ich
+zaghaft.</p>
+
+<p>&raquo;Wir reden viel von dir, Mama und ich,&laquo; antwortete
+sie, &raquo;aber vor Papa d&uuml;rfen wir deinen Namen nicht
+nennen. Trotzdem wei&szlig; ich, da&szlig; er sich bangt nach
+dir,&laquo; f&uuml;gte sie rasch hinzu, als sie sah, wie ich ersch&uuml;ttert
+war. &raquo;Wir holen ihn manchmal vom Kasino ab;
+wenn wir &uuml;ber den L&uuml;tzowplatz fahren, l&auml;&szlig;t er deine
+Fenster nicht aus den Augen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und Mama, sagst du, spricht von mir?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja. Sie hatte zuerst des Morgens rote Augen, aber
+jetzt ist sie ruhig. Es qu&auml;lt sie nur, glaube ich, da&szlig;
+sie nicht wei&szlig;, ob &mdash; ob&nbsp;&mdash;,&laquo; sie err&ouml;tete, ein forschender
+Blick glitt &uuml;ber meine Gestalt.</p>
+
+<p>Hei&szlig; str&ouml;mte es mir zum Herzen, mein ganzes, reiches
+Gl&uuml;ck &uuml;berkam mich, und alles Erinnerungsweh verschwand
+vor ihm. &raquo;Gr&uuml;&szlig;e Mama,&laquo; sagte ich weich,
+&raquo;und sage ihr, da&szlig; ich guter Hoffnung bin.&laquo; Ihre
+Hand l&ouml;ste sich aus der meinen, ein Schatten schien
+&uuml;ber ihre Z&uuml;ge zu huschen, etwas Fremdes stand auf
+<a name="Page_194" id="Page_194"></a>einmal unsichtbar zwischen uns. &raquo;Ich mu&szlig; fort, &mdash; sie
+suchen mich sonst, &mdash; lebwohl &mdash;&nbsp;&mdash;!&laquo; und schon war
+sie wieder jenseits der Stra&szlig;e.</p>
+
+<p>&raquo;Verstehst du das?&laquo; fragte ich meinen Mann, der die
+ganze Zeit mit gerunzelter Stirn neben uns gestanden
+hatte, und sah ihr kopfsch&uuml;ttelnd nach. &raquo;Nein,&laquo; sagte
+er, &raquo;sie scheint mir aus Widerspr&uuml;chen zusammengesetzt,
+deine Schwester.&laquo;</p>
+
+<p>Auf dem R&uuml;ckweg ertappten wir uns gegenseitig bei
+einem verstohlenen, sehns&uuml;chtigen Blick nach dem weinumsponnenen
+H&auml;uschen mit dem tiefen Dach dar&uuml;ber.
+Der Rasenplatz war leer. Ob der Kleine da oben
+hinter den zugezogenen wei&szlig;en Vorh&auml;ngen schlummern
+mochte? Und ich tr&auml;umte, w&auml;hrend wir heimw&auml;rts fuhren,
+offenen Auges einen gar s&uuml;&szlig;en Traum.</p>
+
+<p>Mein Herz war heut &uuml;bervoll. Als ich abends bei
+den Knaben sa&szlig;, um ihre Arbeiten zu beaufsichtigen,
+f&uuml;hlte ich st&auml;rker als sonst, wie wenig ich sie eigentlich
+kannte. Sie waren nachmittags wie gew&ouml;hnlich im
+Zoologischen Garten gewesen. Es kam mir wie ein Unrecht
+vor, da&szlig; ich sie dort allein lie&szlig;; ich wu&szlig;te nicht,
+was sie h&ouml;rten und sahen, welchen Einfl&uuml;ssen sie inmitten
+der verdorbenen Gro&szlig;stadtjugend unterliegen
+mochten. Und doch, nicht m&ouml;glich w&auml;re es gewesen, so
+gro&szlig;e Jungen auf Schritt und Tritt unter Aufsicht zu
+halten.</p>
+
+<p>Ihr Verh&auml;ltnis zueinander war kein br&uuml;derliches, sie
+klagten sich h&auml;ufig gegenseitig bei mir an, &mdash; das einzige
+Mittel, wodurch ich etwas von ihnen zu erfahren bekam.
+H&auml;tte ich doch ihr volles Vertrauen besessen!
+Aber freilich: ich hatte kein Recht darauf; f&uuml;r sie stand
+<a name="Page_195" id="Page_195"></a>ich nicht einmal an Stelle der Mutter, denn sie lebte
+noch. Je erfolgloser mein Bem&uuml;hen gewesen war,
+ihnen n&auml;her zu kommen, desto unbegreiflicher war
+es mir, da&szlig; die Mutter sich hatte von ihnen trennen
+k&ouml;nnen. Ein Kind bedarf der Mutter, die es besser
+versteht, als es sich selbst verstehen kann. Tiefes
+Mitleid ergriff mich mit den beiden Buben, aber
+ein noch tieferes fast mit ihrer Mutter. Welch Schicksal
+mu&szlig;te sie getroffen haben, da&szlig; sich ihr Herz so hatte
+verh&auml;rten k&ouml;nnen? Heinrich sprach nicht gern von ihr;
+und meinen Gedanken, ihr zu schreiben, um wenigstens
+in bezug auf die Erziehung der Kinder im Einvernehmen
+mit ihr zu handeln, hatte er schroff und &auml;rgerlich als
+einen ganz t&ouml;richten und zwecklosen zur&uuml;ckgewiesen. Ich
+hatte ihn trotzdem ausgef&uuml;hrt &mdash; heimlich, um ihn nicht
+zu &auml;rgern. Da wir aber im &Uuml;berschwang unseres jungen
+Ehegl&uuml;cks einander gestattet hatten, unsere Briefe gegenseitig
+zu &ouml;ffnen, so las er ihre Antwort: ein paar k&uuml;hle
+hochm&uuml;tige Zeilen, im Tone der Herrin gegen&uuml;ber der
+Gouvernante. Heinrich war damals ernstlich b&ouml;se geworden,
+und &mdash; was mir am tiefsten in die Seele
+schnitt &mdash; traurig dazu. &raquo;Ich kann alles vertragen,&laquo;
+hatte er gesagt, &raquo;nur eins nicht: da&szlig; du unehrlich bist
+mir gegen&uuml;ber. Ich mu&szlig; dir unbedingt vertrauen k&ouml;nnen,
+sonst ist unsere Ehe keine mehr.&laquo; Seitdem hatte ich die
+kaum begonnene Korrespondenz wieder abgebrochen, und
+die Br&uuml;cke zum Herzen der Kinder, auf die ich gehofft
+hatte, blieb ungebaut. Und nun kam es pl&ouml;tzlich wie
+eine Erleuchtung &uuml;ber mich: ich wu&szlig;te, womit ich sie
+w&uuml;rde gewinnen k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>&raquo;Erz&auml;hl uns was,&laquo; bettelte Wolfgang wie immer,
+<a name="Page_196" id="Page_196"></a>wenn er aufatmend die Schulb&uuml;cher zuschlug. &raquo;Gleich!&laquo;
+antwortete ich l&auml;chelnd, und ging hinaus, um mit dem
+Korb voll wei&szlig;er Leinwand wiederzukommen.</p>
+
+<p>&raquo;Was meint ihr wohl, was das ist?&laquo; fragte ich und hielt ein
+kleines Hemdchen hoch, soda&szlig; das Licht der Lampe rosig
+hindurchschimmerte. Sie rissen erstaunt die Augen auf.
+&raquo;Eurem Br&uuml;derchen oder eurem Schwesterchen geh&ouml;rt
+es, das ihr bekommen werdet. Habt ihr die Eicheln
+gesehen, die von den B&auml;umen fallen? Wenn die Erde
+sie aufnimmt, und weich und warm einh&uuml;llt, damit der
+Winter ihnen nichts B&ouml;ses tun kann, so wachsen im
+Fr&uuml;hling junge B&auml;umchen daraus&nbsp;... Und ein Vogelei
+kennt ihr doch auch? Da ist zuerst gar nichts drin, wie
+eine wei&szlig;liche Fl&uuml;ssigkeit. Wenn's aber eingebettet im
+Nestchen liegt, und die Henne es mit ihrem Leib bedeckt,
+dann entwickelt sich zuerst die gelbe Dotter und
+aus ihr ein winziger lebendiger Vogel. Sobald er
+gro&szlig; genug ist, zerbricht er das Ei und ist da! Wir
+sind so sehr daran gew&ouml;hnt, da&szlig; wir uns des gro&szlig;en
+Wunders gar nicht mehr bewu&szlig;t werden, &mdash; eines
+Wunders, das viel unfa&szlig;licher ist, als wenn der Storch
+die kleinen Kinder br&auml;chte, wie man es fr&uuml;her zu erz&auml;hlen
+pflegte.&laquo; Ich machte eine Pause; meine Zuh&ouml;rer
+r&uuml;hrten sich nicht, und ich hatte nicht den Mut aufzusehen.
+Wu&szlig;te ich doch nicht, was f&uuml;r Blicken ich begegnen
+w&uuml;rde. &raquo;Euch ist vielleicht auch einmal das
+M&auml;rchen vom Storch zu Ohren gekommen,&laquo; fuhr ich
+leiser fort, &raquo;es ist dumm und albern! Die Wahrheit
+ist tausendmal sch&ouml;ner: wie die Eichel im Scho&szlig; der
+Erde, ruht der Menschensamen im Mutterleib, und wie
+das V&ouml;gelchen sich entwickelt, so entwickelt sich das Kind,
+<a name="Page_197" id="Page_197"></a>nur da&szlig; die Menschenmutter das Ei unter dem Herzen
+tr&auml;gt, bis es zerspringt und das junge Leben geboren
+wird.&laquo; Ich schwieg wieder; es war so still, da&szlig; ich
+h&auml;tte meinen k&ouml;nnen, ich w&auml;re allein im Zimmer. &raquo;Weil
+ich euch lieb habe, euch beide&nbsp;&mdash;,&laquo; fl&uuml;sterte ich und senkte
+den Kopf tief auf die Arbeit, die meine zitternden H&auml;nde
+hielten, &mdash; &raquo;darum mag ich euch nicht bel&uuml;gen, darum
+will ich euch anvertrauen, was mein gl&uuml;ckseliges Geheimnis
+ist: ich werde auch ein Kind bekommen!&laquo;</p>
+
+<p>Eine beklemmende Stille; ich konnte die Nadel h&ouml;ren,
+wenn sie den Stoff durchstach. Endlich sah ich empor. Die
+K&ouml;pfe gesenkt, mit dunkelroten Wangen sa&szlig;en die Knaben
+vor mir. Ein rascher scheuer Blick traf mich aus Wolfgangs
+hellen Augen, um seine Lippen zuckte es. Waren
+es verhaltene Tr&auml;nen, oder war es am Ende gar &mdash; Spott?
+Hans rutschte vom Stuhl auf die Erde und
+machte sich, abgewandt von mir, an seiner Dampfmaschine
+zu schaffen. Ich wu&szlig;te nur zu gut, wie verdorbene
+Kinder das Geheimnis des Lebens ihren Schulkameraden
+zu erkl&auml;ren pflegen: mit l&uuml;sternen Augenzwinkern,
+mit der Freude am Schmutz. Hatten sie es
+so erfahren?! Mir stieg die Schamr&ouml;te bis unter die
+Haarwurzeln. Oder hatten sie, w&auml;hrend ich sprach,
+ihrer Mutter gedacht, hatten pl&ouml;tzlich empfunden, da&szlig;
+ich sie nicht so w&uuml;rde lieben k&ouml;nnen wie mein eigenes
+Kind? Ich seufzte tief auf. So war auch das vergebens
+gewesen; statt eine Schranke einzurei&szlig;en, hatte
+ich eine neue errichtet. Ich begegnete ihnen von nun
+an mit doppelter Z&auml;rtlichkeit; ich suchte ihre W&uuml;nsche
+zu erf&uuml;llen, noch ehe sie laut wurden. Aber ihre Scheu
+&uuml;berwand ich nicht.</p>
+
+<p><a name="Page_198" id="Page_198"></a>Vor Heinrich lie&szlig; ich mir nicht merken, was in mir
+vorging. Er h&auml;tte mich mi&szlig;verstehen, h&auml;tte glauben
+k&ouml;nnen, da&szlig; ich seine Bitte, die Kinder lieb zu haben,
+nicht zu erf&uuml;llen verm&ouml;chte, &mdash; dachte ich. Auch war er
+den Kindern gegen&uuml;ber oft so reizbar, da&szlig; ich M&uuml;he
+hatte, ihn zu bes&auml;nftigen. Das Verlangen, mit mir
+allein zu sein, &auml;u&szlig;erte er zuweilen in einer, wie mir
+schien, f&uuml;r die unschuldigen Buben empfindlichen Weise.
+Ich lenkte ein, &mdash; ich deckte zu, &mdash; ich versteckte mein
+eigenes Empfinden, das in derselben Sehnsucht gipfelte
+wie das seine. Wie viele warme Worte und hei&szlig;e
+Blicke und zarte kleine Aufmerksamkeiten, die wie ein
+holder Fr&uuml;hlingsflor den Garten junger Ehe schm&uuml;cken,
+wagten sich vor den fremden Augen der Kinder nicht
+ans Tageslicht. Auch &uuml;ber das Gl&uuml;ck meiner Mutterhoffnung
+mu&szlig;t' ich vor ihnen einen Schleier ziehen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wir lebten damals ganz still. Von geselligem
+Verkehr war selten die Rede. Wir
+scheuten noch immer unliebsame Begegnungen,
+und unsere Zur&uuml;ckhaltung, die mir als Hochmut
+ausgelegt wurde, steigerte nur unsere Isoliertheit. Es
+kam vor, da&szlig; wir im Theater zwischen lauter alten Bekannten
+sa&szlig;en und uns doch wie auf einsamer Insel
+mitten im Meer befanden. Man musterte uns neugierig,
+man tuschelte &uuml;ber uns, man gr&uuml;&szlig;te bestenfalls,
+und ich setzte dazu meine abweisendste Miene auf, um
+den Menschenhunger, der mich manchmal &uuml;berfiel, nicht
+merken zu lassen.</p>
+
+<p>Zuweilen besuchten uns die Mitarbeiter an meines<a name="Page_199" id="Page_199"></a>
+Mannes Zeitschrift: National&ouml;konomen, Juristen und
+Politiker aus aller Herren L&auml;nder, die er mit dem
+ihm eigenen redaktionellen Geschick unter einen Hut zu
+bringen gewu&szlig;t hatte, und die, &mdash; mochten sie sonst
+in ihren Ansichten noch so weit auseinander gehen, &mdash; unter
+seiner F&uuml;hrung gemeinsam am selben Strange
+zogen.</p>
+
+<p>&raquo;Ihr Mann ist ein wahres Redaktionsgenie!&laquo; sagte mir
+einmal einer von ihnen, nachdem er sich nach langer
+Debatte doch wieder unterworfen hatte, halb &auml;rgerlich,
+halb bewundernd. &raquo;Meist erdr&uuml;cken die Autoren den
+Redakteur, er nimmt dankbar, was &#8250;bew&auml;hrte Mitarbeiter&#8249;
+ihm bringen und ist eigentlich nur ihr Gesch&auml;ftsf&uuml;hrer.
+Ihr Mann aber zwingt uns in seinen
+Dienst wie ein Feldherr seine Soldaten. Wenn er
+will, so m&uuml;ssen wir alles andere stehen und liegen lassen,
+uns hinsetzen, die Feder ergreifen und den gew&uuml;nschten
+Aufsatz schreiben.&laquo;</p>
+
+<p>Ich freute mich jedesmal dieser G&auml;ste; denn mochten
+sie von Ru&szlig;land oder Frankreich, von England oder
+Italien kommen, &mdash; eins war ihnen gemeinsam: Tatkraft
+und Hoffnungsfreudigkeit. Ganz richtig &auml;u&szlig;erte
+sich einer &uuml;ber diese innere Einheit, wenn er sagte:
+&raquo;Wir sind Leute mit der Devise &#8250;Ja, also!&#8249;, im
+Gegensatz zu der &auml;lteren Generation der kathedersozialistischen
+National&ouml;konomen, die die M&auml;nner des &#8250;Ja,
+aber!&#8249; gewesen sind.&laquo; Sie zogen die Konsequenzen ihrer
+wissenschaftlichen Erkenntnis und traten r&uuml;ckhaltlos auf
+Seite der Arbeiter in Fragen des Arbeiterschutzes. In
+ihnen sah ich starke Verb&uuml;ndete der Sozialdemokratie,
+und es schien mir kein Zweifel, da&szlig; die Logik der inneren<a name="Page_200" id="Page_200"></a>
+Entwicklung und der &auml;u&szlig;eren Geschehnisse sie schlie&szlig;lich
+zu ihren offenen Parteig&auml;ngern w&uuml;rde machen m&uuml;ssen.</p>
+
+<p>Aber noch eine andere Tatsache unterst&uuml;tzte meinen
+Glauben an den Fortschritt sozialer Erkenntnis: die
+Gr&uuml;ndung der nationalsozialen Partei.</p>
+
+<p>Sie war eben in Frankfurt zur Welt gekommen und
+getauft worden; sie hatte im Rausch der Festesfreude
+freilich den Mund sehr vollgenommen, wie das nun
+einmal in solcher Situation deutsche Art zu sein pflegt:
+&raquo;Wir stehen als Erben vor der T&uuml;re der Sozialdemokratie,&laquo;
+hatte G&ouml;hre erkl&auml;rt. &raquo;Wir stellen uns an die
+Spitze der Arbeiterbewegung, denn die Zeit der Sozialdemokratie
+ist um,&laquo; hatte Sohm ihm sekundiert. Aber
+solche rednerischen Entgleisungen, die unsere Parteipresse
+mit einem &uuml;bertriebenen Pathos r&uuml;gte, statt &uuml;ber sie zu
+l&auml;cheln, wogen leicht gegen&uuml;ber dem Handeln dieser
+M&auml;nner und Frauen: sie anerkannten die Gegenwartsforderungen
+der Sozialdemokratie, sie stellten sich, bei
+aller Betonung nationaler Gesinnung, in bewu&szlig;tem
+Gegensatz zur Regierung, die die sozialen Pastoren ma&szlig;regeln
+lie&szlig;, &mdash; zum Kaiser, der ihre Bestrebungen f&uuml;r
+str&auml;flichen Unsinn erkl&auml;rte.</p>
+
+<p>Ein Ereignis trat ein, das vollends zwischen rechts
+und links wie Scheidewasser wirken sollte: der Hafenarbeiterstreik
+in Hamburg. Hatte wenige Jahre vorher
+die Cholera die Augen der ganzen Welt auf die gr&auml;&szlig;lichen
+Elendsquartiere der reichen Kaufmannsstadt gerichtet,
+so zeigte sich jetzt, da&szlig; selbst ihr Schrecken nicht
+imstande gewesen war, die Brutst&auml;tten des Todes aus
+der Welt zu schaffen. Noch hausten zwanzig Prozent
+ihrer Bewohner dicht zusammengedr&auml;ngt in winzigen<a name="Page_201" id="Page_201"></a>
+R&auml;umen und engen Gassen, &mdash; zu f&uuml;nft in einem Zimmer,
+zu neun in zweien! Und zu diesen geh&ouml;rten vor allem
+die Hafenarbeiter, die bei schwerer Arbeit, die sie oft
+Tag und Nacht nicht los lie&szlig;, nicht genug verdienten,
+um sich auch nur in Frieden ausruhen und frische Arbeitskr&auml;fte
+sammeln zu k&ouml;nnen. Der Eindruck der Tatsachen,
+die der Streik enth&uuml;llte, war ein ungeheurer,
+und die Haltung der Hamburger Reeder, die sich allen
+Einigungsversuchen der Arbeiterorganisationen widersetzten
+und einen Kampf um ein paar Groschen mehr
+Lohn zu einem Kampf um ihre Macht erweiterten, emp&ouml;rte
+jeden, der vorurteilslos zu denken vermochte. In
+h&ouml;herem Ma&szlig;e als zur Zeit des Konfektionsarbeiterstreiks
+nahm die &Ouml;ffentlichkeit Partei f&uuml;r die Arbeiter,
+gef&uuml;hrt von den jungen sozialpolitischen Professoren
+und der nationalsozialen Partei. Das waren, so schien
+mir, Symptome f&uuml;r das Erwachen eines Geistes, der
+nicht mehr zu bannen sein w&uuml;rde. Und die Haltung
+der Gegner bekr&auml;ftigte meine Auffassung: Kleine Nadelstiche,
+wie die Ausweisungen englischer Arbeiterf&uuml;hrer,
+die, um Frieden zu stiften, nach Hamburg gekommen
+waren, &mdash; schroffe Erkl&auml;rungen der Reichsregierung
+gegen die Streikenden, &mdash; von ihr unwidersprochene
+Ausspr&uuml;che, wie die des alten Reaktion&auml;rs Kardorff im
+Reichstag: &raquo;Ich freue mich, da&szlig; man von den bedenklichen
+Wegen des Erlasses von 1890 jetzt abgekommen
+ist,&laquo; &mdash; W&uuml;nsche eines Stumm und seiner Gesinnungsgenossen,
+die zur Bek&auml;mpfung staatsgef&auml;hrlicher Umtriebe
+eine &Auml;nderung der Vereinsgesetze forderten, &mdash; waren
+das alles nicht Zeichen der Angst und der Schw&auml;che?
+Und war nicht die Wandlung, die der Kaiser seit seinen
+<a name="Page_202" id="Page_202"></a>sozialpolitischen Erlassen durchgemacht hatte, ein unbewu&szlig;tes
+Eingest&auml;ndnis schwindenden Einflusses? Erf&uuml;llt
+von seinem Gottesgnadentum, durchtr&auml;nkt von der Vorstellung,
+die Tradition und Erziehung den F&uuml;rsten unausl&ouml;schlich
+einpr&auml;gt: da&szlig; das Volk ihnen gegen&uuml;ber
+im Verh&auml;ltnis des Kindes zum Vater steht, hatte er ein
+sozialer Kaiser sein wollen, indem er der Arbeiterschaft
+als Geschenk brachte, was ihm gut schien f&uuml;r sie. Als
+sie es ihm nicht dankte, als sie Rechte forderte, statt
+Gnaden zu erbitten, sie sogar mit Gewalt ertrotzen wollte, &mdash; da
+wurde der in seiner Autorit&auml;t verletzte F&uuml;rst zum
+z&uuml;rnenden, strafenden Vater. Und derselbe Kaiser, der
+1890 f&uuml;r die Schaffung von Schiedsgerichten eintrat, stellte
+sich 1896 auf die Seite der Hamburger Reeder und forderte
+die Vereinigung aller Arbeitgeber gegen die Arbeiter.</p>
+
+<p>Um diese Zeit besuchte uns mein alter Freund Professor
+Tondern, der ein stiller Gelehrter irgendwo an
+einer Provinzuniversit&auml;t geworden war, und den ich f&uuml;r
+unsere Sache fast schon aufgegeben hatte. Er war zur
+Zeit des Streiks in Hamburg gewesen, und mein Mann
+hatte ihn f&uuml;r das Archiv zu einer Arbeit dar&uuml;ber aufgefordert.
+Statt aller Antwort kam er selbst, ganz erf&uuml;llt
+von dem Erlebten.</p>
+
+<p>&raquo;Da bilden wir uns nun wer wei&szlig; wie viel auf
+unsere Bildung, unsere alte Kultur ein,&laquo; sagte er, &raquo;und
+m&uuml;ssen angesichts solcher K&auml;mpfe besch&auml;mt eingestehen,
+da&szlig; wir mit all dem lumpigen R&uuml;stzeug ihren Forderungen
+gegen&uuml;ber j&auml;mmerlich Schiffbruch leiden w&uuml;rden,
+w&auml;hrend die in Elend und Unwissenheit Aufgewachsenen
+sich wie Helden bew&auml;hren. Sie h&auml;tten nur sehen sollen,
+wie tapfer die Frauen, vom kleinen M&auml;dchen bis zum
+<a name="Page_203" id="Page_203"></a>steinalten M&uuml;tterchen, ihren V&auml;tern und S&ouml;hnen zur
+Seite standen. Da steckt ungebrochene Jugendkraft&nbsp;&mdash;&laquo;
+Er brach seufzend ab.</p>
+
+<p>&raquo;Zeugt die arbeiterfreundliche Haltung gewisser b&uuml;rgerlicher
+Kreise nicht auch daf&uuml;r?&laquo; fragte ich.</p>
+
+<p>Er sch&uuml;ttelte heftig den Kopf, da&szlig; die d&uuml;nn gewordenen
+roten Haarstr&auml;hnen flogen. &raquo;Immer noch die
+alte Optimistin!&laquo; murmelte er. &raquo;Zu einem guten Teil
+haben Sie freilich recht&nbsp;&mdash;&laquo; f&uuml;gte er dann laut hinzu.
+&raquo;Der Streik hat die Verschlafenen aufger&uuml;ttelt, hat die
+sozialpolitischen Probleme wieder in den Flu&szlig; der Diskussion
+gebracht, hat die brennende Feindschaft, die der
+Generalstab des Kapitals, das hei&szlig;t das Kapital in
+seiner bedrohten politischen Machtsph&auml;re gegen die freie
+Wissenschaft empfindet, zu hellen Flammen werden lassen, &mdash; und
+das kann dem echten, dem kritischen wissenschaftlichen
+Geist nur heilsam sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Diese Feindschaft mu&szlig; aber auch mehr und mehr zu
+uns her&uuml;bertreiben,&laquo; entgegnete ich.</p>
+
+<p>&raquo;Zur Sozialdemokratie? Nein! Erinnern Sie sich
+unserer Haltung nach der frankfurter Tagung der
+Ethischen Gesellschaft? &mdash; Seitdem hat sich f&uuml;r uns
+nichts ver&auml;ndert. Wir sind sogar nur noch fester an
+die Staatskrippe, und damit an den Dienst der kapitalistischen
+Gesellschaft geschmiedet, weil unsere Kinder inzwischen
+gr&ouml;&szlig;er und anspruchsvoller wurden. Eine Ausnahme,
+wie Sie, best&auml;tigt nur die Regel. Marx hat
+keine gr&ouml;&szlig;ere Wahrheit ausgesprochen als die, da&szlig; die
+gesellschaftliche Umwandlung nur das Werk der Arbeiterklasse
+sein kann.&laquo;</p>
+
+<p>Er stand auf. &raquo;Ich mu&szlig; eilen, &mdash; meine Frau wartet
+<a name="Page_204" id="Page_204"></a>auf mich,&laquo; sagte er hastig, und strich sich gleich darauf
+mit einer verlegen ungeschickten Bewegung den roten
+Bart. Ich verstand. Es war gewisserma&szlig;en nur ein
+Gesch&auml;ftsbesuch gewesen. Mit Damenbesuchen wurde
+ich nicht verw&ouml;hnt! Er sch&uuml;ttelte meinem Mann die
+Hand: &raquo;Sie bekommen den Aufsatz in sp&auml;testens vierzehn
+Tagen.&laquo; Dann wandte er sich abschiednehmend zu
+mir: &raquo;Sie d&uuml;rfen mir auch die Hand geben. Meine
+Stellung zu Alix Brandt ist genau dieselbe geblieben
+wie zu Alix von Glyzcinski.&laquo;</p>
+
+<p>Kurze Zeit darauf meldete sich einer der geistvollsten
+Archiv-Mitarbeiter, Professor Romberg, bei uns an. Ich
+sah ihm mit gespannter Erwartung entgegen, denn ihm
+war ein Buch vorausgegangen, das ihn wie ein Herold
+mit Fanfarenst&ouml;&szlig;en angek&uuml;ndigt hatte. Ein schmaler
+roter Band war es nur, aber das Wort &raquo;Sozialismus&laquo;
+prangte in goldenen Lettern darauf, und sein Inhalt
+war nichts anderes als eine Verteidigung der Lehren
+von Karl Marx, als eine Anerkennung der sozialdemokratischen
+Arbeiterbewegung. Das Katheder eines wohlbestallten
+ordentlichen preu&szlig;ischen Universit&auml;tsprofessors
+hatte sich der Verfasser wohl auf immer verscherzt, aber
+eine Zuh&ouml;rerschaft hatte er sich erobert, aus der f&uuml;r die Sache
+des Sozialismus eine gro&szlig;e Gefolgschaft werden mu&szlig;te.</p>
+
+<p>Mein Mann l&auml;chelte &uuml;ber meinen Enthusiasmus, er
+spielte sogar ein wenig den Eifers&uuml;chtigen, als ich zum
+Empfang dieses Gastes ganz besondere Vorkehrungen
+traf, den Tisch mit buntem Herbstlaub schm&uuml;ckte und
+eine Flasche Wein besorgen lie&szlig;, &mdash; zum erstenmal seit
+unserer Hochzeitsfeier.</p>
+
+<p>Als er eintrat, hatte ich jene seltsame Empfindung,
+<a name="Page_205" id="Page_205"></a>die ich als Kind besonders h&auml;ufig gehabt hatte: da&szlig;
+mir derselbe Mann in derselben Situation schon einmal
+begegnet war; selbst die gleichg&uuml;ltige Begr&uuml;&szlig;ungsphrase
+und der Ton seiner Stimme dabei war mir bekannt,
+ehe er sie aussprach. Im ersten Augenblick war ich
+verwirrt und &uuml;berlie&szlig; Heinrich die Unterhaltung,
+dann musterte ich den Gast, und dabei verwischte sich
+das Gef&uuml;hl langen Bekanntseins wieder, &auml;hnlich wie
+ein Traum uns um so gewisser entgleitet, je mehr wir
+&uuml;ber ihn nachdenken. Diesen gro&szlig;en, tiefbr&uuml;netten Mann
+mit den lebhaften braunen Augen und der hochgew&ouml;lbten
+Stirn hatte ich gewi&szlig; noch nie gesehen. War es Sympathie,
+die ich f&uuml;r ihn empfand? Der dunkle Bart beschattete
+dicke Lippen, die von stark entwickelter Sinnlichkeit
+zeugten, die gro&szlig;en H&auml;nde mit den breiten Fingerkuppen
+und den abgebrochenen N&auml;geln widersprachen der
+vornehmen Eleganz seiner schlanken Gestalt. Aber diese
+Mischung von Roheit und alter Kultur pr&auml;destinierte
+ihn vielleicht gerade f&uuml;r die Rolle eines F&uuml;hrers der
+&ouml;ffentlichen Meinung, die er, unserer Ansicht nach, zu
+spielen bestimmt war.</p>
+
+<p>In einer Rede, die von Geist und Wissen spr&uuml;hte,
+setzte er meinem Mann die Ideen auseinander, die er
+in einer Abhandlung f&uuml;r das Archiv zusammenfassen
+wollte. &raquo;Wir m&uuml;ssen der Sozialpolitik die Kr&uuml;cken
+nehmen, die Ethiker, Christlichsoziale und neuerdings
+Rassenhygieniker ihr glaubten geben zu m&uuml;ssen, um sie
+dem von ihnen willk&uuml;rlich gesteckten Ziele entgegenhumpeln
+zu lassen. Sie kann und mu&szlig; auf eigenen
+F&uuml;&szlig;en gehen, eigene Ziele verfolgen. Ich verlange die
+Autonomie des sozialpolitischen Ideals, das nicht nur
+<a name="Page_206" id="Page_206"></a>nicht ethisch, nicht religi&ouml;s, nicht rassenhygienisch, sondern
+diesen Idealen direkt entgegengesetzt sein kann.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das sei Ihnen in bezug auf das religi&ouml;se Ideal zugegeben,&laquo;
+warf mein Mann ein, &raquo;aber das ethische, das
+rassenhygienische?! Die &#8250;Befreiung des gesamten Menschengeschlechts,
+das unter den heutigen Zust&auml;nden leidet&#8249;, ist
+doch wohl ein ethisches Postulat!&laquo;</p>
+
+<p>Romberg bewegte lebhaft abwehrend die H&auml;nde:
+&raquo;Bleiben Sie mir mit der Zukunftsmusik des Erfurter
+Programms vom Leibe! Sie k&ouml;nnten ebenso gut die
+&#8250;Vers&ouml;hnung der Klassengegens&auml;tze&#8249;, die die Ethiker unter
+den National&ouml;konomen der Sozialpolitik als Aufgabe
+zuschieben, predigen. Nein: wir stehen im Klassenkampf,
+wir m&uuml;ssen in diesem Kampf Partei ergreifen,
+und zwar nicht f&uuml;r die Schwachen nach christlicher
+Auffassung, sondern f&uuml;r das h&ouml;chst entwickelte Wirtschaftssystem,
+f&uuml;r die den wirtschaftlichen Fortschritt
+repr&auml;sentierende Klasse, das hei&szlig;t auf Kosten der
+anderen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mit anderen Worten: f&uuml;r das Proletariat?&laquo; fragte
+ich. Er wandte sich mir zu.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig;: f&uuml;r das Proletariat, soweit seine Ideale sich
+mit dem Ideal der Sozialpolitik decken: der wirtschaftlichen
+Vollkommenheit, und,&laquo; &mdash; er betonte scharf den
+letzten Satz, &mdash; &raquo;soweit sie sich dauernd mit ihm decken
+werden. Denn es ist einerseits in dauerndem Flu&szlig; begriffen
+und ist andererseits kein absoluter Endzweck,
+sondern nur ein Mittel zur Verwirklichung h&ouml;herer Zwecke.
+Das wirtschaftliche Leben ist die Schranke, in der unser
+ganzes Dasein, auch in seinen h&ouml;chsten &Auml;u&szlig;erungen, eingeschlossen
+ist. Wir m&uuml;ssen sie erweitern, so rasch als
+<a name="Page_207" id="Page_207"></a>m&ouml;glich, ohne R&uuml;cksicht auf die Bedenken empfindsamer
+Seelen, um zu Licht und Luft zu gelangen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und mit diesen Ansichten k&ouml;nnen Sie es verantworten,
+au&szlig;erhalb unserer Partei zu stehen!&laquo; rief ich
+aus. Er schien erstaunt.</p>
+
+<p>&raquo;Alles, was ich sagte, was ich schrieb, beweist doch,
+da&szlig; ich es verantworten kann!&laquo; meinte er langsam.
+&raquo;Oder glauben Sie, ich w&uuml;rde mehr erreichen, wenn
+ich mich in Ihr Heer einreihen, Ihre Uniform anziehen
+w&uuml;rde, wenn ich jede meiner Ideen, ehe ich sie auszusprechen
+mich getraute, dem Votum Ihres Parteitages
+unterwerfe?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich verstehe Sie nicht!&laquo; antwortete ich. &raquo;Wie reimt
+sich Ihre Abneigung gegen die Partei mit diesem Buch
+zusammen,&laquo; &mdash; ich hielt ihm den roten Band entgegen, &mdash; &raquo;mit
+Ihrer Verteidigung des Klassenkampfes, mit Ihrer
+Prophezeiung der dauernden, der notwendigen Einheit
+der Bewegung?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich mu&szlig; Ihre Frage mit einer Frage beantworten:
+Ist die Zugeh&ouml;rigkeit zur Bewegung abh&auml;ngig von der
+namentlichen Einschreibung in einen Wahlverein? Ist
+es f&uuml;r meine Stellung wichtiger, wie ich mich nenne,
+als was ich leiste?! Die Frage des Eintritts in die
+Partei kann f&uuml;r unsereinen nur individuell gel&ouml;st werden.
+Ich zum Beispiel w&uuml;rde in dem Augenblick fl&uuml;gellahm
+werden, wo ich in<em class="spaced"> der</em> Gesellschaft aushalten m&uuml;&szlig;te.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;r einen Augenblick vielleicht, aber in dem Moment,
+wo Sie sich durchsetzen, wo Sie Einflu&szlig; gewinnen
+w&uuml;rden, h&auml;tten Sie die Kraft Ihrer Fl&uuml;gel in
+doppeltem Ma&szlig;e wieder&nbsp;&mdash;,&laquo; mischte sich mein Mann
+ins Gespr&auml;ch.</p>
+<p><a name="Page_208" id="Page_208"></a></p>
+<p>&raquo;Sie &uuml;bersch&auml;tzen mich, lieber Freund. &Uuml;ber gewisse
+Dinge komme ich nicht hinweg. Sie wissen, mein
+&#8250;Sozialismus&#8249; hat einen ungeahnten Erfolg; ich brauche
+mich in meiner Schriftstellereitelkeit wahrhaftig nicht gekr&auml;nkt
+zu f&uuml;hlen. Aber die Behandlung, die mir &mdash; mir,
+der ich den Sozialismus verteidige! &mdash; von einem
+Teil Ihrer Presse zuteil geworden ist, hat mir die ganze
+Gesellschaft auf lange verekelt!&laquo;</p>
+
+<p>Der Gegensatz zwischen dem Enthusiasmus, der ihn
+wenige Minuten vorher erf&uuml;llt hatte, und der morosen
+Stimmung, die jetzt aus Wort und Ton und Haltung
+sprach, war so verbl&uuml;ffend, da&szlig; wir verstummten. Aber
+Romberg forderte uns zur Antwort heraus:</p>
+
+<p>&raquo;Sie mi&szlig;billigen meinen Standpunkt?&laquo; Fragend sah
+er von einem zum anderen.</p>
+
+<p>&raquo;Ganz und gar!&laquo; antwortete ich heftig. &raquo;Glauben
+Sie, da&szlig; wir um der sch&ouml;nen Augen der Parteigenossen
+willen Sozialdemokraten geworden sind, &mdash; oder der
+Partei entr&uuml;stet den R&uuml;cken kehren w&uuml;rden, weil ein
+paar Nasen uns nicht gefallen?! Wir dienen der Sache,
+nicht den Personen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Eine so reinliche Scheidung zwischen der Sache und
+den Personen l&auml;&szlig;t sich in Wirklichkeit nicht durchf&uuml;hren,&laquo;
+sagte er, sichtlich verletzt. &raquo;Es kann sehr wohl der Fall
+eintreten, da&szlig; eine Sache durch eine bestimmte Personengruppierung
+rettungslos verloren geht, und ich bin der
+Meinung, da&szlig; in Ihrer Partei Leute den Ton angeben,
+die Ihre Sache diskreditieren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn Sie dieser Ansicht sind, m&uuml;&szlig;ten Sie erst recht
+in die Partei eintreten, um die Sache, die doch auch
+die Ihre ist, vor solchen Einfl&uuml;ssen zu retten!&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_209" id="Page_209"></a>Er bi&szlig; sich auf die Lippen und schwieg sekundenlang.
+Dann lie&szlig; er sich, wie erm&uuml;det, in den Lehnstuhl fallen
+und sagte langsam: &raquo;Sie m&ouml;gen recht haben, &mdash; auf
+Grund Ihrer Individualit&auml;t. Ich w&uuml;rde einfach zugrunde
+gehen, wenn ich mit dem Gesindel, das Ihre
+Partei gro&szlig; gefuttert hat, auf gleich und gleich verkehren
+m&uuml;&szlig;te. &Uuml;brigens,&laquo; er l&auml;chelte ein wenig, &raquo;Sie
+sind ja erst seit vorgestern &#8250;Genossin&#8249;, &mdash; wir wollen
+unser Gespr&auml;ch in zehn Jahren zu Ende f&uuml;hren! Und
+Sie, mein lieber Brandt, sind doch auch nur im Nebenberuf
+&#8250;Genosse&#8249;. Wenn Sie Ihrer Frau beistimmen,
+warum treten Sie nicht in die politische Arena?&laquo;</p>
+
+<p>Mein Mann ging ein paarmal im Zimmer auf
+und nieder, ehe er antwortete. &raquo;Ich habe nicht Ihre
+Begabung, die Sie zum Agitator stempelt. Und ich
+bin nicht unabh&auml;ngig wie Sie, was, meiner Ansicht
+nach, eine wichtige Voraussetzung ist, wenn man in
+der Partei Wertvolles leisten will. Das Archiv ist mein
+Brotgeber. Es k&ouml;nnte seine wertvollsten Mitarbeiter verlieren,
+wenn sein Redakteur politisch hervortr&auml;te. Sonst, &mdash; lieber
+heute als morgen w&uuml;rde ich ein t&auml;tiger Parteigenosse sein!&laquo;</p>
+
+<p>Ich hatte Heinrich noch nie so sprechen h&ouml;ren; eine
+tiefe Unbefriedigung enth&uuml;llte sich mir, eine Seite seines
+Wesens, die sich selbst dem durchdringenden Blick meiner
+Liebe bisher versteckt hatte. Ich konnte den Gedanken
+daran nicht los werden und verga&szlig; fast unseres Besuchers dar&uuml;ber.</p>
+
+<p>Beim Abschied reichte ich ihm die Hand. Ein unbehagliches
+Gef&uuml;hl &uuml;berkam mich: die seine lag, so gro&szlig;
+sie war, schwach und leblos in der meinen. Menschen
+<a name="Page_210" id="Page_210"></a>ohne H&auml;ndedruck waren mir immer unsympathisch
+gewesen. Und doch zog dieser Mann mich an.</p>
+
+<p>&raquo;Wollen wir nach all dem Ernst nun nicht Berlin
+ein wenig genie&szlig;en?&laquo; fragte er. &raquo;Wir armen Provinzler
+m&uuml;ssen uns mit Gro&szlig;stadtluft auf Monate versorgen,
+wenn wir einmal von unserer Kette loskommen.&laquo; Wir
+verabredeten allerlei, und er ging.</p>
+
+<p>&raquo;Nun?!&laquo; fragte Heinrich, als die T&uuml;r sich hinter ihm
+geschlossen hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Ein interessanter Mensch, ob ein K&auml;mpfer?!&laquo; antwortete
+ich nachdenklich. &raquo;Aber was interessiert mich
+dies Problem, wo mein eigner Mann mir eins aufgegeben hat!&laquo;</p>
+
+<p>Er zuckte lachend die Achseln: &raquo;K&uuml;mmere dich nicht
+darum, Schatz, es ist doch zun&auml;chst unl&ouml;sbar.&laquo; &raquo;Du
+w&uuml;rdest wirklich gern politisch t&auml;tig sein?&laquo; dr&auml;ngte
+ich unbeirrt. &raquo;W&auml;re es dir willkommen?&laquo; fragte er
+statt der Antwort. Mir stieg das Blut in die
+Wangen. Ich sah den Geliebten an der Stelle, die ich
+Romberg zugedacht hatte; ich sah uns beide Schulter an
+Schulter im Kampfe stehen. &raquo;O wie sch&ouml;n w&auml;re das!&laquo;
+fl&uuml;sterte ich.</p>
+
+<p>Die n&auml;chsten Tage nahm uns Romberg sehr in Anspruch.
+Er war von einer fast kindlichen Genu&szlig;f&auml;higkeit,
+dabei voller Interesse f&uuml;r Kunst und Literatur, in allem
+das Gegenspiel des typischen deutschen Professors.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_211" id="Page_211"></a></p>
+
+<p>Berlin war damals reich an neuem Leben f&uuml;r
+den, der es zu finden verstand. Denn die
+Oberfl&auml;che trug noch immer das Stigma geschmackloser
+Allt&auml;glichkeit. Mein Instinkt war doppelt
+wach; meine Sinne schienen gesch&auml;rft f&uuml;r alles Werden,
+und meine Hoffnung umschlang mit &uuml;ppigen Ranken
+jede neue Erscheinung.</p>
+
+<p>Wir sahen Gerhart Hauptmanns &raquo;Versunkene Glocke&laquo;,
+die zum erstenmal zur Auff&uuml;hrung kam. Alles stritt um
+des sch&ouml;nen M&auml;rchens eigentlichen Inhalt und ri&szlig; ihm
+im Streit grausam die Schmetterlingsfl&uuml;gel aus. Den
+einen erschien es als das tragische Bekenntnis eigener
+Schw&auml;che: denn die im Tal gegossene, f&uuml;r die H&ouml;he bestimmte
+Glocke Meister Heinrichs st&uuml;rzte vom Berge
+hinab in die Tiefe, und als er selbst emporstieg, um
+droben ein neues Wunderwerk zu schaffen, zog sie ihn
+nach sich ins Grab. Den anderen war es nichts als
+ein Zeichen geistiger Reaktion: der Dichter der &#8250;Weber&#8249;
+floh vor dem wirklichen Leben. Ich aber h&ouml;rte darin
+das immer wiederkehrende Leitmotiv der Sehnsucht, das
+den Glockengie&szlig;er emporzog, auch als er an seiner
+Schw&auml;che sterben mu&szlig;te, ich sah die Sonnenpilger, die
+den Marmortempel suchten, dessen Baumeister zugrunde
+ging, dem aber Kr&auml;ftigere als er Hammer und Kelle
+aus den toten H&auml;nden nahmen.</p>
+
+<p>Und dieselbe Sehnsucht, die der Hoffnung Schwester
+ist, die aus unserer n&uuml;chternen, auf praktisch-greifbare
+Ziele gerichteten Zeit hinwegverlangt in reichere, bl&uuml;hendere
+Gefilde, wo die arme gehetzte Seele nicht mehr zu
+dursten und zu frieren braucht, schien einer jungen noch
+<a name="Page_212" id="Page_212"></a>unbekannten K&uuml;nstlerschaft die Hand zu f&uuml;hren. Wir
+sahen Gl&auml;ser, deren zart schimmernde Blumenkelche in
+M&auml;rchenfarben strahlten, und Teppiche, auf denen die
+ganze F&uuml;lle des Fr&uuml;hlings ausgestreut erschien. Wir
+kamen in eine Ausstellung, die eine Welt fremder Wunder
+enthielt, deren Sch&ouml;pfer ein noch Unbekannter war.
+Staunend stand ich vor dem sch&ouml;nsten, das sie bot:
+einem Fenster voll leuchtender Glut, mit den Gestalten
+Tristans und Isoldens. In ihren Augen, in ihrer Geb&auml;rde
+steigerte sich die Sehnsucht zum Verlangen; die
+Farben waren eine Hymne des Lebens: das Rot jauchzte,
+das Blau verging in z&auml;rtlichen Melodien, wie ein
+mystischer Orgelton stand das Violett dazwischen.</p>
+
+<p>Achselzuckend ging die Masse an alledem vor&uuml;ber.
+Auch die beiden M&auml;nner, die mich begleiteten, waren
+mehr erstaunt als betroffen. Ob wohl nur eine, die
+schwanger war, die verborgenen Lebenskeime dieser Zeit
+zu schauen vermochte? Ich sog mit allen Sinnen ein,
+was der Menschenknospe in meinem Scho&szlig; zur Nahrung
+dienen konnte.</p>
+
+<p>&raquo;Seit ich Sie kenne, begreife ich nicht, wie Sie Genossin
+werden konnten,&laquo; sagte Romberg beim Abschied,
+&raquo;mit Ihrem starken Kulturbed&uuml;rfnis, ihrem Sch&ouml;nheitsdurst!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;r mich war das nur ein Motiv mehr, um es zu
+werden,&laquo; antwortete ich. &raquo;Auch den Seelenhunger der
+Massen nach h&ouml;heren Lebenswerten m&ouml;chte ich stillen helfen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben kaum einen&nbsp;&mdash;,&laquo; meinte er wegwerfend.</p>
+
+<p>&raquo;Dann ist meine Aufgabe doppelt gro&szlig;: ich mu&szlig; sie
+hungrig machen &mdash;&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_213" id="Page_213"></a></p>
+
+<p>Mein Zustand hinderte mich zun&auml;chst nicht an der
+Parteit&auml;tigkeit. Ich hielt Versammlungen ab,
+solang es ging, obwohl die schlechte Luft sich
+mir immer schwerer auf den Kopf legte; ich besuchte
+die Sitzungen der Frauenorganisation regelm&auml;&szlig;ig trotz
+der ekelerregenden D&uuml;fte der Lokale, in denen sie stattfanden.
+Wenn die Polizei, die uns st&auml;ndig auf den
+Fersen war, gewu&szlig;t h&auml;tte, wie wenig weltersch&uuml;tternd
+die Fragen waren, &uuml;ber die wir debattierten, sie w&uuml;rde
+uns ruhig unserem Schicksal &uuml;berlassen haben. Seitdem
+Wanda Orbin nicht mehr in Berlin war, schien zwar
+auch den Nur-Ja-Sagerinnen der Mund ge&ouml;ffnet zu
+sein, aber was sie vorbrachten, das drehte sich meist
+um die kleinlichsten Dinge. Derselbe Zank, derselbe
+Neid, der mir die b&uuml;rgerliche Frauenbewegung verg&auml;llt
+hatte, fand sich auch hier, nur da&szlig; er sich in gr&ouml;beren
+Formen &auml;u&szlig;erte. Ich w&auml;re bitter entt&auml;uscht gewesen,
+wenn ich nicht allm&auml;hlich Einblicke gewonnen h&auml;tte, die
+mir die Dinge in anderem Licht erscheinen lie&szlig;en.</p>
+
+<p>Ich lernte das Leben dieser Frauen kennen. Da war
+eine, die tagaus, tagein in dieselbe elende Zwischenmeisterwerkstatt
+ging, um, wenn sie todm&uuml;de heimkam, von dem
+betrunkenen Mann mit Schl&auml;gen oder zudringlichen
+Z&auml;rtlichkeiten empfangen zu werden; &mdash; sollte sie nicht
+verbittert sein? Da war eine andere, die, obwohl sie
+einen braven Gatten hatte, auf ihre alten Tage in die
+Fabrik zur&uuml;ckgekehrt war, weil sie nur auf diese Weise
+ihrem kranken Sohn den Besuch eines Sanatoriums
+erm&ouml;glichen konnte; &mdash; sollte sie die gl&uuml;cklicheren M&uuml;tter
+nicht beneiden, die die Gesundheit ihrer Kinder nicht so
+<a name="Page_214" id="Page_214"></a>schwer erkaufen mu&szlig;ten? Und ein verbl&uuml;htes M&auml;dchen
+war zwischen uns, die ihrer gel&auml;hmten Mutter ihre ganze
+Jugend hatte opfern m&uuml;ssen, &mdash; war's nicht begreiflich,
+da&szlig; etwas wie Ha&szlig; in ihren Augen aufblitzte, wenn
+ich sprach?</p>
+
+<p>Einmal besuchte ich die kleine dicke Frau Wengs; sie
+war vor drei Tagen ihres siebenten Kindes genesen, und
+ich fand sie schon wieder hinter dem Waschfa&szlig;. War
+es erstaunlich, da&szlig; sie reizbar war? All diese Frauen
+standen in harter Arbeitsfron; war es nicht viel merkw&uuml;rdiger,
+da&szlig; sie sich dabei die Kraft, den Opfermut,
+die Begeisterungsf&auml;higkeit erhalten hatten, die es ihnen
+m&ouml;glich machte, ihre sp&auml;rliche Freizeit, ihre ihnen so
+bitter n&ouml;tige Nachtruhe dem Dienst der Partei zu widmen?
+Sie leisteten das &auml;u&szlig;erste, was sie leisten konnten; es
+war nicht ihre Schuld, da&szlig; es trotzdem so wenig war.</p>
+
+<p>Ich gr&uuml;belte lange nach, wie hier zu helfen w&auml;re.
+Mein alter Plan eines Zentralausschusses f&uuml;r Frauenarbeit
+tauchte wieder auf. Wenn man mit Hilfe der
+Partei solch einen Mittelpunkt schaffen, die begabtesten
+der Frauen dabei besch&auml;ftigen, von ihrer Erwerbsarbeit
+dadurch befreien k&ouml;nnte? Frau Wengs war nach dem
+Parteitag zur &raquo;Vertrauensperson f&uuml;r ganz Deutschland&laquo;
+gew&auml;hlt worden. War es nicht wie ein Hohn auf die
+Frauenbewegung, da&szlig; sie, die kaum Zeit hatte, eine
+Zeitung zu lesen, f&uuml;r die das Schreiben eines Briefes
+eine fast un&uuml;berwindliche Aufgabe war, an ihrer Spitze
+stehen sollte? Man hatte mir freilich erz&auml;hlt, Wanda
+Orbin habe ihre Wahl unterst&uuml;tzt, um die Leitung um
+so sicherer in der eigenen Hand zu behalten, Wanda
+Orbin, die uns so fern war, deren unzureichende Kennt<a name="Page_215" id="Page_215"></a>nis
+der Verh&auml;ltnisse schon daraus hervorging, da&szlig; sie
+ihre Zeitschrift in einem Tone schrieb, der einen hohen
+Grad von Wissen bei dem Leser voraussetzte. Ja, wenn
+sie in Berlin w&auml;re, wenn sie offiziell die F&uuml;hrung in
+die H&auml;nde bek&auml;me, wenn die Gestaltung der &#8250;Freiheit&#8249;
+dem Einflu&szlig; der Genossinnen zug&auml;nglich gemacht werden
+k&ouml;nnte! Schon damit, so schien mir, w&auml;re viel geholfen.
+Ich schrieb ihr in diesem Sinne, ich fragte sie, ob sie
+kommen w&uuml;rde, wenn man die Anstellung einer weiblichen
+Parteisekret&auml;rin durchgesetzt h&auml;tte. Sie antwortete
+ausweichend: es fessele sie vieles, vor allem die Erziehung
+ihrer S&ouml;hne in Stuttgart. Ich gab die Sache noch
+nicht verloren. Ich legte meinen Plan der Schaffung
+eines Sekretariats f&uuml;r die Frauenbewegung den Genossinnen
+vor, ich entwickelte ihn in einem l&auml;ngeren
+Artikel in der &#8250;Freiheit&#8249; und h&uuml;tete mich zun&auml;chst,
+Wanda Orbins Namen zu nennen, da ich wu&szlig;te, da&szlig;
+auch sie Gegnerinnen hatte. Die Wirkung war verbl&uuml;ffend:
+die Frauen gerieten in eine Aufregung, die in
+keinem Verh&auml;ltnis zur Sache zu stehen schien. Man
+fand es ungeheuerlich, da&szlig; ich, die ich noch nichts, aber
+auch rein gar nichts geleistet h&auml;tte, mir herausgenommen
+habe, an der Arbeiterinnenbewegung Kritik zu &uuml;ben;
+man bek&auml;mpfte meinen Plan durch Wort und Schrift,
+als bedeute er eine Gefahr f&uuml;r die Partei. Bei der
+Abstimmung erhob sich keine Hand f&uuml;r ihn. Ich erfuhr
+erst allm&auml;hlich die wahre Ursache dieser w&uuml;tenden Gegnerschaft:
+die Frauen hatten angenommen, da&szlig; ich f&uuml;r mich
+selbst eine eintr&auml;gliche Stellung schaffen wolle. Und
+Wanda Orbin hatte sie offenbar in diesem Glauben gelassen.
+Es gab Momente, in denen diese Erfahrung
+<a name="Page_216" id="Page_216"></a>mir wehe tat, &mdash; trotz aller M&uuml;he, &uuml;berall nur das
+Gute zu sehen. Und die Entr&uuml;stung meines Mannes,
+der jeden Nadelstich, der mich traf, wie einen Dolchsto&szlig;
+empfand, trug nicht dazu bei, mich zu beruhigen.</p>
+
+<p>Aber die &ouml;ffentlichen Ereignisse sorgten daf&uuml;r, Gedanken
+und Interessen auf wichtigere Dinge zu lenken, und die
+Verstimmung zwischen mir und den Genossinnen in einm&uuml;tige
+Kampflust gegen die Feinde, die unsere Sache
+von au&szlig;en bedrohten, zu verwandeln.</p>
+
+<p>Hatten die Parlamentsreden der Herren der Rechten,
+vom Geiste Stumms beherrscht, schon kriegerisch genug
+geklungen, so k&uuml;ndigten die kaiserlichen Worte auf dem
+brandenburger Provinzial-Landtag Kampf bis aufs
+Messer an: &raquo;Die Aufgabe, die uns allen aufgeb&uuml;rdet
+ist, die wir verpflichtet sind zu &uuml;bernehmen, ist der Kampf
+gegen den Umsturz mit allen Mitteln... Ich werde
+mich freuen, in diesem Gefecht jedes Mannes Hand in
+der meinen zu sehen, er sei edel oder unfrei,&laquo; hie&szlig; es
+darin, und zum Schlu&szlig;: &raquo;Wir werden nicht nachlassen,
+um unser Land von dieser Pest zu befreien, die nicht
+nur unser Volk durchseucht, sondern auch das Heiligste,
+was wir Deutsche kennen, die Stellung der Frau, zu
+ersch&uuml;ttern trachtet.&laquo;</p>
+
+<p>Kein Zweifel: ein Gewitter stand bevor, das unsere
+Saaten bedrohte; dem Blitz, der die Situation grell
+beleuchtet hatte, folgte der Donner und der prasselnde
+Regen in Gestalt einer Vereinsgesetznovelle, die
+dem reaktion&auml;ren preu&szlig;ischen Landtag zur Entscheidung
+vorlag und nichts anderes bedeutete, als eine
+Knebelung des Koalitionsrechts, eine Auslieferung unserer
+Organisationen an die Willk&uuml;r der Polizei. Da war
+<a name="Page_217" id="Page_217"></a>niemand unter uns, dem nicht das Herz st&uuml;rmisch geschlagen
+h&auml;tte, &mdash; vor Emp&ouml;rung &uuml;ber das drohende Unrecht,
+vor Freude &uuml;ber den aufgezwungenen Kampf. Es
+gab keinen kleinlichen Zank mehr; man dr&auml;ngte sich zur
+Arbeit und &uuml;bernahm auch die geringf&uuml;gigste mit dem
+Pflichtbewu&szlig;tsein des Soldaten, der seinen Posten bezieht.
+Ich konnte der vorgeschrittenen Schwangerschaft
+wegen nur mit der Feder t&auml;tig sein, und Zorn und
+Begeisterung f&uuml;hrte sie. Ich sah eine Zeit nahe bevorstehen,
+wo die besten Elemente des B&uuml;rgertums, wo vor
+allem die Vertreter der freien Wissenschaft, vor die Wahl
+gestellt zwischen der Reaktion und dem Proletariat, sich
+auf die Seite der Arbeiter stellen m&uuml;&szlig;ten.</p>
+
+<p>&raquo;Du prophezeist trotz einem Bebel,&laquo; lachte mein Mann,
+wenn ich mich fortrei&szlig;en lie&szlig;, alles zu sagen, was ich
+ertr&auml;umte, und dann erinnerte er mich an jene anderen
+Kaiserreden, die den Dreizack des Meergottes f&uuml;r die
+deutsche Faust verlangten, und den Beifall derselben
+M&auml;nner fanden, auf die ich rechnete. Aber ich h&ouml;rte
+nicht darauf, ich wollte nicht h&ouml;ren.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Die F&auml;higkeit, Dunkles zu sehen, war meinem
+inneren Auge mehr und mehr abhanden
+gekommen. Wo immer ich den Blick hinwandte:
+&uuml;berall war es hell, &uuml;berall strahlte die
+Welt voll Fr&uuml;hlingsahnen. Und als es drau&szlig;en in
+den G&auml;rten und auf den Pl&auml;tzen wirklich zu bl&uuml;hen
+begann, da schien mir's, als w&auml;re dies der erste Lenz,
+den ich erlebte. Ich sa&szlig; in der Sonne auf dem Balkon
+und sah staunend, wie aus den braunen saftig gl&auml;nzen<a name="Page_218" id="Page_218"></a>den
+Knospen auf den Kastanienb&auml;umen kleine zartgr&uuml;ne
+Bl&auml;tter leise ans Licht strebten. Ich ging am Arm des
+Geliebten durch den Tiergarten, den ein starker w&uuml;rziger
+Erdgeruch erf&uuml;llte, und stand vor dem Wunder still, das
+in Hunderten bunter Fr&uuml;hlingsblumen aus dem Rasenteppich
+emporwuchs. Und die Sonne schien so mild
+und warm, &mdash; wenn sie meine Wange traf, war mir,
+als streichle sie mich. In der Nacht lag ich oft stundenlang
+wach; ich war nicht m&uuml;de. Regte sich dann in
+meinem Scho&szlig; das junge Leben, so str&ouml;mte es mir durch
+die Glieder wie Feuer.</p>
+
+<p>Fr&uuml;hzeitig war alles zu seinem Empfang bereit. Oft,
+wenn niemand es merkte, schlo&szlig; ich mich ein in dem
+hellen Zimmer, wo alles seiner wartete, und kniete vor
+dem kleinen Bettchen, und vergrub meine hei&szlig;en Wangen
+in seinen k&uuml;hlen Kissen.</p>
+
+<p>Einmal, als ich mit Heinrich am Ufer entlang heimw&auml;rts
+ging, an der Bucht vorbei, wo die Weiden ihre
+gr&uuml;nen Schleier tief bis zum Wasser hinuntergleiten
+lassen, kam uns ein alter grauhaariger Mann entgegen.
+Ich h&ouml;rte zuerst nur seinen schleppenden Schritt, denn
+die Abendsonne, die im Westen vergl&uuml;hte, blendete mich.
+Aber ich wu&szlig;te: das war mein Vater. Meine Knie
+zitterten. Und schon war er vorbei. Er schien in Gedanken
+verloren und hatte uns wohl nicht erkannt. Ich
+wandte den Kopf nach ihm, &mdash; da stand er wie angewurzelt
+und starrte mich an, so voll Z&auml;rtlichkeit&nbsp;&mdash;!
+Ich w&auml;re ihm fast zu F&uuml;&szlig;en gest&uuml;rzt, aber er machte
+eine rasche, abwehrende Bewegung und ging weiter.
+An dem Abend weinte ich. Und ich hatte doch mein
+Kind vor allem Kummer sch&uuml;tzen wollen!</p>
+
+<p><a name="Page_219" id="Page_219"></a>Wenige Tage sp&auml;ter waren wir wieder zur gew&ouml;hnlichen
+Zeit fort gewesen. Mit geheimnisvollem L&auml;cheln
+&ouml;ffnete mir das M&auml;dchen die T&uuml;r, als ich heimkam.
+Ins Kinderzimmer sollt' ich kommen, sagte sie. Da
+brannte die Lampe unter dem Rosenschleier und auf
+dem wei&szlig;en Tisch lagen lauter spitzenbesetzte Hemdchen
+und J&auml;ckchen, und kleine Schuhe und Steckkissen, und
+lange Tragekleidchen; durch die blauen B&auml;nder, die sie
+zusammenhielten, waren Str&auml;u&szlig;e duftender Maiblumen
+gezogen. &raquo;Das gn&auml;dige Fr&auml;ulein brachte alles selbst,&laquo;
+berichtete l&auml;chelnd das M&auml;dchen und &uuml;bergab mir einen
+Brief von Mama:</p>
+
+<p>&raquo;Mein liebes Kind! Das alles schickt Dir Dein
+Vater. Er hat mir und Deiner Schwester erlaubt, zu
+Dir zu gehen, und Dir seine Gr&uuml;&szlig;e zu bringen. Schreibe
+mir, wann wir Dich besuchen k&ouml;nnen,&laquo; schrieb sie. Bald
+darauf kam sie selbst. Ich hatte vor Erregung eine
+b&ouml;se Nacht gehabt und empfing sie auf dem Diwan
+liegend. Sie aber war so ruhig, so teilnahmsvoll, als
+l&auml;ge h&ouml;chstens eine Reise zwischen ihrem ersten Besuch
+und heute. Drohte eine verlegene Pause, so half das
+Geplauder Ilschens dar&uuml;ber hinweg, die mir von ihren
+ersten Ballfreuden und ihren Triumphen nicht genug
+erz&auml;hlen konnte.</p>
+
+<p>&raquo;Wie geht es dem Vater?&laquo; fragte ich schlie&szlig;lich
+zaghaft, da sie zu vermeiden schienen, seiner Erw&auml;hnung
+zu tun. &raquo;Er ist recht alt geworden,&laquo; antwortete
+Mama langsam. &raquo;Aber noch so r&uuml;stig,&laquo; fiel
+die Schwester ein, und berichtete zum Beweis daf&uuml;r
+von den Diners und den B&auml;llen, zu denen er sie begleitet
+hatte. Sie nannte Namen, die ich nicht kannte,
+<a name="Page_220" id="Page_220"></a>und erw&auml;hnte Gesellschaftskreise, die er fr&uuml;her auf das
+peinlichste gemieden hatte: Tiergartensalons, in denen,
+wie er zu sagen pflegte, der j&uuml;ngere Offizier nur als
+Mitgiftj&auml;ger, der alte nur als Tafeldekoration auftritt.
+Ich f&uuml;hlte jetzt: er mu&szlig;te sehr alt geworden sein.</p>
+
+<p>Ehe sie gingen, bat ich Ilschen, nun aber recht oft
+zu mir zu kommen. Sie sah, statt zu antworten, &auml;ngstlich
+fragend auf Mama. &raquo;Allein darf sie euch nicht
+besuchen,&laquo; sagte diese mit dem alten harten Ton in der
+Stimme, w&auml;hrend sich tiefe Falten um ihre Mundwinkel
+gruben. Als sie fort waren, trat ich auf den Balkon.
+Ich hatte das Bed&uuml;rfnis, frische Luft zu sch&ouml;pfen. Da
+fiel mein Blick auf die Stra&szlig;e: mit kleinen, hastigen
+Schritten ging der Vater vor unserer Haust&uuml;r auf und
+ab, und als Ilse ihm entgegentrat, wandte er sich ihr
+mit einer raschen Bewegung zu, und ich sah, wie sie
+sprach und sprach, und wie er horchte, den Kopf ihr zugeneigt,
+als f&uuml;rchte er, auch nur ein einzig Wort zu
+verlieren. An diesem Abend mu&szlig;t' ich wieder weinen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Der Sommer kam. Ich schleppte mich nur
+noch m&uuml;hsam die hohen Treppen herauf und
+hinunter. Ich z&auml;hlte nicht mehr nach Wochen,
+sondern nach Tagen. Meine Zimmer standen voll Junirosen.</p>
+
+<p>Ich war noch einmal mit den Kindern in die Stadt
+gegangen, um zu besorgen, was ihnen f&uuml;r die Ferienreise
+zu ihrer Mutter noch fehlte. Als ich daheim die
+Sachen in den Koffer legte, dunkelte es mir pl&ouml;tzlich
+vor den Augen. Ein j&auml;her Schmerz zog mir den Leib
+<a name="Page_221" id="Page_221"></a>zusammen. Ich schlich ins Wohnzimmer und fiel
+meinem Mann, der erschrocken vom Schreibtisch aufgesprungen
+war, in die Arme. &raquo;Nun ist's so weit,&laquo;
+fl&uuml;sterte ich und sah ihn gl&uuml;ckselig an. Er schickte zu
+meiner &Auml;rztin. Ich aber sa&szlig; still im Lehnstuhl und
+spottete seiner &Auml;ngstlichkeit. Wie h&auml;tte ich mich auch
+nur einen Augenblick lang f&uuml;rchten k&ouml;nnen! Wenn ich
+die Augen schlo&szlig;, sah ich Gro&szlig;mamas g&uuml;tiges Antlitz
+vor mir und h&ouml;rte sie tr&ouml;stend wiederholen, was sie
+mir fr&uuml;her so oft versichert hatte: Ein Kind geb&auml;ren ist
+das leichteste von der Welt. Aber der Abend kam und
+die Nacht, &mdash; ich wartete noch immer. Und am folgenden
+Tag war ich zu schwach, um vom Bett aufzustehen,
+und in der Nacht standen zwei &Auml;rztinnen um mein
+Bett, und Heinrich wich nicht von mir. Ich allein
+sp&uuml;rte nichts von Angst; wenn ich vor Schmerzen st&ouml;hnte,
+so war mir's, als w&auml;re ich's nicht.</p>
+
+<p>Am Morgen des dritten Tages strahlte der Himmel
+in wolkenloser Pracht; von der Ged&auml;chtniskirche her&uuml;ber
+klang tiefer Glockenton, und von allen Seiten antworteten
+ihm hellere Stimmen. &raquo;Es will ein Sonntagskind
+sein,&laquo; fl&uuml;sterte ich l&auml;chelnd dem Liebsten zu, der
+neben mir sa&szlig;, und an den ich mich klammerte, wenn
+es gar zu wehe tat.</p>
+
+<p>&raquo;Und in der Johannisnacht geboren werden,&laquo; h&ouml;rte
+ich wie von ferne sagen. M&uuml;de sank ich in die Kissen.
+Mir tr&auml;umte von den Bergen, die zum Himmelszelt
+stolz ihre wei&szlig;en H&auml;upter heben, und von gr&uuml;nen
+Matten, die sich zart und weich zu F&uuml;&szlig;en grauer Felsen
+schmiegen. Und ich sah, wie alle Spitzen zu gl&uuml;hen
+begannen, als h&auml;tten sich die Sterne auf sie her<a name="Page_222" id="Page_222"></a>niedergesenkt,
+und von allen H&uuml;geln die Flammen
+loderten. Pl&ouml;tzlich aber war mir, als st&uuml;nde ich selbst
+auf dem Scheiterhaufen, &mdash; schon z&uuml;ngelte das Feuer
+an meinem nackten K&ouml;rper empor, &mdash; ich schrie laut
+auf &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>War ich gestorben, &mdash; und darum so seliger Ruhe
+voll?! Ich schlug die Augen auf. &raquo;Heinz!&laquo; kam es
+ganz, ganz leise von meinen Lippen. Ich tastete mit
+den H&auml;nden auf dem Bett, &mdash; ich f&uuml;hlte seinen Kopf, &mdash; seine
+Schultern, &mdash; warum bebten sie nur so?! Hei&szlig;e
+Augen, die durch Tr&auml;nen leuchteten, richteten sich auf
+mich. Von der anderen Seite &ouml;ffnete sich die T&uuml;re,
+ein breiter Strom von Licht ergo&szlig; sich in das dunkel
+verhangene Zimmer, auf der Schwelle stand eine Frau,
+ein wei&szlig;es B&uuml;ndelchen auf den Armen. &raquo;Mein Kind&nbsp;&mdash;!&laquo;
+rief ich. &raquo;Unser Sohn!&laquo; antwortete Heinrich und legte
+ihn mir an die Brust. Ehrf&uuml;rchtig ber&uuml;hrten meine
+Lippen die von wirren L&ouml;ckchen dunkel umrahmte Stirn.
+Und zwei gro&szlig;e blaue Augen, in denen des Werdens
+tiefes Geheimnis noch zu schlafen schien, blickten mich an.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_223" id="Page_223"></a></p>
+<h2><a name="Siebentes_Kapitel" id="Siebentes_Kapitel"></a>Siebentes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Drei Monate sp&auml;ter sa&szlig; ich an unserem Schreibtisch,
+in einen Artikel vertieft, den ich Wanda
+Orbin versprochen hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Fast schien es, als sollte der Z&uuml;richer Arbeiterschutz-Kongre&szlig;
+den Beweis erbringen, da&szlig; die Anh&auml;nger
+der verschiedensten politischen und religi&ouml;sen
+Weltanschauungen auf dem Gebiete praktischer Sozialreform
+zu gemeinsamen Resultaten gelangen k&ouml;nnten.
+Die Fragen der Kinder- und der Sonntagsarbeit
+riefen keinerlei tiefere Differenzen hervor. Nur hie
+und da fiel ein Wort, das wie Wetterleuchten die
+Abgr&uuml;nde erhellte, die tats&auml;chlich zwischen den Rednern
+auseinanderklafften. Aber erst die Frage der Frauenarbeit
+vollzog schlie&szlig;lich die Trennung der Geister. Schon
+in der vorbereitenden Sektion kam es zu hitzigen Debatten:
+auf der einen Seite standen die katholischen
+Sozialreformer Belgiens und &Ouml;sterreichs, unter ihnen
+M&auml;nner in langem Priesterrock und brauner M&ouml;nchskutte,
+auf der anderen die F&uuml;hrer der internationalen
+Sozialdemokratie, die Bebel und Liebknecht, die Vandervelde
+und Geier an ihrer Spitze. Und als wir uns
+am n&auml;chsten Morgen in dem hohen Saal der Tonhalle
+wieder versammelten &mdash; einem Saal, der nur f&uuml;r Festes<a name="Page_224" id="Page_224"></a>freude
+geschaffen schien, &mdash; und der blaue See und die
+wei&szlig;en Berge durch die breiten Fenster zu uns hereinstrahlten,
+ein Bild gl&uuml;cklichen Friedens, da wu&szlig;ten
+wir: heute kommt es zur Schlacht. Die Trib&uuml;nen
+waren &uuml;berf&uuml;llt: die ganze studierende Jugend Z&uuml;richs
+dr&auml;ngte sich dort oben zusammen. Erwartungsvolle Erregung
+brannte auf ihren Wangen. Und unten sammelten
+sich die Delegierten um ihre Tische: die Luft
+schien zu vibrieren unter dem Einflu&szlig; all der klopfenden
+Pulse, all der kampfhei&szlig;en Blicke. Der katholische
+Demokrat Carton de Wiart trat hinter das Rednerpult
+zur Verteidigung seines Antrags: Verbot der gro&szlig;industriellen
+Frauenarbeit. Mit tiefem Glockenklang erf&uuml;llte
+seine sch&ouml;ne Stimme den Riesenraum und steigerte
+sich zum tragischen Pathos, wenn sie die zerst&ouml;renden
+Folgen der Frauenarbeit schilderte: &#8250;Der S&auml;ugling verkommt
+in Hunger und Schmutz, die heranwachsenden
+Kinder werden ein Opfer der Stra&szlig;e; vom erloschenen
+Herdfeuer flieht der Mann und sucht Trost und W&auml;rme
+im Trunk ...&#8249; Er malte nicht zu schwarz, und auch
+aus den Reihen der Gegner h&auml;tte ihm niemand widersprechen
+k&ouml;nnen. Aber w&auml;hrend die tats&auml;chlichen Zust&auml;nde
+ihm und seinen Gesinnungsgenossen als eine beklagenswerte
+Verirrung der Menschheit erschienen, die
+durch ein gebieterisches &#8250;Zur&uuml;ck!&#8249; von dem alten kleinb&uuml;rgerlichen
+Familienleben wieder abgel&ouml;st werden
+k&ouml;nnten, sahen die Sozialdemokraten in ihnen eine notwendige
+Begleiterscheinung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung,
+die nur durch ein &#8250;Vorw&auml;rts!&#8249; zum Sozialismus
+zu &uuml;berwinden ist. &#8250;Auch wir sind f&uuml;r die
+Verk&uuml;rzung der Arbeitszeit, f&uuml;r gesetzlichen Mutterschutz,
+<a name="Page_225" id="Page_225"></a>f&uuml;r Verbot der Frauenarbeit in gesundheitssch&auml;dlichen
+Betrieben,&#8249; erwiderte Frau Alix Brandt dem Redner;
+&#8250;aber f&uuml;r ein Verbot der Frauenarbeit &uuml;berhaupt sind
+wir nicht. Denn nicht jenes idyllische Bild gl&uuml;cklichen
+Familienlebens, das Herr de Wiart in so leuchtenden
+Farben malte, w&uuml;rde seine Folge sein, sondern eine
+noch gr&ouml;&szlig;ere Zerst&ouml;rung der Familie, eine noch gef&auml;hrlichere
+Untergrabung weiblicher Kraft. Weder Laune
+noch Neigung treibt die Frauen in Scharen in die
+Fabriken, sondern Not. Schlie&szlig;t ihnen deren Tore, und
+dieselbe Not wird sie in das Elend der Heimarbeit
+treiben, wo schrankenlos die Ausbeutung herrscht, wird
+sie demjenigen Frauenberuf zuf&uuml;hren, vor dem weder
+die christliche Sittlichkeit des Staates, noch die Ritterlichkeit
+der M&auml;nner das weibliche Geschlecht jemals geh&uuml;tet
+haben: der Prostitution.&#8249; Und in einer Rede voll
+hinrei&szlig;ender Leidenschaft verteidigte Frau Wanda Orbin
+die Berufsarbeit der Frau als die Grundlage ihrer
+sozialen Befreiung: &#8250;Die Arbeit ist ihre Menschwerdung.
+Was sie auf der einen Seite zerst&ouml;rt, baut sie auf der
+anderen wieder auf f&uuml;r die sittliche und geistige Einheit
+von Mann und Frau. Aus den Konflikten zwischen
+Beruf und Haus erwachsen dem Weibe zwar die gr&ouml;&szlig;ten
+Schmerzen, aber auch die gr&ouml;&szlig;te Kraft. Nicht nur,
+weil ein Verbot der Frauenarbeit heute die Not steigern
+w&uuml;rde, wie meine Vorrednerin Ihnen auseinandersetzte,
+stimmen wir geschlossen gegen den Antrag Wiart, sondern
+weil wir Frauen die Arbeit wollen um unserer
+Selbstbefreiung willen, um einer k&uuml;nftigen Neugestaltung
+der Ehe und der Familie willen, die die &ouml;konomische
+Unabh&auml;ngigkeit des Weibes zur Voraussetzung
+<a name="Page_226" id="Page_226"></a>hat.&#8249; Minutenlang umbrauste der Jubel aus dem Saal
+hinauf, von den Trib&uuml;nen herab die Rednerin. Und
+als die Baronin Vogelsang, eine zarte, schlichte Frauengestalt,
+sie abl&ouml;ste, &mdash; mit niedergeschlagenen Augen
+und leise zitternden H&auml;nden, ungewohnt des &ouml;ffentlichen
+Auftretens, &mdash; erschien sie wie die Personifizierung
+jener fernen versunkenen Welt, die sie mit leisen, weichen
+Worten, mit einem Appell an das Gef&uuml;hl wieder glaubte
+heraufbeschw&ouml;ren zu k&ouml;nnen: &#8250;Um der Kinder willen,
+denen die Industrie die M&uuml;tter raubt, nehmen Sie den
+Antrag an&nbsp;&mdash;;&#8249; ihre erhobenen Blicke flehten und r&uuml;hrten
+manch einem ans Herz, so da&szlig; die rauhe Wahrheit, die
+der Verstand erkennt, hinter den weichen Schleiern, die
+die Empfindung webt, zu verschwinden drohte ...&laquo;</p>
+
+<p>Ich legte die Feder aus der Hand und seufzte tief
+auf. Seit meines Kindes Geburt waren die Probleme
+der Frauenbefreiung f&uuml;r mich keine blo&szlig;en Theorien
+mehr. Sie schnitten in mein eigenes Fleisch, &mdash; und
+ich war keine Industriearbeiterin, &mdash; ich brauchte nicht
+von fr&uuml;h bis sp&auml;t in der Fabrik zu schuften, fern meinem
+Liebling. Mir grauste, wenn ich daran dachte, da&szlig; so
+etwas m&ouml;glich, ja notwendig sein konnte. Es gab
+Augenblicke, in denen meine &Uuml;berzeugungen auf t&ouml;nernen
+F&uuml;&szlig;en zu stehen schienen.</p>
+
+<p>Schon die Reise nach Z&uuml;rich war mir schwer genug
+geworden, obwohl ich mein Kind in bester Obhut zur&uuml;ckgelassen
+hatte. Meine Phantasie malte sich t&auml;glich neue
+Schrecken aus, die ihm zusto&szlig;en konnten. Und wie viele
+Stunden des Tages mu&szlig;te ich jetzt fern von ihm sein!
+Wie oft sprang ich vom Schreibtisch auf und sah
+sehns&uuml;chtig auf den sonnigen Platz hinunter, wo es, in
+<a name="Page_227" id="Page_227"></a>seinen wei&szlig;en Wagen gebettet, auf- und niedergefahren
+wurde. Wie viele Blicke aus seinen blauen Augen,
+wieviel kr&auml;hendes Babylachen von seinem roten M&uuml;ndchen
+gingen mir verloren! Und abends, und nachts: wie
+oft mu&szlig;te ich, statt an seinem Bettchen zu sitzen, in
+Versammlungen sprechen, an Partei-Zusammenk&uuml;nften
+teilnehmen.</p>
+
+<p>Manche meiner Genossinnen kamen aus der Werkstatt
+und der Fabrik, auch sie hatten kleine Kinder zu Hause
+und kein Dienstm&auml;dchen, um sie zu h&uuml;ten; &mdash; meine Bewunderung
+f&uuml;r sie stieg und zugleich mein Verst&auml;ndnis
+f&uuml;r all die Bitterkeit, den Ha&szlig; und das Mi&szlig;trauen,
+das sich in ihnen angesammelt hatte. Kann ein Weib
+der Welt, die den Kindern die Mutter entrei&szlig;t, mit
+anderen Empfindungen gegen&uuml;bertreten? Und doch hatte
+ich mich in Z&uuml;rich mit aller Leidenschaft daf&uuml;r eingesetzt,
+die weibliche Berufsarbeit &mdash; auch die der M&uuml;tter &mdash; zu
+erhalten? Ich zerri&szlig; den halbfertigen Artikel wieder und
+schrieb an Wanda Orbin ein paar entschuldigende Worte.
+Ich konnte nicht mehr &uuml;ber eine Frage sprechen, ich
+war au&szlig;er stande, den Lesern fix und fertige Ansichten
+aufzutischen, seitdem sie mir zur pers&ouml;nlichen Angelegenheit
+geworden war, und ich ihr f&uuml;r mich selbst die Antwort
+noch schuldig bleiben mu&szlig;te.</p>
+
+<p>Mein Mann kam nach Hause. &raquo;Bist du schon fertig?&laquo;
+fragte er mit einem verwunderten Blick auf den
+Schreibtisch, dessen Aussehen keine Arbeit mehr verriet.
+Ich erkl&auml;rte ihm die Situation, obwohl ich von vorn
+herein wu&szlig;te, da&szlig; ihm das volle Verst&auml;ndnis daf&uuml;r
+fehlen w&uuml;rde. Er hatte schon oft nachsichtig, wie &uuml;ber
+eine kindliche Torheit gel&auml;chelt, wenn ich den Konflikt
+<a name="Page_228" id="Page_228"></a>ber&uuml;hrte, in dem ich mich befand; er war sogar
+hie und da heftig geworden, hatte mich f&uuml;r sentimental,
+f&uuml;r &uuml;ber&auml;ngstlich erkl&auml;rt, wenn ich die Trennung von
+meinem Kinde, die meine Berufs- und Parteipflichten
+mir auferlegte, so schwer nahm. Auch heute sch&uuml;ttelte
+er den Kopf und unterdr&uuml;ckte sichtlich eine Antwort,
+weil er mich nicht verletzen wollte. &raquo;Ich glaube, wir
+haben Grenzpf&auml;hle ber&uuml;hrt, die das Reich des Weibes
+von dem des Mannes trennen,&laquo; sagte ich nachdenklich.
+&raquo;Wir sind nicht imstande, wie Ihr, alle Probleme in
+k&uuml;hler Objektivit&auml;t zu l&ouml;sen, &mdash; wie eine mathematische
+Aufgabe.&laquo;</p>
+
+<p>Gegen Abend besuchte uns Romberg. Wir waren
+rasch mitten in lebhaftester Debatte. Das Fernbleiben
+aller jungen sozialpolitischen Professoren vom Z&uuml;richer
+Arbeiterschutz-Kongre&szlig; hatte wie eine gemeinsame Demonstration
+gewirkt und war mir um so peinlicher aufgefallen,
+als es im Gegensatz nicht nur zu meinen
+gro&szlig;en Hoffnungen, sondern auch im Gegensatz zu ihren
+eigenen W&uuml;nschen und &Auml;u&szlig;erungen gestanden hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Waren Sie nicht derjenige, der es stets bedauerte,
+da&szlig; Gelehrte und Arbeiter nicht einmal auf dem Gebiet
+der Sozialpolitik sich begegnen und miteinander beraten
+k&ouml;nnten?&laquo; fragte mein Mann. &raquo;Und nun bot sich
+Ihnen endlich die Gelegenheit, und Sie ergriffen sie
+nicht!&laquo; Romberg bi&szlig; sich in die Lippen, wie immer,
+wenn er um eine Antwort verlegen war.</p>
+
+<p>&raquo;Die Zeit war ungl&uuml;cklich gew&auml;hlt,&laquo; meinte er schlie&szlig;lich z&ouml;gernd.</p>
+
+<p>&raquo;Warum sagen Sie nicht lieber gleich, was die linksliberale
+Presse zu ihrer Rechtfertigung feierlich erkl&auml;rte,<a name="Page_229" id="Page_229"></a>&laquo;
+rief ich emp&ouml;rt, &raquo;da&szlig; die starke Beteiligung unserer
+Partei den Kongre&szlig; von vorn herein zu einem sozialdemokratischen
+gestempelt habe und preu&szlig;ische Professoren
+daher nicht hingeh&ouml;rten!&laquo;</p>
+
+<p>Er unterbrach mich: &raquo;Sie wissen genau, da&szlig; der
+Vorwurf eines Mangels an Mut mich nicht treffen
+kann!&laquo; Ich dachte an das rote Buch und lenkte ein.
+Aber die gegenseitige Verstimmung wich erst allm&auml;hlich
+dem Interesse am Gegenstand unseres Gespr&auml;chs.</p>
+
+<p>&raquo;Die blutige Wanda hat, wie ich gelesen habe, in
+Z&uuml;rich auch die Frauenfrage gel&ouml;st,&laquo; sagte Romberg mit
+einem sarkastischen L&auml;cheln.</p>
+
+<p>&raquo;Ich f&uuml;rchte, jede &#8250;L&ouml;sung&#8249; ist nur der Ausgangspunkt
+neuer Probleme,&laquo; erwiderte ich.</p>
+
+<p>Romberg warf mir einen &uuml;berraschten Blick zu:
+&raquo;Wie, &mdash; auch Sie beginnen, an der Unfehlbarkeit
+Ihrer P&auml;pste zu zweifeln?! Das wird ja immer
+besser: Sch&ouml;nlank putzt den alten Liebknecht herunter
+wie einen Schulbuben und weist ihm nach, da&szlig; die
+Verelendungstheorie angesichts der gestiegenen Lebenshaltung
+der Arbeiter zum alten Eisen geworfen werden
+mu&szlig; wie das eherne Lohngesetz seligen Angedenkens;
+Bebel tritt f&uuml;r die Beteiligung an den Landtagswahlen
+ein, was ein Preisgeben eines mit aller Lungenkraft
+verteidigten Prinzipes ist, und Alix Brandt wird
+zur Antifeministin &mdash;&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn Ihre Zusammenstellung eine Berechtigung hat,
+so ist es die, da&szlig; meine Zweifel ebensowenig zum Antifeminismus
+f&uuml;hren, wie Sch&ouml;nlanks oder Bebels Negationen
+veralteter Anschauungen zum Antisozialismus.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Also auch hier nur eine Revision des Programmes?&laquo;</p>
+<p><a name="Page_230" id="Page_230"></a></p>
+<p>&raquo;Auf Grund der Revision der Erfahrungen, die wir
+durchgemacht haben, &mdash; gewi&szlig;! &Uuml;brigens fehlt es ja
+der Frauenbewegung noch an jedem Programm, weil
+es ihren Problemen an der wissenschaftlichen Formulierung
+fehlt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das w&auml;re eine Aufgabe, die Sie l&ouml;sen m&uuml;&szlig;ten,&laquo;
+meinte Romberg lebhaft.</p>
+
+<p>&raquo;Damit w&uuml;rdest du dir und anderen zur Klarheit
+verhelfen&nbsp;&mdash;,&laquo; f&uuml;gte Heinrich rasch hinzu, &raquo;ein Buch
+&uuml;ber die Frauenfrage, das von einer Darstellung der
+tats&auml;chlichen Verh&auml;ltnisse ausgehen m&uuml;&szlig;te, das die wirtschaftliche,
+die soziale und die rechtliche Lage der Frauen
+zu behandeln h&auml;tte, ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;In Ihnen regt sich doch sofort der Redakteur,&laquo; unterbrach
+ihn Romberg. &raquo;Die vage angedeutete Idee ist
+unter Ihren H&auml;nden zur Disposition eines ganzen Werkes
+geworden.&laquo;</p>
+
+<p>Das Herz klopfte mir vor Erregung. Der Gedanke
+an diese Arbeit packte mich gerade durch seine Selbstverst&auml;ndlichkeit.
+Ein zusammenfassendes, grundlegendes
+Werk der Art gab es noch nicht. Es fehlte nicht nur
+mir, es fehlte der ganzen Bewegung, die auch darum
+so unsicher hin- und hertastete.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe, f&uuml;rchte ich, die n&ouml;tigen Vorkenntnisse nicht,&laquo;
+meinte ich schlie&szlig;lich zaghaft.</p>
+
+<p>&raquo;Daf&uuml;r haben Sie ja einen National&ouml;konomen zum
+Mann,&laquo; antwortete Romberg.</p>
+
+<p>W&auml;hrend des Abends, den wir im Theater verbrachten,
+dachte ich nur an den Plan der Arbeit, die ich entschlossen
+war auszuf&uuml;hren. Erst auf Rombergs wiederholtes:
+&raquo;Sehen Sie nur!&laquo; sah ich mich um. In der<a name="Page_231" id="Page_231"></a>
+Reihe vor uns erschienen zwei seidenrauschende Damen
+mit goldroten Haaren, feuchtschimmernden Augen und
+unnat&uuml;rlich gl&uuml;henden Lippen. &raquo;Wird f&uuml;r diese in
+Ihrem Zukunftsstaat kein Platz sein?&laquo; fl&uuml;sterte Romberg.
+&raquo;Ich hoffe nicht!&laquo; sagte ich. &raquo;Schade!&laquo; antwortete er
+l&auml;chelnd. In der Bewunderung f&uuml;r derlei Erscheinungen
+ist er wie ein Onkel aus der Provinz, dachte ich &auml;rgerlich.
+Als wir aber nachher, seiner Gewohnheit gem&auml;&szlig;,
+die die Nacht gern zum Tage machte, noch lange bei
+uns zusammensa&szlig;en, kam er auf die Begegnung zur&uuml;ck:
+&raquo;K&ouml;nnen Sie sich wirklich eine Welt als w&uuml;nschenswert
+vorstellen, in der alle Frauen Berufsphilister werden,
+wie es heut schon alle M&auml;nner sind; in der sie keine
+Zeit mehr haben, ihre Sch&ouml;nheit zu pflegen, kurz, in
+der alle duftenden Luxusg&auml;rten in Kartoffelfelder verwandelt
+werden?&laquo; &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;Ich w&uuml;rde solch eine Welt zerst&ouml;ren und nicht schaffen
+helfen! Aber Frauen, wie jene, auf die Sie anspielen,
+geh&ouml;ren nicht zu den duftenden Blumen, zu den an sich
+unn&uuml;tzen, aber unentbehrlichen Reizen des Lebens. Sie
+sind verdorbene Speisen f&uuml;r verdorbene Gaumen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&ouml;gen in dem Einzelfall recht haben; unumst&ouml;&szlig;lich
+aber bleibt f&uuml;r mich das Eine: nicht die Berufsarbeiterin,
+nicht die, nach Ihren Begriffen freie, emanzipierte
+Frau wird der Kultur h&ouml;chste Bl&uuml;te sein, sondern
+die <em class="antiqua">femme amante</em>.&laquo; Er sah mich kampflustig an, er
+liebte den Widerspruch und erwartete ihn; der Typus
+einer Frauenrechtlerin stand f&uuml;r ihn ein f&uuml;r allemal fest,
+und er glaubte immer wieder, ihn in mir vor sich zu
+haben.</p>
+
+<p>&raquo;Sie hoffen umsonst auf meine sittliche Emp&ouml;rung,<a name="Page_232" id="Page_232"></a>&laquo;
+spottete ich, &raquo;meine Meinung stimmt fast &uuml;berein mit
+der Ihren, nur da&szlig; ich die Existenz der <em class="antiqua">femme amante</em>
+leugne, solange nicht die wahrhaft freie Frau ihre Voraussetzung
+ist...&laquo;</p>
+
+<p>Als Romberg uns verlassen hatte, zog mein Liebster
+mich in seine Arme und fl&uuml;sterte mir ins Ohr: &raquo;H&auml;tte
+ich nicht meinem dummen Katzel widersprechen m&uuml;ssen,
+das die <em class="antiqua">femme amante</em> wegdisputieren will und selbst
+nichts anderes ist?&laquo; &raquo;Und nichts anderes sein will,&laquo;
+sagte ich leise und gab ihm seinen Ku&szlig; zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>Ich lag noch lange wach und gr&uuml;belte. Ob ich
+ihm anvertrauen k&ouml;nnte, was mich bewegte? Schon in
+der kurzen Zeit meiner Ehe war mir klar geworden,
+was ich vorher nicht verstanden und darum nur verurteilt
+hatte: warum Staat und Kirche nicht die Liebe,
+sondern die Pflicht zur Grundlage der Ehe gemacht
+haben, warum nach ihnen die Zeugung, Erhaltung und
+Erziehung der Nachkommenschaft ihre Hauptaufgabe ist.
+Die Ehe kam mir vor wie eine moralische alte Jungfer,
+die der jungen unb&auml;ndigen Liebesleidenschaft durch ihre
+Predigten das Leben st&auml;ndig verg&auml;llt. Die Liebe braucht
+Festtagsstimmung, die Ehe braucht den Alltag. Vor
+jedem rauhen Luftzug, den die Ehe erzeugt, l&auml;&szlig;t die
+zarte Blume der Liebe die Bl&auml;tter h&auml;ngen. Die Liebe
+ist ein Rausch, die Ehe ist n&uuml;chtern. Lodern auf dem
+Altar der Liebe die Flammen, so sch&auml;men sich die
+Opfernden wie arme S&uuml;nder, wenn die Ehe sie
+pl&ouml;tzlich ertappt. Eins aber vor allem wurde mir
+t&auml;glich gewisser: die Liebe fordert Freiheit, die Ehe
+Abh&auml;ngigkeit. Einer mu&szlig; sich dem anderen unterordnen,
+wenn der Frieden des Hauses gewahrt sein
+<a name="Page_233" id="Page_233"></a>soll, wo aber in der Liebe Unterordnung anf&auml;ngt, flieht
+sie selbst.</p>
+
+<p>So t&uuml;rmten sich die Probleme der Frauenfrage, &mdash; meiner
+Frauenfrage. Wahrlich, es war eine gro&szlig;e
+Aufgabe, sie zu l&ouml;sen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Ich st&uuml;rzte mich mit Feuereifer in die Vorstudien
+meiner Arbeit; da&szlig; sie mich ans Haus, an
+den Schreibtisch fesselte, war eine willkommene
+Begleiterscheinung.</p>
+
+<p>Als der Vortragsaufforderungen gar zu viele wurden, &mdash; und
+es blieb nicht bei blo&szlig;en Aufforderungen,
+deren Annahme oder Ablehnung der Entscheidung
+des Einzelnen &uuml;berlassen blieb, die Genossinnen verf&uuml;gten
+vielmehr ohne viel zu fragen &uuml;ber meine Arbeitskraft&nbsp;&mdash;,
+erz&auml;hlte ich von dem Buch, das ich vorbereitete,
+und das mir eine gewisse Beschr&auml;nkung auferlege. Ich
+war nicht wenig erstaunt, da&szlig; dieselben Menschen, die
+der Wissenschaft eine fast unbegrenzte Bedeutung zumessen,
+&uuml;ber meine Mitteilung die Nase r&uuml;mpften und
+sie nur als einen Vorwand ansahen, um mich von der
+Agitation zur&uuml;ckzuziehen. Je mehr ich sie zu &uuml;berzeugen
+suchte, desto weniger verstanden sie mich. &raquo;Wer so 'ne
+Erziehung jehabt hat, wie die Jenossin Brandt, f&uuml;r den
+is das Schreiben doch keen Kunstst&uuml;ck,&laquo; sagte eine von
+ihnen. &raquo;Un ieberhaupt: im Erfurter Programm steht
+haarkleen allens, wat wir wollen,&laquo; f&uuml;gte eine andere
+hinzu. &raquo;Genosse Bebels &#8250;Frau&#8249; und Genossin Orbins
+Artikel in der &#8250;Freiheit&#8249; sind als Grundlage f&uuml;r unsere
+Bewegung mehr als ausreichend,&laquo; sagte Martha Bartels
+<a name="Page_234" id="Page_234"></a>mit einer Sch&auml;rfe, die sich steigerte, je &auml;lter sie wurde.
+Ich sah ein, da&szlig; nichts zu machen war; im Grunde
+hatten die Frauen recht, wenn sie sich um ungelegte
+Eier nicht k&uuml;mmern mochten.</p>
+
+<p>Nur eine Idee erw&auml;hnte ich noch, die ich k&uuml;rzlich als
+den gesunden Kern aus der ungenie&szlig;baren Schale einer
+franz&ouml;sischen Brosch&uuml;re herausgesch&auml;lt hatte: die einer
+staatlichen Mutterschafts-Versicherung. Ich wollte ihr eine
+fest umrissene Gestalt geben und sie in den Mittelpunkt
+meines Buches stellen. Die Mutter sch&uuml;tzen, solange sie
+das Kind unter dem Herzen tr&auml;gt, sie dem Kinde erhalten,
+solange es der Pflege und Ern&auml;hrung durch sie
+bed&uuml;rftig ist, &mdash; das schien mir aber auch ein Ziel,
+w&uuml;rdig einer starken Bewegung, es zu erreichen. Ich
+schlug vor, in unseren Versammlungen die Frage zur
+Er&ouml;rterung zu bringen. Aber seltsam: um unseren
+Sitzungstisch sa&szlig;en die fr&uuml;h gealterten, abgeh&auml;rmten
+M&uuml;tter, und kein Wort, keine Miene verriet, da&szlig; der
+Gedanke sie zu erw&auml;rmen verm&ouml;chte. Alles Neue galt
+ihnen zun&auml;chst als etwas Feindliches. Diese Revolution&auml;rinnen
+hatten schon eine Tradition und waren
+darum vielfach reaktion&auml;r.</p>
+
+<p>Von dem Plan meines Werkes sprach ich mit ihnen
+nicht mehr. Aber ich beschlo&szlig;, alle Zeit, die mir blieb,
+ihm zu widmen.</p>
+
+<p>Doch auf die M&ouml;glichkeit stetiger Arbeit hoffte ich
+vergebens.</p>
+
+<p>An unserem Schreibtisch sa&szlig;en wir, mein Mann
+und ich. Wie sch&ouml;n hatten wir es uns gedacht,
+das gemeinsame Arbeiten! Aber dieses Einandergegen&uuml;bersitzen
+von zwei Menschen, die sich lieben, die jeden<a name="Page_235" id="Page_235"></a>
+Ausdruck im Gesicht des anderen sehen m&uuml;ssen und unwillk&uuml;rlich
+zu deuten versuchen, diese Sorge, einander
+ja nicht zu st&ouml;ren, schufen eine <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'Atmosp&auml;re'">Atmosph&auml;re</ins> von Nervosit&auml;t,
+die um so unertr&auml;glicher wurde, als keiner den
+Mut hatte, sie dem anderen zu gestehen. Es kam vor,
+da&szlig; ich aufatmete, wenn mein Mann das Zimmer verlie&szlig;;
+und oft ging ich hinaus, weil ich f&uuml;hlte, da&szlig; er
+allein sein mu&szlig;te.</p>
+
+<p>Tausenderlei Dinge zerrissen die Tage und die Stimmung:
+Da gab's bei den Kindern Vokabeln zu &uuml;berh&ouml;ren
+und Anz&uuml;ge zu flicken, da waren die Haushaltssorgen,
+die mich um so st&auml;rker in Anspruch nahmen, je
+weniger ich von ihnen verstand, und die st&auml;ndige angstvolle
+Frage: komme ich aus? Auf meinen Mann, der
+f&uuml;r mich die G&uuml;te und R&uuml;cksicht selber war, wirkte sie
+wie ein rotes Tuch. Ohne irgendeine Erkl&auml;rung und
+Entschuldigung gelten zu lassen, hielt er mich stets f&uuml;r
+schuldig, wenn ich sie nicht bejahend beantworten konnte.
+&raquo;Du verschwendest, &mdash; du l&auml;&szlig;t dich vom M&auml;dchen betr&uuml;gen&nbsp;&mdash;,&laquo;
+rief er, w&auml;hrend die Zornadern ihm auf
+der Stirne schwollen. Und doch lebten wir nach meinen
+anerzogenen Begriffen &uuml;ber die Ma&szlig;en einfach. Mich
+kr&auml;nkte sein Zorn, den ich als Ungerechtigkeit empfand.
+Ich konnte keine gute Hausfrau sein, wenn ich zu gleicher
+Zeit meinen schriftstellerischen Beruf aus&uuml;ben wollte.
+Das menschliche Gehirn ist auf das Nebeneinander von
+zwei Gedankenketten nicht eingerichtet. Und der Haushalt
+erfordert umsomehr die Gedankenwelt der Frau, je
+weniger ihr seine Pflichten zur mechanischen Gewohnheit
+geworden sind. Mir blieb kein Ausweg: ich verschwieg
+meine Sorgen, ich vermied es soviel als m&ouml;glich, meinen<a name="Page_236" id="Page_236"></a>
+Mann um Geld zu bitten, was ich immer als eine Erniedrigung
+meiner selbst empfand. Wanda Orbin hatte
+recht, tausendmal recht: die &ouml;konomische Selbst&auml;ndigkeit
+des Weibes ist die Voraussetzung einer gl&uuml;cklichen Verbindung
+der Geschlechter, sie hilft so manche andere
+Klippen der Ehe umschiffen. Ich schrieb, neben der
+Vorarbeit f&uuml;r mein Buch, wieder Artikel f&uuml;r Zeitschriften
+und Tagesbl&auml;tter, um Geld zu verdienen.</p>
+
+<p>Nur wenn ich bei meinem Kinde war, wenn seine
+Pflege meine Gedanken in Anspruch nahm, dann empfand
+ich das nicht wie eine St&ouml;rung oder wie ein Ablenken
+von meiner eigentlichen T&auml;tigkeit. F&uuml;hlte ich sein
+warmes rundes K&ouml;rperchen in meinen Armen, so str&ouml;mte
+wunschloser Friede mir tief ins Herz. Lachten mich
+seine blauen Augen an, so verga&szlig; ich alles dar&uuml;ber,
+was es an Gl&uuml;ck in der Welt noch geben mochte, und
+weinte er, und ich wu&szlig;te nicht warum, so gab es kein
+Menschenleid, das mir h&auml;tte gr&ouml;&szlig;er erscheinen k&ouml;nnen;
+klammerten sich seine rosigen, kleinen Finger fest um
+die meinen, so f&uuml;hlte ich, da&szlig; er f&uuml;r immer von mir
+Besitz ergriffen hatte; da&szlig; mein Herz dazu da war, um
+ihn zu lieben, mein Geist, um ihn zu erziehen, meine
+Kraft, um ihm den Weg ins Leben bahnen zu helfen.
+Kam ich von ihm zu meinem Mann zur&uuml;ck, so war
+jeder Schatten von Kummer verschwunden, ich liebte
+ihn doppelt, weil er meines Kindes Vater war. Und
+sah ich meine Stiefs&ouml;hne dann, so tat mir das Herz
+weh: ich konnte sie nicht lieben wie mein eigenes Kind;
+sie mu&szlig;ten das f&uuml;hlen, wenn ich mich auch noch so sehr
+bem&uuml;hte, meine Z&auml;rtlichkeit f&uuml;r den Kleinen nur zu
+&auml;u&szlig;ern, sobald sie fern waren.</p>
+
+<p><a name="Page_237" id="Page_237"></a>Zuweilen, wenn das Geld wieder einmal recht knapp
+war, dachte ich nicht ohne Bitterkeit an die reiche Mutter
+dieser Kinder. Aber meinem Mann sagte ich nichts davon.
+Die Erziehung, die ich zu Hause genossen hatte,
+und deren Folgen Georgs sanfte Hand von mir abzustreifen
+vermochte, bekam wieder Macht &uuml;ber mich: ich
+lernte schweigen, um nicht zu verletzen, und um Auseinandersetzungen
+aus dem Wege zu gehen.</p>
+
+<p>Meine Mutter kam um jene Zeit h&auml;ufig zu mir.
+Seitdem wir unser Kind hatten taufen lassen, war sie
+viel milder und herzlicher geworden, obwohl ich sie &uuml;ber
+unsere Beweggr&uuml;nde nicht im Irrtum gelassen hatte.
+&raquo;Wir haben kein Recht, dies Kind von vornherein in
+eine Ausnahmestellung zu zwingen,&laquo; hatte ich ihr gesagt,
+als sie in unserer Handlungsweise einen Ausdruck
+unseres eigenen Gesinnungswechsels zu sehen glaubte;
+&raquo;ebensowenig wie wir es sp&auml;ter, wenn es selbst&auml;ndig
+denken kann, hindern wollen, zu tun oder zu lassen,
+was seiner eigenen &Uuml;berzeugung entspricht.&laquo;</p>
+
+<p>Aber nach anderen Richtungen h&uuml;tete ich mich um
+so mehr, sie ins Vertrauen zu ziehen. Sie hatte
+mir h&auml;ufig gesagt: &raquo;Wenn du einmal verheiratet bist,
+wirst du einsehen, da&szlig; das Leben der Frau aus lauter
+Opfern und im Kampf mit lauter Kleinkram besteht!&laquo;
+Sie durfte nicht glauben, da&szlig; ihre Prophezeiung in
+Erf&uuml;llung gegangen w&auml;re. Und sie mu&szlig;te in der Meinung
+erhalten werden, die sie schlie&szlig;lich allein &uuml;ber
+meine Heirat getr&ouml;stet hatte: da&szlig; meine &auml;u&szlig;ere Lage
+die behaglichste sei. An der Art, wie diese ruhige, anscheinend
+k&uuml;hle Frau ihre Freude dar&uuml;ber &auml;u&szlig;erte, sah
+ich erst, wie sehr sie selbst unter den dauernden peku<a name="Page_238" id="Page_238"></a>ni&auml;ren
+Sorgen gelitten hatte. Wie oft hatte ich sie
+um ihrer H&auml;rte willen im stillen angeklagt. Jetzt bat
+ich ihr manches ab. Ich erinnerte mich, wie umsichtig
+sie den gro&szlig;en Haushalt gef&uuml;hrt hatte, wie sie stunden- und
+tagelang W&auml;sche flickte und uns unsere Kleider
+n&auml;hen half, &mdash; wie schwer mochte es auch ihr geworden
+sein, wie viel mochte sie entbehrt haben!</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Weihnachten 1897 war es. Zum erstenmal
+putzte ich f&uuml;r mein Kind den Weihnachtsbaum.
+Erstaunt ri&szlig; es die Augen auf
+und streckte die H&auml;ndchen verlangend aus, als es die
+vielen bunten Lichter sah! Unter der Tanne lag allerlei
+Spielzeug f&uuml;r ihn, darunter ein gro&szlig;er bunter Hampelmann,
+den mein Vater geschickt hatte. Mit dem
+S&ouml;hnchen auf dem Arm trat ich zu meinem Weihnachtstisch,
+auf dem ein geheimnisvoll versiegelter Brief lag. Ich
+&ouml;ffnete ihn, w&auml;hrend mein Junge fr&ouml;hlich lallend den
+Hampelmann hin- und herschwenkte: &raquo;Ein H&auml;uschen im
+Grunewald&laquo; stand darin. Vor &Uuml;berraschung war ich
+sprachlos. Heinrich umarmte mich und das Kind, gl&uuml;ckselig
+&uuml;ber die Freude, die er bereitet hatte. In aller
+Stille hatte er mit Hall verhandelt und ihn rasch bereit
+gefunden, unseren Wunsch durch die Beschaffung von
+Baugeld und Hypotheken erf&uuml;llen zu helfen. &raquo;Wie wird
+unser Kind gedeihen, wie ruhig und friedlich wird meine
+Alix dort arbeiten k&ouml;nnen!&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>&raquo;Werden wir auch die Zinsen aufbringen k&ouml;nnen?&laquo;
+meinte ich schlie&szlig;lich, nachdem der erste Sturm der
+Freude sich gelegt hatte. Ein Schatten flog &uuml;ber seine<a name="Page_239" id="Page_239"></a>
+Z&uuml;ge: &raquo;Mu&szlig;t du dich immer gleich wieder f&uuml;rchten, &mdash; auch
+angesichts solch eines Gl&uuml;cksfalles?!&laquo; Besch&auml;mt
+senkte ich den Kopf. Die Lichter waren l&auml;ngst erloschen,
+und die Kinder schliefen, unser Liebling mit dem Hampelmann,
+fest an sich gedr&uuml;ckt; der s&uuml;&szlig;e Duft der Wachskerzen,
+vereint mit dem starken der Tanne, erf&uuml;llte das
+Zimmer; wir gro&szlig;en Kinder tr&auml;umten darin unseren
+Weihnachtstraum: von dem stillen H&auml;uschen im Wald,
+fern dem L&auml;rm der Gro&szlig;stadt, von einer Heimat, die
+wir beide nie gekannt hatten, von unserem Kind, das
+wachsen sollte wie die B&auml;ume: die Wurzeln im Boden
+der Mutter Erde, das Haupt erhoben, der Sonne zu
+und dem Sturme trotzend.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen, einem echten Weihnachtsfeiertag,
+&uuml;ber den der Himmel all seinen Glanz und seine
+Farben go&szlig;, zog ich meinem blonden Buben ein wei&szlig;es
+M&auml;ntelchen an, packte ihn sorgf&auml;ltig in die weichen
+Kissen seines wei&szlig;en Wagens und schickte ihn zu den
+Eltern. Meine Gedanken begleiteten ihn: wie ein helles
+Licht sah ich ihn auftauchen in dem dunklen Flur, sah,
+wie der Gro&szlig;vater ihn feuchten Auges in die Arme
+nahm, f&uuml;hlte, wie der letzte eiserne Reifen um des alten
+Mannes Herz zersprang.</p>
+
+<p>&raquo;Das war ein lieber Gedanke von Dir,&laquo; schrieb die
+Mutter. &raquo;Ich habe Deinen Vater seit Jahren nicht
+so froh gesehen. Er strahlt noch jetzt und behauptet,
+es g&auml;be in der ganzen Welt kein zweites Kind wie
+seinen Enkel. Mich hat die Nachricht von Heinrichs
+Weihnachtsgeschenk noch besonders begl&uuml;ckt: so hat Gott
+meine Gebete doch erh&ouml;rt und alle Strafe von Dir abgewendet!&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_240" id="Page_240"></a></p>
+
+<p>Unseren wundergl&auml;ubigen Vorfahren galten die
+zw&ouml;lf N&auml;chte, die dem Weihnachtsabend folgen,
+f&uuml;r heilig: in dieser Zeit wurde die Arbeit
+auf das notwendigste beschr&auml;nkt, nur in Feiertagsgew&auml;ndern
+begegneten die Menschen einander, und die
+Tr&auml;ume, die getr&auml;umt wurden, gingen in Erf&uuml;llung.
+Unter der Schwelle unseres Bewu&szlig;tseins lebt und wirkt
+auch heute noch dieser Glaube. In den Stra&szlig;en und
+in den Herzen ist es stiller als sonst. Der fieberhafte
+Pulsschlag des &ouml;ffentlichen Lebens stockt. Selbst der
+heimatloseste Weltenbummler sucht sich einen Winkel
+Familienleben, wo er unterkriechen kann. Und wem es
+recht wohl und warm ums Herz wird, der w&uuml;nscht zuweilen,
+sich auf immer einspinnen zu k&ouml;nnen in diese Stille.</p>
+
+<p>Aber das junge Jahr wirft alle guten Gaben, die
+die Greisenhand des alten zum Abschied spendete, aus
+seinem Lebenspalast hinaus und ruft mit schmetternden
+Fanfaren zu neuen K&auml;mpfen, richtet Ziele auf mit
+lockenden Preisen, so da&szlig; auch die s&uuml;&szlig; Schlummernden
+sich dem Land ihrer Tr&auml;ume entrei&szlig;en und im grellen
+Licht des Tages den alten Wettlauf wieder beginnen.</p>
+
+<p>So erging es auch uns. Sturmzeichen sahen die
+Wetterkundigen am Himmel seit jenen ersten Gewitterwolken
+kaiserlicher Reden im vergangenen Jahr. &raquo;R&uuml;cksichtslose
+Niederwerfung jeden Umsturzes&laquo; hatte die eine
+gefordert, als &raquo;Vaterlandslose&laquo; hatte die andere diejenigen
+gebrandmarkt, die den Flottenforderungen ablehnend
+gegen&uuml;berstanden. Inzwischen war die Flottenvorlage
+dem Reichstag zugegangen, die ihren Schatten
+monatelang vorausgeworfen hatte, und auf sieben Jahre
+<a name="Page_241" id="Page_241"></a>hinaus Millionen und Abermillionen f&uuml;r neue Schiffsbauten
+forderte. Doch die st&uuml;rmische Entr&uuml;stung, zu
+welcher der Philister sonst immer bereit ist, wenn seinem
+Geldsack Gefahr droht, war ausgeblieben. Denn in
+seiner psychologischer Kenntnis der Menschennatur, die
+um so &uuml;berraschender war, als die Regierungen ihre
+V&ouml;lker mit dergleichen nicht zu verw&ouml;hnen pflegen, waren
+Vorf&auml;lle, die fr&uuml;her spurlos vor&uuml;bergingen, &mdash; wie der
+Streit eines deutschen Kaufmanns mit den Polizeibeh&ouml;rden
+der Republik Haiti und die Ermordung zweier
+deutscher Missionare in China, &mdash; zu so ernsten Konflikten
+mit fremden M&auml;chten aufgebauscht worden, da&szlig;
+der <em class="antiqua">furor teutonicus</em> sich daran zu entz&uuml;nden vermochte.
+Einmal gereizt, griff der gute deutsche Michel
+wutschnaubend nach dem Racheschwert, und in seinen
+Tr&auml;umeraugen brannte pl&ouml;tzlich wieder die alte Sehnsucht
+nach fernen fremden L&auml;ndern und ihren M&auml;rchensch&auml;tzen.
+Was uns, die wir n&uuml;chtern geblieben waren,
+wie eine romantische Floskel klang, &mdash; die pathetische
+Rede des Kaisers an seinen nach China ausziehenden
+Bruder von dem Dreinfahren der gepanzerten Faust und
+dessen Antwort von dem &raquo;Evangelium der geheiligten
+Person Seiner Majest&auml;t&laquo;, das er im Auslande verk&uuml;nden
+wolle, &mdash; das entsprach im Augenblick dem fanatisierten
+Empfinden des deutschen B&uuml;rgers. Er, dessen
+Leben so lange sang- und klanglos dahingeflossen war,
+der seit Bismarcks Abschied f&uuml;r seine Begeisterungsf&auml;higkeit
+keinen Gegenstand mehr gehabt hatte, berauschte
+sich an der Idee der Weltmacht, und die ungeheure
+Flottenforderung schreckte ihn nun nicht mehr.</p>
+
+<p>Aber die Regierung erreichte durch ihre Politik noch
+<a name="Page_242" id="Page_242"></a>mehr als das: hatte das Interesse eines gro&szlig;en Teiles
+der Bourgeoisie sich in einer f&uuml;r sie bedenklichen Weise
+in den letzten Jahren der sozialen Frage zugewandt, so
+war nunmehr ein Mittel gefunden, es von ihr abzulenken.
+Mit schmerzlichem Erstaunen sah ich, wie
+M&auml;nner, auf die ich noch vor wenigen Monden f&uuml;r
+unsere Sache gerechnet hatte, den Nationalismus &uuml;ber
+den Sozialismus siegen lie&szlig;en, wie selbst ein Romberg
+und seine Freunde die Weltmachtpolitik verteidigten.
+Da&szlig; es zwischen ihr und der Arbeiterpolitik nichts anderes
+geben k&ouml;nne als unvers&ouml;hnlichen Gegensatz, schien
+mir &uuml;ber allem Zweifel zu stehen. F&uuml;r Rombergs Argumente,
+der in der Erschlie&szlig;ung neuer Absatzgebiete auch
+einen Vorteil f&uuml;r die deutsche Arbeiterschaft sah, war
+ich vollkommen unzug&auml;nglich.</p>
+
+<p>Die gro&szlig;e Flutwelle patriotischer Begeisterung trieb
+nicht nur alte Freunde von unserer Sache ab, sie trug
+uns auch neue Feinde zu. Vielen, die sich um Politik
+bisher kaum gek&uuml;mmert hatten, galten wir jetzt als
+Feinde des Vaterlandes, die mit allen Mitteln bek&auml;mpft
+werden m&uuml;&szlig;ten. Der Weizen Herrn von Stumms,
+unseres grimmigen alten Gegners, bl&uuml;hte; er drohte
+mit der Revolution von oben, wenn die Flottenvorlage
+im Reichstag zu Falle k&auml;me. Und tats&auml;chlich schien ein
+neues Ausnahmegesetz in Vorbereitung. Der &raquo;Vorw&auml;rts&laquo;
+ver&ouml;ffentlichte ein Geheimschreiben des Staatssekret&auml;rs
+des Innern an die verb&uuml;ndeten Regierungen, worin er
+ein Gesetz zum Schutz der Arbeitswilligen in Aussicht
+stellte, das, nach den Absichten unserer Gegner, die
+Koalitionsfreiheit der Arbeiter notwendig beeintr&auml;chtigen,
+wenn nicht vernichten w&uuml;rde.</p>
+
+<p><a name="Page_243" id="Page_243"></a>Was die Regierung gewollt hatte, wurde erreicht:
+eine Mehrheit f&uuml;r die Flottenvorlage, eine scharfe Trennung
+zwischen den b&uuml;rgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie
+f&uuml;r die Wahlen zum neuen Reichstag.</p>
+
+<p>Aber auch f&uuml;r uns schien die Lage g&uuml;nstig: auf der
+einen Seite die Weltmachtpolitik mit ihrer m&ouml;glichen
+Folge kostspieliger Kriegsabenteuer und dr&uuml;ckender Steuerlasten,
+auf der anderen die Bedrohung des Koalitionsrechtes, &mdash; war
+das nicht genug, um die proletarischen
+Massen zu einem gewaltigen Protest aufzupeitschen?!
+Warum war die Stimmung in unseren Versammlungen
+so flau, warum fehlte auch mir, wenn ich sprach, jene
+anfeuernde Kraft der Rede, die fr&uuml;her an ihren Wirkungen
+zutage getreten war? Die starke, hoffnungsvolle
+Freudigkeit war verloren gegangen, als ob sich zwischen
+uns und das Ziel, dem wir so leidenschaftlich zustrebten,
+ein dunkler Schleier gesenkt h&auml;tte. Durch die Einheit,
+die unsere Kraft gewesen war, ging ein blutender Ri&szlig;.
+Das Instrument der Partei klang verstimmt, als w&auml;re
+eine Saite gerissen.</p>
+
+<p>Langsam und allm&auml;hlich, f&uuml;r die meisten unmerklich,
+hatte es sich vorbereitet: mit der Entwickelung der Sozialdemokratie
+von der Sekte zur Partei hatte sich zuerst
+die Taktik ihres Vorgehens leise ver&auml;ndert. Von der
+Ablehnung jeder Beteiligung an einem Parlament des
+kapitalistischen Staates als eines unm&ouml;glichen Paktierens
+mit der Bourgeoisie bis jetzt, wo sogar von alten bew&auml;hrten
+F&uuml;hrern die Teilnahme an den Landtagswahlen
+unter dem Dreiklassenwahlsystem empfohlen wurde, war
+ein weiter Weg. Und er war gegangen worden. Was
+einer der wenigen Staatsm&auml;nner der Partei, Georg
+<a name="Page_244" id="Page_244"></a>von Vollmar, nach dem Fall des Sozialistengesetzes unter
+dem emp&ouml;rten Widerspruch der radikalen Elemente in
+der Partei erkl&auml;rt hatte: da&szlig; in dem Ma&szlig;e, in welchem
+wir einen unmittelbaren Einflu&szlig; auf den Gang der
+&ouml;ffentlichen Angelegenheiten gewinnen, wir unsere Kraft
+auf die n&auml;chsten und dringenden Dinge konzentrieren
+m&uuml;&szlig;ten und &raquo;dem guten Willen die offene Hand, dem
+schlechten die Faust&laquo; zu zeigen sei, &mdash; das hatte sich
+von Jahr zu Jahr als immer notwendiger erwiesen,
+und vor der Logik der Tatsachen wich die radikale Phrase
+blo&szlig;er Verneinung Schritt vor Schritt zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>Jetzt aber begann sogar die alt-ehrw&uuml;rdige Theorie
+vor dem Ansturm der jungen Praxis in ihren Grundfesten
+zu zittern. Im Lichte der fortschreitenden Zeit
+erwiesen sich manche Fundamentals&auml;tze, wie sie das Erfurter
+Programm formuliert hatte, als &uuml;berholt. Schon
+die Besch&auml;ftigung mit der Agrarfrage hatte gezeigt, da&szlig;
+die wirtschaftliche Entwickelung sich nicht &uuml;berall mit
+den von Marx aufgestellten Gesetzen in Einklang bringen
+lie&szlig;, da&szlig; die Konzentrierung des Kapitals sich nicht so
+rasch und nicht so schematisch vollzieht, wie er auf
+Grund damaliger Erfahrungen angenommen hatte. Und
+auch das vom kommunistischen Manifest mit apodiktischer
+Sicherheit in Aussicht gestellte allgemeine Herabsinken
+der Arbeiter in den Pauperismus war nicht eingetreten;
+die Lebenslage des Proletariats hatte sich vielmehr im
+Laufe des letzten halben Jahrhunderts gehoben. Und
+nun trat einer der bew&auml;hrtesten Vork&auml;mpfer des Sozialismus,
+einer ihrer M&auml;rtyrer, der noch im Exil in England
+lebte &mdash; Eduard Bernstein&nbsp;&mdash;, auf und er&ouml;rterte
+in breiter &Ouml;ffentlichkeit die neuen Probleme des Sozia<a name="Page_245" id="Page_245"></a>lismus.
+Er r&uuml;ttelte weder an seiner Voraussetzung
+noch an seinem Ziel, aber er zeigte an der Hand der
+Tatsachen, da&szlig; der Weg zwischen beiden l&auml;nger ist und
+anders geartet, als Marx und seine Sch&uuml;ler ihn dargestellt
+hatten, da&szlig; wir ihn daher mehr ber&uuml;cksichtigen,
+unsere Handlungen mehr auf seine Etappen, als auf
+das schlie&szlig;liche Ende einstellen m&uuml;&szlig;ten.</p>
+
+<p>Auf uns, die wir durch die Erkenntnis des Elends in
+der Welt zum Sozialismus gef&uuml;hrt worden waren, die
+wir von ihm in einem in seiner Wurzel religi&ouml;sen
+Glaubens&uuml;berschwang die Erl&ouml;sung von allem &Uuml;bel erwartet
+hatten, wirkte die k&uuml;hle Klarheit der Bernsteinschen
+Beweisf&uuml;hrungen niederschmetternd. Meinem Verstande
+waren die Grunds&auml;tze des Sozialismus so ohne
+weiteres einleuchtend gewesen, weil mein Gef&uuml;hl mit
+seinem Wollen von vornherein &uuml;bereinstimmte. Sie
+kritisch und wissenschaftlich zu pr&uuml;fen, war mir, wie
+Tausenden meiner Gesinnungsgenossen, nie eingefallen.
+Jetzt war es ein Gebot der h&ouml;chsten Tugend, &mdash; der
+intellektuellen Redlichkeit, &mdash; es nachzuholen.</p>
+
+<p>Die Zeiten meiner religi&ouml;sen Kinderk&auml;mpfe schienen
+wiedergekehrt zu sein. Nur da&szlig; ich jetzt mit allen Fasern
+meines Innern in dem Glauben wurzelte, dem ich
+meinen ganzen Lebensbesitz geopfert hatte, aus dem ich
+alle meine Kr&auml;fte sog. Was stand noch fest, dachte ich
+verzweifelt, wenn so vieles schwankte? Ern&uuml;chtert, &mdash; bar
+jener st&uuml;rmischen Begeisterung, die mich ausziehen
+lie&szlig;, der Menschheit eine neue Welt zu erk&auml;mpfen, sah
+ich den langen, &ouml;den Weg vor mir mit all seinen
+kleinen Hindernissen, die im Schwei&szlig;e unseres Angesichts
+&uuml;berwunden werden sollten, und mit dem Ziel, das im<a name="Page_246" id="Page_246"></a>
+Nebel der Ferne fast verschwand. Die Naivet&auml;t jungen
+Glaubens, die noch keine Probleme kennt, ist f&uuml;r die
+Masse der Menschen die Voraussetzung ihres Enthusiasmus
+und damit ihrer St&auml;rke. Ich hatte sie verloren
+wie viele meiner Genossen; das l&auml;hmte uns. Oft kamen
+Augenblicke, wo ich die anderen beneidete, die, sei es
+aus unbewu&szlig;ter Furcht vor einem inneren Zusammenbruch,
+sei es aus einer gewissen Beschr&auml;nktheit ihres
+Denkens, den alten Glauben gegen&uuml;ber der neuen Erkenntnis
+aufrecht erhielten und leidenschaftlich verteidigten.
+Mein Gef&uuml;hl war auf ihrer Seite, und nur zu
+h&auml;ufig ri&szlig; es mich wieder mit sich fort. Vielleicht w&auml;re
+es sogar auf lange Zeit hinaus das herrschende geblieben,
+wenn nicht mein Mann immer wieder meinen
+Verstand gegen mein Herz zu Hilfe gerufen h&auml;tte. Und
+die Tatsachen und die Zahlen waren unerbittlich: Die
+Konzentration des Kapitals und die Eroberung der politischen
+Macht durch das Proletariat waren die beiden
+anerkannten Bedingungen der Verwirklichung des Sozialismus.
+Aber der Schneckengang der Entwickelung zum
+Gro&szlig;betrieb, der zuweilen sogar ein Krebsgang zu sein
+schien, und die Tatsache, da&szlig; von hundert Wahlberechtigten
+nur achtzehn sozialdemokratische Stimmzettel
+abgaben und mehr als die H&auml;lfte der erwachsenen
+m&auml;nnlichen Arbeiterschaft der Sozialdemokratie
+noch gleichg&uuml;ltig, wenn nicht feindlich gegen&uuml;berstand,
+bewiesen, wie weit wir noch vom Ziel
+entfernt waren. Eine Selbstt&auml;uschung hier&uuml;ber w&auml;re
+ein Verbrechen an unserer Sache gewesen, &mdash; das sah
+ich ein. Es galt, den Kinderglauben ruhig und mutig
+aufzugeben.</p>
+
+<p><a name="Page_247" id="Page_247"></a>Mit jener r&uuml;cksichtslosen Leidenschaft, die stets das
+Produkt der Angst um die Gef&auml;hrdung der Grundlagen
+des Lebens und Wirkens ist, bek&auml;mpfte die Masse der
+Arbeiterschaft, an ihrer Spitze all die F&uuml;hrer, deren
+hei&szlig;bl&uuml;tiges Temperament &uuml;ber alle Zweifel siegte, und
+all die klugen Demagogen, die auf der Seite der Mehrheit
+blieben, weil ihre Macht von dieser Mehrheit abhing,
+die neuen Ideen und ihre Vertreter. Und dieser
+ganze Kampf fiel in die Vorbereitung der Reichstagswahlen;
+er l&auml;hmte die Agitationskraft der einen, die
+wie ich noch mit sich selbst zerfallen waren, er lenkte
+die Interessen der anderen ab, die die Partei vor dem
+unheilvollen Einflu&szlig; der Ketzer glaubten sch&uuml;tzen zu
+m&uuml;ssen.</p>
+
+<p>Wenn ich in Versammlungen sprach, f&uuml;hlte ich: meine
+Worte z&uuml;ndeten nicht. Einmal traf ich bei solcher Gelegenheit
+Reinhard wieder. Er schien mir sehr gealtert.
+Wir sprachen &uuml;ber unsere Aussichten. &raquo;Wir h&auml;tten
+zwanzig bis drei&szlig;ig Mandate erobern k&ouml;nnen,&laquo; sagte
+er, &raquo;w&auml;re das ganze Getratsch von Endziel und Bewegung
+uns nicht in die Parade gefahren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Hat Bernstein etwa nicht recht?!&laquo; fragte ich.</p>
+
+<p>&raquo;Recht! &mdash; Recht!&laquo; antwortete er heftig. &raquo;Nat&uuml;rlich
+hat er recht in dem, was er sagt, aber da&szlig; er es
+sagte, in diesem Augenblick sagte, war ein Fehler,
+ein schwerer Fehler. Wir alten Gewerkschafter, die
+wir mitten im Leben stehen, sind schon lange seiner
+Meinung, aber wir machen die Genossen nicht kopfscheu
+mit theoretischem Kram, wir handeln einfach, wie
+die Verh&auml;ltnisse es fordern.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So h&auml;tte er schweigen sollen?&laquo;</p>
+<p><a name="Page_248" id="Page_248"></a></p>
+<p>&raquo;Keineswegs! Er h&auml;tte nach den Wahlen f&uuml;nf Jahre
+zum Reden Zeit genug gehabt. Aber da&szlig; er uns jetzt
+diesen Kn&uuml;ppel zwischen die Beine schmei&szlig;t&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich dachte an Reinhards Worte, als mir ein andermal
+in der Diskussion ein rabiater Genosse vorwarf,
+auch ich h&auml;tte &raquo;das Endziel in die Tasche gesteckt&laquo;, und
+verteidigte mich nicht. Solange wir im Kampf gegen
+den gemeinsamen Gegner standen, mu&szlig;te die Streitaxt
+begraben werden. Aber die Radikalen dachten anders.
+Es kam vor, da&szlig; Reichstagskandidaten von den eigenen
+Genossen wie Parteiverr&auml;ter behandelt wurden. Wanda
+Orbin vor allem, die immer wieder erkl&auml;rte, da&szlig; die
+Reinheit der Partei ihr h&ouml;her st&uuml;nde als ihre numerische
+St&auml;rke, wurde zur fanatischen Gegnerin aller
+derer, die sich nicht unverbr&uuml;chlich auf die alten Dogmen
+einschwuren. Und mehr als je hatte sie die Frauen
+auf ihrer Seite, &mdash; die Frauen, die nicht auf dem
+Wege wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern einzig und
+allein durch ihr Gef&uuml;hl geleitet zu Sozialistinnen geworden
+waren. Mit jener naiven Kraft der ersten
+Christen, die ihr ganzes Tun und Denken auf die
+unmittelbare Wiederkehr des Gekreuzigten eingerichtet
+hatten, hofften sie auf die baldige Erf&uuml;llung ihres Zukunftstraums.</p>
+
+<p>Als das Resultat der Wahlen bekannt wurde, &mdash; es
+war in bezug auf die Zunahme der Mandate,
+aber noch mehr im Hinblick auf das Stimmenverh&auml;ltnis
+weit hinter unseren Erwartungen zur&uuml;ckgeblieben, &mdash; stieg
+die Erbitterung gegen die &raquo;Bernsteinianer&laquo;,
+denen man die Schuld an diesem Ergebnis
+zuschob, noch mehr.</p>
+
+<p><a name="Page_249" id="Page_249"></a>Ein Symptom f&uuml;r die allgemeine Stimmung war
+der Beschlu&szlig;, der nach einer st&uuml;rmischen Versammlung
+im Feenpalast von den Berlinern gefa&szlig;t wurde. Seinem
+Wortlaut nach richtete er sich zwar nur gegen eine Beteiligung
+an den Landtagswahlen in Berlin selbst, sein
+Tenor aber war eine Verurteilung der Beteiligung &uuml;berhaupt.
+Sie erschien den Radikalen als ein bedenkliches
+Hinneigen zu revisionistischen Ideen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>In dem Kreise der Genossinnen &auml;u&szlig;erte sich das
+gegenseitige Mi&szlig;trauen weniger im Streit um
+Meinungen, als in pers&ouml;nlichen Reibereien. War
+ich schon w&auml;hrend meiner T&auml;tigkeit in der b&uuml;rgerlichen
+Frauenbewegung zu der &Uuml;berzeugung gelangt, da&szlig; diese
+spezifisch weibliche Art nur durch eine Zusammenarbeit
+mit dem Mann sich beseitigen lassen w&uuml;rde, so war ich
+jetzt entschlossen, den Einflu&szlig;, den ich noch besa&szlig;, nach
+dieser Richtung geltend zu machen.</p>
+
+<p>&raquo;Wir haben die Gleichberechtigung der Geschlechter
+auf das Programm geschrieben, wir m&uuml;ssen sie also zu
+allererst in der eigenen Partei durchf&uuml;hren,&laquo; erkl&auml;rte ich,
+und selbst die Feindseligsten waren in diesem Gedanken
+mit mir einig. &raquo;Bei den Genossen aber werden Sie
+damit sch&ouml;n abblitzen!&laquo; meinte Martha Bartels. &raquo;Bei
+denen hei&szlig;t's noch immer, wenn unsereins den Mund
+auftut: Kusch dich! zu Hause &mdash; wie in der Bewegung,&laquo;
+sagte eine andere langj&auml;hrige Parteigenossin.
+&raquo;Sie wissen, wie wir voriges Jahr behandelt worden
+sind,&nbsp;&mdash;&laquo; f&uuml;gte die dicke Frau Wengs hinzu, &raquo;als wir
+auch nur eine Einzigste von uns in den allgemeinen<a name="Page_250" id="Page_250"></a>
+Versammlungen als Delegiertin zum Parteitag wollten
+aufgestellt haben. &#8250;Wascht man eure dreckige W&auml;sche
+alleene&nbsp;&mdash;,&#8249; sagten uns die Vertrauensleute.&laquo; &raquo;So
+m&uuml;ssen wir eben immer wiederkommen,&laquo; entgegnete ich,
+&raquo;Na &mdash; f&uuml;r die sch&ouml;nen Augen von Genossin Brandt
+tun sie's am Ende,&laquo; h&ouml;hnte Martha Bartels. Schlie&szlig;lich
+beschlo&szlig; man, noch einen Versuch zu machen, und
+es gelang auf einer der Parteiversammlungen, zun&auml;chst
+meine Delegation zum Parteitag der Provinz Brandenburg
+durchzusetzen. Die Freude der Genossinnen &uuml;ber
+diesen Erfolg war die der Kinder, wenn sie ein neues
+Spiel beginnen: auf eine Zeitlang war jeder Streit
+vergessen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Am Vorabend der Provinzialkonferenz ver&ouml;ffentlichte
+die Presse eine neue Rede des Kaisers,
+die er im Kurhause von &Ouml;ynhausen gehalten
+hatte: &raquo;Das Gesetz naht sich seiner Vollendung und
+wird den Volksvertretern noch in diesem Jahre zugehen,
+worin jeder, der einen deutschen Arbeiter, der willig
+ist, seine Arbeit zu vollf&uuml;hren, daran zu verhindern
+sucht, oder gar zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus
+bestraft werden soll ...&laquo;</p>
+
+<p>Das bedeutete nichts weniger und nichts mehr, als
+eine Vernichtung des Koalitionsrechts, das war eine
+Kriegserkl&auml;rung an das Proletariat, f&uuml;r die es nur eine
+Antwort gab: einm&uuml;tiges Zusammenhalten. In der
+Sitzung am n&auml;chsten Morgen brachte ich eine Protestresolution
+ein, die zur einstimmigen Annahme gelangte,
+und unter dem Eindruck der kaiserlichen Drohung ver<a name="Page_251" id="Page_251"></a>lief
+die Tagung ohne einen Mi&szlig;klang. Martha Bartels
+sch&uuml;ttelte mir herzlich die Hand, wie seit Monaten
+nicht, die gute Frau Wengs lachte &uuml;ber das ganze
+runde Gesicht, klopfte mir wohlwollend auf die Schulter
+und versicherte: &raquo;Nun haben Sie uns aber alle miteinander
+auf Ihrer Seite.&laquo;</p>
+
+<p>Zwei Tage sp&auml;ter erfuhr ich, da&szlig; einer der berliner
+Wahlkreise bereit sei, mich zum n&auml;chsten Parteitag zu
+delegieren.</p>
+
+<p>&raquo;Du bist leicht zu befriedigen!&laquo; sagte mein Mann
+mit einem leise sp&ouml;ttischen Ton in der Stimme, als er
+meine Freude sah.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist doch ein Anfang,&laquo; antwortete ich. &raquo;Oder
+meinst du, ich w&auml;re in die Partei gekommen, um ewig
+Rekrut zu bleiben?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig; nicht,&laquo; lachte er, &raquo;ich kenne doch meinen
+ehrgeizigen Schatz!&laquo;</p>
+
+<p>Mir stieg das Blut in die Schl&auml;fen. War es Ehrgeiz,
+der mich beherrschte, oder nicht vielmehr der berechtigte
+Wunsch nach einem Wirkungskreis f&uuml;r meine
+Leistungskraft? Zu tief empfand ich das Opfer, das
+ich brachte, wenn ich mein Haus und mein Kind verlie&szlig;,
+als da&szlig; ich es dauernd f&uuml;r &uuml;berfl&uuml;ssige Nichtigkeiten
+h&auml;tte bringen k&ouml;nnen. Jetzt war ich im Aufstieg,
+und weil ich es war, hatte ich die Sympathie
+der anderen f&uuml;r mich; es galt nunmehr, beides
+festzuhalten.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_252" id="Page_252"></a></p>
+
+<p>In der Versammlung, die &uuml;ber die Parteitagsdelegationen
+endg&uuml;ltig zu entscheiden hatte, herrschte
+von Anfang an Gewitterschw&uuml;le. Die schroffsten
+Gegner sa&szlig;en einander gegen&uuml;ber, und bei jedem Punkt der
+Tagesordnung kam es zu hitzigen Wortgefechten. Eines
+schien von vornherein klar: die Masse der radikalen
+Berliner erwartete vom n&auml;chsten Parteitag eine Abrechnung
+mit den revisionistischen Elementen in der Partei,
+ja sie scheuten sich nicht, selbst gegen Bebel Stellung
+zu nehmen, weil er in der Landtagswahlfrage nicht auf
+ihrer Seite stand. Man forderte schlie&szlig;lich, da&szlig; s&auml;mtliche
+Delegierte sich auf die Feenpalastresolution verpflichten
+sollten. W&auml;hrend ringsumher alles durcheinander
+schrie und tobte, wurden die zur Delegation Vorgeschlagenen
+aufgerufen.</p>
+
+<p>&raquo;Genossin Brandt, stehen Sie auf dem Boden unseres
+Beschlusses?&laquo; &Uuml;berrascht fuhr ich auf, &mdash; ich
+hatte nicht erwartet, als Erste gefragt zu werden, &mdash; ich
+versuchte mir im Moment die Situation zu vergegenw&auml;rtigen.
+&raquo;So antworten Sie doch!&laquo; rief ungeduldig
+die Stimme des Vorsitzenden.</p>
+
+<p>Die Genossinnen umringten mich: &raquo;Sie werden uns
+doch nicht im Stiche lassen,&laquo; fl&uuml;sterte Frau Wiemer von
+der einen Seite, &mdash; &raquo;wir haben ja nur f&uuml;r Berlin die
+Beteiligung abgelehnt,&laquo; zischte mir Martha Bartels von
+der anderen ins Ohr. Und ein leises &raquo;Ja&laquo; kam z&ouml;gernd
+von meinen Lippen.</p>
+
+<p>Gleich darauf h&ouml;rte ich Reinhards Namen nennen,
+und im selben Augenblick seine Antwort: ein scharfes
+&raquo;Nein&laquo;. Ich wurde gew&auml;hlt &mdash; er nicht.</p>
+
+<p><a name="Page_253" id="Page_253"></a>Gl&uuml;ckw&uuml;nschend umringten mich die Genossinnen. Aber
+jedes Wort, das sie sagten, lie&szlig; mich dunkler err&ouml;ten.
+Am Ausgang traf ich Reinhard. &raquo;Das h&auml;tte ich von
+Ihnen nicht erwartet,&laquo; sagte er. &raquo;Sie kannten doch
+den tieferen Sinn der Resolution.&laquo;</p>
+
+<p>Ich schlich nach Hause, m&uuml;de, schuldbewu&szlig;t. Noch
+in der Nacht schrieb ich eine Erkl&auml;rung f&uuml;r den &raquo;Vorw&auml;rts&laquo;,
+und legte mein Mandat in die H&auml;nde meiner
+W&auml;hler zur&uuml;ck ...</p>
+
+<p>Die Frauen h&auml;tten mich am liebsten gesteinigt, die
+M&auml;nner lachten mich aus. Ich schwieg. Womit h&auml;tte
+ich mich verteidigen k&ouml;nnen?</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_254" id="Page_254"></a></p>
+<h2><a name="Achtes_Kapitel" id="Achtes_Kapitel"></a>Achtes Kapitel</h2>
+
+
+<p>&raquo;Ottoo &mdash; addaa,&laquo; rief das helle Stimmchen
+meines Sohnes. Er sa&szlig; auf meinen Knieen
+im Wagen und winkte unerm&uuml;dlich nach rechts
+und links, als ob er in seiner Freude alles gr&uuml;&szlig;en
+m&uuml;&szlig;te, was er sah. Wir fuhren hinaus in den Grunewald.
+Es war ein strahlender Sommertag; Scharen
+von Radlern flogen an uns vor&uuml;ber; selbst die Dampfstra&szlig;enbahn
+fauchte heut wie ein vergn&uuml;gter Alter, weil
+sie so viel Jugend in hellen Kleidern ins Gr&uuml;ne fuhr.</p>
+
+<p>Vor einem umz&auml;unten Waldwinkel hielten wir. Ich
+setzte den Kleinen ins Moos, und verwundert tippte er
+mit den runden rosigen Fingern jeden Grashalm an
+und kroch den schillernden K&auml;fern nach und sah mit
+einem jauchzenden &raquo;Da &mdash; da!&laquo; den V&ouml;geln zu, die
+von Zweig zu Zweig h&uuml;pften. Die alten dunkeln Kiefern
+wiegten ihre H&auml;upter im Winde, die Sonne malte runde
+goldene Flecke auf ihre braunen St&auml;mme, ein paar kleine
+blaue Bl&uuml;mchen reckten neugierig die K&ouml;pfe, und ein
+gelber Schmetterling tanzte &uuml;ber ihnen, &mdash; es war eine
+gro&szlig;e Sommer-Festvorstellung f&uuml;r mein Kind.</p>
+
+<p>Wir erwachsenen Leute gingen indessen ernsthaft umher
+und betrachteten das gr&uuml;ne Erdenfleckchen, auf dem unser
+Haus stehen sollte. Der Baumeister war mit uns ge<a name="Page_255" id="Page_255"></a>kommen.
+Er war noch jung und ein echter K&uuml;nstler;
+von allen, bei denen wir gewesen waren, hatte er uns
+am besten verstanden. Ich hielt das Bild des H&auml;uschens
+in der Hand, das seinen Namen trug &mdash; Alfred
+Messel&nbsp;&mdash;, und sah es schon lebendig vor mir, mit seinen
+blumenbesetzten Fensterbrettern und seinem lachenden
+roten Dach. &raquo;Ein rotes Dach?&laquo; sagte der Baumeister.
+&raquo;Nein! Unter die schwarzen Kiefern pa&szlig;t nur ein graues.&laquo;
+Schwarz und grau? Wie tr&uuml;be klang das! Ich sah
+ihn erschrocken an, &mdash; mir war auf einmal die Freude
+vergangen.</p>
+
+<p>&raquo;Schwester Alix!&laquo; rief es &uuml;ber den Zaun. Ilse stand
+an der T&uuml;re, die Hand auf der blitzenden Lenkstange ihres
+Rades, und neben ihr ein gro&szlig;er, &uuml;berschlanker Mann.
+Err&ouml;tend stellte sie ihn vor: &raquo;Professor Erdmann!&laquo; Sie
+hatte mir schon von ihm erz&auml;hlt, dem aufgehenden Stern
+am Himmel des Kunstgewerbes, der in den Salons des
+Tiergartenviertels eine Rolle zu spielen begann, und
+Messel begr&uuml;&szlig;te ihn wie einen lieben Kollegen. Nach
+ein paar raschen Worten dr&auml;ngte Ilse zum Aufbruch:
+&raquo;Wir d&uuml;rfen die anderen nicht verlieren,&laquo; sagte sie.
+&raquo;Ich find' es viel h&uuml;bscher zu zweien,&laquo; meinte ihr Begleiter
+und sah sie mit einem L&auml;cheln an, das auf ein
+tieferes Einverst&auml;ndnis der beiden schlie&szlig;en lie&szlig;. Sie
+fuhren davon. Das helle K&ouml;pfchen meiner Schwester
+hob sich empor zu ihm, seine lange Gestalt neigte sich
+zu ihr, &mdash; so flogen sie nebeneinander die sonnige Stra&szlig;e
+hinauf, bis der dunkle Wald sie verschlang.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_256" id="Page_256"></a></p>
+
+<p>&raquo;Ottoo &mdash; addaa,&laquo; klang es wieder aus dem
+Wagen heraus, als wir heimw&auml;rts fuhren.
+Aber die H&auml;ndchen gr&uuml;&szlig;ten nicht mehr nach
+rechts und links; krampfhaft umspannten sie einen
+B&uuml;schel gr&uuml;nes Gras, und unverwandt hafteten die
+Augen meines Kindes auf dem bunten K&auml;fer, der sich
+gem&auml;chlich darin niedergelassen hatte. Auf einmal
+breitete er seine schillernden Fl&uuml;gel aus und flog
+mit surrendem Ger&auml;usch davon; entsetzt starrte mein
+Kind ihm nach, das Gras entfiel den F&auml;ustchen &mdash; ein
+sehns&uuml;chtig-schluchzendes &raquo;adda &mdash; adda&laquo; kam von dem
+zuckenden M&uuml;ndchen, und verzweifelt weinte es vor sich
+hin. Mein Mann l&auml;chelte &uuml;ber den wilden Schmerz
+um den entflogenen K&auml;fer. Tut er dem kleinen Seelchen
+nicht ebenso weh, wie wenn die gro&szlig;en Leute um
+den Verlust ihrer Eroberungen trauern? dachte ich und
+zog meinen Liebling mitleidig in die Arme.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen in aller Fr&uuml;he kam meine
+Schwester. Sie wollte mich allein sprechen.
+Ihr hei&szlig;es Gesichtchen, ihr rascher Atem, drei
+m&uuml;hsam hervorgesto&szlig;ene Worte: &raquo;ich liebe ihn,&laquo; sagten
+mir genug. &raquo;Und die Eltern?&laquo; fragte ich. &raquo;Sie wissen
+von nichts,&laquo; stotterte sie und sah ganz ver&auml;ngstigt drein.</p>
+
+<p>Ich dachte an meinen Vater: mit welch ver&auml;chtlichem
+Naser&uuml;mpfen hatte er fr&uuml;her &uuml;ber K&uuml;nstlerehen gesprochen.
+Sollten f&uuml;r seine T&ouml;chter keine seiner hei&szlig;en
+W&uuml;nsche in Erf&uuml;llung gehen?</p>
+<p><a name="Page_257" id="Page_257"></a></p>
+<p>&raquo;Du wirst dich auf harte K&auml;mpfe gefa&szlig;t machen
+m&uuml;ssen,&nbsp;&mdash;&laquo; sagte ich, und mein Blick haftete auf ihren
+kleinen, kraftlosen H&auml;nden. &raquo;Ich laufe davon, wenn
+Papa es nicht zugibt,&laquo; rief sie.</p>
+
+<p>Noch am selben Tage besuchte ich Erdmann. Mein
+Schwesterchen war einmal mein Kind gewesen, sie war
+es mir von dem Augenblick an wieder, wo sie schutzbed&uuml;rftig
+vor mir stand.</p>
+
+<p>Als der Mann, den sie liebte, mir in seinem Atelier
+entgegentrat, war mein erstes Gef&uuml;hl das des Schreckens:
+wie bleich war er, wie gro&szlig; und schmal, wie seltsam
+durchsichtig waren seine schlanken, langfingrigen H&auml;nde.
+Aber die Art, wie er mit mir sprach, lie&szlig; mich &uuml;ber
+den Menschen seine Erscheinung vergessen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich liebe Ihre Schwester und werde sie heiraten,&laquo;
+antwortete er auf meine Frage. &raquo;Freilich: Ilse stellte
+mir eine Bedingung,&nbsp;&mdash;&laquo; f&uuml;gte er l&auml;chelnd hinzu, &raquo;du
+mu&szlig;t Alix gefallen, sagte sie.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das d&uuml;rfte weniger schwer sein, als da&szlig; Sie
+ihren Eltern, vor allem dem Vater, gefallen m&uuml;ssen,&laquo;
+meinte ich.</p>
+
+<p>&raquo;Gegen den h&auml;rtesten Sch&auml;del hat sich noch immer
+der meine als der h&auml;rtere erwiesen,&laquo; entgegnete er.</p>
+
+<p>&raquo;Aber Ilse ist weich; ob sie schweren K&auml;mpfen gewachsen
+sein w&uuml;rde?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gerade weil sie so zart ist, liebe ich sie, und
+nehme alle K&auml;mpfe auf mich, &mdash; nur ihrer Treue
+mu&szlig; ich sicher sein.&laquo; Dabei funkelten seine Augen.
+Ein starkes Temperament schien sich hinter den leichten
+Formen zu verstecken; w&uuml;rde die kleine Ilse es ertragen
+k&ouml;nnen?</p>
+<p><a name="Page_258" id="Page_258"></a></p>
+<p>&raquo;Sie ist noch sehr jung,&laquo; warf ich noch einmal
+ein. &raquo;Um so besser,&laquo; &mdash; ein warmer Glanz echter Freude
+versch&ouml;nte seine Z&uuml;ge, &mdash; &raquo;wir K&uuml;nstler brauchen leere
+Leinwand und unbehauenen Stein.&laquo;</p>
+
+<p>Vor dem Abschied versprach er mir, sich meiner Mutter
+zu erkl&auml;ren, damit sie imstande sei, den Vater vorzubereiten.
+Ich ging nachdenklich heim. Ilse war ein leicht
+zu leitendes Kind gewesen, &mdash; fast zu leicht, denn mit
+dem Zuckerbrot der Liebe lie&szlig; sie sich willenlos hin- und
+herf&uuml;hren; aber h&ouml;rte sie auch nur eine Peitsche knallen,
+so erwachte ein unb&auml;ndiger Trotz in ihr, und in ihren
+Augen gl&uuml;hte der Ha&szlig; gegen den, der sie meistern wollte.
+W&uuml;rde die Liebe dieses Mannes, der nur aus von Energie
+gespannten Nerven und Sehnen zu bestehen schien, die
+richtige Grenze zu finden wissen?</p>
+
+<p>Meine Mutter war zuerst au&szlig;er sich, als Erdmann
+sich ihr er&ouml;ffnet hatte. Sie kam zu mir und k&auml;mpfte
+mit den Tr&auml;nen: &raquo;Nun bin ich es wieder, die Eurem
+Vater standhalten mu&szlig;! Und ich habe es doch so satt!&laquo;
+&raquo;Daf&uuml;r wirst du nachher um so mehr Ruhe haben,&laquo;
+suchte ich sie zu beruhigen. Ihre schmalen Lippen
+kr&auml;uselten sich, sie hatte wohl ein bitteres Wort auf der
+Zunge, aber sie sprach es nicht aus.</p>
+
+<p>Erdmann verkehrte von nun an bei den Eltern.
+&raquo;Denk' nur, er gef&auml;llt Papa!&laquo; erz&auml;hlte mir Ilse ganz
+gl&uuml;cklich, und die Mutter lebte wieder auf. Da&szlig; der
+Bewerber ihrer Tochter in guten Verh&auml;ltnissen war,
+beruhigte sie vor allem. Und auch ich freute mich dessen;
+meine Schwester war ein verw&ouml;hntes Prinze&szlig;chen;
+wie oft hatte nicht die Mutter vor ihr gekniet, um ihr
+die Stiefel zuzuschn&uuml;ren, damit ihr nur ja der R&uuml;cken
+<a name="Page_259" id="Page_259"></a>nicht schmerzte! Zu keinerlei Arbeit war sie jemals
+gen&ouml;tigt worden, &mdash; ich selbst hatte ihr nur zu h&auml;ufig
+die Schularbeiten gemacht, damit das K&ouml;pfchen
+unter den schweren goldenen Flechten nicht gar zu m&uuml;de
+wurde!</p>
+
+<p>Eines Morgens kam die Nachricht: &raquo;Papa hat eingewilligt!&laquo;
+und daneben von der Mutter Hand: &raquo;Hans
+war ganz ruhig. Nur als Erdmann fort war, hat er
+sich stundenlang in sein Zimmer eingeschlossen.&laquo; Er
+mu&szlig;te doppelt gelitten haben, da er sich durch keinen
+Ausbruch seiner Leidenschaft mehr zu erleichtern vermochte.
+Ich konnte mich noch nicht freuen, weil ich
+nur seiner gedachte. Ob ich ihm schreiben d&uuml;rfte, &mdash; ob
+ein verst&auml;ndnisvolles Wort von mir ihm zu helfen
+verm&ouml;chte?</p>
+
+<p>Im Zoologischen Garten erwartete er t&auml;glich mein
+Kind. Er hatte immer die Taschen voll f&uuml;r den Kleinen;
+war das Wetter schlecht, so lie&szlig; er ihn zu sich kommen,
+setzte sich zu ihm auf den Teppich und baute dem Enkel
+Bleisoldaten in Schlachtordnung auf. Und stets lie&szlig;
+er mich gr&uuml;&szlig;en, sagte das M&auml;dchen. Er w&uuml;rde einen
+Brief von mir nicht zur&uuml;ckweisen! An einem blauen
+B&auml;ndchen kn&uuml;pfte ich ihn meinem Jungen um den Hals,
+als er das n&auml;chste Mal zu &raquo;Apapa&laquo; fuhr. Auf dieselbe
+Weise brachte er die Antwort mit zur&uuml;ck:</p>
+
+<div class="blockquot"><p>&raquo;... Hast es richtig getroffen, mein Kind: ein
+Auge weint, und das andere lacht nicht. Ich mu&szlig;
+mich selbst &uuml;berwinden. Wenn man das Fahrwasser
+kennt, dann hat die Hoffnung ihr Recht; aber das
+unbekannte Fahrwasser, in das man sein Letztes
+lassen mu&szlig;, das gibt an keiner Stelle Ruhe. Da&szlig;<a name="Page_260" id="Page_260"></a>
+Du mich verstanden hast, erfreut mich und macht
+mich dankbar.</p></div>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 26em;">Dein alter Vater.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+<p>Meine Schwester strahlte vor Gl&uuml;ck. Mit jener
+geistigen Beweglichkeit, die ihr von jeher eigen gewesen
+war, ging sie vollkommen auf im K&uuml;nstlertum ihres
+Verlobten. Sie schien wirklich die leere Leinwand, der
+unbehauene Stein, aus dem erst unter seinen H&auml;nden
+ein lebendiges Werk werden sollte. Selbst ihre Kleidung
+richtete sie nach seinem Geschmack; sie war eine
+der ersten, die jene malerischen Gew&auml;nder trug, wie sie
+aus den K&ouml;pfen der jungen Vork&auml;mpfer des aufbl&uuml;henden
+Kunstgewerbes hervorgingen und von den Frauenrechtlerinnen
+aus hygienischen, von den Malern aus
+k&uuml;nstlerischen Gr&uuml;nden geschaffen wurden. Jedes St&uuml;ck
+ihrer k&uuml;nftigen Einrichtung wurde nach den Zeichnungen
+Erdmanns angefertigt. &raquo;Oskars Stil entspricht so vollkommen
+meinem &auml;sthetischen Empfinden,&laquo; sagte sie, und
+ihr Blick flog ein wenig hochm&uuml;tig &uuml;ber unsere M&ouml;bel
+hinweg, &raquo;da&szlig; ich in einer anderen Umgebung nicht
+leben k&ouml;nnte.&laquo; Sie hatten nahe dem Kurf&uuml;rstendamm
+eine Wohnung gemietet, die nach Erdmanns Angaben
+umgestaltet wurde. Kam das junge Paar mit der
+Mutter zu uns, so drehte sich das Gespr&auml;ch um die Zukunftspl&auml;ne
+mit all ihren reizvollen Details. Meine
+eigenen, die mich so gl&uuml;cklich gemacht, so ganz gefangen
+hatten, traten dabei zur&uuml;ck. &raquo;Du willst uns wohl mit
+eurem Haus &uuml;berraschen, da&szlig; du so wenig davon erz&auml;hlst,&laquo;
+meinte die Mutter einmal und ich nickte dazu.</p>
+
+<p>Die Gr&uuml;nde, warum ich schwieg, waren freilich anderer
+Art. Das Haus, das inzwischen immer stattlicher
+<a name="Page_261" id="Page_261"></a>aus der Erde herauswuchs, war zur Quelle neuer
+dr&uuml;ckender Sorgen geworden. Wir hatten in unserer
+naiven Unkenntnis aller realen Forderungen des Lebens
+vorher nicht berechnet, da&szlig; doch auch w&auml;hrend des Baues
+Zinsen zu zahlen waren, die unser Budget auf das
+Schwerste belasten mu&szlig;ten. Ich wu&szlig;te oft nicht ein
+noch aus; dabei sah ich, wie mein Mann unter den Verh&auml;ltnissen
+litt, und zwar um so mehr, je mehr er empfand,
+da&szlig; ich von ihnen betroffen wurde. Machte ich einmal
+irgend eine von der Angst diktierte Bemerkung, so fuhr
+er sich mit der Hand nerv&ouml;s durch das weiche, wellige
+Haar und sagte mit einem gequ&auml;lten Ausdruck in den
+Z&uuml;gen: &raquo;K&uuml;mmere dich doch nicht darum! &Uuml;berlasse
+mir all diese Lappalien. Ich werde dir alles aus dem
+Wege r&auml;umen.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Um jene Zeit kamen die Kinder aus den Ferien
+zur&uuml;ck. Ich f&uuml;rchtete mich schon davor, denn
+noch Wochen nachher pflegten sie mir in naivem
+Egoismus zu erz&auml;hlen, was alles bei ihrer Mutter besser
+und sch&ouml;ner gewesen war. H&ouml;rte es Heinrich, so schalt
+er sie, weil er sah, da&szlig; es mich kr&auml;nkte, und eine bleischwere
+Stimmung herrschte um unseren Tisch. Diesmal
+st&uuml;rmten sie besonders eilig die Treppe hinauf; &mdash; so
+freuen sie sich doch, nach Hause zu kommen, dachte
+ich. Wolfgang, der Leichtf&uuml;&szlig;igere, kam zuerst. Kaum
+lie&szlig; er sich Zeit, mich zu begr&uuml;&szlig;en. &raquo;Die Mutter l&auml;&szlig;t
+dir sagen,&laquo; rief er atemlos, &raquo;sowas d&uuml;rfte nicht mehr
+vorkommen. M&uuml;tzen hatten wir, wie sie in &Ouml;sterreich
+nur Portiers tragen, und Anz&uuml;ge, &uuml;ber die die Bauern<a name="Page_262" id="Page_262"></a>jungens
+lachten.&laquo; Ich f&uuml;hlte, wie bla&szlig; ich wurde. Ich
+hatte sie wie immer f&uuml;r die Reise neu eingekleidet, um
+ja keinerlei Vorwurf auf mich zu laden. Und diesmal
+war es mir noch schwerer geworden als sonst. Bei
+Tisch fing auch Hans, der stets zur&uuml;ckhaltender war,
+zu erz&auml;hlen an. &raquo;Warmes Abendessen ist viel ges&uuml;nder,
+meint die Mutter,&laquo; sagte er, &raquo;und es schmeckt auch besser
+als immer blo&szlig; Wurst.&laquo;</p>
+
+<p>Ich war so &uuml;berreizt, da&szlig; ich mit den Tr&auml;nen k&auml;mpfte,
+und als am n&auml;chsten Morgen auch noch ein Brief aus
+Wien kam, in dem mir die Mutter der Kinder &uuml;ber
+meine unzureichende Erziehung allerlei Vorhaltungen
+machte, war es zu Ende mit meiner Selbstbeherrschung.
+Konnte ich die Kinder denn &uuml;berhaupt erziehen, wo ich
+st&auml;ndig f&uuml;rchtete, von ihnen als die b&ouml;se Stiefmutter
+angesehen zu werden und damit jeden Einflu&szlig; zu verlieren?!
+Konnte ich sie strafen, wo ich wu&szlig;te, da&szlig; sie
+sich bei der eigenen Mutter dar&uuml;ber beklagen w&uuml;rden?!
+Ich zeigte Heinrich den Brief und sch&uuml;ttete ihm, nicht
+ohne mich selbst all meiner vers&auml;umten Pflichten anzuklagen,
+mein Herz aus.</p>
+
+<p>&raquo;Und das alles sagst du mir erst jetzt?&laquo; rief er. &raquo;All
+den Kummer schleppst du mit dir herum und sprichst
+dich nicht aus?&laquo; Er schlang den Arm um mich und
+k&uuml;&szlig;te mir die Tr&auml;nen aus den Augen. &raquo;Hier mu&szlig;
+gr&uuml;ndlich Wandel geschaffen werden, um deinetwillen ...&laquo;
+&raquo;Vor allem um der Kinder willen, Heinz,&laquo; unterbrach
+ich ihn; &raquo;so gut geartet, wie sie sind, &mdash; schlie&szlig;lich m&uuml;ssen
+sie Schaden leiden.&laquo; Wir berieten, was zu tun sei.</p>
+
+<p>In fr&uuml;heren Jahren hatte die Mutter wiederholt versucht,
+ihre S&ouml;hne bei sich zu behalten, aber immer
+<a name="Page_263" id="Page_263"></a>wieder hatte Heinrich sie zur&uuml;ckgefordert. &raquo;Wie konntest
+du?!&laquo; sagte ich leisem Vorwurf. &raquo;Kinder geh&ouml;ren
+zur Mutter!&laquo; &raquo;Ich war sehr einsam, sehr liebebed&uuml;rftig;
+ich hatte im Scheidungsproze&szlig; mit N&auml;geln und Z&auml;hnen
+um die Kinder gek&auml;mpft,&laquo; antwortete er. &raquo;Jetzt aber
+ist die arme Frau viel einsamer als du,&nbsp;&mdash;&laquo; &raquo;&mdash;&nbsp;sie
+zu bemitleiden, habe ich keinen Grund,&laquo; entgegnete er
+hart, &raquo;sie war es, die zuerst ihre Kinder im Stiche lie&szlig;!
+Jetzt darf nur die R&uuml;cksicht auf dich und auf das Wohl
+der beiden Buben den Ausschlag geben.&laquo;</p>
+
+<p>In der Nacht nach unserem Gespr&auml;ch warf sich Heinrich
+im Bett schlaflos hin und her; im ersten Morgengrauen
+stand er leise auf, und ich h&ouml;rte, wie er
+im Zimmer nebenan auf und nieder ging. Ich
+h&auml;tte doch nichts sagen sollen, dachte ich angstvoll. Er
+sah m&uuml;de und vergr&auml;mt aus, als er wieder zu mir
+hereinkam.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe mich entschlossen, ihr die Kinder anzubieten,&laquo;
+sagte er.</p>
+
+<p>&raquo;Wollen wir nicht doch lieber alles beim alten lassen, &mdash; ich
+sehe vielleicht nur zu schwarz,&laquo; warf ich ein.</p>
+
+<p>Ich dachte an die Stunde, da er mir mit der Bitte,
+sie recht lieb zu haben, seine S&ouml;hne anvertraut hatte.
+Er sah so finster drein! J&auml;he Furcht beschlich mich
+um meinen kostbaren Besitz: seine Liebe. Aber er blieb
+bei dem einmal gefa&szlig;ten Beschlu&szlig;.</p>
+
+<p>Sein Anwalt schrieb in seinem Auftrag nach Wien.
+Die Antwort war keine r&uuml;ckhaltlos zustimmende: jede
+Verbindung, so w&uuml;nschte die Mutter, sollte zwischen den
+S&ouml;hnen und dem Vater abgebrochen werden, sobald sie
+ihr Haus betreten w&uuml;rden. Wochenlang zogen sich die<a name="Page_264" id="Page_264"></a>
+Verhandlungen hin, und die Korrespondenz nahm eine
+immer erbittertere Form an. Ich konnte nicht mehr mit
+ansehen, wie Heinrich litt, und all die Selbstvorw&uuml;rfe,
+die mich qu&auml;lten, nicht mehr ertragen.</p>
+
+<p>Eines Abends benutzte ich meines Mannes Abwesenheit
+und fuhr mit dem Nachtzug nach Wien. Vom
+Hotel aus meldete ich mich bei der Mutter der Kinder
+an. Herzklopfend stieg ich die steinernen Stufen hinauf.
+In einem Salon mit schweren Renaissancem&ouml;beln
+empfing sie mich, eine schlanke, dunkle Frau mit scharf
+geschnittenen, fast m&auml;nnlichen Z&uuml;gen. Sie gab mir
+nicht die Hand, sie z&ouml;gerte offenbar, mir auch nur einen
+Stuhl anzubieten.</p>
+
+<p>&raquo;Ich komme, weil ich hoffe, da&szlig; eine m&uuml;ndliche Besprechung
+leichter zum Ziele f&uuml;hren wird,&laquo; begann ich.</p>
+
+<p>&raquo;Er schickt Sie?&laquo; Ihre Stimme hatte einen merkw&uuml;rdig
+leblosen, kalten Ton, als k&auml;me sie weit her aus
+dunkler Tiefe.</p>
+
+<p>&raquo;Nein! Ich reiste ohne sein Wissen. Wir Frauen,
+meine ich, werden uns verst&auml;ndigen, &mdash; mit einigem guten
+Willen nat&uuml;rlich, &mdash; denn zwischen uns steht nichts&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Meinen Sie wirklich, da&szlig; zwischen uns nichts steht?!&laquo;
+Ein Blick voll Ha&szlig; streifte mich. &raquo;Meine Kinder stehlen
+Sie mir!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich?!&nbsp;&mdash;&laquo; Aufs &Auml;u&szlig;erste erstaunt sah ich sie an.
+&raquo;Ich, die ich sie Ihnen wiederbringe?!&laquo; Aber sie h&ouml;rte
+nicht auf mich. In leidenschaftlicher Erregung kamen
+die Worte, sich &uuml;berst&uuml;rzend, von ihren Lippen: &raquo;Habe
+ich nicht in diesem letzten Sommer tagt&auml;glich h&ouml;ren
+m&uuml;ssen: &#8250;Die Mama erlaubt das alles, &mdash; die Mama
+straft uns nicht, &mdash; die Mama schenkt uns dies und
+<a name="Page_265" id="Page_265"></a>jenes&#8249;?! Und jetzt soll ich vielleicht erleben m&uuml;ssen, da&szlig;
+meine eigenen Kinder sich fort w&uuml;nschen von mir? Oder
+jedesmal unzufrieden heimkehren, wenn sie, wie ihr Vater
+es w&uuml;nscht, zu den Ferien in Berlin gewesen sind?!&laquo;</p>
+
+<p>Ich verstand sie, &mdash; so hatte ich auch ihr unbewu&szlig;t
+B&ouml;ses getan! &raquo;Sie wissen, mein Mann hat f&uuml;r das
+erste Jahr schon auf ein Wiedersehen verzichtet,&laquo; antwortete
+ich.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist aber auch das Allermindeste, was ich verlange!
+Im &uuml;brigen&nbsp;&mdash;,&laquo; sie nahm wieder den alten
+eisigen Ton an und zwang sich zur Ruhe, &raquo;mu&szlig; ich umziehen,
+ehe die Kinder kommen. Sie sehen hier meine
+Wohnung&nbsp;&mdash;,&laquo; sie wies nach dem E&szlig;zimmer nebenan,
+&raquo;ich habe keinen Platz f&uuml;r sie.&laquo;</p>
+
+<p>Keinen Platz f&uuml;r die eigenen Kinder?! Sie schien
+zu f&uuml;hlen, was ich empfand, denn rasch fuhr sie fort:
+&raquo;Ich w&uuml;nsche, da&szlig; die durch Unordnung sowieso schon
+genug gesch&auml;digten Buben gleich in ein regelm&auml;&szlig;iges
+Leben, eine zu ernster Arbeit gestimmte H&auml;uslichkeit
+kommen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und wann, meinen Sie, d&uuml;rfte das sein?&laquo; Dr&auml;ngte
+ich. &raquo;Die Situation ist f&uuml;r alle Teile unertr&auml;glich!&laquo;</p>
+
+<p>Sie l&auml;chelte: &raquo;Finden Sie? Ich habe Schlimmeres
+ausgehalten!&laquo; Tiefe Falten gruben sich auf ihre Stirn,
+um ihre Mundwinkel. Wieder streifte mich ein Blick, &mdash; zum
+F&uuml;rchten. &raquo;Warten Sie nur, bis Sie f&uuml;nf,
+sechs Jahre mit ihm gelebt haben werden!&laquo;</p>
+
+<p>Ich erhob mich, &mdash; fast w&auml;re der geschnitzte Stuhl
+bei meiner raschen Bewegung zu Boden geglitten. Hier
+hatte ich nichts mehr zu tun. Sie geleitete mich hinaus.
+Und als m&uuml;&szlig;te sie mir zuletzt noch ihren Ha&szlig;
+<a name="Page_266" id="Page_266"></a>f&uuml;hlen lassen, sagte sie: &raquo;Ich werde schwere M&uuml;he haben, &mdash; die
+Kinder sind zu schlecht erzogen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich dachte an die Buben, &mdash; an ihre lustigen Knabenstreiche,
+an die ungebundene Freiheit, die sie genossen.
+Noch ein gutes Wort wollte ich bei der strengen Frau
+f&uuml;r sie einlegen und sagte bittend: &raquo;Sie werden ihnen
+nicht zu pl&ouml;tzlich die Wandlung f&uuml;hlen lassen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie k&ouml;nnen Sie sich erlauben&nbsp;&mdash;?!&laquo; rief sie fassungslos.
+&raquo;Wer ist hier die Mutter: Sie oder ich?!&laquo;</p>
+
+<p>Krachend fiel die Flurt&uuml;re hinter mir zu. In der
+n&auml;chsten Nacht fuhr ich nach Berlin zur&uuml;ck. Nicht das
+mindeste glaubte ich erreicht zu haben. Ein Brief des
+wiener Anwalts folgte mir auf dem Fu&szlig;e. Er enthielt
+den unterschriebenen Vertrag und &uuml;bermittelte den
+Wunsch, den Kindern m&ouml;chte die Reise nach Wien
+nur als ein Besuch dargestellt werden, &raquo;damit sie gerne
+kommen.&laquo;</p>
+
+<p>Das war ein Jubel: Der Schule entrinnen, &mdash; und
+eine Reise nach Wien! Wir brachten sie zur Bahn und
+sahen den strahlenden Gesichtern nach, die gr&uuml;&szlig;end aus
+dem Kupeefenster nickten, bis der Zug unseren Blicken
+entschwand.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Kaum drei Wochen sp&auml;ter kehrten sie zur&uuml;ck, &mdash; still
+und bla&szlig;. Wolfgangs rundes Kindergesicht
+war schmal geworden, in Hans' dunkeln Augen
+hatte sich der Ausdruck von Melancholie noch vertieft.
+Ihr Aufenthalt in Wien war wirklich nur ein Besuch
+gewesen. Ob die einsame Frau das Gl&uuml;ck nicht ertragen
+hatte? Ob die Forderungen eines Lebens f&uuml;r
+<a name="Page_267" id="Page_267"></a>andere sie erdr&uuml;ckt haben mochten? In die gr&ouml;&szlig;te, die
+letzte Einsamkeit hatte sie pl&ouml;tzlich der Tod entf&uuml;hrt.</p>
+
+<p>Aber noch dar&uuml;ber hinaus wirkte ihr Ha&szlig;: das Testament
+bedrohte die Kinder mit Enterbung, wenn sie
+im Hause des Vaters bleiben w&uuml;rden. Und so mu&szlig;ten
+sie wieder fort, da sie der W&auml;rme, der Liebe am meisten
+bedurften.</p>
+
+<p>Von einer neuen Schule im Harz hatten wir erfahren,
+wo die Jugend in sch&ouml;ner Abwechselung von
+Spiel und Arbeit, von der &Uuml;bung k&ouml;rperlicher und
+geistiger Kr&auml;fte sich frei und fr&ouml;hlich zu entwickeln vermag,
+einer Schule, deren Leiter den Mut hatte, dem
+Geist engherzigen Preu&szlig;entums den Eintritt bei sich zu
+verwehren. Dorthin brachten wir sie. Es war das
+beste, das wir hatten finden k&ouml;nnen, und doch so schrecklich
+wenig f&uuml;r die, denen die Mutter gestorben war.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Nun war es still bei uns im Hause. Ottochen,
+der sich inzwischen auf seinen eigenen F&uuml;&szlig;chen
+zu bewegen gelernt hatte, lief im Zimmer
+der Br&uuml;der von Stuhl zu Stuhl, guckte in die Schr&auml;nke
+und unter die Betten und rief vergebens &raquo;Wof&laquo; und
+&raquo;Ans&laquo;. Zuerst weinte er, weil sie nicht kamen, um mit
+ihm zu &raquo;pielen&laquo;, dann erinnerte er sich ihrer nur noch,
+wenn er auf meinem Scho&szlig; am Schreibtisch sa&szlig; und
+ich ihm ihre Bilder zeigte. Er war ein unb&auml;ndiger
+kleiner Kerl, der nie lange an einem Platz aushielt.
+Ein Sonnenstrahl im Zimmer, eine Fliege am Fenster,
+Hundegebell und Pferdegetrappel auf der Stra&szlig;e, &mdash; alles
+erregte seine brennende Neugierde; wenn aber
+<a name="Page_268" id="Page_268"></a>gar Soldaten vor&uuml;bermarschierten, so zappelte er mit
+H&auml;nden und F&uuml;&szlig;en vor Freuden, und rief, so laut er
+konnte: &raquo;Daten! daten!&laquo;</p>
+
+<p>Seitdem der Gro&szlig;vater sich dem Enkel zu Liebe einmal
+in die alte Generalsuniform gezw&auml;ngt hatte, ging
+er noch einmal so gern in die Ansbacherstra&szlig;e. &raquo;Apapa
+Dat, Apapa Dat,&laquo; hatte er mir mit erstaunten Augen
+und einem Ausdruck von Ehrfurcht in dem Gesichtchen
+damals erz&auml;hlt. Und &raquo;Apapa dehn!&laquo; schrie er mit
+Stentorstimme, wenn wir nicht ruhig genug mit ihm
+spielten.</p>
+
+<p>Eines Abends im Herbst kam meine Mutter und erz&auml;hlte
+mir, der Vater habe heute, ohne sie zu fragen,
+die Wohnung gek&uuml;ndigt. &raquo;Er will im Grunewald
+mieten,&laquo; f&uuml;gte sie hinzu, &raquo;um Ottochen nahe zu sein.&laquo;
+Mir wurden die Augen feucht: so ersetzte ihm der Enkel
+die Tochter, die er verloren hatte.</p>
+
+<p>Kurze Zeit darauf bekam ich einen Brief von ihm:</p>
+
+<div class="blockquot"><p>&raquo;Liebes Kind! denke doch nicht, da&szlig; es mir gen&uuml;gt,
+Deinen Jungen bei mir zu sehen. Alte Leute
+brauchen viel W&auml;rme, darum sagte ich Ottochen heute,
+da&szlig; er Papa und Mama das n&auml;chste Mal mitbringen
+soll. Er sah mich so ernsthaft an, da&szlig; ich glaube, er
+hat mich verstanden.</p></div>
+
+<p>
+<span style="margin-left: 25.5em;">Dein treuer Vater.&laquo;</span><br />
+</p>
+
+<p>Und so trat ich mit meinem Kind auf dem Arm in
+die alte Wohnung. Die Schwester kam mir entgegen:
+&raquo;Nun wird meine Hochzeit erst ein richtiges Fest f&uuml;r
+mich sein,&laquo; sagte sie und k&uuml;&szlig;te mich st&uuml;rmisch. Sie
+&ouml;ffnete die T&uuml;r zum Zimmer des Vaters. &raquo;Er kommt
+gleich,&laquo; fl&uuml;sterte sie und lief davon. Ich mu&szlig;te mich
+<a name="Page_269" id="Page_269"></a>setzen; die Kniee zitterten mir. Alles hatte ein Gesicht,
+ein liebes, vertrautes: die verblichenen Sessel, die so
+einladend die Armlehnen nach mir ausstreckten, der alte,
+gr&uuml;ne Teppich, der sich warm und weich unter meine
+F&uuml;&szlig;e schmiegte, die dunkeln Bilder an der Wand, die
+zu l&auml;cheln schienen. Auf dem Schreibtisch lagen wie
+einst in Reih und Glied die sorgf&auml;ltig gespitzten Bleistifte
+und die G&auml;nsefedern, die der Vater sich selbst zu
+schneiden pflegte, und der &raquo;Soldatenhort&laquo;, f&uuml;r den er
+schrieb. Und in der Ecke &mdash; die alte Reiterpistole!
+Aus dem Zimmer war ich einmal geflohen vor ihr. &mdash; Der
+sie auf mich gerichtet hatte, rief mich heut zur&uuml;ck!
+Nein, &mdash; mich nicht! Nur dieses s&uuml;&szlig;en blonden Kindes
+Mutter!</p>
+
+<p>Die T&uuml;re ging auf. &raquo;Apapa!&laquo; rief der Kleine und
+streckte ihm die &Auml;rmchen entgegen. Im n&auml;chsten Augenblick
+f&uuml;hlte ich uns beide umfa&szlig;t: Die Lippen zitterten,
+die meine Stirn ber&uuml;hrten. &raquo;Wir wollen einander nicht
+weich machen, Alix,&laquo; sagte er leise. &raquo;Wir wollen so
+tun, als w&auml;rst du gar nie weg gewesen.&laquo;</p>
+
+<p>Von nun an sahen wir uns oft. M&uuml;hsam, mit
+schwerem Atem, auf jedem Treppenabsatz minutenlang
+innehaltend, kam er immer h&auml;ufiger zu uns herauf, und
+meist um die Stunde, die er fr&uuml;her im Kasino zuzubringen
+pflegte. Er hatte stillschweigend auch diese alte
+Gewohnheit aufgegeben, und als die Mutter ihn darnach
+fragte, sagte er: &raquo;Was soll ich mich jetzt noch &uuml;ber
+Menschen und Zeitungen &auml;rgern?!&laquo;</p>
+
+<p>Mein Mann, der sich nie als &raquo;Schwiegersohn&laquo; f&uuml;hlte,
+sondern stets sehr zur&uuml;ckhaltend, sehr f&ouml;rmlich blieb, gefiel
+ihm. &raquo;Du ahnst ja kaum, wie der Frieden auf mich
+<a name="Page_270" id="Page_270"></a>wirkt,&laquo; schrieb er mir einmal. &raquo;Ich bin Dir die Erkl&auml;rung
+schuldig, da&szlig; dein Mann, dessen vollendeter
+Takt mir so wohltuend ist, ganz auf mich z&auml;hlen kann.&laquo;</p>
+
+<p>Zuweilen fuhr er mit uns in den Grunewald, wo er
+zum Fr&uuml;hjahr in unserer N&auml;he eine Wohnung gemietet
+hatte. Er strahlte vor Freude, wenn er unser H&auml;uschen
+wachsen und werden sah.</p>
+
+<p>&raquo;Wie mich das gl&uuml;cklich macht, dich so ohne Sorgen
+zu wissen,&laquo; sagte er zu mir, w&auml;hrend er unerm&uuml;dlich
+&uuml;ber die Balken kletterte und jeden Raum in Augenschein
+nahm. Dann dr&uuml;ckte er Heinrich die Hand: &raquo;Da&szlig;
+du meiner Alix solch eine Heimat schaffst!&laquo;</p>
+
+<p>Drau&szlig;en im Garten freute ihn jeder Strauch, der
+gepflanzt wurde. &raquo;Hier mu&szlig; Ottochen einen gro&szlig;en
+Sandhaufen haben,&laquo; &mdash; meinte er, &raquo;und eine Schaukel
+und eine Kletterstange, damit seine Muskeln straff werden.
+Daneben aber baut mir eine Laube, in der ich
+im Sommer, ohne euch zu st&ouml;ren, sitzen und mit meinem
+Jungen spielen kann.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>An einem dunkeln Sp&auml;therbsttag, kurz vor der
+Hochzeit meiner Schwester, kam ich nach Hause.
+&raquo;Exzellenz ist beim Kleinen,&laquo; sagte das M&auml;dchen.
+Ich nickte l&auml;chelnd. Ottochen war nicht ganz wohl und
+durfte des schlechten Wetters wegen nicht ausgehen. Nun
+kam der Gro&szlig;vater zu ihm. Ich trat in sein Zimmer. Auf
+dem Teppich sa&szlig; mein Kind, vertieft in die neuen Soldaten,
+die ihm &raquo;Apapa&laquo; mitgebracht haben mochte; im Lehnstuhl
+lag der Vater tief zur&uuml;ckgelehnt und schlief. Der
+sonst so lebhafte Junge bewegte sich leise zwischen dem<a name="Page_271" id="Page_271"></a>
+Spielzeug und sah erschrocken auf, als ich n&auml;her trat.
+&raquo;Pst, pst!&laquo; machte er und legte ein Fingerchen auf die
+Lippen. &raquo;Apapa baba!&laquo;</p>
+
+<p>Der graue Schatten des fr&uuml;hen Abends kroch durch
+die Fenster. Schwer lag er &uuml;ber den Z&uuml;gen des Schlafenden,
+verwischte jede Lebensfarbe, lie&szlig; jede Falte tiefer
+erscheinen. Ich faltete unwillk&uuml;rlich die H&auml;nde: Wie
+alt, wie bla&szlig;, wie m&uuml;de sah er aus! Und war doch
+ein so starker Mann gewesen und den Jahren nach
+kein Greis! Ich sank in die Kniee und k&uuml;&szlig;te die
+herabh&auml;ngende Hand. Der Kummer um mich war
+es gewesen, der ihm ein St&uuml;ck seines Lebens gekostet
+hatte.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Ende November wurde Ilse im Elternhaus mit Oskar
+Erdmann getraut. Nur die n&auml;chsten Verwandten
+waren geladen worden, und auch von ihnen hatten
+manche abgesagt, als sie erfuhren, da&szlig; wir zugegen sein
+w&uuml;rden. Meine Schwester sah aus wie eine Fr&uuml;hlingselfe.
+Alles Licht im Raum ging von ihren goldenen Haaren
+aus, deren Glanz selbst der keusche Brautschleier nicht
+zu d&auml;mpfen vermochte. Erdmann schien mir noch
+schmaler als sonst. Ein unbestimmtes Angstgef&uuml;hl beschlich
+mich. Meiner Schwester &raquo;Ja!&laquo; klang so froh,
+so hell an mein Ohr, da&szlig; es die Sorge verscheuchte.
+Als aber der Geistliche sich fragend an ihn wandte,
+verschlang ein rauher Husten, unter dem ich seinen
+R&uuml;cken beben sah, seine Antwort. Mir war, als wechselten
+seine Geschwister, die neben uns standen, einen erschrockenen,
+vielsagenden Blick. Doch wie das junge<a name="Page_272" id="Page_272"></a>
+Paar sich uns zuwandte, &uuml;berstrahlte ihr Gl&uuml;ck auch
+diesen Eindruck.</p>
+
+<p>Vor der Hochzeitstafel &uuml;berkamen mich alte Tr&auml;ume.
+Sie stiegen aus den schlanken Kelchen, die einst aneinanderklangen,
+w&auml;hrend Walzermelodien mich umrauschten,
+sie schimmerten in den silbernen Jardinieren,
+in denen so viel Rosen, &mdash; duftende Zeugen meiner
+Balltriumphe&nbsp;&mdash;, verbl&uuml;ht waren.</p>
+
+<p>Jemand schlug ans Glas. Nun, wu&szlig;te ich, wird
+meines Vaters klare Stimme die Luft in rasche Schwingung
+versetzen, sein Geist und sein Witz wird alle bezaubern,
+und alle verdunkeln, die nach ihm reden werden. Erwartungsvoll
+sah ich ihn an.</p>
+
+<p>Seine Finger zerdr&uuml;ckten unruhig die Serviette, seine
+Lippen &ouml;ffneten sich einmal &mdash; zweimal, bis da&szlig; ein Ton
+sich ihnen entrang, der rauh und heiser war. Und dann
+sprach er, &mdash; langsam, schwerf&auml;llig, wie eingelernt. Meine
+Erwartung verwandelte sich in Staunen, mein Staunen in
+Angst. Seine Hand hob sich wie zu einer jener alten Gesten,
+die so wirksam zu unterstreichen pflegten, was er sagte, &mdash; gleich
+darauf sank sie schlaff herab, die Lippen
+zuckten, &mdash; der begonnene Satz zerri&szlig;; &mdash; eine qualvolle
+Pause; &mdash; dann griff er hastig nach dem Kelchglas, hob
+es empor, wobei die Tropfen zitternd &uuml;ber den Rand
+spritzten: &raquo;Die Familie Erdmann lebe hoch &mdash; hoch &mdash; hoch!&laquo; &mdash; In
+den Stuhl sank er zur&uuml;ck; seine Augen
+wanderten wie um Verzeihung bittend von einem zum
+anderen, und als sein Blick den meinen traf, sah ich
+die Tr&auml;ne, die ihm in den Wimpern hing.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_273" id="Page_273"></a></p>
+
+<p>Im Winter ging es meinem Vater Woche um
+Woche schlechter. Es duldete ihn nicht im
+Hause; schon fr&uuml;h trieb ihn eine unerkl&auml;rliche
+Unruhe fort; versuchte die Mutter, ihn zur&uuml;ckzuhalten,
+so setzte er ihren Bitten einen so heftigem Widerstand
+entgegen, da&szlig; sie ihn gehen lassen mu&szlig;te. Er besuchte
+meine Schwester und schleppte sich bis zu uns herauf,
+obwohl es ihm t&auml;glich schwerer wurde. Es war, als
+ob er das Alleinsein mit der Mutter nicht ertr&uuml;ge. Nur
+wenn sein Enkel bei ihm war, wich seine innere Unruhe
+einem Ausdruck stillen Friedens. Zuweilen verlie&szlig;
+ihn das Ged&auml;chtnis, dann nannte er den Kleinen &raquo;Alix&laquo;
+und war noch z&auml;rtlicher zu ihm als sonst. Einmal kaufte
+er eine Puppe, um sie &raquo;Alix&laquo; zu schenken; als ihn die
+Mutter auf den Irrtum aufmerksam machte, geriet er
+in helle Wut. &raquo;Alle Freude willst du mir verderben,&laquo;
+schrie er und sprach stundenlang nicht mit ihr. Irgendeine
+Pflege duldete er nicht; er schlo&szlig; sich im Schlafzimmer
+ein, wenn der Arzt kommen sollte.</p>
+
+<p>Ich sah, wie meine Mutter sich m&uuml;hte, ihm alles
+recht zu machen. Aber die Sorgfalt, mit der sie ihn
+umgab, hatte etwas K&uuml;hles, Fremdes, &mdash; als ob das Herz
+nicht dabei w&auml;re. Sie litt unter seiner Heftigkeit; es
+kam vor, da&szlig; ihre starre Selbstbeherrschung zusammenbrach;
+dann weinte sie bitterlich, aber es waren Tr&auml;nen
+des Zornes, nicht des Leides. &raquo;Er ist so b&ouml;se zu mir,
+so b&ouml;se!&laquo; kam es krampfhaft zwischen ihren fest geschlossenen
+Z&auml;hnen hervor. Hilflos stand ich vor der
+Offenbarung der Ehetrag&ouml;die meiner Eltern. Manches
+Erlebnis, das meine Jugend verbittert hatte, tauchte in
+<a name="Page_274" id="Page_274"></a>der Erinnerung wieder auf, und ich fand jetzt den
+Schl&uuml;ssel dazu.</p>
+
+<p>&raquo;Die Ehe hat sie zerst&ouml;rt,&laquo; sagte ich zu meiner Schwester,
+als wir dar&uuml;ber berieten, wie ihnen vielleicht noch zu
+helfen sei.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, &mdash; das glaube ich gern,&laquo; antwortete sie mit
+einem gr&uuml;blerischen Ausdruck, der ihrem weichen Gesichtchen
+sonst fremd war.</p>
+
+<p>Ich horchte auf; &mdash; kaum zwei Monate war sie
+verheiratet! Von da an f&uuml;hrte mein Weg, wenn
+ich zu den Eltern ging, regelm&auml;&szlig;ig bei ihr vor&uuml;ber.
+Ich hatte sie in ihrem jungen Gl&uuml;ck nicht st&ouml;ren
+wollen, jetzt trieb mich die Sorge, zu sehen, ob es
+nicht schon gest&ouml;rt war. Aber ich fand sie stets heiter
+inmitten ihrer sch&ouml;nen H&auml;uslichkeit, die in Formen
+und Farben so harmonisch zusammenstimmte, da&szlig; eine
+Vase, ein Blumenstrau&szlig; schon st&ouml;rend zu wirken vermochte,
+wenn sie nicht in bewu&szlig;tem Einklang damit
+gew&auml;hlt worden waren. Und ich fand ihren Mann
+z&auml;rtlich um sie besorgt, &mdash; in einer Art freilich, die
+ich nicht vertragen h&auml;tte, die der Natur Ilsens aber zu
+entsprechen schien. Er bestimmte ihre Kleidung, er beaufsichtigte
+die Hauswirtschaft, er ordnete den Tisch,
+wenn Besuch erwartet wurde. Und alles nahm unter
+seiner Hand den Charakter seines K&uuml;nstlertums an: der
+Vornehmheit, die jedes &auml;u&szlig;eren Schmuckes entbehren
+konnte, weil sie das Wesen des Materials zu reinstem
+Ausdruck brachte; der jedem lauten Ton abholden Ruhe,
+die wie Sonnenuntergang am Tage durch die orangeseidenen
+Vorh&auml;nge klang und am Abend in den Falten
+der gr&uuml;nen, die sich dar&uuml;ber breiteten, tr&auml;umte; und
+<a name="Page_275" id="Page_275"></a>der Liebe zur Natur, die sich in allem, was ihn umgab,
+widerspiegelte, &mdash; in den dunkelroten Kastanienbl&auml;ttern
+der Tapete, den zarten Pflanzen- und V&ouml;gelstudien japanischer
+Stiche, dem Wandteppich mit dem stillen Waldbach,
+auf dem die Schw&auml;ne ziehen. Es war gut sein
+bei ihnen, und wer davon ging, dem kam die Welt
+drau&szlig;en doppelt h&auml;&szlig;lich, unharmonisch, laut und herzlos
+vor. Aber es ging auch etwas wie eine L&auml;hmung
+von dieser Umgebung aus, etwas, das vom wirklichen
+Leben gewaltsam abzog.</p>
+
+<p>Die G&auml;ste des Hauses entsprachen dieser Stimmung;
+keine der Fragen, die uns bewegten, traten mit ihnen
+&uuml;ber seine Schwelle. Die Kunst stand im Mittelpunkt
+all ihres Denkens und F&uuml;hlens; nicht jene nebenabsichtslose,
+die w&auml;chst wie ein Baum, gleichg&uuml;ltig, ob nur
+einsame Wanderer ihn finden, oder ob Scharen unter
+seinem Schatten ruhen, sondern jene m&auml;rchenhafte
+Treibhausblume, die nur f&uuml;r die Auserw&auml;hlten gezogen
+wird. Sie vertraten alle den Individualismus, aber
+hinter ihrer Forderung der h&ouml;chsten Kultur des Individuums
+verbarg sich nur sein Kultus. Man sprach
+mit halber Stimme, man las B&uuml;cher, die in numerierten
+Exemplaren nur f&uuml;r einen kleinen Kreis von
+Freunden gedruckt wurden; am Fl&uuml;gel sa&szlig; h&auml;ufig ein
+katholischer Priester, der in dem milden Wachskerzenlicht
+des zartget&ouml;nten Salons Palestrinas feierliche Weisen
+ert&ouml;nen lie&szlig;.</p>
+
+<p>Dieselbe Atmosph&auml;re, die sich weich um die Stirne
+legt, herrschte hier, wie im Theater, wo Hofmannsthals
+Hochzeit der Sob&euml;ide jenen Haschichrausch hervorrief,
+der der Welt entr&uuml;ckt. Und am Ende des<a name="Page_276" id="Page_276"></a>
+Jahrhunderts jauchzte die Jugend den neuen G&ouml;ttern
+ebenso st&uuml;rmisch zu, wie wir die Ibsen und Gerhart
+Hauptmann empfangen hatten. Fl&uuml;chteten die Menschen
+nur im Gef&uuml;hl ihrer Schw&auml;che aus der Wirklichkeit,
+oder waren nicht unter denen, die sich abseits des rauhen
+Lebens in einem wei&szlig;en Tempel versteckten, auch solche,
+die als geweihte Priester der Menschheit wieder aus ihm
+hervorgehen werden?</p>
+
+<p>Ich h&auml;tte die Frage nicht entscheiden k&ouml;nnen, aber
+mein Optimismus glaubte gern an Keime neuen Werdens,
+wo andere F&auml;ulniserscheinungen sehen. Auch Erdmanns
+Pers&ouml;nlichkeit berechtigte dazu. Er selbst wurzelte
+zu bewu&szlig;t im Boden der Erde, als da&szlig; er seine Kunst
+ihr h&auml;tte entrei&szlig;en k&ouml;nnen. Er behandelte die jungen
+M&auml;nner, die seine genial geknoteten Krawatten nachahmten,
+von seinem tiefsten Wesen aber wenig wu&szlig;ten,
+mit leiser Ironie. Die <em class="antiqua">l'art pour l'art</em>-Devise war f&uuml;r
+ihn nicht das Letzte.</p>
+
+<p>&raquo;Wir m&uuml;ssen den Snob benutzen,&laquo; sagte er, als
+wir einmal unter uns waren, &raquo;um allm&auml;hlich zum
+Volk zu kommen. Es ist mit dem Kunstgewerbe wie
+mit der Mode: Das Neueste ist zuerst ein Vorrecht
+der Wenigen und nach einem Jahr die Gewohnheit
+der Massen.&laquo; Lebhaft hin- und hergehend setzte
+er uns dann seine Zukunftspl&auml;ne auseinander: Handwerkerschulen
+wollte er schaffen, in denen nicht alte
+Klischees immer wieder benutzt werden, sondern die
+neuesten und sch&ouml;nsten Errungenschaften der Kunst zu
+Mustern dienen.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist bewundernswert, wie verst&auml;ndnisvoll all die
+kleinen Handwerker, die ich jetzt schon zusammen<a name="Page_277" id="Page_277"></a>gesucht
+habe, meinen Ideen entgegenkommen. Sie
+sind in ihrem Geschmack weniger verdorben, sie haben
+vor allem weit mehr Gef&uuml;hl f&uuml;r das Material, das
+sie bearbeiten, als die meisten unserer Kunstgewerbetreibenden,
+die vor lauter theoretischem Wissenskram
+jede pers&ouml;nliche Stellung zu den Dingen verloren haben&nbsp;&mdash;.&laquo;
+Ein heftiger Hustenanfall unterbrach ihn, rote Flecken
+zirkelten sich auf seinen eingefallenen Wangen ab. Meine
+Schwester erbla&szlig;te, lief hinaus und brachte ihm eine
+Tasse Tee, die er entgegennahm, wie etwas l&auml;ngst Gewohntes.
+&raquo;Der berliner Winter, &mdash; dies ekelhafte Regenwetter&nbsp;&mdash;,&laquo;
+sagte er dann und lehnte sich m&uuml;de in den
+Stuhl zur&uuml;ck, w&auml;hrend seine Brust sich noch krampfhaft
+hob und senkte. &raquo;Ich war um diese Zeit immer im
+S&uuml;den&nbsp;&mdash;,&laquo; f&uuml;gte er halblaut wie zu sich selbst hinzu.</p>
+
+<p>Wir gingen. Meine Schwester begleitete uns bis zur
+T&uuml;r. Ich sah sie fragend an. Sie nickte, um ihren
+Mund zuckte es verr&auml;terisch: &raquo;Ich wei&szlig;, &mdash; wir sollten
+fort, aber er will nicht. Er kann seine Arbeiten
+nicht im Stiche lassen, sagte er. Aber sp&auml;ter, in Jahr
+und Tag, wenn er sehr viel verdient haben wird,&nbsp;&mdash;&laquo;
+dabei l&auml;chelte sie wieder hoffnungsvoll, &mdash; &raquo;dann wollen
+wir reisen&nbsp;&mdash;&laquo; &raquo;Ilse!&laquo; klang es ungeduldig von innen.
+Sie fuhr erschrocken zusammen: &raquo;Nun wird er wieder
+b&ouml;se sein!&laquo; und lief, sich hastig verabschiedend, hinein.</p>
+
+<p>Wochenlang war er an das Zimmer gefesselt. Nun
+ging meine Mutter zwischen dem Mann und dem
+Schwiegersohn unerm&uuml;dlich hin und her. &raquo;Ilschen ist
+viel zu zart f&uuml;r solch eine Pflege,&laquo; meinte sie, w&auml;hrend
+sie selbst dabei immer magerer wurde. Bat ich sie, sich
+zu schonen, so hatte sie nur die eine Antwort: &raquo;So<a name="Page_278" id="Page_278"></a>lange
+mir Gott Pflichten auferlegt, habe ich sie zu erf&uuml;llen.&laquo;
+Dabei r&uuml;ckte der Umzugstermin n&auml;her; er mu&szlig;te
+p&uuml;nktlich inne gehalten werden, denn die Wohnung der
+Eltern war vermietet. In der Nacht, wenn der Vater
+schlief, kramte und packte die Mutter, um ihn nur ja
+bei Tage damit nicht zu st&ouml;ren.</p>
+
+<p>Bei uns sah es &auml;hnlich aus, denn unser H&auml;uschen
+war inzwischen fertig geworden, und der Tag des Einzugs
+war festgesetzt. Aber die Freude fehlte, mit der
+ich ihm vor Monaten entgegengesehen hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Sind wir erst drau&szlig;en, so wird alles gut werden,&laquo;
+versicherte mir Heinrich immer wieder, wenn meine
+sorgenvollen Mienen ihm meine Stimmung verrieten.
+&raquo;Glaubst du, da&szlig; wir Taler von den Kiefern sch&uuml;tteln
+k&ouml;nnen, wie das Kind im M&auml;rchen?&laquo; antwortete ich.
+&raquo;Wertvollere jedenfalls,&laquo; meinte er gereizt. &raquo;Deines
+Kindes und deine Gesundheit, deine Arbeitskraft sind
+doch wohl wichtiger, als die paar blauen Lappen, die
+du momentan vermi&szlig;t.&laquo; Ich zuckte die Achseln. Die
+Sorgen waren ja meine Krankheit, und sie gedeihen
+auch in der besten Luft.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Hans geht es schlecht, kommt bitte gleich&nbsp;&mdash;&laquo;
+Meine Mutter schickte diese Zeilen. Wir
+fuhren in die Ansbacherstra&szlig;e. Auf seinem
+Lehnstuhl sa&szlig; der Vater, halb angezogen, mit blaurotem
+Gesicht und blutunterlaufenen Augen. Gepackte
+Kisten standen umher, &ouml;de starrten uns die vorhanglosen
+Fenster entgegen, grauer Staub lag auf den abger&auml;umten
+Tischen.</p>
+<p><a name="Page_279" id="Page_279"></a></p>
+<p>&raquo;Ich will nicht zu Bett, &mdash; ich will nicht,&laquo; st&ouml;hnte
+der Kranke. Der Mutter liefen die Tr&auml;nen &uuml;ber die
+abgeh&auml;rmten Wangen.</p>
+
+<p>&raquo;Er st&ouml;&szlig;t mich zur&uuml;ck, wenn ich ihm helfen will,&laquo;
+fl&uuml;sterte sie. Der Arzt trat ein. Mit gewaltsamer Anstrengung
+erhob sich der Vater, st&uuml;tzte sich mit beiden
+H&auml;nden auf den Tisch vor ihm und schrie, w&auml;hrend
+die Augen ihm aus den H&ouml;hlen zu treten schienen:
+&raquo;Hinaus &mdash; hinaus! Ich mag keinen Quacksalber!&laquo; &mdash;</p>
+
+<p>Dann brach er zusammen, krallte die Hand in die
+linke Seite, &mdash; langsam wich die Farbe aus seinen
+Z&uuml;gen; willenlos lie&szlig; er sich ins Schlafzimmer f&uuml;hren,
+den Kopf tief gesenkt, schwankend, mit kleinen, unsicheren
+Schritten. Im Bett lag er ganz still. Nur
+die Augen, die merkw&uuml;rdig gro&szlig; und klar geworden
+waren, sprachen, was die Lippen nicht sagen konnten.</p>
+
+<p>W&auml;hrend Heinrich und Erdmann von den neuen
+Mietern der Wohnung, die sich zu einem Aufschub des
+Einzugs nicht verstehen wollten, zum n&auml;chsten Krankenhaus
+fuhren, um die &Uuml;bersiedlung dorthin vorzubereiten,
+und die Mutter mit Ilsens Hilfe drau&szlig;en das Notwendigste
+zusammenpackte, war ich allein bei dem Kranken.</p>
+
+<p>Wir redeten miteinander. Seine Augen bohrten sich
+forschend in meine Z&uuml;ge. &raquo;Du kannst ruhig, &mdash; ganz
+ruhig sein, lieber Papa. Ich bin vollkommen gl&uuml;cklich&nbsp;&mdash;,&laquo;
+versicherte ich. Sie leuchteten auf, um sich
+gleich darauf in j&auml;her Angst, halb geschlossen, wieder
+auf mich zu richten. &raquo;Ich liebe dich, Papa, ich habe
+nie aufgeh&ouml;rt, dich zu lieben,&laquo; antwortete ich mit
+tr&auml;nenerstickter Stimme. Um seine blassen Lippen zuckte
+ein leises L&auml;cheln, seine schwache Hand versuchte, die
+<a name="Page_280" id="Page_280"></a>meine zu umschlie&szlig;en, die Lider deckten sekundenlang die
+stahlblauen Pupillen, &mdash; dann zuckten sie schreckhaft
+wieder empor. Eine einzige, ungeheure, verzweifelte
+Frage starrte aus diesen Augen, in die das ganze Leben
+sich zu einer letzten Zuflucht zusammendr&auml;ngte. Ich
+verstand. Vorsichtig l&ouml;ste ich meine Hand aus der
+seinen und ging hinaus &mdash; &raquo;Mama!&laquo; rief ich leise.
+Sie kam. Ich sah noch zwei H&auml;nde, die sich zitternd
+ihr entgegenstreckten, &mdash; dann zog ich die T&uuml;re hinter
+mir ins Schlo&szlig; ...</p>
+
+<p>Als der Krankenwagen vorfuhr, trat sie aus dem
+Zimmer, bleich, regungslos, wie versteinert. &raquo;Er schl&auml;ft,&laquo;
+sagte sie. Ich beugte mich &uuml;ber ihn: wie ein Hauch
+schwebte der Atem nur noch von seinen Lippen. Die
+Augen waren geschlossen, das Gesicht wei&szlig; und still,
+beherrscht von einem Ausdruck feierlichen Ernstes.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Zu Hause lief mir mein Kind entgegen. &raquo;Apapa
+dehn!&laquo; schrie es ungeduldig. Es war die Stunde
+seiner t&auml;glichen Ausfahrt. Ich sch&uuml;ttelte traurig
+den Kopf. Da fing es an herzbrechend zu schluchzen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Noch zwei Tage atmete der Sterbende. Mit
+einer Ruhe, von der ich nicht wu&szlig;te, ob ich
+sie bewundern oder mich vor ihr entsetzen
+sollte, ordnete die Mutter alles an, als w&auml;re er schon
+gestorben.</p>
+
+<p>Angstvoll sah ich hin&uuml;ber zu dem starren Gesicht in
+den wei&szlig;en Kissen. &raquo;Er ist ohne Bewu&szlig;tsein,&laquo; hatte
+<a name="Page_281" id="Page_281"></a>der Arzt versichert. Zuweilen aber schien mir, als h&ouml;rte
+er noch, als s&auml;he er mit geschlossenen Augen, als ginge
+ein Beben durch seinen K&ouml;rper.</p>
+
+<p>In der dritten Nacht starb er.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Droben an der Hasenhaide, wo der Riesenleib
+der Stadt sich gigantisch den H&uuml;geln zu
+F&uuml;&szlig;en hinstreckt und der Sturm ungehindert
+durch die alten B&auml;ume pfeift, ist die letzte Garnison
+der Soldaten. Von den Schie&szlig;st&auml;nden gr&uuml;&szlig;en die
+Flintensch&uuml;sse her&uuml;ber, von den Kasernenh&ouml;fen die Trompetensignale,
+und vom Tempelhofer Feld klingen zuweilen
+die Kriegsm&auml;rsche in den Frieden des Kirchhofs.</p>
+
+<p>Dorthin trugen alte Regimentskameraden den Sarg,
+in dem der Tote schlief, geh&uuml;llt in den Mantel, der in
+allen Feldz&uuml;gen sein unzertrennlicher Begleiter gewesen
+war. Es war ein stilles Begr&auml;bnis. F&uuml;r die alten
+Freunde war er gestorben, als er sich mit mir, der Abtr&uuml;nnigen,
+vers&ouml;hnte.</p>
+
+<p>Auch der Kaiser hatte des Mannes vergessen, der
+seinem Ahnherrn in Frankreichs blutgetr&auml;nkter Erde die
+Krone des deutschen Reiches erobern half.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Acht Tage sp&auml;ter verlie&szlig;en wir die Wohnung,
+in der die Sonne durch alle Fenster hatte
+fluten k&ouml;nnen, in der mein Sohn geboren
+worden war. &raquo;Ottoo &mdash; addaa&nbsp;&mdash;&laquo; jauchzte er wieder,
+als wir davonfuhren; aber die Fenster des Wagens
+waren geschlossen, und der Fr&uuml;hlingsregen peitschte an
+<a name="Page_282" id="Page_282"></a>das Glas. Im Walde drau&szlig;en empfing uns die neue
+Heimat: Unter dem tiefen grauen Dach unseres Hauses
+schauten die kleinen Fenster wie Augen unter schattenden
+Wimpern hervor, geheimnisvoll lockend und feindselig
+abwehrend zur&uuml;ck. Dar&uuml;ber wiegten die Kiefern
+ihre schwarzen Kronen. Es war wie ein St&uuml;ck der
+stillen, ernsten Natur, die es umgab. Und still und
+ernst trat ich &uuml;ber seine Schwelle.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_283" id="Page_283"></a></p>
+<h2><a name="Neuntes_Kapitel" id="Neuntes_Kapitel"></a>Neuntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Der Winter des Jahres 1899 wollte kein Ende
+nehmen. Die Stadt Berlin, die durch Reinlichkeit
+zu ersetzen pflegte, was ihr an Sch&ouml;nheit
+gebrach, war dem Schnee, der sich auf den Stra&szlig;en
+bis in den April hinein in schmutzig-grauen Schlamm
+verwandelte, nicht gewachsen. Heerscharen, mit Spaten
+und Hacke bewaffnet, schickte sie aus, um den hartn&auml;ckigen
+Feind aus den Toren zu treiben, und um die
+Massen der Arbeitslosen, die unter seinem Regiment
+immer st&auml;rker angeschwollen waren, zu verringern. Vergebens.
+Der Schnee ballte sich zu Haufen; vor den
+Asylen der Obdachlosen staute sich die Menge. Mehr
+als je waren kr&auml;ftige M&auml;nner darunter. Selbst um
+die am schlechtesten bezahlte Heimarbeit rissen sich die
+Frauen; wovon sollten sie die Kinder ern&auml;hren, da die
+V&auml;ter feiern mu&szlig;ten und das Fleisch immer teurer wurde?</p>
+
+<p>&raquo;Der Winter ist mit den Ausbeutern im Bunde,&laquo;
+sagte eine blasse, kleine Parteigenossin, die jedesmal mit
+entz&uuml;ndeteren Augen in die Sitzungen kam. &raquo;Die
+Agrarier, die Konfektion&auml;re und die Kohlenfritzen werden
+dick und fett, und wir kriegen die Schwindsucht.&laquo;
+Sie stickte Hemden, &mdash; &raquo;ganz feine aus Battist, mit
+'ner F&uuml;rstenkrone. Ich w&uuml;nschte man blo&szlig;, jeder Stich
+w&auml;re 'ne Nadelspitze, wenn sie den durchlauchtigsten<a name="Page_284" id="Page_284"></a>
+K&ouml;rper ber&uuml;hren,&laquo; f&uuml;gte sie hinzu. Die Bitterkeit,
+mit der sie sprach, erf&uuml;llte mehr denn je ihre Klassengenossen.</p>
+
+<p>Sie froren und hungerten. Im Reichstag aber bewilligte
+die Mehrheit der b&uuml;rgerlichen Parteien eine
+Milit&auml;rvorlage, die Millionen und Abermillionen kostete.
+Sie suchten vergeblich nach Arbeit, und im Abgeordnetenhaus
+brachten die Junker den Plan des Mittellandkanals
+zu Fall, der zahllose neue Arbeitsm&ouml;glichkeiten
+er&ouml;ffnet h&auml;tte. &Uuml;berall siegten die Interessen der
+Besitzenden gegen die der Arbeiter, und nun drohte die
+Zuchthausvorlage, ihnen im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen
+die letzte Waffe zu nehmen: Das Koalitionsrecht.</p>
+
+<p>Noch z&ouml;gerte die Regierung mit der Ver&ouml;ffentlichung
+des Wortlautes der Vorlage, aber sie warf ihre Schatten
+voraus, so da&szlig; an ihrem Inhalt niemand mehr zweifeln
+konnte.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Um diese Zeit erschien Eduard Bernsteins l&auml;ngst
+erwartete Brosch&uuml;re: &raquo;Die Voraussetzungen
+des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie.&laquo;
+Sie fa&szlig;te zusammen und f&uuml;hrte aus,
+was er ein Jahr vorher in seiner Artikelserie &uuml;ber
+die Probleme des Sozialismus gesagt hatte. Jetzt, wo
+die erste Erregung hinter mir lag und ich mit ruhigem
+Verstand zu lesen vermochte, sp&uuml;rte ich den Einflu&szlig;
+der englischen Fabier, der Webb, der Shaw, der
+Burns, in deren geistiger Atmosph&auml;re dies Buch entstanden
+war. Ich sp&uuml;rte aber auch den deutschen Ge<a name="Page_285" id="Page_285"></a>lehrten,
+der der rauhen Luft Preu&szlig;ens seit Jahrzehnten
+entw&ouml;hnt war und es in seiner stillen londoner Studierstube,
+fern der Heimat, verfa&szlig;t hatte. Er konnte dr&uuml;ben
+nicht wissen, wie der deutschen Partei im Augenblick
+jede Aufnahmef&auml;higkeit f&uuml;r theoretische Er&ouml;rterungen
+gebrach, und wie der Masse der Parteigenossen, die sich
+von allen Seiten in ihrer physischen und rechtlichen
+Existenz bedroht sahen, seine Mahnung, den Liberalismus
+nicht zur&uuml;ckzusto&szlig;en, zu handeln wie eine demokratisch-sozialistische
+Reformpartei, als blutiger Hohn erscheinen
+mu&szlig;te. Wo waren denn die freigesinnten Elemente der
+Bourgeoise, auf die es sich verlohnte, R&uuml;cksicht zu nehmen,
+um mit ihnen gemeinsam demokratische Forderungen
+durchzusetzen? Sie entflammten in sch&ouml;ner Begeisterung
+f&uuml;r V&ouml;lkerfreiheit, &mdash; wenn es sich um den Kampf der
+Buren gegen die Engl&auml;nder handelte. Sie emp&ouml;rten
+sich wider Unrecht und Vergewaltigung, &mdash; wenn von
+Dreyfus und dem franz&ouml;sischen Generalstab die Rede
+war. Es kam sogar etwas wie ein Entr&uuml;stungssturm
+zustande, als das Zentrum die Kunst in die Ketten
+kirchlicher Moral zu legen drohte, &mdash; aber dem Urteil
+von L&ouml;btau, das neun Maurer, die sich mit ihren &uuml;ber
+die schwer errungene zehnst&uuml;ndige Arbeitszeit hinaus
+arbeitenden Kollegen in eine Schl&auml;gerei verwickelten,
+mit Zuchthaus bestrafte, standen sie stumm und kalt
+gegen&uuml;ber.</p>
+
+<p>So sehr ich mich gen&ouml;tigt sah, der theoretischen Kritik
+Bernsteins zuzustimmen, so wenig seiner Auffassung von
+der Notwendigkeit eines Paktierens mit dem Liberalismus.
+&raquo;Wer nicht mit uns ist, der ist wider uns&nbsp;&mdash;.&laquo;
+Get&auml;uschte Liebe tr&auml;gt die Maske brennenden Hasses;
+<a name="Page_286" id="Page_286"></a>darum urteilt der Renegat &uuml;ber die Klasse, die er
+verlie&szlig;, am sch&auml;rfsten. Wo waren all die, auf die
+ich gerechnet hatte? Ein einziger hatte seitdem den
+Weg zu uns gefunden: G&ouml;hre. Alle anderen starrten
+geblendet in die Fata Morgana deutscher Zukunftsweltmacht.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>&raquo;Ich habe den Genossinnen einen Vorschlag zu
+unterbreiten,&laquo; begann Martha Bartels in einer
+unserer Frauensitzungen. &raquo;Unter uns ist kaum
+eine, die nicht wenigstens die Bernsteindebatten im
+Vorw&auml;rts verfolgt h&auml;tte. In engeren Parteikreisen haben
+wir wohl auch Gelegenheit gehabt, uns dar&uuml;ber auszusprechen
+und Belehrung durch andere zu empfangen.
+An einer gro&szlig;en &ouml;ffentlichen Auseinandersetzung fehlt
+es leider noch. Ich beantrage, Genossin Orbin zu bitten,
+in &ouml;ffentlicher Volksversammlung einen Vortrag &uuml;ber
+den Streit, der uns so nahe angeht, halten zu wollen.&laquo;</p>
+
+<p>Mit ungew&ouml;hnlicher Lebhaftigkeit stimmte man ihr zu.
+Ich wu&szlig;te, da&szlig; es Wanda Orbin selbst gewesen war,
+die ihr diesen Gedanken souffliert hatte. Sie w&uuml;tete in
+der &raquo;Freiheit&laquo; gegen Bernstein. &raquo;Soweit es sich um
+die Er&ouml;rterung der praktischen Vorschl&auml;ge Bernsteins
+handelt, scheint auch mir der Antrag annehmbar,&laquo; sagte
+ich. &raquo;Seine Theorien aber sind doch wohl kein Thema
+f&uuml;r eine &ouml;ffentliche Volksversammlung.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Genossin Brandt h&auml;lt uns mal wieder f&uuml;r zu dumm,&laquo;
+h&ouml;rte ich die schrille Stimme der rot&auml;ugigen Stickerin
+sagen. &raquo;Bernstein meent ja ooch, da&szlig; wir noch nich reif
+sind,&laquo; meinte eine andere mit einem giftigen Blick auf
+<a name="Page_287" id="Page_287"></a>mich, &raquo;er is nischt als so'n verkappter Bourgeois, der uns
+zum St. Nimmerleinstag vertr&ouml;sten will, damit's ihm
+nich an den Schlafrock jeht.&laquo;</p>
+
+<p>Ich hielt diesem Ausbruch proletarischer Eitelkeit, die
+die Partei gro&szlig; gezogen hatte, ruhig stand. Die apodiktische
+Sicherheit, mit der die Partei in ihrer Presse
+ihre Ansichten vertrat; die verflachende Popularisierung
+der Lehren ihrer Vork&auml;mpfer, durch die sie sie den
+Massen mundgerecht machte; der Hohn, mit dem sie die
+&Auml;u&szlig;erungen &raquo;b&uuml;rgerlicher Wissenschaft&laquo; &uuml;bersch&uuml;ttete,
+konnten keine andere Wirkung haben.</p>
+
+<p>&raquo;Wie w&auml;r's, wenn Genossin Brandt das Korreferat
+&uuml;bern&auml;hme?&laquo; fragte Ida Wiemer, die vor allem gewerkschaftlich
+t&auml;tig war und infolgedessen zu einer weniger
+radikalen Auffassung neigte.</p>
+
+<p>&raquo;Selbst wenn Sie das w&uuml;nschen, m&uuml;&szlig;te ich nein
+sagen,&laquo; antwortete ich rasch; &raquo;ich bin au&szlig;er stande,
+theoretische Fragen zu beurteilen, die einen Mann wie
+Bernstein jahrelang besch&auml;ftigt haben, ehe er eine Antwort
+fand.&laquo; Rings um mich sah ich sp&ouml;ttisches L&auml;cheln
+in den Mienen, Ida Wiemer senkte err&ouml;tend den Kopf,
+als sch&auml;me sie sich f&uuml;r mich.</p>
+
+<p>Tats&auml;chlich h&auml;tte ich nicht t&ouml;richter vorgehen k&ouml;nnen:
+Nur wer keck alles zu wissen und zu k&ouml;nnen behauptet,
+verschafft sich Ansehen in der &Ouml;ffentlichkeit. Ich hatte
+mir eine Bl&ouml;&szlig;e gegeben, die mir nicht vergessen werden
+w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Luise Zehringer sprach nach mir, eine Genossin aus
+Hamburg, eine Zigarrenarbeiterin mit harten verm&auml;nnlichten
+Z&uuml;gen. Es fehlte ihr, auch in dem Klang der
+Sprache, jede Spur von Weiblichkeit. Ein ernstes Ar<a name="Page_288" id="Page_288"></a>beitsleben
+von Kindheit an hatte der ganzen Erscheinung
+jede Weichheit genommen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich geh&ouml;re zu denen, die eine energische Zur&uuml;ckweisung
+der Bernsteinschen Angriffe auf unsere Grundanschauungen
+nicht nur f&uuml;r notwendig, sondern f&uuml;r
+jede von uns, die im Besitze proletarischen Klassenbewu&szlig;tseins
+ist, f&uuml;r m&ouml;glich h&auml;lt,&laquo; sagte sie. &raquo;Ich habe
+keine vornehme Erziehung genossen, wie die Genossin
+Brandt, aber meine f&uuml;nf Sinne habe ich beieinander.
+Ich wei&szlig; darum, ohne jahrelanges Studium, da&szlig; Bernstein
+Marx und Engels Unterstellungen macht, die sie
+niemals vertreten haben, da&szlig; er gegen eine Verelendungstheorie
+k&auml;mpft, die niemals von uns propagiert worden
+ist. Wir verstehen unter Proletariat nicht diejenigen,
+die mit zerlumptem Rock und knurrendem Magen umherlaufen,
+sondern jeden, der abh&auml;ngig ist vom Kapital.
+Und diese Abh&auml;ngigkeit w&auml;chst von Tag zu Tag und
+damit die Masse des Elends. Und ist die Zunahme
+der Erwerbsarbeit proletarischer Hausfrauen und M&uuml;tter
+nicht ein weiterer, schlagender Beweis f&uuml;r die Zunahme
+des Elends? Glauben Sie vielleicht, Genossinnen, sie
+verlie&szlig;en aus Vergn&uuml;gungssucht, wie die Damen der
+Bourgeoisie, ihr Zuhause und ihre Kinder?!&laquo;</p>
+
+<p>Aller Augen hingen an der Sprecherin, die ihre leidenschaftlich
+vorgesto&szlig;enen Worte mit lebhaften eckigen
+Gestikulationen begleitete. &raquo;Ich wei&szlig; aber noch mehr:
+ich wei&szlig;, da&szlig; die Emp&ouml;rung gegen das Elend mit ihm
+w&auml;chst, da&szlig; die Gleichg&uuml;ltigsten, wenn sie hungernd
+&uuml;ber den Jungfernstieg gehen, w&auml;hrend hinter den Spiegelscheiben
+der feinen Restaurants die Protzen schmatzen
+und saufen, die F&auml;uste ballen lernen und weniger denn
+<a name="Page_289" id="Page_289"></a>je von einem Techtelmechtel mit den schlauen Verf&uuml;hrern
+der Bourgeoisie, den Liberalen, wissen wollen. Zwischen
+uns und ihnen gibt es nur Kampf, &mdash; Kampf bis aufs
+Messer, &mdash; bis zur Diktatur des Proletariats, vor dem
+der beh&auml;bige, gut gen&auml;hrte Herr Bernstein und seinesgleichen
+solch ein Grausen hat ...&laquo; Sie schwieg ersch&ouml;pft;
+ihre Z&uuml;ge waren noch um einen Schein blasser
+geworden. Wanda Orbins Referat war gesichert.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>&raquo;Wie stellen sich die Parteigenossen Berlins zu
+Bernsteins Schrift?&laquo; Auf leuchtend gelben
+Zetteln prangte diese Frage an den Litfa&szlig;s&auml;ulen.
+Im Westen gingen die Spazierg&auml;nger achtlos
+daran vorbei. In der Friedrichstadt blieben Studenten
+mit unverkennbar russischem Typus nachdenklich
+davor stehen, w&auml;hrend ihre deutschen Kollegen der Anzeige
+der Amors&auml;le ihre Aufmerksamkeit zuwandten. Im
+Norden und im Osten dagegen sammelten sich Gruppen
+von Arbeitern vor ihr, und in die Kneipen, in die
+Arbeitss&auml;le und in die Wohnungen wurde die Frage
+weiter getragen. Als Wanda Orbin die Trib&uuml;ne betrat,
+erwarteten nur wenige ihrer Zuh&ouml;rer von ihr
+etwas anderes, als die Best&auml;tigung der Antwort, die
+f&uuml;r sie selber schon feststand.</p>
+
+<p>Sie verk&uuml;ndete mit priesterlichem Fanatismus den beseligenden
+Glauben an die Herrlichkeit des nahe bevorstehenden
+Zukunftsstaates gegen&uuml;ber der k&uuml;hlen Beweisf&uuml;hrung
+seiner langsamen Entwicklung; sie sch&uuml;rte den
+Ha&szlig; wider die b&uuml;rgerliche Gesellschaft, sie mahnte zum
+Vertrauen allein auf die eigene Kraft des Proletariats.<a name="Page_290" id="Page_290"></a>
+Zwischen ihr und der Zuh&ouml;rerschaft entstand jene hypnotische
+Verbindung, durch die der Redner nur als
+Sprachrohr der Massen erscheint und die Massen wieder
+unter der Suggestion des Redners stehen. Sie war die
+Stimme des Volkes, das die Ketzer verdammte, die ihm
+nehmen wollten, was ihres Lebens einziger Reichtum, ihres
+Willens einzige Triebkraft war: den religi&ouml;sen Glauben
+des Sozialismus. In ihr lebte die Urkraft der Bewegung,
+die nur Freunde und Feinde kannte, die k&auml;mpfen
+wollte, aber nicht paktieren, die im Eroberungskrieg das
+Leben jedes einzelnen zu opfern bereit war, nicht aber
+die Hoffnung auf raschen Sieg.</p>
+
+<p>Ein alter Mann sa&szlig; neben mir. Er war m&uuml;de gekommen;
+jetzt gl&auml;nzten seine Augen, seine Wangen
+gl&uuml;hten, sein gebeugter R&uuml;cken richtete sich auf. An
+einem Tische nicht weit davon sah ich eine Gruppe
+junger Arbeiter; sie trommelten mit den breiten F&auml;usten
+auf den Tisch, und Ha&szlig; und Lust und barbarische Kampfbegier
+leuchtete aus ihren Z&uuml;gen. Unter dem Spiegel
+an der Wand lehnten umschlungen ein paar schwarzhaarige
+Studentinnen; aus ihren Blicken sprach jene
+Schw&auml;rmerei, die Hirtenm&auml;dchen zu Heldinnen macht.
+Auch ich war ersch&uuml;ttert; was mein Verstand, mir selbst
+zum Trotz, Stein um Stein aufgerichtet hatte, das
+drohten die Pfeile von der Rednertrib&uuml;ne zu zerst&ouml;ren.
+Aber dann vernahm ich schrille, falsche T&ouml;ne, f&uuml;r die
+nur mein Geh&ouml;r fein genug schien: die Rednerin verh&ouml;hnte
+die Kraft ethischer Motive als einen in Rechnung
+zu stellenden Motor in der revolution&auml;ren Bewegung.
+Sie &uuml;bersch&uuml;ttete mit Spott jene &raquo;b&uuml;rgerliche
+Intelligenzen&laquo;, die mit der &raquo;Gerechtigkeitsidee&laquo; ins weite<a name="Page_291" id="Page_291"></a>
+Meer gesteuert und mit gebrochenen Masten in den Hafen
+der Entsagung zur&uuml;ckgekehrt sind. &raquo;Nur der aus seinen
+Klasseninteressen entstehende Klassenkampf des Proletariats
+wird dem Sozialismus die Welt erobern.&laquo; Welche
+Motive hatten denn die Marx und Engels, die Lassalle,
+die Liebknecht auf die Seite der Enterbten getrieben?
+Waren sie nicht &raquo;b&uuml;rgerliche Intelligenzen&laquo; gewesen,
+wie Wanda Orbin selbst? Mit frenetischem Beifall
+nahm das Volk ihren Kniefall vor seiner Majest&auml;t entgegen,
+w&auml;hrend mir die Schamr&ouml;te in die Schl&auml;fen
+stieg. Als sie dann mit einer Stimme, die nur noch
+ein Kreischen war, weil nicht mehr das Feuer der Begeisterung,
+sondern weibische Rachsucht sie belebte, in
+den Saal hinausschrie: &raquo;Wenn die Gegens&auml;tze so schroff
+zutage treten, wie zwischen der Masse der Genossen und
+den Bernstein, den Heine, den David, den Schippel, so
+ist eine reinliche Scheidung besser als ein fauler Friede,&laquo;
+und die Zuh&ouml;rer trampelnd und johlend Beifall klatschten,
+da wu&szlig;te ich, da&szlig; die Partei der Freiheit Scheiterhaufen
+zu schichten imstande sein w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Still davon zu gehen, nachdem die Versammlung geschlossen
+worden war, w&auml;re gewi&szlig; am kl&uuml;gsten gewesen.
+Der Wirbelsturm meiner Gef&uuml;hle, der sich aus Bewunderung
+und Emp&ouml;rung, aus Sch&uuml;chternheit und Angst
+zusammensetzte, hatte mich gehindert, in der Diskussion
+zu sprechen, jetzt aber kochte mir das Blut; ich wollte
+nicht feige erscheinen, ich mu&szlig;te mit Wanda Orbin
+sprechen, die mich noch immer f&uuml;r ein Glied ihrer Gefolgschaft
+hielt. Sie kam meinem Wunsch entgegen.</p>
+
+<p>Wir gingen noch in ein Kaffee, und schon auf dem Wege
+dahin sprach sie mich an: &raquo;Sie waren gegen mein Re<a name="Page_292" id="Page_292"></a>ferat,
+h&ouml;rte ich?&laquo; &raquo;Ja, und ich bin es nachtr&auml;glich noch
+mehr, als vorher,&laquo; antwortete ich. &raquo;Das ist ja sehr
+interessant,&laquo; meinte sie spitz und wandte sich von mir
+ab. Ich war den Rest des Abends Luft f&uuml;r sie.</p>
+
+<p>Wir verabschiedeten uns mit einer k&uuml;hlen Verbeugung,
+und w&auml;hrend sie, umringt von den Genossinnen,
+ihrem Absteigequartier entgegenging, fuhr ich allein nach
+Hause. Ich k&auml;mpfte mit den Tr&auml;nen. In dem engen
+Kreise der Arbeiterinnenbewegung Wanda Orbin als
+Gegnerin gegen&uuml;berzustehen, das bedeutete entweder mein
+Ausscheiden aus ihm oder einen endlosen aufreibenden
+Kampf.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Sp&auml;t in der Nacht kam ich nach Hause. Hier
+drau&szlig;en im Grunewald bedeckte eine feste
+Schneedecke Stra&szlig;en und G&auml;rten, tiefschwarz
+stiegen die Kiefern aus ihrer hellen Wei&szlig;e empor; ihre
+d&uuml;nnen, d&uuml;rftigen Wipfel verloren sich im Nebel. Ich
+f&uuml;rchtete mich. Nacht und Dunkelheit waren meine
+schlimmsten Feinde. Dann sah ich, wie in meiner Kindheit,
+drohende Gestalten hinter Baum und Busch, und
+h&ouml;rte die Tritte Unsichtbarer hinter mir. Ich lief.
+Auf dem kleinen Platz wenige Schritte vor unserem
+Garten blieb ich stehen. Der Atem wollte versagen.
+Ich sah hin&uuml;ber: Grau, d&uuml;ster, als w&auml;re es selbst nur
+ein Gebilde des Nebels, schlief unser Haus zwischen
+den schwarzen St&auml;mmen, die es umstanden wie lauernde
+W&auml;chter.</p>
+
+<p>Ein kalter Schauer rann mir &uuml;ber den R&uuml;cken: wir
+hatten hier noch keinen frohen Tag gehabt. Der Kleine
+<a name="Page_293" id="Page_293"></a>schlief schlecht, &mdash; der Kiefernduft rege ihn auf, meinte
+der Arzt, &mdash; er war oft krank gewesen. Und zwischen
+mir und meinem Mann richteten die Sorgen sich auf,
+immer h&ouml;her und h&ouml;her, wie eine trennende Mauer,
+in die die Kraft unserer Liebe nur hie und da Bresche
+schlug. Wir trugen unsere Qualen allein, &mdash; aus R&uuml;cksicht;
+wir h&uuml;llten unsere Seelen in den dunkeln Mantel
+des Schweigens, damit der Anblick ihrer Not nicht den
+anderen verletze. Da&szlig; einer den anderen &uuml;berhaupt
+nicht mehr sehen konnte, blieb uns verborgen. Unausgesprochene
+Vorw&uuml;rfe wirkten auf unsere Gef&uuml;hle wie
+fr&uuml;her Frost auf entfaltete Rosen. Uralte Vorurteile,
+Traditionen, deren triebkr&auml;ftige Wurzeln den Boden umklammern,
+wenn auch der Baum gef&auml;llt ist, n&auml;hrten sie.</p>
+
+<p>Unter der Schwelle des Bewu&szlig;tseins lebte in mir,
+der Emanzipatorin ihres Geschlechts, die Vorstellung:
+da&szlig; der Mann, dem das Weib sich anvertraute, wie
+ein Schutzengel &uuml;ber ihrem Leben stehen m&uuml;sse, da&szlig; er
+verpflichtet sei, sie vor Sorgen zu h&uuml;ten. Statt dessen
+hatte der meine &mdash; der Vorwurf w&uuml;hlte in mir &mdash; sie
+&uuml;ber mich heraufbeschworen! Und in dem Grunde
+der Seele des Mannes, der aus eigener &Uuml;berzeugung
+meine Berufsarbeit f&ouml;rderte, lebte der Gedanke: da&szlig;
+die Frau das Reich des Hauses zu regieren habe, da&szlig;
+ihr die Pflicht obliege, durch ihr Wirken die Not von
+seiner Schwelle zu bannen. Statt dessen verstand die
+seine nichts von alledem, und nur zu oft las ich in
+seinen sprechenden Z&uuml;gen den Vorwurf: Du &mdash; du bist
+schuld.</p>
+
+<p>Ein Licht, das im Erdgescho&szlig;, wo die K&ouml;chin schlief,
+aufflammte, ri&szlig; mich aus meinem Sinnen. Ich eilte
+<a name="Page_294" id="Page_294"></a>der Gartenpforte zu. Da &ouml;ffnete sich die T&uuml;re zum
+K&uuml;cheneingang, &mdash; &raquo;auf morgen!&laquo; h&ouml;rte ich fl&uuml;stern, ein
+Mann trat heraus, kletterte gewandt &uuml;ber den Zaun
+und ging, vor sich hintr&auml;llernd, die Stra&szlig;e hinab. Das
+Licht im M&auml;dchenzimmer erlosch.</p>
+
+<p>Ich schlich hinauf. Mein Mann schlief fest. Wie
+ich ihn schon um diesen Schlaf beneidet hatte! Ihn
+suchte er auf, ich mu&szlig;te ihn mir erst erzwingen! Heute
+wollte er sich &uuml;berhaupt nicht festhalten lassen. Der
+Gedanke, da&szlig; ich morgen die Minna schelten mu&szlig;te,
+peinigte mich: dadurch, da&szlig; ich ihre Arbeitskraft in Anspruch
+nahm, hatte ich doch noch kein Recht &uuml;ber ihre
+Person. Wie durfte ich verlangen, da&szlig; sie mir ihre
+Liebe opfern sollte? Und doch w&uuml;rde vermutlich die
+Konsequenz meiner Nachsicht nichts anderes sein, als
+da&szlig; sie ihren Liebhaber mit ern&auml;hrte. Eine gute Hausfrau
+nimmt alle Schl&uuml;ssel an sich, &mdash; die des Hauses
+wie die der Speisekammer. Ich vermochte es nicht:
+Konnte ich einen fremden Menschen einsperren, wie
+einen Sklaven? Vor einer Hausgenossin alles verschlie&szlig;en,
+als hielte ich sie von vornherein f&uuml;r eine
+Diebin? Wieder rollte sich durch einen geringf&uuml;gigen
+Anla&szlig; ein ganzes Problem vor mir auf. Ich gr&uuml;belte
+ihm nach, &uuml;ber die kleinen N&ouml;te meiner eigenen vier
+W&auml;nde hinaus, und fand keine andere L&ouml;sung als die
+radikalste: Vernichtung des patriarchalischen Haushalts,
+Entwicklung des Dienstm&auml;dchens, das unter st&auml;ndiger
+Kontrolle steht, das Tag und Nacht dienstbereit sein
+soll, zur freien Arbeiterin, die stundenweise besch&auml;ftigt
+und entlohnt wird.</p>
+
+<p>Mit dem grauenden Tage kehrte ich wieder zu mir
+<a name="Page_295" id="Page_295"></a>selbst zur&uuml;ck. Die n&auml;chste Zeit stellte starke Anforderungen
+an mich: der Feldzug gegen den Zuchthauskurs
+sollte auf der ganzen Linie er&ouml;ffnet werden, &mdash; ich w&uuml;rde
+h&auml;ufig abends fort sein m&uuml;ssen. Wenn ich doch irgend
+jemand h&auml;tte, der mich im Hause vertreten k&ouml;nnte.
+Aber die guten Hausgeister der Vergangenheit, &mdash; all
+die unbesch&auml;ftigten Tanten und Cousinen waren ausgestorben,
+hatten sich in selbst&auml;ndige Berufsarbeiterinnen
+verwandelt. Und meine Mutter?!</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Gleich nach des Vaters Tod hatte sie ihren
+Haushalt aufgel&ouml;st und war zu Erdmanns
+gezogen. Eine Lungenentz&uuml;ndung hatte Ilse
+aufs Krankenlager geworfen, die Mutter war Pflegerin
+und Haush&auml;lterin zugleich gewesen. Durfte ich sie jetzt,
+wo sie selbst der Erholung bed&uuml;rftig war, f&uuml;r mich in
+Anspruch nehmen?</p>
+
+<p>Sie besuchte uns am n&auml;chsten Tag. Ottochen lief
+ihr entgegen. Er suchte immer noch den &raquo;Apapa&laquo; und
+weinte, wenn er nicht mitkam.</p>
+
+<p>Wie leicht, wie elastisch der Gang der Mutter ist,
+dachte ich erstaunt, als ich sie n&auml;her kommen sah. Mir
+war, als w&auml;re sie sonst schwer und hart aufgetreten.
+Ihre Wangen waren ger&ouml;tet, der bittere Zug um ihren
+Mund wie weggewischt, die schmalen, blassen, zusammengepre&szlig;ten
+Lippen w&ouml;lbten sich pl&ouml;tzlich, wie von jungem
+Blut durchgl&uuml;ht.</p>
+
+<p>&raquo;Nun kann ich reisen!&laquo; sagte sie mit einem Aufleuchten
+in den Augen. &raquo;Meine Pflicht Erdmanns
+gegen&uuml;ber ist erf&uuml;llt, &mdash; sie wollen selbst so rasch als
+<a name="Page_296" id="Page_296"></a>m&ouml;glich auf See, um ihre Lungen auszuheilen; da bin
+ich frei&nbsp;&mdash;,&laquo; sie dehnte dies letzte Wort, als m&uuml;&szlig;te sie
+es ganz auskosten.</p>
+
+<p>Nach Italien wollte sie zuerst. Sie erz&auml;hlte von
+einem ganzen Sto&szlig; kunsthistorischer B&uuml;cher, die sie mitnehmen
+wollte. &raquo;Ich bin nie zum Lesen gekommen,&laquo;
+meinte sie; &raquo;wie viel hab' ich vers&auml;umt, wie viel kann
+ich nachholen!&laquo;</p>
+
+<p>Ich sah sie verwundert an, wie eine Fremde: hatte
+sie mich nicht so und so oft aus der Lekt&uuml;re herausgerissen,
+als ich noch daheim war, und mich neben
+sich an den Flickkorb gezwungen? Hatte sie jemals etwas
+anderes gelesen als die Zeitung und hie und da
+einen Roman?</p>
+
+<p>&raquo;Du bist erstaunt?&laquo; l&auml;chelte sie. &raquo;Du wirst es noch
+selbst erfahren, wie die Pflicht f&uuml;r andere zu leben uns
+Frauen fast bis zur Selbstvernichtung treiben kann.&laquo;
+Ich fand keine Antwort. Wie ungl&uuml;cklich mu&szlig;te sie gewesen
+sein, &mdash; und wie ungl&uuml;cklich gemacht haben, da
+sie f&uuml;nfunddrei&szlig;ig Jahre lang nur aus Pflichtgef&uuml;hl die
+Ketten der Ehe getragen hatte!</p>
+
+<p>&raquo;Im n&auml;chsten Winter werde ich mich hier in einer
+Pension etablieren,&laquo; fuhr sie fort, &raquo;du glaubst nicht,
+wie allein der Gedanke mich beruhigt, alle Haushaltsqu&auml;lerei
+los zu sein!&laquo; Und sie war scheinbar in ihrem
+Haushalt aufgegangen!</p>
+
+<p>&raquo;Was geschieht aber dann mit den M&ouml;beln?&laquo; fragte
+ich, um nur irgend etwas zu sagen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe heute das letzte verkauft &mdash;&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Verkauft?!&laquo; Ich starrte sie entgeistert an. Wie?!
+Ohne uns, ihren Kindern, auch nur eine Mitteilung da<a name="Page_297" id="Page_297"></a>von
+zu machen, hatte sie all die hundert lieben Dinge,
+die ein St&uuml;ck Heimat f&uuml;r mich gewesen waren, achtlos
+in alle Winde verstreut?! Des Vaters Schreibtisch
+mit den geschnitzten Eulen, &mdash; den alten Stuhl
+davor, &mdash; die Reiterpistole! Ich strich mir mechanisch
+mit der Hand &uuml;ber die hei&szlig;e Stirn, um den
+b&ouml;sen Traum zu verscheuchen, &mdash; denn es war doch nur
+ein Traum!</p>
+
+<p>&raquo;Auch die gr&uuml;nen Lehnsessel &mdash; und das alte Sofa,
+das in meinem Zimmer stand?&laquo; murmelte ich.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig;!&laquo; antwortete sie mit heller Stimme, aus der
+der scharfe ostpreu&szlig;ische Akzent mehr als sonst hervortrat.
+&raquo;Ihr alle habt, was ihr braucht, &mdash; das Ger&uuml;mpel
+h&auml;tte kaum noch einen Umzug ausgehalten; &mdash; nur Silber,
+Glas und Porzellan lie&szlig; ich bei Ilse auf den Boden
+stellen. Ich habe lang genug all dies Schwergewicht
+mit mir gezogen.&laquo;</p>
+
+<p>Mir scho&szlig; das Blut in die Schl&auml;fen: So strich sie
+Jahrzehnte ihres Lebens aus und mit ihnen die Erinnerung!
+Schon hatte ich bittere Worte auf der Zunge.
+Ich hob den Blick: Der Ausdruck ihrer Z&uuml;ge entwaffnete
+mich. Mir war, als s&auml;he ich pl&ouml;tzlich bis zum Grunde
+ihres Herzens. Dem G&ouml;tzen der Pflicht hatte sie ihr
+Leben geopfert und wu&szlig;te nun nicht einmal, wie gro&szlig;
+ihre S&uuml;nde gewesen war. Jetzt erst trat sie aus dem
+D&auml;mmerdunkel seines Tempels ans Tageslicht und
+gr&uuml;&szlig;te es, als s&auml;he sie es zum erstenmal. Arme Mutter!
+Keinen Strahl deiner schon leise sinkenden Sonne
+will ich dir verdunkeln, dachte ich, und bat ihr im stillen
+ab, was ich an heimlichem Groll gegen sie im Herzen
+getragen hatte. Als ich sie zum Abschied k&uuml;&szlig;te, liebte
+<a name="Page_298" id="Page_298"></a>ich sie, &mdash; mit jener mitleidigen Liebe, die eine einzige
+Trennung ist.</p>
+
+<p>Es war gut, da&szlig; sie ging, &mdash; f&uuml;r sie und f&uuml;r mich.
+Der Glaube, da&szlig; ihre Kinder keine materiellen Sorgen
+hatten, geh&ouml;rte zu dem Gl&uuml;cksgef&uuml;hl, mit dem sie die
+sp&auml;te Freiheit geno&szlig;. H&auml;tte ich sie zur&uuml;ckgehalten, ihr
+in meine H&auml;uslichkeit Einblick gew&auml;hrt, er w&auml;re doch
+ersch&uuml;ttert worden. Ich mu&szlig;te selbst mit mir und den
+Verh&auml;ltnissen fertig werden.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>&raquo;Eine Villa im Grunewald,&nbsp;&mdash;&laquo; wie oft h&ouml;rte ich
+in den Kreisen der Parteigenossen mit einem mi&szlig;trauisch-hohnvollen
+Blick auf mich diese vier Worte
+fl&uuml;stern. Sie wu&szlig;ten nicht, da&szlig; uns kein Stein von ihr geh&ouml;rte,
+da&szlig; sie aber mit dem Gewicht aller ihrer Steine auf
+uns lastete. Die Zinsen, die wir zu zahlen hatten, waren
+schlie&szlig;lich doch h&ouml;her, als die Miete gewesen; Haus
+und Garten erforderten mehr Arbeitskr&auml;fte, als die
+kleine Etagenwohnung, und das Leben hier drau&szlig;en
+war auf Rentiers und Million&auml;re zugeschnitten, die den
+Grunewald allm&auml;hlich bev&ouml;lkert hatten. Noch mehr als
+fr&uuml;her war jeder Erste des Monats ein Schreckenstag
+f&uuml;r mich. Und wenn ich am Schreibtisch sa&szlig; und meine
+Gedanken auf das Buch, an dem ich arbeitete, konzentrieren
+wollte, kamen die Sorgen grinsend aus allen
+Winkeln gekrochen und bohrten ihre Knochenfinger in
+mein Gehirn und zerdr&uuml;ckten meine Gedanken zwischen
+ihnen. Dann lief ich zu meinem Sohn hinauf oder
+spielte im Garten mit ihm, &mdash; denn &uuml;ber seinen Zauberkreis
+wagten sich die grauen Gespenster nicht.</p>
+
+<p><a name="Page_299" id="Page_299"></a>Wie hatte die Mutter gesagt, als sie mit jungen
+Augen von ihrer Freiheit sprach? &raquo;Lang genug hab'
+ich dieses Schwergewicht mit mir gezogen &mdash;&nbsp;&mdash;&laquo; Ein
+Schwergewicht, &mdash; eine Kette am Fu&szlig;, &mdash; so empfand
+ich auf einmal das Haus, in dem ich wohnte. Fl&uuml;gellos
+machte es mich und &mdash; alt, alt!</p>
+
+<p>Du hast Falten um Mund und Nase, sagte mein
+Spiegel, Falten, und tr&uuml;be Schleier &uuml;ber den Pupillen
+wie all jene Frauen, denen der j&auml;mmerliche
+Kleinkram des Lebens die Seele zertritt. Ich aber
+will nicht alt sein, schrie es in mir; noch braust und
+sch&auml;umt der Strom der Jugend in meinem Innern,
+der starke Strom, der Felsen h&ouml;hlt und Riesen des
+Waldes entwurzelt, und den die Ehe in ihre gemauerten
+Kan&auml;le zwang.</p>
+
+<p>&raquo;Heinz, hab' einmal Zeit f&uuml;r mich,&laquo; sagte ich eines
+Abends. Wir sa&szlig;en fast immer bis zum Schlafengehen
+arbeitend an unserem Schreibtisch. Gemeinsame Abende
+gab's f&uuml;r uns nicht. Ich hatte unter diesem Mangel
+im Beginn unserer Ehe schwer genug gelitten. Er sah
+von seiner Lekt&uuml;re auf; ein helles Licht huschte &uuml;ber
+seine Z&uuml;ge. &raquo;Immer, mein Schatz &mdash; nur leider verlangst
+du nie danach.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig;, du hast es sehr gut gemeint,&laquo; begann
+ich stockend, &raquo;du hast nur meinen Wunsch erf&uuml;llen wollen,
+als du dieses Haus f&uuml;r uns bautest. Keiner von uns
+hat vorher gewu&szlig;t, da&szlig; &mdash; da&szlig; es eine unertr&auml;gliche
+Last f&uuml;r uns sein w&uuml;rde &mdash;&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber, Alix, du kommst auf diesen vern&uuml;nftigen Gedanken,
+du?!&laquo; unterbrach er mich. &raquo;Du k&ouml;nntest &mdash; du
+wolltest&nbsp;&mdash;?!&laquo;</p>
+<p><a name="Page_300" id="Page_300"></a></p>
+<p>&raquo;Das Haus verkaufen, &mdash; ja! Tausendmal lieber,
+als in dieser Angst weiterleben&nbsp;&mdash;&laquo; Mir st&uuml;rzten die
+Tr&auml;nen aus den Augen, trotz aller Selbstbeherrschung.</p>
+
+<p>Heinrich geh&ouml;rte zu den wenigen M&auml;nnern, die durch
+Frauentr&auml;nen nicht weicher, sondern h&auml;rter werden. &raquo;Wozu
+die Tragik,&laquo; sagte er &auml;rgerlich. &raquo;Wenn du einsiehst,
+was mir l&auml;ngst klar ist: da&szlig; wir &uuml;ber unsere Verh&auml;ltnisse
+leben, so sind wir einig, und die Konsequenzen
+sind selbstverst&auml;ndlich.&laquo;</p>
+
+<p>Meine Tr&auml;nen flossen nur noch st&auml;rker; ich hatte unwillk&uuml;rlich
+so etwas wie ein Lob f&uuml;r meinen Opfermut
+erwartet. Erst allm&auml;hlich kam ich zur Ruhe.</p>
+
+<p>Wir sa&szlig;en aneinandergeschmiegt wie in den ersten
+Zeiten unserer Ehe auf dem pfauenblauen Sofa und
+spannen neue Zukunftstr&auml;ume, als w&auml;re durch unseren
+blo&szlig;en Entschlu&szlig; schon die Bahn f&uuml;r sie frei.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wochen und Monde vergingen. Niemand
+fragte nach unserem Haus. Indessen zog
+mit blauem Himmel und hei&szlig;er Sonne
+der Sommer ein, und auch unter den Kiefern lachten
+und dufteten Rosen, Nelken und Lilien. Gr&uuml;ne Ranken
+kletterten &uuml;berm&uuml;tig an den grauen W&auml;nden empor,
+vor allen Fenstern nickten rote Geranien. Und mitten
+in all der Pracht bl&uuml;hte mein Kind. Es spielte den
+ganzen Tag im Gr&uuml;nen, jeder Busch wurde ihm ein
+lebendiger Gef&auml;hrte. Und wenn es droben im Giebelst&uuml;bchen
+hinter den Blumenbrettern schlief, dann sa&szlig;en
+wir noch lange auf der Altane und atmeten den w&uuml;rzigen
+Duft der Nacht und genossen der zauberischen<a name="Page_301" id="Page_301"></a>
+Ruhe des Waldes. Ich fing an, dies St&uuml;ckchen Erde
+zu lieben: es hatte meinem Sohn eine Heimat werden
+sollen. Ich trennte mich immer schwerer von dem stillen
+Winkel.</p>
+
+<p>Nichts ist gef&auml;hrlicher f&uuml;r den Altruismus, als die
+mit Egoismusbazillen gef&uuml;llte Luft h&auml;uslicher Gem&uuml;tlichkeit.
+Nur die ganz Starken, Widerstandsf&auml;higen entziehen
+sich der Ansteckung.</p>
+
+<p>Die Vork&auml;mpfer der Menschheit waren fast immer
+die Heimatlosen.</p>
+
+<p>Aber auch meine K&ouml;rperkr&auml;fte hinderten mich oft an
+der agitatorischen T&auml;tigkeit. War ich gen&ouml;tigt, ein paar
+Abende hintereinander zu sprechen, so versagte meine
+Stimme. &raquo;Sie d&uuml;rfen sich niemals in Rauch und Staub
+aufhalten,&laquo; sagte dann der Arzt und verordnete mir
+Schweigen und frische Luft. Meine robusten Genossinnen,
+f&uuml;r die die Atmosph&auml;re der Versammlungss&auml;le nicht
+schlechter war als die ihrer engen Stuben, ihrer &uuml;berf&uuml;llten
+Werkst&auml;tten und Fabrikr&auml;ume, hielten mich f&uuml;r
+schulkrank und mi&szlig;trauten mir mehr noch als fr&uuml;her.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wir hatten im Winter einen Arbeiterinnenbildungsverein
+gegr&uuml;ndet, &mdash; einen Notbehelf,
+da das Gesetz den Frauen die Teilnahme
+an politischen Organisationen untersagte und
+seine Handhabung den Arbeiterinnen gegen&uuml;ber besonders
+streng war. Er wurde aber rasch zum Selbstzweck;
+die Frauen hatten ein lebhaftes Bed&uuml;rfnis nach
+geistiger Aufkl&auml;rung aller Art, und es war f&uuml;r mich
+eine Erfrischung, seinen Zusammenk&uuml;nften beizuwohnen.<a name="Page_302" id="Page_302"></a>
+Zwei Abende war schon &uuml;ber Erziehung gesprochen worden,
+und die Debatte bewies, mit wie viel Ernst, mit
+wie viel Eifer diese armen Arbeiterfrauen ihre Aufgabe
+als M&uuml;tter erfa&szlig;ten.</p>
+
+<p>Diesmal hatte ich Romberg gen&ouml;tigt, mitzukommen.
+Er war in bezug auf die geistige Entwickelungsm&ouml;glichkeit
+der Frauen sehr skeptisch, und so sehr er
+aus rein &ouml;konomischen Gr&uuml;nden die Frauenbewegung
+f&uuml;r notwendig anerkannte, so war sie ihm doch nur
+eine traurige Notwendigkeit; was sie erstrebte, erschien
+ihm nicht als Fortschritt, sondern nur als eine
+unausbleibliche beklagenswerte Wandelung. Den Bildungshunger
+der &raquo;Waschfrauen und N&auml;herinnen&laquo; hielt
+er nun gar f&uuml;r eine meiner unverzeihlichen Illusionen.
+Ich wollte ihm einmal statt Gr&uuml;nde Beweise liefern.
+Und allm&auml;hlich schien er wirklich erstaunt. Eine kleine,
+adrett gekleidete Frau stand jetzt auf dem Podium.
+&raquo;Mein Mann ist Maschinenschlosser,&laquo; sagte sie, &raquo;wir
+haben nur zwei Kinder und soweit unser Auskommen,
+so da&szlig; ich nicht mit zu verdienen brauchte. Aber unser
+Junge ist ein heller Kopf. Da hab' ich mir gesagt:
+Der soll was Besseres werden als seine Eltern, der soll
+auch mal wissen, wie sch&ouml;n und wie reich die Welt ist,
+und nicht, wie wir, blo&szlig; durch so'n schmales Guckloch
+ein Endchen von ihr zu sehen kriegen. Und nun gehe
+ich wieder in die Fabrik, und der Fritze geht daf&uuml;r
+aufs Gymnasium. Ich will mich nicht r&uuml;hmen, da&szlig;
+ich's tu', ich m&ouml;cht' nur jeder raten, es ebenso zu
+machen.&laquo;</p>
+
+<p>In jener Impulsivit&auml;t, die ich so sehr an meinem
+Mann liebte, stand er auf, um der tapferen kleinen<a name="Page_303" id="Page_303"></a>
+Frau, die wieder ihrem Platz zuschritt, die Hand
+zu dr&uuml;cken. Romberg dagegen sagte: &raquo;Meinen Sie,
+da&szlig; der &#8250;Fritze&#8249; als Geistesproletarier gl&uuml;cklicher sein
+wird!?&laquo; &raquo;Auf das Gl&uuml;ck kommt es nicht an, sondern
+auf den Grad der sozialen Leistung, und die wird gr&ouml;&szlig;er
+sein, wenn seine Begabung zu ihrem Rechte kommt,&laquo;
+antwortete ich rasch.</p>
+
+<p>Ein junges M&auml;dchen trat an unseren Tisch. &raquo;Genossin
+Brandt?&laquo; forschend sah sie mich an. &mdash; &raquo;Die
+bin ich.&laquo; &mdash; &raquo;Ich wollte Sie nur mal was fragen.
+Ich bin n&auml;mlich Dienstm&auml;dchen gewesen und habe eine
+Freundin, die noch K&ouml;chin is, und die hat mich neulich
+in den Dienerverein mitgenommen, wo sie jetzt wollen
+auch die M&auml;dchens aufnehmen. Sie schimpfen aber
+dort alle gegen die Sozialen, und da wollt ich gern mal
+wissen, ob Sie nich mal k&ouml;nnten hinkommen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie werden doch nicht!&laquo; fl&uuml;sterte mir Romberg zu.
+&raquo;Verpflichte dich zu nichts,&laquo; sagte mein Mann leise.</p>
+
+<p>&raquo;Selbstverst&auml;ndlich komme ich,&laquo; entgegnete ich der
+zaghaft vor mir Stehenden; ihr Gesicht erhellte sich;
+wir verabredeten alles weitere.</p>
+
+<p>Beim Heimweg schalt mein Mann: &raquo;Du l&auml;&szlig;t dich
+von jeder beschwatzen, und alle spekulieren schlie&szlig;lich
+auf deine Gutm&uuml;tigkeit.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn diese kleine Begegnung zu einer Dienstbotenbewegung
+den Anla&szlig; gibt, so wirst du anders denken.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mir tut es in der Seele weh, wenn ich Sie in
+der Gesellschaft seh,&laquo; meinte Romberg. Er sah mich
+mit einem Blick an, der mich err&ouml;ten machte. Wie
+t&ouml;richt, &mdash; dachte ich gleich darauf, zornig &uuml;ber die
+eigene Schw&auml;che, und doch blieb ich den ganzen Abend
+<a name="Page_304" id="Page_304"></a>&uuml;ber im Bann jener Frauenfreude, die belebend wirkt
+wie prickelnder Champagner: der Freude an der Bewunderung.
+Alix von Kleve stieg aus der Versenkung
+ernster Jahre empor und sonnte sich an altvertrauten
+Triumphen. In meinen Verkehr mit Romberg trat ein
+neuer Reiz: er lie&szlig; es mich f&uuml;hlen, da&szlig; das Weib in
+mir ihn anzog und nicht nur die neutral-interessante
+Pers&ouml;nlichkeit. Es gibt Frauen, die angesichts solcher
+Erfahrung die Beleidigten spielen. Sie l&uuml;gen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich drehe dir den Hals um, wenn du dir von
+Romberg die Kur machen l&auml;&szlig;t,&laquo; grollte Heinrich, als
+wir zu Hause waren, zwischen Scherz und Ernst. Ich
+flog ihm in die Arme. &raquo;Hast du mich wirklich so lieb?&laquo;
+lachte ich. Er zog mich st&uuml;rmisch an sich: &raquo;Dich, dich
+hab' ich lieb,&laquo; fl&uuml;sterte er leidenschaftlich, &raquo;das s&uuml;&szlig;e
+Katzel, &mdash; meinen Schatz; &mdash; die ber&uuml;hmte Frau kann
+mir gestohlen werden ...&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>In der ersten Morgenfr&uuml;he weckte mich ein wilder
+Schrei. &raquo;Aus Minnas Stube,&laquo; &mdash; sagte ich
+mir und st&uuml;rzte hinunter. Sie lag in ihrem
+Blut, und als der Arzt kam, schwand mein letzter Zweifel:
+sie hatte gewaltsam die Folgen ihres Liebesverh&auml;ltnisses
+beseitigen wollen.</p>
+
+<p>An ihrem Krankenbett studierte ich die Dienstbotenfrage.
+Sie fa&szlig;te Vertrauen zu mir. Ich erfuhr von
+diesem armen Leben, das von Kindheit an unter fremden
+Leuten in st&auml;ndiger Unfreiheit, in ununterbrochener
+Dienstbarkeit verflossen war. &raquo;Was mu&szlig; unsereiner
+doch auch haben, &mdash; was f&uuml;rs Herz. Und wenn ich
+<a name="Page_305" id="Page_305"></a>nicht getan h&auml;tte, was er wollte, &mdash; dann w&auml;r' er fortgegangen, &mdash; dann
+h&auml;tte er zehn f&uuml;r eine gefunden,&laquo;
+schluchzte sie.</p>
+
+<p>&raquo;Warum heirateten Sie nicht?&laquo; wagte ich einmal
+einzuwenden. &raquo;Heiraten?! Womit denn?! &mdash; Arbeit
+hat mein Franz keine, &mdash; meine paar Spargroschen
+gab ich ihm, &mdash; und vor so einer Jammerwirtschaft
+in einem Loch auf'n Hof mit'n halb Dutzend G&ouml;hren
+graut's mich&nbsp;...&laquo; Sie wurde von Tag zu Tag
+elender. Ihr Franz fragte nur einmal nach ihr. Als er
+h&ouml;rte, da&szlig; sie krank sei, kam er nicht wieder. Ich mu&szlig;te
+sie schlie&szlig;lich der schweren Pflege wegen, die ihr Zustand
+n&ouml;tig machte, ins Krankenhaus bringen. Dort
+starb sie.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>&raquo;Wir wollen die Harmonie zwischen Dienstboten
+und Herrschaften wieder herstellen ...&laquo; &mdash; &raquo;die
+Dienstboten allein k&ouml;nnen nichts erreichen,
+es geh&ouml;ren auch die Herrschaften dazu ...&laquo; &mdash; &raquo;den
+Arbeitern fehlt es heute an t&uuml;chtigen Hausfrauen,
+weil die M&auml;dchen lieber in die Fabrik als in Stellung
+gehen, wo sie sich dazu vorbereiten k&ouml;nnten ...&laquo; Das
+waren die Leitmotive, unter denen die Versammlungen
+tagten, die der Dienerverein veranstaltete. Die wenigen
+weiblichen Dienstboten, die ihm schon angeh&ouml;rten, schlugen
+zwar zuweilen eine sch&auml;rfere Tonart an, wenn die Erinnerung
+an all die erlittene Unbill sie &uuml;berw&auml;ltige,
+aber sie trugen schwarzwei&szlig;e Kokarden und verwahrten
+sich nachdr&uuml;cklich dagegen, mit der Arbeiterbewegung
+irgend etwas gemeinsam zu haben.</p>
+
+<p><a name="Page_306" id="Page_306"></a>Ich verhielt mich w&auml;hrend der ersten Versammlungen
+nur als Zuh&ouml;rerin und erkannte bald, da&szlig; es dem Verein
+an Mitteln und Mitgliedern fehlte und er offenbar
+nichts wollte, als durch Hinzuziehung weiblicher
+Dienstboten diesem &Uuml;bel abzuhelfen. Im Grunde f&uuml;rchtete
+er schon, die Geister, die er gerufen, nicht los zu
+werden, denn sobald ein M&auml;dchen ihre Erfahrungen
+gar zu r&uuml;ckhaltlos zum besten gab, trat irgendein Beschwichtigungsapostel
+ihr entgegen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich stelle den Antrag, da&szlig; wir uns der entstehenden
+Dienstbotenbewegung mit allem Nachdruck annehmen,&laquo;
+sagte ich, als ich wieder einmal mit den Genossinnen
+zusammenkam; &raquo;in jeder Versammlung m&uuml;ssen einige
+von uns anwesend sein. Wir d&uuml;rfen die Gelegenheit
+nicht vor&uuml;bergehen lassen, um diese rechtlosesten unter
+den Arbeiterinnen zum Bewu&szlig;tsein ihrer Klasse zu erziehen.
+Wir m&uuml;ssen so bald als m&ouml;glich eine selbst&auml;ndige
+Organisation gr&uuml;nden, damit sie dadurch dem
+Einflu&szlig; dieses grundsatzlosen Vereins nicht unterworfen
+bleiben.&laquo;</p>
+
+<p>Aber je lebhafter ich sprach, desto k&uuml;hler und zur&uuml;ckhaltender
+waren die anderen. &raquo;Genossin Brandt scheint
+nicht zu wissen, da&szlig; die Dienstboten kein Koalitionsrecht
+besitzen&nbsp;&mdash;,&laquo; meinte Martha Bartels naser&uuml;mpfend.</p>
+
+<p>&raquo;Gerade weil ich das wei&szlig;, empfinde ich um so mehr
+unsere Verpflichtung, ihnen zu helfen, ihnen das R&uuml;ckgrat
+zu st&auml;rken,&laquo; entgegnete ich heftig.</p>
+
+<p>&raquo;Die Dienstm&auml;dchen sind noch l&auml;ngst nicht reif f&uuml;r
+unsere Bewegung, &mdash; &uuml;berlassen wir sie ruhig sich selbst,&laquo;
+sagte eine andere.</p>
+<p><a name="Page_307" id="Page_307"></a></p>
+<p>&raquo;Damit sie den Nationalsozialen in die H&auml;nde fallen,
+die ihre Netze auslegen, wo immer sie einen Proletariermassenfang
+erwarten d&uuml;rfen,&laquo; antwortete ich, und unterdr&uuml;ckte
+noch rasch eine Bemerkung &uuml;ber die Sch&auml;dlichkeit
+dieses fatalistischen Glaubens an die Alleinseligmachung
+der &ouml;konomischen Entwicklung, der uns in geeigneten
+Momenten die H&auml;nde in den Scho&szlig; legen l&auml;&szlig;t.</p>
+
+<p>&raquo;So werde ich denn allein mein Heil versuchen,&laquo; erkl&auml;rte
+ich schlie&szlig;lich, als mein Antrag abgelehnt wurde,
+und verlie&szlig; die Sitzung.</p>
+
+<p>Von nun an fehlte ich in keiner Dienstbotenversammlung.
+Mit bunten Sommerh&uuml;ten und hellen Blusen
+f&uuml;llten die w&auml;hrend der Reisezeit der &raquo;Herrschaften&laquo;
+dienstfreien M&auml;dchen die gluthei&szlig;en S&auml;le. Zuerst kamen
+nur die Gutgestellten, die Jungen, die Handschuhe
+trugen und zuweilen vornehmer aussahen wie ihre
+&raquo;Gn&auml;digen&laquo;. Sie betrachteten die Sache fast wie
+eine Ferienlustbarkeit und kokettierten mit den M&auml;nnern,
+die hier auf Abenteuer ausgingen. Aber allm&auml;hlich
+&uuml;berwogen die &auml;lteren, die von zehn und zwanzig
+und drei&szlig;ig Dienstjahren erz&auml;hlen konnten, und die
+Armen, die M&auml;dchen f&uuml;r Alles waren, auf deren
+schmale Schultern die gut b&uuml;rgerliche Hausfrau die
+Lasten des Lebens abzuw&auml;lzen sucht. Und ihre Klagen
+wurden lauter, ihre Worte deutlicher; das Kichern und
+Lachen verstummte vor den Bildern des Grams, die sich
+enth&uuml;llten.</p>
+
+<p>Es gab welche, die ihre Kolleginnen um den dunkeln
+H&auml;ngeboden &uuml;ber der K&uuml;che beneideten, weil sie nichts
+hatten als ein Schrankbett auf dem offenen Flur oder
+eine Matratze im Baderaum: &raquo;Dabei wird unsere gute<a name="Page_308" id="Page_308"></a>
+Stube nur zweimal im Jahre f&uuml;r die gro&szlig;e Gesellschaft
+ge&ouml;ffnet ...&laquo;</p>
+
+<p>Ach, und die schmale Kost bei der harten Arbeit:
+&raquo;Eine Stulle mit Schweineschmalz am Abend, &mdash; w&auml;hrend
+der Herr drinnen Rotwein trinkt zu f&uuml;nf Mark
+die Flasche ...&laquo;</p>
+
+<p>Vor allem aber: &raquo;Nie ein St&uuml;ndchen freie Zeit ...
+Wir schrubbern und kochen, w&auml;hrend die Herrschaft
+spazieren geht, ... wir h&uuml;ten die Kinder, w&auml;hrend
+sie tanzen ...&laquo;</p>
+
+<p>Dazwischen sch&uuml;chterne Bitten der &Auml;ngstlichen und
+Gutm&uuml;tigen: &raquo;Nur ein wenig geregelte Arbeitszeit, &mdash; und
+freundliche Worte statt des ewigen Zanks, &mdash; dann
+wollen wir gern dienen, wollen treu und
+flei&szlig;ig sein.&laquo;</p>
+
+<p>Sie waren wie aufgescheuchte V&ouml;gel, die ohne Richtung
+hin- und herflattern. Als ich zum erstenmal vor
+ihnen zu reden begann, hielten sie mich f&uuml;r eine &raquo;Gn&auml;dige&laquo;.
+&raquo;Nu aber jeht's los!&laquo; rief kampflustig eine rundliche
+K&ouml;chin. Alles lachte. Ich sprach von den Gesindeordnungen,
+den Ausnahmegesetzen f&uuml;r die Dienstboten,
+die sie den Dienstgebern fast rechtlos in die H&auml;nde
+liefern, von der erlaubten &raquo;leichten&laquo; k&ouml;rperlichen Z&uuml;chtigung,
+von den vielen Gr&uuml;nden zur Entlassung ohne
+K&uuml;ndigung und schlie&szlig;lich von einer jener Sch&ouml;pfungen
+der preu&szlig;ischen Reaktion, die den Streik der Dienstboten
+mit Gef&auml;ngnis bestraft. Noch h&ouml;rte man mir ruhig zu,
+unsicher, was ich aus den Tatsachen folgern w&uuml;rde.
+Nur der Vorsitzende, der stets aus eigener Machtvollkommenheit
+&raquo;das Hausrecht &uuml;bernahm&laquo;, sah beunruhigt
+zu mir auf.</p>
+<p><a name="Page_309" id="Page_309"></a></p>
+<p>&raquo;F&uuml;r Sie ist demnach die Zuchthausvorlage, die Deutschlands
+gesamte Arbeiterschaft knebeln will, immer Gesetz
+gewesen,&laquo; rief ich laut.</p>
+
+<p>&raquo;Eine Sozialdemokratin!&laquo; kreischte neben mir eine
+Frau in hellem Entsetzen. Ein unbeschreiblicher L&auml;rm
+erhob sich; auf die Tische sprangen die M&auml;dchen in
+hysterischer Erregung, schrieen und winkten mit den
+Taschent&uuml;chern; eine von ihnen dr&auml;ngte sich neben mich,
+ballte die F&auml;uste und rief schluchzend: &raquo;Wir sind k&ouml;nigstreu!
+Wir sind gottesf&uuml;rchtig!&laquo; Hilflos, mit angstger&ouml;tetem
+Gesicht schwang der Vorsitzende unaufh&ouml;rlich
+die Glocke. Aber in der n&auml;chsten Versammlung erwarteten
+mich schon ein paar M&auml;dchen an der T&uuml;re: &raquo;Sie
+werden sprechen, nicht wahr? &mdash; Wir werden Ihnen
+Ruhe verschaffen!&laquo;</p>
+
+<p>Und im &uuml;berf&uuml;llten Saal waren au&szlig;er den Dienstboten:
+Neugierige, Hausfrauen, b&uuml;rgerliche Frauenrechtlerinnen,
+Journalisten mit der frohen Erwartung einer in m&ouml;glichst
+vielen Zeilen zu beschreibenden Sensation. Auch
+ein paar Genossinnen entdeckte ich: Ida Wiemer und
+Marie Wengs. &raquo;Wir greifen ein, wenn's not tut,&laquo;
+sagten sie, &raquo;nur tapfer!&laquo; Bis um Mitternacht lie&szlig; mich
+der Vorsitzende nicht zu Worte kommen. Ich ging im
+Saal umher, von Tisch zu Tisch. &raquo;Das ist Recht und
+Freiheit im Dienerverein,&laquo; sagte ich. Jemand rief:
+&raquo;Alix Brandt soll reden!&laquo; und der Ruf pflanzte sich
+fort und dr&ouml;hnte schlie&szlig;lich durch den Saal. Als ich
+aber auf dem Podium stand, erstickte ihn ein zorniges
+Zischen; die Kraft meiner Stimme k&auml;mpfte dagegen an,
+und wie ein Unwetter in der Ferne verklang es.</p>
+
+<p>&raquo;Sie wollen eine Verbesserung der Gesindeordnung,
+<a name="Page_310" id="Page_310"></a>als ob auf verunkrautetes Feld frischer Samen ges&auml;t
+werden sollte. Es gibt nur eine Forderung, die Sie
+stellen d&uuml;rfen: ihre Abschaffung, damit Sie den Arbeitern
+gleichgestellt werden&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wir sind keine Arbeiterinnen, &mdash; wollen keine sein!&laquo;
+rief ein zierliches Z&ouml;fchen mit gebrannten Stirnlocken
+entr&uuml;stet.</p>
+
+<p>&raquo;Sie predigen Harmonie zwischen Herrschaft und
+Dienstboten, und doch gibt es zwischen ihnen ebensowenig
+eine Interessengemeinschaft wie zwischen dem
+Arbeiter und dem Unternehmer&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Unerh&ouml;rt!&laquo; &mdash; Ein paar Damen mit hochrotem
+Gesicht dr&auml;ngten sich zur T&uuml;re. Die M&auml;dchen lachten
+hinter ihnen: &raquo;Sie k&ouml;nnen die Wahrheit nicht vertragen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Je mehr Sie Maschinen sind, desto weniger Menschen
+sind Sie und desto bessere Dienstboten im Sinne der
+Hausfrauen ... Sie wollen statt der endlosen eine beschr&auml;nkte
+Arbeitszeit, Sie tun recht daran. Aber die
+Masse der Hausfrauen ist nicht in der Lage, statt eines,
+zwei und drei M&auml;dchen f&uuml;r dieselbe Arbeit anzustellen.
+Sie wollen statt einer Schlafstelle ein Zimmer, das
+ihnen etwas wie ein Zuhause sein kann. Sie tun recht
+daran. Aber bei der heutigen Einteilungsart der Wohnungen
+und ihren hohen Preisen sind die meisten Frauen
+nicht imstande, sie Ihnen zu geben. Sie wollen &mdash; lassen
+Sie mich aussprechen, was Sie selbst noch
+nicht ausgesprochen haben &mdash; Sie wollen mit Ihren
+Freundinnen verkehren k&ouml;nnen, Ihren Br&auml;utigam sehen,
+ohne auf die Stra&szlig;e, auf die Tanzb&ouml;den gehen zu
+m&uuml;ssen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+<p><a name="Page_311" id="Page_311"></a></p>
+<p>&raquo;Unglaublich!&laquo; &mdash; Und wieder leerte sich der Saal
+um zahlreiche elegante Zuh&ouml;rer.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist Ihr gutes Recht. Und wer sich hier entr&uuml;stet
+geb&auml;rdet, den frage ich: was emp&ouml;rt sich in
+Ihnen? Ihre Sittlichkeit?! Ist es sittlich, junge,
+lebensvolle M&auml;dchen, die auf Freude dasselbe Recht
+haben wie die h&ouml;heren T&ouml;chter, denen die Natur dasselbe
+Verlangen nach der Erf&uuml;llung ihrer Geschlechtsbestimmung
+verlieh wie diesen, auf Hintertreppen, auf
+Schleichwege und zweifelhafte Balllokale anzuweisen,
+statt ihnen den Schutz des Hauses zu verleihen ..?&laquo;</p>
+
+<p>Minutenlanger Beifall unterbrach mich. Dicht um
+das Podium scharten sich junge Gestalten und leuchtende
+Augen hingen an meinen Lippen.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist vielmehr der nat&uuml;rliche Egoismus, der Interessengegensatz
+der Hausfrauen zu den Dienenden, der auch
+die Wohlwollenden unter ihnen zwingt, fremden G&auml;sten
+ihr Haus zu schlie&szlig;en ... Wir werden f&uuml;r die Gegenwart
+eine Reihe von Forderungen an die Gesetzgebung
+im Interesse der Dienenden zu stellen haben, deren Erf&uuml;llung
+viele Mi&szlig;st&auml;nde beseitigen wird. Aber der Dienst
+des Hauses wird nur dann den Charakter des Sklavendienstes
+verlieren und zur W&uuml;rde selbst&auml;ndiger Arbeit
+sich entwickeln, wenn das abh&auml;ngige Dienstm&auml;dchen sich
+in die freie Arbeiterin verwandelt hat, die ihre Arbeitskraft
+nur stundenweise verkauft, die imstande ist, in
+Reih und Glied mit dem in der Sozialdemokratie
+organisierten Proletariat f&uuml;r ihre letzten Ziele zu
+k&auml;mpfen ..&laquo;</p>
+
+<p>Ich stieg in den Saal hinunter, umbraust von Beifallsrufen
+und Schimpfworten.</p>
+
+<p><a name="Page_312" id="Page_312"></a>Von nun an hatte ich die Mehrheit auf meiner Seite.
+Die Versammlungen wurden ruhiger, sachliche Beratungen
+der aufzustellenden Forderungen wurden erm&ouml;glicht.</p>
+
+<p>Der L&auml;rm tobte statt dessen au&szlig;erhalb der S&auml;le
+weiter. Die Presse schrie nach der Polizei; Hausfrauenversammlungen
+nahmen geharnischte Resolutionen
+an, durch die sich die Anwesenden verpflichteten, ihren
+Dienstboten den Besuch unserer Zusammenk&uuml;nfte zu verbieten.
+Alles war von der Angst ergriffen, da&szlig; mit
+der Dienstbotenbewegung die Intimit&auml;t des Familienlebens
+der Sozialdemokratie ausgeliefert sei. Auf mich,
+die ich diese Gefahr &uuml;ber die ruhigen B&uuml;rger heraufbeschworen
+hatte, konzentrierte sich der pers&ouml;nliche Ha&szlig;.
+In allen Tonarten wurde ich beschimpft und verleumdet.
+Und selbst nahe Freunde, aufgekl&auml;rte, freidenkende
+Menschen, sprachen mir m&uuml;ndlich und schriftlich ihre
+Mi&szlig;billigung aus. Die ruhigsten Frauen gerieten dabei
+in leidenschaftliche Erregung.</p>
+
+<p>&raquo;Der Kanal, in den Sie den Strom der Dienstbotenbewegung
+geleitet haben, wird das &#8250;traute Familienleben&#8249;
+&uuml;berfluten. Was dann?!&laquo; schrieb mir Romberg.</p>
+
+<p>Meine Mutter erfuhr durch die Zeitungen von den
+Vorg&auml;ngen in Berlin. &raquo;Immer wieder zerst&ouml;rst Du
+durch die Ma&szlig;losigkeit Deiner Forderungen ihren n&uuml;tzlichen
+Kern und machst Dir und Deiner Sache die wohlwollendsten
+Menschen zu Feinden,&laquo; hie&szlig; es in einem
+Brief von ihr. Tags darauf folgte ihm ein zweiter,
+dem ein Schreiben meiner augsburger Tante beigelegt
+war. &raquo;Nach den unerh&ouml;rten Vorg&auml;ngen in Berlin bin
+ich au&szlig;erstande, an Alix pers&ouml;nlich zu schreiben. Ich
+<a name="Page_313" id="Page_313"></a>habe sie bisher immer verteidigt, habe ein Auge zugedr&uuml;ckt,
+wo ich konnte, aber ihre unverantwortliche
+Aufhetzung der Dienstboten, &mdash; denen es im Grunde
+nur zu gut geht, &mdash; werde ich weder verstehen, noch
+verzeihen k&ouml;nnen. Teile ihr das in meinem Namen
+mit und sage ihr, was vielleicht nicht ohne Eindruck
+auf sie bleiben wird, da&szlig; auch ihre alten Freunde,
+die Grainauer Bauern, emp&ouml;rt &uuml;ber sie sind ...&laquo; Ich
+l&auml;chelte unwillk&uuml;rlich: wenn ich von der Unfreiheit des
+Gesindes sprach, mu&szlig;ten sie sich getroffen f&uuml;hlen.</p>
+
+<p>Aber dann machte ich mir den Ernst der Sache klar:
+Ich hatte in Gedanken an das reiche Erbe der Tante nie
+auch nur einen Bruchteil meiner &Uuml;berzeugungen preisgegeben,
+die Selbst&auml;ndigkeit meiner Entschlie&szlig;ungen war
+nie durch sie beeinflu&szlig;t worden. Jetzt aber besa&szlig; ich
+einen Sohn, dessen einzige Zukunftsaussicht vielleicht in
+Frage stand, &mdash; seine Eltern hatten nicht das Zeug dazu,
+Kapitalisten zu werden! &mdash; und ich wu&szlig;te nur zu
+gut, was es hei&szlig;t, unter dem Druck st&auml;ndiger Sorgen
+zu leben, ich ahnte, wie frei sich ein Mensch entfalten,
+wie ungehindert er seine Kr&auml;fte in den Dienst der Allgemeinheit
+stellen kann, der an das Dach &uuml;ber dem
+Kopf, an den Rock auf dem Leib und das t&auml;gliche Brot
+keinen seiner Gedanken zu verschwenden braucht. Ich
+schrieb an Tante Klotilde und versuchte, ihr meine
+Stellung zur Dienstbotenfrage auseinanderzusetzen. Ich
+bekam meinen Brief uner&ouml;ffnet zur&uuml;ck. Meiner Mutter
+teilte sie mit, da&szlig; sie das Geschehene vergessen wolle,
+wenn ich nach dieser Richtung auf meine agitatorische
+T&auml;tigkeit verzichten w&uuml;rde.</p>
+
+<p>In jenen Tagen erkl&auml;rte Wanda Orbin in der &#8250;Frei<a name="Page_314" id="Page_314"></a>heit&#8249;,
+da&szlig; die Genossinnen verpflichtet seien, sich der
+Dienstbotenbewegung anzunehmen. Wenn sie schon ohne
+besonderen Beschlu&szlig; immer h&auml;ufiger in den Versammlungen
+erschienen, so war dies das Signal zur &Auml;nderung
+ihrer Stellung der ganzen Sache gegen&uuml;ber. Die
+Veranstaltung selbst&auml;ndiger Versammlungen wurde beschlossen,
+und zur Rednerin wurde ich bestimmt. Ich
+z&ouml;gerte: verletzte ich nicht ein h&ouml;heres Interesse, das
+meines Sohnes, wenn ich zusagte?</p>
+
+<p>&raquo;Lege ihm die Frage vor, wenn er reif genug ist, sie
+zu verstehen,&laquo; sagte mein Mann. &raquo;Wie er sie beantworten
+wird, kann ich dir jetzt schon sagen: Meine
+Mutter darf niemandem, auch mir nicht, ihre &Uuml;berzeugung
+opfern.&laquo;</p>
+
+<p>Und ich sprach. Die Emp&ouml;rung in der &Ouml;ffentlichkeit
+wuchs mit jeder Versammlung. Mit einer gewissen
+Ostentation zogen sich die Menschen von mir zur&uuml;ck.
+Aber die Bewegung war im Flu&szlig; und durch nichts mehr
+aufzuhalten. W&auml;re ich weise genug gewesen, der fachliche
+Erfolg allein h&auml;tte mich befriedigt. Aber noch
+war ich zu jung, war zu sehr Weib, um den Menschen
+und den Ereignissen mit der k&uuml;hlen Objektivit&auml;t reifer
+Politiker gegen&uuml;berstehen zu k&ouml;nnen. Im Grunde sehnte
+ich mich nach einem warmen, aufmunternden Wort
+seitens meiner Kampfgef&auml;hrten, nach ein wenig freundlicher
+Anerkennung. Statt dessen begegneten sie mir
+stets mit gleicher K&uuml;hle, mit gleicher Zur&uuml;ckhaltung.
+Zu keiner einzigen entstand ein pers&ouml;nliches Verh&auml;ltnis;
+je l&auml;nger ich mit ihnen arbeitete, desto fremder schien
+ich ihnen zu werden.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin aus Liebe zu euch gekommen, mit vollem<a name="Page_315" id="Page_315"></a>
+Herzen und ganzer Kraft,&laquo; h&auml;tte ich sagen m&ouml;gen,
+&raquo;warum sto&szlig;t ihr mich zur&uuml;ck?&laquo;</p>
+
+<p>Ich k&auml;mpfte oft mit den Tr&auml;nen, wenn ihr Mi&szlig;trauen
+mir immer wieder begegnete. Und nachher h&ouml;rte ich, da&szlig;
+man &uuml;ber meinen Hochmut, meine Unnahbarkeit schalt.
+Im stillen hoffte ich, man w&uuml;rde mich diesmal zum
+Parteitag delegieren, aber ich wurde nicht einmal dazu
+vorgeschlagen. Martha Bartels sagte nicht ohne Betonung:
+&raquo;Wir bleiben nat&uuml;rlich dem Grundsatz treu,
+nur bew&auml;hrte Genossinnen mit einer Delegation zu betrauen.&laquo;
+Darauf wurde die gro&szlig;e, hagere Frau Resch
+gew&auml;hlt; sie trug schon seit Jahren unerm&uuml;dlich Flugbl&auml;tter
+aus, und ihr Mann war eine Gr&ouml;&szlig;e in der
+inneren Bewegung.</p>
+
+<p>&raquo;Was k&uuml;mmerst du dich um die Weiber!&laquo; meinte
+mein Mann &auml;rgerlich, als ich ihm klagte. Und Ignaz
+Auer, der uns an einem sch&ouml;nen Septembersonntag besuchte,
+wiederholte dasselbe.</p>
+
+<p>&raquo;Glauben Sie mir altem Knaster,&laquo; meinte er, und
+sein sch&ouml;nes blasses Gesicht nahm jenen r&auml;tselhaften
+Ausdruck an, der aus Sarkasmus und Melancholie zusammengesetzt
+war, &raquo;glauben Sie mir: solange ich
+denken kann, war bei den Frauen stets derselbe Krakehl,
+und wenn ich schon lange modere, wird's ebenso
+sein. Sie haben alle Untugenden der Unterdr&uuml;ckten in
+konzentriertester Form, und schwingt man nicht, wie
+die Wanda, st&auml;ndig die Knute, so hat man verspielt.
+Seien Sie versichert: schon Ihr Aussehen vergeben
+Ihnen die Weiber nie.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und doch sind Sie als Sozialdemokrat f&uuml;r die Gleichberechtigung
+der Geschlechter?&laquo; wandte ich ein. Er
+<a name="Page_316" id="Page_316"></a>wehrte ab, mit einer vollendet geformten starken M&auml;nnerhand,
+die aber durch ihre Blutleere an die eines Toten
+gemahnte. &raquo;Ich werd's ja, gottlob, nicht erleben!&laquo;
+sagte er. &raquo;Nach der Richtung hat die Wanda recht,
+wenn sie den Auer mit dem Bernstein, den Schippel
+und den Heine in einen Topf wirft: ich bin mehr f&uuml;r
+die Bewegung als f&uuml;r das Endziel.&laquo; So waren wir
+wieder bei dem Thema angelangt, in das jede Unterhaltung
+zwischen Parteigenossen zu m&uuml;nden pflegte.</p>
+
+<p>&raquo;Der Parteitag in Hannover wird eine Kl&auml;rung
+bringen,&laquo; meinte ich im Laufe der Unterhaltung.</p>
+
+<p>&raquo;Eine Kl&auml;rung?!&laquo; Er lachte kurz auf. &raquo;Ich mu&szlig;
+Genossin Bartels wirklich recht geben: Sie sind noch
+nicht mandatsf&auml;hig! Glauben Sie wirklich, so tiefgehende
+Meinungsverschiedenheiten, die auf Unterschieden
+des Temperamentes, der Urteilskraft, der Bildung und
+der Lebenslage beruhen, lie&szlig;en sich durch blo&szlig;es Handaufheben
+entscheiden?! Wir werden sie auch mit zehn
+Parteitagen nicht aus der Welt schaffen. Und wieder
+f&uuml;ge ich hinzu: Gottlob nicht! Es w&auml;re nur ein Zeichen
+von Altersschw&auml;che, wenn wir alle ja schrien. Die
+Hauptsache bleibt die Einigkeit im Handeln. Und um
+die ist mir nicht bange, &mdash; die zwingen uns unsere
+Gegner auf.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Meinungsverschiedenheiten w&auml;ren gewi&szlig; kein
+Ungl&uuml;ck, wenn nicht die Unduldsamkeit hinzuk&auml;me,&laquo; sagte
+mein Mann.</p>
+
+<p>&raquo;Auch die ist noch nicht das Schlimmste. Wenn wir
+die eigene Ansicht f&uuml;r die richtige halten, so m&uuml;ssen wir
+doch konsequenterweise die falsche des Gegners bek&auml;mpfen,&laquo;
+entgegnete Auer. &raquo;Nur da&szlig; der Anders<a name="Page_317" id="Page_317"></a>denkende
+immer gleich als ein hundsgemeiner Kerl gebrandmarkt
+wird, &mdash; das ist bitter.&laquo; Er verabschiedete
+sich. Er f&uuml;rchtete sichtlich, sich zu Klagen und Anklagen
+hinrei&szlig;en zu lassen. An der Gartent&uuml;r blieb er stehen,
+ein sp&ouml;ttisches L&auml;cheln kr&auml;uselte seine Lippen: &raquo;Wenn
+Sie &uuml;brigens ein Mandat haben wollen, Genossin Brandt, &mdash; ich
+verschaff' es Ihnen. Die liebe Wanda und ihre
+Leibgarde ein wenig zu &auml;rgern, macht mir Spa&szlig;. Sie
+m&uuml;ssen sich nur nachher zur Agitation in dem betreffenden
+Kreis verpflichten.&laquo; Ich sch&uuml;ttelte den Kopf. Mir
+widerstrebte die Sache.</p>
+
+<p>&raquo;Nimm's an, Alix,&laquo; mahnte mein Mann, &raquo;so zeigst
+du am besten, da&szlig; du von der Gnade der berliner
+Frauen nicht abh&auml;ngig bist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie k&ouml;nnen's tun, &mdash; ganz ohne Gewissensbisse. Sowas
+haben auch die obersten Halbg&ouml;tter nicht verschm&auml;ht.&laquo;
+Z&ouml;gernd sagte ich zu. Es war mir nicht wohl dabei,
+so sehr ich auch gew&uuml;nscht hatte, einem Parteitag, und
+vor allem diesem, beizuwohnen.</p>
+
+<p>Kurz ehe wir abreisten, kam meine Mutter zur&uuml;ck.
+Sie schien um ein Jahrzehnt verj&uuml;ngt. &raquo;Ich bleibe bei
+dem Kleinen, w&auml;hrend ihr fort seid,&laquo; sagte sie; &raquo;das
+wird mein bedr&uuml;cktes Gewissen etwas erleichtern, &mdash; nach
+diesen selbsts&uuml;chtigen Monaten!&laquo;</p>
+
+<p>Wir mu&szlig;ten ihr nun auch von unserer Absicht, das
+Haus zu verkaufen, erz&auml;hlen. &raquo;Das st&auml;ndige Hin- und
+Herfahren zerr&uuml;ttet unsere Nerven,&laquo; sagte ich leichthin,
+&raquo;ich m&uuml;&szlig;te auf die &ouml;ffentliche T&auml;tigkeit verzichten, wenn
+wir drau&szlig;en bleiben wollten.&laquo;</p>
+
+<p>Sie sah von einem zum anderen in stummer sorgenvoller
+Frage. &raquo;Es ist wirklich so, Mamachen&nbsp;&mdash;,&laquo; ver<a name="Page_318" id="Page_318"></a>sicherte
+ich l&auml;chelnd. Sie sch&uuml;ttelte fast unmerklich den
+Kopf und fragte nichts mehr.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Zwischen schmalen Gassen und engen H&ouml;fen, fern
+jenem modernen Teil der St&auml;dte, der auch in
+Hannover ebenso elegant wie charakterlos ist,
+liegt eine gro&szlig;e dunkle Halle, der Ballhof genannt.
+Vor Zeiten warfen hier Kurf&uuml;rsten, Prinzessinnen und
+K&ouml;nige einander im grazi&ouml;sen Spiel ihre B&auml;lle zu, bis
+mit schwerem Schritt und ernstem Gesicht einer kam,
+dem Spielen fremd war: der Proletarier. Hellere R&auml;ume
+suchten die F&uuml;rsten f&uuml;r ihre Freuden; er nahm f&uuml;r seine
+Arbeit, was sie &uuml;brig lie&szlig;en: die dunkle Halle. Mit
+frischem Gr&uuml;n waren ihre Pfeiler umwunden, hinter
+purpurroten Fahnen verschwanden die alten schmucklosen
+W&auml;nde. Das Parlament der Arbeiter tagte hier. Drau&szlig;en
+lachte die Oktobersonne, drinnen brannte &uuml;ber den langen
+Tafeln k&uuml;nstliches Licht, das auf alle Gesichter scharfe
+Schatten zeichnete, soda&szlig; sie finster und feindselig erschienen.
+Dumpf hing die Luft im Raum; der Atem
+der Jahrhunderte war hinter den winzigen Fenstern gefangen
+geblieben. Er beengte die Brust.</p>
+
+<p>Lange vor dem Beginn der Verhandlungen war der
+Saal schon gef&uuml;llt. Anschwellendes Stimmengewirr,
+St&uuml;hler&uuml;cken, Rascheln von Papier, &mdash; jenem Papier,
+da&szlig; alle S&uuml;&szlig;igkeiten und alle Gifte der Welt auszustr&ouml;men
+vermag, &mdash; bildete die in ihren ungel&ouml;sten
+Disharmonien aufreizende Ouvert&uuml;re. Zeitungsbl&auml;tter
+wurden hin- und hergezeigt: &raquo;Bernstein Apostata&laquo; stand
+&uuml;ber dem einen Artikel, &raquo;Reinliche Scheidung&laquo; &uuml;ber
+<a name="Page_319" id="Page_319"></a>einem zweiten; &raquo;wir werden mit dem Revisionismus
+fertig werden, oder wir sind fertig,&laquo; hie&szlig; es an einer
+rot angestrichenen Stelle, &raquo;die Genossen im Reich erwarten
+eine klare Entscheidung,&laquo; an einer anderen. Von
+der unausbleiblichen Spaltung der Partei sprachen frohlockend
+b&uuml;rgerliche Zeitungen; in linksliberalen Bl&auml;ttern
+begr&uuml;&szlig;ten Kathedersozialisten die Anh&auml;nger Bernsteins
+als die ihren.</p>
+
+<p>Bureauwahl. Es h&ouml;rte kaum jemand zu. Paul Singer
+war anwesend, das Pr&auml;sidium also von vornherein in
+guten H&auml;nden. Die Begr&uuml;&szlig;ungsreden der Ausl&auml;nder
+d&auml;mpften das Stimmengewirr im Saal. Frankreich,
+wo der Dreyfus-Skandal noch im Mittelpunkt des Interesses
+stand, wo Millerand, der Sozialdemokrat, mit
+<ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'Jaur&eacute;s'">Jaur&egrave;s</ins>', des Sozialdemokraten, ausdr&uuml;cklicher Zustimmung
+das in den Augen der deutschen Radikalen unverzeihliche
+Verbrechen begangen hatte, in das Ministerium
+einzutreten, &mdash; Seite an Seite mit Gallifet, dem
+M&ouml;rder der Kommune, &mdash; war nicht vertreten. Des
+alten Liebknecht heftige Angriffe auf die Genossen jenseits
+der Vogesen mochte an dieser Zur&uuml;ckhaltung nicht
+ohne Schuld sein.</p>
+
+<p>Die Verhandlungen begannen. Mit ungeduldiger Hast
+wurde ein Punkt der Tagesordnung nach dem anderen
+erledigt. Alles dr&auml;ngte dem Hauptthema des Parteitages
+zu. Und selbst mitten in die nebens&auml;chlichsten Debatten
+hinein blitzte schon das Wetter der kommenden
+Tage.</p>
+
+<p>&raquo;Sie stehen bereits mit der Brandfackel an unserem
+Scheiterhaufen&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte einer der Revisionisten neben uns.</p>
+
+<p>Am Abend, als wir Frauen zu einer internen Be<a name="Page_320" id="Page_320"></a>sprechung
+zusammenkamen, f&uuml;hlte ich: in Gedanken war
+die &raquo;reinliche Scheidung&laquo; schon vollzogen. Wir berieten
+einen Antrag f&uuml;r den Arbeiterinnenschutz, der unserer
+n&auml;chsten agitatorischen T&auml;tigkeit Inhalt und Richtung
+geben, und dessen Forderungen durch den Parteitag
+sanktioniert werden sollten. Im Grunde waren es lauter
+Selbstverst&auml;ndlichkeiten. Nur der Schutz der Schwangeren
+war neu. Ich hatte daf&uuml;r gek&auml;mpft, obwohl ich
+wie vor einer Mauer redete und sie hatten ihn nicht
+ablehnen k&ouml;nnen, ohne sich selbst ins Gesicht zu schlagen.
+Daf&uuml;r waren sie um so hartn&auml;ckiger, als ich die Unterstellung
+der Dienstboten unter die Gewerbeordnung in
+den Antrag aufzunehmen empfahl. Das steht bereits
+in unserem Programm, hie&szlig; es. Aber viele unserer
+anderen Forderungen standen auch darin. Und gerade
+jetzt w&auml;re es wichtig gewesen, uns offiziell mit der Dienstbotenbewegung
+solidarisch zu erkl&auml;ren. &raquo;Wir d&uuml;rfen
+unsere Kr&auml;fte nicht verzetteln.&laquo; &mdash; Damit war die Sache
+abgetan.</p>
+
+<p>Die Frauen r&uuml;ckten nach der Besprechung freundschaftlich
+zueinander, unterhielten sich mit wohltuender
+Herzlichkeit mit all den Genossinnen, die aus Ost
+und West hierher gekommen waren; mich streifte zuweilen
+ein scheuer Gru&szlig;, ein fremder Blick; &mdash; ich
+ging hinaus.</p>
+
+<p>In unserem Gasthof fand ich die F&uuml;hrer in erregte
+Unterhaltung vertieft. Ihre Augen gl&uuml;hten in
+jugendlichem Feuer, selbst die Ausbr&uuml;che ihrer Leidenschaft
+b&auml;ndigte der heilige Ernst, mit dem sie alle f&uuml;r
+ihre Sache k&auml;mpften. Bebel war am stillsten; immer
+wieder strich er sich nerv&ouml;s die widerspenstige Locke aus
+<a name="Page_321" id="Page_321"></a>der Stirn; auf ihm lastete die Verantwortung der kommenden
+Tage.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Kalt und grau brach der n&auml;chste Morgen an. Im
+Ballhof k&auml;mpften die elektrischen Lampen umsonst
+gegen das Dunkel; es hockte um so deutlicher
+hinter den Pfeilern und zwischen den Tischen, je
+heller in ihrem direkten Strahlenkreis das Licht erschien.
+Nur langsam f&uuml;llte sich heute der Saal, und nur wenige
+Stimmen wurden laut. Ein gemessener Ernst lag
+auf allen Gesichtern und eine zweifelvolle Erwartung.
+Singer betrat das Podium:</p>
+
+<p>&raquo;... zur Verhandlung steht Punkt 4 der Tagesordnung:
+&#8250;Die Angriffe auf die Grundanschauungen
+der Partei&#8249;. Das Wort hat der Berichterstatter Genosse
+Bebel.&laquo; Noch ein heftiges St&uuml;hler&uuml;cken, dann
+tiefe Stille.</p>
+
+<p>Bebels Stimme allein beherrschte den Raum.</p>
+
+<p>Im Gespr&auml;chston begann er, ruhig, fast gem&uuml;tlich.
+Jeder Zuh&ouml;rer f&uuml;hlte sich unwillk&uuml;rlich pers&ouml;nlich angeredet.
+Selbst als er die unbeschr&auml;nkte Freiheit der
+Kritik an den eigenen Grundanschauungen als die Lebenslust
+der Partei bezeichnete, warf er den Satz nicht wie
+einen Fehdehandschuh in die Menge, sondern sprach im
+Tonfall der Konstatierung einer Selbstverst&auml;ndlichkeit.
+Die Fragen der materialistischen Geschichtsauffassung,
+der Dialektik, der Werttheorie schaltete er von vornherein
+aus, &mdash; &raquo;der Kongre&szlig; ist kein wissenschaftliches
+Konzil,&laquo; sagte er, &mdash; um zum Problem des Entwickelungsprozesses
+der kapitalistischen Gesellschaft &uuml;berzu<a name="Page_322" id="Page_322"></a>gehen,
+das Bernstein anders darstellte als Marx
+und Engels. Eine F&uuml;lle statistischer Berechnungen
+sch&uuml;ttete er vor uns aus, um Bernsteins Ansichten zu
+entkr&auml;ften, um festzustellen, da&szlig; das marxistische Dogma
+von der Zuspitzung der wirtschaftlichen Gegens&auml;tze, von
+der relativen Verelendung des Proletariats noch unersch&uuml;ttert
+ist.</p>
+
+<p>Und angesichts der verwirrenden Masse des Materials,
+an der die gro&szlig;e Menge den Grad der Wissenschaftlichkeit
+mi&szlig;t, wie sie an der H&auml;ufigkeit der Zitate
+den Grad der Bildung zu messen pflegt, ging ein
+Fl&uuml;stern staunender Bewunderung durch die Reihen, das
+sich in einem &raquo;sehr richtig&laquo;, einem &raquo;h&ouml;rt, h&ouml;rt&laquo; wieder
+und wieder Luft machte.</p>
+
+<p>Bebels Stimme schwoll an, seine Bewegungen wurden
+lebhafter, seine kleine Gestalt reckte sich. Er malte
+die Not des Proletariats. Die grollende Leidenschaft
+dessen, dem das Elend Auge in Auge gegen&uuml;bertritt,
+zitterte in seinen Worten, und klein und j&auml;mmerlich erschien
+dagegen, was Bernsteins n&uuml;chterne Schreibstubenweisheit
+von der gebesserten Lage des Arbeiters zu berichten
+gewu&szlig;t hatte.</p>
+
+<p>Wie der peitschende Ostwind &uuml;ber die Baumwipfel,
+so wehte seine Rede &uuml;ber die K&ouml;pfe. Und sie neigten
+sich gedankenschwer, sie wandten sich einander zu; sie
+hoben sich wieder, von einem Wort, das sie traf, emporgerissen.
+Da und dort stand einer auf, wie magnetisch
+angezogen von dem, der sprach. Eine dunkle Gruppe
+Menschen umringte die Rednertrib&uuml;ne.</p>
+
+<p>Auf einmal aber war es der Wind nicht mehr, der
+in den &Auml;sten rauscht, &mdash; es war der Sturm. Die
+<a name="Page_323" id="Page_323"></a>jugendstarke Kraft des Revolution&auml;rs, die begeisterte
+Schw&auml;rmerei des Glaubenshelden donnerte und brauste
+in den Worten des Agitators. All der zaghafte Pessimismus,
+all der unschl&uuml;ssige Zweifel, all die resignierte
+Bedenklichkeit, mit denen Bernstein die Seelen belastet
+hatte, flog vor ihnen davon wie Spreu und Staub.
+Und wie der Geisterbeschw&ouml;rer aus dem Nebel Gestalten
+entstehen l&auml;&szlig;t, so entwickelte sich unter dem Zauberstab
+des Redners die Erscheinung des alten Marx. War er
+es wirklich? Seltsam, &mdash; uns allen, die wir aufmerksam
+zusahen, kam es vor, als habe Bernstein manche
+Farben zu diesem Bilde gemischt. Was Bernstein wider
+ihn gesagt hatte, das nahm Bebel f&uuml;r ihn in Anspruch:
+Die Elendstheorie hat an den Tatsachen Schiffbruch
+gelitten, sagte Bernstein, &mdash; nie hat Marx sie im Sinne
+des absoluten Niederganges aufgefa&szlig;t, erkl&auml;rte Bebel; der
+Hinweis auf die Erl&ouml;serkraft der Revolution ist vom
+&Uuml;bel, sagte Bernstein, &mdash; auf die Evolution hat Marx
+schon das gr&ouml;&szlig;te Gewicht gelegt und niemals das Heil
+im Stra&szlig;enkampf gesehen, erkl&auml;rte Bebel. Und w&auml;hrend
+er sein Feuerschwert gegen all die z&uuml;ckte, die vor lauter
+Wenn und Aber den r&uuml;cksichtslosen Kampfmut einzub&uuml;&szlig;en
+im Begriffe standen, traf es auch die Inquisitoren,
+die ihn besa&szlig;en, aber auf die Ketzer im eigenen
+Lager zielten.</p>
+
+<p>Die Menge, die sich zuerst auseinandergerissen wie
+Steine von einem Felssturz vor ihm ausgebreitet hatte, &mdash; jeder
+die scharfe Kante feindselig wider den anderen
+gekehrt, &mdash; schien wieder ein Marmorbruch, aus dem er
+planvoll gewaltige Quadern schlug, die sich zu Grundmauern
+zusammenschlie&szlig;en lie&szlig;en.</p>
+
+<p><a name="Page_324" id="Page_324"></a>F&uuml;nf Stunden sprach er schon. Nun wich der Sturm
+seiner Rede wieder dem ruhigen Gespr&auml;chston; sich
+selbst zur&uuml;ckgegeben, atmete die Menge tief und ges&auml;ttigt
+auf. Noch einmal, wie der letzte ferne Donner
+des Gewitters, hob sich seine Stimme in ungeschw&auml;chter
+Kraft: &raquo;Unsere Grundanschauungen sind nicht ersch&uuml;ttert, &mdash; wir
+bleiben, was wir waren&nbsp;&mdash;.&laquo; Tobender Beifall
+verschlang den Schlu&szlig;.</p>
+
+<p>Minutenlang stand der n&auml;chste Redner, Eduard David,
+an Bebels Stelle, ehe seine Stimme den L&auml;rm durchdrang.
+&raquo;Ich habe den Mut, auch nach Bebels Referat, Bernstein in
+seinen Anschauungen zuzustimmen,&laquo; sagte er. Irgendwo
+zischte jemand, aber der Respekt vor dem ehrlichen Bekenntnis
+unterdr&uuml;ckte rasch jeden Laut des Mi&szlig;fallens. K&uuml;hl,
+fast n&uuml;chtern sprach er; wer ihn auch nicht kannte,
+empfand: er kam mitten aus der Praxis des politischen
+Gegenwartslebens, er stand nicht mehr im Bann der
+Tradition der Sekte mit ihrer Geheimb&uuml;ndelei, ihrem
+M&auml;rtyrertum, ihrer Glaubensseligkeit. Er lie&szlig; das
+grelle Licht des Tages auf die durch Bebel beschworene
+Geistererscheinung von Marx fallen, und hinter ihr stand
+der lebendige Bernstein. Wo Bebels Leidenschaft Gegens&auml;tze
+verwischt oder sein Zorn die Ansichten des Gegners
+niedergetrampelt hatte, da malte er sie gro&szlig; und
+deutlich, wie der Lehrer die Rechenaufgaben vor der
+Klasse auf die schwarze Tafel. Keiner, der nicht blind
+war, konnte sich ihnen verschlie&szlig;en. Und er rief in die
+Wirklichkeit zur&uuml;ck, wo Bebel uns auf den Fl&uuml;geln
+seiner Phantasie in die Zukunft getragen hatte. &raquo;Die
+h&ouml;here prinzipielle Bewertung der Gegenwartsarbeit, &mdash; das
+ist es, was Bernstein uns gibt, und das ist mehr
+<a name="Page_325" id="Page_325"></a>wert, als was er uns genommen hat,&laquo; erkl&auml;rte er und
+verk&uuml;ndete gegen&uuml;ber der einseitigen Betonung des
+Kampfs um die politische Macht &mdash; als des einzigen
+Mittels, den Sozialismus zum Siege zu f&uuml;hren &mdash; die
+Dreieinigkeit der gewerkschaftlichen, der genossenschaftlichen,
+der politischen Bewegung, die durch t&auml;gliche
+Arbeit dem Sozialismus einen Fu&szlig;breit Erde nach dem
+anderen erobern.</p>
+
+<p>Nun erst war der Kampfplatz abgesteckt. Der Alltagsausdruck
+trat an Stelle der Begeisterungsglut, die
+Bebels Rede angefacht hatte, auf die Gesichter, und &uuml;ber
+die Geister herrschten wieder, an Stelle des gro&szlig;en einigenden
+Gedankens, all die Streitpunkte der praktischen
+Politik.</p>
+
+<p>Durfte ich mich deshalb dem Gef&uuml;hl des Bedauerns
+&uuml;berlassen, das mich momentan &uuml;berw&auml;ltigt hatte? Entsprang
+nicht jenes instinktive Festhalten an den &uuml;berkommenen
+Anschauungen jener Schwerkraft des menschlichen
+Geistes, die sich von je im Dogmatismus, im
+Konservativismus, wie in Denkfaulheit und Bequemlichkeit
+ge&auml;u&szlig;ert hat? Wir, die wir Vork&auml;mpfer sein
+wollten, waren verpflichtet, sie zu &uuml;berwinden.</p>
+
+<p>Bewegte Tage kamen, ein Kampf, der nicht immer
+ein Kampf der Meinungen blieb. Und das &raquo;Kreuzige!&laquo;
+t&ouml;nte am lautesten vom Munde der Frauen.
+Wanda Orbin kreischte es in den Saal hinein; Luise
+Zehringer, die Hamburger Zigarrenarbeiterin, wiederholte
+es; eine kleine polnische J&uuml;din, die eben erst in
+die deutsche Partei eingetreten war, kritisierte mit der
+Sicherheit einer Parteiautorit&auml;t die Ansichten und Handlungen
+bew&auml;hrter F&uuml;hrer. Und die Masse klatschte ihr<a name="Page_326" id="Page_326"></a>
+Beifall. &raquo;Sehen Sie, &mdash; das ist eine Politikerin,&laquo; sagte
+ein Journalist, &raquo;je respektloser sie die Auer und
+Vollmar und Bernstein abkanzelt, desto sicherer ist ihr
+Erfolg.&laquo;</p>
+
+<p>Immer deutlicher sonderten die Parteien in der Partei
+sich voneinander ab; &uuml;ber dem tiefer und tiefer w&uuml;hlenden
+Streit verga&szlig;en auch die Leichtsinnigsten die Vergn&uuml;gungen
+des Abends; Sitzungen wurden statt ihrer
+abgehalten. Es gab dabei Augenblicke, in denen es
+schien, als w&uuml;rden die Radikalen vor dem &auml;u&szlig;ersten
+nicht zur&uuml;ckschrecken. Die uneingeschr&auml;nkte Anerkennung
+des Parteiprogramms wollten sie fordern, wie der
+orthodoxe Priester den Schwur auf das Apostolikum.
+Und jeder begann im stillen die gro&szlig;e Abrechnung mit
+sich selbst.</p>
+
+<p>Zum ersten Mal kam mir zum Bewu&szlig;tsein, was
+all die Jahre hindurch die unbekannte Quelle meiner
+K&auml;mpfe und Schmerzen gewesen war: die Sache forderte
+den ganzen Menschen restlos, ich aber wollte im
+Kampfe f&uuml;r sie ich selber bleiben. Und zu gleicher Zeit
+schien mir, als ob zuletzt kein anderes als dies Problem
+all den K&auml;mpfen, die wir f&uuml;hrten, zugrunde lag.</p>
+
+<p>&raquo;Warum bist du so stumm?&laquo; fragte mein Mann, als
+wir in der Mittagspause zusammensa&szlig;en.</p>
+
+<p>&raquo;Weil ich anfange zu f&uuml;rchten, da&szlig; ich kein Recht habe,
+Genosse zu sein. Ich bin ja auch kein Christ&nbsp;&mdash;.&laquo; Verst&auml;ndnislos,
+ein wenig erschrocken, als zweifle er einen Augenblick
+an meinen gesunden Sinnen, sah Heinrich mich
+an. Ich legte meinen Arm in den seinen. &raquo;Hab keine
+Angst, Liebster, &mdash; ich dachte niemals klarer als jetzt!
+Hingabe an den Willen Gottes bis zur Selbstent&auml;u&szlig;e<a name="Page_327" id="Page_327"></a>rung
+fordert das Christentum, Hingabe an den Willen
+der Massen der Sozialismus. Ob es zwischen dieser
+Forderung und dem Pers&ouml;nlichkeitsrecht eine Br&uuml;cke gibt,
+das wei&szlig; ich im Augenblick ebensowenig, als wir es in
+der Partei wissen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Deine Formulierung ist falsch, ganz und gar falsch,&laquo;
+entgegnete Heinrich erregt, &raquo;nicht an den Willen, sondern
+an das Wohl der Massen wird die Hingabe verlangt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und doch verlangt Ihr als etwas Selbstverst&auml;ndliches
+das Opfer der &Uuml;berzeugung,&laquo; unterbrach ich ihn.</p>
+
+<p>Wir traten in den Saal. Mit einer fiebrigen Nervosit&auml;t,
+die alle ergriffen hatte und manche jener robusten
+sehnigen Arbeitergestalten tragikomisch erscheinen
+lie&szlig;, rissen die Delegierten den austeilenden Ordnern
+die neuen Drucksachen aus der Hand. Es war Bebels
+Resolution in neuer Fassung. Wir verglichen.</p>
+
+<p>&raquo;... Nach alle diesem liegt f&uuml;r die Partei kein
+Grund vor, ihr Programm ...&laquo; las ich. &raquo;Jetzt hei&szlig;t
+es: &#8250;ihre Grunds&auml;tze und Grundforderungen&#8249; zu &auml;ndern&laquo;
+las Heinrich, &raquo;damit k&ouml;nnen wir uns ohne weiteres
+einverstanden erkl&auml;ren,&laquo; f&uuml;gte er hinzu, und mit einem
+l&auml;chelnden Blick auf mich: &raquo;Du siehst, die Klippe tragischer
+Konflikte ist gl&uuml;cklich umschifft.&laquo;</p>
+
+<p>Auer kam an uns vor&uuml;ber. In seinem Gesicht wetterleuchtete
+es. &raquo;Jetzt werde ich ihnen einmal zum Tanz aufspielen,&laquo;
+sagte er in grimmigem Scherz. Dabei sah ich, wie
+seine Finger sich zur Faust zusammenzogen. Von allen
+Seiten, schriftlich und m&uuml;ndlich, direkt und indirekt war
+er angegriffen worden. Er, der sich zur Bernsteinfrage
+in der &Ouml;ffentlichkeit &uuml;berhaupt nicht ge&auml;u&szlig;ert hatte,
+<a name="Page_328" id="Page_328"></a>galt als der eigentliche und der gef&auml;hrlichste F&uuml;hrer der
+Revisionisten, als der Abtr&uuml;nnige.</p>
+
+<p>Die Luft im Saal war immer schwerer geworden.
+Oder war es nur die gesteigerte Reizbarkeit der Nerven,
+die sie so empfand? Irgendeine Entladung mu&szlig;te
+kommen. Mit Naturnotwendigkeit schien jeder Redner
+die Gegens&auml;tze ins Absurde steigern, den Gegner bis
+zur L&auml;cherlichkeit herabsetzen zu m&uuml;ssen. Die Zuh&ouml;rer
+wurden unruhiger. Man ging ab und zu, man unterhielt
+sich.</p>
+
+<p>Da betrat Auer die Trib&uuml;ne. Mit dem leisen
+Spott der &Uuml;berlegenheit um die Lippen sah er &uuml;ber
+die Menge hinweg. Dann kam die Abrechnung. Unwillk&uuml;rlich
+senkten sich alle K&ouml;pfe vor diesem gewaltigen
+Ausbruch eines feuerbergenden Kraters. Eine
+&ouml;ffentliche Anklage war es, und am Pranger standen
+alle, die den befreienden Streik der Gedanken in ein
+l&auml;hmendes Gez&auml;nk um Personen verwandelt hatten.
+Und eine Verteidigung war es, &mdash; eine Verteidigung
+des Mannes, den dieselbe Partei, um deretwillen er
+aus dem Vaterland verbannt worden war, des Verrats
+bezichtigte; &mdash; aber auch eine Verteidigung seiner selbst,
+des in der jahrzehntelangen Parteiarbeit aufgeriebenen
+K&auml;mpfers. Seine breiten H&auml;nde, &mdash; bestimmt, einen
+Hammer zu f&uuml;hren oder ein Schwert, &mdash; umklammerten,
+zuweilen krampfhaft zuckend, den Rand des Rednerpults.
+Sie waren am Schreibtisch, in der eingeschlossenen
+Bureauluft wei&szlig; geworden. Das stolze Germanenhaupt,
+dem ein Ritterhelm geb&uuml;hrte, sank leise nach vorn. Die
+Sorgen der Partei lasteten schwer auf ihm. Das Antlitz,
+das auf den Bergen seiner Heimat, der Sonne am
+<a name="Page_329" id="Page_329"></a>n&auml;chsten, braun und rot sich h&auml;tte f&auml;rben m&uuml;ssen, war
+grau und fahl. Durchwachte N&auml;chte sprachen aus seinen
+Augen.</p>
+
+<p>Gereizte Zurufe unterbrachen ihn, &mdash; zu wuchtig fielen
+seine Schl&auml;ge. Und seine Stimme, durch hunderte
+von Reden, hunderte von Agitationsreisen abgenutzt,
+drohte zu versagen. Noch eine die Luft durchschneidende
+Bewegung mit der Hand, als wolle er ausstreichen,
+was sich doch unausl&ouml;schlich seiner Erinnerung eingepr&auml;gt
+hatte, noch ein Witz, den er in die Masse warf,
+wie der Tierb&auml;ndiger einen Knochen zwischen die Tiger,
+und der Strom seiner Rede erreichte in ruhigem Flu&szlig;
+sein Ziel.</p>
+
+<p>Die Resolution Bebel wurde angenommen, nur ein
+kleines H&auml;uflein Unentwegter, die noch immer ihr &raquo;Kreuzige!&laquo;
+schrieen, stimmte dagegen.</p>
+
+<p>&raquo;... Auch auf diesem Parteitag hat es sich gezeigt,
+da&szlig; die Partei &uuml;ber ihre Grunds&auml;tze und ihre Taktik
+einheitlich denkt und auch fernerhin in voller Einm&uuml;tigkeit
+handeln wird ...,&laquo; sagte Singer zum Schlu&szlig;. Die
+Arbeitermarseillaise brauste durch den Ballhof. H&ouml;rte
+niemand die Dissonanz? Es waren nicht die Geister
+der Vergangenheit, die Prinzessinnen, die Kurf&uuml;rsten und
+die K&ouml;nige, die sie hervorriefen. Es war der Geist der
+Zukunft.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_330" id="Page_330"></a></p>
+
+<p>M&uuml;de und ersch&ouml;pft reisten wir heimw&auml;rts. Es
+d&auml;mmerte, als wir vom Bahnhof zum Grunewald
+fuhren. Wie herrlich die Stille war
+in den breiten Alleen! Wie erfrischend der Duft der
+Kiefern den hei&szlig;en Kopf umstrich! Statt der vielen
+Menschenstimmen nur ein abendlich-s&uuml;&szlig;es Vogelgezwitscher!
+Wer doch im Walde bleiben k&ouml;nnte! &mdash;</p>
+
+<p>Mit jenem feinen Taktgef&uuml;hl, das auf dem Baume
+alter Kultur eine der k&ouml;stlichsten Fr&uuml;chte ist, hatte meine
+Mutter, kurz ehe wir ankamen, das Haus verlassen.
+So konnten wir uns ungeteilt am Wiedersehen mit unserem
+Jungen freuen. Mir schien, als w&auml;ren wir
+Wochen statt Tage weg gewesen: war er nicht viel
+gr&ouml;&szlig;er und viel kl&uuml;ger geworden? Und wie entz&uuml;ckend
+ringelten sich die blonden L&ouml;ckchen um den breiten
+Sch&auml;del! In &uuml;bersprudelndem Eifer mu&szlig;te er alles erz&auml;hlen,
+alles zeigen. Seinen Bauernhof packte er vor
+mir aus, nahm die B&auml;ume und rief: &raquo;Nu laufen sie
+zu dem lieben, duten Mamachen!&laquo; &raquo;Aber B&auml;ume laufen
+doch nicht!&laquo; meinte ich. Darauf nickte er altklug mit
+dem K&ouml;pfchen und sagte: &raquo;Doch, Mama; in der Elektrischen,
+da laufen die B&auml;ume.&laquo; Und als er zur Feier
+des Tages mit uns zu Abend gegessen hatte, rutschte er
+geschickt von seinem hohen St&uuml;hlchen, stellte sich breitbeinig
+vor uns hin und rief: &raquo;Ich bin satt!&laquo; Das
+erste &raquo;Ich&laquo;! &mdash; Lachend schlo&szlig; ich ihn in die Arme:
+Nun war mein Kind ein Mensch geworden. Alle Probleme
+der Welt verschwanden mir wieder angesichts dieses
+Wunders.</p>
+
+<p><a name="Page_331" id="Page_331"></a>Am n&auml;chsten Morgen sa&szlig; ich am Schreibtisch
+und rechnete. Die Angst trieb mir Schwei&szlig;tropfen
+auf die Stirn: schon das n&auml;chste
+Vierteljahr w&uuml;rden wir die Zinsen nicht zahlen k&ouml;nnen.
+Wie hatte ich als M&auml;dchen gezittert, wenn die Rechnungen
+kamen, die der Mutter Tr&auml;nen erpre&szlig;ten! Es
+war das reine Kinderspiel gewesen im Vergleich mit
+meiner Situation. &raquo;Mach dir doch keine Sorgen, ehe das
+Ungl&uuml;ck da ist,&laquo; sagte mein Mann &auml;rgerlich, als er sah,
+wie verst&ouml;rt ich war.</p>
+
+<p>Ich wurde krank. Die alten unausbleiblichen Schmerzen,
+die jede Erregung zur Folge hatte, stellten sich mit
+erschreckender Heftigkeit wieder ein. Und abends, wenn
+ich todm&uuml;de in die Kissen sank, klopfte mir das Herz
+bis zum Halse herauf. Ich war gen&ouml;tigt, ein paar Versammlungen
+abzusagen. Ich war froh dar&uuml;ber: in einem
+Zustand geistiger und k&ouml;rperlicher Erschlaffung verbrachte
+ich meine Tage.</p>
+
+<p>&raquo;Wir haben einen K&auml;ufer!&laquo; mit der Botschaft &uuml;berraschte
+mich mein Mann eines Morgens. Ich zweifelte
+noch. Aber bald darauf kam er selbst, und in wenigen
+Tagen war der Kauf abgeschlossen.</p>
+
+<p>&raquo;Siehst du nun ein, wie t&ouml;richt es war, sich zu
+f&uuml;rchten?&laquo; sagte Heinrich. Besch&auml;mt senkte ich den Kopf.
+&raquo;Ich will in Zukunft mutiger sein,&laquo; versicherte ich.</p>
+
+<p>Schon im Januar sollten wir das Haus verlassen.
+Dann wollen wir von vorne anfangen, dachte ich,
+und begann eifrig nach einer bescheidenen Wohnung zu
+suchen.</p>
+
+<p>Bin ich erst in Ruhe, so werde ich auch gesund
+<a name="Page_332" id="Page_332"></a>werden, sagte ich zu mir selbst, wenn die Schmerzen nicht
+weichen wollten und das Herz mich nicht schlafen lie&szlig;.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Eines Abends nahm ich wieder an einer Sitzung
+der Genossinnen teil. Wie die Befreiung von
+den pers&ouml;nlichen Sorgen mich aus der Erstarrung
+aufger&uuml;ttelt hatte, so elektrisierten mich jetzt
+die politischen Vorg&auml;nge wieder. Das Zuchthausgesetz
+war endg&uuml;ltig begraben worden, aber trotz aller gegenteiligen
+Versicherungen drohte eine neue gewaltige Flottenvermehrung.</p>
+
+<p>&raquo;Unter den Waffen schweigen die Musen,&laquo; erkl&auml;rte
+ich, als wir die Aufgaben besprachen, die der kommende
+Winter uns stellte, und einige der Frauen den Arbeiterinnen-Bildungsverein
+und seine Veranstaltungen in den
+Vordergrund schieben wollten. &raquo;Wir m&uuml;ssen unsere
+Kr&auml;fte konzentrieren: auf die beschlossene Agitation f&uuml;r
+den Arbeiterinnen-Schutz und auf den Kampf gegen die
+neue Volksausbeutung.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn wir so sicher wie stets auf Genossin Brandts
+wertvolle Unterst&uuml;tzung rechnen k&ouml;nnen, wird der Sieg
+uns nicht fehlen,&laquo; spottete Martha Bartels und berichtete
+dann, wie ich durch die k&uuml;rzlich &raquo;angeblich&laquo;
+wegen Krankheit erfolgten Absagen die Sache gesch&auml;digt
+h&auml;tte.</p>
+
+<p>&raquo;Unsichere Kantonisten k&ouml;nnen wir nicht brauchen,&laquo;
+sagte Frau Resch, die seit ihrer Delegation nach Hannover
+sehr selbstbewu&szlig;t geworden war.</p>
+
+<p>W&auml;hrend ich antwortete, dr&uuml;ckte ich die Hand krampfhaft
+in die Seite, wo die Schmerzen w&uuml;hlten, und
+<a name="Page_333" id="Page_333"></a>suchte, tiefatmend, die wilden Schl&auml;ge meines Herzens
+zu beruhigen. Aber trotz meiner Verteidigung, setzte
+der Zank sich fort. Und pl&ouml;tzlich war mir, als drehe
+sich das Zimmer um mich&nbsp;&mdash;, ohnm&auml;chtig brach ich
+zusammen. Als ich zu mir kam, &uuml;bersah ich mit
+einem einzigen Blick die Situation: Ida Wiemer hielt
+mich umschlungen, auf ihren Z&uuml;gen lag ein Schimmer
+aufrichtiger Teilnahme; aber steif und unbeweglich
+sa&szlig;en alle anderen um den Tisch, die Augen auf mich
+gerichtet, voll Hohn und Spott, voll K&auml;lte und
+Mi&szlig;trauen. Ein eisiger Schauer lief mir &uuml;ber den
+R&uuml;cken. Ich pre&szlig;te die Z&auml;hne zusammen und erhob
+mich. In dem Augenblick kam mein Mann. Der Kellner
+hatte mich fallen sehen und ihn, der im Restaurant auf
+mich wartete, benachrichtigt. Auf seinen Arm gest&uuml;tzt,
+verlie&szlig; ich das Zimmer. Niemand erhob sich. Niemand
+sagte mir Lebewohl.</p>
+
+<p>Wir fuhren noch in der Nacht zum Arzt. Er machte
+ein bedenkliches Gesicht. &raquo;Ein paar Monate im S&uuml;den,
+und Sie k&ouml;nnen genesen,&laquo; sagte er. Ich empfand seinen
+Bescheid wie eine Erl&ouml;sung. Fort, &mdash; weit fort, wo
+ich Ruhe finden, wo ich wieder zu mir selber kommen
+w&uuml;rde!</p>
+
+<p>Wir entschieden uns f&uuml;r Meran. Der &Uuml;berschu&szlig;,
+der uns vom Kaufpreis des Hauses bleiben w&uuml;rde,
+erm&ouml;glichte die Reise. Mein Kind nahm ich mit. Und
+eine gro&szlig;e Kiste mit B&uuml;chern und Manuskripten. &raquo;Nun
+werde ich ungest&ouml;rt meine &#8250;Frauenfrage&#8249; vollenden k&ouml;nnen,&laquo;
+sagte ich hoffnungsvoll.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn der Arzt dir das Arbeiten erlaubt,&laquo; meinte
+mein Mann und sah dabei traurig drein. &raquo;Ich werde
+<a name="Page_334" id="Page_334"></a>ihn nicht erst fragen,&laquo; lachte ich; &raquo;Arbeit ist f&uuml;r mich
+die beste Medizin.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Silvester 1899 kamen Erdmanns mit der Mutter
+zu uns. Als es Mitternacht schlug, rissen wir
+alle die Fenster auf und riefen ein schallendes
+&raquo;Prost Jahrhundert!&laquo; in die sternhelle Nacht hinaus. Da
+war keiner, dem das Vergangene nicht wie ein Alp von
+der Seele gefallen w&auml;re. Und unsere Hoffnungen waren
+riesenstark. Nur die Mutter sah sorgenvoll von einem
+zum anderen: zu Erdmann, dessen eingesunkene Brust
+nach jedem lauten Wort trockener Husten ersch&uuml;tterte,
+zu Ilse, deren Blicke halb &auml;ngstlich, halb versch&uuml;chtert
+an ihrem Gatten hingen, zu uns, von deren K&auml;mpfen
+sie manches ahnen mochte.</p>
+
+<p>Schatten gingen um. Ich mu&szlig;te sie bannen. Aus
+dem Bettchen droben, wo es mit hei&szlig;en Wangen schlief,
+nahm ich mein Kind und trug es hinunter. Im Licht
+der Lampen schlug es die strahlenden Augen auf. Ich
+hatte es jubelnd emporheben wollen, nun aber dr&uuml;ckte
+ich es z&auml;rtlich ans Herz und fl&uuml;sterte leise, ganz leise,
+damit die anderen nichts h&ouml;rten: &raquo;Dein ist das Jahrhundert.&laquo;</p>
+
+<p>Wenige Tage sp&auml;ter schlo&szlig; sich die Pforte des grauen
+Hauses hinter uns. Die Wipfel der Kiefern bewegten
+sich leise &uuml;ber dem Dach. Schwarz standen ihre St&auml;mme
+vor den blumenlosen Fenstern. In jubelnder Vorfreude
+auf die Reise warf mein Junge keinen einzigen Blick
+zur&uuml;ck. So wollte auch ich nur vorw&auml;rts sehen.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_335" id="Page_335"></a></p>
+<h2><a name="Zehntes_Kapitel" id="Zehntes_Kapitel"></a>Zehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Ein eisiger Wind pfiff aus dem Passeier Tal
+&uuml;ber Meran; die Schneeflocken fielen so dicht,
+da&szlig; es aussah wie lauter wei&szlig;e Schleier, die
+der Winter, mi&szlig;g&uuml;nstig, einen nach dem anderen der
+Natur vor das sch&ouml;ne Antlitz zog. Und ich war mit
+der ganzen Sonnensehnsucht des Deutschen, der jenseits
+des Brenners zu jeder Jahreszeit blauen Himmel und
+bl&uuml;hende B&auml;ume erwartet, gen S&uuml;den gefahren!</p>
+
+<p>&raquo;Du hast mir das Sommerland versprochen, &mdash; ich
+will ins Sommerland&nbsp;&mdash;,&laquo; weinte mein B&uuml;bchen, als
+es am ersten Morgen aus dem Fenster unseres kleinen
+Zimmers in die wei&szlig;e Welt hinaussah. W&auml;hrend ich
+ihn durch lauter Hoffnungen zu beruhigen suchte, fr&ouml;stelte
+auch mich.</p>
+
+<p>Das Sanatorium &raquo;Iduna&laquo;, das westlich von Meran
+einsam zwischen Wiesen und Obstb&auml;umen lag,
+war uns empfohlen worden. &raquo;Es nimmt nur eine
+beschr&auml;nkte Anzahl von Patienten auf, bewahrt daher
+den Charakter eines behaglichen Privathauses,&laquo; hie&szlig; es
+im Prospekt. In Wirklichkeit war's ein altes Landhaus,
+das, wie so viele seinesgleichen im S&uuml;den, mit d&uuml;nnen
+W&auml;nden und zugigen Fenstern den Winter zu ignorieren
+schien. Ein paar eiserne Ofen strahlten stundenweise
+<a name="Page_336" id="Page_336"></a>rotgl&uuml;hende Hitze aus, um dann wieder kalt, schwarz
+und feindselig dazustehen, als freuten sie sich des grausamen
+Spiels mit den armen Bewohnern.</p>
+
+<p>Ich hatte nicht schlafen k&ouml;nnen: der Wind r&uuml;ttelte
+an den Fenstern, mein Sohn warf sich unruhig in dem
+ungewohnten gro&szlig;en Bett hin und her, und ein hohler
+Husten, nur von st&ouml;hnenden Seufzern unterbrochen, klang
+aus dem Zimmer unter uns unaufh&ouml;rlich zu mir empor.
+M&uuml;de und abgespannt ging ich zum Fr&uuml;hst&uuml;ck in den
+E&szlig;saal, &mdash; einer verglasten Veranda, durch deren breite
+Fenster der Winter von allen Seiten hereinsah. In
+der Mitte stand der lange schmale wei&szlig;gedeckte Tisch,
+darauf in n&uuml;chterner Regelm&auml;&szlig;igkeit Reihen wei&szlig;er
+Teller und Tassen. Eine Frau sa&szlig; daran in schwarzem
+Kleid mit vergr&auml;mten Z&uuml;gen, neben ihr im Rollstuhl
+ihr blasser Mann, finstere, gerade Falten auf der Stirne, &mdash; einer
+jener Kranken, die hoffnungsloses Leiden b&ouml;se
+gemacht hat, &mdash; ihm gegen&uuml;ber am &auml;u&szlig;ersten Ende der
+Tafel ein schmalbr&uuml;stiger J&uuml;ngling, dessen Antlitz nur
+noch mit der Haut bespannt schien, &mdash; einer fahlen,
+graugelben&nbsp;&mdash;. Ich z&ouml;gerte an der Schwelle, mir
+grauste vor dem Bilde, in dem alle Farben des Lebens
+erloschen waren.</p>
+
+<p>Da sprang mein Kind an mir vorbei, im feuerroten
+Kleidchen, mit frischen Wangen und gl&auml;nzenden Augen.
+Und der ganze Raum war erhellt. Ein freundliches
+L&auml;cheln spielte um die blutleeren Lippen des J&uuml;nglings;
+die Falten auf der Stirn des Gel&auml;hmten gl&auml;tteten sich,
+nur die Frau im schwarzen Kleid wandte wie verletzt
+den Kopf zur Seite.</p>
+
+<p>Ich w&auml;re am liebsten wieder fortgezogen. Aber ich
+<a name="Page_337" id="Page_337"></a>war viel zu m&uuml;de, viel zu apathisch dazu. Der Arzt,
+ein g&uuml;tiger alter Mann mit weichen Frauenh&auml;nden, versprach
+mir ein anderes Zimmer mit einem Balkon nach
+S&uuml;den. &raquo;Das unter Ihnen,&laquo; sagte er, &raquo;der Herr reist
+ab&nbsp;&mdash;,&laquo; dabei verschleierten sich seine hellen Augen.
+Dann gab er mir Verhaltungsma&szlig;regeln. &raquo;Meine wichtigste
+Verordnung ist: ein Kinderm&auml;dchen. Sie m&uuml;ssen
+Ruhe haben, &mdash; Tag und Nacht, der Bub dagegen soll
+sich t&uuml;chtig Bewegung machen,&laquo; begann er.</p>
+
+<p>Ruhe, &mdash; schon das Wort war wie einlullendes Streicheln.
+Am n&auml;chsten Tage brachte er mir ein h&uuml;bsches,
+br&uuml;nettes Landm&auml;dchen, das mir gefiel; sie zog mit dem
+Kleinen, der sich an die lustige Gef&auml;hrtin rasch gew&ouml;hnte,
+in das Zimmer nebenan. Nun erst f&uuml;hlte ich, wie krank
+ich war: den ganzen Tag lag ich still, und bewegungslos
+wie mein K&ouml;rper waren Gedanke und Gef&uuml;hl. Auch
+meine Umgebung st&ouml;rte mich nicht mehr; &mdash; wenn ich
+nur mein Bett hatte und meinen Liegestuhl.</p>
+
+<p>&raquo;Nun wird er bald abreisen,&laquo; sagte der Arzt eines
+Tages und dr&uuml;ckte mit der Spitze des Zeigefingers in
+den Augenwinkel, als sei ihm ein Staubk&ouml;rnchen hineingeflogen.</p>
+
+<p>&raquo;Dann soll ich hinunter?&laquo; fragte ich und dachte entsetzt
+an die M&uuml;he des Umr&auml;umens. &raquo;Ja,&laquo; meinte er,
+&raquo;denn nun es t&auml;glich w&auml;rmer wird, m&uuml;ssen Sie in
+der Sonne liegen.&laquo; &raquo;In der Sonne?!&laquo; Ich l&auml;chelte
+ungl&auml;ubig. Seit einer Woche hatte der Schnee sich in
+Regen verwandelt.</p>
+
+<p>Die Nacht darauf kam ich nicht zur Ruhe. Ich warf
+mich im Bett hin und her, und pl&ouml;tzlich wu&szlig;te ich, was
+mir fehlte: der regelm&auml;&szlig;ige Husten unter mir war ver<a name="Page_338" id="Page_338"></a>stummt;
+die Stille lastete auf mir, die unheimliche Stille.
+Bald danach war mir, als gingen Gespenster um: das
+huschte im Haus auf leichten Sohlen, das wisperte und
+fl&uuml;sterte, &mdash; knarrend &ouml;ffnete sich unten eine T&uuml;r. Ich
+erhob mich und trat ans Fenster: ein Leiterwagen stand
+im Garten; M&auml;nner waren darin, die sich durch Geb&auml;rden
+mit denen im Hause zu verst&auml;ndigen schienen;
+und auf einmal schwebte etwas in der Luft dicht unter
+mir, etwas Schwarzes, Gro&szlig;es, &mdash; der Regen klatschte
+darauf, &mdash; eint&ouml;nig. Schon wollt' ich schreien, &mdash; da
+geriet das Schwarze in den Lichtkreis der n&auml;chsten
+Laterne: es war ein Sarg.</p>
+
+<p>Ich schwankte ins Bett zur&uuml;ck und verkroch mich zitternd
+unter der Decke. So war er &raquo;abgereist&laquo;! &mdash;</p>
+
+<p>Ich sah wieder die Glasveranda vor mir im Schneelicht,
+mit den Menschen, deren K&ouml;rper im Sterben
+lagen, oder deren Seelen schon gestorben waren. Und
+das Badhaus fiel mir ein mit den dunkeln Holzwannen,
+in denen das Wasser aussah, als w&auml;re es
+Schlamm. Willenlos war ich hineingestiegen, hatte mir
+Gesundheit holen wollen, wo Krankheit in allen Ritzen
+und Fugen lauernd sa&szlig;. Und mein Kind hatte ich die
+Pestluft atmen lassen!</p>
+
+<p>Noch in der Nacht fing ich an zu packen. Fr&uuml;h
+fuhr ich nach Meran und dr&uuml;ber hinaus nach Obermais,
+so hoch und so weit als m&ouml;glich. Dort fand ich
+neben alten efeuumsponnenen Schl&ouml;ssern ein freundliches
+Haus zwischen Nu&szlig;b&auml;umen und Weinreben.</p>
+
+<p>Am selben Abend zogen wir ein.</p>
+
+<p>Es war, als ob der Winter uns nicht h&auml;tte folgen
+k&ouml;nnen. Die Berge entschleierten sich. Der Schnee,
+<a name="Page_339" id="Page_339"></a>der eben erst wie ein Leichentuch die Erde verh&uuml;llt hatte,
+blitzte jetzt im Sonnenlicht wie eine Hochzeitskrone auf
+ihren H&auml;uptern. Err&ouml;tend entfalteten sich an den Mandelb&auml;umchen
+die ersten Bl&uuml;ten. Ich lag auf der Veranda
+und lie&szlig; mich wie sie von der Sonne durchgl&uuml;hen und
+f&uuml;hlte, da&szlig; auch mir die Lebensfarbe in die Wangen
+stieg. T&auml;glich brachte mir mein S&ouml;hnchen frische Wiesenblumen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich werde dich f&uuml;hren, Mamachen, wenn du
+nicht mehr Auau hast,&laquo; schwatzte er, &raquo;zu den so vielen
+Vergi&szlig;meinnicht, und zu den Musikm&auml;nnern auch, wo
+die Damen und Herren sind.&laquo; Ich lachte ihn an: wirklich,
+die Sehnsucht nach dem Leben regte sich wieder
+in mir. Liegen sollt' ich, immer liegen, sagte der
+Arzt, weil mein Herz noch nicht ruhig genug war.
+&raquo;Dann m&uuml;&szlig;t' ich liegen bis ich neunzig Jahr alt bin,&laquo;
+antwortete ich ihm, &raquo;denn da&szlig; mein Herz so gegen alle
+Vorsicht klopft, ist nur ein Beweis, da&szlig; ich lebe.&laquo;</p>
+
+<p>Einmal wachte ich auf nach erquickendem Schlaf,
+streckte und reckte mich und blinzelte in die Sonne.
+Mir war so wohl, &mdash; so wohl! Warum nur?! Und
+in mir antwortete es ganz deutlich: weil du frei bist.
+Ich sah mich erschrocken um, als k&ouml;nnte irgend jemand
+dies tiefe Geheimnis, da&szlig; ich kaum mir selbst gestand,
+erkundet haben. Ich war frei &mdash; wirklich frei; ich
+konnte tun, was ich wollte, ohne vorher all jene bohrenden
+Fragen erst beantworten zu m&uuml;ssen: st&ouml;rt es den
+Anderen? Verletzt es ihn? Beeintr&auml;chtigt es seine Ruhe,
+seine W&uuml;nsche, seine Liebe? Jetzt, zum Beispiel, konnte
+ich aus dem Bette steigen und lustig einen Walzer
+tr&auml;llern, &mdash; l&auml;ge Heinrich neben mir, ich w&uuml;rde mich
+<a name="Page_340" id="Page_340"></a>aus R&uuml;cksicht auf seinen Schlaf ganz, ganz still verhalten.
+Und dann konnt' ich gem&auml;chlich im Wasser
+planschen, mich ankleiden, mir die Haare ordnen, ohne
+jene qu&auml;lende Scham des H&auml;&szlig;lichen, des Un&auml;stethischen, &mdash; die
+einzig berechtigte zwischen zwei Menschen, die einander
+lieb haben, und die einzig notwendige, wenn sie
+ihrer Liebe den Zauber des ersten Rausches erhalten
+wollen. Die Ehe der meisten ist ein Erwachen aus ihm,
+mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge. Sie
+wissen nicht, da&szlig; die Liebe eine zarte, kostbare Blume
+ist, die sorgsamer Pflege bedarf. Sie pflanzen sie in den
+K&uuml;chengarten und wundern sich dann, wenn sie eingeht.</p>
+
+<p>Ich war frei &mdash; wirklich frei. Und ich konnte hingehen,
+wohin ich wollte! Ganz erstaunlich kam mir das
+vor, &mdash; gerade, als ob die Welt mir auf einmal ihre
+Tore aufschl&ouml;sse. In den ersten Jahren meiner Ehe
+hatte Heinrich mich auf jedem Weg begleitet, &mdash; aus
+z&auml;rtlichster Liebe, nicht etwa aus Mi&szlig;trauen oder aus
+Eifersucht. Und ich hatte keinen anderen Weg machen
+k&ouml;nnen, als der ihm recht war. Zuweilen war ich heimlich
+die Hintertreppe hinuntergestiegen, nicht, weil ich
+ein Geheimnis vor ihm gehabt h&auml;tte, sondern nur um
+einmal ohne innere Hemmung in den Stra&szlig;en herumlaufen
+zu k&ouml;nnen. Allm&auml;hlich hatte unsere verschiedenartige
+T&auml;tigkeit dem steten Zusammensein ein Ende gemacht;
+aber selbstverst&auml;ndlich blieb, da&szlig; ich ihm erz&auml;hlte,
+wo ich gewesen war, was ich getan hatte. Und da ich
+ihn nicht unzufrieden machen, nicht &auml;rgern wollte, so
+stand ich doch stets in seinem Bann. Wenn ich einmal
+seiner Empfindung zuwider gehandelt hatte, so kam es
+vor, da&szlig; ich &mdash; log.</p>
+
+<p><a name="Page_341" id="Page_341"></a>Kaum, da&szlig; der Gedanke daran in mein Bewu&szlig;tsein
+trat, als ich ihn auch schon, dunkel err&ouml;tend, zur&uuml;ckweisen
+wollte. Aber je mehr ich mich m&uuml;hte, desto
+klarer stand er vor mir. Ich mu&szlig;te ihm Auge in Auge
+sehn: &raquo;Es kam vor, da&szlig; ich meinen Mann belog.&laquo;
+Nicht, weil ich ihn hintergehen, sondern weil ich ihn
+nicht &auml;rgern, nicht erregen wollte. Aus Liebe also!
+Oder aus Furcht?! So lernen die Frauen l&uuml;gen, weil
+sie des Mannes Besitztum sind, weil die Ehe ihre Pers&ouml;nlichkeit
+ausl&ouml;scht wie ihren Namen. Wie vielen, die
+gerade gewachsen waren, hat sie das R&uuml;ckgrat zerbrochen!
+Und sie verlieren nach ein paar Jahren der Ehe ihre
+Physiognomie, &mdash; sind farblos, zerm&uuml;rbt.</p>
+
+<p>Ein brennendes Verlangen nach Menschen &uuml;berkam
+mich. Wie war ich doch mein Leben lang an den
+bunten Schwarm um mich gew&ouml;hnt gewesen! In den
+letzten Jahren hatte er sich mehr und mehr verfl&uuml;chtigt.
+Den alten Freunden war ich gestorben, seit ich Sozialdemokratin
+geworden war; neue hatte ich unter den
+Genossen nicht gefunden, und von den K&uuml;nstlern, von
+den Gelehrten, die unsere R&auml;ume einmal betraten, kamen
+nur wenige wieder. Romberg war im Grunde unser
+einziger Verkehr gewesen. Und der wohnte nicht in
+Berlin.</p>
+
+<p>Woher kam das alles? War ich weniger anziehend
+als die Frauen, die &raquo;ein Haus ausmachten&laquo;?
+Waren sie geistreicher als ich? Ich sch&uuml;rzte sp&ouml;ttisch die
+Lippen. Stie&szlig;en sich die Sittenstrengen noch immer an
+der Geschichte meiner Eheschlie&szlig;ung? Sie machten sich
+doch sonst nichts daraus, mit Frauen zu verkehren, die
+&raquo;eine Vergangenheit&laquo; hatten, die Gegenwart geblieben
+<a name="Page_342" id="Page_342"></a>war! Nein, in alledem lag die Ursache nicht. Bei
+meinem Manne, schien mir, war sie zu suchen. Er war
+ein Menschenschw&auml;rmer gewesen, leicht geneigt, zu bewundern
+und zu verehren und sich den anderen gegen&uuml;ber
+gering zu achten. Um so schmerzhafter hatte jede,
+auch die leiseste Entt&auml;uschung ihn getroffen, und je
+h&auml;ufiger sie sich wiederholte, desto scheuer zog er sich
+zur&uuml;ck, desto mi&szlig;trauischer wurde er. Und f&uuml;r jenen
+leichten Verkehr, der wie mit Libellenfl&uuml;geln nur die
+Oberfl&auml;che des Lebensstromes streift, war er zu schwerbl&uuml;tig.
+Er hatte nie getanzt; &mdash; seltsam, da&szlig; mir das
+erst heute einfiel. Er hatte nie gelernt, eine Gesellschaftsmaske
+zu tragen. Darum f&uuml;hlten sich immer nur
+die Menschen, die er aufrichtig gern hatte, wohl bei uns.
+Die anderen stie&szlig; er ab.</p>
+
+<p>Drau&szlig;en lachte der Fr&uuml;hlingstag. Zwischen bl&uuml;henden
+B&auml;umen und Beeten von Hyazinthen spielte die
+Musik fr&ouml;hliche Weisen, die Passer sprang dazu in entfesselter
+Wildheit &uuml;ber Stock und Stein. Ich ging mit
+meinem Buben an der Hand zwischen der Menschenmenge
+hin und her. Ich freute mich, als w&auml;re ich
+zwanzig Jahr, &uuml;ber die bewundernden Blicke, die uns
+folgten. T&auml;glich wollt' ich von nun an hinuntergehen,
+Sonnenschein trinken und Lebenslust. Ich traf Bekannte
+und geriet durch sie in einen Kreis fr&ouml;hlicher
+Weltbummler. Wie gut das tat, einmal wieder unterzutauchen
+in Glanz und Freude! Einmal wieder lachen
+zu k&ouml;nnen aus Herzensgrund! Bewundernde Blicke zu
+f&uuml;hlen! Man brachte mir t&auml;glich Blumen, &mdash; jene
+gro&szlig;en gl&uuml;henden Rosen von Meran, deren Duft nicht
+an G&auml;rten erinnert, sondern an berauschende Essenzen
+<a name="Page_343" id="Page_343"></a>des Morgenlandes. Ich lie&szlig; mir gefallen, da&szlig; man
+mir huldigte; ich spielte mit hei&szlig;en Gedanken, wie ein
+Kind mit rotleuchtenden Giftblumen. Eines Abends,
+w&auml;hrend bunte Lichterkr&auml;nze sich an den alten B&auml;umen
+vor dem Kurhaus von Ast zu Ast schwangen und die
+Geigen der Zigeunerkapelle in die laue Nacht hinein
+seufzten und lockten, lie&szlig; ich mich in den Kursaal
+f&uuml;hren, um den Tanzenden zuzuschauen. S&uuml;&szlig;e Walzermelodien
+umschmeichelten meine Sinne. Der Rausch
+des Tanzes ergriff mich. Willenlos &uuml;berlie&szlig; ich mich
+ihm. Erst als der letzte Ton verklagen war, kam ich
+zu mir und erschrak. Leichtsinn und Genu&szlig;, die Zaubergeister,
+drohten mich in ihre Gewalt zu bekommen.
+Das durfte nicht sein!</p>
+
+<p>&raquo;Meran f&auml;ngt an, schw&uuml;l zu werden,&laquo; schrieb ich am
+n&auml;chsten Morgen an meinen Mann; &raquo;so sehr die weiche
+Luft meiner Gesundheit n&uuml;tzte, so sehr sch&auml;digt sie meine
+Arbeitskraft. Und ich w&uuml;nsche jetzt nichts mehr, als
+mich Hals &uuml;ber Kopf in meine Arbeit zu st&uuml;rzen. Darum
+m&ouml;chte ich fort. Der Arzt verordnet mir H&ouml;henluft;
+ich selbst f&uuml;hle, da&szlig; ich etwas Starkes, Herbes
+atmen m&uuml;&szlig;te. Wollen wir nicht miteinander irgend ein
+stilles Pl&auml;tzchen suchen? Wir waren lange genug getrennt..&laquo;</p>
+
+<p>Statt aller Antwort kam er selbst. &raquo;Ich habe gewartet,
+bis du mich rufen w&uuml;rdest&nbsp;&mdash;, es ist mir schwer
+genug geworden,&laquo; fl&uuml;sterte er z&auml;rtlich, &raquo;nun aber wirst
+du mich nicht mehr los.&laquo; Dunkel err&ouml;tend barg ich
+den Kopf an seiner Brust.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_344" id="Page_344"></a></p>
+
+<p>An der Ampezzostra&szlig;e, s&uuml;dlich von Cortina, liegt
+ein kleines Dorf, Pezzi&eacute; genannt. Zwischen
+seinen braunen, &auml;rmlichen H&uuml;tten ragte ein
+einzelnes Bauernhaus mit wei&szlig;get&uuml;nchten Mauern und
+gro&szlig;en Altanen stattlich hervor. &Uuml;ber ein Vierteljahr
+wohnten wir dort in tiefster Stille und Zur&uuml;ckgezogenheit.
+Im L&auml;rchenwald hinter dem Hause spielte mein
+Junge mit den braunen Bauernkindern, auf der Altane,
+angesichts des weiten bl&uuml;henden Tals und des gewaltigen
+schneebedeckten Felsenmassives der Tofana, fing
+ich wieder an zu arbeiten. Wenn mir in den vergangenen
+Wochen die Aufgabe eingefallen war, die ich
+mir mit meinem Buch gestellt hatte, so war sie mir wie
+ein un&uuml;bersteigbarer Berg erschienen. Jetzt, da ich sie
+aufs neue in Angriff nahm, war mir's, als habe all
+die Zeit hindurch eine fremde Kraft unter der Schwelle
+meines Bewu&szlig;tseins weiter an ihr gearbeitet.</p>
+
+<p>Oder sollten Gedanken wie Samen sein, die einmal
+in den Boden des Geistes gestreut, sich aus eigener
+Macht weiter entwickeln? Die vielen Zahlen, die ich
+in meinen B&uuml;chern vor mir hatte &mdash; Ergebnisse der
+Volks- und Berufsz&auml;hlungen europ&auml;ischer und au&szlig;ereurop&auml;ischer
+L&auml;nder, Lohn- und Arbeitsstatistiken&nbsp;&mdash;,
+wurden merkw&uuml;rdig lebendig, als zuckten in ihnen die
+Leiden der Millionen. Immer deutlicher sah ich das
+Bild, das ich zu malen hatte: den Zug der Frauen,
+wie er durch gluthei&szlig;e W&uuml;sten und rauhe Steppen dahinschleicht,
+jede einzelne in ihm gebeugt unter den
+Lasten, die sie zu tragen hat: der Hacke und dem Spaten,
+<a name="Page_345" id="Page_345"></a>der Sichel und der Spindel, dem einen Kinde auf dem
+R&uuml;cken, dem anderen unter dem qualvoll klopfenden
+Herzen. Was mich zuerst nur wie ein Instinkt in die
+Reihen der k&auml;mpfenden Arbeiterschaft gef&uuml;hrt hatte, das
+wurde mir jetzt zur bewu&szlig;ten Erkenntnis: die Berufsarbeit
+der Frau, die ihre Entstehung der Umwandlung
+der Produktionsweise durch die Maschine zu verdanken
+hat, ist immer mehr zu einem notwendigen Bestandteil
+dieser Produktionsweise geworden. Aber indem sie sich
+ausdehnt, untergr&auml;bt sie zu gleicher Zeit die alte Form
+der Familie, ersch&uuml;ttert die Begriffe der Sittlichkeit,
+auf denen der Moralkodex der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft
+beruht, und gef&auml;hrdet die Existenz des Menschengeschlechtes,
+deren Bedingung gesunde M&uuml;tter sind. Es
+bleibt der Menschheit schlie&szlig;lich nur die Wahl: entweder
+sich selbst oder die kapitalistische Wirtschaftsordnung
+aufzugeben. Diese Konsequenz zu scharfumrissenen Ausdruck
+zu bringen, soda&szlig; niemand ihr aus dem Wege zu
+gehen verm&ouml;chte, &mdash; das war mein Wunsch.</p>
+
+<p>Das Fieber der Arbeit, das alle Pulse schneller
+schlagen l&auml;&szlig;t, das &uuml;ber jede M&uuml;digkeit hinwegt&auml;uscht,
+das die Gedanken des Tages in den Traum der Nacht
+verflicht, hatte mich ergriffen. Und zugleich jener gesunde
+Egoismus des Schaffenden, der ihn f&uuml;r seine
+Umgebung blind und taub macht, nur damit das Werk
+wachsen kann. Dankbar &uuml;berlie&szlig; ich der Berta, dem
+meraner Kinderm&auml;dchen, die sich mit solcher Klugheit
+in jede Lage zu schicken schien, die Sorge um unseren
+kleinen Haushalt. Da&szlig; sie f&uuml;r uns kochte und wusch
+und n&auml;hte und eifers&uuml;chtig jede andere Hilfe abwehrte,
+war mir nur ein Beweis f&uuml;r ihre T&uuml;chtigkeit; und da&szlig;
+<a name="Page_346" id="Page_346"></a>der Kleine mit solcher Liebe an ihr hing, machte sie
+mir vollends unentbehrlich.</p>
+
+<p>Wenn ich mit meinem Mann spazieren ging, so sprach
+ich von nichts anderem als von meiner Arbeit, von all
+den Ideen, all den Pl&auml;nen, die sie in mir ausl&ouml;ste.
+Und er h&ouml;rte mir nicht nur ruhig zu, er ging voller
+Anteilnahme auf meine Interessen ein und half mir
+durch seine Fachkenntnisse.</p>
+
+<p>Da&szlig; auch er ein selbst&auml;ndiges Leben hatte, da&szlig; auch
+in ihm vieles bohrte und g&auml;rte, das nach Ausdruck verlangte,
+da&szlig; er um so einsamer wurde, je mehr ich mich
+in die Arbeit verlor, &mdash; von alledem wu&szlig;te ich nichts.</p>
+
+<p>Zuweilen stiegen am Horizont drohend die Sorgenwolken
+empor: was das Grunewaldhaus uns &uuml;brig gelassen
+hatte, war bald verzehrt, die Einnahmen aus dem
+Archiv blieben unzul&auml;nglich, mein Buch, auf dessen
+Erfolg ich rechnete, war noch lange nicht vollendet;
+wie w&uuml;rden wir auskommen?! Mit aller Anstrengung
+vertrieb ich die b&ouml;sen Gedanken, ich arbeitete noch ununterbrochener,
+um mir selbst keine Zeit zu lassen, ihnen
+nachzuh&auml;ngen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Eines Morgens bekam Heinrich einen Brief, den
+er mir stumm her&uuml;berreichte: Ob er w&auml;hrend
+der n&auml;chsten Monate f&uuml;r ein uns nahestehendes
+Blatt die Pariser Korrespondenz &uuml;bernehmen k&ouml;nne? Ihr
+bisheriger Leiter sei erkrankt und habe einen l&auml;ngeren
+Urlaub angetreten.</p>
+
+<p>Es &uuml;berlief mich hei&szlig; und kalt. Wie der Name Rom
+auf die Deutschen des Mittelalters, so wirkt der Name<a name="Page_347" id="Page_347"></a>
+Paris auf die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts.
+Aus ihren dunklen W&auml;ldern, ihren finsteren Burgen und
+engen St&auml;dten sehnten sich unsere Vorfahren nach dem
+lachenden Himmel Italiens; und aus dem Ernst unseres
+strengen Alltagslebens verlangt alles, was jung ist in
+uns, nach dem Glanz, nach dem Leichtsinn von Paris.
+Aber ich bem&uuml;hte mich, ruhig zu scheinen und meiner
+st&uuml;rmisch aufwogenden Freude Herr zu werden.</p>
+
+<p>&raquo;Was sagst du dazu?&laquo; fragte mein Mann. &raquo;Wir
+w&uuml;rden uns rasch entschlie&szlig;en m&uuml;ssen. Mit dem internationalen
+Sozialistenkongre&szlig;, der in zehn Tagen zusammentritt,
+m&uuml;&szlig;te meine T&auml;tigkeit anfangen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und dein Archiv?!&laquo; warf ich ein. &raquo;Du kannst es doch
+nicht monatelang von Frankreich aus redigieren!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ach, &mdash; das Archiv..!&laquo; meinte er mit einem halb
+wegwerfenden, halb &auml;rgerlichen Ton, der mich erstaunt
+aufsehen lie&szlig;. Das Archiv war seine Sch&ouml;pfung, sein
+liebstes Geisteskind.</p>
+
+<p>&raquo;Das Archiv k&ouml;nnte ich von &uuml;berall her leiten!
+In Paris aber scheint mir jetzt der rechte Ort, um den
+Sozialismus in seiner neusten Phase zu studieren, in
+Paris, wo ein Millerand Minister ist, wo die Intellektuellen, &mdash; unter
+ihnen ein Zola, ein France, ein
+Steinlen, &mdash; mit Jaur&egrave;s Arm in Arm gehen!.. Wenn
+du also nichts dagegen hast, so nehme ich den Antrag
+an.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_348" id="Page_348"></a></p>
+
+<p>Paris! Die untergehende Septembersonne umgab
+die schwarz hingestreckte Stadt mit rotgl&uuml;hender
+Glorie. Mir war, als kl&auml;nge im
+R&auml;derrollen unseres Zugs ein rhythmisches Jauchzen,
+als k&ouml;nne die fauchende Riesenschlange es nicht erwarten,
+sich in die lodernde Glut zu st&uuml;rzen.</p>
+
+<p>Am Morgen nach unserer Ankunft wanderten wir
+durch die Stra&szlig;en. Es war die vollkommenste &Uuml;berraschung,
+die mich mehr und mehr verstummen lie&szlig;. Ich
+hatte etwas Lautes, Buntes erwartet, etwas, das &uuml;bereinstimmt
+mit dem Begriff &raquo;Paris&laquo;, den wir uns drau&szlig;en
+gebildet haben. Und nun sah ich H&auml;userzeilen in gleichm&auml;&szlig;ig
+feiner zur&uuml;ckhaltender Architektur, hohe Fenster
+mit schmalen Gittern davor, sah Mauern, &uuml;ber die der
+Efeu kroch, und Baumriesen, die aus alten verschwiegenen
+H&ouml;fen geheimnisvoll her&uuml;berrauschten.</p>
+
+<p>Ich sah, wie sich die vielen Alleen pl&ouml;tzlich in weite,
+weite G&auml;rten verloren, unter deren B&uuml;schen graue
+Statuen tr&auml;umten, und unter runden Lorbeerb&auml;umen stille
+Bassins goldig glitzernd von den vielen kleinen Fischen
+darin. An altert&uuml;mlichen Kirchen kamen wir vorbei mit
+runden und viereckigen dicken T&uuml;rmen, oder dem mystischen
+Ma&szlig;werk keuscher Gotik &uuml;ber alten Portalen.</p>
+
+<p>Zur Madeleine schritten wir die breite Steintreppe
+empor und traten aus der heidnischen Pracht ihrer
+S&auml;ulenhalle in das D&auml;mmerdunkel ihres Inneren. Eine
+wundersch&ouml;ne Nonne kniete regungslos am Eingang, die
+Sammelb&uuml;chse vorgestreckt in schmalen wei&szlig;en H&auml;nden.
+Und als wir uns wieder zum Gehen wandten, schweifte
+der Blick &uuml;ber die zu unseren F&uuml;&szlig;en sich dehnende<a name="Page_349" id="Page_349"></a>
+Stra&szlig;e und die majest&auml;tische Gr&ouml;&szlig;e der Place de la
+Concorde, wo Menschen und Wagen sich verloren
+wie Spielzeug, bis weithin zur Kuppel des Invalidendoms.
+Er h&uuml;tete, was sterblich war an dem
+korsischen Riesen, der die Welt formte nach seinem
+Willen, und der, ein Lebender, noch heute die Stadt
+Paris erf&uuml;llt.</p>
+
+<p>Durch Alleen breiter Kastanienb&auml;ume, deren dunkle
+gro&szlig;e Bl&auml;tter schwarze Schatten auf die hellen Wege
+warfen, gingen wir langsam hinauf, wo der Triumphbogen
+des Etoile sich, von weichen Morgennebeln umspielt,
+mit den Wolken zu verschmelzen schien. Und in
+den G&auml;rten der Tuilerien verloren wir uns. Zarte
+Kinder mit k&uuml;nstlich geringelten Locken spielten auf
+feinen Pl&auml;tzen, alte Herren, mit dem roten B&auml;ndchen
+im Knopfloch, f&uuml;tterten die V&ouml;gel, von einer Schar
+Zuschauer umgeben, deren Interesse fast wie Andacht
+war. Von den B&auml;umen tanzten leise die gelben
+Bl&auml;tter; eine tr&auml;umerisch s&uuml;&szlig;e Luft, die Ger&auml;usche und
+Farben d&auml;mpfte, spielte z&auml;rtlich um den grauen K&ouml;nigspalast
+des Louvre und streichelte sanft die Gesichter der
+Vor&uuml;bergehenden, als wollte sie sie tr&ouml;sten, weil es
+schon Herbst geworden war. Und selbst die Bettler
+auf der Br&uuml;cke, und die schmutzigen Savoyardenknaben,
+die ihre Ware feil boten, und die alten Buchh&auml;ndler,
+die ihre stockfleckigen Schart&auml;ken auf den Quaimauern
+aufbauten, l&auml;chelten leise. Der Flu&szlig; aber w&auml;lzte sich
+lautlos vor&uuml;ber; seine Wasser schimmerten in gebrochenen
+Farben wie m&uuml;de Opale.</p>
+
+<p>&raquo;Eine vornehme Frau ist Paris,&laquo; sagte ich nachdenklich,
+als wir von unserem ersten Ausgang zur&uuml;ckgekehrt
+<a name="Page_350" id="Page_350"></a>waren, &raquo;eine vornehme Frau, deren sch&ouml;ne Z&uuml;ge die
+Wehmut des Alterns umflort&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Am Abend verlie&szlig;en wir wieder das Hotel. Jetzt
+brauste die Weltstadt: rauschende Kleider, rollende Wagen,
+girrendes Lachen, w&uuml;stes Geschrei&nbsp;&mdash;, zu einem einzigen
+Ton verschmolz das alles. Zwischen den B&auml;umen der
+Boulevards strahlten die Laternen wie endlose Lichterketten,
+breit quoll das Licht aus den Caf&eacute;s &uuml;ber wippende
+Federh&uuml;te und spiegelnde Zylinder. Nur auf dem riesigen
+Concordienplatz wirkten die Bogenlampen wie
+Brillanten auf dem dunkelgrauen Samt der Nacht.</p>
+
+<p>Da pl&ouml;tzlich leuchtete jenseits zwischen den B&auml;umen
+ein Wunder auf: ein schimmerndes Tor aus Juwelen
+erbaut, eine M&auml;rchenstadt dahinter, deren Mauern
+Kristall, deren T&uuml;rme Feuerbr&auml;nde waren; die Weltausstellung.
+Wir folgten dem wimmelnden Menschenstrom,
+dessen Rauschen sich aus allen Sprachen der
+Welt zusammensetzte. Es war ein einziger Traum aus
+Tausendundeine Nacht. Ein Turm, aus strahlenden
+Goldf&auml;den gewoben, trug auf seiner diamantenen
+Spitze die schwarze Kuppel des Himmels. In tiefdunkle
+Teiche ergossen sich Kaskaden von Licht. Der
+stille Flu&szlig; spiegelte Pal&auml;ste wieder, die allen Glanz der
+Welt an seinen Ufern vereinigt hatten. Die Br&uuml;cken
+spannten sich &uuml;ber ihn wie lauter gl&uuml;ckverhei&szlig;ende Regenbogen.
+Und wer sie &uuml;berschritt, den empfing jenseits
+ein Lachen, ein Singen, ein Jubeln, &mdash; als g&auml;be es
+nirgends Tr&auml;nen mehr. Ein Taumel erfa&szlig;te die Menschen:
+von den Terrassen herunter, &mdash; aus den weit ge&ouml;ffneten
+T&uuml;ren bunter H&auml;user lockte die Freude in sehns&uuml;chtigen
+Geigent&ouml;nen, in wilden Trompetenst&ouml;&szlig;en. Dort
+<a name="Page_351" id="Page_351"></a>tanzte Loie Fuller, die lebendig gewordene Flamme:
+wenn sie sich aufw&auml;rts schwang, z&uuml;ngelten die Schleier
+&uuml;ber ihrem Haupte, wenn sie sich neigte, leuchtete
+sekundenlang ihr schneewei&szlig;er Busen. Dr&uuml;ben trippelte
+auf St&ouml;ckelschuhen Sada Yacco, die Japanerin; aus
+ihren geschlitzten Augen spr&uuml;hten Blitze fanatisierter
+Kunst, auf ihren Gew&auml;ndern leuchteten Blumen der
+H&ouml;lle und V&ouml;gel des Paradieses. Und unter dem bunten
+Zeltdach ringelten sich Schlangen um den halbnackten
+Leib der Indierin, z&uuml;ngelten z&auml;rtlich um ihre
+braune Haut, w&auml;hrend ihre kleinen F&uuml;&szlig;e, von goldenen
+Ringen umklirrt, sich im Takte bewegten und ihre
+Arme sich ausstreckten &mdash; eine einzige Geb&auml;rde verlangender
+Lust&nbsp;...</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Mitten im Gew&uuml;hl trafen wir Geier, der zum
+Sozialistenkongre&szlig; nach Paris gekommen
+war. &raquo;Ein Riesenvariet&eacute;, &mdash; nichts weiter,&laquo;
+brummte er, &raquo;im Grunde widerw&auml;rtig.&laquo; Ich erwachte
+wie aus einem Traum: die Gesichter der T&auml;nzerinnen
+erschienen mir pl&ouml;tzlich fratzenhaft; wo die Schminke sich
+verwischte, grinste hinter dem L&auml;cheln der Freude die rohe
+Sucht nach Gewinn. Und der lichtgewobene Turm, der
+den Himmel trug, war aus Eisen; Menschlein kletterten
+selbstbewu&szlig;t bis in seine Spitze, und hoheitsvoll wich
+die Sternenkuppel weit, weit zur&uuml;ck vor ihnen. Kulissen
+aus Gips und Leinwand waren die Pal&auml;ste, Glas die
+Juwelen im Portal.</p>
+
+<p>&raquo;Man soll einen Monds&uuml;chtigen nicht anreden,&laquo; sagte
+ich. &raquo;Schon glaubt ich mich wirklich auf dem Wege
+<a name="Page_352" id="Page_352"></a>zur Erf&uuml;llung einer Sehnsucht, die mit mir geboren zu
+sein scheint&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und die w&auml;re?&laquo; fragte Heinrich. Ich z&ouml;gerte; ich
+wu&szlig;te, wie falsch ich verstanden werden k&ouml;nnte.</p>
+
+<p>&raquo;Bacchantische Lust zu sehen, &uuml;berstr&ouml;mende, jauchzende
+Lebenswonne, &mdash; die dabei eines Gottes w&uuml;rdig w&auml;re.
+Immer ist Freude so etwas Armseliges, &mdash; Mutloses.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dann sind Sie jedenfalls in Paris am rechten Ort.
+&Uuml;brigens h&auml;tte ich Ihrer norddeutschen Prinzessinnenw&uuml;rde
+nicht so exotische Phantasien zugetraut,&laquo; spottete
+Geier. &raquo;Aber immerhin, &mdash; ich, als alter Pariser, kann
+Ihnen vielleicht heute noch dienen.&laquo;</p>
+
+<p>Wir verlie&szlig;en die Ausstellung, &uuml;berquerten den Platz
+bis zur Rue Royal.</p>
+
+<p>&raquo;Maxim&laquo; stand in gro&szlig;en Buchstaben &uuml;ber der T&uuml;r
+des Restaurants, in das wir eintraten. Auf den
+hohen St&uuml;hlen vor dem Schenktisch der Bar sa&szlig;en
+elegante M&auml;nner mit m&uuml;den, gelangweilten Gesichtern.
+Aus dem Saal dahinter klang ged&auml;mpfte Musik.
+Die Frauen unter seinen Spiegelw&auml;nden an den kleinen,
+blumengeschm&uuml;ckten Tischen fl&uuml;sterten nur hie und da
+miteinander. Sie waren alle sch&ouml;n und jung. Hellblond
+und &uuml;ppig die eine im wei&szlig;en Seidenkleid, Perlen in
+den rosigen Ohren, rieselnde Perlen um den runden
+Hals und einen matten Perlenglanz in den gro&szlig;en
+hellen Augen. Statuenhaft die andere neben ihr, die
+prachtvolle Gestalt eng in roten Samt geh&uuml;llt, die
+schmalen Finger von Brillantringen bedeckt, die nachtschwarzen
+Haare in glatten Scheiteln um die Schl&auml;fen.
+Und rothaarige, hinter deren durchsichtiger Haut blaue
+Adern klopften, br&uuml;nette, mit dem br&auml;unlich warmen Ton
+<a name="Page_353" id="Page_353"></a>der S&uuml;dl&auml;nderin, reihten sich ihnen an, eine schneewei&szlig;e
+dazwischen, mit rosigem Antlitz, als w&auml;re die
+Pompadour aus dem langweiligen Jenseits in ihr geliebtes
+Paris zur&uuml;ckgekehrt. Zuweilen standen sie auf
+und schritten langsam auf und nieder; ihre Kleider
+raschelten, als ob schillernde Salamander durch dichtes
+Blattwerk schl&uuml;pften, das aufreizende gleichm&auml;&szlig;ige Klipp-klapp
+der hohen Abs&auml;tze ihrer Seidenschuhe t&ouml;nte dazwischen,
+in ihren Juwelen brachen sich hundertfarbig
+die Lichter, Wolken bet&auml;ubenden Duftes zogen hinter
+ihnen her. Sie waren wie exotische Blumen aus
+fremden Urw&auml;ldern.</p>
+
+<p>Die Musik ging in Walzermelodien &uuml;ber. Und durch
+die offenen T&uuml;ren kamen allm&auml;hlich die Herren aus der
+Bar, &mdash; alte und junge Greise. N&uuml;chtern, lustlos, wie
+der Trainer ein Rennpferd, musterten sie die Frauen.
+Sie erwachten erst zum Leben, als der Sekt in den
+Gl&auml;sern vor ihnen perlte. Ihre Blicke wurden zu
+l&uuml;sternem Greifen, ihr Lachen wurde gemein. Sie erschienen
+wie rohe Barbaren gefangenen K&ouml;niginnen
+gegen&uuml;ber. Und jetzt begannen die Geigen zu jauchzen,
+rascher und rascher f&uuml;llten sich die Gl&auml;ser und leerten
+sich wieder, die Paare schwangen sich in rasendem Tanz; &mdash; dort
+senkte ein Graubart die zittrigen Kniee vor
+einer jungen Sch&ouml;nen und trank aus ihrem wei&szlig;seidenen
+Schuh.</p>
+
+<p>&raquo;Nun?!&laquo; fragend wandte sich Geier mir zu. Ich
+zuckte die Achseln: &raquo;Nennen Sie das bacchantische
+Lust?! Wenn M&auml;nner sich erst betrinken m&uuml;ssen, um
+f&uuml;r Frauensch&ouml;nheit zu entflammen, und Frauen nur
+durch den Rausch, der ihre Augen und ihre Sinne um<a name="Page_354" id="Page_354"></a>nebelt,
+den Ekel vor diesen M&auml;nnern zu &uuml;berwinden
+verm&ouml;gen?!&laquo;</p>
+
+<p>Wir gingen. &Uuml;ber die Boulevards schob und dr&auml;ngte
+sich die Menge: Fremde, mit gespannten Z&uuml;gen, &uuml;berall
+ungeheuerliche Enth&uuml;llungen der S&uuml;nde erwartend, kleine
+bescheidene Provinzfrauen mit einem dirnenhaften Funkeln
+in den Augen, Kinder, bla&szlig; und &uuml;bern&auml;chtig, immer
+noch Blumen verkaufend, den alten wissenden Blick halb
+neidisch auf die geschminkten Kokotten gerichtet, die wie
+G&ouml;tzenbilder sich durch die dunkeln Massen bewegten.</p>
+
+<p>War Paris nicht doch ihresgleichen?</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Als wir am n&auml;chsten Morgen den Sitzungssaal
+des Internationalen Kongresses betraten, blieb
+ich schon an der T&uuml;r erschrocken stehen: das
+tobte und schrie, pfiff und trampelte, als sollte ein Sensationsst&uuml;ck
+zu Fall gebracht werden. Vandervelde, der
+belgische Volksf&uuml;hrer, stand auf der Rednertrib&uuml;ne, aber
+weder seine Autorit&auml;t, noch der sonore Klang seiner
+sch&ouml;nen Stimme, noch die beschw&ouml;renden Gesten seiner
+aristokratischen H&auml;nde wurden Herr &uuml;ber die entfesselte
+Leidenschaft der Menge. Drohende F&auml;uste reckten sich
+zu ihm empor: <em class="antiqua">&raquo;&Agrave; bas les minist&eacute;riels!&laquo;</em> t&ouml;nte es im
+Takt von der einen Seite, wo sich um Jules Guesde,
+den franz&ouml;sischen Liebknecht, die Anh&auml;nger scharten. Wer
+es nicht vorher wu&szlig;te, erfuhr es angesichts dieser Versammlung:
+nur um eine Kardinalfrage des Sozialismus
+konnte ein so w&uuml;ster Kampf entbrennen. Die Vertreter
+des alten revolution&auml;ren Gedankens behaupteten standhaft
+ihre Intransigenz: &raquo;Die Befreiung der Arbeiter
+<a name="Page_355" id="Page_355"></a>kann<em class="spaced"> nur</em> ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein, jedes
+Paktieren mit der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft ist ein Verrat
+an der Sache des Proletariats.&laquo; Von diesen lapidaren,
+jedem Arbeitergehirn leicht einzupr&auml;genden S&auml;tzen
+aus, verurteilten sie notwendigerweise den Eintritt des
+Sozialisten Millerand in das Ministerium und forderten
+vom Kongre&szlig; eine offizielle Anerkennung ihres Standpunktes.
+Wider Vandervelde, der die Vermittlungsresolution
+der Deutschen verteidigt hatte, erhob sich der
+Italiener Ferri; die sch&ouml;nheitstrunkenen Romanen jubelten
+schon seiner blo&szlig;en Erscheinung zu, und als er mit
+all den klassischen Worten der Revolution jonglierte,
+wie ein geschickter Taschenspieler mit gl&auml;nzenden Kristallkugeln,
+und den Revisionismus von der Landtagswahlbeteiligung
+der Deutschen bis zum Ministerialismus der
+Franzosen als einen Abfall brandmarkte, dankte ihm
+brausender Beifall. Die grazi&ouml;sen Franz&ouml;sinnen auf
+den Zuschauertrib&uuml;nen, denen der Kongre&szlig; dieselben
+Nervenreize bot wie eine Premi&egrave;re, schlugen begeistert
+die wei&szlig;behandschuhten H&auml;ndchen aneinander, und des
+Redners dunkler Blick gr&uuml;&szlig;te dankend die seidenrauschenden
+Vertreterinnen des Kapitalismus, gegen den er eben
+zum Kampf gerufen hatte.</p>
+
+<p>Dann kam Jaur&egrave;s, der das moderne republikanische
+Frankreich in der Dreyfusaff&auml;re gegen Klerikalismus
+und Militarismus verteidigt hatte, &mdash; eine untersetzte
+Gestalt, mit dem breiten blonden Kopf eines Germanen.
+Er wird es schwer haben, dachte ich angesichts dieser
+Versammlung, die ihre Redner &auml;stethisch zu werten
+scheint. Aber schon der erste Laut seiner Stimme zog
+die Menge in seinen Bann: sie war wie das Meer;
+<a name="Page_356" id="Page_356"></a>selbst wenn sie ruhig schien, war Sturm in ihr, und
+wenn sie anschwoll, schlug sie donnernd gegen die
+Mauern, wie die Wogen gegen den Fels. Ich war
+nicht imstande auf die Worte zu achten, ich h&ouml;rte nur
+den Klang, jenen musikalischen Tonfall der Sprache,
+der die Wesensart des ganzen Volkes enth&uuml;llt, eines
+Volkes, das durch logische Schl&uuml;sse wissenschaftlicher
+Deduktionen niemals &uuml;berzeugt zu werden vermag, wenn
+nicht der K&uuml;nstler in ihm durch die Sch&ouml;nheit der Form,
+durch das Pathos des Ausdrucks gepackt wird, eines
+Volkes, von dem ich pl&ouml;tzlich begriff, da&szlig; es die Bastille
+st&uuml;rmen und Napoleon Bonaparte zu seinem Kaiser
+kr&ouml;nen konnte.</p>
+
+<p>Ich war noch wie benommen, als wir abends den
+Saal verlie&szlig;en. An der T&uuml;r begr&uuml;&szlig;ten uns unsere
+Landsleute. &raquo;Eine unglaubliche Gesellschaft!&laquo; schimpfte
+der eine. &raquo;F&uuml;r nichts ist gesorgt: nicht mal Bleistift und
+Papier gibt's auf den Tischen.&laquo; &mdash; &raquo;Und keine M&ouml;glichkeit,
+die Antr&auml;ge rechtzeitig drucken zu lassen,&laquo; f&uuml;gte
+ein zweiter hinzu, &mdash; &raquo;man wei&szlig; nich mal, wo man
+essen jehn soll,&laquo; brummte ein dritter.</p>
+
+<p>Jetzt f&uuml;hlte ich mich wieder in Deutschland.</p>
+
+<p>Wir unterhielten uns, als wir zusammensa&szlig;en, &uuml;ber
+die deutsche Resolution. &raquo;Sie ist aus Wenn und Aber
+zusammengesetzt, und einem Fall Millerand ist zwar die
+T&uuml;r geschlossen, aber das Fenster ge&ouml;ffnet,&laquo; &mdash; r&auml;sonierten
+die Vertreter des sechsten berliner Wahlkreises,
+f&uuml;r die der Eintritt eines Sozialisten in ein b&uuml;rgerliches
+Ministerium keine taktische, sondern eine prinzipielle
+Frage war. &raquo;'Die Eroberung der Regierungsgewalt
+kann nicht st&uuml;ckweise erfolgen,'&laquo; las stirnrunzelnd einer
+<a name="Page_357" id="Page_357"></a>der Wortf&uuml;hrer des Revisionismus; &raquo;das ist ein Satz,
+den wir unm&ouml;glich unterschreiben k&ouml;nnen, denn in parlamentarisch
+regierten Staaten kann und wird sie nicht
+anders als allm&auml;hlich vor sich gehen.&laquo;</p>
+
+<p>Am Morgen darauf stimmten die Deutschen trotzdem
+geschlossen f&uuml;r die Resolution, um die Einigkeit der
+Partei zu dokumentieren, und sicherten ihr dadurch ihre
+Annahme. Ich war froh, da&szlig; ich kein Mandat besa&szlig;,
+denn die vielger&uuml;hmte Disziplin unserer Genossen
+mi&szlig;fiel mir, die die pers&ouml;nliche Ansicht dem
+Willen der Mehrheit unterwarf; die individualistische
+Haltung der Franzosen schien mir ein Beweis gr&ouml;&szlig;erer
+innerer St&auml;rke zu sein. Ich &auml;u&szlig;erte meine Ansicht, als
+wir mit unseren n&auml;heren Bekannten nachts vor einem
+Boulevardcaf&eacute; zusammensa&szlig;en, und stie&szlig; auf heftigen
+Widerspruch. &raquo;Unsere Disziplin hat uns gro&szlig; gemacht,&laquo;
+hie&szlig; es von allen Seiten. &raquo;Numerisch gro&szlig;, &mdash; gewi&szlig;,&laquo;
+antwortete ich, &raquo;ob aber entsprechend einflu&szlig;reich?! In
+England, wo die Partei so zerrissen ist wie hier, durchdringt
+die sozialistische Idee alle Kreise, geh&ouml;ren Sozialisten
+allen &ouml;ffentlichen K&ouml;rperschaften an, in Frankreich
+st&uuml;tzt sich die Republik auf Sozialisten, und ein einziger
+sozialistischer Minister ist imstande, in Monaten mehr
+Reformen auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes durchzuf&uuml;hren,
+als seine Vorg&auml;nger w&auml;hrend Jahrzehnten&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und in Deutschland &uuml;bernahm unsere Reichstagsfraktion
+im Kampf gegen die Lex Heinze die F&uuml;hrung
+und rettete Wissenschaft und Kunst vor unerh&ouml;rter Knebelung,&laquo;
+unterbrach mich einer der Anwesenden lebhaft;
+&raquo;es geht langsam bei uns, aber es geht, und selbst die
+Resolution, deren Annahme durch uns Sie so verur<a name="Page_358" id="Page_358"></a>teilen,
+ist ein Zeichen des Fortschrittes. Sie hat dem
+falschen Radikalismus eine seiner Spitzen abgebrochen
+indem sie der politischen Taktik freie Hand lie&szlig;.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dazu, scheint mir, werden die Verh&auml;ltnisse Radikale
+und Revisionisten stets ohne weiteres zwingen. Die
+Preisgabe pers&ouml;nlicher &Uuml;berzeugung war &uuml;berfl&uuml;ssig,&laquo;
+antwortete ich.</p>
+
+<p>&raquo;So halten Sie es f&uuml;r besser, wenn man um verschiedener
+Ansichten willen wie verzankte Kinder nach
+rechts und links auseinander l&auml;uft?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Es scheint mir jedenfalls richtiger, als klaffende
+Gegens&auml;tze mit den morschen Brettern gegenseitiger Konzessionen
+&uuml;berbr&uuml;cken zu wollen.&laquo;</p>
+
+<p>Eine augenblickliche Stille trat ein; man sah erwartungsvoll
+auf Geier, der eben hinzugetreten war.</p>
+
+<p>&raquo;Politik besteht aus Konzessionen,&laquo; erkl&auml;rte er und
+strich gleichm&uuml;tig die Asche von seiner Zigarre; &raquo;aber davon
+versteht ihr Weiber nichts. F&uuml;r das Gesch&auml;ft seid
+ihr entweder zu gut oder zu schlecht, darum la&szlig;t die
+Finger davon. &Uuml;brigens: &mdash; Ich habe eine Nachricht in
+der Tasche, die den W&uuml;nschen der Genossin Brandt entgegenkommt:
+Euer neuer Prophet, Bernstein, wird
+Deutschland <em class="antiqua">in persona</em> begl&uuml;cken d&uuml;rfen.&laquo;</p>
+
+<p>Von allen Seiten mit Fragen nach dem Wie und
+Warum best&uuml;rmt, fuhr Geier mit einem sp&ouml;ttischen Blick
+auf mich in seinem Berichte fort: &raquo;Die deutsche Regierung
+hofft auf eine Spaltung der Partei. Es ist
+B&uuml;lows, des neuen Reichskanzlers, erste Heldentat, wenn
+er das Ausweisungsdekret gegen Bernstein nicht mehr
+wiederholt. Viel Gl&uuml;ck zu diesem Zuwachs, Ihr lieben
+Reichsdeutschen!&laquo; Damit erhob er sich, fl&uuml;chtig gr&uuml;&szlig;end.</p>
+
+<p><a name="Page_359" id="Page_359"></a>Wir gingen schweigsam nach Haus, mein Mann und
+ich, in unsere kleine m&ouml;blierte Wohnung, die wir nach
+langem Suchen endlich gefunden hatten. Ich f&uuml;hlte auf
+diesem Heimweg deutlicher als je, da&szlig; wir allm&auml;hlich
+auch innerlich nebeneinander und nicht miteinander
+gingen. In der Nacht h&ouml;rte ich, wie unruhig er sich
+hin und her warf, und sah im Laternenlicht, das matt
+durch die Fensterscheiben drang, wie zerqu&auml;lt seine Z&uuml;ge
+waren. Er litt, &mdash; und ich wu&szlig;te nicht warum; ich,
+die ich ihm am n&auml;chsten stand, hatte ihn allein gelassen!
+Das Herz krampfte sich mir zusammen. Waren nicht
+jene Frauen wirklich die besseren gewesen, die nichts
+hatten sein wollen, als ein allzeit offenes Gef&auml;&szlig; f&uuml;r die
+Schmerzen und die K&auml;mpfe des Gatten? Vielleicht
+waren sie die tiefste Bedingung seiner Kraft.</p>
+
+<p>&raquo;Heinz,&laquo; fl&uuml;sterte ich zaghaft und griff nach seiner
+Hand, &raquo;warum sprichst du nicht mit mir? &mdash; Irgend
+etwas lastet auf dir&nbsp;&mdash;.&laquo;</p>
+
+<p>Er l&auml;chelte mich an. &raquo;Gutes Kind, &mdash; beunruhige
+dich doch nicht! Du hast mit dir selbst genug zu tun
+und mit deiner Arbeit.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du aber nimmst teil daran, &mdash; du hilfst mir, und
+ich sollte dir nicht helfen d&uuml;rfen?! &mdash; H&auml;ngt es am
+Ende damit zusammen, da&szlig; du dem Archiv innerlich
+untreu geworden bist?&laquo; dr&auml;ngte ich.</p>
+
+<p>&raquo;Woher wei&szlig;t du das?&laquo; fuhr er auf.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe doch Augen im Kopf, &mdash; ich sehe, wie oft
+du die Korrekturen ungeduldig zur Seite wirfst&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du hast recht,&laquo; antwortete er, &raquo;ich h&auml;tte dich nur
+gern mit meinen Angelegenheiten verschont, so lange sie
+mir selbst so unklar sind. Als ich das Archiv ins Leben
+<a name="Page_360" id="Page_360"></a>rief, war die Sozialpolitik ein unbebautes Ackerland.
+Jetzt, wo der Samen aufging, kann jeder Garben
+schneiden&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich verstehe,&laquo; unterbrach ich ihn lebhaft, &raquo;wir
+beide geh&ouml;ren zu denen, die Wege anlegen, aber nicht
+die Steine daf&uuml;r karren k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wege anlegen&nbsp;&mdash;,&laquo; wiederholte er, &raquo;ganz richtig!
+Und daf&uuml;r ist in der Partei jetzt die Zeit gekommen.
+Gr&auml;&szlig;lich, angesichts dieser Aufgabe die H&auml;nde gebunden
+zu haben! Dem Revisionismus fehlt es an einem
+geistigen Mittelpunkt, einem unabh&auml;ngigen Organ, das
+an Stelle blo&szlig;er Verneinung die Ideen praktischer Politik
+in die K&ouml;pfe der Massen h&auml;mmert, das die geistigen
+Kr&auml;fte der Intellektuellen in den Dienst unserer Sache
+zieht. Die Lex Heinze hat sie aus dem Schlaf geweckt, &mdash; auch
+hier m&uuml;&szlig;te das Eisen geschmiedet werden, solange
+es warm ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und wieso sind dir daf&uuml;r die H&auml;nde gebunden?!&laquo;
+rief ich aus, von den Gedanken, die er aussprach, gepackt.
+&raquo;Der Plan mu&szlig; ausgef&uuml;hrt werden!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bei all deiner Klugheit bist du doch ein ganz
+dummes Katzel!&laquo; sagte er. &raquo;Oder w&auml;chst dir ein Kornfeld
+auf der flachen Hand?! Kein b&uuml;rgerlicher Verleger
+w&uuml;rde ihn verwirklichen helfen, ein Parteiverlag erst
+recht nicht&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Ich dachte an den Amerikaner Garrison, der seine der
+Idee der Sklavenbefreiung gewidmete Zeitschrift selbst
+schrieb und druckte. Ob wir nicht diesem Beispiel
+folgen k&ouml;nnten? Mein Mann lachte mich aus. &raquo;Selbst
+wenn wir unsere ganze Arbeitskraft der Sache opfern
+w&uuml;rden, ohne pekuni&auml;re Mittel h&uuml;lfe das nichts. Ich
+<a name="Page_361" id="Page_361"></a>sehe nur eine M&ouml;glichkeit, um zum Ziel zu gelangen&nbsp;&mdash;,&laquo;
+er brach ab, als habe er schon zuviel gesagt.</p>
+
+<p>&raquo;Die w&auml;re?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Der Verkauf des Archivs. Mit dem Erl&ouml;s k&ouml;nnte
+man die Zeitung ins Leben rufen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Warum versuchst du das nicht?!&laquo; Ich &auml;rgerte mich,
+da&szlig; er nur einen Moment hatte z&ouml;gern k&ouml;nnen. Er sah
+mich forschend an.</p>
+
+<p>&raquo;Ist das Tapferkeit oder Leichtsinn, was aus dir
+spricht? &mdash; Mit dem Verkauf des Archivs ist die Sicherheit
+unserer Existenz preisgegeben. Wir k&ouml;nnen bei dem
+neuen Unternehmen alles verlieren&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dar&uuml;ber bin ich keinen Augenblick im Zweifel,&laquo;
+antwortete ich ernst. &raquo;Aber mir scheint, gegen&uuml;ber der
+Gr&ouml;&szlig;e der Aufgabe fallen pers&ouml;nliche Bedenken nicht
+ins Gewicht.&laquo;</p>
+
+<p>Wir waren einig. Von nun an widmete mein Mann
+all seine freie Zeit der Verwirklichung seines Gedankens.
+Er trat mit deutschen Verlegern in Verkaufsverhandlungen,
+und wenn ich angesichts ihrer wiederholten
+Resultatlosigkeit oft nahe daran war, den Mut zu verlieren,
+so schien der seine mit jedem Mi&szlig;lingen neu zu
+wachsen. Er wandte sich an die bekannteren Revisionisten,
+und wenn ihre z&ouml;gernden Antworten mich deprimierten,
+so steigerten sie nur seine Energie. Und meine
+Liebe, die unter der grauen Asche der Allt&auml;glichkeit nur
+noch leise geglimmt hatte, gl&uuml;hte auf, wie Waldfeuer
+im Sturm. Je st&auml;rker ich die &Uuml;berlegenheit seines
+Willens empfand, desto mehr liebte ich ihn. Und gewohnt,
+mein eigenes Erleben zu betrachten wie der
+Forscher ein wissenschaftliches Experiment, aus dem er
+<a name="Page_362" id="Page_362"></a>bestimmte allgemeine Schl&uuml;sse zieht, sah ich, da&szlig; eine
+der Theorien der modernen Frauenbewegung sich angesichts
+der Erfahrung wieder einmal als leere Konstruktion
+erwies.</p>
+
+<p>&raquo;Das geistig entwickelte, seelisch differenzierte Weib
+ist die Voraussetzung und Bedingung tieferer und dauernder
+Beziehungen zwischen den Geschlechtern,&laquo; hatte meine
+alte Gegnerin, Helma Kurz, noch k&uuml;rzlich in dem ihr
+eigenen geschwollenen Stil den Lesern ihrer Zeitschrift
+verk&uuml;ndet. Sie identifizierte Liebe und Freundschaft,
+weil sie &mdash; das einsame alte M&auml;dchen &mdash; wie der
+Blinde von der Farbe sprach. Weibesliebe ist Hingabe
+an den H&ouml;herstehenden, gleichg&uuml;ltig ob das Herz, das
+sie empfindet, unter dem groben Hemd der Dienstmagd
+oder dem Talar der Doktorin beider Rechte schl&auml;gt.
+Darum wird die erotische Treue um so seltener sein, je
+st&auml;rker das Weib sich geistig und seelisch individualisiert.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Mit noch gr&ouml;&szlig;erem Eifer als fr&uuml;her st&uuml;rzte ich
+mich in meine Arbeit; nicht nur, weil der
+Augenblick schreckhaft n&auml;her r&uuml;ckte, in dem
+ich das Honorar daf&uuml;r nicht mehr w&uuml;rde entbehren
+k&ouml;nnen, sondern mehr noch, weil das Buch vollendet
+sein mu&szlig;te, ehe die neue Aufgabe &mdash; die Zeitschrift
+meines Mannes &mdash; an mich herantrat.</p>
+
+<p>Archive, Arbeits&auml;mter und Bibliotheken &ouml;ffneten sich
+mir ohne Schwierigkeit. Vom Minister bis zum Portier
+verleugnet der Franzose die Kultur des achtzehnten
+Jahrhunderts nicht, auch wenn die Dame, die
+ihm begegnet, keine Marquise ist; jeder beeilt sich, ihr
+<a name="Page_363" id="Page_363"></a>behilflich zu sein, ihr entgegenzukommen, kein sp&ouml;ttisches
+L&auml;cheln, keine herunterh&auml;ngenden Mundwinkel verraten
+der arbeitenden Frau, wie der Mann sie im Grunde wertet.</p>
+
+<p>Je mehr ich mich aber in die Arbeit versenkte, desto
+h&ouml;her t&uuml;rmten sich die Probleme der Frauenfrage um
+mich auf, &mdash; die sozialen, die ethischen, die sexuellen
+entwickelten sich eines aus dem anderen, als kr&ouml;che
+ein Drache aus dunkler H&ouml;hle hervor, ein Glied um
+das andere vorschiebend, langsam, endlos. Wenn ich
+mich morgens zum Fortgehen r&uuml;stete und mein
+Kind die runden &Auml;rmchen um meinen Hals schlang
+und bat und schmeichelte: &raquo;Mamachen, bleib doch mal
+bei mir, &mdash; Mamachen, bitte, bitte, erz&auml;hl' mir nur eine
+einzigste sch&ouml;ne Geschichte&nbsp;&mdash;,&laquo; dann erschien mir mein
+eigenes Leben wie jene unheimliche H&ouml;hle, und in mein
+eigenes Herz bohrte der Drache seinen Giftzahn. Wie
+gl&auml;ubig hatte ich fr&uuml;her den alten Vork&auml;mpferinnen der
+Frauenbewegung gelauscht, wenn sie von jenen Amerikanerinnen
+erz&auml;hlten, die ihre Pflichten als M&uuml;tter,
+Hausfrauen und Berufsarbeiterinnen in so unvergleichliche
+Harmonie zueinander zu setzen vermochten. Ich
+erinnerte mich vor allem jener Advokatin, die neben
+ihrer gro&szlig;en Praxis sechs Kinder erzogen und einen
+gro&szlig;en Haushalt allein geleitet haben sollte.</p>
+
+<p>&raquo;Infame L&uuml;gen alter Jungfern!&laquo; dachte ich grimmig.
+Und doch war ich selbst noch eine Bevorzugte. Kam ich
+nach Haus, so fand ich mein Kind in guter Obhut und
+unseren Tisch gedeckt.</p>
+
+<p>Der Berta, die mit so viel Tr&auml;nen durchgesetzt hatte,
+bei mir zu bleiben, verdankte ich die &auml;u&szlig;ere Arbeitsm&ouml;glichkeit.
+Ich konnte ihr nicht dankbar genug sein.</p>
+
+<p><a name="Page_364" id="Page_364"></a>Aber Millionen armer Frauen arbeiten in der Werkstatt
+und in der Fabrik, w&auml;hrend die Stra&szlig;e ihrer
+Kinder H&uuml;terin ist und sie gezwungen sind, nach der
+Hast der Arbeit noch die unzureichende Ern&auml;hrung f&uuml;r
+sich und die Ihren selbst zu bereiten. So unsch&auml;tzbar
+die wirtschaftliche Selbst&auml;ndigkeit des Weibes sein mag,
+sind die Opfer des Mutterherzens und des Kindergl&uuml;cks
+nicht ein zu hoher Preis f&uuml;r sie? Ich fand aus der
+Wirrnis nicht heraus: auf der einen Seite diese Not,
+auf der anderen Seite die liebezerst&ouml;rende pekuni&auml;re Abh&auml;ngigkeit
+des Weibes vom Mann.</p>
+
+<p>Die deutschen Gewerbeaufsichtsbeamten hatten um jene
+Zeit eine Untersuchung &uuml;ber die Arbeit verheirateter
+Frauen in der Industrie angestellt. Die Ergebnisse
+lagen mir vor: &uuml;berall war es die bittere Notwendigkeit,
+die ihnen zwischen dem nat&uuml;rlichen Weibesberuf
+und dem Erwerb au&szlig;erhalb des Hauses keine Wahl
+lie&szlig;. Und alles deutete darauf hin, da&szlig; ihre Zahl
+st&auml;ndig zunehmen w&uuml;rde. Nichts schien mir im Augenblick
+so wichtig, als die L&ouml;sung dieser brennenden Frage.
+Es galt auf der einen Seite, dem S&auml;ugling die Mutter
+zur&uuml;ckzugeben, und auf der anderen, das Weib von der
+Last doppelter Pflichten zu befreien. Ich baute meinen
+alten Plan der Mutterschaftsversicherung aus, &mdash; fest
+&uuml;berzeugt, da&szlig; &uuml;ber kurz oder lang die Regierungen gezwungen
+sein w&uuml;rden, ihm n&auml;her zu treten. Aber selbst
+seine Verwirklichung w&uuml;rde die notwendige Arbeitsteilung
+zwischen Hausfrau und Berufsarbeiterin nicht herbeif&uuml;hren.</p>
+
+<p>&raquo;La&szlig; einmal heut deine Nachmittagsarbeit,&laquo; sagte
+Heinrich eines Tages, als ich in meine Gr&uuml;beleien ver<a name="Page_365" id="Page_365"></a>sunken
+nach Hause kam. &raquo;Wir sind zur Einweihung
+eines Arbeiter-Restaurants geladen, &mdash; France und Jaur&egrave;s
+werden dort sein&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du wei&szlig;t, ich darf mich nicht ablenken lassen,&laquo;
+antwortete ich mi&szlig;mutig.</p>
+
+<p>&raquo;Diesmal ist aber die Sache interessant genug, um
+eine Ausnahme von der Regel zu entschuldigen,&laquo; meinte
+er. &raquo;Eine genossenschaftliche Gr&uuml;ndung der Art liegt
+auf dem Wege zu unseren Zielen.&laquo; Ich horchte auf:
+irgend etwas, halb Unbewu&szlig;tes, packte mich.</p>
+
+<p>In einer engen Seitenstra&szlig;e des Boulevard Montparnasse
+lag ein altes kleines Haus geduckt zwischen
+hohen Mietskasernen. In seinem neuen Anstrich, mit
+den Girlanden um die T&uuml;re und den F&auml;hnchen an
+den Fenstern sah es lustig aus wie ein altes M&auml;nnlein,
+das goldene Hochzeit feiert. Drinnen um die festlich
+gedeckten Tafeln herrschte eitel Fr&ouml;hlichkeit.</p>
+
+<p>&raquo;Da&szlig; wir es erreicht haben, &mdash; endlich!&laquo; sagte
+gl&uuml;ckstrahlend einer der Leiter. &raquo;Seit Jahren sammeln
+wir Sou um Sou, um die armen Arbeiter
+dieser Gegend von der Ausbeutung der Kneipenwirte
+zu befreien, und um den zahllosen arbeitenden Familienm&uuml;ttern
+ein gutes und billiges Mittagsmahl zu verschaffen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich reichte dem Manne die Hand und dr&uuml;ckte sie herzhaft;
+er sah mich verwundert an: er konnte nicht wissen,
+welch ein Geschenk er mir eben gegeben hatte.</p>
+
+<p>Die breite Gestalt von Jaur&egrave;s erschien in der T&uuml;re,
+hinter ihm die elegante eines vornehmen Graubarts,
+dessen geistfunkelnde Augen &uuml;ber die gro&szlig;e schiefe Nase
+unter ihnen zu spotten schienen. &raquo;Anatole France,&laquo; stellte<a name="Page_366" id="Page_366"></a>
+Jaur&egrave;s ihn uns vor. Wir waren sofort in lebhaftem
+Gespr&auml;ch.</p>
+
+<p>&raquo;Ich mag nicht fehlen, wenn die sozialistische Arbeiterschaft
+irgendwo einen Fu&szlig; breit Boden gewinnt,&laquo; sagte
+er; &raquo;je mehr die Bourgeoisie an Idealismus verloren
+hat, desto unfruchtbarer ist sie f&uuml;r uns Intellektuelle.
+Wir m&uuml;ssen uns stets zu den Hoffenden und Werdenden
+halten, wenn wir nicht selbst absterben wollen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Unsere deutschen Intellektuellen halten sich lieber zu
+denen, die zwar an Hoffnungen arm, aber an Gold und
+Juwelen um so reicher sind&nbsp;&mdash;,&laquo; antwortete ich.</p>
+
+<p>Er l&auml;chelte ungl&auml;ubig: &raquo;Wirklich?! In einem Lande,
+das sprichw&ouml;rtlich reich an hungernden Dichtern und
+arm an M&auml;nnern ist?!&laquo;</p>
+
+<p>Dann wurde er zerstreut, zog ein Blatt Papier aus
+der Tasche, &uuml;berflog es wieder und wieder und reichte
+es Jaur&egrave;s: &raquo;Ich bin kein Redner und soll durchaus
+sprechen. Was meinen Sie, wenn ich das hier sage?&laquo;
+Dabei stieg die R&ouml;te der Verlegenheit in das gebr&auml;unte
+Gesicht des ber&uuml;hmten Mannes.</p>
+
+<p>Wir setzten uns zu Tisch. Ich konnte nicht glauben,
+da&szlig; die vielen Menschen um uns herum mit den selbstverst&auml;ndlich
+guten Manieren, dem freim&uuml;tigen Ton, der
+ohne weiteres jeden Abstand der Bildung und des
+Milieus ausglich, die &Auml;rmsten der Armen waren. Ich
+sah es erst allm&auml;hlich an den hohlen Wangen und sorgf&auml;ltig
+vern&auml;hten Flicken auf den Kleidern. Und doch
+a&szlig;en und tranken sie, als ob sie alle Tage satt w&uuml;rden.</p>
+
+<p>France sprach; stockend, sch&uuml;chtern, aber mit einem
+so warmen Ton in der Stimme, da&szlig; er alle gefangen
+nahm. Und dann wu&szlig;ten sie auch von ihm: &raquo;Unser
+<a name="Page_367" id="Page_367"></a>gro&szlig;er France,&laquo; fl&uuml;sterte stolz einer dem anderen zu,
+und ein paar kleine N&auml;hm&auml;dchen mit harten zerstochenen
+Fingern brachten ihm die Veilchenstr&auml;u&szlig;chen, die sie im
+G&uuml;rtel trugen.</p>
+
+<p>Als ich am n&auml;chsten Tage wieder bei der Arbeit sa&szlig;,
+war mein neuer Plan fix und fertig: &raquo;Haushaltungsgenossenschaften&laquo;
+nannte ich ihn. In den Arbeitervierteln
+der gro&szlig;en St&auml;dte sollte jede Mietskaserne mit
+einer Zentralk&uuml;che versehen sein, die den Bewohnern
+ihre Mahlzeiten liefert. In den H&auml;usern der Arbeiter-Baugenossenschaften
+m&uuml;&szlig;te der Anfang damit gemacht
+werden; Kinderkrippen und Kinderhorte zum Tagesaufenthalt
+der Mutterlosen sollten sich anschlie&szlig;en; die
+genossenschaftliche Wirtschaft, der Einkauf im Gro&szlig;en
+m&uuml;&szlig;te, so berechnete ich, die Kosten f&uuml;r die anzustellenden
+Arbeitskr&auml;fte aufbringen. Einsichtige Kommunen
+w&uuml;rden sich allm&auml;hlich bereit finden, solche, f&uuml;r
+die physische und moralische Gesundheit der Bev&ouml;lkerung
+&uuml;beraus wichtige H&auml;user selbst zu bauen. Mit der Befreiung
+von der doppelten Arbeitslast der Hauswirtschaft
+und der au&szlig;erh&auml;uslichen Erwerbsarbeit w&uuml;rde
+einer der wichtigsten Teile der Frauenfrage ihrer L&ouml;sung
+entgegengef&uuml;hrt werden. Und was f&uuml;r die Arbeiterin
+galt, das galt ebenso f&uuml;r die geistig t&auml;tige Frau. Ich
+war so erf&uuml;llt von meiner Idee, da&szlig; ich vor freudigem
+Herzklopfen n&auml;chtelang schlaflos blieb. Mit dieser Sache
+konnte ich bis zum Erscheinen meines Buches nicht
+warten. Gerade jetzt, wo das Problem der Erwerbsarbeit
+verheirateter Frauen auf der Tagesordnung stand,
+mu&szlig;te ich damit hervortreten.</p>
+
+<p>Ich schrieb an Wanda Orbin und teilte ihr mit, da&szlig;
+<a name="Page_368" id="Page_368"></a>ich an der Hand der neuesten Fabrikinspektorenberichte
+eine kurze Brosch&uuml;re &uuml;ber die f&uuml;r die Arbeiterinnenbewegung
+so wichtige Frage der Besch&auml;ftigung verheirateter
+Frauen in der Industrie schreiben wolle und von
+ihr nur erfahren m&ouml;chte, ob nicht etwa von anderer
+Seite &auml;hnliches geplant w&uuml;rde. Irgendwelche Details
+gab ich ihr nicht.</p>
+
+<p>Sie antwortete mir umgehend, da&szlig; sie selbst seit
+l&auml;ngerer Zeit mit der Bearbeitung der Frage besch&auml;ftigt
+sei. &raquo;Ich habe mich nunmehr entschlossen,&laquo; fuhr sie
+fort, &raquo;die einzelnen Teile meiner Arbeit als selbst&auml;ndige
+Brosch&uuml;ren erscheinen zu lassen, um sie weiteren Kreisen
+leichter zug&auml;nglich zu machen. Die erste enth&auml;lt die
+grunds&auml;tzliche Auseinandersetzung der Frage der Fabrikarbeit
+verheirateter Frauen und des gesetzlichen Arbeitterinnenschutzes,
+das Manuskript liegt im wesentlichen
+bereits fertig vor... Sie werden mir kaum zumuten,
+auf die Ver&ouml;ffentlichung zu verzichten, weil an
+anderer Stelle die Behandlung derselben Frage beabsichtigt
+wird...&laquo;</p>
+
+<p>Nein: ich dachte nicht daran, um so weniger, als
+es mir nichts genutzt haben w&uuml;rde. Ich wollte auch
+nicht mit Wanda Orbin in einen l&auml;cherlichen Konkurrenzkampf
+eintreten. Mochte ihre Schrift zuerst erscheinen, &mdash; mir
+w&uuml;rde nachher genug zu sagen &uuml;brig bleiben.</p>
+
+<p>W&auml;hrend der Monate, die wir noch in Paris verlebten,
+erschien sie jedoch nicht, und die verschiedenen
+Parteibuchhandlungen wu&szlig;ten nichts von ihr.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_369" id="Page_369"></a></p>
+
+<p>Schwer und grau hing der Winterhimmel &uuml;ber
+Paris. Zuweilen tanzten wei&szlig;e Flocken in
+der Luft, und dann schien's, als ob es hell
+werden wollte; aber die schmutzige Stra&szlig;e verschlang
+sie. Die Obst- und Gem&uuml;seauslagen, die im Sonnenschein
+sonst so bunt und lockend den Vor&uuml;bergehenden
+angelacht hatten, sahen welk und unappetitlich aus.
+Die kleinen M&auml;dchen mit den sch&ouml;nfrisierten K&ouml;pfchen,
+die vor kurzem noch lachend und kokettierend mit spitzen
+Hacken klappernd &uuml;ber das Pflaster getrippelt waren,
+liefen jetzt fr&ouml;stelnd ihres Wegs mit verfrorenen, mi&szlig;mutigen
+Gesichtern.</p>
+
+<p>Wer jetzt dicht am Kaminfeuer sitzen und tr&auml;umen
+k&ouml;nnte! Aber nach wie vor ging ich dieselben Wege
+durch alte enge Gassen und sa&szlig; mit eisigen F&uuml;&szlig;en
+in dunkeln Bureaus. Wu&szlig;te ich noch, da&szlig; es Paris
+war, in dem ich lebte? Lebte?!! War das wirklich
+Leben?! Hatte nicht am Ende auch mich die schmutzige
+Tagl&ouml;hnerstra&szlig;e verschlungen? Mich, die ich licht
+und frei sein wollte? Wenn wir abends zuweilen
+aus unserem stillen Stadtwinkel zum rechten Seineufer
+hin&uuml;bergingen, wo die Bogenlampen festlich
+zu strahlen beginnen, wo hinter gl&auml;nzenden Spiegelscheiben
+Juwelen und Spitzen und m&auml;rchenhaft schimmernde
+Gew&auml;nder prahlend ihre Sch&ouml;nheit entfalten
+und Equipagen und Automobile hin und wieder rollen,
+aus denen sch&ouml;ne Frauenk&ouml;pfe nicken und l&auml;cheln wie
+seltene Treibhausblumen hinter ihrem Glashaus, &mdash; nur
+zum Schmuck einer Nacht gez&uuml;chtet, &mdash; dann f&uuml;hlte
+<a name="Page_370" id="Page_370"></a>ich im verborgensten Winkel meines Herzens einen
+stechenden Schmerz.</p>
+
+<p>Am Eingang zum Opernhaus standen dicht gedr&auml;ngt
+arme junge M&auml;dels; sie warteten auf die eleganten
+Damen, die mit seidenbeschuhten F&uuml;&szlig;chen und langen
+Schleppen den Wagen entstiegen. Sie lie&szlig;en sich von
+den R&auml;dern mit Kot bespritzen, um vom Glanze des
+Lebens nur einen Schein zu erhaschen.</p>
+
+<p>Wir hatten bei einigen Parteigenossen Besuch gemacht, &mdash; auch
+bei Millerand, &mdash; und waren mit einer Liebensw&uuml;rdigkeit
+empfangen worden, als w&auml;ren wir l&auml;ngst erwartete
+alte Freunde. Aber es blieb bei ein paar f&ouml;rmlichen
+Einladungen mit oberfl&auml;chlichen allgemeinen Gespr&auml;chen.
+W&auml;hrend mein Mann einen unvereinbaren
+Gegensatz in dem Benehmen unserer Gastgeber empfand,
+f&uuml;hlte ich mich pl&ouml;tzlich in die Umgebung meiner Jugend
+zur&uuml;ckversetzt und verstand sie.</p>
+
+<p>Der Franzose ist ein geborener Aristokrat, er hat
+jene Kultur des Benehmens, jene Liebensw&uuml;rdigkeit
+der Form, die zugleich eine un&uuml;bersteigliche Mauer ist,
+hinter der sich das pers&ouml;nlich Menschliche verbirgt.</p>
+
+<p>Wir gerieten auch in einen literarischen Salon, dessen
+Herrin <em class="antiqua">tout Paris</em> um sich zu versammeln verstand. Sie
+war von unverw&uuml;stlicher Sch&ouml;nheit, und ihre K&uuml;che war
+ber&uuml;hmt. Als wir nach Hause gingen, war mein Mann
+befriedigt und angeregt und ich schlechter Laune. &raquo;Hast
+du dich denn nicht am&uuml;siert?&laquo; fragte er mich schlie&szlig;lich.</p>
+
+<p>&raquo;Ganz und gar nicht,&laquo; antwortete ich, &raquo;und wenn ich
+nicht f&uuml;rchten m&uuml;&szlig;te, da&szlig; meine Ehrlichkeit mich in
+deinen Augen herabsetzt,&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber Alix,&laquo; lachte er und zog meinen Arm fester
+<a name="Page_371" id="Page_371"></a>durch den seinen, &raquo;du wei&szlig;t, da&szlig; du mich immer entz&uuml;ckst,
+wenn du du selber bist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So will ich's drauf ankommen lassen und dir gestehen,
+da&szlig; ich die Rolle des unbeteiligten Zuschauers
+in jeder Gesellschaft, &mdash; und w&auml;re es die interessanteste, &mdash; unertr&auml;glich
+finde. Es ist ja sicher lehrreich, zu erfahren,
+da&szlig; der Wert der Frau in Paris mit dem Wert
+ihrer Kosmetik und ihrer Toilette steigt und f&auml;llt, aber
+da ich auf dem Gebiet nicht konkurrieren kann&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Heinrich lachte noch lauter. &raquo;Du liebe Eitelkeit, du,&laquo;
+war alles, was er sagte, w&auml;hrend die R&ouml;te der Besch&auml;mung
+mir noch auf den Wangen brannte.</p>
+
+<p>Ein andermal folgte ich der Einladung einer der
+f&uuml;hrenden Frauenrechtlerinnen in die Redaktion ihrer
+Zeitung. Ich bewunderte schon lange die Energie, mit
+der sie die Frauen &mdash; franz&ouml;sische Frauen! &mdash; zwang,
+die politischen Tagesereignisse zu verfolgen, und an
+der Seite der Zola und Jaur&egrave;s an dem Kampf f&uuml;r
+Dreyfus teilgenommen hatte. Ich erwartete unwillk&uuml;rlich
+<ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'ein'">eine</ins> typische Feministin: harte Z&uuml;ge, eckige Bewegungen,
+m&auml;nnliche Kleidung. Schon die R&auml;ume, die
+ich betrat, &uuml;berraschten mich; sie hatten alle das Aussehen
+und das Parf&uuml;m eines eleganten Boudoirs. Ein paar
+Damen gingen vor&uuml;ber, &mdash; sie h&auml;tten ebenso beim <em class="antiqua">five
+o'clock</em> im Grand Hotel erscheinen k&ouml;nnen. Dann kam
+die Leiterin selbst. Wenn sie mir bei Maxim begegnet
+w&auml;re, ich h&auml;tte mich nicht gewundert. Ihre Sch&ouml;nheit
+hatte trotz aller statuenhaften K&uuml;hle, &mdash; oder vielleicht
+gerade deshalb, &mdash; etwas Sieghaftes.</p>
+
+<p>&raquo;Je radikalere Feministen wir sind, desto st&auml;rker
+m&uuml;ssen wir unser Weibsein betonen,&laquo; sagte sie im Lauf
+<a name="Page_372" id="Page_372"></a>des Gespr&auml;chs. Ich stimmte ihr lebhaft zu und dachte
+an ihre deutschen Gesinnungsgenossinnen, die den Gegensatz
+zwischen der Weltdame und der Frauenrechtlerin
+nicht genug glaubten zeigen zu m&uuml;ssen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie vergessen nur eins,&laquo; fuhr ich fort. &raquo;Die
+Pflege der Sch&ouml;nheit kostet Zeit und Geld. Und die
+eigentlichen Tr&auml;gerinnen der Frauenbewegung, die
+Frauen, die heute im Kampf ums Dasein stehen, haben
+keins von beiden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Darum m&uuml;ssen wir es ihnen schaffen,&laquo; warf sie lebhaft
+ein und f&uuml;hrte mich, um ihre eigene T&auml;tigkeit nach
+dieser Richtung zu illustrieren, in den Setzersaal, wo
+lauter junge M&auml;dchen besch&auml;ftigt waren. Unter den
+gro&szlig;en Sch&uuml;rzen lugten zierliche Kleider hervor, die
+h&uuml;bschen Lockenk&ouml;pfchen h&auml;tten h&ouml;heren T&ouml;chtern geh&ouml;ren
+k&ouml;nnen. Ihre Augen folgten mit schw&auml;rmerischer Bewunderung
+der stolzen Gestalt ihres weiblichen Chefs,
+die sich, umgeben von Veilchenduft, mit einem leisen
+Wiegen in den H&uuml;ften durch ihre Reihen bewegte. Ich
+h&ouml;rte sp&auml;ter, sie sei eine <em class="antiqua">grande amoureuse</em>, eine von
+jenen, deren Herzen kalt bleiben, wenn ihre Sinne
+gl&uuml;hen. &raquo;Ihre Mittel sind unersch&ouml;pflich,&laquo; sagte man
+mir mit einem vielsagenden L&auml;cheln. Mich interessierte
+dieser Typus, der mir in Deutschland nicht w&uuml;rde begegnen
+k&ouml;nnen. Ich versuchte, ihr n&auml;her zu treten.
+Doch auch sie blieb stets dieselbe: geistvoll, liebensw&uuml;rdig, &mdash; aber
+unnahbar.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_373" id="Page_373"></a></p>
+
+<p>Unser Pariser Aufenthalt neigte sich seinem Ende
+zu. Mein Buch war fast fertig. Es fing
+schon an, sich von mir loszul&ouml;sen und vor mir
+zu stehen wie etwas Fremdes, nicht mehr zu mir Geh&ouml;riges,
+mit dem ich auch innerlich abgeschlossen hatte.
+Es war wie eine erstiegene H&ouml;he, von der aus ich nun
+weiter gehen mu&szlig;te. Meine Gedanken kreisten immer
+enger um die neue Aufgabe, die wir uns gestellt hatten.
+Meine Hoffnungen, gen&auml;hrt von der Liebe zu meinem
+Mann, der seine Lebensbestimmung glaubte gefunden
+zu haben, &uuml;bert&ouml;nten die leise warnenden Stimmen
+meines Inneren.</p>
+
+<p>&raquo;Du kannst nur schaffen, wenn du dich selbst behauptest,&laquo;
+sagten sie.</p>
+
+<p>&raquo;Du wirst die Sache zum Siege f&uuml;hren, wenn du
+dich selbst hingibst,&laquo; frohlockte die Hoffnung.</p>
+
+<p>Ich glaubte ihr.</p>
+
+<p>Heinrich fuhr voraus nach Berlin. Ich erinnerte
+mich w&auml;hrend der letzten acht Tage, da&szlig; ich in Paris
+war. Mein Junge jubelte, weil er nun jeden Morgen
+mit &raquo;Mamachen&laquo; gehen durfte. Die Berta hatte auf
+ihren Spazierg&auml;ngen mit ihm viel mehr gesehen als ich;
+der kleine Bub wurde mir zum F&uuml;hrer. Er kam sich
+dabei sehr wichtig vor. Zuerst zog er mich in atemloser
+Eile durch die Tuilerien hindurch zu &raquo;der Frau,
+die ein Soldat war&laquo;. Ich l&auml;chelte: war es doch
+meiner fr&uuml;hsten Kindheit Traum gewesen, das Vaterland
+zu befreien wie sie! Stolz und siegessicher, Frankreichs
+Fahne fest in der Hand, erhob sich ihr Standbild
+vor mir; sie war den Stimmen in ihrer Brust gefolgt, &mdash; unbeirrt;
+<a name="Page_374" id="Page_374"></a>aus dem Scheiterhaufen, der ihren
+Leib verzehrte, erhob sie sich nur noch gr&ouml;&szlig;er.</p>
+
+<p>&raquo;Die Jungfrau von Orleans, &mdash; ist das ein M&auml;rchen?&laquo;
+fragte der Kleine, als ich ihm die Geschichte erz&auml;hlt hatte,
+und sah mit nassen Augen zu der Reiterin empor.</p>
+
+<p>&raquo;Nein, es ist Wahrheit,&laquo; antwortete ich.</p>
+
+<p>&raquo;Warum verbrannten sie denn die b&ouml;sen Menschen?&laquo;
+Auf seine glatte Kinderstirn gruben sich tiefe Falten des
+Zornes.</p>
+
+<p>&raquo;Sie vertragen nur, was ihresgleichen ist,&laquo; sagte ich
+leise, wie zu mir selbst.</p>
+
+<p>Unter der hohen Kuppel des Invalidendomes standen
+wir miteinander. Ein breiter Strom bl&auml;ulichen Lichtes
+entsprang ihr und wogte tief unten um den roten Porphyr,
+der des gro&szlig;en Korsen Gebeine umschlie&szlig;t. Der
+Gang ringsum, die Kapellen zur Seite schienen im
+D&auml;mmer zur&uuml;ckzutreten. Mit leiser Stimme erz&auml;hlte
+ich von dem armen Knaben aus Ajaccio, der, seinem
+Sterne getreu, die Welt eroberte, der das Testament
+der Revolution vollzog, und der auf der Felseninsel im
+Weltmeer starb &mdash; in Ketten.</p>
+
+<p>&raquo;Auch weil &mdash; weil&nbsp;&mdash;&laquo; das Kind neben mir suchte
+nach den Worten, deren Sinn er nicht verstanden hatte;
+&raquo;weil er zu gro&szlig; war f&uuml;r die anderen,&laquo; erg&auml;nzte ich.</p>
+
+<p>Am letzten Tage vor unserer Abreise k&auml;mpfte der erste
+Fr&uuml;hlingssonnenschein mit den schwarzgrauen Regenwolken;
+gr&uuml;ne Spitzchen lugten neugierig an B&uuml;schen
+und B&auml;umen aus braunen H&uuml;llen hervor; die Kinder
+mit den langen gedrehten Locken bev&ouml;lkerten wieder die
+G&auml;rten.</p>
+
+<p>Ich war stundenlang im Louvre gewesen. Ich hatte
+<a name="Page_375" id="Page_375"></a>die Menschen, die Welt, die Jahrhunderte durch die
+Augen der Gr&ouml;&szlig;ten aller Zeiten gesehen und f&uuml;hlte
+meinen Geist heller, mein Herz w&auml;rmer werden. In der
+Kunst kommt es nicht darauf an, wie die Welt ist, sondern
+wie die Augen sind, die sie betrachten. Nur der
+K&uuml;nstler hat recht, dem sie immer Objekt bleibt, der im
+H&auml;&szlig;lichen noch das Sch&ouml;ne, im B&ouml;sen das Menschliche
+findet.</p>
+
+<p>Und nun, zum Abschied, nahm ich noch einmal den
+Kleinen mit mir.</p>
+
+<p>&raquo;Zur G&ouml;ttin der Griechen wollen wir,&laquo; sagte ich ihm,
+&raquo;die Odysseus und Achilles anbeteten.&laquo;</p>
+
+<p>Die Leute drehten sich um, l&auml;chelnd, spottend, entr&uuml;stet,
+als sie mich mit dem Kind an der Hand durch
+die S&auml;le gehen sahen, bis dahin, von wo der Venus
+von Milo wei&szlig;e Gestalt uns entgegenleuchtete.</p>
+
+<p>&raquo;Warum beten die Menschen nicht?&laquo; fl&uuml;sterte mein
+Sohn, der die M&uuml;tze vom K&ouml;pfchen gezogen hatte.</p>
+
+<p>In einsamer Herrlichkeit stand sie vor uns, im Bewu&szlig;tsein
+ihrer Macht und Sch&ouml;ne, zeitlos, beziehungslos.
+Ihr Blick schweifte hinweg &uuml;ber die Menge, gleichg&uuml;ltig,
+ob sie ihr Opfer z&uuml;ndete oder die Linien ihres
+K&ouml;rpers mit dem Zirkel ma&szlig;. Sie herrschte, sie begeisterte
+und belebte, nicht weil sie vom Sockel stieg in
+den Dienst der Massen, sondern weil sie vollendet war
+in sich.</p>
+
+<p>Droben in den S&auml;len hingen die Bilder aller derer,
+die die Menschen, denen sie dienten, gekreuzigt hatten:
+die Heiligen, die Madonnen, die Christuskinder. Sollte
+der Zweck des Daseins nicht doch der Olymp der Griechen
+und nicht der Himmel der Christen sein?</p>
+
+<p><a name="Page_376" id="Page_376"></a>Ich strich mit der Hand &uuml;ber die Stirn. Es war
+etwas wach geworden in mir, das schlafen mu&szlig;te.</p>
+
+<p>Ein weiches H&auml;ndchen nestelte sich in das meine:
+&raquo;Warum hat die G&ouml;ttin keine Arme, Mamachen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Zur Strafe, weil sie die Menschen nicht festhielt,
+die ihrem Tempel entliefen.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_377" id="Page_377"></a></p>
+<h2><a name="Elftes_Kapitel" id="Elftes_Kapitel"></a>Elftes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Es war ein Sonntag, als wir Berlin wiedersahen.
+Mir schien, als w&auml;ren wir Fremde.
+Wie klein, wie armselig war das alles: die
+Linden mit ihren kraftlosen B&auml;umen und stillosen H&auml;usern,
+der Pariser Platz mit seiner bedr&uuml;ckenden Engigkeit. Und
+die neuen Stadtteile: eine gute B&uuml;rgersfrau, die sich
+herausgeputzt hat, und das bi&szlig;chen echte Kultur, das sie
+besa&szlig;, dar&uuml;ber vollends verlor. Dazwischen die Feiertagsbummler:
+Der Kontrast zwischen ihrer kreischenden
+Lautheit in T&ouml;nen und Farben und dem matten Grau
+des M&auml;rztages tat Augen und Ohren weh.</p>
+
+<p>&raquo;Ich m&ouml;chte wissen, wo ich zu Hause bin,&laquo; seufzte
+ich und legte mich abends mit jenem Gef&uuml;hl innerer
+Leerheit schlafen, das uns zuweilen &uuml;berkommt, wenn
+wir eine Staatssoir&eacute;e hinter uns haben. Mir tr&auml;umte
+von einem riesigen Wasserfall. Noch im Halbschlaf am
+Morgen h&ouml;rte ich sein Rollen und Rauschen, und je
+wacher ich wurde, desto st&auml;rker schwoll es an. Vom
+Potsdamer Platz herauf klang es; Stra&szlig;enbahnen, Omnibusse,
+Lastwagen, eilende Menschenf&uuml;&szlig;e waren die Instrumente
+dieses Konzertes; Berlin ging auf Arbeit.
+Da war kein Winkel ohne Leben.</p>
+
+<p>Dr&uuml;ben in der Leipzigerstra&szlig;e waren unter der Spitzhacke
+alte Mauern zusammengebrochen, und sieghaft er<a name="Page_378" id="Page_378"></a>hob
+sich jetzt, von Riesengranitpfeilern getragen, ein
+m&auml;chtiges Warenhaus, wie selbst Paris es nicht kannte,
+aus dem m&auml;rkischen Sand. Kein Basar, dessen Bau
+Gotik, Barock und Renaissance durcheinanderwirft, wie
+seine reklameschreienden Schaufenster die Waren, &mdash; ein
+St&uuml;ck neuer Kultur vielmehr, die die Sch&ouml;nheit der
+Zweckm&auml;&szlig;igkeit erkannte und doch allen Zauber der
+Kunst &uuml;ber sie ausgo&szlig;. Die Menschen str&ouml;mten aus
+und ein. Sie trugen von all jenen gl&auml;nzenden Goldblumen
+und k&ouml;stlichen Steinreliefs, die seine inneren
+R&auml;ume schm&uuml;ckten, von den farbenleuchtenden Onyxplatten
+und gemalten Holzdecken, von den Feuertropfen
+und Lichtgirlanden einen Schimmer von Sch&ouml;nheit mit
+sich nach Haus.</p>
+
+<p>Jenseits des Platzes waren Baumriesen gest&uuml;rzt, denn
+dem Verkehr mu&szlig;te die Stra&szlig;e sich weiten, und an der
+Peripherie der Stadt standen reihenweise die Holzger&uuml;ste,
+wie gewaltige Pallisaden, &mdash; Zeichen daf&uuml;r, da&szlig; das
+alte Kleid ihrem Riesenleibe zu eng wurde.</p>
+
+<p>Ein Empork&ouml;mmling ist sie, &mdash; gewi&szlig;! Aber keiner,
+den das Gl&uuml;ck aufw&auml;rts trug. Vielmehr einer, der sich
+durch die Kraft seiner F&auml;uste den Weg bahnte.</p>
+
+<p>Wie die Menschen liefen und hasteten! Sie kannten
+jenes gem&auml;chliche Schlendern nicht, mit dem L&auml;cheln der
+Behaglichkeit auf den Lippen und kokettierenden Blicken
+hin und her. Aller Z&uuml;ge schienen gespannt von nerv&ouml;ser
+Eile, von sorgender Angst, von lastenden Gedanken.</p>
+
+<p>Klingendes Spiel, feste Schritte im Takt k&uuml;ndeten
+das Nahen von Soldaten. Der Verkehr stockte. Wo in
+Preu&szlig;en die bewaffnete Macht erscheint, geh&ouml;rt ihr die
+Stra&szlig;e. Und hypnotisiert durch den Marsch, durch die<a name="Page_379" id="Page_379"></a>
+Masse, durch wehende Federb&uuml;sche und blinkende Uniformen,
+dr&auml;ngte jung und alt ihr nach, ihr voran.</p>
+
+<p>Die Alexander-Grenadiere bezogen heute ihre neue
+Kaserne: in n&auml;chster N&auml;he des Schlosses war sie errichtet
+worden, eine Zwingburg mit Mauern und Schie&szlig;scharten;
+und vom Lustgarten aus f&uuml;hrte der Kaiser
+selbst seine Garde dem neuen Heime zu, w&auml;hrend die
+Polizei in weitem Bogen das gaffende Volk beiseitedr&auml;ngte,
+damit der Herrscher allein blieb mit seinen
+Truppen. &raquo;Ihr seid die Leibwache eures K&ouml;nigs,&laquo; sagte
+er, &raquo;und wenn diese Stadt noch einmal wie Anno 48
+sich wider ihn erheben wird, so seid ihr berufen, die
+Frechen und Unbotm&auml;&szlig;igen mit der Spitze eurer Bajonette
+zu Paaren zu treiben.&laquo;</p>
+
+<p>F&uuml;rwahr, wenn ich mich bis jetzt wie in einem Traum
+befunden hatte, nun wu&szlig;te ich: wir waren in Berlin.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wir gingen mittags zu Erdmanns. Sie waren
+erst k&uuml;rzlich von einer langen Seereise zur&uuml;ckgekehrt,
+die der Arzt ihnen verordnet
+hatte, und schienen, nach den Briefen meiner Schwester
+zu schlie&szlig;en, befriedigt von ihrem Erfolg. Und nun
+standen sie mir gegen&uuml;ber, so anders als ich sie verlassen
+hatte. Scharf und eckig traten die Backenknochen
+aus meines Schwagers Gesicht hervor, sein Anzug
+hing um ihn, als w&auml;re sein K&ouml;rper nichts als ein
+Knochenger&uuml;st. Nur sein Geist schien lebensvoller als
+je und spr&uuml;hte Funken. Das Schwesterchen dagegen
+war ebenso still, wie sie bla&szlig; und schmal war. Wo
+war das runde Kindergesicht und die gl&auml;nzenden Augen?<a name="Page_380" id="Page_380"></a>
+Seltsam: auch aus ihren Haaren war der Goldschimmer
+verschwunden; es lag wie Asche auf ihnen. Die einstmals
+lauter W&auml;rme ausstr&ouml;mte, hatte eine Atmosph&auml;re
+abweisender K&uuml;hle um sich. Ihre Lippen glichen jetzt
+denen meiner Mutter: scharf, schmal, blutlos. Ich sah,
+da&szlig; sie sich mir nicht &ouml;ffnen w&uuml;rden, und forschte in
+ihren Z&uuml;gen; aber auch sie blieben verschlossen. Ob sie
+ungl&uuml;cklich war, weil sie kein Kind hatte? Erdmann
+spielte stundenlang mit meinem Buben, w&auml;hrend sie ihn
+kaum mit einem Blick streifte. Wir sprachen von der
+Mutter, die den Winter in Italien verlebt hatte und
+Briefe schrieb wie ein junges M&auml;dchen, das zum erstenmal
+in die Welt sieht.</p>
+
+<p>&raquo;Sie ist gl&uuml;cklich, seitdem sie allein ist,&laquo; sagte Ilse.
+Ein flehender, gequ&auml;lter Blick ihres Mannes traf sie.</p>
+
+<p>&raquo;Was spielst du jetzt?&laquo; fragte ich, zum Fl&uuml;gel deutend,
+um das Gespr&auml;ch abzulenken.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe die Musik aufgegeben, sie macht mich
+nerv&ouml;s,&laquo; antwortete sie.</p>
+
+<p>&raquo;Auch die Oper??&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die erst recht! Die offenen M&auml;uler und gespreizten
+Arme all der dicken Ten&ouml;re und Primadonnen zerst&ouml;ren
+jeden Rest von Illusion. Man kann sie bestenfalls ertragen,
+wenn man geschlossenen Auges zuh&ouml;rt. Aber
+da man immer den &uuml;brigen P&ouml;bel um sich hat &mdash;&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Sie unterbrach sich und sch&uuml;rzte ein wenig sp&ouml;ttisch
+die Lippen: &raquo;Ach so, &mdash; entschuldige! Ich verga&szlig;, da&szlig;
+ich euer proletarisches Empfinden kr&auml;nken k&ouml;nnte.&laquo;</p>
+
+<p>Erdmann lachte. &raquo;Nun &mdash; nun,&laquo; meinte er beg&uuml;tigend,
+&raquo;der P&ouml;bel des Parketts d&uuml;rfte doch auch in
+euren Augen mit dem Proletariat nicht identisch sein.<a name="Page_381" id="Page_381"></a>
+&Uuml;brigens bin ich mit Ilse einer Meinung: der Zirkus
+und das &Uuml;berbrettl sind f&uuml;r unsereins allein noch ertr&auml;glich.
+Hohe Kunst auf der B&uuml;hne ist verletzend f&uuml;r
+Menschen von Kultur. Man sollte daf&uuml;r Marionettentheater
+schaffen, oder sechsfache Schleier vor die Darsteller
+h&auml;ngen, damit sie wie Schatten wirken.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Unvergleichliche Wirkungen m&uuml;&szlig;ten sich dadurch erzielen
+lassen,&laquo; sagte Ilse, etwas lebhafter werdend,
+&raquo;zum Beispiel mit herrlichen Sachen, wie diesen hier.&laquo;
+Sie wies auf das neuste Heft der Bl&auml;tter f&uuml;r die Kunst,
+das dramatische Gedichte von Sch&uuml;lern Stefan Georges
+enthielt.</p>
+
+<p>&raquo;Ich lese sie noch immer nicht,&laquo; entgegnete ich l&auml;chelnd;
+&raquo;weniger denn je kann ich heute die hochm&uuml;tige Abkehr
+vom Leben vertragen, die das Kennzeichen all dieser
+Menschen ist. Sie berauschen sich am Klang der Sprache
+und bekommen, wenn es zu handeln gilt, zittrige H&auml;nde
+wie Absinthtrinker.&laquo;</p>
+
+<p>Wir gerieten in eine Debatte, die sich immer sch&auml;rfer
+zuspitzte. Ilse bekam hei&szlig;e Wangen und mitten im Gespr&auml;ch
+einen heftigen Hustenanfall, der mich angstvoll
+aufhorchen lie&szlig;. Erdmann sah in diesem Augenblick
+wie verst&ouml;rt drein. Und wie um gewaltsam den Eindruck
+abzusch&uuml;tteln, beschlo&szlig; er, uns durch den Tiergarten
+zum Hotel zur&uuml;ckzubegleiten.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin zu m&uuml;de&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte Ilse.</p>
+
+<p>&raquo;In der frischen Luft wirst du schon munter werden,&laquo;
+damit dr&auml;ngte er sie hinaus.</p>
+
+<p>Wir begegneten vielen Menschen, die Erdmanns
+gr&uuml;&szlig;ten. Das stimmte ihn fr&ouml;hlich. &raquo;Lauter Leute, die
+ich einrichte,&laquo; sagte er. &raquo;Wenn ich erst all den Berlin-W.-<a name="Page_382" id="Page_382"></a>Protzen
+zu anst&auml;ndigem Wohnen verholfen haben werde,
+kann ich den ganzen Kram an den Nagel h&auml;ngen und
+Pinsel und Palette wieder vorholen. Was, mein kleines
+Ilschen?!&laquo; Und z&auml;rtlich schob er seinen Arm in den
+ihren. Aber sie senkte den Kopf nur noch tiefer.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Als die Mutter zur&uuml;ckkehrte, &auml;u&szlig;erlich und innerlich
+verwandelt, frisch und strahlend, dabei
+mit gesteigertem Lebensdurst, der sich auf alles
+st&uuml;rzte, was sich ihr bot, lag Erdmann fiebernd zu Bett.</p>
+
+<p>&raquo;Er wird sich erholen, sobald es warm wird,&laquo; sagte
+sie zuerst, und erz&auml;hlte voll freudigem Eifer von ihren
+schweizer Sommerpl&auml;nen. Ein paar Tage sp&auml;ter sah
+ich sie wieder: gerade, steif, mit zusammengekniffenen
+Lippen, wie damals, als der Vater noch lebte. Die
+&Auml;rzte hatten sie aufgekl&auml;rt. Erdmann hatte die Schwindsucht,
+Ilse schien angesteckt.</p>
+
+<p>Wir nahmen Abschied von Erdmanns. Sie sollten
+in ein heidelberger Sanatorium &uuml;bersiedeln. Die seidene
+Decke, unter der er lag, bauschte sich kaum sichtbar
+&uuml;ber dem K&ouml;rper; die mageren Finger f&uuml;hrten eifrig
+den langen Bleistift &uuml;ber das Papier auf seinem
+Scho&szlig;. &raquo;Ich mu&szlig; doch f&uuml;r Prinzessin Ilse Geld verdienen,&laquo;
+und ein leidenschaftlicher Blick traf die sch&ouml;ne
+junge Frau, die ihm mit gesenkten Lidern, ruhig und
+pflichttreu, die Arznei zum Munde f&uuml;hrte.</p>
+
+<p>Ich k&auml;mpfte mit den Tr&auml;nen, als ich nach Hause
+kam. Nicht nur, weil meine Schwester in einem Augenblick,
+wo ich sie ungl&uuml;cklich wu&szlig;te, mir fremd, fast feindselig
+gegen&uuml;berstand, sondern weil sie das Opfer einer<a name="Page_383" id="Page_383"></a>
+Ehe war, von der ich sie vielleicht h&auml;tte zur&uuml;ckhalten
+k&ouml;nnen. Ich empfand ihre K&uuml;hle wie einen Vorwurf.</p>
+
+<p>&raquo;Vor Kinderschmerzen hast du mich einst geh&uuml;tet,&laquo;
+schienen ihre Augen zu klagen, &raquo;warum hast du mich
+vor dem schlimmsten nicht bewahrt?&laquo; Und wenn sie
+meinen Buben geflissentlich &uuml;bersah, so wu&szlig;te ich, was
+sie damit sagen wollte: &raquo;Du hast mich &uuml;ber ihm vergessen.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Unser Einzug in die neue Wohnung, &mdash; einem
+Gartenhaus der Uhlandstra&szlig;e, &mdash; war kein
+fr&ouml;hlicher. All die tausenderlei Dinge, die
+mit ihm zusammenhingen, vom Ausl&ouml;sen der M&ouml;bel auf
+dem Speicher bis zu den L&ouml;hnen der Handwerker, hatte
+unser letztes Geld verschlungen.</p>
+
+<p>&raquo;So mach dir doch nichts draus, &mdash; qu&auml;le nicht dich
+und mich mit unn&uuml;tzen Sorgen,&laquo; rief Heinrich heftig,
+als ich ihm unsere Lage auseinandersetzte. Ich schwieg
+verletzt. Er war wie ein geistig Weitsichtiger, der das
+N&auml;chste nicht sieht, dem immer nur das Ferne gegenw&auml;rtig
+ist. Der Plan seiner Zeitschrift beherrschte ihn
+v&ouml;llig. So mu&szlig;te ich mir selber helfen. Ich bat den
+Verleger meines Buches um mein Honorar. Er erf&uuml;llte
+meinen Wunsch ohne weiteres. Heinrich aber wunderte
+sich nicht einmal, wieso ich pl&ouml;tzlich Geld hatte. F&uuml;r
+ihn schienen die pekuni&auml;ren Seiten des Lebenskampfes
+nicht zu existieren, mir dagegen nahmen sie alle Schwungkraft
+und machten mich bis zur Grausamkeit bitter
+gegen ihn. Bat ihn jemand um ein Almosen oder um
+ein Darlehn, so gab er, was er in der Tasche hatte.<a name="Page_384" id="Page_384"></a>
+Wagte ich einen leisen Vorwurf, so gruben sich seine
+Stirnfalten noch tiefer, und es kam immer h&auml;ufiger
+vor, da&szlig; er mir mit einem: &raquo;Sieh lieber, da&szlig; deine
+Berta dich nicht betr&uuml;gt!&laquo; antwortete. Dann erst war
+die Entzweiung eine vollkommene. Nichts schien mir
+ungerechter, als dieses M&auml;dchen zu verd&auml;chtigen, das
+sich f&uuml;r uns aufopferte und nicht einmal eine Aufw&auml;rterin
+zu ihrer Hilfe zulie&szlig;. Da&szlig; sie allm&auml;hlich in
+ihrem Aussehen und Benehmen zu einem &raquo;Fr&auml;ulein&laquo;
+geworden war, schien mir im Interesse meines Jungen
+nur vorteilhaft, w&auml;hrend Heinrich es als Folge meiner
+Verw&ouml;hnung ansah und behauptete, ich verd&uuml;rbe nur
+das einst so schlichte Bauernm&auml;dchen.</p>
+
+<p>Lange freilich w&auml;hrten unsere gegenseitigen Verstimmungen
+nie. Vor den klaren Augen unseres Kindes,
+denen nichts entging, sch&auml;mten wir uns ihrer. Seine
+Jugend sollte nicht durch den Unfrieden seiner Eltern
+vergiftet werden, wie die meine.</p>
+
+<p>&raquo;Nu lach doch wieder ein ganz kleines bi&szlig;chen!&laquo;
+Damit kletterte er schmeichelnd auf seines Vaters Knie.
+&raquo;Nich wahr, Mamachen, du gibst dem Heinzpapa gleich
+einen dicken, runden Ku&szlig;!&laquo; Damit lief er zu mir und
+legte das weiche B&auml;ckchen z&auml;rtlich an meine Wange.</p>
+
+<p>Waren wir so vers&ouml;hnt, so f&uuml;hlten wir den Stachel
+nicht, der sich trotzdem immer tiefer in unsere Herzen
+bohrte.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_385" id="Page_385"></a></p>
+
+<p>Gleich nach unserer Ankunft hatte ich den Genossinnen
+meine R&uuml;ckkehr mitgeteilt. Auch
+das war der Anla&szlig; zu einer kleinen Auseinandersetzung
+zwischen uns gewesen.</p>
+
+<p>&raquo;Willst du dich wirklich wieder in die unfruchtbare
+Arbeit st&uuml;rzen?!&laquo; sagte mein Mann &auml;rgerlich.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig;,&laquo; entgegnete ich mit jener Gereiztheit, die
+mich immer &uuml;berkam, wenn ich meine pers&ouml;nliche Freiheit
+durch ihn gef&auml;hrdet glaubte. &raquo;Ich sehe die Frauenbewegung
+mehr denn je als das Gebiet an, auf dem
+ich wirken mu&szlig;.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du wirst in unserer Zeitschrift genug f&uuml;r sie tun
+k&ouml;nnen, &mdash; mehr als in eurem Kaffeekr&auml;nzchen!&laquo;</p>
+
+<p>Ich zuckte sp&ouml;ttisch die Achseln und meinte gedehnt:
+&raquo;Wenn ich darauf warten soll!&laquo; Im selben Moment
+aber bereute ich schon, ihn an seiner empfindlichsten
+Stelle verletzt zu haben. Es lag wahrhaftig nicht an
+ihm, wenn seine Idee noch nicht verwirklicht war.</p>
+
+<p>Unsere Gesinnungsgenossen, mit Einschlu&szlig; von Bernstein,
+der sie noch von London aus in Briefen an
+meinen Mann lebhaft begr&uuml;&szlig;t hatte, stimmten ihr r&uuml;ckhaltlos
+zu, aber es fand sich niemand, der auch nur
+einen Pfennig f&uuml;r sie gegeben oder sich sonst um ihre
+Ausf&uuml;hrung bem&uuml;ht h&auml;tte. Da&szlig; auch dies nur ein
+Symptom f&uuml;r die Uneinigkeit und Unklarheit des Revisionismus
+war, empfand jeder von uns. Eine Bewegung
+war vorhanden, aber es fehlte ihr die starke Hand
+eines F&uuml;hrers, der sie zusammenzufassen und ihr Richtung
+zu geben vermag. Wir erwarteten f&uuml;r die Sache
+wie f&uuml;r unseren Plan, der ja nur in ihren Diensten
+<a name="Page_386" id="Page_386"></a>stehen sollte, von dem pers&ouml;nlichen Eingreifen Bernsteins
+nicht wenig.</p>
+
+<p>An einem Maienabend des Jahres 1901, dessen Luft
+vom Brodem lebensschwangerer Erde so ges&auml;ttigt war,
+da&szlig; er selbst mitten in der steinernen &Ouml;de der Stadt
+f&uuml;hlbar wurde, dr&auml;ngten sich die Menschenmassen in
+einem engen Saal dicht zusammen; sie trugen in ihren
+Haaren und Kleidern den Duft des Fr&uuml;hlings mit
+herein, und der ganze Raum schien erf&uuml;llt von seinem
+Fieber. Es waren keine Arbeiter. Aber die intellektuelle
+Jugend war es. Besann sie sich endlich auf sich
+selbst? War sie im Begriff, Ideale aufzurichten, die
+einer gro&szlig;en Kraft und eines gro&szlig;en Kampfes w&uuml;rdig
+waren? Die sozialwissenschaftliche Studentenvereinigung
+Berlins hatte diese Versammlung einberufen und
+Eduard Bernstein zum Redner gew&auml;hlt. Ihre ber&uuml;hmtesten
+Lehrer sa&szlig;en unter ihnen, dazwischen die
+politischen F&uuml;hrer jener Linken, &mdash; die Barth, die Naumann,
+die Gerlach, &mdash; die, abgesto&szlig;en von allen anderen
+b&uuml;rgerlichen Parteien, zwischen ihnen und der Sozialdemokratie
+die unfruchtbare Rolle des Puffers spielte.
+Sie alle hofften, &mdash; bewu&szlig;t oder unbewu&szlig;t, &mdash; da&szlig;
+dieser Abend irgendeine Quelle erschlie&szlig;en w&uuml;rde, an
+der sie nicht nur ihren Durst stillen k&ouml;nnten, sondern
+deren Wasser sich zum Strome weiten und alle ihre
+irrenden Schiffe zu tragen verm&ouml;chten.</p>
+
+<p>&raquo;Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus m&ouml;glich?&laquo;
+lautete die Frage, auf die Bernstein die Antwort geben
+wollte. Er trat an das Rednerpult. Hinter den
+Brillengl&auml;sern sahen seine kurzsichtigen Augen mit einem
+verlegen-erstaunten Blick auf die Menge der Zuh&ouml;rer.<a name="Page_387" id="Page_387"></a>
+Dann sprach er. Mit einer Stimme, die br&uuml;chig klang.
+In abgehackten S&auml;tzen. Ein Mann, der an die Enge
+der Studierstube gewohnt war, nicht an die Volksversammlung.
+Schon zog der Schatten der Entt&auml;uschung
+&uuml;ber den hoffnungsfrohen Glanz auf den Gesichtern.
+Sch&uuml;chtern und leise tauchte hie und da
+schon die Frage auf: &raquo;Was hat er eigentlich? &mdash; Was
+will er?&laquo;</p>
+
+<p>Da&szlig; der Sozialismus von spekulativem Idealismus
+erf&uuml;llt und darum nicht Wissenschaft sei, die im voraussetzungslosen
+Streben nach Erkenntnis bestehe; da&szlig;
+die Arbeiterbewegung vom Wollen eines bestimmten
+Zieles, vom Glauben an ein bestimmtes Zukunftsbild
+getragen sei und nicht vom Wissen, &mdash; es war kaum
+m&ouml;glich, aus der langen Rede etwas anderes herauszuh&ouml;ren,
+als diese wenigen, f&uuml;r den Ausgangspunkt
+einer neuen Bewegung viel zu negativen Gedanken.</p>
+
+<p>Zuweilen schien es, als ob der Vortrag nichts w&auml;re
+als das laut gewordene Gr&uuml;beln eines Menschen &uuml;ber
+Dinge, die ihn selbst noch als Probleme qu&auml;len. Er
+war so mit sich besch&auml;ftigt, da&szlig; er nicht f&uuml;hlte,
+jener elektrische Strom, der ihn zuerst mit den Zuh&ouml;rern
+verband, sich mehr und mehr verfl&uuml;chtigte, statt da&szlig; er
+ihn benutzt h&auml;tte, um die unersch&uuml;tterten, befreienden
+Gedanken des Sozialismus diesen offenen Seelen einzupr&auml;gen,
+ihnen den Willen zur Tat zu vermitteln, nach
+dem ihre junge Kraft sich sehnte.</p>
+
+<p>Wir hatten einen K&uuml;nder neuer Wahrheit erwartet,
+und ein Zweifler war gekommen, dem des Pontius Pilatus
+Frage Geist und Gewissen bewegte.</p>
+
+<p>Ein feiner durchdringender Regen rieselte hernieder,
+<a name="Page_388" id="Page_388"></a>als wir den Saal verlie&szlig;en. Mich fr&ouml;stelte. Ich w&auml;re
+am liebsten still nach Hause gegangen.</p>
+
+<p>&raquo;Nun?! In diesem zweieinhalbst&uuml;ndigen Redeflu&szlig; sind
+Ihnen wohl alle Felle weggeschwommen?&laquo; sagte eine
+sarkastische Stimme neben mir. Ich sah in Rombergs
+l&auml;chelndes Gesicht und machte eine abwehrende Bewegung;
+mir war nicht zum Scherzen zumute. &raquo;Und
+nun rasch, kommen Sie beide mit, in irgend einen gem&uuml;tlichen
+Winkel. Wir haben uns eine Welt zu erz&auml;hlen;&laquo;
+damit versuchte er, einen Weg durch die Menge
+zu bahnen. Seine aufrichtige Freude &uuml;ber unser Wiedersehen
+tat mir in diesem Augenblick, in dem ich so viel
+verloren zu haben glaubte, doppelt wohl.</p>
+
+<p>&raquo;Lassen wir's heute,&laquo; meinte mein Mann mi&szlig;mutig,
+&raquo;wir w&uuml;rden nur Ihre gute Laune verderben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Oder ich Ihre schlechte, da meine die dauerhaftere
+ist,&laquo; lachte Romberg.</p>
+
+<p>Wir gingen zusammen in eins der zun&auml;chst gelegenen
+Restaurants, aber der &raquo;gem&uuml;tliche Winkel&laquo;, den wir
+uns aussuchten, wurde rasch zum Kriegsschauplatz, denn
+eine ganze Gesellschaft Versammlungsbesucher fand sich
+allm&auml;hlich ein, und jeder hatte das Bed&uuml;rfnis seinem
+Herzen Luft zu machen. Es zeigte sich nun erst recht,
+wie unklar Bernstein gesprochen hatte: je nach der politischen
+oder philosophischen Richtung, der der einzelne
+zugeh&ouml;rte, gab er seinen Worten eine andere Deutung.</p>
+
+<p>&raquo;Das Todesurteil des Marxismus!&laquo; triumphierte der
+Nationalsoziale.</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; antwortete scharf einer unserer radikalen
+Parteigenossen, &raquo;ein Todesurteil seiner selbst! Er hat
+als wissenschaftlicher Sozialist abgedankt.&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_389" id="Page_389"></a>Und nun wurden aus seiner Rede einzelne S&auml;tze
+herausgerissen, die der und jener sich notiert hatte, und
+betrachtet und zerpfl&uuml;ckt. Als eine R&uuml;ckkehr zum Utopismus
+wurde bezeichnet, da&szlig; er die &raquo;W&uuml;nschbarkeit einer
+sozialistischen Gesellschaftsordnung&laquo; f&uuml;r den Hebel der
+Agitation und die werbende Kraft der Partei erkl&auml;rt hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Nur alte wundergl&auml;ubige Weiber lockt man damit
+hinter dem Ofen hervor,&laquo; spottete einer; &raquo;auch das
+himmlische Jerusalem war &#8250;w&uuml;nschbar&#8249;, und doch haben
+wir die Fahrt dahin aufgegeben, weil seine Existenz unbeweisbar
+blieb.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vollends l&auml;cherlich,&laquo; f&uuml;gte ein anderer hinzu, &raquo;ist
+die Behauptung, da&szlig; die Einsicht in die gr&ouml;&szlig;ere Gerechtigkeit
+sozialistischer Einrichtungen uns zu Sozialisten
+gemacht hat. Mag sein, da&szlig; Mitleid mit den Armen,
+Emp&ouml;rung gegen die Ungerechtigkeit manch einen zuerst
+in unsere Reihen trieb. Aber blo&szlig;e Empfindungen verfl&uuml;chtigen
+sich, wenn die Erkenntnis sie nicht auf realen
+Boden zwingt. W&uuml;rde Bernstein wirklich die Frage
+nach der Wissenschaftlichkeit des Sozialismus verneinen
+k&ouml;nnen, so w&auml;re er so viel wert, als das Christentum
+bisher gewesen ist.&laquo;</p>
+
+<p>Romberg hatte zuerst ruhig zugeh&ouml;rt.</p>
+
+<p>&raquo;Jetzt zerzausen sie den armen Bernstein, weil er
+ihnen nicht die letzte Wahrheit gab!&laquo; sagte er nun,
+w&auml;hrend aller Augen sich auf ihn richteten. &raquo;Die
+Wissenschaft ist doch nichts Fertiges, sondern ein ewiges
+Suchen! Er sucht, und beweist dadurch, da&szlig; er denkt.
+Wissenschaftlich abgedankt hat nicht er, sondern haben
+diejenigen seiner Gegner, die jeden Satz im Lehrgeb&auml;ude
+des Sozialismus f&uuml;r ein unersetzliches Glied in der<a name="Page_390" id="Page_390"></a>
+Kette der sozialistischen Beweisf&uuml;hrung halten. Dieser
+Dogmatismus k&ouml;nnte die Bewegung t&ouml;ten, nicht aber der
+Revisionismus, auch wenn er sich noch so t&auml;ppisch geb&auml;rdet.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bernsteins Kritik vernichtet doch aber geradezu grundlegende
+Ideen des Marxismus?&laquo; wandte der Nationalsoziale
+ein.</p>
+
+<p>&raquo;Und wenn schon?!&laquo; antwortete Romberg. &raquo;Der
+Bau des marxistischen Systems ist so genial, da&szlig; sich
+Mauern herausbrechen lassen, ohne ihn zu gef&auml;hrden.
+Die Tatsache des Klassenkampfes schaffen Sie nicht aus
+der Welt, sie allein gen&uuml;gt, um die Naturnotwendigkeit
+des Sozialismus zu beweisen.&laquo; Er trank sein Glas
+leer und erhob sich mit einem hochm&uuml;tigen Blick auf
+die verdutzten Gesichter der Tischgenossen. &raquo;Unser Schicksal
+ist unentrinnbar, &mdash; damit mu&szlig; man sich abfinden,&laquo;
+sagte er, &raquo;aber w&uuml;nschbar &mdash; wei&szlig; Gott! &mdash; ist's f&uuml;r
+unsereinen nicht. Ich bin blo&szlig; froh, da&szlig; die ber&uuml;hmte
+<em class="antiqua">'lutte finale'</em> sich erst auf meinem Grabe abspielen wird.&laquo;</p>
+
+<p>Wir gingen zusammen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke Ihnen,&laquo; sagte ich, als wir drau&szlig;en waren;
+der niederdr&uuml;ckende Eindruck der Rede Bernsteins war
+verwischt.</p>
+
+<p>&raquo;Im Grunde habe ich ja auch nur f&uuml;r Sie gesprochen&nbsp;&mdash;,&laquo;
+es war der teilnehmende Blick eines
+Freundes, mit dem er mir bei den Worten in die Augen
+sah, &mdash; &raquo;ich bin so gewohnt, Sie stark zu sehen, da&szlig;
+mir Ihr Kummer f&ouml;rmlich weh tat.&laquo;</p>
+
+<p>Er begleitete uns bis nach Haus. Mein Mann weihte
+ihn in unsere Pl&auml;ne ein.</p>
+
+<p>&raquo;Und Sie sind einverstanden? Sie wollen am Ende
+gar mittun?!&laquo; wandte er sich an mich.</p>
+<p><a name="Page_391" id="Page_391"></a></p>
+<p>&raquo;Mit allen Kr&auml;ften, &mdash; gewi&szlig;!&laquo; antwortete ich. &raquo;Was
+k&ouml;nnen Sie dagegen haben, nach all den Gedanken, die
+Sie heute &uuml;ber den Sozialismus entwickelten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich mag Sie mir nicht vorstellen, &mdash; auf dem Drehschemel
+vor dem Redaktionspult, &mdash; die Schmierereien
+anderer Leute korrigierend. Sie geh&ouml;ren ins achtzehnte
+Jahrhundert&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig;! An die Seite der Madame Roland&nbsp;&mdash;!&laquo;
+unterbrach ich ihn rasch.</p>
+
+<p>Nach und nach erw&auml;rmte er sich f&uuml;r unseren Gedanken.
+&raquo;Mit all dem Kleinb&uuml;rgerlichen, Philistr&ouml;sen in Ihrer
+Partei werden Sie gr&uuml;ndlich abrechnen m&uuml;ssen,&laquo; meinte
+er im Laufe des Gespr&auml;chs, &raquo;weite Horizonte geben, die
+&uuml;ber den Misthaufen des Nachbarn hinausgehen.&laquo; Und
+er verbreitete sich &uuml;ber die Stellung der Partei zur ausw&auml;rtigen
+Politik.</p>
+
+<p>&raquo;Hier trennen sich unsere Wege, lieber Professor,&laquo;
+sagte mein Mann. &raquo;Sie werden kaum erwarten, da&szlig;
+ich als Sozialdemokrat auf diesem Gebiet Ihre Wandlungen
+mitmache.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wandlungen?! Wieso?!&laquo; ereiferte sich Romberg. &raquo;Es
+entspricht der Konsequenz meiner Entwicklung, da&szlig;
+ich f&uuml;r den Kolonialbesitz Deutschlands eintrete und
+demzufolge f&uuml;r die Flottenvorlage agitiert habe. Traurig
+genug, da&szlig; ihr Sozialisten euch, scheint es, erst belehren
+lassen werdet, wenn ihr die Macht im Staate habt!
+Das ist, &mdash; verzeihen Sie, liebe Freundin! &mdash; der ungl&uuml;ckselige
+feministisch-sentimentale Einschlag in der
+Sozialdemokratie, der sie f&uuml;r die notwendigen, gro&szlig;en, &mdash; wenn
+Sie wollen &mdash; grausamen Forderungen der
+Kultur blind und taub macht. Der Kampf um die<a name="Page_392" id="Page_392"></a>
+Macht ist die Bedingung unserer Entwicklung. Die Frage,
+die uns die Weltgeschichte stellt, ist einfach die: soll uns
+die Erde geh&ouml;ren oder den Negern und den Chinesen?
+Die Antwort scheint mir nicht zweifelhaft.&laquo;</p>
+
+<p>Ich sah emp&ouml;rt zu ihm auf: &raquo;So sind Sie f&uuml;r das
+Chinaabenteuer mit all seinem Gefolge von Hunnentum
+und f&uuml;r die Kolonialkriege mit all ihrer Unmenschlichkeit?!
+Das hei&szlig;t doch nicht, Forderungen der Kultur
+erf&uuml;llen, sondern die Kultur preisgeben, die wir haben!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin f&uuml;r die Erschlie&szlig;ung Chinas, die f&uuml;r unseren
+Handel eine Notwendigkeit ist; ich bin f&uuml;r die Kolonialkriege,
+die den Boden gewinnen f&uuml;r unsere Volksvermehrung,
+aber daraus folgt doch nicht, da&szlig; ich die
+Greuel des Krieges verteidige. Ich nehme sie nur um
+der gr&ouml;&szlig;eren Werte willen in den Kauf, wenn sie unvermeidlich
+sind&nbsp;... Wir w&uuml;rden heute noch in Urw&auml;ldern
+wohnen, wenn wir mit den wilden Tieren Mitleid
+gehabt h&auml;tten.&laquo;</p>
+
+<p>Eine lebhafte Debatte &uuml;ber die volkswirtschaftliche
+Bedeutung der Kolonien und der &raquo;offenen T&uuml;r&laquo; Chinas
+entspann sich zwischen meinem Mann und Romberg.
+Ich h&ouml;rte kaum zu; der Gedanke an die Urw&auml;lder und
+die wilden Tiere lie&szlig; mich nicht los und spann sich wie von
+selber weiter. Ich horchte erst auf, als Romberg sagte:
+&raquo;Wenn die Sozialdemokratie sich nicht entschlie&szlig;t, die
+Sache der Starken zu f&uuml;hren, so wird ihr Sieg eine
+Niederlage der Menschheit sein.&laquo;</p>
+
+<p>Vor unserer Haust&uuml;r nahmen wir Abschied voneinander.</p>
+
+<p>&raquo;Was wird denn aber mit dem Archiv?&laquo; wandte sich
+Romberg noch einmal an Heinrich; &raquo;es w&auml;re ein Jammer,
+wenn es zugrunde ginge!&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_393" id="Page_393"></a>Mein Mann zuckte die Achseln. &raquo;Wissen Sie einen
+K&auml;ufer daf&uuml;r?&laquo; fragte er statt einer Antwort.</p>
+
+<p>&raquo;Einen K&auml;ufer? &mdash; Vielleicht!&laquo; meinte Romberg nachdenklich.</p>
+
+<p>Eine leise Hoffnung stieg in uns auf.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>An einem der folgenden Tage kam ich zum erstenmal
+seit meiner R&uuml;ckkehr mit den Genossinnen
+zusammen. Man empfing mich k&uuml;hl, &mdash; fast
+als bedaure man, mich &uuml;berhaupt wieder zu sehen. Ich
+unterdr&uuml;ckte den aufsteigenden &Auml;rger. Bald w&uuml;rden sie
+mir ganz anders begegnen. Lag erst mein Buch in
+ihren H&auml;nden, &mdash; das Buch, das eine wissenschaftliche
+Leistung und ein Bekenntnis war, &mdash; so w&uuml;rden sie mich
+alle freudig willkommen hei&szlig;en.</p>
+
+<p>In dem Jahr meiner Abwesenheit waren die Fortschritte
+der Arbeiterinnenbewegung nicht erheblich gewesen.
+Man hatte versucht, durch Einrichtung von Beschwerde- und
+Auskunftsstellen einen pers&ouml;nlichen Zusammenhang
+mit den der Bewegung noch fremd gegen&uuml;berstehenden
+Arbeiterinnen zu schaffen. Ich l&auml;chelte
+unwillk&uuml;rlich, als ich davon h&ouml;rte. Vorschl&auml;ge der Art
+hatte mein so leidenschaftlich bek&auml;mpfter Plan eines
+Zentralausschusses f&uuml;r Frauenarbeit enthalten.</p>
+
+<p>F&uuml;r den Arbeiterinnenschutz und gegen die Beschr&auml;nkung
+der Fabrikarbeit verheirateter Frauen war auf Grund
+eines Parteitagsbeschlusses eine gr&ouml;&szlig;ere Agitation entfaltet
+worden. Die Erfolge waren minimal.</p>
+
+<p>&raquo;Es fehlt uns immer noch an packenden Schriften,
+die wir verbreiten k&ouml;nnten,&laquo; meinte eine der Frauen.</p>
+<p><a name="Page_394" id="Page_394"></a></p>
+<p>&raquo;Ist denn Genossin Orbins Brosch&uuml;re noch nicht erschienen?&laquo;
+fragte ich und begegnete erstaunten Gesichtern.</p>
+
+<p>&raquo;Genossin Orbins Brosch&uuml;re?!&laquo; wiederholte Ida
+Wiemer. &raquo;Von der wissen wir nichts!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe doch darauf hin meine eigene Absicht, eine
+solche zu schreiben, aufgegeben!&laquo; rief ich aus, &mdash; noch
+immer wollte ich nicht glauben, woran doch nicht mehr
+zu zweifeln war: sie hatte mich nur an der Arbeit hindern
+wollen! Martha Bartels l&auml;chelte ironisch. Ich
+h&ouml;rte, wie sie ihrer Nachbarin zufl&uuml;sterte: &raquo;Sie will sich
+nur aufspielen, &mdash; uns glauben machen, da&szlig; sie auch
+mal was zu arbeiten die fromme Absicht hatte&nbsp;&mdash;,&laquo; und
+ich sah wie ihre Worte von Mund zu Mund gingen
+und die Mienen sich kl&auml;rten.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn Sie sich mit der Frage besch&auml;ftigt haben,&laquo;
+sagte sie dann laut und hochm&uuml;tig, &raquo;so k&ouml;nnen Sie ja
+ein paar Referate &uuml;bernehmen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich war bereit dazu.</p>
+
+<p>&raquo;Vielleicht sprechen Sie auch bei uns?&laquo; fragte die Vorsitzende
+des Arbeiterinnenbildungsvereins; &raquo;es m&uuml;&szlig;te
+freilich ein anderes Thema sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gern!&laquo; antwortete ich und war entschlossen, die
+Frage der Haushaltungsgenossenschaft bei der Gelegenheit
+zur Er&ouml;rterung zu bringen.</p>
+
+<p>&raquo;Frauenarbeit und Hauswirtschaft&laquo; nannte ich meinen
+Vortrag, der schon eine Woche sp&auml;ter stattfand. Der
+niedrige, enge Raum der Arminhallen war &uuml;berf&uuml;llt, als
+ich eintrat. Eine Anzahl b&uuml;rgerlicher Frauenrechtlerinnen
+suchten sich in den Winkeln des Saales zu verbergen.
+Sie hatten mein Auftreten bei Gelegenheit des inter<a name="Page_395" id="Page_395"></a>nationalen
+Frauenkongresses nicht vergessen und zeigten
+nicht gern ihr Interesse f&uuml;r mich.</p>
+
+<p>Ich stellte in gro&szlig;en Z&uuml;gen die Entwicklung der
+Frauenarbeit dar, von ihrer ersten Beschr&auml;nkung auf
+das Haus bis zu ihrer heutigen Ausdehnung auf alle
+Berufe, und die parallel laufende Evolution der Hauswirtschaft
+von jenen Zeiten an, wo innerhalb ihres
+Kreises alle Bed&uuml;rfnisse der Familie hergestellt wurden,
+bis zur Gegenwart, wo nichts von ihr &uuml;brig geblieben war
+als der Herd. Ich schilderte die Lage der erwerbst&auml;tigen
+Familienm&uuml;tter, die physischen und seelischen Gefahren,
+denen ihre Kinder ausgesetzt sind, und ich er&ouml;rterte die
+Zunahme der Berufsarbeit verheirateter Frauen nicht
+nur auf dem Gebiet der manuellen, sondern auch auf
+dem der geistigen Arbeit. &raquo;Die unausbleiblichen Folgen
+dieser Tatsachen liegen auf der Hand: entweder bricht
+der weibliche K&ouml;rper unter der doppelten Arbeitslast
+des Hauses und des Berufs vorzeitig zusammen und
+der Geist b&uuml;&szlig;t seine Leitungskraft ein, oder die H&auml;uslichkeit
+wird vernachl&auml;ssigt, und die junge Generation
+wird durch Mangel an Pflege und hygienisch einwandfreier
+Ern&auml;hrung aufs &auml;u&szlig;erste gesch&auml;digt&nbsp;... Die
+Gefahr ist zu gro&szlig;, zu dringend, als da&szlig; wir uns mit
+dem Appell an die Hilfe des Staats gen&uuml;gen lassen
+d&uuml;rften, wir m&uuml;ssen zu gleicher Zeit zur Selbsthilfe
+greifen.&laquo; Und nun entwarf ich meinen Plan. &raquo;Hungernde
+englische Weber waren die Sch&ouml;pfer der Konsumgenossenschaften,
+deren Kauffahrteischiffe heute die
+Meere durchziehen; der Wohnungsnot armer Arbeiter
+entsprang die Idee der Baugenossenschaften, deren
+H&auml;user &uuml;berall aus der Erde wachsen, &mdash; sollte der<a name="Page_396" id="Page_396"></a>
+Jammer der Frauen und der Kinder nicht die Haushaltungsgenossenschaft
+ins Leben rufen k&ouml;nnen?&laquo;</p>
+
+<p>Ich f&uuml;hlte die wachsende Erregung, die sich der Zuh&ouml;rerschaft
+bem&auml;chtigte. Es war das Zentrum der Interessensph&auml;re
+der meisten, in das ich getroffen hatte.
+Aber auf den Sturm, der sich erhob, war ich doch nicht
+gefa&szlig;t gewesen. Alle jene Gr&uuml;nde, mit denen die Sozialdemokratie
+vor Jahrzehnten der Selbsthilfe der Gewerkschaften
+entgegengetreten war, mit denen sie heute
+noch vielfach den Genossenschaften entgegentritt, &mdash; als
+Ablenkungen vom Hauptziel, der Verwirklichung des
+Sozialismus, und vom allein wichtigen Kampf: dem
+politischen; als Vers&ouml;hnungen des Proletariers mit dem
+Gegenwartsstaat, &mdash; wurden mir wie ein Hagel von
+Pfeilen entgegengeschleudert. Es fehlte nicht an scharfen
+Seitenhieben auf meinen Revisionismus, der sich darin
+dokumentiere, da&szlig; ich innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung
+sozialistische Ideen verwirklichen wolle,
+wie die alten, &uuml;berwundenen Utopisten.</p>
+
+<p>Nur wenige unterst&uuml;tzten mich. Die Frauenrechtlerinnen
+schwiegen.</p>
+
+<p>Bereits am n&auml;chsten Morgen ging mein Vortrag
+durch die Presse, entstellt, verspottet, beschimpft.</p>
+
+<p>&raquo;Der Zukunfts-Karnickelstall, wo sich das Familienleben
+auf das Schlafzimmer beschr&auml;nkt&laquo;, hie&szlig; es in der
+konservativen Presse; von der &raquo;Kaserne als Idealzustand&laquo;
+sprach die liberale. Als die Spottlust befriedigt
+war, kamen die pathetischen Artikel, die angesichts
+der drohenden Zerst&ouml;rung der Familie ihre Kassandrastimme
+erhoben. Und in den &raquo;Sprechs&auml;len&laquo; und
+&raquo;Frauenecken&laquo; zeterten die guten Hausfrauen, deren
+<a name="Page_397" id="Page_397"></a>einziges Zepter der Kochl&ouml;ffel war. Hatte ich sie schon
+durch die Dienstbotenbewegung gegen mich aufgebracht, &mdash; jetzt
+standen sie mir als ein Heer ger&uuml;steter Feinde
+gegen&uuml;ber. Der Kochherd war wirklich nicht nur der
+Inhalt, sondern die Grundlage ihres Familienlebens.</p>
+
+<p>&raquo;Die M&auml;nner werden &uuml;berhaupt nicht mehr heiraten,
+wenn sie keine Hausfrau brauchen,&laquo; jammerte eine ehrliche
+Naive.</p>
+
+<p>Ich wartete vergebens auf die Unterst&uuml;tzung der
+Frauen, die mir ihre Not oft selbst geklagt hatten: der
+Schriftstellerinnen, &Auml;rztinnen, K&uuml;nstlerinnen.</p>
+
+<p>&raquo;Nur ein Jahr lang sollten unsere m&auml;nnlichen Kollegen
+Suppe kochen und Str&uuml;mpfe stopfen,&laquo; hatte einmal eine
+von ihnen ausgerufen, &raquo;und wir w&uuml;rden an dem Fehlen
+gro&szlig;er Leistungen ihre geistige Minderwertigkeit beweisen
+k&ouml;nnen!&laquo;</p>
+
+<p>In den Bl&auml;ttern der Frauenbewegung fand mein
+Plan keinen Widerhall. Helma Kurz rief Ach und
+Wehe &uuml;ber mich, die ich &raquo;alle Frauen aus der trauten
+H&auml;uslichkeit in die Kaserne&laquo; treiben wolle. Keine der
+F&uuml;hrerinnen der Frauenbewegung begriff, da&szlig; die Befreiung
+der erwerbst&auml;tigen Frau von der Sklaverei der
+K&uuml;che eine ihrer Programmforderungen sein m&uuml;&szlig;te. Nur
+eine kleine Gruppe Menschen, die in der &Ouml;ffentlichkeit
+unbekannt waren, schlo&szlig; sich mir allm&auml;hlich an, und ein
+paar Baumeister meldeten sich, die den Mut gehabt
+h&auml;tten, ein Haus nach meinem Plan aufzuf&uuml;hren, &mdash; mit
+abgeschlossenen kleinen Wohnungen und Speiseaufz&uuml;gen
+aus der Zentralk&uuml;che. Wir waren &uuml;berzeugt, nur
+ein lebendiges Beispiel w&uuml;rde gen&uuml;gt haben, um die
+Bewegung in Flu&szlig; zu bringen. Aber wir waren zu
+<a name="Page_398" id="Page_398"></a>wenige, um das Bestehen des Hauses zu sichern, und
+mein Name, &mdash; der der Sozialdemokratin, &mdash; schreckte
+viele ab. Sie f&uuml;rchteten den kommunistischen Zukunftsstaat
+im Kleinen.</p>
+
+<p>Inzwischen kam Wanda Orbin nach Berlin und bat
+mich, da sie krank sei, &raquo;in wichtiger Angelegenheit&laquo; um
+meinen Besuch. Sie reichte mir nur die Fingerspitzen,
+als ich eintrat.</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben die Interessen der Partei auf das schwerste
+verletzt,&laquo; begann sie im Ton eines Inquisitors, &raquo;und da
+es nicht das erste Mal geschieht, so bin ich verpflichtet,
+Sie zu warnen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich griff mir an die Stirn: was war es nur, was
+ich verbrochen hatte?!</p>
+
+<p>&raquo;Ihre Agitation f&uuml;r die Haushaltungsgenossenschaft&nbsp;&mdash;&laquo;
+ich lachte ihr ins Gesicht; sollte sie mit so strenger Miene
+scherzen?! Aber sie runzelte die Stirn, &mdash; es war ihr Ernst,
+blutiger Ernst! &mdash; &raquo;hat weitere Kreise gezogen, als gut
+ist. Dergleichen verwirrt die K&ouml;pfe, st&ouml;rt die Einheitlichkeit
+des Vorgehens&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich stand auf. &raquo;M&ouml;chten Sie mir wohl noch mitteilen,
+worin meine erste Verletzung der Parteiinternen
+bestand?&laquo; fragte ich ruhig.</p>
+
+<p>&raquo;Sollten Sie Ihren Plan eines Zentralausschusses f&uuml;r
+Frauenarbeit schon vergeben haben?&laquo; rief sie aus.</p>
+
+<p>&raquo;Und durch ihn habe ich die Partei gesch&auml;digt?! &mdash; Sie
+sind ja jetzt schon im Begriff, teilweise auszuf&uuml;hren,
+was ich wollte&nbsp;&mdash;!&laquo;</p>
+
+<p>Wanda Orbins Augen funkelten mich zornig an:
+&raquo;Wenn Sie die Unterschiede nicht verstehen, so beweist
+das nur wieder Ihren Mangel an proletarischem Be<a name="Page_399" id="Page_399"></a>wu&szlig;tsein&nbsp;&mdash;;&laquo;
+dabei kreischte ihre Stimme wie auf der
+Rednertrib&uuml;ne.</p>
+
+<p>&raquo;Mag sein!&laquo; entgegnete ich scharf. &raquo;Mir fehlt das
+Demagogentalent, um mich zur Proletarierin aufzuspielen.&laquo;
+Damit wandte ich mich zum Gehen, auf das tiefste verwundet.</p>
+
+<p>Mein Vortrag erschien im Verlag des &raquo;Vorw&auml;rts&laquo;
+als Brosch&uuml;re. Wanda Orbin &raquo;vernichtete&laquo; ihn in vier
+Leitartikeln, und ihre Autorit&auml;t war viel zu gewichtig,
+als da&szlig; sich innerhalb der Partei irgendeine Stimme
+f&uuml;r ihn erhoben h&auml;tte. Wie die Schnecke, wenn ihre
+F&uuml;hlh&ouml;rner unsanft ber&uuml;hrt werden, sich in ihr Haus
+zur&uuml;ckzieht, so hatte ich das Bed&uuml;rfnis, mich zu verkriechen.</p>
+
+<p>&raquo;La&szlig; deine Ideen erst Wurzel fassen, Liebste,&laquo; tr&ouml;stete
+mich mein Mann; &raquo;sind sie lebenskr&auml;ftig, so f&auml;llt dir
+die Frucht von selbst in den Scho&szlig;.&laquo;</p>
+
+<p>Ich l&auml;chelte wehm&uuml;tig &uuml;ber den Irrtum, in dem er
+sich befand. Was mich schmerzte, war nicht das momentane
+Scheitern eines Planes, sondern da&szlig; ich Wanda
+Orbin so klein gesehen hatte, die mir, auch mit ihren
+Fehlern, so gro&szlig; erschienen war. Und da&szlig; sie die anderen
+beherrschte, zum Teil mit Mitteln, gegen die ich mich
+waffenlos f&uuml;hlte!</p>
+
+<p>Nun galt es, statt alle Kr&auml;fte auf den Kampf f&uuml;r
+die gemeinsame Sache zu konzentrieren, sich f&uuml;r den
+eklen Streit im eigenen Lager stets gewappnet zu halten.</p>
+
+<p>Wenn ich mich abseits stellen, einer jener Eigenbr&ouml;dler
+werden k&ouml;nnte, mit Scheuklappen vor den Augen, immer
+nur ein Teilchen des allgemeinen Zieles verfolgend?!
+Da&szlig; ich unf&auml;hig daf&uuml;r war, bewies mir die Erfahrung
+mit meinem eigenen Plan. H&auml;tte ich das Talent und
+<a name="Page_400" id="Page_400"></a>die Z&auml;higkeit des Organisators gehabt, ich w&uuml;rde ihn
+in jahrelanger steter Arbeit, unbek&uuml;mmert um die Sp&ouml;tter,
+haben durchsetzen k&ouml;nnen. Und nun stand ich da und
+sah erschrocken auf meine H&auml;nde, die so leer geworden
+waren und so kraftlos.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Die Sonne brannte auf dem Asphalt, braun und
+verdorrt hingen die Bl&auml;tter an den armen
+B&auml;umen, zu ihren steingepanzerten Wurzeln
+drang keine Luft und kein Tau. Grauer Staub deckte
+die B&uuml;sche wie mit Trauerschleiern. Wer drau&szlig;en im
+Wald den Sommer suchen ging, den empfingen die
+Kiefern schwarz und ernst und die blumenlosen Felder.
+O, da&szlig; ich empor auf einen Berg steigen k&ouml;nnte zu
+reiner Luft und klaren Quellen! Heimweh packte mich, &mdash; Heimweh
+nach den schmalen Pfaden zwischen
+duftenden, buntbl&uuml;henden Wiesen, nach dem stillen
+See im Buchenwald, wo zwischen Moos und Gestein
+M&auml;rchenblumen ihre Kelche &ouml;ffnen. Heimweh nach der
+gro&szlig;en Einsamkeit!</p>
+
+<p>Ob nicht der Geist der Frauen verk&uuml;mmert und ihr
+Gem&uuml;t verdorrt, weil sie nicht einsam sein d&uuml;rfen?</p>
+
+<p>&raquo;Geh, &mdash; erhole dich, &mdash; ruh' dich aus, und wenn es
+nur ein paar Tage sind, &mdash; es wird dir gut tun,&laquo; sagte
+mein Mann, dem meine Schlaflosigkeit, meine Bl&auml;sse
+anfiel; &raquo;ich und die Berta h&uuml;ten den Jungen.&laquo;</p>
+
+<p>Es bedurfte keiner &Uuml;berredungsk&uuml;nste, meine Sehnsucht,
+allein zu sein, ganz allein, war zu gro&szlig;. Ich
+fuhr nach dem Harz. Aber schon unterwegs packte mich
+die Unruhe: was konnte dem Kleinen inzwischen nicht
+<a name="Page_401" id="Page_401"></a>alles geschehen! Tausend Fragen und Sorgen schreckten
+mich am Tage, &auml;ngstliche Tr&auml;ume verfolgten mich bei
+Nacht. Und die Berge hier, die mir fremd waren,
+blieben mir stumm, und die rauschenden Quellen sprachen
+eine fremde Sprache.</p>
+
+<p>Da erreichte mich ein Brief meiner Mutter aus
+Heidelberg. &raquo;Erdmann ist aufgegeben,&laquo; hie&szlig; es darin,
+&raquo;und Ilse hat Lungenentz&uuml;ndung, deren Ausgang unabsehbar
+ist. Sie spricht oft von Dir&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Am selben Abend schrieb ich an meinen Mann:
+&raquo;Liebster! Ich halte es nicht aus ohne Dich, ohne Otto.
+Aber ehe ich zur&uuml;ckkehre, mu&szlig; ich Ilse wiedersehen.
+Nach den Andeutungen meiner Mutter ist alles zu
+f&uuml;rchten. Du hast mich ausgelacht, als ich Dir einmal
+sagte, da&szlig; ich mich ihr gegen&uuml;ber schuldig f&uuml;hle. Es
+kommt ja aber auch nicht darauf an, ob eine Schuld
+im Sinne landl&auml;ufiger Moral besteht, sondern darauf,
+ob ich sie empfinde. Ich mu&szlig; das gut machen, &mdash; damit
+ich mich nicht qu&auml;le, wenn das arme Kind sterben
+sollte, und damit sie mir wieder vertraut, wenn sie lebt
+und meiner bedarf&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Ich reiste am selben Abend noch ab. Meine Mutter
+empfing mich am Bahnhof.</p>
+
+<p>&raquo;Es geht zu Ende,&laquo; sagte sie auf meinen fragenden
+Blick. &raquo;Und Ilse?&laquo; &raquo;Sie fiebert noch immer! Meine
+Ahnung betrog mich nicht. Diese ungl&uuml;ckselige Ehe!&laquo;</p>
+
+<p>Die letzten drei Worte stie&szlig; sie zwischen den Z&auml;hnen
+hervor. Es war kein z&auml;rtliches Mitleid, das sie empfand,
+sondern Emp&ouml;rung gegen das Geschick.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist lieb, da&szlig; du kommst, gute Schwester,&laquo; rief
+mir Ilse entgegen, als ich an ihr Bett trat. Seit
+<a name="Page_402" id="Page_402"></a>langem h&ouml;rte ich wieder den alten warmen Ton in
+ihrer Stimme, und ihr Gesichtchen hob sich rund und
+rosig von den wei&szlig;en Kissen ab, als w&auml;re es wieder
+das des s&uuml;&szlig;en kleinen M&auml;dchens von einst. Wu&szlig;te sie
+nicht, da&szlig; ein paar T&uuml;ren weiter ihr Mann im Sterben
+lag? Der Arzt trat ins Zimmer mit den Tropfen und
+dem Fieberthermometer. Ich sah, wie ihre Augen jeder
+seiner Bewegungen folgten, wie sie ihn anl&auml;chelte, voll
+dankbaren Vertrauens. Und in der Sorgfalt, mit der
+er ihr die Kissen r&uuml;ckte und den Vorhang am Fenster
+weit zur&uuml;ckschlug, damit die Sonnenstrahlen ihre Haare
+umspielen konnten, lag tiefere Empfindung, als die des
+Arztes. Bl&uuml;hte dem armen Kinde eine Herbstrose auf
+dem Totenacker?</p>
+
+<p>&raquo;Du gehst zu ihm?&laquo; fragte sie und lehnte sich mit geschlossenen
+Augen m&uuml;de zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>&raquo;Ja,&laquo; antwortete ich leise. Das L&auml;cheln aus ihrem
+Antlitz verschwand, die Lippen pre&szlig;ten sich zusammen.</p>
+
+<p>In Decken geh&uuml;llt, am weit offenen Fenster lag er.
+Die wei&szlig;en W&auml;nde des Zimmers, die Betten, das wei&szlig;e
+Geschirr, von blinkenden Metall unterbrochen, die wei&szlig;e
+Sch&uuml;rze der Pflegerin strahlten &uuml;ber sein eingefallenes
+gelbes Gesicht eine grausame Helle aus. Er war so
+geistvoll, so lebendig wie je; das h&auml;tte t&auml;uschen k&ouml;nnen,
+wenn mein Auge nicht eben auf die Morphiumspritze in
+der Hand der Diakonissin gefallen w&auml;re.</p>
+
+<p>&raquo;Sieh nur, wie wundersch&ouml;n das ist!&laquo; sagte er und
+sein Blick umfa&szlig;te in leidenschaftlicher Liebe das bunte
+Herbstlaub der B&auml;ume drau&szlig;en. Er hatte den Scho&szlig;
+voll kleiner Skizzen und lie&szlig; den Pinsel nur aus der
+Hand, wenn die Schw&auml;che ihn &uuml;bermannte.</p>
+<p><a name="Page_403" id="Page_403"></a></p>
+<p>&raquo;Hast du Ilse gesehen?&laquo; fragte er schlie&szlig;lich.</p>
+
+<p>Ich nickte.</p>
+
+<p>&raquo;Sie ist noch viel, viel sch&ouml;ner als die Berge und
+der Wald,&laquo; fl&uuml;sterte er sehns&uuml;chtig.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Tage verlie&szlig; ich Heidelberg wieder. Eine
+bleierne M&uuml;digkeit bem&auml;chtigte sich meiner. Ich h&auml;tte
+immerfort schlafen m&ouml;gen. Dabei fand ich lauter dringende
+Briefe vor: der Verleger w&uuml;nschte eine raschere Erledigung
+der Korrekturen, der Verein f&uuml;r Haushaltungsgenossenschaften
+lud mich zur n&auml;chsten Sitzung, ein paar Parteigenossen
+erinnerten an die ihnen bereits zugesagten Vortr&auml;ge.</p>
+
+<p>Eine mir selbst Fremde stand ich auf der Rednertrib&uuml;ne.
+Jene Glut der Leidenschaft, die allein f&auml;hig
+ist, den Eisenmantel zu schmelzen, den Kummer und Not
+um die Herzen der &Auml;rmsten schmiedete, jene Klarheit der
+&Uuml;berzeugung, die allein das Dunkel des Vorurteils und
+der Unwissenheit zu durchleuchten vermag, fehlten mir
+und lie&szlig;en sich nicht erzwingen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin unf&auml;hig, zu sprechen, &mdash; erlassen Sie es mir
+diesmal,&laquo; bat ich einen der Genossen; &raquo;die Menschen
+kehren heim, ohne einen Gran Kraft und Klugheit gewonnen
+zu haben.&laquo;</p>
+
+<p>Aber er bestand auf seinem Schein: &raquo;Ihr Name zieht,
+und wir brauchen einen vollen Saal.&laquo;</p>
+
+<p>Eines Abends sollte ich bei den Textilarbeitern referieren.
+Als ich kam, war der Saal leer, und der Wirt
+erz&auml;hlte mir, da&szlig; die Versammlung schon vor zwei Tagen
+stattgefunden und man mich vergebens erwartet habe.
+Ich zog die Einladungskarte aus der Tasche: nur das
+Datum war angegeben, nicht der Tag, und dieses stimmte.<a name="Page_404" id="Page_404"></a>
+Der Vertrauensmann der Gewerkschaft, zu dem ich ging,
+mu&szlig;te mir best&auml;tigen, da&szlig; der Irrtum nicht auf meiner
+Seite lag. Wenige Tage sp&auml;ter h&ouml;rte ich, eine der Genossinnen
+habe behauptet, ich h&auml;tte das Datum gef&auml;lscht,
+um mich der Aufgabe zu entziehen, und habe hinzugef&uuml;gt,
+sowas sei bei mir schon &ouml;fter vorgekommen. Auf das
+&auml;u&szlig;erste emp&ouml;rt, verlangte ich eine Untersuchung der
+Angelegenheit. Ein Schiedsgericht trat zusammen. In
+endlosen Sitzungen wurden Zeugen vernommen, die Einladungskarte
+gepr&uuml;ft, verglichen. Ich ballte die F&auml;uste
+unter dem Tisch vor Erregung und konnte mich doch
+dem Eindruck nicht entziehen, den die ruhige Gr&uuml;ndlichkeit
+all dieser Arbeiter auf mich machte. An Ernst und
+Objektivit&auml;t, an Takt und W&uuml;rde standen sie turmhoch
+&uuml;ber ihren weiblichen Klassengenossen, mit denen ich
+bisher zusammengekommen war. Eine formelle Ehrenerkl&auml;rung,
+die mir schriftlich zuging, war das Resultat
+der Verhandlungen. Aber die Empfindung, besudelt zu
+sein, wurde ich lange Zeit nicht los.</p>
+
+<p>Ich vertiefte mich in die Korrekturen meiner &raquo;Frauenfrage&laquo;.
+Und die Genugtuung &uuml;ber meine Arbeit wirkte
+wie ein st&auml;rkendes und reinigendes Bad.</p>
+
+<p>Mitten in der Arbeit an den letzten Druckbogen besuchte
+mich die weibliche Vertrauensperson meines Wahlkreises.
+F&uuml;r eine gro&szlig;e Volksversammlung, die in den
+allern&auml;chsten Tagen stattfinden und sich mit den von der
+Regierung angek&uuml;ndigten Zollerh&ouml;hungen besch&auml;ftigen
+sollte, hatte man mir den Vortrag zugedacht. Ich lehnte
+ab. Meine Besucherin wurde immer dringender.</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen kommen,&laquo; erkl&auml;rte sie schlie&szlig;lich.</p>
+
+<p>&raquo;Ich mu&szlig;?! Warum?!&laquo; fragte ich verwundert.</p>
+<p><a name="Page_405" id="Page_405"></a></p>
+<p>&raquo;Wir haben Ihren Namen schon auf die Plakate gedruckt!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das ist Ihre Schuld, &mdash; nicht die meine,&laquo; entgegnete
+ich; &raquo;selbst wenn ich Zeit h&auml;tte, mich binnen zwei Tagen
+auf ein schwieriges Thema, wie den drohenden Zolltarif,
+vorzubereiten, w&uuml;rde ich bei meiner Ablehnung bleiben
+und Sie die Folgen eines so unverantwortlichen Vorgehens
+tragen lassen.&laquo;</p>
+
+<p>Sie warf mir noch einen rachs&uuml;chtigen Blick zu und ging.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Mein Buch erschien. Die Aufnahme, die ihm
+zuteil wurde, entsch&auml;digte mich f&uuml;r viele
+Schmerzen und gab mir das Vertrauen in
+die eigene Kraft zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben mehr geleistet, als ich erwartet hatte, und
+das will viel sagen,&laquo; schrieb mir Romberg. &raquo;Ihr Werk
+ist eine wissenschaftliche Leistung, dem keine Kritik und
+keine Zeit den Charakter eines <em class="antiqua">standard work</em> nehmen
+wird, und &mdash; was f&uuml;r mich seinen gr&ouml;&szlig;ten Wert ausmacht &mdash; der
+Ausdruck einer starken Pers&ouml;nlichkeit. Die
+objektive Wissenschaft ist zweifellos etwas sehr Gro&szlig;es,
+aber der Mensch bleibt immer das Allergr&ouml;&szlig;te&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Nur zwei Zeitschriften rissen meine Arbeit herunter:
+die Monatsbl&auml;tter von Helma Kurz und &mdash; die &raquo;Freiheit&laquo;
+von Wanda Orbin.</p>
+
+<p>&raquo;Alix Brandts Buch ist jeder M&uuml;tterlichkeit und jeder
+Wissenschaftlichkeit bar,&laquo; hie&szlig; es in dem einen Blatt;
+&raquo;die Genossin Brandt h&auml;tte in der Kleinarbeit der Agitation
+erst lernen und sich bew&auml;hren m&uuml;ssen, ehe sie
+etwas f&uuml;r die Arbeiterinnenbewegung wirklich N&uuml;tzliches
+<a name="Page_406" id="Page_406"></a>h&auml;tte schaffen k&ouml;nnen,&laquo; lautete das Endurteil in dem
+anderen.</p>
+
+<p>Ich lachte zuerst und dachte daran, wie ich von einer
+meiner b&uuml;rgerlichen Gegnerinnen einmal pathetisch als
+ein &raquo;Trib&uuml;nenweib&laquo; bezeichnet worden war, &raquo;deren
+Lenden nie ein Kind getragen haben&laquo;, und eine Genossin
+mir als schwere Unterlassungss&uuml;nde die Tatsache
+vorgehalten hatte, da&szlig; ich eine wichtige Parteipflicht &mdash; die,
+Flugbl&auml;tter auszutragen &mdash; noch nicht erf&uuml;llt h&auml;tte.</p>
+
+<p>Aber dann verging mir das Lachen. Mein ganzes
+Ich lag in dem Buch, all mein Wissen, mein Glauben,
+mein Hoffen. &raquo;Meinem Mann und meinem Sohn&laquo; stand
+als Widmung vor dem Titel. Das war keine blo&szlig;e
+Form, es war ein Bekenntnis: ich h&auml;tte es nicht schreiben
+k&ouml;nnen ohne das Doppelerlebnis der Liebe und der Mutterschaft,
+das aus dem Kinde erst den Menschen macht, das
+Schleier von den Augen rei&szlig;t und eiserne Klammern
+von den Herzen. Es sind M&auml;nner gewesen, die die
+Madonna zur Mutter Gottes erhoben, denn nur der
+lebendig befruchtete Scho&szlig; vermag Lebendiges zu geb&auml;ren.
+Und arme Irre waren es, die die Jungfrauschaft
+mit dem Heiligenschein kr&ouml;nten. Denn die Voranleuchtenden
+sind nur, die des Lebens Tiefen ersch&ouml;pften.</p>
+
+<p>An die M&uuml;tterlichkeit hatte ich appelliert mit jedem
+Satz, den ich niederschrieb. Aus einem primitiven
+Empfinden, das &uuml;ber die Wiege des eigenen Kindes
+kaum hinausging, sollte sie zu weltumspannender Kraft
+sich entfalten. All die Tausende und Abertausende Hilfloser
+und Entrechteter hatte ich aufgeboten, da&szlig; sie die
+M&uuml;tter suchen sollten. Einst pochte ihr Murmelgebet:
+&raquo;Heilige Maria, bitte f&uuml;r uns!&laquo; umsonst an das Tor
+<a name="Page_407" id="Page_407"></a>des Himmels, &mdash; sollte ihre stumme Not auf der Erde
+keine Antwort finden?</p>
+
+<p>Waffen hatte ich geschmiedet f&uuml;r die Proletarierinnen,
+Waffen, &mdash; ich wu&szlig;te es, &mdash; die unzerbrechlich waren.
+Ich erwartete keinen Dank daf&uuml;r, denn da&szlig; ich sie
+schaffen konnte, war Dank genug. Nur nehmen, nur
+gebrauchen sollten sie meine Klingen und Pfeile.</p>
+
+<p>&raquo;Warte die Zeit ab,&laquo; sagte mein Mann. Aber ich
+fieberte nach Tat, nach Wirken, &mdash; ich konnte nicht warten.</p>
+
+
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Dem Arbeiterinnen-Bildungsverein und einzelnen
+der f&uuml;hrenden Genossinnen hatte ich mein
+Buch zur Verf&uuml;gung gestellt. Eines Morgens
+bekam ich einen Brief von Martha Bartels.
+Schon freute ich mich, &mdash; ich werde sie wiedergewonnen
+haben, dachte ich, und erinnerte mich, wie sie mir, der
+Fremden, einst entgegengekommen war, als ich noch Alix
+von Glyzcinski hie&szlig;.</p>
+
+<p>Ich lie&szlig; ihren Brief in den Scho&szlig; fallen, als ich
+seine wenigen Zeilen durchflogen hatte, und lehnte mich
+mit einem Gef&uuml;hl von Schwindel in den Stuhl zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>&raquo;Nachdem Ihre Unzuverl&auml;ssigkeit in der Ausf&uuml;hrung
+&uuml;bernommener Parteipflichten wieder offenbar wurde,&laquo;
+schrieb sie, &raquo;haben die Genossinnen einstimmig beschlossen,
+Sie zu unseren Sitzungen nicht mehr einzuladen.&laquo;</p>
+
+<p>Ein formeller Ausschlu&szlig; also, &mdash; ohne Gr&uuml;nde anzugeben, &mdash; ohne
+mich zu h&ouml;ren! Und das in einer
+Partei, die die Ideale der Demokratie vertritt! Ich
+verlangte, mir zu gew&auml;hren, was die Gesetzgeber des
+kapitalistischen Staates den M&ouml;rdern und Dieben zu<a name="Page_408" id="Page_408"></a>gestehen:
+mich vor meinen Richtern verteidigen zu
+k&ouml;nnen. Man antwortete mir nicht. Ich erfuhr schlie&szlig;lich,
+da&szlig; jene Genossin, die mich vergebens zu einem
+Vortrag hatte pressen wollen, die Sache so dargestellt
+hatte, als ob ich mein gegebenes Wort gebrochen h&auml;tte.
+Und ich h&ouml;rte weiter, da&szlig; meine &raquo;F&auml;lschung&laquo; jener
+Einladungskarte zum Referat bei den Textilarbeitern
+noch immer in aller Munde sei. Ich sandte die Ehrenerkl&auml;rung
+der Gewerkschaft ein, ich zwang die L&uuml;gnerin,
+ihre Behauptung zu widerrufen. Es n&uuml;tzte nichts.</p>
+
+<p>&raquo;Wir erkennen an, da&szlig; in diesen beiden F&auml;llen ein
+Irrtum vorlag,&laquo; schrieb Martha Bartels, &raquo;aber es
+stehen noch so viele andere fest, wo Sie sich als unzuverl&auml;ssig
+erwiesen haben, da&szlig; die Genossinnen an ihrem
+einstimmigen Beschlu&szlig;, Ihre Mitarbeit abzulehnen, festhalten.&laquo;</p>
+
+<p>Ich ging zum Parteivorstand, um die Einsetzung eines
+Schiedsgerichts zu fordern. &raquo;Liebe Genossin,&laquo; sagte
+Auer, mir gutm&uuml;tig die breite Hand auf die Schulter
+legend, &raquo;tun Sie das nicht! Lehren Sie mich unsere
+Weiber kennen! Jedes Schiedsgericht wird Ihnen recht
+geben, &mdash; nat&uuml;rlich! Aber, glauben Sie, da&szlig; damit
+geholfen ist?! Schon am n&auml;chsten Tag werden die
+Klatschm&auml;uler, denen Sie nun einmal ein Dorn im
+Auge sind, neue, noch schlimmere S&uuml;nden &uuml;ber Sie zu
+verbreiten wissen, und das modernisierte Gerichtsverfahren
+der heiligen Fehme wird alle demokratischen Schiedsspr&uuml;che
+umsto&szlig;en. &Uuml;berlassen Sie der Wanda die
+Weiber! F&uuml;r Ihren T&auml;tigkeitsdrang ist in der Partei
+noch Raum genug.&laquo;</p>
+
+<p>Ich f&uuml;gte mich seiner Ansicht. Ob aus Einsicht, aus<a name="Page_409" id="Page_409"></a>
+M&uuml;digkeit, aus Ekel? Ich wei&szlig; es nicht mehr. Auers
+Hand umspannte die meine schmerzhaft fest.</p>
+
+<p>&raquo;Wollen Sie von mir alten Kerl noch einen Rat auf
+den Weg nehmen?&laquo; fragte er. &raquo;Wer auf hoher Warte
+steht, dem sollten die leid tun, die sich von unten im
+Schwei&szlig;e ihres Angesichts abm&uuml;hen, mit Steinen zu
+werfen. Er sollte immer &uuml;ber sie hinwegsehen. Dann
+h&ouml;ren sie von selber auf und besinnen sich, da&szlig; ein
+Weg da ist, auf dem auch sie aufw&auml;rtssteigen k&ouml;nnten ...
+Wer die Distanz nicht wahren kann, ist kein Politiker.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Distanz, &mdash; das bedeutet Fernsein, K&uuml;hle,&laquo;
+antwortete ich mit einem leisen Seufzer, &raquo;&mdash;&nbsp;ich liebe
+die Menschen; ich m&ouml;chte von ihnen geliebt sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie lieben die Menschen, &mdash; diese Menschen?! Sie
+scherzen!&laquo; Er reckte sich zu seiner ganzen Gr&ouml;&szlig;e. &raquo;Wir
+w&uuml;rden sie erhalten, wenn wir sie lieben w&uuml;rden. Aber
+wir wollen sie &uuml;berwinden &mdash; mit dem gewaltigen Erziehungsmittel
+einer neuen Gesellschaftsordnung&nbsp;&mdash;, also
+hassen wir sie.&laquo;</p>
+
+<p>Ich sch&uuml;ttelte den Kopf. War das eine hohe Warte?
+W&uuml;rde ich sie je erreichen, &mdash; erreichen wollen?!</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_410" id="Page_410"></a></p>
+<h2><a name="Zwolftes_Kapitel" id="Zwolftes_Kapitel"></a>Zw&ouml;lftes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Probleme werden nicht durch Resolutionen aus
+der Welt geschafft. Auch der beste Wille der
+Streitenden, &mdash; und es gab Augenblicke, wo
+selbst Eduard Bernstein die Schw&auml;che dieses &raquo;guten
+Willens&laquo; hatte und Hervorragende unter seinen Anh&auml;ngern
+den &raquo;Revisionismus&laquo; als eine neue Richtung
+innerhalb der Partei abschworen, &mdash; vermag das Streitobjekt
+nicht aus der Welt zu schaffen. Einmal ausgesprochene
+Gedanken l&ouml;sen sich gleichsam von dem, der
+sie dachte, ab und haben ein selbst&auml;ndiges Leben.</p>
+
+<p>Die Beschl&uuml;sse des Parteitags von Hannover hatten
+nichts zur Folge, als einen Waffenstillstand. Bernsteins
+Rede im sozialwissenschaftlichen Studentenverein
+er&ouml;ffnete den Kampf von neuem. In Artikeln, Reden
+und Brosch&uuml;ren wurde er mit steigender Erbitterung gef&uuml;hrt.
+Und die aufreizenden Zurufe der Zuschauer, die
+vom n&auml;chsten Tage die Spaltung der Sozialdemokratie
+erwarteten und erhofften, erhitzte die K&auml;mpfenden noch
+mehr. Die wachsende Leidenschaft t&ouml;tete jede Objektivit&auml;t.
+Keiner gestand dem anderen die Ehrlichkeit der
+Gesinnung zu. Hinter jeder &Auml;u&szlig;erung eines Revisionisten
+entdeckte der orthodoxe Marxist Parteiverrat, in
+jeder Verteidigung des radikalen Standpunktes sah der<a name="Page_411" id="Page_411"></a>
+Revisionist dogmatische Verbohrtheit und bewu&szlig;tes Demagogentum.
+Er &uuml;berh&ouml;rte geflissentlich die Lehren der
+Psychologie und der Geschichte, aus denen er h&auml;tte
+folgern k&ouml;nnen, da&szlig; die Verteidigung der Tradition,
+der grundlegenden Dogmen des Sozialismus notwendig
+zu demselben Ha&szlig;, derselben Verfolgung der Angreifer
+f&uuml;hren mu&szlig;, wie einst die des Heidentums gegen die
+Christen, der r&ouml;mischen Kirche gegen die Reformation.</p>
+
+<p>Aber ein noch merkw&uuml;rdigeres Zeichen daf&uuml;r, wie
+wenig blo&szlig;e Erkenntnisse des Verstandes die urspr&uuml;ngliche,
+nur auf die Einfl&uuml;sse des Gef&uuml;hls reagierende
+Natur des Menschen zu &auml;ndern verm&ouml;gen, war die
+Haltung der Radikalen. Sie verleugneten in ihrem
+Zorn eine der Grundlagen ihrer eigenen Anschauung:
+die materialistische Geschichtsauffassung. Es war die
+befreiendste Lehre, die Marx hinterlie&szlig;, zu der sich allm&auml;hlich,
+bewu&szlig;t oder unbewu&szlig;t, auch Nichtsozialisten
+bekannten: da&szlig;, da &raquo;alles flie&szlig;t&laquo;, auch die Theorien
+sich entwickeln m&uuml;ssen, entsprechend den Wandlungen
+des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. In diesem
+Sinne war der Revisionismus marxistisch und der Radikalismus
+reaktion&auml;r.</p>
+
+<p>Die ernsten K&auml;mpfe zwischen den beiden Richtungen
+spielten sich zwischen den geistigen F&uuml;hrern ab, von
+denen die einen die Masse der Arbeiterschaft hinter sich
+hatten, die anderen noch Offiziere waren ohne Armee.
+In dem harten Sch&auml;del der Proletarier sa&szlig; jeder Buchstabe
+des sozialistischen Apostolikums noch fest; wurde
+der Kampf daher in die Volksversammlungen getragen,
+so &auml;u&szlig;erte er sich in w&uuml;stem Geschimpfe gegen die
+Neuerer, die dem Armen das Beste zu ersch&uuml;ttern
+<a name="Page_412" id="Page_412"></a>drohten, was ihnen der Sozialismus gegeben hatte:
+ihren Glauben. Es kam aber noch ein anderes hinzu:
+der Respekt vor der Wissenschaft, zu dem der Sozialismus
+sie verpflichtete, ging Hand in Hand mit einem
+gl&uuml;henden Verlangen nach Wissen. Bildungsschulen,
+wissenschaftliche Vortr&auml;ge und Kurse kamen diesem Verlangen
+entgegen und pfropften auf den lebensschwachen
+Baum der Volksschule ein Reis, unter dessen Fr&uuml;chten
+Dilettantismus und Bildungsd&uuml;nkel am besten gediehen.
+Wozu ernste Denker Jahrzehnte brauchen, das glaubte
+der Proletarier in ein paar Abendstunden erreichen zu
+k&ouml;nnen. Da&szlig; er es glaubte, war nicht seine Schuld:
+die Naivit&auml;t seiner Jugend unterst&uuml;tzte die Partei, die
+ihm in Wort und Schrift nichts mehr einpr&auml;gte als
+die &Uuml;berzeugung von der Dummheit seiner Gegner. Als
+Gegner aber erschienen ihm auch die Revisionisten. Zu
+seinem gef&uuml;hlsm&auml;&szlig;igen Ha&szlig; gegen die Unruhstifter trat
+die hochm&uuml;tige Verachtung der Akademiker hinzu.</p>
+
+
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Einmal, &mdash; ich war gerade von einer Agitationsreise
+zur&uuml;ckgekehrt, &mdash; beklagte ich mich dar&uuml;ber,
+als Reinhard gerade bei uns war.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe Sie sonst f&uuml;r so verst&auml;ndig gehalten,&laquo;
+sagte er; &raquo;da&szlig; Sie nun auch so nerv&ouml;s, so empfindlich
+geworden sind! &mdash; Ich kann Ihnen versichern: mir selbst
+kommt der Krakehl zum Halse heraus! Er macht unsere
+Leute kopfscheu; von jedem Gegner wird er uns aufs
+Butterbrot geschmiert. Au&szlig;erdem haben wir doch jetzt,
+ein Jahr vor den Reichstagswahlen und angesichts der<a name="Page_413" id="Page_413"></a>
+Zolltarif-Vorlage Besseres zu tun, als uns &uuml;ber die Verelendungstheorie
+die K&ouml;pfe blutig zu schlagen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sind wir etwa daran schuld?!&laquo; fuhr Heinrich auf.
+&raquo;Oder nicht viel mehr die Gro&szlig;inquisitoren der &#8250;Neuen
+Zeit&#8249;, die seit Jahr und Tag ihre Sp&uuml;rhunde auf uns
+hetzen?! Die jungen Leute, die noch nichts geleistet
+haben, als ihnen nachzubeten, gestatten, gegen alte verdiente
+Genossen, &mdash; einen Jaur&egrave;s, einen Auer, einen
+Vollmar, &mdash; wie gegen Schwachk&ouml;pfe oder Verr&auml;ter vom
+Leder zu ziehen?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Propheten aus dem Osten nicht zu vergessen,
+die desgleichen tun&nbsp;&mdash;,&laquo; unterbrach ihn Reinhard mit
+einem sarkastischen L&auml;cheln.</p>
+
+<p>&raquo;Die geh&ouml;ren in dieselbe Kategorie, nur da&szlig; ihre, &mdash; na,
+sagen wir parlamentarisch: Unbescheidenheit
+noch gr&ouml;&szlig;er ist. Vom Kothurn ihrer Unentwegtheit
+herab f&uuml;hren sie das gro&szlig;e Wort, und ihr Ziel ist offensichtlich
+der Bannfluch, d.&nbsp;h. der Ausschlu&szlig; aller derer
+aus der Partei, die eine selbst&auml;ndige Meinung haben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn man Sie so schimpfen h&ouml;rt, lieber Brandt,
+k&ouml;nnte man die Schicksalsf&uuml;gung segnen, die Sie bisher
+verhinderte, Ihre Zeitschrift ins Leben zu rufen,&laquo; sagte
+Reinhard. &raquo;Wenn Sie all Ihre Wut noch in Druckerschw&auml;rze
+verwandeln w&uuml;rden!!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie irren sehr, wenn Sie glauben, ich werde mein
+Blatt zum Kampfplatz f&uuml;r Theoretiker machen,&laquo; entgegnete
+Heinrich ruhig. &raquo;Mir w&uuml;rde es in erster Linie
+darauf ankommen, praktische Politik zu treiben. Da&szlig;
+das auf allen Gebieten des &ouml;ffentlichen Lebens notwendig
+ist, da&szlig; es endlich an der Zeit wird, den ruhenden
+Kolo&szlig; der Partei in Bewegung zu setzen und Tages<a name="Page_414" id="Page_414"></a>arbeit
+verrichten zu lassen, &mdash; das scheint mir das wichtigste
+Ergebnis der gegenw&auml;rtigen Bewegung.&laquo;</p>
+
+<p>Reinhard stand auf, stampfte &auml;rgerlich mit der Kr&uuml;cke
+auf den Boden und sagte: &raquo;Als ob das alles eine blitzblanke
+neue Erfindung w&auml;re! Was war es denn, was
+wir lange vor Bernstein in den Parlamenten, in den
+Kommunen, in den Gewerkschaften und Genossenschaften
+getrieben haben?! Der ganze Unterschied zwischen den
+Revisionisten und den Radikalen ist, da&szlig; die einen in
+der Arbeiterschutzgesetzgebung, in der Gewerkschafts- und
+Genossenschaftsbewegung, in der allm&auml;hlichen Demokratisierung
+des Staats nichts als Erziehungsmittel f&uuml;r
+das Proletariat erblicken, und die anderen Sozialisierungen
+der Gesellschaft, Voraussetzungen des Sozialismus.
+Dem Arbeiter aber ist's wirklich einerlei, wie die
+Dinge hei&szlig;en, die er bekommt, wenn er sie nur &uuml;berhaupt
+kriegen kann. Und darum&nbsp;&mdash;&laquo; er ging erregt
+im Zimmer auf und nieder &mdash; &raquo;begreife ich die ganzen
+Skandale nicht und f&uuml;hle es meinen Genossen nach,
+wenn sie euch Akademiker mi&szlig;trauisch betrachten. Wir
+sind ja auf dem besten Wege, &mdash; was werft ihr Steine
+in unseren Teich?! Sehen Sie sich z.&nbsp;B. mal die
+Tagesordnung unseres Stuttgarter Gewerkschaftskongresses
+an! Sie waren ja dabei, als man sich w&uuml;tend an die
+Gurgeln fuhr, weil der eine die sozialpolitische T&auml;tigkeit
+der Gewerkschaften forderte, der andere sie f&uuml;r
+sch&auml;dlich hielt. Und ich selbst, &mdash; Sie besinnen sich! &mdash; war
+der radikalsten einer. An meiner eigenen Entwicklung
+m&ouml;gen Sie die Entwicklung der ganzen Bewegung
+messen. In aller Stille ist viel Wasser die
+Spree hinuntergelaufen, und jetzt sind wir mitten drin
+<a name="Page_415" id="Page_415"></a>in der Sozialpolitik. Oder betrachten Sie unsere Haltung
+in der inneren Politik: denken Sie an die Budgetbewilligung
+der Badener im vorigen Jahr, &mdash; Bebel
+hat sie freilich hinterher heruntergeputzt, &mdash; oder an
+die Zustimmung unserer bayrischen Landtagsfraktion
+zur Wahlreform, &mdash; Bebel wird sie nat&uuml;rlich darum
+auch noch unter die Lupe des Prinzips nehmen&nbsp;&mdash;.
+Und, vor allem!, erinnern Sie sich, wie selbst die &auml;rgsten
+berliner Revolution&auml;re mit dem dreifachen R jetzt
+stramm und einig zur Landtagswahl aufmarschieren.
+Von dem Augenblick an, wo der Parlamentarismus den
+Charakter des Kr&auml;utchens R&uuml;hrmichnichtan f&uuml;r uns verloren
+hatte, sind wir folgerichtig weitergegangen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich hatte ihm mit wachsendem Interesse zugeh&ouml;rt.
+&raquo;Und was wollen Sie mit alledem beweisen?&laquo; fragte ich.</p>
+
+<p>&raquo;Da&szlig; der ganze Stank und Zank &uuml;berfl&uuml;ssig ist. &mdash; Sowohl
+vom Standpunkt eurer Angst um Versumpfung
+und Verkn&ouml;cherung der Partei, wie vom Standpunkt all
+der radikalen Kassandras m&auml;nnlichen und weiblichen
+Geschlechts, die um unser sozialistisches Seelenheil
+zittern. Wahrhaftig: wenn wir mit der Bourgeoisie
+paktieren, so doch nur, um f&uuml;r uns das Sch&auml;fchen ins
+Trockne zu bringen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich folgere aus Ihren Beweisf&uuml;hrungen etwas ganz
+anderes,&laquo; rief ich aus. &raquo;Da die Praxis wieder einmal
+der Theorie vorausgeeilt ist, so mu&szlig; die Theorie sich
+ihr anpassen, sonst kommt der Moment, wo das Band
+zwischen beiden zerrei&szlig;t. Die Lehre von der planm&auml;&szlig;igen
+Demokratisierung und Sozialisierung der kapitalistischen
+Gesellschaft mu&szlig; an Stelle des Dogmas von
+der alleinseligmachenden Revolution treten&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+<p><a name="Page_416" id="Page_416"></a></p>
+<p>&raquo;Aber das ist doch genau dasselbe!&laquo; polterte Reinhard.
+&raquo;Selbst der d&uuml;mmste Radikale denkt doch nicht im
+Schlaf daran, da&szlig; er die H&auml;nde nur in den Scho&szlig; zu
+legen und auf die gebratene Taube der politischen Macht
+zu warten braucht, die ihm ins Maul fliegen wird!
+Jeder Rekrut in unserer Armee sieht alle Tage, wie sie
+sich jede Handbreit politischer Macht schrittweise erobern
+mu&szlig;. Ebenso w&auml;chst ihr Einflu&szlig; nur nach und nach,
+und das ber&uuml;hmte Endziel kann nichts anderes sein als
+die letzte Kr&ouml;nung des Geb&auml;udes.&laquo;</p>
+
+<p>Mein Mann l&auml;chelte: &raquo;Ich sage ja: Sie sind Revisionist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Zum Donnerwetter, nein! &mdash; Ich bin Sozialdemokrat!&laquo; &mdash; Reinhards
+Augen gl&auml;nzten &mdash; &raquo;Und ihr seid
+Rabulisten.&laquo;</p>
+
+<p>Beim Abschied nahm sein Gesicht wieder den alten,
+gutm&uuml;tig-freundlichen Ausdruck an.</p>
+
+<p>&raquo;Nichts f&uuml;r ungut, Genossen!&laquo; brummte er mit einem
+leichten Anflug von Verlegenheit; dann reichte er
+meinem Mann die Hand. &raquo;Sie k&ouml;nnen auf mich
+rechnen. Wenn Ihr Blatt praktische Politik treiben
+wird, &mdash; in bewu&szlig;tem Gegensatz zu unseren Zeitschriften
+von rechts und links, die sich um des Kaisers Bart
+raufen, &mdash; so wird es befreiend wirken und seines Erfolges
+bei unseren Genossen sicher sein.&laquo;</p>
+
+<p>Als er gegangen war, reichte mir mein Mann einen
+Brief von Romberg.</p>
+
+<p>&raquo;...&nbsp;Ihre Pl&auml;ne sind mir immer wieder durch den
+Kopf gegangen,&laquo; schrieb er, &raquo;und der Gedanke, das
+&#8250;Archiv&#8249; selbst zu erwerben, lie&szlig; mich nicht los. Trotzdem
+bin ich zu dem Entschlu&szlig; gelangt, meine pers&ouml;n<a name="Page_417" id="Page_417"></a>lichen
+W&uuml;nsche nicht nur zu unterdr&uuml;cken, sondern Ihnen
+&uuml;berdies den dringenden Rat zu geben, die Verkaufsidee &uuml;berhaupt
+fallen zu lassen. Sie wissen selbst, da&szlig; das neue
+Unternehmen, dem Sie Ihren Brotgeber, das Archiv,
+opfern wollen, in bezug auf seinen materiellen Erfolg
+ein ganz unsicheres ist. St&uuml;nden Sie allein, so k&ouml;nnten
+Sie meinetwegen den Husarenritt unternehmen, aber
+Sie haben Familie, &mdash; ver&uuml;beln Sie es meiner aufrichtigen
+Freundschaft nicht, wenn mich die Sorge um
+sie in diesem Zusammenhang von ihr sprechen l&auml;&szlig;t. Ich
+wei&szlig;: Frau Alix zieht in diesem Augenblick z&uuml;rnend die
+Brauen zusammen; sie ist ja noch fanatischer, noch
+leichtsinniger wie Sie. Seien Sie darum doppelt klug
+f&uuml;r beide und erhalten Sie sich das Archiv. Es kann
+einmal die Rolle der Planke spielen, die Sie vor dem
+Ertrinken rettet&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Ich warf den Brief heftig auf den Tisch. &raquo;Da&szlig;
+Romberg solch bourgeoise Anschauungen hat!&laquo; rief ich
+aus. &raquo;Als ob wir beide nicht im Notfall schwimmen
+k&ouml;nnten!&laquo; Heinrich zog mich z&auml;rtlich in die Arme.</p>
+
+<p>&raquo;Da&szlig; du so denkst, wei&szlig; ich,&laquo; sagte er, &raquo;trotzdem
+werde ich handeln wie ein Bourgeois!&laquo; Ich wollte auffahren.
+&raquo;So h&ouml;re doch erst zu, ehe du schimpfst!&laquo;
+meinte er l&auml;chelnd. &raquo;Besinnst du dich auf Lindner, den
+jungen Dichter, den wir auf dem Pariser Kongre&szlig; getroffen
+haben?&laquo; Ich nickte. &raquo;Er tauchte vor kurzem
+hier auf und besuchte mich, w&auml;hrend du weg warst: ein
+sympathischer Mensch, dessen Sch&uuml;chternheit alle seine
+guten Absichten im Keime erstickt. Er m&ouml;chte in der
+Partei wirken; aber auf der einen Seite f&uuml;rchtet er als
+Akademiker das Mi&szlig;trauen der Genossen, auf der an
+<a name="Page_418" id="Page_418"></a>deren Seite st&ouml;&szlig;t ihn die P&ouml;belgesinnung zur&uuml;ck, die
+ihm vielfach schon begegnete. Er sch&uuml;ttete mir sein
+Herz aus; dabei erfuhr ich, da&szlig; er der einzige Sohn
+reicher Leute ist. Ich sprach ihm von unserem Plan, er
+war sofort Feuer und Flamme daf&uuml;r.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und gibt die Mittel?!&laquo; unterbrach ich Heinrich erregt.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn die Eltern, von denen er noch abh&auml;ngig ist,
+sie ihm bewilligen&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Endlich dem Ziele nah! war der einzige Gedanke,
+der mich beherrschte; winzig erschienen ihm gegen&uuml;ber
+die noch vorhandenen Hindernisse.</p>
+
+<p>Einige Tage sp&auml;ter kam Lindner zu uns: ein lang
+aufgeschossener blonder Mensch, mit kurzsichtig zwinkernden
+bla&szlig;blauen &Auml;uglein und schlaffen, feuchten H&auml;nden.
+Er gefiel mir nicht. Aber ich unterdr&uuml;ckte rasch diese
+erste instinktm&auml;&szlig;ige Empfindung.</p>
+
+<p>&raquo;Ich m&ouml;chte den Arbeitern die Kunst nahe bringen,&laquo;
+sagte er im Verlauf unseres schwerf&auml;llig sich hinschleppenden
+Gespr&auml;chs.</p>
+
+<p>&raquo;Die Freien Volksb&uuml;hnen erf&uuml;llen, wie mir scheint,
+Ihren Wunsch. Sie haben Tausende von Mitgliedern
+aus Arbeiterkreisen und leisten Vorz&uuml;gliches,&laquo; antwortete
+ich.</p>
+
+<p>&raquo;So meinte ich es nicht, nein&nbsp;&mdash;,&laquo; und die Stimme
+unseres Gastes, die noch den Timbre der Knabenstimme
+hatte, obwohl er l&auml;ngst &uuml;ber die Entwicklungsjahre
+hinaus war, wurde lebhafter; &raquo;ich dachte, es
+m&uuml;&szlig;te m&ouml;glich sein, das K&uuml;nstlertum im Proletariat zu
+erwecken, eine neue Kunst &mdash; die Kunst der Zukunft &mdash; entstehen
+zu lassen. Ich w&uuml;rde das als meine Aufgabe ansehen.&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_419" id="Page_419"></a>Ich musterte ihn genauer: er war gar nicht dumm,
+er hatte sogar einen originellen Zug.</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube nicht recht daran,&laquo; sagte ich dann langsam.
+&raquo;Da&szlig; die Talente sich durchsetzen, geh&ouml;rt zu den
+Fabeln der Menschheit. Der harte Kampf ums Dasein
+erstickt die meisten ihrer Keime. Und die davon doch
+zur Bl&uuml;te gelangen, verk&uuml;mmern schlie&szlig;lich im Dilettantismus.
+Vielleicht w&uuml;rden die von Ihnen erhofften
+Talente statt freier K&uuml;nstler H&ouml;rige des Proletariats,
+wie die Talente, auf die wir vor zehn Jahren hofften,
+H&ouml;rige des Kapitalismus geworden sind..&laquo;</p>
+
+<p>Mein Junge kam herein und erf&uuml;llte das Zimmer im
+Augenblick mit seiner strahlenden Frische. Wie eine
+Pflanze, die im Dunkel gestanden hat mit blassen saftlosen
+Trieben, wirkte Lindner jetzt auf mich. Er tat
+mir leid, und ich wurde darum weicher. Er erz&auml;hlte
+von seinen Eltern. Sie hatten gro&szlig;e Hoffnungen auf
+ihn gesetzt, und da&szlig; er sie immer wieder entt&auml;uschte,
+machte ihn selbst mutlos. Aber jetzt, &mdash; jetzt w&uuml;rde er
+um seine &Uuml;berzeugung, &mdash; um seine Zukunft mit ihnen
+k&auml;mpfen!</p>
+
+<p>Er gewann Vertrauen zu mir. Und wenn er
+meine instinktive Abneigung immer wieder hervorrief,
+so &uuml;berwand das Mitleid mit dieser armen Greisenseele
+eines J&uuml;nglings sie eben so oft. Seine Besuche
+waren oft recht unbequem. Wie die meisten Menschen,
+f&uuml;r die die Arbeit nur eine Nebenbesch&auml;ftigung ist,
+hatte er keinen Respekt vor der Zeit. Er f&uuml;hlte
+nicht, da&szlig; er st&ouml;rte, und wenn man es ihm andeutete,
+so war er gekr&auml;nkt. Nur wenn er mit Ottochen spielen
+konnte, merkte er nicht, da&szlig; ich ihn hatte los werden
+<a name="Page_420" id="Page_420"></a>wollen. Er liebte die kleinen Kinder und lie&szlig; sich von
+meinem f&uuml;nfj&auml;hrigen Wildfang mit einer Gutm&uuml;tigkeit
+tyrannisieren, die r&uuml;hrend war. Oft h&ouml;rte ich durch die
+T&uuml;re die hellen Kommandot&ouml;ne meines Jungen.</p>
+
+<p>Mein Bub'! Da&szlig; ich nur heimlich, wie aus dem
+Hinterhalt, sein Geplauder belauschen durfte! Da&szlig; ich mir
+die Stunden f&uuml;r ihn stehlen mu&szlig;te! Ich war abermals
+einem falschen feministischen Lehrsatz auf der Spur.
+Nicht der S&auml;ugling bedarf der Mutter am meisten. All
+die vielen, mechanischen Dienste, die der kleine K&ouml;rper
+fordert, versteht eine geschulte Pflegerin besser als sie.
+Erst der erwachende Geist braucht die Augen der Mutter,
+die jede seiner Regungen sieht, und ihre Sorgfalt, die
+allein wei&szlig;, welche seiner vielen Triebe beschnitten,
+welche gest&uuml;tzt, welche der Sonne und dem Wetter ausgesetzt
+werden k&ouml;nnen. Und Millionen Frauen d&uuml;rfen
+es nicht! Nie erschien mir unsere Gesellschaftsordnung
+widersinniger: sie zwingt den Staat, Gef&auml;ngnisse zu
+bauen f&uuml;r die Verbrecher und F&uuml;rsorgeerziehungsanstalten
+f&uuml;r die verwahrloste Jugend, der sie die M&uuml;tter genommen hat.</p>
+
+<p>Sollten wir wirklich darauf warten m&uuml;ssen, bis sich
+in hundert und aberhundert Jahren der Proze&szlig; der
+Sozialisierung der Gesellschaft abgespielt hat? War
+unsere wirtschaftliche und technische Entwicklung nicht
+heute schon so weit vorgeschritten, um durch eine sozialistische
+Organisation in Verbindung mit der allgemeinen
+Arbeitspflicht, die Herabsetzung der Arbeitszeit auf das
+geringste Tagesma&szlig; zu erm&ouml;glichen und den Kindern
+nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater zur&uuml;ckzugeben?
+In dem leidenschaftlichen Zorn, der mich gegen
+<a name="Page_421" id="Page_421"></a>die H&uuml;ter der bestehenden Ordnung erf&uuml;llte, konnte ich
+nicht anders, als sie f&uuml;r Heuchler oder f&uuml;r Dummk&ouml;pfe
+zu erkl&auml;ren. Die Frauen galt es, wider sie zu emp&ouml;ren!
+Mutterliebe ist das st&auml;rkste Gef&uuml;hl in der Welt, st&auml;rker
+als die Leidenschaft der Geschlechter, st&auml;rker als der
+Hunger. Einmal von den Fesseln befreit, in die die
+Tradition sie zw&auml;ngte, mu&szlig; sie zum Motor werden, der
+die Gesellschaft aus den Angeln hebt.</p>
+
+<p>Ich wandte mich in meinen Reden immer mehr an
+die Frauen. Ich peitschte ihre Empfindung auf; ich erkl&auml;rte
+sie f&uuml;r die Schuldigen, wenn ihre Kinder hungerten
+an Leib und Geist, wenn sie verkamen, wenn die Maschine
+ihre Jugend zerfra&szlig;, wenn sie im Zuchthaus
+endeten. Der Zolltarif mit seiner Verteuerung aller
+Lebensmittel, der zu gleicher Zeit die Reichstagsdebatten
+beherrschte, die Fleischteuerung, die eine Folge der
+Schlie&szlig;ung der Grenzen war, &mdash; kurz, die ganze agrarische
+Reichspolitik, in die die Regierung eingeschwenkt
+war, boten mir die Handhabe, um an die n&auml;chsten Interessen
+der Frauen anzukn&uuml;pfen, an jene Frage, die je
+nach der Bedeutung, die sie f&uuml;r die Glieder des Volkes
+hat, ein Gradmesser der Menscheitskultur sein kann: wie
+s&auml;ttige ich meine Kinder?</p>
+
+<p>Von einer meiner Versammlungen war ich fast stimmlos
+zur&uuml;ckgekehrt.</p>
+
+<p>&raquo;Sie d&uuml;rfen weder in Rauch noch in Staub sprechen,&laquo;
+sagte der Arzt wie schon einmal vor Jahren.</p>
+
+<p>Ich lachte ihm ins Gesicht, lie&szlig; mir den Hals ein
+paarmal einpinseln und fuhr nach Schlesien. Mit
+&auml;u&szlig;erster Anstrengung gelang es mir, noch zwei Reden
+zu halten. Dann versagte die Stimme ganz.</p>
+
+<p><a name="Page_422" id="Page_422"></a>Jetzt erkl&auml;rte der Arzt, da&szlig; ich sobald als m&ouml;glich
+fort m&uuml;sse: &raquo;In gute reine Luft, am besten ins Gebirge.&laquo;
+Ich sch&uuml;ttelte den Kopf. Wie konnte ich an
+eine Sommerreise denken?!</p>
+
+<p>&raquo;Die Gesundheit geht allem anderen voraus,&laquo; sagte
+mein Mann, &raquo;heute noch kannst du packen und morgen
+in den Alpen sein.&laquo;</p>
+
+<p>Die Frage, ob solch eine Reise m&ouml;glich w&auml;re, schien
+ihn keinen Augenblick zu beunruhigen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann den Kleinen nicht wochenlang allein lassen&nbsp;&mdash;,&laquo;
+wandte ich ein.</p>
+
+<p>&raquo;Nat&uuml;rlich: Ottochen nimmst du mit,&laquo; antwortete
+Heinrich ohne Besinnen, &raquo;auch diesem Stadtpfl&auml;nzchen
+wird das Landleben gut tun.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Um jene Zeit war mein Schwager Erdmann gestorben.
+Meine Mutter kam mit Ilse nach
+Berlin zur&uuml;ck. Ich erschrak, als ich sie sah.
+Jetzt erst war sie wirklich alt geworden, unausl&ouml;schlich
+hatten sich die Falten der Verbitterung um ihre Mundwinkel
+eingegraben. Zwischen ihre fest aufeinandergepre&szlig;ten
+Lippen kam kein Laut der Klage. Aber wenn
+Ilse neben ihr stand in all ihrer strahlenden Jugend,
+mit den Augen, die sehns&uuml;chtig die Sonne suchten nach
+all dem monatelangen Leid, dann f&uuml;hlte ich die ganze
+Qual dieses Zusammenlebens.</p>
+
+<p>Sie kamen h&auml;ufig allein zu mir, und ich mu&szlig;te immer
+wieder zwischen ihnen vermitteln. Endlich fa&szlig;te ich den
+Mut, der Mutter ehrlich meine Meinung zu sagen:</p>
+
+<p>&raquo;Warum l&auml;&szlig;t du sie nicht frei? &mdash; Viele in ihrem<a name="Page_423" id="Page_423"></a>
+Alter stehen allein in der Welt. Wozu qu&auml;lst du dich
+selbst und sie?&laquo;</p>
+
+<p>Die Mutter wurde hochrot im Gesicht. &raquo;Da sieht
+man, wohin eure religionslose Moral euch f&uuml;hrt!&laquo; rief
+sie. &raquo;Nicht genug, da&szlig; du im Lande umherziehst und
+die Frauen gegen Kirche und Staat aufhetzst, wie mir
+mein Bruder erz&auml;hlt, du respektierst nicht einmal
+mehr die selbstverst&auml;ndlichsten Gebote der Mutter- und
+der Kindespflicht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; antwortete ich erregt. &raquo;Eine Pflicht, die
+kein Gebot des Herzens ist, eine Pflicht, die sich wie
+ein antiker Schicksalsspruch durchsetzen will, auch wenn
+die Menschen dabei zugrunde gehen, erkenne ich nie und
+nimmer an. &mdash; Was Onkel Walter erz&auml;hlt, sollte dir
+&uuml;brigens nichts Neues sein: du wei&szlig;t, da&szlig; ich Sozialdemokratin
+bin. Da&szlig; meine Agitation ihm jetzt, wo sie
+sich gegen seine speziellen agrarischen Interessen richtet,
+besonders antipathisch ist, scheint mir auch nur selbstverst&auml;ndlich.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und ich hatte gehofft, da&szlig; die Mutter in dir dich allm&auml;hlich
+von diesen Abwegen zur&uuml;ckf&uuml;hren w&uuml;rde&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Mutter in mir treibt mich vorw&auml;rts!&laquo; unterbrach
+ich sie.</p>
+
+<p>&raquo;Lehrt sie dich auch jede Familienr&uuml;cksicht &uuml;ber Bord
+werfen? Nicht daran denken, wie du alle kompromittierst,
+die unseren Namen tragen? Wie mein Bruder sich sogar
+gezwungen sieht, ein Mandat f&uuml;r den n&auml;chsten Reichstag
+nicht mehr anzunehmen?!&laquo; Ihr Zorn fing an, mich
+zu entwaffnen.</p>
+
+<p>&raquo;Liebe Mutter, das alles wollen wir, denke ich, nicht
+wieder aufr&uuml;hren,&laquo; sagte ich ruhig. &raquo;Die Verwandten
+<a name="Page_424" id="Page_424"></a>haben sich l&auml;ngst in aller Form von mir losgesagt, und
+wenn es f&uuml;r mich Familienr&uuml;cksicht gibt, so ist es allein
+die auf mein Kind.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gerade an diesem Kind wirst du f&uuml;r all das Ungl&uuml;ck,
+das du &uuml;ber uns gebracht hast, b&uuml;&szlig;en m&uuml;ssen!&laquo; rief die
+Mutter mit funkelnden Augen.</p>
+
+<p>Ich war von dem drohenden Ton ihrer Stimme betroffen.
+&raquo;Was meinst du damit?!&laquo; frug ich.</p>
+
+<p>&raquo;Solltest du f&uuml;r Otto etwa nicht auf Klotildens Erbe
+hoffen?&laquo; entgegnete sie. &raquo;Hat sie dich seit deiner Heirat
+jemals eingeladen?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich stehe dauernd in brieflichem Verkehr mit ihr.
+Sie hat mir erst k&uuml;rzlich &uuml;ber meine &#8250;Frauenfrage&#8249; Worte
+w&auml;rmster Anerkennung geschrieben. Und da&szlig; sie mich
+nicht bei sich sehen kann, begreife ich vollkommen. Ich
+w&uuml;rde ihre Freunde vertreiben, an denen sie h&auml;ngt,&laquo;
+antwortete ich ausweichend.</p>
+
+<p>&raquo;Nun so la&szlig; dir von mir gesagt sein, da&szlig; die Berichte
+&uuml;ber deine agitatorische T&auml;tigkeit sie aufs &auml;u&szlig;erste emp&ouml;rten.
+Jenny Kleve kam eben aus Augsburg zur&uuml;ck&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich bi&szlig; mir heftig auf die Unterlippe. &raquo;Jenny Kleve!
+Allerdings eine gute Quelle! Und eine geeignete Vertreterin
+meiner Interessen!&laquo; spottete ich. &raquo;Bist du es
+nicht gewesen, die alles daran setzte, um zwischen ihr
+und ihren Geschwistern und Tante Klotilde n&auml;here Beziehungen
+herzustellen?! Dein eigener Bruder warnte
+dich damals, dir kein Kuckucksei ins Nest zu legen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe nur meine Pflicht getan,&laquo; erkl&auml;rte die Mutter.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_425" id="Page_425"></a></p>
+
+<p>Tante Klotildens Erbschaft! Der Gedanke bohrte
+sich mir in Hirn und Herz. Mit einer Sicherheit,
+die nie auch nur den geringsten Zweifel
+aufkommen lie&szlig;, hatte ich stets auf sie gerechnet. Ich
+wu&szlig;te: ihrem geliebten &auml;ltesten Bruder, meinem Vater,
+hatte sie versprochen, f&uuml;r mich sorgen zu wollen; er hatte
+mir noch kurz vor seinem Tode den Inhalt ihres Testamentes
+vorgelesen, und hinzugef&uuml;gt: &raquo;Da&szlig; ich Deine und
+Deines Jungen Zukunft gesichert wei&szlig;, wird mir
+das Sterben erleichtern. Habe ich doch selbst gar nicht
+f&uuml;r Euch sorgen k&ouml;nnen!&laquo; &Uuml;ber manche schwere Stunde
+hatte die Erinnerung daran mir hinweggeholfen: Mag
+kommen, was will, mein Kind wird einmal nicht darben!
+Sollte sie ihr Wort brechen k&ouml;nnen?! Ein kalter Schauer
+ersch&uuml;tterte meinen K&ouml;rper. Ich wu&szlig;te, wie es tat, an
+die j&auml;mmerliche Notdurft des Lebens st&auml;ndig denken zu
+m&uuml;ssen. Wie viele junge Menschen hatte ich aus der
+Flut des Lebens auftauchen sehen, von einem starken
+Talent emporgetragen, und nach ein paar Jahren hatte
+das Bleigewicht der Not sie niedergezwungen!</p>
+
+<p>Mein Sohn sollte sich frei entwickeln k&ouml;nnen. Ich
+mu&szlig;te mich selbst &uuml;berzeugen, ob die Warnung meiner
+Mutter berechtigt war.</p>
+
+<p>Mein Mann war b&ouml;se, als ich davon sprach. &raquo;Du
+wirst dich doch nicht mit den Kleves auf eine Stufe
+stellen?!&laquo; rief er aus. &raquo;Unser Junge hat es nicht n&ouml;tig,
+da&szlig; seine Mutter sich erniedrigt. Er wird stark genug
+sein, sich selbst durchzuk&auml;mpfen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich war so erregt, da&szlig; all die verschwiegenen Qualen
+hervorst&uuml;rzten wie ein entfesselter Wildbach: &raquo;Du frei<a name="Page_426" id="Page_426"></a>lich
+wirst nichts davon merken, wenn er sich gr&auml;mt,
+gerade so, wie du nicht merkst, nicht merken willst, wie
+mich die Sorgen niederdr&uuml;cken. Du schiltst, wenn ich
+nach deiner Ansicht nicht genau genug auf jeden Wurstzipfel
+achte, der in die K&uuml;che kommt, aber du fragst
+nicht danach, woher ich das Geld nehme, wenn du keins
+mehr hast und wir leben wollen!&laquo;</p>
+
+<p>Und ich erz&auml;hlte ihm, wie ich im vorigen Jahr den
+Verleger um Vorschu&szlig; hatte bitten m&uuml;ssen, wie ich mein
+bi&szlig;chen Schmuck heimlich aufs Versatzamt getragen hatte.
+Er wurde ganz bla&szlig;, und sein Gesicht nahm jenen harten,
+kalten Ausdruck an, vor dem ich mich immer f&uuml;rchtete.
+Tagelang gingen wir stumm nebeneinander her, w&auml;hrend
+das gezwungene Zusammensein uns stets aufs neue reizte.</p>
+
+<p>&raquo;Die Ehe ist doch eine gr&auml;&szlig;liche Einrichtung,&laquo; sagte
+Heinrich schlie&szlig;lich und reichte mir in vers&ouml;hnlicher
+Stimmung die Hand.</p>
+
+<p>Ich nickte eifrig und meinte l&auml;chelnd: &raquo;Wie stark
+mu&szlig; die Liebe sein, um sie auszuhalten!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die besten Freunde m&uuml;ssen einander unertr&auml;glich
+werden, wenn sie Tag und Nacht in denselben K&auml;fig
+gesperrt sind,&laquo; erg&auml;nzte er.</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube, es ist Zeit, da&szlig; wir f&uuml;r ein paar Wochen
+in Freiheit gesetzt werden,&laquo; wagte ich z&ouml;gernd auszusprechen; &mdash; ich
+erwartete jeden Tag die Antwort von
+Tante Klotilde auf meinen Brief, in dem ich sie gefragt
+hatte, ob es ihr recht w&auml;re, wenn ich mit dem Kleinen
+nach Grainau k&auml;me. Ich w&uuml;rde mir eine eigene Wohnung
+nehmen, &mdash; nat&uuml;rlich, &mdash; und sie nur besuchen,
+wenn sie uns sehen wollte. Mein Mann runzelte zwar
+noch die Stirn, aber er meinte dann doch lachend:<a name="Page_427" id="Page_427"></a>
+&raquo;Mach, da&szlig; du wegkommst, damit ich die Gattin los
+werde und die Geliebte wiederfinde.&laquo;</p>
+
+<p>Die Antwort kam, &mdash; eine k&uuml;hle, glatte Ablehnung.
+&raquo;Die Welt ist gro&szlig;,&laquo; schrieb sie, &raquo;Du brauchst Deine
+Sommerferien nicht gerade in Grainau zu verleben, wo
+die Situation f&uuml;r dich, &mdash; ganz abgesehen von der meinen,
+auf die Du ja keine R&uuml;cksicht zu nehmen scheinst&nbsp;&mdash;,
+eine wenig gem&uuml;tliche w&auml;re. Die Bauern w&uuml;rden
+Dir fremd, wenn nicht feindlich gegen&uuml;berstehen. Seit
+der Dienstbotenbewegung, die Du mit soviel L&auml;rm in
+Szene setztest, hast Du ihre Sympathie verloren. Deine
+st&auml;ndigen Angriffe auf unseren allverehrten Kaiser&laquo; &mdash; hier
+h&ouml;rte ich die Stimme der Kleves, die nur in
+der Potsdamer Hofluft zu atmen vermochten &mdash; &raquo;haben
+den vielleicht noch vorhandenen Rest vollends zerst&ouml;rt ...
+Ich bin eine alte, kranke Frau und brauche innere und
+&auml;u&szlig;ere Ruhe. Im &uuml;brigen wird meine Liebe zu Dir
+durch die r&auml;umliche Entfernung eher erhalten, als beeintr&auml;chtigt
+werden ...&laquo;</p>
+
+<p>Was nun? Gab es nichts mehr, das mir den Weg
+zu ihr bahnen k&ouml;nnte? &raquo;Gehen Sie ins Gebirge,&laquo; hatte
+der Arzt gesagt. Wenn ich nun doch reisen w&uuml;rde, &mdash; mit
+dem Kleinen, &mdash; irgend wohin nicht allzuweit von
+Grainau, wo der gl&uuml;ckliche Zufall eine Begegnung erm&ouml;glichen
+k&ouml;nnte! Ich war &uuml;berzeugt: sah sie mein
+Kind, ihr ganzes Herz w&uuml;rde gewonnen werden!</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_428" id="Page_428"></a></p>
+
+<p>In Mittenwald, dicht unterm Berg, fand ich bei
+einem Bauern ein Giebelzimmerchen und die
+gro&szlig;e, bunte Wiese, die ich meinem Liebling
+versprochen hatte. Den ganzen Tag spielte er dort mit
+dem kleinen Sohn des Hauses, dem Hansei, und seine
+wei&szlig;e Stadthaut br&auml;unte sich, und seine Muskeln wurden
+straff. Ich sa&szlig; indessen auf der Altane und schrieb alle
+m&ouml;glichen Artikel und freute mich, wenn das Honorar
+immer wieder eine Woche l&auml;ngeren Aufenthalt m&ouml;glich
+machte. Von fernher gl&auml;nzte und lockte die Zugspitze
+bis zu mir her&uuml;ber. Ich sah sie bei Nacht im Mondschein,
+wenn die Sterne am dunkeln Himmel sich bewundernd
+um sie scharten. Ich sah sie bei Tage, wenn
+die Sonne sie inbr&uuml;nstig k&uuml;&szlig;te und ihr doch nichts zu
+rauben vermochte von ihrer jungfr&auml;ulichen Reinheit.
+Ihr zu F&uuml;&szlig;en war das St&uuml;ckchen Erde, das ich liebte,
+wie keins in der Welt. Wo ich mein Jugendgl&uuml;ck fand
+und &mdash; begrub. Ich verstand, da&szlig; es Menschen gibt,
+die vor Heimweh krank werden.</p>
+
+<p>Auf unseren Spazierg&auml;ngen suchte ich immer die Wege,
+auf denen ich dem wei&szlig;en Berge n&auml;her kam, und erz&auml;hlte
+dem aufhorchenden Kleinen von ihm als der verzauberten
+Prinzessin und ihrem grauen finsteren W&auml;chter, dem
+Waxenstein. Dabei wurden mir wohl auch die Augen
+feucht. &raquo;Sei nich traurig, Mamachen,&laquo; tr&ouml;stete mich
+mein Kind. &raquo;Ein gro&szlig;er Held wird kommen und die
+Prinzessin befreien!&laquo;</p>
+
+<p>Einmal, als wir wieder zu dem stillen See aufw&auml;rts
+gingen, plauderte er lustig von den K&uuml;hen und den
+Blumen. Dann wurde er pl&ouml;tzlich still, ein gr&uuml;belnder<a name="Page_429" id="Page_429"></a>
+Zug trat in sein rundes Kindergesichtchen, und seine
+Wangen f&auml;rbten sich dunkler.</p>
+
+<p>&raquo;Der Hansei will Kutscher auf'n Stellwagen werden,&laquo;
+begann er unvermittelt; &raquo;ist das nicht dumm?!&laquo;</p>
+
+<p>Ich nickte zerstreut. Er schwieg wieder.</p>
+
+<p>Als wir uns aber im Walde lagerten, zog er meinen
+Kopf dicht an den seinen und fl&uuml;sterte aufgeregt: &raquo;Ich
+mu&szlig; dir ein gro&szlig;es Geheimnis sagen, &mdash; dir ganz allein.
+Ich will ein Held werden und alle schlechten Leute totschlagen!&laquo;</p>
+
+<p>Ich streichelte seinen Lockenkopf. &raquo;Das ist nicht leicht,
+mein Kind,&laquo; sagte ich ernst.</p>
+
+<p>&raquo;Oh, ich wei&szlig;! Aber was man will, das kann man auch!&laquo;
+rief er mit einem hellen Jauchzen in der Stimme. Ich
+zog ihn z&auml;rtlich an mich. Hatte ich es n&ouml;tig, um ihn
+zu bangen? Brauchte ich zu f&uuml;rchten, da&szlig; seine Zukunft
+von der Gunst der harten Frau dort dr&uuml;ben abh&auml;ngig
+werden k&ouml;nnte? Ich verga&szlig; allm&auml;hlich, weshalb ich hierher
+gekommen war. Ich sah nicht mehr erwartungsvoll
+die wei&szlig;e Stra&szlig;e hinauf, wo ich vor Zeiten so oft mit
+der Tante gefahren war.</p>
+
+<p>Es fiel von meiner Seele wie lauter dunkle Schleier.
+Die Sonne und die freie Bergluft ber&uuml;hrten sie wieder.
+Zuweilen kam ich mir selbst wie verzaubert vor: als sei
+all mein Tr&auml;umen, mein Hoffen und Sehnen aus mir
+herausgetreten und lebendig geworden in der Gestalt
+dieses Kindes.</p>
+
+<p>An den Wiesenwegen standen &uuml;berall Kruzifixe, Wahrzeichen
+jener Verneinung des Lebens, die uns gelehrt
+hat, Armut und Ungl&uuml;ck nicht als unsre &auml;rgsten Feinde,
+sondern als gottgewollt anzusehen.</p>
+<p><a name="Page_430" id="Page_430"></a></p>
+<p>&raquo;Ich kann einen angenagelten Gott nicht anbeten,&laquo;
+sagte mein Sohn.</p>
+
+<p>Unser Aufenthalt ging zu Ende. Ich mu&szlig;te zum
+Parteitag nach M&uuml;nchen. Aber ich konnte nicht fort,
+ohne dr&uuml;ben gewesen zu sein, wo auf dem H&uuml;gel die
+kleine wei&szlig;e Kirche steht und der gr&uuml;ne Badersee im
+Walde tr&auml;umt, mit dem Bilde der Zugspitze im Herzen.
+Wir fuhren nach Garmisch und wanderten &uuml;ber die
+Wiesen, an den braunen Heuschobern vorbei, dorthin,
+wo sich in leisen Wellenlinien das Tal erhebt, H&uuml;gel
+an H&uuml;gel von alten Baumriesen bekr&ouml;nt und bl&uuml;henden
+B&uuml;schen. Gl&auml;nzend wie ein Silberstreifen schl&auml;ngelt
+sich der Weg durch die Gr&uuml;nde, &mdash; braune und rote
+D&auml;cher tauchen auf, &mdash; schon pl&auml;tschert der Bergbach,
+der ganz, ganz oben in den Furchen und
+Spalten dem Felsen entspringt und vom Schnee sich
+n&auml;hrt und vom Eis: Das war Grainau&nbsp;&mdash;. &raquo;Und
+nun, Bubi, pa&szlig; auf: nun kommen die blauen und goldgelben
+H&auml;user mit den lustigen Heiligenbildern daran
+und den vielen, vielen Nelken auf den Altanen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wo denn, Mamachen?!&laquo;</p>
+
+<p>Ich sah mit gro&szlig;en Augen um mich. Wo waren sie
+nur? Die Erinnerung malte mir wohl ihr Bild, aber
+die Zeit hatte ihre Farben verl&ouml;scht, und &uuml;berall standen
+neue H&auml;user mit kalkwei&szlig;en W&auml;nden, &mdash; ohne den heiligen
+Florian in den Nischen, &mdash; blumenlos. Wie versch&uuml;chterte
+Bauernkinder vor den St&auml;dtern verkrochen
+sich die alten scheu in den Winkeln. Ich beschleunigte
+meine Schritte. Der Wald war derselbe geblieben,
+und zwischen den Buchenst&auml;mmen leuchtete schon der
+See. Dort wollt' ich stille Andacht halten! &mdash; Mein<a name="Page_431" id="Page_431"></a>
+Fu&szlig; stockte: ein gro&szlig;es Hotel erhob sich an seinem Ufer.
+In seine kristallklare Flut hatte man eine Nixe aus
+Bronze versenkt; auf den K&auml;hnen dr&auml;ngten sich die
+Menschen um sie und starrten hinunter. Aber den
+Badersee sahen sie nicht. Der lag ganz still und sah
+zum Himmel empor in gro&szlig;er, gro&szlig;er Einsamkeit. Und
+hinter dunkeln Wolken versteckten sich die Berge, als
+sch&auml;mten sie sich der Welt unter ihnen.</p>
+
+<p>Ich k&auml;mpfte mit den Tr&auml;nen. Meine Jugend hatte
+ich gesucht, &mdash; war ich nicht statt dessen pl&ouml;tzlich uralt
+geworden? Ich mochte nichts mehr sehen, auch das
+Rosenhaus nicht. Aber mein Junge gab nicht nach.</p>
+
+<p>Lange lagen wir auf dem Moose im Wald, den kleinen
+Rosensee uns zu F&uuml;&szlig;en, am jenseitigen Ufer das traute gr&uuml;numrankte
+Haus. Hier hatte sich nichts ver&auml;ndert. Und
+all die Bilder von Gl&uuml;ck und Leid, die dieser Rahmen
+einst umschlo&szlig;, zogen an mir vor&uuml;ber. Die Jahre zwischen
+damals und heut w&auml;ren mir wie ein Traum erschienen,
+wenn nicht das Kind neben mir mich an die lebendige
+Gegenwart erinnert h&auml;tte. Ich stand auf und reckte
+den K&ouml;rper. Der Abschied von diesem Haus, diesem
+See, diesem Wald war der erste Schritt in das neue
+Leben gewesen. Ich bereute ihn nicht. Dankbar sah
+ich noch einmal hin&uuml;ber. Trotz alledem: dieser Erdenwinkel
+blieb mein.</p>
+
+<p>Eine wei&szlig;haarige Frau, die den schweren K&ouml;rper
+nur m&uuml;hsam am Stock vorw&auml;rts bewegte, trat aus
+der T&uuml;r in den Garten. Uns entgegen auf dem
+schmalen Steg kam hastig ein hellgekleidetes M&auml;dchen.
+Dicht vor mir blieb sie sekundenlang mit weit aufgerissenen
+Augen stehen. Es war Jenny Kleve. Dann sah
+<a name="Page_432" id="Page_432"></a>ich noch, wie sie hin&uuml;berlief, mit erregten Gesten auf
+die alte Frau einsprach, und wie diese dem herbeigerufenen
+Diener eine Weisung erteilte. Ich lachte
+auf: jetzt hat sie Befehl gegeben, mich nicht vorzulassen,
+dachte ich; &mdash; Jenny Kleve, auf diesen Triumph
+freust du dich umsonst!</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>In M&uuml;nchen erwartete uns Berta, mit der der
+Kleine nach Berlin zur&uuml;ckreisen sollte.</p>
+
+<p>H&auml;tte ich nur mit ihnen heimreisen k&ouml;nnen!
+All der Staub der Stadt, der meine Lunge erf&uuml;llt,
+der grau und schwer die Glut meines Herzens fast erstickt
+hatte, war vom Bergwind weggeweht worden.
+Mein Kind, &mdash; mein Geliebter, &mdash; waren sie nicht der
+Inhalt meines Lebens? Mein Geliebter, &mdash; nicht mein
+Gatte, an dessen Seite nichts mich zwang als ein St&uuml;ck
+Papier. &raquo;Die gel&auml;uterte Moral der Zukunft wird die
+Roheit unserer Gesittung nicht verstehen,&laquo; schrieb ich an
+Heinrich, &raquo;die die Beziehungen der Geschlechter, wie die
+zwischen Unternehmer und Arbeiter, zwischen Herrn und
+Diener, mittelst eines formulierten Vertrages regeln
+wollte, die die Frau n&ouml;tigte, als Symbol des Ausl&ouml;schens
+ihrer Pers&ouml;nlichkeit, den eigenen Namen mit
+dem des Mannes zu vertauschen. Liebe sollte immer
+ein Geheimnis sein, eins, um das nur die Allern&auml;chsten
+wissen. Die Ehe schreit es in alle Welt hinaus und
+erz&auml;hlt zynisch jedem Gassenbuben: sieh, dieses Weib geh&ouml;rt
+jenem Mann!.. Ich sehne mich nach Dir. Mit
+tieferer, hei&szlig;erer Sehnsucht, als da die Liebe mir nur
+<a name="Page_433" id="Page_433"></a>ein Traum war. Ich m&ouml;chte untertauchen bis auf den
+Grund ihres Ozeans, denn mir ist, ich w&auml;re bisher nur
+auf der Oberfl&auml;che gefahren, und in der Tiefe warteten
+Sch&auml;tze auf mich von unerme&szlig;barem Wert. Aber wenn
+ich an unsere laute Stra&szlig;e denke, an die engen Zimmer,
+in die unsere gro&szlig;e Liebe sich sperren lie&szlig;, um Magddienste
+zu tun, &mdash; dann sinkt meine Sehnsucht in sich
+zur&uuml;ck, wie ein Springbrunnen, der eben in Milliarden
+Wassertropfen der Sonne entgegenflog und nun, da der
+G&auml;rtner den Hahn abdreht, pl&ouml;tzlich verschwindet&nbsp;...&laquo; &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;Du hast recht,&laquo; antwortete er, &raquo;tausendmal recht!
+Aber glauben kann ich Dir erst, wenn Du Deine Empfindung
+nicht nur aussprichst, sondern ihr folgst&nbsp;...
+Komm, und wir wollen in irgend einem stillen Winkel,
+wo uns niemand kennt, Hochzeit feiern, wie einst&nbsp;...
+Der Parteitag braucht Dich nicht. Dieser Augenblick
+jedoch ist vielleicht der einzige, der in uns beiden die
+Erinnerung an die Ehe ausl&ouml;scht&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Aber ich ging nicht. Ich war unfrei. Nie h&auml;tte ich
+es mir eingestanden, und doch war es so: ich stand, wie
+die Mutter, noch unter dem kalten Gesetz der Pflicht.
+Ich durfte die Aufgabe nicht im Stiche lassen um meiner
+W&uuml;nsche willen! Am wenigsten jetzt, wo ihre Erf&uuml;llung
+mir widerstrebte.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wie sch&ouml;n hatte ich es mir einst gedacht, wenn
+zu den Kongressen der Partei die Gesinnungsgenossen
+von Ost und West, von Nord
+und S&uuml;d zusammenkommen w&uuml;rden, ungleich nach Beruf
+und Alter und Geschlecht, und doch ein einiges Heer,
+<a name="Page_434" id="Page_434"></a>von derselben Kraft durchdrungen, von demselben Willen
+beseelt, neue Kreuzfahrer, die auszogen, der Menschheit
+heiliges Land zu suchen. Und jetzt?</p>
+
+<p>Schon im Hotel, wo die meisten Delegierten untergekommen
+waren, musterte man sich mi&szlig;trauisch, begr&uuml;&szlig;te
+sich k&uuml;hl. Und Gruppen bildeten sich, die berieten, ob
+und wie man die Ansichten der anderen Gruppen &uuml;berstimmen
+k&ouml;nne.</p>
+
+<p>Dem Parteitag ging eine Frauenkonferenz voraus.
+Als ich in den Kreis der f&uuml;nfundzwanzig Genossinnen
+trat, f&uuml;hlte ich die abweisende K&auml;lte, die mir entgegenstr&ouml;mte.
+Nur Ida Wiemer sch&uuml;ttelte mir herzhaft die
+Hand. &raquo;Was sagen Sie nur zu dieser Tagesordnung?!&laquo;
+fl&uuml;sterte sie erregt.</p>
+
+<p>Ich lachte sp&ouml;ttisch: &raquo;Sie wollen offenbar in anderthalb
+Tagen die ganze Frauenfrage l&ouml;sen. Arbeiterinnenschutz,
+Kinderschutz, gesetzliche Regelung der Heimarbeit,
+politische Gleichberechtigung, &mdash; ein imponierendes Programm!
+Es ist ja aber auch eine h&uuml;bsche Zahl von Jasagern
+beisammen. Die schlucken die Resolutionen unbesehen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber Krach gibt's auch,&laquo; antwortete Frau Wiemer.
+&raquo;Ihnen m&uuml;&szlig;ten die Ohren geklungen haben, so giftig
+ist die Bartels auf Sie.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Auf mich?! Ich habe ja gar nichts getan!&laquo; meinte
+ich verwundert.</p>
+
+<p>&raquo;Aber die d&uuml;sseldorfer Genossinnen haben einen Antrag
+auf Anstellung einer Parteisekret&auml;rin eingebracht.
+Man meint, Sie m&uuml;&szlig;ten dahinterstecken&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Darum also die b&ouml;sen Gesichter!</p>
+
+<p>&raquo;Und dann: da&szlig; Sie als Einzige von uns morgen im
+Kindlkeller sprechen!&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_435" id="Page_435"></a>Darum also die gekr&auml;nkten Mienen!</p>
+
+<p>Die arme D&uuml;sseldorferin wu&szlig;te offenbar nicht, in
+was f&uuml;r ein Wespennest sie mit ihrem Antrag gestochen
+hatte, und konnte die Erregung, die er hervorrief, nicht
+begreifen. Ich kam ihr zu Hilfe und go&szlig; nur &Ouml;l ins
+Feuer. Alles fiel &uuml;ber uns her. Martha Bartels sah
+in dem Antrag ein Mi&szlig;trauensvotum gegen ihre T&auml;tigkeit
+als Zentralvertrauensperson und spielte die pers&ouml;nlich
+Gekr&auml;nkte, Luise Zehringer gab der offenbar allgemeinen
+Meinung, wonach ich mir auf diese hinterlistige
+Weise eine fette Pfr&uuml;nde schaffen wollte, drastischen
+Ausdruck, indem sie mit einem w&uuml;tenden Blick auf mich
+erkl&auml;rte:</p>
+
+<p>&raquo;Die Genossinnen, die nur ab und zu von sich h&ouml;ren
+lassen, sonst aber praktisch gar nicht arbeiten, k&ouml;nnen
+wir f&uuml;r solche Stelle nicht brauchen. Die haben unser
+Vertrauen nicht.&laquo;</p>
+
+<p>Dabei begann sie krampfhaft zu schluchzen und kreischte,
+wie ich es von ihr noch nie geh&ouml;rt hatte. Aller Klang
+und alle Weichheit waren aus ihrer Stimme verschwunden.
+Ob das das unausbleibliche Schicksal aller Agitatorinnen
+war?!</p>
+
+<p>Die Bartels sekundierte ihr: &raquo;Uns k&ouml;nnen nur Frauen
+n&uuml;tzen, die Fleisch von unserem Fleische sind&nbsp;... Keine
+akademisch gebildeten Damen, die nur mal, um sich zu
+zeigen, ab und zu in einer gro&szlig;en Versammlung einen
+Vortrag halten&nbsp;&mdash;.&laquo; Ich stand dicht vor ihr und sah
+ihr gerade ins Gesicht. &raquo;Solche Paradepferde k&ouml;nnen
+wir nicht brauchen,&laquo; schrie sie.</p>
+
+<p>Mein Nachbar, ein belgischer Genosse, sch&uuml;ttelte verwundert
+den Kopf: &raquo;Es scheint, die ganze Konferenz
+<a name="Page_436" id="Page_436"></a>richtet sich gegen Sie. Was haben Sie nur getan?!&laquo;
+fragte er.</p>
+
+<p>&raquo;Ist's nicht Verbrechen genug, da&szlig; ich &uuml;berhaupt da
+bin?!&laquo; antwortete ich bitter.</p>
+
+<p>Als im weiteren Verlauf der Debatte die Frage des
+Arbeiterinnenschutzes besprochen wurde, nahm ich die
+Gelegenheit wahr, abermals die Forderungen einer umfassenden
+Mutterschaftsversicherung zu verteidigen. Ein
+paar Beifallsrufe wurden laut, die meisten der Frauen
+jedoch, ihr Leben lang gewohnt, sich unterjochen zu
+lassen, waren durch die Anwesenheit so anerkannter
+Parteiautorit&auml;ten, wie Wanda Orbin und Martha
+Bartels, viel zu versch&uuml;chtert, als da&szlig; sie ihnen h&auml;tten
+opponieren k&ouml;nnen. Kaum hatte ich geendet, als Wanda
+Orbin sich zum Worte meldete.</p>
+
+<p>Sie sprach mit einer Leidenschaft, als gelte es, die
+h&ouml;chsten Prinzipien des Sozialismus zu verteidigen, und
+mit einer Stimme, als h&auml;tte sie eine Riesenvolksversammlung
+vor sich: &raquo;Der Gedanke, welcher der Mutterschaftsversicherung
+zugrunde liegt,&laquo; sagte sie, &raquo;ist der Gedanke
+der menschlichen Solidarit&auml;t in seiner weitesten
+Form. Die Verwirklichung dieses Prinzips aber steht
+in so schreiendem Gegensatz zu dem Wesen der kapitalistischen
+Gesellschaftsordnung, da&szlig; wir sie auf ihrem
+Boden nicht erreichen werden&nbsp;... Sie kann erst zur
+Verwirklichung gelangen, wenn das Recht des lebenden
+Menschen &uuml;ber den toten Besitz zur Geltung gebracht
+sein wird, &mdash; in einer sozialistischen Gesellschaft&nbsp;...&laquo;
+Ihre Stimme &uuml;berschlug sich, Schwei&szlig;tropfen standen
+auf ihrer Stirn. Von allen Seiten klatschte man enthusiastisch.</p>
+<p><a name="Page_437" id="Page_437"></a></p>
+<p>&raquo;Bisher hat es nur als ein Kennzeichen der b&uuml;rgerlichen
+Frauenbewegung gegolten, aus Opportunit&auml;tsgr&uuml;nden
+m&ouml;glichst wenig zu fordern, um &uuml;berhaupt etwas
+zu erreichen,&laquo; antwortete ich in ruhigem Gespr&auml;chston.
+&raquo;Wir verlangen im Gegenteil Alles, und nehmen nur
+als Abschlagszahlung, was davon st&uuml;ckweise errungen
+wird. Haben wir etwa jemals aufgeh&ouml;rt, f&uuml;r den Achtstundentag
+zu agitieren, weil der Gegenwartsstaat ihn
+nicht gew&auml;hren wird? Mit noch gr&ouml;&szlig;erem Recht k&ouml;nnen
+wir von ihm die Mutterschaftsversicherung fordern, denn
+ein gut Teil ihrer Ziele mu&szlig; er im eigensten Interesse
+verwirklichen. Er braucht gesunde M&uuml;tter, arbeitsstarke
+M&auml;nner, kriegst&uuml;chtige Rekruten.&laquo;</p>
+
+<p>Wanda Orbin erhob sich noch einmal. &raquo;Die Forderung
+der Mutterschaftsversicherung ist durchaus nicht
+so radikal sozialistisch, wie Frau Brandt meint&nbsp;...,&laquo; rief
+sie. Ringsum klatschte man wieder. Weder sie noch
+ihre Zuh&ouml;rerinnen hatten bemerkt, da&szlig; sie, um mir zu
+widersprechen, sich innerhalb weniger Minuten selbst
+widersprochen hatte.</p>
+
+<p>Als ich ins Hotel zur&uuml;ckkam, m&uuml;de und ver&auml;rgert,
+trat mir &uuml;berraschend mein Mann entgegen. Ich err&ouml;tete
+dunkel. Er k&uuml;&szlig;te mir nur die Hand.</p>
+
+<p>&raquo;Ich wu&szlig;te, da&szlig; du K&auml;mpfe haben wirst,&laquo; sagte er,
+&raquo;und da&szlig; ein Freund dir fehlen k&ouml;nnte.&laquo; Mit tiefer
+Dankbarkeit sah ich ihm in die Augen.</p>
+
+<p>Der Geist, der in der Frauenkonferenz umgegangen
+war, herrschte auf dem Parteitag.</p>
+
+<p>&raquo;Wir brauchen die Akademiker nicht!&laquo; war die Parole,
+unter der er stand. &raquo;Wenigstens die nicht, die sich erlauben,
+eine andere Meinung zu haben als wir.&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_438" id="Page_438"></a>Ein Antrag besonders war von symptomatischer Bedeutung;
+er verlangte nichts weniger, als da&szlig; die Mitglieder
+der Partei verpflichtet werden sollten, Kritiken
+&uuml;ber schriftliche oder m&uuml;ndliche &Auml;u&szlig;erungen von Parteigenossen
+nur in Parteibl&auml;ttern, das hei&szlig;t solchen Zeitungen
+und Zeitschriften, die der Parteikontrolle unterstehen,
+zu ver&ouml;ffentlichen. War es nicht ein grotesker
+Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien der Partei,
+da&szlig; solch ein Antrag auch nur ernsthaft diskutiert werden
+konnte? Da&szlig; es Sozialdemokraten gab, die die &raquo;Einheitlichkeit
+der Partei&laquo; dazu mi&szlig;brauchten, um die Meinungsfreiheit
+niederzukn&uuml;tteln?</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe geglaubt, die Leute h&auml;tten sich in der
+Adresse geirrt,&laquo; sagte Vollmar und reckte sich zu seiner
+ganzen Riesengr&ouml;&szlig;e auf, soda&szlig; er turmhoch und turmsicher
+&uuml;ber der brandenden Woge der Menge stand.
+&raquo;Das ist ein Antrag f&uuml;r die Zentrumspartei, f&uuml;r die
+Kirchenorgane mit dem Zensor obenan, wo nur eine
+Meinung gilt. Es gen&uuml;gt nicht, ihn zu bek&auml;mpfen, ihn
+niederzustimmen. Bis auf seine Wurzeln, gilt es, ihn
+zu verfolgen, sonst kehrt er in der und jener Form allj&auml;hrlich
+wieder und &uuml;berwuchert unser Erdreich. Es
+ist der ewige Geist der Kontrolle, der Geist der Kasernenhofdisziplin,
+dem er entspringt. Und gegen ihn m&uuml;ssen
+wir uns wenden. Nicht die freie Meinung unterdr&uuml;cken,
+was eine Schw&auml;che verraten w&uuml;rde, die nur dem Tode,
+das hei&szlig;t der Versteinerung einer Bewegung vorangehen
+kann, sondern sie f&ouml;rdern, ist unsere Aufgabe.
+Sollte der Versuch unternommen werden, selbst&auml;ndige
+Menschen mundtot zu machen, so w&auml;re der kein echter
+Sozialdemokrat, der es fertig bek&auml;me, sich solcher Zensur
+<a name="Page_439" id="Page_439"></a>zu unterwerfen. Es w&auml;re wahrhaftig nicht der M&uuml;he
+wert, die Fesseln der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft von sich
+zu werfen, um sie nur mit neuen zu vertauschen!&laquo;</p>
+
+<p>Ich sah mich um im Saal. Es waren nur bestimmte
+Gruppen, die Beifall klatschten. Reihenweise sa&szlig;en die
+Genossen an den langen Tafeln mit verschlossenen oder
+gleichg&uuml;ltigen Mienen. Unwillk&uuml;rlich lief mir ein Schauer
+&uuml;ber den R&uuml;cken. Die &raquo;Diktatur des Proletariats&laquo;, &mdash; wird
+sie die Freiheit sein?</p>
+
+<p>&raquo;Sie w&uuml;rde ein rasches Ende nehmen, wenn sie etwas
+anderes w&auml;re,&laquo; sagte einer unserer Genossen, als wir
+am Abend zusammen waren und ich die Frage ausgesprochen
+hatte.</p>
+
+<p>W&auml;hrend der letzten Tage des Kongresses, deren Verhandlungen
+sich um die praktischen Fragen der Arbeiterversicherung
+und der Kommunalpolitik drehten, legten
+sich die Wogen der Erregung wieder. Und als August
+Bebel von den kommenden Reichstagswahlen sprach und
+seine braunen J&uuml;nglingsaugen unter dem grauen Haarschopf
+immer feuriger gl&auml;nzten, je drastischer seine Darstellung
+der inneren und &auml;u&szlig;eren politischen Lage wurde,
+je weitgehendere Hoffnungen er f&uuml;r den Wahlkampf
+daran kn&uuml;pfte, da jubelte alles ihm einm&uuml;tig zu; jener
+z&uuml;ndende Funke der Begeisterung sprang von einem zum
+anderen, derselbe Funke, den eine Kriegserkl&auml;rung f&uuml;r
+alle waffenf&auml;higen M&auml;nner bedeuten mag. Sie werfen
+ihr Werkzeug beiseite, sie treten in Reih und Glied, und
+zum guten Kameraden wird der Nachbar, mit dem sie
+eben noch in kleinlichem Hader lebten.</p>
+
+<p>Noch erging sich die b&uuml;rgerliche Presse in langatmigen
+Betrachtungen &uuml;ber den &raquo;Bruderzwist&laquo; in der Partei,
+<a name="Page_440" id="Page_440"></a>um Hoffnungen f&uuml;r ihre Sache daraus zu sch&ouml;pfen, und
+schon standen wir in Reih und Glied dem gemeinsamen
+Feind gegen&uuml;ber.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Am Tage unserer R&uuml;ckkehr nach Berlin ging ich
+zur Mutter. Drei Monate hatte ich sie nicht
+gesehen. Ihre Briefe, die kurz und freudlos
+waren, lie&szlig;en mich nichts Gutes ahnen. Sie wohnte
+mit Ilse in einer Pension am L&uuml;tzow-Ufer. Als ich
+aus dem hellen Tageslicht in das dunkle Zimmer trat, &mdash; die
+H&auml;user hier traf nie ein Sonnenstrahl, &mdash; l&ouml;ste
+sie sich langsam, wie ein Schatten, aus dem tiefen Stuhl,
+in dem sie gesessen hatte. Ihre H&auml;nde nur leuchteten
+wei&szlig; und &uuml;berschlank aus dem schwarzen &Auml;rmel des
+Kleides. Sie war sehr ver&auml;ndert.</p>
+
+<p>Streifen wei&szlig;en Haares zogen sich durch ihre blonden
+Scheitel. Auf ihrem schmalen Gesicht wechselte fahle
+Bl&auml;sse mit fliegender R&ouml;te. Die Pupillen in ihren
+Augen standen keinen Augenblick still. Ein Gef&uuml;hl von
+Z&auml;rtlichkeit &uuml;berkam mich. Ich k&uuml;&szlig;te ihre beiden H&auml;nde.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist nicht leicht&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte sie.</p>
+
+<p>&raquo;Was denn, Mamachen?&laquo; fragte ich so sanft, als h&auml;tte
+ich eine Kranke vor mir.</p>
+
+<p>&raquo;Wei&szlig;t du noch, wie ich Ilse die Stiefel zuschn&uuml;rte,
+als sie ein Kind war? Vor ihr auf den Knieen, &mdash; nur
+damit sie sich nicht b&uuml;cken sollte?&laquo; begann sie langsam,
+traumverloren. &raquo;Dann pflegte ich ihren Mann zu
+Tode, &mdash; und nun l&auml;&szlig;t mir die Angst keine Ruhe, da&szlig;
+sie wieder in ihr Ungl&uuml;ck rennt&nbsp;&mdash;&laquo; Sie lie&szlig; sich nicht
+beruhigen. Es war, als ob eine fixe Idee sie beherrschte.</p>
+
+<p><a name="Page_441" id="Page_441"></a>Eines Abends schickte Ilse nach mir.</p>
+
+<p>&raquo;Um Gottes willen &mdash; rasch&nbsp;&mdash;,&laquo; rief sie mir schon
+vor der Haust&uuml;r entgegen, &raquo;ich f&uuml;rchte mich so!&laquo;
+Oben fand ich die Mutter im Bett zusammengekauert,
+die Augen starr ins Wesenlose gerichtet. &raquo;Hans &mdash; Hans &mdash; tu
+mir nichts!&laquo; wimmerte sie. &raquo;Du hast ja
+mein Versprechen&nbsp;&mdash;&laquo; Und dann streckte sie wie lauschend
+den Kopf vor. &raquo;Hier meine Hand darauf&nbsp;&mdash;&laquo;
+fl&uuml;sterte sie ruhiger werdend, und ihre wei&szlig;en Finger
+griffen in die leere Luft, um etwas zu umschlie&szlig;en, das
+niemand sah als sie.</p>
+
+<p>Der Arzt erkl&auml;rte ihren Zustand f&uuml;r Nerven&uuml;berreizung
+und verlangte die Trennung von Mutter und
+Tochter. Aber erst nach Wochen voller innerer und
+&auml;u&szlig;erer Qualen lie&szlig; sie sich &uuml;berreden, ohne Ilse nach
+Montreux zu gehen. Ich hatte ihr versprechen m&uuml;ssen,
+die Schwester zu mir zu nehmen, und sie selbst &uuml;berwachte
+noch ihre &Uuml;bersiedlung in eine zuf&auml;llig leere
+Wohnung neben uns.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Es war um die Weihnachtszeit; jene Zeit voller
+Geheimnisse und voller Freuden; jene Zeit,
+die ein Gott der Liebe wirklich geweiht zu
+haben scheint. Ich hatte dann immer alle H&auml;nde voll
+zu tun. In den Laden gehen und kaufen, das kann
+jeder, der einen vollen Beutel hat, auch im Alltag des
+Jahres. Aber den W&uuml;nschen derer, die man liebt,
+nachsp&uuml;ren, und sie mit eignen H&auml;nden zu erf&uuml;llen
+suchen, das kann nur, wer Festtagsstimmung hat.</p>
+
+<p>Eine G&ouml;tterburg baut' ich meinem Buben auf mit<a name="Page_442" id="Page_442"></a>
+Wodan und Baldur, mit Loki im roten Feuerkleid und
+den Walk&uuml;ren in Schwanengew&auml;ndern. Stets fehlte
+noch irgend was: ich mu&szlig;te weit umherlaufen, um
+die Silberfl&uuml;gel f&uuml;r die Helme der Schlachtjungfrauen
+oder den goldenen Eber f&uuml;r Freyrs Wagen zu finden.
+Und ich war so m&uuml;de, so schrecklich m&uuml;de! Es war,
+als ob mein K&ouml;rper t&auml;glich schwerer auf den F&uuml;&szlig;en
+lastete. Endlich war alles fertig. Ich lag ersch&ouml;pft
+auf dem Sofa.</p>
+
+<p>Wie schwach mir war und wie gl&uuml;hend hei&szlig; dabei!
+Mit einer letzten Kraftanstrengung schlich ich ins Schlafzimmer
+und legte mir den Fieberthermometer unter den
+Arm: 39&frac12; &mdash; Ich rief nach Berta und schickte zum
+Arzt. Dann wu&szlig;te ich nichts mehr von mir.</p>
+
+<p>Erst allm&auml;hlich sah ich schattenhaft Gestalten um mein
+Bett &mdash; Heinrich &mdash; den Arzt &mdash; die Pflegerin in der
+wei&szlig;en Haube und &mdash; die Mutter! Wie hatte man
+sie nur rufen k&ouml;nnen, die arme, kranke Frau?! Oder, &mdash; eiskalt
+packte mich die Angst, &mdash; sollte ich sterben
+m&uuml;ssen?! Ich durfte doch gar nicht! Ich mu&szlig;te den
+Weihnachtsbaum putzen f&uuml;r mein Kind! Unaufhaltsam
+liefen mir die Tr&auml;nen &uuml;ber die Wangen.</p>
+
+<p>Ich genas. Auf dem Sofa lag ich jetzt wieder, und
+&uuml;ber meine Decke lie&szlig; Ottochen alle G&ouml;tter und alle
+Walk&uuml;ren reiten.</p>
+
+<p>&raquo;Wie kam es nur,&laquo; wandte ich mich zur Mutter,
+die, noch schmaler geworden, im Stuhl neben mir
+lehnte, &raquo;wie kam es nur, da&szlig; du so pl&ouml;tzlich hier
+warst? Heinrich gab mir sein Wort, da&szlig; er dir nichts
+von meiner Erkrankung geschrieben hat, &mdash; und Ilse auch.&laquo;</p>
+
+<p>Ein stilles L&auml;cheln glitt &uuml;ber ihre Z&uuml;ge.</p>
+<p><a name="Page_443" id="Page_443"></a></p>
+<p>&raquo;Nein, niemand schrieb mir, &mdash; aber ich sah, da&szlig; der
+Tod neben dir stand. Ihr m&ouml;gt noch so sehr zerren
+wie an einer Kette, das Band zwischen Mutter und
+Kind ist st&auml;rker als Ihr.&laquo;</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Tage reiste sie ab. Sie hatte den alten
+schwarzen Mantel an, den ich seit Jahren an ihr
+kannte, und auf ihrem dunkelgrauen Hut sa&szlig; ein kleiner
+gr&uuml;nschillernder K&auml;fer, &mdash; ich wei&szlig; noch alles ganz
+genau. An der T&uuml;r z&ouml;gerte sie und sah mich an, &mdash; mit
+einem langen, langen Blick. Ich wollte mich aufrichten
+und sie noch einmal umarmen. Aber ich war
+viel zu schwach dazu.</p>
+
+<p>Acht Tage sp&auml;ter war sie tot.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_444" id="Page_444"></a></p>
+<h2><a name="Dreizehntes_Kapitel" id="Dreizehntes_Kapitel"></a>Dreizehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>&raquo;Genosse Weber aus Frankfurt a.&nbsp;O. &mdash; meine
+Frau.&laquo; Ich war gerade zur T&uuml;re eingetreten,
+als Heinrich mir seinen Gast vorstellte,
+einen kleinen lebhaften Menschen mit blanken,
+braunen Augen und kahlem Sch&auml;del. Verwundert sah
+ich von einem zum anderen: sie waren beide hei&szlig; und
+rot vor Erregung.</p>
+
+<p>&raquo;Helfen Sie mir, Genossin Brandt,&laquo; sagte der
+Fremde und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.
+Komisch, was f&uuml;r einen breiten, nach au&szlig;en
+gebogenen Daumen er hat, wie bei der Spinnerin
+im M&auml;rchen, dachte ich zerstreut, w&auml;hrend meine Augen
+gewohnheitsm&auml;&szlig;ig an seinen H&auml;nden h&auml;ngen blieben.</p>
+
+<p>&raquo;Weber bietet mir die Kandidatur seines Wahlkreises
+an,&laquo; erkl&auml;rte Heinrich. Nun erst horchte ich auf.</p>
+
+<p>&raquo;Und er z&ouml;gert, sie anzunehmen. Bringt lauter Wenn
+und Aber vor. Und will Bedenkzeit. Als ob es jetzt
+noch was zu bedenken g&auml;be! Jeder von uns mu&szlig; ins
+Geschirr, &mdash; so oder so,&laquo; rief unser Gast, und seine
+Worte &uuml;berst&uuml;rzten sich vor Eifer. &raquo;Machen Sie kurzen
+Proze&szlig;, &mdash; schlagen Sie ein!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Schade, da&szlig; Sie mich nicht brauchen k&ouml;nnen, &mdash; ich
+t&auml;te es besinnungslos,&laquo; antwortete ich und legte meine<a name="Page_445" id="Page_445"></a>
+Hand in die seine, die er noch vergeblich meinem Mann
+entgegenstreckte. Weber hielt sie fest.</p>
+
+<p>&raquo;Ein Weib &mdash; ein Wort,&laquo; lachte er. &raquo;Sie sollen
+sehen, wie wir Sie brauchen k&ouml;nnen, &mdash; zuerst m&uuml;ssen
+Sie uns den Kandidaten und dann den Wahlkreis erobern
+helfen!&laquo;</p>
+
+<p>Aber mein Mann blieb fest, trotz allen Zuredens.</p>
+
+<p>&raquo;In vierundzwanzig Stunden werden Sie meine Antwort
+haben...&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>Als Weber gegangen war, schalt er mich: &raquo;Du
+bist un&uuml;berlegt wie ein Kind! Glaubst du, da&szlig; das
+Archiv nicht sehr gesch&auml;digt wird, wenn ich f&uuml;r die
+Partei kandidiere, oder gar als Mitglied der sozialdemokratischen
+Fraktion in den Reichstag komme?!&laquo;</p>
+
+<p>Ich machte eine wegwerfende Bewegung: &raquo;Ach, &mdash; das
+Archiv und immer das Archiv! Lindner wird sich
+&uuml;ber kurz oder lang entscheiden m&uuml;ssen, und wenn du
+erst eine ausgesprochen sozialistische Zeitschrift leitest, so
+wird das auf das Archiv nicht anders wirken, als
+wenn du Abgeordneter bist...&laquo;</p>
+
+<p>Einen Augenblick lang schwieg ich und sah ihn erwartungsvoll
+an, aber er blieb am Schreibtisch sitzen
+mit gesenkten Augen und zusammengekniffenen Lippen,
+w&auml;hrend seine Hand unruhig mit dem Bleistift spielte.</p>
+
+<p>&raquo;Heinz&nbsp;&mdash;,&laquo; fuhr ich mit weicherer Stimme fort,
+&raquo;Heinz, das bist nicht du, den ich unschl&uuml;ssig vor mir
+sehe! Alle Wetterzeichen deuten auf einen gro&szlig;en Kampf,
+und du k&ouml;nntest abseits bleiben, wenn man dich zu den
+Waffen ruft?! Du, den ich liebe um seiner K&uuml;hnheit
+willen, der all die tausend j&auml;mmerlichen R&uuml;cksichten des
+Alltagsmenschen nicht kennt&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+<p><a name="Page_446" id="Page_446"></a></p>
+<p>&raquo;Ich sage dir, wie schon einmal, da&szlig; ich an euch zu
+denken habe, an dich und das Kind,&laquo; unterbrach er
+mich, aber seine Stimme hatte keinen Ton dabei.</p>
+
+<p>&raquo;Hat Romberg, der den Freien spielt und im Grunde
+nichts ist als ein Philister, so viel Macht &uuml;ber dich?!&laquo;
+antwortete ich heftig. &raquo;Soll auch f&uuml;r uns die Familie
+der G&ouml;tze sein, dessen Uners&auml;ttlichkeit wir das Beste
+opfern: unsere Freiheit, unsere &Uuml;berzeugung, unser
+Menschentum?! Sie w&auml;re wert, da&szlig; wir sie zerst&ouml;rten,
+wie unsere Gegner es von uns behaupten, wenn dem
+so w&auml;re!&laquo;</p>
+
+<p>Heinrich erhob sich und reichte mir die Hand. Seine
+Augen gl&auml;nzten wieder. &raquo;Du bist mein tapferer Kamerad,&laquo;
+sagte er, &mdash; nichts weiter. Und ich stellte keine
+Frage mehr an ihn.</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen gingen wir in den Reichstag.
+Seit Wochen tobte hier der Kampf um den Zolltarif.
+Mit eiserner Konferenz hatte die sozialdemokratische
+Fraktion es bisher durchgesetzt, da&szlig; &uuml;ber jeden einzelnen
+Zollsatz beraten und namentlich abgestimmt wurde. Wenn
+sie die schlie&szlig;liche Annahme der Vorlage auch nicht verhindern
+konnte, &mdash; sie hatte eine geschlossene Mehrheit
+gegen sich; von den b&uuml;rgerlichen Parteien wagte es nur
+die kleine freisinnige Vereinigung unter F&uuml;hrung von
+Theodor Barth mit ihr zusammen gegen die drohende
+Verteuerung aller Lebensmittel Front zu machen&nbsp;&mdash;, so
+wollte sie wenigstens nichts vers&auml;umen, um ihre Folgen
+abzuschw&auml;chen, oder, &mdash; das war die Hoffnung der Optimisten
+in ihrer Mitte, &mdash; die Entscheidung so lange
+hinauszuschieben, bis die neu gew&auml;hlten Volksvertreter
+sie zu f&auml;llen haben w&uuml;rden. Sie wu&szlig;ten genau: wenn
+<a name="Page_447" id="Page_447"></a>sie mit dem Zolltarif als Agitationsmittel vor die
+W&auml;hlermassen treten k&ouml;nnten, so w&uuml;rde eine verst&auml;rkte
+Opposition in den Reichstag zur&uuml;ckkehren. Aber ihre politischen
+Gegner f&uuml;rchteten diese Entwicklung der Dinge
+ebenso sehr, als die Sozialdemokraten sie w&uuml;nschten. Schon
+hatten sie versucht, durch eine Um&auml;nderung der Gesch&auml;ftsordnung
+die Verhandlungen zu beschleunigen, &mdash; umsonst.
+Die Sozialdemokraten begegneten ihnen mit
+vier- und f&uuml;nfst&uuml;ndigen Dauerreden, mit immer neuen
+Antr&auml;gen. Die Emp&ouml;rung stieg bis zur Siedehitze.
+Und jetzt, &mdash; dar&uuml;ber war kein Zweifel, &mdash; hatten die
+Vertreter der Rechten und des Zentrums nach langwierigen
+Beratungen ein Mittel gefunden, das den Einflu&szlig;
+der Opposition endg&uuml;ltig lahmlegen sollte.</p>
+
+<p>In der langen grauen Wandelhalle, die der dunkle
+Novembertag noch &ouml;der, noch farbloser erscheinen lie&szlig;,
+warteten wir auf unsere Trib&uuml;nenkarten. Abgeordnete
+eilten an uns vor&uuml;ber, in schwarzen R&ouml;cken oder in
+Soutanen, schwere Mappen unter den Armen, mit
+m&uuml;den, &uuml;berwachten Gesichtern, oder sie gingen fl&uuml;sternd
+zu zweien und blieben in den Ecken stehen, die K&ouml;pfe
+zueinandergeneigt, wie Verschw&ouml;rer. Erhob sich ihre
+Stimme im Eifer des Gespr&auml;chs, so hallten abgerissene
+Worte durch den hohen Raum und schwebten wie verirrt
+in der Luft. Ein langsamer fester Schritt n&auml;herte
+sich uns: Ignaz Auer.</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben eine gute Nase, Genossin Brandt,&laquo; lachte
+er, indem er uns kr&auml;ftig die H&auml;nde sch&uuml;ttelte; &raquo;heute
+platzt hier irgend eine Bombe. Und da m&uuml;ssen Sie
+dabei sein, was?!&laquo; Er f&uuml;hrte uns in den Wandelgang,
+der den Sitzungssaal umschlie&szlig;t, und mit seinem
+<a name="Page_448" id="Page_448"></a>weichen Teppich und seiner braunen T&auml;felung behaglich
+gewirkt h&auml;tte, wenn nicht ein unaufh&ouml;rliches hastiges
+Hin und Her die Luft in st&auml;ndiger nerv&ouml;ser Schwingung
+erhalten h&auml;tte. Wir setzten uns.</p>
+
+<p>&raquo;Mir ist die Kandidatur f&uuml;r Frankfurt-Lebus angeboten
+worden. Was halten Sie davon?&laquo; wandte sich
+mein Mann an Auer. Der strich sich nachdenklich mit
+der breiten Hand den Bart, w&auml;hrend ein leiser Spott
+seine Lippen kr&auml;uselte.</p>
+
+<p>&raquo;Also wieder ein Akademiker! Was werden unsere
+Berliner sagen?! &mdash; &Uuml;brigens,&laquo; f&uuml;gte er lauter hinzu,
+&raquo;ich kenne den Wahlkreis: &Auml;cker, nichts als &Auml;cker, und
+Bauern- und Ritterg&uuml;ter, wenig Industrie, &mdash; kurz, ein
+b&ouml;ser Winkel.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aussichtslos?&laquo; fragte Heinrich.</p>
+
+<p>&raquo;Aussichtslos? Nein!&laquo; antwortete Auer. &raquo;Nur erleben
+wir beide seine Eroberung nicht.&laquo; Ich bi&szlig; mir
+&auml;rgerlich die Lippen, &mdash; ich hatte erwartet, da&szlig; er zureden
+w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Ein heller Glockenton klang durch das Haus. Die
+Sitzung war er&ouml;ffnet. Wir stiegen zur Trib&uuml;ne hinauf.
+Jeder Platz war besetzt. Gespannte Erwartung lag auf
+allen Z&uuml;gen. Man zeigte einander fl&uuml;sternd die Hauptf&uuml;hrer
+im Kampf. Allm&auml;hlich f&uuml;llte sich unten der
+Saal. Das gelbgraue Licht, das von den farblosen
+W&auml;nden und der tiefen Glasdecke ausstrahlte, lie&szlig; alle
+Gesichter gleichm&auml;&szlig;ig fahl erscheinen.</p>
+
+<p>&raquo;Ein vornehmer Raum!&laquo; sagte eine Dame neben
+mir. Da&szlig; man so oft f&uuml;r vornehm h&auml;lt, was nur
+k&uuml;hl, nur leblos ist! Die Architekten &ouml;ffentlicher Geb&auml;ude
+sollten den psychologischen Einflu&szlig; der Farben
+<a name="Page_449" id="Page_449"></a>auf die Menschen studieren. Vielleicht w&uuml;rden dann
+manche Parlamentsverhandlungen und Gerichtsbeschl&uuml;sse
+anders ausfallen.</p>
+
+<p>Hinter dem Rednerpult stand ein Abgeordneter, der
+mit einf&ouml;rmiger Langsamkeit &uuml;ber die Petitionen zu den
+Vieh- und Fleischz&ouml;llen berichtete. Niemand h&ouml;rte auf
+ihn. In Gruppen standen die Mitglieder der Rechten
+und des Zentrums beieinander. Hier und da eilte einer
+von ihnen zur T&uuml;r, um bald darauf achselzuckend
+wiederzukommen. Irgend etwas sehnlich Erwartetes
+fehlte. Die Linke nur sa&szlig; scheinbar ruhig auf ihren
+Pl&auml;tzen, und auf dem Pr&auml;sidentenstuhl lehnte Graf
+Ballestrem in erzwungener Gelassenheit den wei&szlig;en Kopf
+an die hohe Lehne. Der Berichterstatter schlo&szlig;. Graf
+Ballestrem erhob sich: &raquo;Wir treten nunmehr in die Beratung
+des Zolltarifs ein&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>In diesem Augenblick stieg Herr von Kardorff, der
+greise F&uuml;hrer der Rechten, mit jugendlicher Elastizit&auml;t
+die Stufen zur Estrade empor. Ein wei&szlig;es Papier
+zitterte in seinen H&auml;nden. Die Stimme, mit der er
+scharf und hell seine Worte in den Saal hinausstie&szlig;,
+vibrierte:</p>
+
+<p>&raquo;In wenigen Minuten wird dem Hause ein Antrag
+vorliegen, der dahin geht, in Paragraph 1 der Gesetzesvorlage
+die Enbloc-Annahme des Zolltarifs auszusprechen&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Ein Hohngel&auml;chter &uuml;bert&ouml;nte jedes weitere Wort. Die
+Linke sprang auf und umdr&auml;ngte die Estrade.</p>
+
+<p>&raquo;Eine Guillotinierung!&laquo; klang es aus dem schwarzen
+Menschenkn&auml;uel.</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben uns selbst auf diesen Weg gedr&auml;ngt&nbsp;...,<a name="Page_450" id="Page_450"></a>&laquo;
+rief Kardorff. Er ballte die Faust um das wei&szlig;e Papier,
+reckte die &uuml;berschlanke Gestalt hoch auf und ma&szlig;
+mit einem hochm&uuml;tigen Blick die Gegner unter ihm.</p>
+
+<p>Man wartete auf die Verteilung des Antrages. Eine
+lange, atemlose Pause. Endlich traten die Diener ein.
+Man ri&szlig; ihnen die bedruckten Bl&auml;tter aus der Hand.
+Dicht unter der Rednertrib&uuml;ne, auf der Kardorff noch
+immer aushielt &mdash; gerade, starr, scheinbar gleichg&uuml;ltig&nbsp;&mdash;,
+warf einer der Sozialdemokraten in fanatischem Zorn
+das zusammengeballte Blatt zu Boden. Um den heftig
+gestikulierenden Bebel sammelte sich die Linke.</p>
+
+<p>&raquo;Zur Gesch&auml;ftsordnung!&laquo; rief Singers tiefe Stimme
+immer wieder dem Pr&auml;sidenten zu.</p>
+
+<p>Und dann sprach er. Aber durch den frenetischen
+Beifall der Linken und die emp&ouml;rten Zwischenrufe der
+Rechten und des Zentrums klangen nur abgerissene S&auml;tze
+zu den Trib&uuml;nen empor.</p>
+
+<p>&raquo;...&nbsp;Dieser Antrag ist der Ausflu&szlig; des pers&ouml;nlichen
+Interesses, welches die Herren Gesetzgeber an der Zolltarifvorlage
+haben&nbsp;... Sie f&ouml;rdern den Umsturz, Sie
+propagieren die Revolution, indem Sie die Interessen
+des Volkes mit F&uuml;&szlig;en treten... Neunhundert Positionen,
+von denen jede einzelne die wirtschaftliche Existenz
+Tausender bedroht, wollen Sie in einer Abstimmung zur
+Entscheidung bringen&nbsp;... Sie f&uuml;rchten sich, die Beute
+k&ouml;nnte Ihnen entgehen&nbsp;... Sie sind die Schleppentr&auml;ger
+der Agrarier und die Regierung ist&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ihr Zuh&auml;lter!&laquo; kreischte eine Stimme dazwischen.</p>
+
+<p>Der Pr&auml;sident erhob sich und schwang die Glocke.
+Aber das Wort sa&szlig; fest; fl&uuml;sternd ging es schon durch
+die Menschenreihen auf den Trib&uuml;nen.</p>
+
+<p><a name="Page_451" id="Page_451"></a>Noch einmal &uuml;bert&ouml;nte Singers Rede den Sturm im
+Saal: &raquo;Mehr denn je wird das Recht der Minorit&auml;t,
+sich gegen Vergewaltigungen zu wehren, zur heiligen
+Pflicht, wo es sich darum handelt, dem Volke ein Gesetz
+zu ersparen, das es der Not ausliefert, w&auml;hrend es
+Ihre Taschen f&uuml;llt ...&laquo;</p>
+
+<p>Seine Fraktionskollegen umringten den Redner; einen
+Augenblick lang lag die Hand Theodor Barths in der
+seinen.</p>
+
+<p>&raquo;Das Wort zur Gesch&auml;ftsordnung hat der Herr Abgeordnete
+von Kardorff.&laquo;</p>
+
+<p>Schon hatte sich Singer seinem Platz wieder zugewandt.
+Wie er den Namen h&ouml;rte, drehte er sich um und blieb
+zwischen den Seinen stehen, gro&szlig;, schwer, breitschultrig.
+&Uuml;ber ihm auf einer der Stufen, die zur Estrade f&uuml;hrten,
+stand Bebel, die dunkelgl&uuml;henden Augen fest auf den
+Redner gerichtet, w&auml;hrend seine Finger sich nerv&ouml;s bewegten,
+sich spreizten und wieder zusammenzogen, als
+pr&uuml;ften sie ihre Kraft.</p>
+
+<p>Ruhig, mit der ganzen Selbstbeherrschung des alten
+Aristokraten, begann Kardorff zu sprechen: &raquo;Wir sind
+der &Uuml;berzeugung, da&szlig; der vorliegende Antrag das einzige
+Mittel ist, um die Tarifvorlage, deren Erledigung
+wir f&uuml;r ein gro&szlig;es vaterl&auml;ndisches Interesse halten ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vaterl&auml;ndisch?!&laquo; fragte jemand ironisch; ein schallendes
+Gel&auml;chter antwortete.</p>
+
+<p>Der Redner gab sich nicht die M&uuml;he, den L&auml;rm zu
+&uuml;berschreien. Gleichg&uuml;ltig sah er &uuml;ber die Menge hinweg
+und wartete, bis der Pr&auml;sident die Ruhe wieder
+hergestellt hatte. Dann sprach er weiter, ohne die
+Stimme zu erheben, ohne Pathos. Er gab sich nicht
+<a name="Page_452" id="Page_452"></a>die M&uuml;he, &uuml;berzeugen zu wollen; in seiner ganzen Art
+lag eine souver&auml;ne Verachtung des Gegners.</p>
+
+<p>&raquo;...Da&szlig; die Mehrheit wichtige Gesetzesvorlagen
+auch gegen den Willen der Minorit&auml;t durchsetzt, ist
+eine grundlegende Forderung unseres konstitutionellen
+Lebens...&laquo;</p>
+
+<p>Tosender L&auml;rm unterbrach ihn. Aus dem dichtgedr&auml;ngten
+Haufen, der sich allm&auml;hlich immer n&auml;her zur
+Rednertrib&uuml;ne emporschob, erhoben sich geballte F&auml;uste.
+&raquo;R&auml;uber!&laquo; &mdash; &raquo;Taschendieb!&laquo; &mdash; &raquo;Volksverr&auml;ter!&nbsp;&mdash;&laquo;,
+wie Peitschenhiebe pfiff und sauste es durch die Luft.
+Die Mitglieder der Rechten erhoben sich und besetzten
+wie zum Schutz die andere Seite der Treppe. Kardorff
+sprach weiter. Sein Gesicht war um einen Schein blasser
+geworden, und seine schmalen H&auml;nde umklammerten krampfhaft
+das Pult. Hier stand nicht mehr der einzelne, der
+um einen momentanen Vorteil k&auml;mpft, &mdash; in diesem Mann
+erhob sich vielmehr die alte Welt wider die neue und
+umgab seinen scharf geschnittenen Aristokratenkopf mit
+dem dunklen Glanz tragischer Gr&ouml;&szlig;e.</p>
+
+<p>Als wir gingen, stritt man sich noch immer in endlosen
+Reden &uuml;ber die Zul&auml;ssigkeit des Antrags.</p>
+
+<p>&raquo;Acht Tage l&auml;&szlig;t sich die Sache wohl noch hinziehen,&laquo;
+meinte einer unserer Reichstagsabgeordneten, den wir
+in der Wandelhalle trafen, &raquo;dann ist der Zolltarif angenommen.
+Ein Pyrrhussieg f&uuml;r die Rechte, &mdash; der
+Nagel zum Sarg f&uuml;r die Nationalliberalen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und hundert Mandate f&uuml;r uns!&laquo; f&uuml;gte ein anderer
+frohlockend hinzu; &raquo;das wird ein Wahlkampf werden,
+der seinesgleichen nicht hatte!&laquo;</p>
+
+<p>In einem Kaffee der Potsdamerstra&szlig;e erwartete uns<a name="Page_453" id="Page_453"></a>
+Weber. Fragend sah er von einem zum anderen. Mein
+Mann reichte ihm die Hand.</p>
+
+<p>&raquo;Hier haben Sie mich, wenn Sie noch m&ouml;gen. Auer
+sagt, wir w&uuml;rden die Eroberung von Frankfurt-Lebus
+nicht erleben, &mdash; das gab den Ausschlag. Die gebratenen
+Tauben, die in den Mund fliegen, schmecken mir
+nicht. Wir wollen uns zusammen ein Wild erjagen.&laquo;</p>
+
+<p>Wir blieben noch lange beieinander. Weber erz&auml;hlte
+von seinem eigenen Leben: wie er als armer Schustergeselle
+in die Welt hinausgewandert war, sich schlie&szlig;lich
+se&szlig;haft gemacht hatte und anfing, sich emporzuarbeiten.</p>
+
+<p>&raquo;Eine verbissene Z&auml;higkeit geh&ouml;rt dazu, wenn's gelingen
+soll,&laquo; meinte er, &raquo;dieselbe Z&auml;higkeit, die wir
+haben m&uuml;ssen, soll die Partei vom Flecke kommen. Nur
+ein paar solcher Genossen haben wir in Frankfurt, die
+seit Jahren den steinigen Boden beackern, unerm&uuml;dlich,
+in t&auml;glicher Kleinarbeit, gegen den Ha&szlig; und die Verfolgungssucht
+des ganzen bourgeoisen Kl&uuml;ngels, &mdash; und
+doch sind wir ein gut St&uuml;ck weitergekommen. Seit
+zwanzig Jahren schau ich mir die alte rote Fahne an,
+die seit dem ersten Lassalleschen Arbeiterverein eingerollt
+im Winkel steht. Der sch&ouml;nste Tag meines Lebens w&auml;r's,
+wenn ich sie einmal flattern sehen k&ouml;nnte!&laquo; Und mit dem
+breiten Schusterdaumen wischte er sich einen feuchten
+Tropfen aus dem Augenwinkel.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_454" id="Page_454"></a></p>
+
+<p>Mit jedem neuen Tage wurde der Kampf im
+Reichstage brutaler; selbst die politisch Gleichg&uuml;ltigen
+wurden aufger&uuml;ttelt und verfolgten
+ihn mit gespannter Aufmerksamkeit. Durch Nachtsitzungen
+versuchte die Mehrheit die Kraft der Minderheit zu ersch&ouml;pfen,
+aber mit trotziger Ausdauer hielt sie stand,
+und schob die Entscheidung durch endlose Reden immer
+wieder auf Tage und Stunden hinaus. Der gegenseitige
+Ha&szlig; zerri&szlig; in z&uuml;gelloser Leidenschaft alle Bande
+&auml;u&szlig;erer Gesittung. Konservative Abgeordnete bezeichneten
+die Arbeiter Berlins, die in riesigen Versammlungen
+gegen den Umsturz der Gesch&auml;ftsordnung durch
+den Antrag Kardorff protestierten, als &raquo;skrophul&ouml;ses
+Gesindel&laquo;, und ihre Presse forderte von der Regierung:
+&raquo;der Bestie den Zaum anzulegen&laquo;. Die &raquo;Bestie&laquo; blieb
+ihre Antwort nicht schuldig. Die gr&ouml;&szlig;ten S&auml;le der
+Millionenstadt konnten die Menge nicht fassen, die
+nichts mehr war, als ein Wille: nieder mit der Reaktion!
+und eine Hoffnung: der Rachefeldzug der
+n&auml;chsten Wahlen. Und mehr und mehr tauchten Menschen
+in den Versammlungen auf, die nicht zum Proletariat
+geh&ouml;rten. Bewunderung f&uuml;r die wilde Energie der
+kleinen Schar Belagerter ri&szlig; so manchen aus dem politischen
+Schlummer, und der Groll f&uuml;hrte andere hierher;
+sie f&uuml;hlten ihre liberalen Interessen durch ihre eigenen
+Vertreter im Reichstag &mdash; die Bassermann, die Richter &mdash; schm&auml;hlich
+verraten. Zu fr&uuml;h vernarbte Wunden
+brachen auf: die Erinnerung an die Lex Heinze erwachte,
+durch die Kunst und Wissenschaft t&ouml;dlich getroffen worden
+w&auml;ren, wenn die Roten im Reichstag sie nicht so w&uuml;tend
+<a name="Page_455" id="Page_455"></a>verteidigt h&auml;tten; und die Rede des Kaisers klang lauter,
+als da sie gehalten wurde, in die Ohren derer, die sich
+bisher vom Get&uuml;mmel der Schlacht scheu vor ihre Staffelei
+und ihren Schreibtisch zur&uuml;ckgezogen hatten. &raquo;Eine Kunst,
+die sich &uuml;ber die von mir bezeichneten Gesetze und Schranken
+hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr,&laquo; hatte er angesichts der
+vollendeten Standbilder in der Siegesallee erkl&auml;rt, und
+die gro&szlig;en Eroberungen neuer k&uuml;nstlerischer M&ouml;glichkeiten,
+wie sie denen um Manet und van Gogh, um
+Liebermann und Klinger gelungen waren, als ein Niedersteigen
+in den Rinnstein bezeichnet. Jetzt r&ouml;tete das Schamgef&uuml;hl
+manchem die Wangen, der den Streich ruhig empfangen
+hatte. &raquo;Wahrlich, es gilt mehr als den Zolltarif,&laquo;
+sagte mir einer aus dem Kreise der Sezession, &raquo;es gilt
+die Verteidigung der ganzen modernen Entwicklung.
+Wenn es zu diesem Ende nichts anderes gibt, als den
+Stimmzettel, so werden auch wir uns seiner zu bedienen
+wissen.&laquo; Eine Revolte der Intellektuellen stand bevor,
+und im stillen hoffte ich wieder, da&szlig; sie zu einer Revolutionierung
+der Geister f&uuml;hren w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Aber auch die Gegner au&szlig;erhalb des Reichstages
+r&uuml;steten sich schon f&uuml;r die kommenden Wahlen. Was
+der Adel Preu&szlig;ens vor zwanzig Jahren noch f&uuml;r unm&ouml;glich
+gehalten hatte, das geschah. Junker und Fabrikant
+vereinigten sich, da der gemeinsame Feind drohte:
+die Sozialdemokratie. Und der Kaiser selbst wurde in
+diesem Kampf der erste Agitator: &raquo;Zerrei&szlig;t das Tischtuch
+zwischen Euch und diesen Leuten, die Euch aufhetzen
+gegen Thron und Altar, um Euch zugleich auf das r&uuml;cksichtsloseste
+auszubeuten und zu knechten&nbsp;&mdash;;&laquo; wie auf
+Windesfl&uuml;geln durcheilten diese seine Worte, die er an
+<a name="Page_456" id="Page_456"></a>eine Deputation von Arbeitern gerichtet hatte, das Reich,
+denn jeder Sozialdemokrat trug sie weiter. Und lauter,
+immer lauter wurde der Groll: &raquo;Wer anders beutet uns
+aus als die Zollwucherer, die uns das Fleisch vom Tisch
+nehmen und das Brot verteuern? Wer anders knechtet uns
+als die St&uuml;tzen von Thron und Altar, die das Joch
+der Fronarbeit auf unsere Schultern laden?&laquo;</p>
+
+<p>W&auml;hrend die Folgen der schweren Krankheit mir die
+agitatorische T&auml;tigkeit noch unm&ouml;glich machten, stand
+mein Mann schon mitten im Wahlkampf. Er kam jedesmal
+hoffnungsvoller wieder, denn an der neuen Aufgabe
+wuchs seine Energie. Ich benutzte die Stunden der
+Alleinherrschaft &uuml;ber unseren Schreibtisch zur Abfassung
+einer Agitationsbrosch&uuml;re, in der ich die politische Situation
+vom Standpunkt der Frau aus beleuchtete. F&uuml;r
+den kommenden Wahlkampf sollte sie die Arbeiterinnen
+aufkl&auml;ren, anfeuern, mit Waffen versehen. Das H&auml;uflein
+ihrer offiziellen Vertreterinnen hatte mich zwar hinausgeworfen,
+aber Hunderttausende gab es, zu denen
+ich sprechen konnte.</p>
+
+<p>&raquo;Jetzt mache ich auch mit Lindner kurzen Proze&szlig;,&laquo;
+sagte Heinrich eines Abends, als er eben von Frankfurt
+zur&uuml;ckkehrte. &raquo;Gehen wir aus dem Wahlkampf in der
+St&auml;rke hervor, wie wir es hoffen d&uuml;rfen, so treten die
+Aufgaben praktischer Politik mit zwingender Notwendigkeit
+an uns heran, und meine Zeitschrift hat einen
+Wirkungskreis ohnegleichen&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Lindner kam. Mit W&uuml;nschen und Hoffnungen und
+ohne Entschlossenheit, wie immer.</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben mich lange genug genarrt,&laquo; fuhr ihn
+Heinrich an; &raquo;im Vertrauen auf Sie habe ich gewartet
+<a name="Page_457" id="Page_457"></a>und immer wieder gewartet. Nun aber verlange ich
+ein Ja oder Nein.&laquo;</p>
+
+<p>Lindners schmale Gestalt sank f&ouml;rmlich in sich selbst
+zusammen. Halb verlegen, halb gekr&auml;nkt versprach er
+eine rasche Entscheidung.</p>
+
+<p>&raquo;Wie kannst du nur!&laquo; rief ich, als die T&uuml;re sich
+hinter ihm schlo&szlig;. &raquo;Nun wird er ganz gewi&szlig; zur&uuml;cktreten!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und wenn schon!&laquo; lachte Heinrich fr&ouml;hlich, &raquo;glaubst
+du, die Zeitschrift hinge von ihm allein ab?&laquo;</p>
+
+<p>Drei Tage sp&auml;ter war der Vertrag abgeschlossen, die
+Zeitschrift gesichert. Lindner schien umgewandelt; die
+Aufgabe, die er vor sich sah, wirkte auf ihn wie Morphium
+auf Hysterische: sie gab ihm Kraft, Tatendurst,
+Selbstbewu&szlig;tsein.</p>
+
+<p>&raquo;Nun fehlt nur noch die notarielle Beglaubigung,&laquo;
+sagte er, nachdem er seinen Namen unter das Schriftst&uuml;ck
+gesetzt hatte, &raquo;und morgen kann die Arbeit losgehen!&laquo;</p>
+
+<p>Mein Mann legte ihm die Hand mit einer bevormundenden
+Bewegung auf den Arm: &raquo;Arbeiten m&uuml;ssen
+wir t&uuml;chtig, alle drei, aber &uuml;ber den geeigneten Zeitpunkt
+des Erscheinens wollen wir noch andere h&ouml;ren.
+Und eine notarielle Beglaubigung?&laquo; &mdash; Er lachte &mdash; &raquo;Ich
+denke, solche Scherze schenken wir uns. Unser Wort
+gen&uuml;gt, auch wenn wir es nicht schriftlich gegeben
+h&auml;tten.&laquo;</p>
+
+<p>An einem der n&auml;chsten Abende folgten die F&uuml;hrer der
+Revisionisten unserer Einladung. Wie zu einem Feste
+hatte ich unser Zimmer geschm&uuml;ckt und unsere Tafel bereitet.
+Und festlich war mir zumute, &mdash; wie den Soldaten
+nach der Kriegserkl&auml;rung. Die frankfurter Fahne
+<a name="Page_458" id="Page_458"></a>fiel mir ein, die eingerollt im Winkel stand, &mdash; eine
+im Sturme immer voran flatternde sollte unsere Zeitschrift
+werden!</p>
+
+<p>Unsere G&auml;ste gratulierten uns, &mdash; aber sie hatten doch
+viel Bedenken, ob unser Plan durchf&uuml;hrbar sei. Sie
+anerkannten die Wichtigkeit der Aufgabe, die wir uns
+gestellt hatten, &mdash; aber an der St&auml;rke der Wirkung
+zweifelten sie. Ihre rege Mitarbeit versprachen alle, &mdash; aber
+ohne den Enthusiasmus f&uuml;r die Sache, den ich
+erwartet hatte. Der Name der Zeitschrift wurde bestimmt:
+Die Neue Gesellschaft; die Zeit ihres Erscheinens
+wurde festgesetzt: nach den Wahlen, nach dem
+Parteitag. &mdash; Es war eine n&uuml;tzliche und verst&auml;ndige Besprechung,
+die wir hatten, aber wir feierten kein Fest.
+Die vielen Blumen auf meinem Tisch taten mir leid.</p>
+
+<p>Was ich schon oft empfunden hatte, das verst&auml;rkte
+sich jetzt: der Revisionismus besa&szlig; den Verstand und die
+Einsicht des Alters, das Feuer der Jugend war ihm
+jedoch dar&uuml;ber verloren gegangen. Wer aber die Zukunft
+erobern will, der mu&szlig; es erhalten, mu&szlig; es mit
+seiner Liebe, seinem Ha&szlig;, seiner Hoffnung n&auml;hren, damit
+es weithin leuchtet und w&auml;rmt, und die Fackeln
+derer, die ihm folgen, sich daran entz&uuml;nden k&ouml;nnen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>An einem fr&uuml;hen M&auml;rzmorgen des Jahres 1903
+war ich zu meiner ersten Wahlagitation von
+Berlin weggefahren, das grau und gr&auml;mlich,
+jenseits aller Jahreszeit, den Schlaf noch in den Augen
+hatte. In Gusow verlie&szlig; ich den Zug. Auf dem Bahnsteig
+stand ein Mann, die Schirmm&uuml;tze keck auf ein<a name="Page_459" id="Page_459"></a>
+Ohr gezogen, eine Nummer unserer m&auml;rkischen Parteizeitung
+in der Hand &mdash; unser Erkennungszeichen. Er
+lachte mich fr&ouml;hlich an.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin der Jenosse Merten,&laquo; sagte er. &raquo;So was
+war noch nich da in Jusow und Platkow. Alles, aber
+auch alles lauert auf Ihnen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Wir stiegen in ein klappriges W&auml;gelchen und fuhren
+zwischen Weiden und Erlen die Stra&szlig;e hinauf. &Uuml;berrascht
+sah ich um mich. Ich hatte es gar nicht gewu&szlig;t,
+da&szlig; es schon Fr&uuml;hling geworden war!</p>
+
+<p>&raquo;Welch eine Luft!&laquo; sagte ich mit tiefen Atemz&uuml;gen.</p>
+
+<p>&raquo;Nich war, jut ist sie!&laquo; antwortete mein Begleiter
+mit einem Stolz, als w&auml;re sie sein eigenstes Werk.
+&raquo;Wenn die nich w&auml;re, wir gingen l&auml;ngst auf und davon.
+Aber wenn wir &mdash; meine Kollegen und ich &mdash; Sonnabends
+von der Arbeet aus Berlin nach Hause
+fahren und unsere Kinder kommen uns entgegen, nich
+so bla&szlig; und d&uuml;nn wie die berliner J&ouml;hren, und wir
+k&ouml;nnen im Jarten in der Laube sitzen, an unserem
+eigenen Jem&uuml;se rumpusseln und an unseren Obstb&auml;umen, &mdash; dann
+vergessen wir gern die Plackerei der ganzen
+Woche.&laquo; Wir begegneten vielen Fu&szlig;g&auml;ngern. Er gr&uuml;&szlig;te
+nach rechts und links. &raquo;Kommst du ooch nach Platkow?&laquo;
+redete er sie an.</p>
+
+<p>&raquo;Jawoll&nbsp;&mdash;&laquo; &raquo;Natierlich,&laquo; riefen sie.</p>
+
+<p>&raquo;Sind das alles Maurer? fragte ich.</p>
+
+<p>&raquo;Wo denken Sie hin,&laquo; antwortete er, &raquo;da sind Landarbeeter
+mang, sogar Bauern. Heute kommt alles zu uns.
+Die haben ja nie in ihrem Leben 'ne Frau reden jeh&ouml;rt.&laquo;</p>
+
+<p>Mitten auf der Stra&szlig;e, wo die Aussicht am freiesten
+war, lie&szlig; er den kr&auml;ftigen Braunen halten.</p>
+<p><a name="Page_460" id="Page_460"></a></p>
+<p>&raquo;Das ist das Oderbruch,&laquo; erkl&auml;rte er und wies nach
+links, wo sich das Land weit, endlos weit in der Ferne
+verlor, und darauf verstreut, wie Spielzeug, zwischen
+knorrigen B&auml;umen, rotbedachte H&auml;uschen und Kirchen
+mit breiten T&uuml;rmen hervorsahen. Bla&szlig;blau, wie von
+durchsichtigem Kristall, w&ouml;lbte sich die Himmelsglocke
+&uuml;ber der Ebene. Aus den dunkeln Ackerfurchen stieg
+lebenverk&uuml;ndend ein w&uuml;rziger Geruch. Vergessene Geschichten
+fielen mir ein: vom alten Fritz, der dies fruchtbare
+Land dem Wasser abgetrotzt hatte, von all den
+m&auml;rkischen Junkern, den Itzenplitz, den Marwitz, den
+Finkenstein, die hier ringsum seit Generationen die
+Herren waren. Mein Begleiter zeigte nach rechts, wo
+der Boden sich hob und W&auml;lder den Horizont begrenzten.</p>
+
+<p>&raquo;Hier oben sind die Ritterg&uuml;ter, da sitzen lauter
+Agrarier, &mdash; unsere &auml;rgsten Feinde,&laquo; erz&auml;hlte er. &raquo;Die
+sind schlau gewesen, von Anfang an. Haben sich die
+guten Stellen gesichert, wo das Wasser sie nicht erreichen
+konnte; w&auml;hrend die Bauern unten allj&auml;hrlich drauf
+gefa&szlig;t sein mu&szlig;ten, da&szlig; es ihre arme Kate davontrug.
+Sie kennen doch die Jeschichte, die unsere Kinder in
+der Schule lernen m&uuml;ssen: &#8250;Hier habe ich in Frieden
+eine Provinz erobert,&#8249; soll K&ouml;nig Friedrich gesagt haben,
+als er mal hier in die Jegend kam. So'n Mumpitz!
+Als ob es nich arme Luders wie wir gewesen w&auml;ren,
+die die Kan&auml;le gruben und die D&auml;mme aufwarfen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber den Gedanken hat doch der K&ouml;nig gehabt,&laquo;
+meinte ich.</p>
+
+<p>Ein mi&szlig;trauischer Blick streifte mich. &raquo;F&uuml;r'n K&ouml;nig
+mag das freilich ooch schon 'ne Anstrengung gewesen
+sein!&laquo; spottete er.</p>
+
+<p><a name="Page_461" id="Page_461"></a>Eine breite Kastanienallee f&uuml;hrte in das Dorf Gusow.
+Einst&ouml;ckige H&auml;user, mit wei&szlig;en Vorh&auml;ngen an blanken
+Fenstern, umgaben in weitem Bogen den Dorfteich,
+seitw&auml;rts &ouml;ffnete sich der kiesbestreute Weg zum Schlo&szlig;,
+dem einstigen Besitztum des alten Derfflinger, und zur
+Kirche, unter deren Altar seine Gebeine ruhten. Mein
+Begleiter sah nach der Uhr.</p>
+
+<p>&raquo;Was meinen Sie, wenn wir zu Fu&szlig; durch den Park
+gingen? Sie glauben nich, wie sch&ouml;n der ist!&laquo; Dabei
+bekam sein breites Gesicht einen fast schw&auml;rmerischen
+Ausdruck.</p>
+
+<p>An dem stillen Schlo&szlig; vorbei betraten wir den Park.
+Weite Rasenfl&auml;chen dehnten sich vor der Terrasse, mit
+einem lichten Schimmer jungen Gr&uuml;ns &uuml;berzogen. Zu
+F&uuml;&szlig;en uralter Eichen, die schwarz gegen den hellen
+Himmel standen, guckten Schneegl&ouml;ckchen neugierig aus
+der Erde hervor und Krokusbl&uuml;ten schlugen verwundert
+ihre blauen Augen auf. Ein schmaler Pfad
+wand sich zwischen hohem Geb&uuml;sch, das pl&ouml;tzlich zur
+Seite wich, um dem Wunder fremdartig m&auml;rchenhafter
+B&auml;ume Platz zu machen; grau schimmerten ihre St&auml;mme
+wie Granit, und graue Wurzeln krochen knorrig &uuml;ber
+das dunkle Moos des Bodens.</p>
+
+<p>&raquo;Zedern sind es,&laquo; sagte mein Begleiter, &raquo;Zedern vom
+Libanon;&laquo; und blickte bewundernd auf den Traum des
+S&uuml;dens. &Uuml;ber uns in den Kronen der B&auml;ume brauste
+der Fr&uuml;hlingssturm. Nach seiner Melodie wiegten sich
+schlanke Birken, und krachend splitterten von Eichen und
+Linden die d&uuml;rren &Auml;ste.</p>
+
+<p>Mein Begleiter kannte jeden Platz im Park und
+jede Pflanze, &mdash; mit scheuer Z&auml;rtlichkeit strichen seine
+<a name="Page_462" id="Page_462"></a>rissigen H&auml;nde &uuml;ber die ersten kleinen Kn&ouml;spchen an den
+Str&auml;uchern.</p>
+
+<p>&raquo;Da&szlig; Sie in der Stadt arbeiten, wo Sie das Land
+so lieben!&laquo; staunte ich.</p>
+
+<p>Er sch&uuml;ttelte sich: &raquo;Landarbeeter?! Nee! Das is
+nischt for unsereens!&laquo;</p>
+
+<p>Wir n&auml;herten uns Platkow, dem nahen Ziel unserer
+Fahrt.</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Se mal hier die wackeligen Buden an,&laquo; sagte
+Merten, &raquo;Strohd&auml;cher, &mdash; Fenster, wie Mausel&ouml;cher,
+T&uuml;ren, da&szlig; sich ein ordentlicher Mann b&uuml;cken mu&szlig;, &mdash; wahrscheinlich,
+damit man's nich verlernt! Nischt
+als Leisetreter gab's hier, die die M&uuml;tze bis auf die
+Erde zogen, wenn die herrschaftliche Kutsche sie mit
+Dreck bespritzte! Aber nu wird's anders, sage ich
+Ihnen, janz anders&nbsp;&mdash;&laquo; dabei strahlte er f&ouml;rmlich &mdash; &raquo;sehen
+Sie dort, das Wei&szlig;e, das ist unser <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'Gewerkschafshaus'">Gewerkschaftshaus</ins>!&laquo;</p>
+
+<p>Mitten in diesem agrarischen Winkel, der der Agitation
+der Partei so gut wie unzug&auml;nglich gewesen war,
+weil kein Lokal ihren Versammlungen zur Verf&uuml;gung
+stand, hatten die Bauarbeiter sich ihr eigenes Haus errichtet.
+Die Ortspolizei verweigerte ihnen zwar die
+Schankkonzession, aber sie hatten ein Dach &uuml;ber dem
+Kopf, einen freien Raum zu freier Rede.</p>
+
+<p>&raquo;Sie h&auml;tten die Bauern sehen sollen, wie unser Haus
+eins &mdash; zwei &mdash; drei, haste nich jesehn! aus der Sandkule
+herauswuchs!&laquo; erz&auml;hlte Merten. &raquo;Wir hatten ja
+nur Sonntags Zeit zur Arbeet, aber die Steene flogen
+man so. An eenem Sonntag in aller Fr&uuml;he, als sie
+nach Jusow zur Kirche fuhren, fingen wir zu buddeln
+<a name="Page_463" id="Page_463"></a>an, und als sie nach dem letzten Amen wieder vorbeikamen,
+sahen die Mauern schon aus der Erde!&laquo;</p>
+
+<p>Der Wagen hielt. Der ganze Platz stand voll
+Menschen. Sie schoben sich hinter mir in den kleinen
+Saal; auf den B&auml;nken an den W&auml;nden sa&szlig;en schon
+die Frauen mit hei&szlig;en Gesichtern.</p>
+
+<p>Ich sprach vom Sturm, der drau&szlig;en den Staub von
+den D&auml;chern fegte und alles Morsche zu Boden ri&szlig;. Und
+von dem Sturm des Sozialismus. Ich schilderte die politische
+Lage Deutschlands und z&auml;hlte die S&uuml;nden der Regierung
+und der Reichstagsmehrheit auf vom Zuchthauskurs
+bis zum Zollraub, ich erz&auml;hlte von den Milliarden, die
+dem armen Mann in Gestalt von indirekten Steuern,
+Z&ouml;llen und Liebesgaben aus dem schmalen Beutel gezogen
+werden, w&auml;hrend sein Weib daheim im kleinen Haushalt
+seufzend mit jedem Pfennig rechnen mu&szlig;. An der
+Hand der Untersuchungen b&uuml;rgerlicher Gelehrter wies
+ich nach, wie die Verteuerung der Lebensmittel auf die
+Steigerung des Alkoholismus, der Kriminalit&auml;t, der
+Lungentuberkulose wirkt. Ich zog die &auml;rztlichen Forschungen
+heran, um zu zeigen, wie ganze Volkskreise
+entarten, wenn die Ern&auml;hrung eine unzureichende ist:
+&raquo;Schw&auml;cherer Wille, schneller versagende Aufmerksamkeit,
+raschere Ersch&ouml;pfung sind die Folgen einer Politik, die
+das Wohl des Volks, die Liebe zum Vaterland st&auml;ndig
+im Munde f&uuml;hrt, in der Tat aber die Leistungsf&auml;higkeit
+der Arbeiter untergr&auml;bt, und unsere Stellung
+auf dem Weltmarkt ersch&uuml;ttert. Die wirtschaftliche
+Krise, unter der wir alle leiden, die Zunahme der
+Arbeitslosigkeit mit ihrem Gefolge von Kinderjammer
+und Frauenausbeutung sind ein Beweis daf&uuml;r. Keine<a name="Page_464" id="Page_464"></a>
+&#8250;gepanzerte Faust&#8249; kann uns davor retten&nbsp;... Einmal
+im Laufe von f&uuml;nf Jahren ist es jedem Deutschen verg&ouml;nnt,
+Urteil zu sprechen &uuml;ber die, die sein Schicksal
+sind. Des Volkes Not und Unterdr&uuml;ckung liegt auf
+der einen Schale der Wage, des Volkes Gl&uuml;ck und
+Freiheit auf der anderen. Wir, die &#8250;Vaterlandslosen&#8249;,
+wir, die &#8250;Elenden&#8249;, wir, die &#8250;Rotte von Menschen, nicht
+wert, den Namen Deutsche zu tragen&#8249;, machen unser
+Urteil davon abh&auml;ngig, welche Seite der Wage schwerer
+wiegt&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Man hatte mir bewegungslos zugeh&ouml;rt, die Frauen,
+mit den H&auml;nden gefaltet im Scho&szlig;, die M&auml;nner, ohne
+den Blick von mir zu wenden. Nur hie und da sah
+ich ein zustimmendes Nicken. Das Volk dieser kargen
+Erde trug sein Herz nicht auf den Lippen und wu&szlig;te
+nichts von der Reaktion empfindlicher Nerven, worin
+oft der ganze Beifall des St&auml;dters besteht. Aber nachher,
+als ich nicht mehr &uuml;ber ihnen stand, ging ein
+Fragen und Erz&auml;hlen an, das mehr als jedes H&auml;ndeklatschen
+bewies, wie jedes Wort vom durstenden Boden
+ihres Innern aufgenommen worden war. Freilich: im
+engsten Kreise eigenen Lebens drehten sich ihre Interessen,
+aber ein jeder umschlo&szlig; das gro&szlig;e Leid der Welt.</p>
+
+<p>Ich wurde in Arbeiterh&auml;user gef&uuml;hrt: so klein, so arm,
+so eng. &raquo;Und hier is doch so ville Sand, auf dem jut
+noch zehn H&auml;user stehen k&ouml;nnten!&laquo;</p>
+
+<p>Sie zeigten mir das Armenhaus: in einem winzigen
+Raum hauste ein uraltes Paar mit vier kleinen Enkelkindern.
+Das einzige Bett nahm fast die H&auml;lfte der
+Stube ein.</p>
+
+<p>&raquo;Immer, von kleen auf, haben wir hier uf'n Jut je<a name="Page_465" id="Page_465"></a>arbeetet,&laquo;
+sagte der Mann, eine zusammengeschrumpfte
+Gestalt mit einem kleinen braunen Gesicht wie eine
+Wurzelknolle, &raquo;nu essen wir's Jnadenbrot&nbsp;&mdash;,&laquo; dabei
+kicherte er halb verlegen, halb h&ouml;hnisch. &raquo;Det Schlo&szlig;
+aber, det hat woll an die fufzich leere Zimmer&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Wir gingen durch das nachtdunkle Dorf zum Bahnhof.
+Einer, der j&uuml;ngste der Schar, begann mit heller
+Stimme zu singen. Allm&auml;hlich fielen die anderen ein.
+Die T&uuml;ren der H&auml;user, an denen wir vor&uuml;berkamen,
+&ouml;ffneten sich. Einige der Bewohner traten neugierig
+bis zur Schwelle. Andere lockte das Lied und die feuchtwarme
+M&auml;rznacht, &mdash; sie folgten uns. Und so ging
+es im Takt auf die Stra&szlig;e hinaus und immer, immer
+l&auml;nger wurde der Zug singender Menschen.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Wir h&auml;mmern jung das alte morsche Ding, den Staat,<br /></span>
+<span class="i0">Die wir von Gottes Zorne sind, &mdash; das Proletariat &mdash; das Proletariat&nbsp;&mdash;&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>klang es schmetternd hin &uuml;ber das schlafende Bruch.</p>
+
+<p>Allm&auml;hlich, je mehr ich dem Land und seinen Bewohnern
+n&auml;hertrat, gewann ich es lieb, und die
+weite Ebene enth&uuml;llte mir all ihre verborgene Sch&ouml;nheit,
+und die Menschen ihr weiches, trotziges Herz. Sie
+f&uuml;hlten noch nicht die Distanz zwischen sich und mir,
+darum begegnete mir nirgends Neid oder Mi&szlig;trauen.
+Fingen sie doch kaum an, das Allerhandgreiflichste zu
+empfinden: wie etwa den Gegensatz ihrer H&uuml;tte zum
+Herrschaftsschlo&szlig;. Und gerade an diesem Punkt ihres
+Wesens sah ich, wo ich eingreifen mu&szlig;te.</p>
+
+<p>&raquo;Wer andere Zust&auml;nde schaffen soll, mu&szlig; doch erst
+den Druck der eigenen empfinden lernen,&laquo; sagte ich zu<a name="Page_466" id="Page_466"></a>
+Romberg, der mir meine agitatorische T&auml;tigkeit durchaus
+verleiden wollte.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann Sie mir nun einmal nicht vorstellen, in
+einer Dorfkneipe Unzufriedenheit predigend,&laquo; antwortete
+er &auml;rgerlich.</p>
+
+<p>&raquo;So &uuml;berzeugen Sie sich durch eignen Augenschein,
+da&szlig; ich es kann,&laquo; meinte ich. Auf meiner n&auml;chsten
+Fahrt kam er mit. Diesmal war es ein Leiterwagen,
+der uns in str&ouml;mendem Regen &uuml;ber aufgeweichte Landwege
+nach einem kleinen D&ouml;rfchen fuhr, Lehmannsh&ouml;fel
+mit Namen.</p>
+
+<p>&raquo;Wie wird's mit unserer Versammlung bei dem
+Wetter?&laquo; fragte ich den alten Genossen, der uns an
+der Bahn empfangen hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Jut, &mdash; sehr jut,&laquo; entgegnete er. &raquo;Was unser oller
+Pfarrer is, der hat vorichte Woche die Weiber ufjehetzt.
+Sie sollten man blo&szlig; nich in die Versammlung jehn,
+hat er jesagt, so wat jinge sie jar nischt an, am wenichsten,
+wenn 'ne Frau reden tut, die lieber zu Haus
+det Mittagbrot kochen und mit die Kinder beten sollte.
+Nu k&ouml;nnen Se sich denken, da&szlig; se justament in die Versammlung
+jehn. Proppenvoll war's schonst heut morjen.&laquo;</p>
+
+<p>Radfahrer begegneten uns, von oben bis unten bespritzt,
+Fu&szlig;g&auml;nger mit aufgeweichten Sohlen, denen das
+Wasser von der M&uuml;tze tropfte. Wir luden auf, so viel
+der Wagen fassen konnte. Seit dem Morgengrauen
+hatten sie Flugbl&auml;tter ausgetragen. Voll guten Humors
+erz&auml;hlten sie ihre Abenteuer. Auf manchem Hof hatten
+sie &uuml;ber Z&auml;une klettern m&uuml;ssen, weil das Tor vor ihnen
+verschlossen wurde; der eine war als reisender Handwerksbursche
+bis in die Gesindestuben der Ritterg&uuml;ter
+<a name="Page_467" id="Page_467"></a>vorgedrungen, der andere hatte mit dem&uuml;tigem Gesicht,
+als w&auml;r's ein Trakt&auml;tchen, den Kirchg&auml;ngern die Zettel
+in die Hand gedr&uuml;ckt; im Vor&uuml;bersausen hatte der Radler
+sie geschickt durch offene T&uuml;ren und Fenster geworfen.</p>
+
+<p>In der Wirtsstube von Lehmannsh&ouml;fel gl&uuml;hte der
+eiserne Ofen. Nasse M&auml;ntel und Stiefel trockneten
+daran. Tabaksqualm zog in schweren Schwaden an
+der niedrigen Decke. Mein Platz war mit Kiefernzweigen
+umwunden. Vor mir auf dem Tisch standen
+rechts und links zwei Blumenstr&auml;u&szlig;e in flachen wei&szlig;en
+Papiermanschetten.</p>
+
+<p>&raquo;Von den Tagel&ouml;hnerinnen aufs Jut&nbsp;&mdash;,&laquo; erkl&auml;rte
+dunkel err&ouml;tend ein junges M&auml;dchen, das als letzten
+Rest der alten Tracht die strohblonden Flechten unter
+dem schwarzseidenen Kopftuch verborgen hatte. Wie in
+der Kirche sa&szlig;en die Leute vor mir: rechts die M&auml;nner,
+links die Frauen, &mdash; lauter Gesichter, in die kein anderer
+Gedanke als der an die n&auml;chste Not des Daseins seine
+Zeichen gegraben hatte. Noch nie war eine Versammlung
+hier gewesen. Ob ich den Ton finden w&uuml;rde,
+der zu ihnen drang? Ich erz&auml;hlte von ihrem eigenen
+Dasein, wie es in ewigem Gleichma&szlig; dahinflie&szlig;t, nach
+der alten eint&ouml;nigen Melodie: Leben, um zu arbeiten,
+arbeiten, um wieder leben zu k&ouml;nnen. Wie Freude f&uuml;r
+sie nur ein kurzer Rausch ist mit b&ouml;sem Erwachen &mdash; ein
+Alkoholrausch, ein Liebesrausch &mdash; und die Sorgen
+allein sie nie verlassen. Wie die Welt voll Glanz und
+Sch&ouml;nheit ist; wie das gr&ouml;&szlig;te und sch&ouml;nste, was die
+Menschheit in Jahrhunderten gedacht und empfunden,
+in Tausenden von B&uuml;chern und Statuen und Bildern
+aufbewahrt wurde f&uuml;r ihre Nachkommen. &raquo;Aber eine<a name="Page_468" id="Page_468"></a>
+Mauer baute man ringsum, und nur wer den goldenen
+Zauberstab besitzt, dem &ouml;ffnet sich die Pforte&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Ein junger Mann, der ein bi&szlig;chen stumpfsinnig vor
+mir gesessen hatte, sah pl&ouml;tzlich auf &mdash; mit ein paar
+Augen, in deren Tiefe die Sehnsucht flammte.</p>
+
+<p>&raquo;Das Kind der armen Tagel&ouml;hnerin hat vielleicht
+die Seele eines Dichters, &mdash; mit vierzehn Jahren schon
+mu&szlig; es Kartoffeln buddeln und R&uuml;ben ziehen, und die
+Arbeit tritt mit ihren eisenbeschlagenen F&uuml;&szlig;en seine
+Seele tot&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>An der T&uuml;r dr&uuml;ben sah ich ein altes M&uuml;tterchen,
+das den wei&szlig;en Kopf schluchzend in den knochigen H&auml;nden
+vergrub.</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;r diese Welt ist Armut ein Verbrechen, das mit
+lebensl&auml;nglicher Zwangsarbeit bestraft wird&nbsp;... Tr&auml;nen
+dar&uuml;ber sind genug vergossen worden. Vor lauter
+Jammern haben wir das Handeln vergessen. Von der
+Kanzel herab haben sie gepredigt, da&szlig; die Ergebung in
+das Geschick eine Tugend ist. Ich sage Euch, sie ist ein
+Laster. Denn an all dem Elend in der Welt sind wir
+schuld, &mdash; wir mit unserer Demut, unserer Unterw&uuml;rfigkeit,
+unserer Tr&auml;gheit&nbsp;... Jeder Blick in das bleiche
+Gesichtchen ihres Lieblings, jede jammernde Bitte um
+Nahrung sollte der Frau nicht Tr&auml;nen fruchtlosen Leids
+erpressen, sondern sie anspornen, ihrem Kind die Zukunft
+erobern zu helfen&nbsp;... Wo die Mutter unfrei und
+furchtsam ist, w&auml;chst ein Geschlecht von Knechten mit
+knechtischer Gesinnung empor, und der Wert einer
+Mutter wird in Zukunft nicht blos daran gemessen
+werden, ob sie ihre Kinder gewaschen, gekleidet und
+gen&auml;hrt hat, sondern ob sie sie zu K&auml;mpfern erzog
+<a name="Page_469" id="Page_469"></a>und ihnen mit dem Vorbild tatkr&auml;ftiger Begeisterung
+voranging.&laquo;</p>
+
+<p>An Beispielen des t&auml;glichen Lebens suchte ich ihnen
+klar zu machen, wie jeder Einzelne, auch der Bescheidenste,
+an dem gro&szlig;en Befreiungsfeldzug des Sozialismus
+teilnehmen kann, wie er nie zum Ziele f&uuml;hren
+w&uuml;rde ohne die Arbeit des einzelnen. Mir war, als
+h&ouml;rte ich die Atemz&uuml;ge der Menschen vor mir und ihre
+Seufzer. O, da&szlig; ich sie doch ins Herz getroffen h&auml;tte!</p>
+
+<p>Feuchte Nebel hingen wie lange Trauerschleier &uuml;ber
+den Feldern. Wir fuhren stumm zur&uuml;ck. Frostgesch&uuml;ttelt
+lehnte ich mich in die Kissen, als wir endlich den Zug
+nach Berlin bestiegen hatten.</p>
+
+<p>&raquo;Wie Sie das verantworten k&ouml;nnen!&laquo; brach Romberg
+los, der bis dahin kein Wort gesprochen und den
+armen Leuten, zwischen denen er gesessen hatte, sein
+Unbehagen so deutlich f&uuml;hlen lie&szlig;, da&szlig; ich schon bedauerte,
+ihn mitgenommen zu haben. Jetzt fuhr ich aus
+dem Halbschlaf auf.</p>
+
+<p>&raquo;Ich verstehe Sie nicht!&laquo; sagte ich.</p>
+
+<p>&raquo;Um so schlimmer!&laquo; rief er. &raquo;Sie nehmen diesen
+Menschen das einzige, was sie besitzen, was ihnen das
+Leben ertr&auml;glich machte: ihre Unwissenheit, ihren Stumpfsinn, &mdash; ohne
+ihnen irgend etwas daf&uuml;r geben zu k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie, das Erwachen aus der Lethargie w&auml;re nichts?!&laquo;
+entgegnete ich heftig. &raquo;Sich durch die Teilnahme an dem
+Befreiungswerk der Klassengenossen &uuml;ber sich selbst und
+sein kleines Schicksal hinauszuheben, &mdash; das w&auml;re nichts?!
+Von Ihnen h&ouml;rte ich zuerst das Wort von der Politik
+der Starken. Das ist mein Leitmotiv. Ohne die Disharmonien
+des aufw&uuml;hlenden Schmerzes, ohne die Grau<a name="Page_470" id="Page_470"></a>samkeit
+der Erkenntnis gibt es nicht den starken Akkord
+ihrer L&ouml;sung.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und wie steht's mit denen, die daran zugrunde gehen?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie w&auml;ren auch am Leben zugrunde gegangen!&laquo;</p>
+
+<p>Mit einem fremden Blick, der mir zu meinem eigenen
+Erstaunen wehe tat, streifte er mich.</p>
+
+<p>&raquo;Ist Weichheit und Schw&auml;che auch f&uuml;r Sie noch ein
+Attribut der Weiblichkeit?&laquo; fragte ich, und das Herz
+klopfte mir, als f&uuml;rchtete ich die Antwort.</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig; selbst nicht recht&nbsp;&mdash;,&laquo; meinte er z&ouml;gernd.
+&raquo;Aber daran soll unsere Freundschaft nicht Schiffbruch
+leiden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Haben Sie gar keine Zeit mehr f&uuml;r mich?&laquo; fing er
+nach einer Pause wieder zu sprechen an, als der Zug
+sich Berlin schon n&auml;herte. Ich sah auf. &raquo;Ich m&ouml;chte,
+da&szlig; Sie wenigstens zwischendurch wieder ein Kulturmensch
+werden!&laquo;</p>
+
+<p>Ohne rechte Lust, nur um ihn nicht wieder zu verletzen,
+versprach ich ihm, mich am n&auml;chsten Tag seiner F&uuml;hrung
+zur &raquo;Kultur&laquo; anzuvertrauen. Am Bahnhof empfing uns
+Heinrich, der eine Stunde fr&uuml;her aus einer anderen
+Gegend seines Wahlkreises zur&uuml;ckgekehrt war. Wir
+waren beide so erf&uuml;llt von unseren Erlebnissen, da&szlig; wir
+im Eifer des Erz&auml;hlens Romberg fast verga&szlig;en. Er
+verabschiedete sich steif und verstimmt.</p>
+
+<p>&raquo;Bildung und Politik sind f&uuml;r mich schwer vereinbare
+Begriffe&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte er am n&auml;chsten Morgen, als wir zusammen
+in die Stadt gingen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie scheinen einem Wechsel der Stimmungen unterworfen,
+der bisher nur einer Frau gestattet war,&laquo; entgegnete
+ich &auml;rgerlich. &raquo;Es ist noch nicht lange her, da&szlig; Sie
+<a name="Page_471" id="Page_471"></a>mit einer Begeisterung, die ich nicht vergessen habe, die
+Sozialdemokratie als die bedeutsamste Erscheinung der
+Zeit feierten.&laquo;</p>
+
+<p>Er l&auml;chelte. &raquo;Frauenlogik! Es tut mir ordentlich
+wohl, diesen weiblichen Zug bei Ihnen zu finden! Was
+hat mein Urteil &uuml;ber den Klassenkampf des Proletariats
+mit meiner Meinung &uuml;ber die Beteiligung des Gebildeten
+an der Politik zu tun?! Wir sollten um h&ouml;here
+Werte ringen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gibt es h&ouml;here, als die Befreiung der Menschheit
+von all den Fesseln, die sie an die Erde schmieden und
+ihren H&ouml;henflug hemmen?!&laquo; unterbrach ich ihn erregt.</p>
+
+<p>&raquo;Freiheit, Gleichheit, Br&uuml;derlichkeit, &mdash; die alte Parole,
+unter der schon die Bastille gest&uuml;rmt wurde,&laquo; entgegnete
+er mit sp&ouml;ttischem L&auml;cheln; &raquo;f&uuml;gen Sie noch das Ideal
+des Christentums, &mdash; die selbstentsagende N&auml;chstenliebe
+hinzu, so beweist das alles, wie uns&auml;glich arm eine Zeit
+sein mu&szlig;, die selbst einer so gewaltigen Bewegung wie
+der des Proletariats keine neuen Ideale hat schaffen
+k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>Seine Worte begegneten einem noch unklaren Empfinden,
+das ich um so energischer zu unterdr&uuml;cken gesucht
+hatte, als mir die Wege dunkel erschienen waren, zu
+denen es h&auml;tte f&uuml;hren k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Wir traten in den modernsten Kunstsalon Berlins.
+Der Holzbogen der Eingangshalle, der in seinen geschwungenen
+Linien alle Spr&ouml;digkeit des Materials siegreich
+&uuml;berwunden hatte, empfing mit weit ausgebreiteten
+Armen die Besucher. In hellen Vitrinen, durch unsichtbare
+Lichtspender von innen strahlend, lagen auf grauem
+Samt G&uuml;rtel, Schnallen, Armreifen und Diademe;<a name="Page_472" id="Page_472"></a>
+Vogelgefieder und Schmetterlingsfl&uuml;gel aus durchsichtigem
+Email vereinten sich mit dunklem Gold, mattem Silber;
+Perlen in phantastischen Formen standen neben Edelsteinen
+von unerh&ouml;rter Farbenpracht &mdash;</p>
+
+<p>&raquo;Ein Schmuck f&uuml;r M&auml;rchenprinzessinnen, von einem
+Dichter geschaffen,&laquo; sagte Romberg bewundernd und
+versenkte sich in den Anblick. Er mochte wei&szlig;er Arme
+gedenken und schimmernder Nacken und holder Frauenk&ouml;pfe
+mit lachenden Lippen und duftenden Locken. In
+meinen Augen aber hafteten andere Bilder: rissige
+H&auml;nde, gebeugte R&uuml;cken, sorgendurchfurchte Gesichter&nbsp;&mdash;,
+ich wandte mich ab, im Innersten verletzt.</p>
+
+<p>Der n&auml;chste Raum war voll sanften Lichtes und
+tiefer, weicher Sessel.</p>
+
+<p>&raquo;Wie wohltuend, wie ruhig!&laquo; meinte jemand. &raquo;Eine
+sch&ouml;ne alte Frau mit sehr wei&szlig;en stillen H&auml;nden m&uuml;&szlig;te
+ihren Lebensabend hier vertr&auml;umen.&laquo; Aber die Armenstube
+von Platkow sah ich vor mir.</p>
+
+<p>Vor ein gro&szlig;es Bild traten wir dann: auf weichem,
+blumendurchwirktem Rasenteppich, der sich im stillen
+Wald verlor und z&auml;rtlich eine Quelle umgab, die diesen
+Frieden mit keinem Pl&auml;tscherlaut st&ouml;ren mochte, kniete
+ein J&uuml;ngling, den dunkeln Dantekopf andachtsvoll zu
+der Jungfrau erhoben. Aus der S&auml;ulenhalle des Tempels
+tretend, kr&ouml;nte sie ihn; lange, schmale, durchsichtig
+bleiche Finger hielten den Kranz. M&auml;dchen, so schlank
+und hoheitsvoll wie sie, standen zur Seite. Und das
+alles leuchtete in mystischem Blau, in trunkenem Purpur,
+in sattem Gr&uuml;n, &mdash; weitab allen grauen T&ouml;nen der Wirklichkeit.
+Fast nahm die fremde Wunderwelt mich schon
+gefangen. Da tauchte der sturmdurchpeitschte Park vor
+<a name="Page_473" id="Page_473"></a>mir auf und der rauhe Mann, der mit harten Arbeitsh&auml;nden
+z&auml;rtlich die kleinen Knospen streichelte. Ich war
+sehr einsilbig.</p>
+
+<p>Wir beschlossen den Tag im Theater, wo Maeterlincks
+Pelleas und Melisande unter der Direktion eines jungen
+Revolution&auml;rs der B&uuml;hne zur Auff&uuml;hrung kam. B&ouml;cklins
+Landschaften schienen lebendig geworden:</p>
+
+<p>Der Zauberwald und die Felsen, die finsteren Schlo&szlig;t&uuml;rme
+und der wei&szlig;e Marmorbrunnen verschmolzen mit
+den schwebenden Gestalten, dem Sonnenglanz und dem
+Mondlicht zum reinen Rhythmus bewegter Kunst.</p>
+
+<p>Die l&auml;rmende Stra&szlig;e drau&szlig;en zerst&ouml;rte den Traum.
+Mit schmerzhafter Klarheit empfand ich die g&auml;hnende
+Kluft zwischen all der &auml;sthetischen Kultur, die um uns
+her zu bl&uuml;hen begann, und dem Leben, dem Denken
+und W&uuml;nschen der Millionen, die erst anfingen, um die
+Befriedigung urspr&uuml;nglichster Triebe zu k&auml;mpfen. Rombergs
+Gedanken begegneten den meinen.</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;hlen Sie nicht selbst, wie weltenfern Sie denen
+stehen, deren ganzes Bed&uuml;rfen in etwas mehr Zeit, etwas
+mehr Brot gipfelt?&laquo; sagte er. &raquo;Sie m&uuml;ssen Ihre
+Sinne, Ihre Nerven, an deren subtiler Verfeinerung
+Generationen arbeiteten, gewaltsam abstumpfen, um ihr
+Sprachrohr werden zu k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>Meine ganze Freudigkeit kehrte mir wieder.</p>
+
+<p>&raquo;Wie eng Sie denken!&laquo; lachte ich. &raquo;Nicht abstumpfen,
+steigern mu&szlig; ich meine Empf&auml;nglichkeit, damit ich immer
+wei&szlig;, wie gro&szlig; das Entbehren ist und wie ungeheuer
+der Gewinn unseres Kampfes.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Machen Sie sich denn gar nicht klar, da&szlig;, wenn die
+Masse erreichen sollte, was Sie heute haben, Sie und<a name="Page_474" id="Page_474"></a>
+Ihresgleichen ihr wieder um tausend Jahre voran
+sind?!&laquo; sagte Romberg. &raquo;So wird die Kluft bleiben, &mdash; immer
+bleiben, und die Gleichheit ist eine Chim&auml;re.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich fordere auch nur die Gleichheit der Lebensbedingungen;
+wie der Baum aus diesem Boden w&auml;chst,
+dar&uuml;ber entscheidet seine eigene Kraft,&laquo; antwortete ich.</p>
+
+<p>Wir brachen ein Gespr&auml;ch ab, das uns nur voneinander
+entfernen mu&szlig;te. Aber einen Gedanken hatte es
+wachgerufen, der sich von nun an nicht mehr einschl&auml;fern
+lie&szlig;. Wenn er mich qu&auml;lte und ich ihn absch&uuml;tteln
+wollte, so bohrte er sich nur noch tiefer in Hirn und
+Herz. H&ouml;rbarer, als da die V&ouml;lker wanderten, um sich
+neuen Heimatboden zu erobern, dr&ouml;hnte die Erde unter
+den Tritten der Millionen, die sich in Bewegung gesetzt
+hatten, um dem Elend zu entfliehen. Aber ihrem Wollen
+fehlte die einheitliche Formel. Im Dreigestirn der Revolutionsideale
+lag sie nicht. Und was Marx ihnen
+gegeben hatte, das waren wissenschaftliche Erkl&auml;rungen
+&uuml;ber die Art, das Tempo und das Ziel der Bewegung
+gewesen, die nur so lange &uuml;ber den Mangel hinwegt&auml;uschen
+konnten, als sie unersch&uuml;ttert waren.</p>
+
+<p>Ein Ereignis best&auml;rkte mich in meiner Idee. Mitten
+im Wahlkampf, der all unsere Kr&auml;fte auf ein Ziel, &mdash; die
+Niederwerfung des Gegners, &mdash; h&auml;tte konzentrieren
+m&uuml;ssen, entspann sich ein w&uuml;ster Krieg zwischen den
+Parteigenossen selbst. Er w&auml;re unm&ouml;glich gewesen,
+wenn nicht jenes Fehlen der inneren Einheit gegenseitiges
+Mi&szlig;trauen zur Folge haben mu&szlig;te. Was der
+eine ruhigen Gewissens tat oder lie&szlig;, das erschien dem
+anderen als ein Versto&szlig; gegen die Partei.</p>
+
+<p>Ein halbes Dutzend Parteigenossen, &mdash; ich geh&ouml;rte zu
+<a name="Page_475" id="Page_475"></a>ihnen, &mdash; hatten seit Jahr und Tag an einer b&uuml;rgerlichen
+Wochenschrift mitgearbeitet, die eine Trib&uuml;ne
+war, auf der alle Richtungen ungehindert zu Worte
+kamen. Die literarischen und k&uuml;nstlerischen Kritiken,
+die ich darin ver&ouml;ffentlicht hatte, &mdash; Augenblicksarbeiten,
+denen ich gar kein l&auml;ngeres als ein Augenblicksinteresse
+beima&szlig;, &mdash; hatten oft weniger dem Bed&uuml;rfnis nach Aussprache,
+als dem Erwerbszwang ihr Entstehen zu verdanken.
+Die Parteipresse stand mir nur selten zur Verf&uuml;gung,
+und um so seltener, je mehr ich des Revisionismus
+verd&auml;chtig war. In &auml;hnlicher Lage wie ich
+waren die meisten derer, die mit mir &#8250;ges&uuml;ndigt&#8249; hatten.
+Zwei von ihnen standen als Reichstagskandidaten im
+heftigsten Feuer der Wahlkampagne. Aber das hinderte
+einige radikale Wortf&uuml;hrer nicht, uns in breitester &Ouml;ffentlichkeit
+als Schleppentr&auml;ger der gegnerischen Presse zu
+verd&auml;chtigen.</p>
+
+<p>Kaum hatte ich den betreffenden Artikel gelesen, als
+ich schon am Schreibtisch sa&szlig;, um uns dagegen zu verteidigen.
+Die Ansicht, da&szlig; wir jede Trib&uuml;ne ben&uuml;tzen
+m&uuml;ssen, von der aus wir geh&ouml;rt werden k&ouml;nnen, hatte
+sich in mir seit der Zeit, wo ich sie, von Wanda Orbin
+beeinflu&szlig;t, angesichts des Frauenkongresses verleugnet
+hatte, nur befestigt. Unsere Presse, unsere Versammlungsreden
+erreichten immer nur dieselben Kreise, und
+abseits standen Hunderttausende, die uns nur aus den
+Darstellungen der Gegner kennen lernten. Ich legte
+meine Erkl&auml;rung den Mitbetroffenen vor. Sie sollte in
+derselben Zeitung erscheinen, die uns angegriffen hatte.
+Ich wurde daran verhindert; man w&uuml;nschte die Ausdehnung
+des Zwists zu vermeiden, indem man die
+<a name="Page_476" id="Page_476"></a>&ouml;ffentliche Antwort, wie ich sie beabsichtigt hatte, in eine
+Zuschrift an den Parteivorstand verwandelte. Dieser
+aber sah sich nicht mehr imstande, auf eine interne
+Auseinandersetzung einzugehen, &mdash; die ganze Presse hatte
+sich schon der Sache bem&auml;chtigt, unsere politischen
+Gegner schlachteten sie gegen uns aus&nbsp;&mdash;, er ver&ouml;ffentlichte
+seine Entscheidung: kein Parteigenosse darf an
+einer Zeitschrift mitarbeiten, die die Sozialdemokratie in
+h&auml;mischer oder geh&auml;ssiger Weise kritisiert. Die ganze
+Provinzpresse druckte nat&uuml;rlich die lapidaren S&auml;tze des
+Vorstands ab. Wir waren gebrandmarkt vor den Genossen,
+in deren Mitte wir wirken sollten; den Gegnern
+waren die Waffen in die Hand geliefert, um uns vor
+ihnen zu diskreditieren. Dar&uuml;ber verging uns das
+Lachen, das im Grunde die richtigste Antwort gewesen
+w&auml;re. Wir sahen in der Entscheidung, die es jedem
+Parteif&uuml;hrer an die Hand gab, mi&szlig;liebige Bl&auml;tter auf
+den Index zu setzen, einen weiteren Schritt zum Papismus,
+wir emp&ouml;rten uns, da&szlig; gerade diejenigen, die in
+der Partei in Amt und Brot waren, den freien Schriftstellern,
+die dem Verdienst nachgehen mu&szlig;ten, die Zugeh&ouml;rigkeit
+zur Partei unm&ouml;glich zu machen suchten,
+und eine ihrer Grundlagen schien uns in dem Angriff
+auf die Freiheit der Meinungs&auml;u&szlig;erung verletzt. Wir
+&Uuml;berl&auml;ufer aus der Bourgeoisie, die im Kampf gegen
+alle Autorit&auml;ten, &mdash; die der Familie, der Bildung, der
+Religion, des Staats&nbsp;&mdash;, den Weg zur Sozialdemokratie
+gefunden hatten, w&auml;ren die letzten gewesen, eine neue
+Autorit&auml;t, &mdash; die des Parteivorstands, &mdash; anzuerkennen.
+Und mein Mann, der seine Frondeurnatur am wenigsten
+verleugnen konnte, wurde unser Wortf&uuml;hrer gegen ihn:<a name="Page_477" id="Page_477"></a>
+in einem geharnischten Artikel verteidigte er die Freiheit
+der Meinungs&auml;u&szlig;erung. Nun erst entbrannte der Kampf,
+der seit dem M&uuml;nchener Parteitag schon im stillen die
+Geister erhitzt hatte, auf der ganzen Linie, &mdash; mit all
+jener Bitterkeit, die entsteht, wenn Freunde zu Feinden
+werden.</p>
+
+<p>Im stillen f&uuml;rchteten wir, was unsere politischen
+Gegner hofften: da&szlig; die Wahlen dadurch zu unserem
+Nachteil beeinflu&szlig;t werden k&ouml;nnten.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Am ersten Mai, dem Weltfeiertag der Arbeit,
+sollte ich in Frankfurt a.&nbsp;O. die Festrede
+halten. Mir war im Augenblick wenig festlich
+zumute: mit so viel Hoffnungsfreudigkeit hatte ich
+die Agitation begonnen, &mdash; sollte sie vergebens gewesen
+sein?! Sollte ich am Ende an ihrer Erfolglosigkeit
+mitschuldig sein, weil ich &mdash; es klang wie der dumme
+Witz eines Possenrei&szlig;ers &mdash; in einer b&uuml;rgerliche Zeitschrift
+&uuml;ber Halbes Theaterst&uuml;cke und Laura Marholms
+Frauenb&uuml;cher geschrieben hatte?! Aber schon als der
+Zug die letzte berliner Bahnhofshalle verlie&szlig; und statt
+der hohen grauen H&auml;user sich drau&szlig;en Laube an Laube
+reihte, von dem ersten jungen Gr&uuml;n &uuml;berhaucht, mit
+bunten F&auml;hnchen lustig bewimpelt, und Menschen in
+Festtagskleidern auf der Chaussee zwischen den jungen
+Birken, die gr&uuml;&szlig;end die gr&uuml;nen Schleier ihrer &Auml;ste bewegten,
+den Versammlungen entgegeneilten, in denen
+ihres Fr&uuml;hlingsglaubens Auferstehungsbotschaft gepredigt
+werden sollte, verschwanden all meine t&ouml;richten
+kleinlichen &Auml;ngste. Was hatten die dogmatischen Z&auml;n<a name="Page_478" id="Page_478"></a>kereien
+der Priester mit der Religion der Massen
+zu tun?</p>
+
+<p>Zwei kleine M&auml;dchen empfingen mich am Bahnhof,
+mit blauen B&auml;ndern in den Z&ouml;pfchen und frisch gewaschenen
+wei&szlig;en Kleidern, die sich um sie bauschten,
+so da&szlig; sie aussahen wie Riesenglockenblumen. Sie
+f&uuml;hrten mich hinunter in die Stadt &uuml;ber den Platz mit
+seinen geharkten Wegen, seinen artigen Rasenfleckchen
+und den kleinen d&uuml;rftigen Beeten darauf, an H&auml;usern
+vor&uuml;ber mit n&uuml;chternen Fassaden und ablehnend verhangenen
+Fensterscheiben. Die Glocke der Elektrischen
+wirkte hier wie erschreckender L&auml;rm. Als wir aber um
+die Ecke bogen, wo die Kastanien &uuml;ber das holprige
+Pflaster schon breite Schatten warfen, da schien das
+Leben der tr&auml;umenden Stadt erwacht: in Trupps zu
+vieren und f&uuml;nfen, mit wei&szlig;en und braunen und gelben
+Kinderw&auml;gelchen dazwischen, die M&auml;nner im Sonntagsrock,
+die Frauen mit nickenden Blumen auf hellen H&uuml;ten,
+so zogen sie durch die Stra&szlig;e. Und an jeder Gassenm&uuml;ndung
+gesellten sich andere hinzu, und wo die G&auml;rten
+gr&ouml;&szlig;er und die H&auml;user kleiner wurden, kamen Landleute
+mit Stulpenstiefeln, M&auml;dchen mit Kopft&uuml;chern
+&uuml;ber die Feldwege. Alles gr&uuml;&szlig;te einander mit dem
+Blick frohen Erkennens. Weit hinunter bis zu dem
+silbernen Band der Oder dehnten sich, von alten Weiden
+umrahmt, &uuml;ppige Wiesen; in goldgelben Flecken, wie
+auf die Erde gebanntes Sonnenlicht, gl&auml;nzten Butterblumen
+daraus hervor. Von der anderen Seite des
+Wegs, wo der Boden sich hob, nickten &uuml;ber Wei&szlig;dornhecken
+rosig bl&uuml;hende B&auml;ume; dar&uuml;ber klang der
+langgezogene Sehnsuchtston der Stare, das Kwiwitt
+<a name="Page_479" id="Page_479"></a>der Rotkehlchen, das vielstimmige Zwitschern buntgefiederter
+Meisen.</p>
+
+<p>Nun hatten sich die Wandernden zu einem Zuge zusammengeschoben,
+und eins war ich mit ihnen. Aus
+dem Garten, durch dessen laubumwundene Pforte wir
+zogen, t&ouml;nte Musik. Auf der B&uuml;hne der Festhalle, die
+wir betraten, warteten schon die S&auml;nger. Ich stieg die
+Stufen hinauf. &raquo;... Ein Sohn des Volkes will ich sein
+und bleiben...&laquo; sang der Chor. Durch die hohen weit
+ge&ouml;ffneten Fenster str&ouml;mte die Sonne in breiten Wogen;
+ihre Strahlen trugen den Duft des Fr&uuml;hlings mit herein
+und ber&uuml;hrten all die braunen und blonden Scheitel
+der and&auml;chtig lauschenden Menge.</p>
+
+<p>Dicht unter der B&uuml;hne hatten sich die Kinder zusammengeschart,
+die kleinsten in ihren bunten Kleidchen,
+wie ein Beet farbenfroher Sommerblumen, am weitesten
+nach vorn. Ein kecker kleiner Kerl war bis auf die
+Rampe geklettert, ein strohblondes M&auml;dchen schmiegte
+sich sch&uuml;chtern an sein Knie, und die beiden Augenpaare &mdash; ein
+schwarzes und ein blaues &mdash; hingen an mir
+wie eine gro&szlig;e verwunderte Frage.</p>
+
+<p>Sehr feierlich war mir zumute, als st&uuml;nde ich, ein
+geweihter Priester, zum erstenmal auf der Kanzel. Aber
+es war nicht die Religion der Liebe, die ich predigte, &mdash; jener
+Liebe, die den Ha&szlig; der Welt in sich tr&auml;gt,
+es war nicht die ewige Seligkeit, die ich verk&uuml;ndigte, &mdash; jene
+Seligkeit, in die nur Eingang findet, wer zu
+kriechen und den Kopf zu b&uuml;cken gelernt hat. Was
+als unklare Empfindung in den Herzen unserer V&auml;ter
+lebte, die die Sonne anbeteten, deren Feste Sonnwendfeiern
+waren, die dem steigenden Licht im Lenz die Neu<a name="Page_480" id="Page_480"></a>geborenen
+weihten, &mdash; das ist die Grundlage unserer
+Religion. Nicht wer am nachhaltigsten seine Sinne abt&ouml;tet,
+sondern wessen Augen am klarsten sind, wessen Ohr
+am feinh&ouml;rigsten ist, um alle Sch&ouml;nheit der Welt in sich
+aufzunehmen, der ist der Heiligste unter uns. Und ein
+Anrecht auf unser Himmelreich gewinnt nicht, wer leidet
+und duldet, sondern wer handelt und genie&szlig;t. Dulden
+und leiden kann jeder, aber nur der Sohn einer reifen
+Kultur vermag zu genie&szlig;en, nur der Wissende handelt.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn sich die Arbeiter der ganzen Welt Jahr um
+Jahr in der Forderung des Achtstundentages zu diesem
+Fr&uuml;hlingsfest vereinigen, so tun sie es, weil sie wissen,
+da&szlig; sie damit ihre Menschwerdung fordern. Zeit ist die
+Voraussetzung f&uuml;r Wissen und Genu&szlig; ...&laquo;</p>
+
+<p>Halb entt&auml;uscht, halb erwartungsvoll sahen die Frageaugen
+der Kinder noch immer zu mir empor. Mit demselben
+Ausdruck bettelte mein eigen Kind um eine Geschichte,
+wenn wir im Walde gingen, wo die B&auml;ume
+und die Blumen ihm noch stumm waren. Auch diese
+Kleinen hier sollten nicht vergebens warten: von den
+Bettelkindern erz&auml;hlt' ich ihnen, die auszogen, ihre verlorenen
+K&ouml;nigskronen wiederzufinden ...</p>
+
+<p>Drau&szlig;en im Garten kamen sie dann alle und dankten
+mir. Die Kinder hatten die F&auml;ustchen voll Wiesenblumen
+und legten sie mir in den Scho&szlig;. Die Alten
+luden mich an ihren Tisch. Sie wu&szlig;ten nicht, da&szlig; ich
+ihnen zu danken hatte. Ich war wieder stark und froh,
+ich hatte in ihnen die Erde ber&uuml;hrt, die kraftspendende.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_481" id="Page_481"></a></p>
+
+<p>Der Tag der Entscheidung r&uuml;ckte n&auml;her. Immer
+leidenschaftlicher wurden die Angriffe unserer
+Gegner in ihrer Presse, in ihren Flugbl&auml;ttern.
+Mit dem alten M&auml;rchen vom gewaltsamen Teilen suchten
+sie den Bauern, der an seiner Scholle h&auml;ngt, den
+kleinen Handwerker, der sich an den kl&auml;glichen Rest
+seiner Selbst&auml;ndigkeit klammert, in ihre Gefolgschaft zu
+fesseln. Mit der Autorit&auml;t des Kaisers st&uuml;tzten sie ihre
+Angriffe auf die sozialistischen Agitatoren.</p>
+
+<p>&raquo;Zerrei&szlig;t das Tischtuch zwischen Euch und jenen Leuten,&laquo; &mdash; dieses
+kaiserliche Wort machten sie zu ihrem Schlachtruf.
+Weite Kreise des Volkes, denen der Thron noch
+so heilig war wie der Altar, scharte er unter ihre
+Fahnen, aber gr&ouml;&szlig;ere noch, emp&ouml;rt &uuml;ber die Stellungnahme
+des Staatsoberhaupts im Kampf der Parteien,
+trieb er zu uns her&uuml;ber. Hochauf loderte der Zorn in
+unseren Reihen. Was sich in Jahren angesammelt hatte
+an bitterer Entt&auml;uschung und stillem Groll, das brach
+flammend hervor. Zu Regimentern, die wider den Gegner
+aufmarschierten, wurden die vielstelligen Zahlen, die Milliarden,
+die Armee und Flotte, China und Afrika verschlungen
+hatten; als Raubritter und Ausbeuter wurde
+gestempelt, wer je dazu ja gesagt hatte. Malten sie
+dr&uuml;ben mit blutigen Farben das Bild der Revolution
+und rissen dadurch den Gleichg&uuml;ltigen aus dem verschlafenen
+Winkel seines Daseins, so beschworen sie
+h&uuml;ben alle Gespenster der Not und des Hungers herauf
+und schreckten mit ihnen die Stumpfen aus ihrem Arbeitsleben.
+Der ehrliche Kampf mit offenem Visier auf freiem
+Felde wurde zum Guerillakrieg mit heimt&uuml;ckischen Listen
+<a name="Page_482" id="Page_482"></a>und n&auml;chtlichen &Uuml;berf&auml;llen. Und durch die feindlichen
+Lager hin und her auf leisen Sohlen schlich die Verleumdung;
+wen das Schwert nicht niederstreckte, den
+vergiftete sie.</p>
+
+<p>Ich hatte dem Gegner gegen&uuml;ber gerecht bleiben, mich
+als einzelne behaupten wollen, gegen&uuml;ber der Suggestion
+der Masse. Aber je l&auml;nger ich im Kampfe stand, desto
+schwerer wurde es, ihrer Gewalt zu widerstehen. War
+ich nicht auch nur ein Soldat im Heere, dessen F&uuml;&szlig;e
+von selbst im Takt der anderen marschieren, der die
+gleichen Waffen tr&auml;gt, und, vom Rausch des Krieges
+&uuml;berw&auml;ltigt, einen pers&ouml;nlichen Feind in jedem Glied
+des gegnerischen Heerbannes sieht?</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Der Gegenkandidat meines Mannes war ein
+alter Reaktion&auml;r, den der Bund der Landwirte
+auf seinen Schild erhoben hatte. Der
+Zolltarif galt ihm als ein &raquo;gigantisches Werk&laquo;; die
+Arbeitslosenversicherung, die in diesem Jahre wirtschaftlicher
+Depression f&uuml;r uns eine immer dringendere Forderung
+geworden war, erkl&auml;rte er f&uuml;r &raquo;unmoralisch&laquo;;
+dem gesetzlichen Arbeiterschutz, dessen Ausbau auf dem
+Wege zu unseren Zielen lag, m&uuml;sse, so sagte er, ein
+&raquo;Stopp&laquo; entgegengerufen werden, und wider den Gro&szlig;kapitalismus,
+dessen Entwicklung eine Voraussetzung des
+Sozialismus war, galt es, den Mittelstand mobil zu
+machen. Als der typische Konservative war er der willkommenste
+Gegner, weil sich hier, klar voneinander geschieden,
+zwei Weltanschauungen gegen&uuml;berstanden.
+Zwischen ihnen schwankten, als das Z&uuml;nglein an der<a name="Page_483" id="Page_483"></a>
+Wage, die Liberalen des Kreises hin und her. Sie
+wollten nicht glauben, da&szlig; wir ein gut St&uuml;ck Weges
+zusammengehen konnten und es einer Verleugnung aller
+liberalen Grunds&auml;tze gleichkam, wenn sie den Konservativen
+Gefolgschaft leisten wollten.</p>
+
+<p>Meinen Mann sah ich immer seltener. Trafen wir
+uns zu Hause, so schrieben wir zusammen Flugbl&auml;tter
+und Artikel, wobei er mit der ruhigen Sachlichkeit seiner
+Beweisf&uuml;hrung die Gegner zu entwaffnen und ich mit
+dem Feuer, das mich durchgl&uuml;hte, Anh&auml;nger zu werben
+versuchte. Hie und da trafen wir uns in Versammlungen,
+dann h&ouml;rte ich, da&szlig; er sprach, wie er schrieb:
+er wandte sich an den Verstand, er suchte zu &uuml;berzeugen,
+wo ich an das Gef&uuml;hl appellierte. Er hatte die Sprache
+des Dozenten, nicht die des Agitators. Wen er dem
+Sozialismus gewann, der wurde zum Bekenner. Was
+ich entz&uuml;ndete, mochte nur zu oft nichts als ein Feuerwerk
+sein.</p>
+
+<p>In den letzten Tagen fuhren wir von Ort zu Ort.
+Schon bl&uuml;hten Pfingstrosen in den G&auml;rten, und von
+Flieder und Hollunder dufteten die Lauben. &Uuml;ber den
+staubigen Chausseen br&uuml;tete die Sommersonne. Die
+Menschen in den engen S&auml;len atmeten rasch und schwer
+wie im Fieber. In den D&ouml;rfern gab's Schl&auml;gereien.
+War einer als Genosse bekannt, so spieen die Bauern
+vor ihm aus, und seinem Weibe gingen die Nachbarinnen
+aus dem Wege. Die Kinder aber in der
+Schule lie&szlig; der Lehrer mit besonderer Vorliebe patriotische
+Lieder singen. S&auml;le, die uns zur Verf&uuml;gung gestanden
+hatten, wurden uns genommen; breitspurig, ein
+Herr der Situation, stand der Gendarm vor der T&uuml;re,
+<a name="Page_484" id="Page_484"></a>wenn wir den Eingang erzwingen wollten. Kamen wir
+auf freiem Felde zusammen, der Sonne und dem Regen
+trotzend, so l&ouml;ste er die Versammlung auf, hatten wir
+irgendwo einen Raum f&uuml;r sie gefunden, so erkl&auml;rte er
+ihn f&uuml;r feuergef&auml;hrlich, kam ich als Rednerin in irgend
+ein abgelegenes Nest, so hie&szlig; es: &raquo;Frauenspersonen
+d&uuml;rfen nicht sprechen.&laquo; Aber die Genossen waren immer
+wieder erfinderischer als er. So fuhren wir einmal in
+ein kleines Dorf, das weltverlassen zwischen zwei blauen
+Seen in der Niederung liegt. Nur arme Schiffer
+wohnten hier und kleine Bauern, die elender lebten als
+der Fabrikarbeiter in der Stadt. Einer von ihnen hatte
+seine ganze arme Kate ausger&auml;umt, um die Versammlung
+zu erm&ouml;glichen. Das Hausger&auml;t stand auf dem
+Hof, die Sonne enth&uuml;llte unbarmherzig all seine Armseligkeit.
+Die leeren Stuben fa&szlig;ten trotzdem die Menge nicht,
+das G&auml;rtchen stand noch voll von ihnen. Selbst auf
+den Gem&uuml;sebeeten trampelten schwere Stiefel, aber als ich
+ein Wort des Bedauerns &auml;u&szlig;erte, sagte des Schiffers
+Frau mit gl&auml;nzenden Augen: &raquo;Wenn's auch mit Erbsen
+nischt is dies Jahr, wenn's man mit die Stimmen f&uuml;r
+den Sozi wat sein wird!&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Am Vorabend der Entscheidung kamen wir in
+Frankfurt an. Im Hauptquartier der Partei
+herrschte fieberhaftes Leben: hier meldeten sich
+Radfahrer, um zum morgigen Dienst ihre Marschorder
+in Empfang zu nehmen, blutjunge Leute unter ihnen,
+die sich mit um so gr&ouml;&szlig;erem Enthusiasmus in den Dienst
+der Sache gestellt hatten, als sie selbst noch nicht w&auml;hlen
+<a name="Page_485" id="Page_485"></a>durften; dort stellten sich Frauen zur Verf&uuml;gung, um
+die S&auml;umigen an die Urnen zu holen, und in sp&auml;ter
+Nachtstunde kamen andere hungrig, hei&szlig; und verstaubt
+von der letzten Verteilung der Wahlflugbl&auml;tter zur&uuml;ck.
+Als die Stadt schlief, huschten die Unerm&uuml;dlichen noch
+durch die Stra&szlig;en, und am Morgen leuchtete in wei&szlig;en
+und roten Lettern ein &raquo;W&auml;hlt Brandt!&laquo; an den Z&auml;unen
+und auf dem Trottoir.</p>
+
+<p>Wir gingen durch die Wahllokale. Vormittags stellten
+sich allm&auml;hlich die B&uuml;rger ein, ruhigen Schrittes,
+ohne sonderliche Erregung; mit dem Zw&ouml;lfuhrglockenschlag
+wurde es auf den Stra&szlig;en lebendig, und durch
+die T&uuml;ren schoben sich die Arbeiter, beschmutzt, verstaubt,
+wie die Fabrik und der Bau sie entlassen
+hatte. Die Bezirksleiter notierten jeden, der sich meldete,
+strichen an, wer noch fehlte, gaben Weisung
+an die ihrer Aufgabe wartenden Frauen. Und die
+suchten dann die S&auml;umigen in den Wohnungen, auf
+den Arbeitsst&auml;tten. Nachmittags lag wieder sommerliche
+Stille &uuml;ber der Stadt. Dann aber, als der Himmel sich
+schon mit rosigen Wolken &uuml;berzog, hallte das Pflaster
+wider von raschen Tritten. Sie kamen in Scharen:
+die jungen, r&uuml;stigen voran, und zuletzt, von Frauen,
+von Kindern gef&uuml;hrt, Alte, Kranke und Kr&uuml;ppel. Der
+Zettel in ihrer Hand, das war ihr einziges, freies
+Mannesrecht, damit waren sie an diesem einen Tage
+die Gestalter ihres Geschicks.</p>
+
+<p>Es d&auml;mmerte. In den Wahllokalen sa&szlig;en unter
+sp&auml;rlichen Gasflammen, vor rauchenden Petroleumlampen
+die Z&auml;hler. Wenn wir eintraten, bedurfte es keiner erkl&auml;renden
+Worte, die leersten Gesichter waren sprechend
+<a name="Page_486" id="Page_486"></a>geworden: Furcht und Hoffnung, Zorn und Siegeszuversicht
+dr&uuml;ckte sich in ihnen aus.</p>
+
+<p>Schon brannten die Laternen in den Stra&szlig;en. Im
+Hause, wo die Partei ihr Bureau aufgeschlagen hatte,
+waren alle Fenster erleuchtet. Im Saal oben war es
+noch leer; nur der Vorstand des Wahlvereins harrte
+vor dem Tisch mit dem gro&szlig;en Tintenfa&szlig; und den unbeschriebenen
+wei&szlig;en Bl&auml;ttern der kommenden Dinge.
+Sie gr&uuml;&szlig;ten uns kopfnickend, sie waren bla&szlig; und schweigsam
+vor Erregung. &Uuml;ber Webers Stirn standen helle
+Schwei&szlig;tropfen, seine blanken Augen waren verschleiert.
+Wir setzten uns. Nach und nach f&uuml;llte sich der Raum.
+Lauter Schweigende. Die Minuten schlichen wie ebenso
+viele Stunden. Endlich der erste Radler! Gleich darauf
+der zweite, der dritte, der vierte &mdash; die Wahlbezirke
+der Stadt.</p>
+
+<p>&raquo;Schlecht steht's!&laquo; knirschte der eine und warf den
+Zettel auf den Tisch.</p>
+
+<p>&raquo;Der Westen Frankfurts&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte Weber, &raquo;immerhin:
+zum erstenmal Stimmen f&uuml;r den Sozi! &mdash; Das
+Zentrum, &mdash; na, besser h&auml;tt's sein d&uuml;rfen! &mdash; Und die
+Vorstadt, pfui Teufel, das sind die Eisenbahner, die auf
+Kommando w&auml;hlten! &mdash; Aber hier&nbsp;&mdash;,&laquo; sein Gesicht
+strahlte &mdash; &raquo;das rei&szlig;t die ganze Stadt heraus!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Hurra!&laquo; rief einer und schwenkte die alte Soldatenm&uuml;tze
+zum offenen Fenster hinaus.</p>
+
+<p>&raquo;Bravo!&laquo; antwortete es vielstimmig von unten.</p>
+
+<p>Wieder verrannen Viertelstunden. Schon waren alle
+Pl&auml;tze an den langen Tischen besetzt.</p>
+
+<p>&raquo;Warum dauert das nur so lang&nbsp;&mdash;,&laquo; seufzte ich.</p>
+
+<p>&raquo;Die Radler aus dem Oderbruch k&ouml;nnen noch nicht
+<a name="Page_487" id="Page_487"></a>hier sein&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte Weber, der wieder und wieder nach
+der Uhr sah.</p>
+
+<p>&raquo;Telegramme!&laquo; schrie jemand. Der Postbote dr&auml;ngte
+sich durch die Reihen.</p>
+
+<p>Mit bebenden Fingern ri&szlig; Weber sie auf: &raquo;Berlin
+erobert! &mdash; Ganz Sachsen unser&nbsp;&mdash;!&laquo;</p>
+
+<p>Ein Jubelruf, der sich wieder bis auf die Stra&szlig;e
+weiterpflanzte, aber rasch verklang. Das Schweigen
+war eine einzige Frage. &raquo;Und wir?!&laquo; &mdash; Jetzt aber
+t&ouml;nte von unten ein donnerndes &raquo;Hoch!&laquo; Wir st&uuml;rzten
+zum Fenster: &uuml;ber das Pflaster sprangen Lichter in langer
+Kette, R&auml;der blitzten auf&nbsp;&mdash;, die Treppen st&uuml;rmte es
+empor: atemlos, blaurot, mit zitternden Knien standen
+sie vor uns, die M&auml;nner aus dem Oderbruch. Sie
+waren keines Wortes m&auml;chtig, aber die Tr&auml;nen, die
+hellen Freudentr&auml;nen tropften ihnen &uuml;ber die Wangen.
+Mit einer fast feierlichen Geb&auml;rde breitete Weber die
+Botschaften vor uns aus. Hunderte von Stimmen
+hatten wir gewonnen. Dicht unter den Augen der
+Gegner, auf Gutsh&ouml;fen, in D&ouml;rfern hatten die Landleute
+f&uuml;r uns gestimmt. Stumm streckte ich dem Maurer
+Merten die Hand entgegen. Er hielt sie lange zwischen
+seinen harten Fingern.</p>
+
+<p>Jetzt standen die Menschen schon Kopf an Kopf. Noch
+fehlten die entferntesten Bezirke, &mdash; Buckow, F&uuml;rstenwalde.
+&raquo;Entschieden ist noch nichts,&laquo; murmelte Weber
+angstvoll.</p>
+
+<p>Wieder ein L&auml;rm auf der Stra&szlig;e. &raquo;Die Oderzeitung
+bringt ein Extrablatt!&laquo; schrieen sie zu uns empor. In
+weitem Bogen flog es von der T&uuml;r &uuml;ber die K&ouml;pfe hinweg
+auf unseren Tisch: &raquo;Depeschen aus S&uuml;ddeutschland &mdash; M&uuml;nchen,<a name="Page_488" id="Page_488"></a>
+N&uuml;rnberg, Bayreuth, Stuttgart, Darmstadt &mdash; alles
+unser!&laquo;</p>
+
+<p>Und nun l&ouml;ste ein Depeschenbote den anderen ab;
+jede Siegesnachricht steigerte die elektrische Spannung,
+selbst die Nachtluft drau&szlig;en schien erf&uuml;llt von ihr.</p>
+
+<p>Zu elf dumpfen Schl&auml;gen holte die Uhr auf der
+Marienkirche aus.</p>
+
+<p>&raquo;Im Haus der Oderzeitung l&ouml;schen sie die Lampen,&laquo; &mdash; rief
+ein junger Bursche, und brach sich mit Ellbogenst&ouml;&szlig;en
+freie Bahn in den Saal. Die Gesichter ringsum
+erhellten sich.</p>
+
+<p>Eine G&auml;rtnersfrau, der ausdauerndsten eine im Heranholen
+s&auml;umiger W&auml;hler, nahm aus ihrem bis dahin sorgf&auml;ltig
+geh&uuml;teten Korb einen gro&szlig;en Strau&szlig; roter Nelken
+und stellte ihn vor uns auf den Tisch. &mdash; &raquo;Ist's nicht
+zu fr&uuml;h?!&laquo; &mdash; Ein Brausen lag in der Luft, &mdash; war's
+nicht das pochende Blut in meinen Schl&auml;fen? Oder
+waren's die vielen Stimmen vor dem Haus?</p>
+
+<p>&raquo;Die ganze Stra&szlig;e steht schwarz voll Menschen,&laquo;
+fl&uuml;sterte ein baumlanger Arbeiter neben mir in scheuer
+Angst. Es war hei&szlig;, &mdash; gl&uuml;hend hei&szlig; im Saal, und
+doch schien mir, als m&uuml;&szlig;ten alle frieren wie ich.</p>
+
+<p>Da &mdash; &raquo;F&uuml;rstenwalde!&laquo; und wie ein Echo: &raquo;Buckow!&laquo;
+Weber war wei&szlig; im Gesicht, &mdash; sekundenlang bohrten
+sich seine Augen in das Papier. Wir hielten den Atem
+an, &mdash; dann stie&szlig; er mit rauher Stimme ein einziges
+Wort hervor: &raquo;Gesiegt!&laquo;</p>
+
+<p>Einen Augenblick war es noch still. Einem alten
+Mann, den ich nicht kannte, und der bis zu mir vorgedr&auml;ngt
+worden war, dr&uuml;ckte ich krampfhaft die Hand.
+Dann brach es los wie Gewittersturm. Das schrie,
+<a name="Page_489" id="Page_489"></a>das jauchzte, das schluchzte&nbsp;&mdash;, alte M&auml;nner fielen einander
+um den Hals, Frauen verbargen die Gesichter an den
+Schultern der N&auml;chsten. Und drau&szlig;en zerri&szlig; ein einziger
+Jubelruf die Stille der Nacht. Sie riefen nach
+ihrem Gew&auml;hlten.</p>
+
+<p>Auf die Fensterbr&uuml;stung trat er. &raquo;Nicht mir dieses
+Hoch, Parteigenossen&nbsp;&mdash;,&laquo; und seine tiefe Stimme klang
+voll und warm und die Luft selbst schien sie weiter und
+weiter zu tragen, &raquo;&mdash;&nbsp;Euch vielmehr, die ihr den
+Sieg erk&auml;mpftet, und unserer gro&szlig;en Sache vor allem,
+die die Siegesgewi&szlig;heit in sich tr&auml;gt! Ein Hoch der
+Sozialdemokratie, ein dreifaches Hoch!&laquo; Und wieder brauste
+es, als schl&uuml;gen orkangepeitschte Wellen an Felsenriffe.</p>
+
+<p>Inzwischen war Weber still beiseite gegangen. Nun
+kam er zur&uuml;ck. Er trug die alte Fahne, von grauen
+T&uuml;chern umwunden. Dicht vor dem Fenster nahm er
+langsam die H&uuml;lle ab, hob die schwere Stange hinaus,
+und das rote Tuch rollte auseinander und wehte, aufgl&uuml;hend,
+wo das Licht es traf, wie entfachte Flammen
+&uuml;ber die stumme Menge.</p>
+
+<p>&raquo;Genossin Brandt! &mdash; &mdash; Alix Brandt!&laquo; &mdash; Riefen sie
+mich?! &mdash; Man schob mich zum Fenster, &mdash; man hob
+mich empor, &mdash; ich sah keine Menschen, ich sah nur ein
+wogendes Meer, &mdash; ohne Anfang, ohne Ende. Und ich
+streckte die Arme weit aus &mdash;</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_490" id="Page_490"></a></p>
+<h2><a name="Vierzehntes_Kapitel" id="Vierzehntes_Kapitel"></a>Vierzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Alle Vorbereitungen f&uuml;r das Erscheinen der
+Gesellschaft waren getroffen. Es
+sollte eine Zeitschrift gro&szlig;en Stiles werden.
+Hervorragende Parteigenossen des In- und Auslandes
+hatten uns ihre Mitarbeit zugesagt. Eine junge K&uuml;nstlerin,
+von der Idee, die uns leitete, gepackt, hatte den Umschlag
+gezeichnet: schwarze Fabriken, aus deren Essen
+die Feuerflammen der kommenden Zeit emporschlagen.
+Es gab Leute, die angesichts der sch&ouml;nen Ausstattung,
+des niedrigen Preises und der hohen Honorare, die wir
+festgesetzt hatten, bedenklich die K&ouml;pfe sch&uuml;ttelten. Aber
+der Dreimillionen-Sieg der Partei hatte den Glauben an
+unsere Sache, den wir von jeher besessen hatten, nur
+noch gest&auml;rkt. Jetzt war wirklich die Zeit gekommen,
+wo die Sozialdemokratie eine Macht im Staate zu
+werden begann, wo sie vor der Aufgabe stand, selbst&auml;ndig
+praktische Politik zu treiben. Breite Schichten
+der Arbeiterschaft, die erstarkten Gewerkschaften an der
+Spitze, verlangten danach, und die Masse der Mitl&auml;ufer,
+die unseren Sieg hatte vergr&ouml;&szlig;ern helfen, war zweifellos
+nicht durch die ferne Aussicht auf den Zukunftsstaat
+zu uns gekommen, sondern durch die Hoffnung auf
+Reformen der Gegenwart.</p>
+
+<p><a name="Page_491" id="Page_491"></a>Eines Morgens kam Heinrich ver&auml;rgert aus dem
+Bureau: &raquo;Der Lindner l&auml;uft umher wie die Jungfrau
+von Orleans: &#8250;und mich, die all dies Herrliche vollendet,
+mich freut es nicht, das allgemeine Gl&uuml;ck&#8249;. Sollten die
+Schwarzseher ihn schon beeinflu&szlig;t haben?! Das k&ouml;nnte
+mir passen!&laquo;</p>
+
+<p>Wir h&ouml;rten eine Woche lang nichts von ihm. Dann
+kam ein Brief; &mdash; w&auml;hrend mein Mann ihn &uuml;berflog,
+ver&auml;nderten sich seine Z&uuml;ge: &raquo;Hier hast du den Wisch,&laquo;
+rief er w&uuml;tend und warf die T&uuml;re hinter sich ins Schlo&szlig;.</p>
+
+<p>&raquo;Da ich mich &uuml;berzeugt habe, da&szlig; ein gedeihliches Zusammenarbeiten
+zwischen uns nicht erreichbar sein wird,
+trete ich von unserem Vertrag zur&uuml;ck&nbsp;&mdash;,&laquo; las ich.</p>
+
+<p>Das ist doch nicht m&ouml;glich, &mdash; das kann doch nicht
+sein, fuhr es mir durch den Kopf; wie kann er sein
+Wort brechen, jetzt, in diesem Augenblick, wo er wei&szlig;,
+das damit alles steht und f&auml;llt!</p>
+
+<p>Heinrich war beim Rechtsanwalt gewesen. &raquo;Nichts
+zu machen,&laquo; knirschte er, als er nach Hause kam, &raquo;mein
+Anstand, oder sagen wir lieber meine Dummheit, die
+mich hinderten, den Vertrag notariell zu machen, erm&ouml;glichen
+diesen erb&auml;rmlichen R&uuml;ckzug.&laquo;</p>
+
+<p>Was nun?! Heinrichs trotzige Energie hatte auf diese
+Frage nur eine Antwort: &raquo;Erst recht!&laquo;</p>
+
+<p>Ich f&uuml;hlte mich im ersten Augenblick wie gel&auml;hmt
+und war geneigt, im R&uuml;cktritt Lindners etwas zu sehen,
+das einem Wink des Schicksals oder einem Gottesurteil
+gleichkam. Aber die Ereignisse innerhalb der Partei zerstreuten
+den Nebel, der meinen Blick vor&uuml;bergehend verdunkeln
+wollte.</p>
+
+<p>&Uuml;berall hatten nach den Wahlen Siegesfeiern statt<a name="Page_492" id="Page_492"></a>gefunden.
+Hunderte von Rednern hatten das &raquo;Unser
+die Welt!&laquo; in die &uuml;berf&uuml;llten S&auml;le hinausgeschmettert
+und ein vieltausendstimmiges Echo gefunden. Dann
+aber war der Rausch verflogen, und jenes erwartungsvolle
+Schweigen war eingetreten, das jedem gro&szlig;en Ereignis
+zu folgen pflegt. Man konnte sich nicht vorstellen,
+da&szlig; nun der Alltag wieder da ist, &mdash; genau so
+wie vorher; es mu&szlig;te irgend etwas folgen, das dem Ungeheueren
+entsprach, das wir erlebt hatten! Doch es geschah
+nichts. Nur der Sommer war gekommen mit seiner
+Blumenpracht, &mdash; wie immer. Ein unbestimmtes Gef&uuml;hl
+der Entt&auml;uschung erk&auml;ltete die eben noch gl&uuml;henden
+Herzen. Die durch den Kampf aufgepeitschten Nerven
+erschlafften pl&ouml;tzlich; eine n&ouml;rgelnde Empfindung der Unzufriedenheit
+entstand; kaum einer war, der sich ihr entziehen
+konnte, und wer am leidenschaftlichsten um den
+Sieg gerungen hatte, den packte sie mit doppelter Gewalt.</p>
+
+<p>Einige der f&uuml;hrenden Geister in der Partei waren
+sich bewu&szlig;t, da&szlig; die nerv&ouml;se ungeduldige Frage der
+Massen nach dem Preise des siegreichen Kampfes Antwort
+heischte. Aber sie empfanden nicht, da&szlig; die Antworten,
+die sie gaben, angesichts der Gr&ouml;&szlig;e der Erwartungen
+wie eine Verh&ouml;hnung wirken mu&szlig;ten. Kautsky,
+der Theoretiker des Radikalismus, versuchte ihr als der
+Vorsichtigere aus dem Wege zu gehen, indem er sich
+nur mit den Wahrscheinlichkeiten der k&uuml;nftigen Haltung
+unserer Gegner besch&auml;ftigte, und im &uuml;brigen die Gem&uuml;ter
+durch den Hinweis auf &raquo;die alte, bew&auml;hrte Taktik
+der Partei&laquo; zu beruhigen suchte. Eduard Bernstein dagegen,
+der Revisionist, hatte in dem Bestreben, zu momentanen
+praktischen Resultaten zu gelangen, acht Tage nach
+<a name="Page_493" id="Page_493"></a>dem Siege auf die Frage: was folgt aus dem Ergebnis
+der Reichstagswahlen? keine andere Antwort als die:
+ein sozialdemokratischer Vizepr&auml;sident im Reichstag! Was
+in ruhigen Zeiten vielleicht zu einer Er&ouml;rterung innerhalb
+der Fraktion gef&uuml;hrt h&auml;tte, das wurde jetzt das
+Signal zum Aufruhr.</p>
+
+<p>Wie, darum haben wir monatelang unsere Haut zu
+Markte getragen, darum haben drei Millionen Deutsche
+einundachtzig Sozialdemokraten in den Reichstag geschickt,
+damit einem von ihnen die Gelegenheit geboten
+wird, vor dem Kaiser zu katzbuckeln, &mdash; dem Kaiser,
+dessen Faust wir von Essen und Breslau her noch auf
+unserer Wange brennen f&uuml;hlen?! So t&ouml;nte es von allen
+Seiten.</p>
+
+<p>Vergebens, da&szlig; Vollmar von M&uuml;nchen aus versuchte,
+der k&uuml;hlen Vernunft zu ihrem Rechte zu verhelfen, indem
+er die tats&auml;chlichen Vorteile der Vertretung der
+Partei im Pr&auml;sidium hervorhob und die Haltlosigkeit
+der prinzipiellen Gegnerschaft zu dem &raquo;Hofgang&laquo; dadurch
+illustrierte, da&szlig; die Parteigenossen in den Einzelstaaten
+es mit ihrer republikanischen Gesinnung vereinigen m&uuml;ssen,
+dem jeweiligen Landesherrn Treue zu schw&ouml;ren, der Eid
+aber doch bedeutungsvoller sei, als ein offizieller Besuch
+im Kaiserschlo&szlig;, &mdash; bis nach Norddeutschland drang
+seine Stimme nicht. Zu tief empfanden Alle die unbewu&szlig;te
+Verh&ouml;hnung ihrer Hoffnungen und ihres Glaubens
+in Bernsteins Antwort auf die Frage, die sie bewegte.
+Und auch ich konnte mich dem niederdr&uuml;ckenden Eindruck
+nicht entziehen.</p>
+
+<p>Die Emp&ouml;rung &uuml;ber Bernstein verdichtete sich zur allgemeinen
+Wut auf die Revisionisten, die sie ihrerseits
+<a name="Page_494" id="Page_494"></a>mit einem Ungeschick, das sich nur aus ihrer Temperamentlosigkeit
+erkl&auml;ren lie&szlig;, sch&uuml;ren halfen.</p>
+
+<p>&raquo;Wir m&uuml;ssen die liberalen Parteien ersetzen&nbsp;&mdash;,&laquo; erkl&auml;rte
+der eine; die aufgeregten Massen lasen daraus:
+wir m&uuml;ssen unsere sozialdemokratischen Grunds&auml;tze in die
+Tasche stecken.</p>
+
+<p>&raquo;Ein proletarischer Klassenk&auml;mpfer sein, das hei&szlig;t
+nicht auf die b&uuml;rgerliche Gesellschaft unterschiedslos
+drauflos pr&uuml;geln&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte ein anderer; die Arbeiter
+erg&auml;nzten: wir sollen mit ihr lieb&auml;ugeln.</p>
+
+<p>Sie hatten unrecht &mdash; zweifellos&nbsp;&mdash;, wie jeder unrecht
+hat, den die Leidenschaft nicht nur dem Ziel entgegen
+vorw&auml;rts rei&szlig;t, sondern blind und taub macht
+f&uuml;r alles, was rechts und links geschieht. Aber weit
+gr&ouml;&szlig;er war das Unrecht derer, die imstande gewesen
+waren, an dem Siegesfeuer, dessen himmelauflodernde
+Flammen die Begeisterung der K&auml;mpfer entfacht hatten,
+ihr armseliges S&uuml;ppchen zu kochen und es den And&auml;chtigen,
+deren Glauben noch gl&uuml;hender brannte als
+das Feuer, als s&auml;ttigende Speise darzureichen.</p>
+
+<p>Ein m&auml;chtiger Helfer erwuchs ihrem Zorn, einer, der
+noch immer wundergl&auml;ubig gewesen war, wie sie; einer,
+den, wie sie, der Sieg trunken gemacht hatte: August
+Bebel. In einer Erkl&auml;rung, die dem Pronunziamento
+des Nachfolgers Christi auf dem apostolischen Stuhle
+gleichkam, verurteilte er Bernstein und die Seinen und
+drohte &uuml;berdies mit der Entscheidung des n&auml;chsten Parteitages.
+Nun erst, nachdem der F&uuml;hrer gesprochen, entbrannte
+der Bruderkrieg in vollem Umfang. Was Bebel
+nur hatte ahnen lassen, das sprachen andere aus: fort
+aus der Partei, wer uns den Sieg verekelt.</p>
+
+<p><a name="Page_495" id="Page_495"></a>Ich f&uuml;rchtete das Schlimmste. Meine pers&ouml;nlichen
+Besorgnisse verschwanden wie Tautropfen im Meer.
+Jetzt galt es, den Bedrohten einen Mittelpunkt schaffen,
+der zum Ausgang einer starken, jungen Bewegung werden
+k&ouml;nnte. Aus tiefster &Uuml;berzeugung wiederholte ich Heinrichs:
+&raquo;Erst recht!&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Der Verkauf des Archivs war der erste Schritt
+zu unserem Ziel. Heinrich wandte sich an
+einen der gr&ouml;&szlig;ten Verleger, der seine Bereitwilligkeit
+aussprach, das Archiv zu &uuml;bernehmen, wenn
+der alte Herausgeber ihm erhalten bliebe. Er bot ein
+Redaktionshonorar daf&uuml;r, das uns zeitlebens der Sorgen
+enthoben h&auml;tte. Wir besannen uns keinen Augenblick,
+seine Vorschl&auml;ge zur&uuml;ckzuweisen.</p>
+
+<p>&raquo;Nun bliebe noch Romberg,&laquo; sagte ich z&ouml;gernd; ich
+wu&szlig;te, seit jener ersten Anfrage war eine leise Entfremdung
+zwischen den beiden M&auml;nnern eingetreten.</p>
+
+<p>&raquo;Damit er mich wieder behandelt, wie der hochm&ouml;gende
+Vormund,&laquo; brauste Heinrich auf.</p>
+
+<p>Noch am selben Abend schrieb ich an Romberg.
+Wenige Tage sp&auml;ter war er in Berlin. Ich setzte ihm
+die Lage auseinander.</p>
+
+<p>&raquo;Ich appelliere lediglich an Ihr Interesse f&uuml;r die
+Zeitschrift,&laquo; sagte ich, &raquo;die heute eine der angesehendsten
+ihrer Art ist. Es lag Ihnen daran, sie in die
+Hand zu bekommen; &mdash; Sie sprachen seinerzeit davon,
+als von einem Ersatz der ordentlichen Professur.&laquo;</p>
+
+<p>Er machte eine abwehrende Handbewegung. &raquo;Wenn
+ich nun aber statt meines pers&ouml;nlichen Interesses, das
+<a name="Page_496" id="Page_496"></a>sich nicht ver&auml;ndert hat, meine Freundschaft entscheiden
+lie&szlig;e?!&laquo; rief er aus. &raquo;Mir scheint, ich m&uuml;&szlig;te Sie vor
+einem Ungl&uuml;ck bewahren!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das lassen Sie meine Sorge sein,&laquo; antwortete ich
+herb. Er schwieg verletzt, und als gleich darauf mein
+Mann eintrat, stellte er sich auf einen ausschlie&szlig;lich gesch&auml;ftlichen
+Standpunkt und verhandelte nur mit ihm.</p>
+
+<p>Kurze Zeit darnach war die Angelegenheit entschieden:
+Mit zwei anderen Herren &uuml;bernahm Romberg das Archiv.</p>
+
+<p>Ich hatte im Augenblick meine ganze Zuversicht
+wiedergewonnen und lud ihn ein, den Abschlu&szlig; fr&ouml;hlich
+mit uns zu feiern. Aber er war schon abgereist.</p>
+
+<p>&raquo;Dann geben wir uns allein ein Fest,&laquo; meinte mein
+Mann; &raquo;wir haben Ursache genug dazu als selbst&auml;ndige
+Inhaber der Neuen Gesellschaft!&laquo; Doch es schien, als
+sollte es nicht sein. Zuerst verschlang die Arbeit unsere
+Zeit, und dann kam die Stimmung nicht wieder.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Der Hader in der Partei nahm immer b&ouml;sartigere
+Dimensionen an. Was Bebel an
+Erkl&auml;rungen und Artikeln ver&ouml;ffentlichte, das
+klang so ma&szlig;los, da&szlig; die Vizepr&auml;sidentenfrage und die
+Mitarbeit der Parteigenossen an b&uuml;rgerlichen Bl&auml;ttern
+unm&ouml;glich die einzige Ursache seines Vorgehens sein
+konnte. Er mu&szlig;te irgendwo Parteiverrat wittern, wenn
+er alle politische Klugheit so v&ouml;llig zu vergessen vermochte
+und den Gegnern die bittere Pille der Wahlniederlage
+durch den Kampf in den eigenen Reihen vers&uuml;&szlig;te.</p>
+
+<p>&raquo;Die Zeit des Vertuschens und Kom&ouml;dienspiels ist
+vorbei&nbsp;&mdash;,&laquo; rief er; &raquo;jetzt hei&szlig;t es Farbe bekennen, jetzt
+<a name="Page_497" id="Page_497"></a>gibt's kein Ausweichen mehr&nbsp;&mdash;,&laquo; was hie&szlig; das anders,
+als da&szlig; Elemente in der Partei vorhanden waren, die
+nicht hinein geh&ouml;rten, die entfernt werden mu&szlig;ten?</p>
+
+<p>&raquo;Die Masse der Parteigenossen halte die Augen auf!&laquo;
+mahnte er; was bedeutete das anders, als da&szlig; sich Verr&auml;ter
+in ihrer Mitte befanden? Aber w&auml;hrend Bebels Zorn
+vom Feuer der Leidenschaft noch immer verkl&auml;rt erschien,
+sekundierten ihm die Zionsw&auml;chter des Radikalismus mit
+der K&auml;lte systematischer Verfolgungssucht. Und nun erwachte
+im Proletariat, auf dessen rohe Instinkte sie spekulierten,
+der P&ouml;bel. Er warf sich keifend auf alles,
+was nicht mit ihm l&auml;rmte.</p>
+
+<p>Wir, die wir dem Revisionismus eine selbst&auml;ndige
+Zeitschrift schaffen wollten, standen, das zeigte sich bald,
+mit auf der ersten Seite der Liste der Konskribierten.
+Noch ehe die erste Nummer unseres Blattes erschienen
+war, wurde es als ein kapitalistisches Unternehmen gebrandmarkt;
+von Mund zu Mund ging der Klatsch,
+da&szlig; wir einen reichen G&ouml;nner gefunden h&auml;tten, der es
+wie einen Sprengstoff in die Partei werfen wollte, und
+in einer der wild erregten Versammlungen, die dem
+Parteitag vorangingen, fiel zum erstenmal das ver&auml;chtliche
+Wort, das wohlgef&auml;llig weitergetragen wurde: &raquo;Gesch&auml;ftssozialisten.&laquo;</p>
+
+<p>Es traf mich wie ein Keulenschlag. Eben erst hatten
+wir eine gesicherte Existenz von uns gewiesen, &mdash; und
+nun dies Wort!!</p>
+
+<p>Ich br&uuml;tete stumm vor mich hin. Ich ging nicht auf
+die Stra&szlig;e, denn ich f&uuml;hlte mich wie beschmutzt.</p>
+
+<p>Was ich erlebte, war nur ein Teil dessen, was allen
+begegnete, die unter dem Namen Revisionisten zusammen<a name="Page_498" id="Page_498"></a>gefa&szlig;t
+wurden. Das zahnlose alte Weib, der Klatsch,
+ging um mit den ewig beweglichen Lippen und den
+d&uuml;rren Fingern, die in jeder Gosse gierig w&uuml;hlen. Als
+Mandatsj&auml;ger wurde der eine verd&auml;chtigt, als l&uuml;gnerischer
+Verleumder Bebels der andere. Und wessen wir
+bisher f&auml;lschlich beschuldigt worden waren, &mdash; eine geschlossene
+Gruppe zu sein, &mdash; das machte die Verfolgung
+aus uns. Den Kopf umnebelt von den giftigen
+D&uuml;nsten, die rings um uns aufstiegen, erschien uns der
+Ha&szlig; der Personen, die uns bek&auml;mpften, als das Prim&auml;re;
+kaum einer war, der noch wu&szlig;te, da&szlig; es der
+Gegensatz der Anschauungen war, der ihn zeugte, und
+niemand gab zu, da&szlig; Bebel recht hatte, wenn er an kleinen
+Symptomen die ganze Richtung erkannte, &mdash; die Richtung,
+die seinen tiefgewurzelten Prophetenglauben, aus dem er
+die ganze Schwungkraft seiner Lebensarbeit sog, ersch&uuml;ttern
+mu&szlig;te, wenn sie zur allgemeinen Anerkennung kam.</p>
+
+<p>Wie sich sein Zorn und derer um ihn auf die Einzelnen
+entlud, die im Augenblick als die S&uuml;nder erschienen,
+so entlud sich der unsere auf einen Mann, der
+seit Jahren das Feuer sch&uuml;rte, das uns verbrennen
+sollte, der, ohne sich jemals in das Gew&uuml;hl der Volksversammlung
+zu wagen, von der Abgeschiedenheit seiner
+Studierstube aus Jeden verfolgte, der kein Buchstabengl&auml;ubiger
+des Marxismus war. Seine gl&auml;nzende journalistische
+F&auml;higkeit hatte ihm seine Stellung geschaffen;
+die fanatische R&uuml;cksichtslosigkeit, mit der er seine Gegner
+verfolgte, hatte sie erhalten helfen. Niemand wagte,
+sich ihm entgegenzustellen. Selbst seine Gesinnungsfreunde
+f&uuml;rchteten ihn, denn er ha&szlig;te heute, was er
+gestern noch liebte.</p>
+<p><a name="Page_499" id="Page_499"></a></p>
+<p>&raquo;Er ist das b&ouml;se Prinzip der Partei,&laquo; hie&szlig; es in
+unserem Kreise, w&auml;hrend tats&auml;chlich nur der konservative
+Radikalismus mit all seiner Unduldsamkeit, all
+seinem Dogmenglauben in ihm Fleisch geworden war.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn wir die Partei von ihm befreien k&ouml;nnen, so
+haben wir sie gerettet,&laquo; erkl&auml;rten unsere Freunde.</p>
+
+<p>Meinen Mann packte der Gedanke wie keinen. Noch
+immer hatte seine &uuml;bersch&auml;umende Willenskraft sich an
+Aufgaben erproben wollen, die niemand sonst &uuml;bernahm.
+Er h&ouml;rte um so weniger auf die warnenden Stimmen,
+die sich erhoben, als ich ihn in seinem Vorhaben nur
+best&auml;rkte. Die Partei aus der inneren Zerr&uuml;ttung erretten,
+in der sie sich befand, sie einer neuen gesicherten
+Einheit entgegenf&uuml;hren, &mdash; keine Aufgabe w&auml;re mir im
+Augenblick gr&ouml;&szlig;er erschienen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Es war am Abend vor unserer Abreise nach
+Dresden, wo der Parteitag stattfand.</p>
+
+<p>&raquo;Es wird ein Kampf bis aufs Messer,&laquo;
+sagte Heinrich; &raquo;aber was auch kommen mag, mich
+soll's nicht kr&auml;nken, wenn ich nur deiner sicher bin!&laquo;</p>
+
+<p>Ich legte beide Arme um seinen Hals: &raquo;Du kannst
+es, Heinz! Noch niemals liebte ich dich so wie heut!&laquo;
+Und z&auml;rtlich schmiegte ich meinen Kopf an seine Schulter,
+w&auml;hrend mein Auge in dem&uuml;tiger Liebe an dem seinen hing.</p>
+
+<p>&raquo;Ihr t&ouml;richten Frauen wollt in den M&auml;nnern immer
+nur Helden sehen,&laquo; meinte er. Seine Lippen brannten
+auf meinem Mund. Wir verga&szlig;en der Ehe, wie in
+allen gl&uuml;cklichen Stunden unseres Lebens; &mdash; der Ehe,
+die alle Geheimnisse schamlos ihrer Schleier beraubt,
+<a name="Page_500" id="Page_500"></a>so da&szlig; die Liebe, die nur von Sehnsucht lebt, sterben
+mu&szlig;.</p>
+
+<p>Gegen Morgen weckte mich ein Schrei. Ich fuhr
+entsetzt aus dem Schlaf.</p>
+
+<p>&raquo;So bleib doch, Liebste,&laquo; fl&uuml;sterte Heinrich traumbefangen.
+Aber schon war ich im Nebenzimmer am
+Bett meines Kindes. Seine Wangen gl&uuml;hten, verst&auml;ndnislos
+irrten seine Augen an mir vorbei. Und
+wieder l&ouml;ste sich ein Schmerzensruf von seinen trockenen
+Lippen. Ich wickelte den zuckenden K&ouml;rper in nasse
+T&uuml;cher und schickte die Berta zum Arzt. Jetzt erst erwachte
+mein Mann und erschien an der T&uuml;re.</p>
+
+<p>&raquo;Papachen,&laquo; sagte der Kleine und verzog den Mund
+m&uuml;hsam zu einem L&auml;cheln.</p>
+
+<p>&raquo;Was ist denn nur?!&laquo; rief Heinrich mit gerunzelter
+Stirn und ungeduldiger Stimme; &raquo;komm doch ins Bett, &mdash; du
+erk&auml;ltest dich ja!&laquo;</p>
+
+<p>Ich lief ins Schlafzimmer zur&uuml;ck, um mir einen Mantel
+zu holen.</p>
+
+<p>&raquo;Du siehst doch, &mdash; Ottochen ist krank,&laquo; fl&uuml;sterte ich
+ihm im Vor&uuml;bergehen zu.</p>
+
+<p>&raquo;Krank!&laquo; wiederholte er laut und trat n&auml;her. &raquo;Nicht
+wahr, mein Junge, dir fehlt nichts, &mdash; du tr&auml;umtest
+nur schlecht, &mdash; du siehst ja rund und rosig aus, wie's
+liebe Leben!&laquo;</p>
+
+<p>Mit einem &auml;ngstlich fragenden Blick sah der Kleine
+von einem zum anderen.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig;, Papa, gewi&szlig;,&laquo; sagte er dann mit stockender
+Stimme, &raquo;jetzt ist schon alles wieder gut.&laquo; Aber seine
+tr&auml;nenumflorten Augen, die flehend zu mir aufsahen,
+sein hei&szlig;es H&auml;ndchen, das krampfhaft meine Finger
+<a name="Page_501" id="Page_501"></a>umschlo&szlig;, strafte seine Worte L&uuml;gen. Ich dr&auml;ngte Heinrich
+hinaus. Wo nur die Berta blieb? Warum der Arzt
+nicht kam? &mdash; Im Wohnzimmer schlug die Uhr sieben.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist die h&ouml;chste Zeit, da&szlig; du dich anziehst, Alix,&laquo;
+rief Heinrich. Wir hatten uns mit unseren Freunden
+f&uuml;r den Achtuhrzug verabredet. Ich wechselte rasch die
+Kompresse auf der brennenden Stirn meines Kindes und
+ging ins Schlafzimmer.</p>
+
+<p>&raquo;Selbstverst&auml;ndlich bleibe ich hier,&laquo; sagte ich, die
+Stimme d&auml;mpfend.</p>
+
+<p>&raquo;Das w&auml;re noch sch&ouml;ner!&laquo; antwortete er heftig. &raquo;Wegen
+eines Schnupfens, den der Junge im schlimmsten Fall
+kriegen wird, willst du in diesem Augenblick mich und
+die Sache im Stiche lassen!&laquo;</p>
+
+<p>Ich f&uuml;hlte, wie das Blut mir siedendhei&szlig; in das
+Antlitz scho&szlig;: &raquo;So sprich doch wenigstens leise&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Aber Heinrich wollte nicht h&ouml;ren: &raquo;Du wei&szlig;t, was
+auf dem Spiele steht, &mdash; du kommst mit,&laquo; schrie er mich
+an, und seine Hand umkrallte meinen Arm.</p>
+
+<p>&raquo;Und wenn die ganze Partei dar&uuml;ber zugrunde ginge, &mdash; ich
+bleibe hier,&laquo; zischte ich, au&szlig;er mir vor Emp&ouml;rung.</p>
+
+<p>&raquo;Mama, &mdash; Mama!&laquo; rief eine s&uuml;&szlig;e weinende Stimme.
+Der Kleine stand auf der Schwelle, mit angstvoll aufgerissenen
+Augen, wie im Schwindel auf den blo&szlig;en
+F&uuml;&szlig;chen hin und her schwankend. Auf meinen Armen
+trug ich ihn ins Bett zur&uuml;ck und riegelte die T&uuml;r hinter
+uns zu. Nach kurzer Zeit h&ouml;rte ich Heinrich das
+Haus verlassen. Ich f&uuml;hlte keinen Schmerz, &mdash; nur eine
+ungeheure Leere in meinem Herzen. Dar&uuml;ber nachzugr&uuml;beln,
+war ich nicht imstande: in wilden Fieberphantasien
+w&auml;lzte sich mein Kind auf seinem Lager.</p>
+
+<p><a name="Page_502" id="Page_502"></a>Kaum in Dresden angekommen, telegraphierte mir
+mein Mann: &raquo;Verzeih. Wie geht es?&laquo; Mu&szlig;te ich ihm
+nicht jetzt, wo er so schweren Stunden entgegenging,
+die Wahrheit schonend verschweigen?! Aber warum
+diese R&uuml;cksicht?! War er doch mehr als schonungslos,
+war grausam gewesen! Nie w&uuml;rde ich ihm das verzeihen
+k&ouml;nnen!</p>
+
+<p>&raquo;Otto schwere Blinddarmentz&uuml;ndung,&laquo; antwortete ich
+kurz, dem Ergebnis der &auml;rztlichen Untersuchung entsprechend.</p>
+
+<p>Zwei Tage vergingen und zwei N&auml;chte. Noch immer stieg
+das Fieber; der kleine K&ouml;rper kr&uuml;mmte sich vor Schmerzen.
+Die Schreie der Angst wurden schw&auml;cher; an ihre Stelle
+trat ein Wimmern &mdash; jammervoll, ununterbrochen. Ich
+wich nicht von dem kleinen Bett. Wenn ich die Hand
+auf das hei&szlig;e K&ouml;pfchen des Kranken legte, schien er f&uuml;r
+Augenblicke ruhiger, wenn ich mich ganz dicht an ihn
+schmiegte, verlor sein Blick den Ausdruck tiefen Entsetzens.
+Einmal glaubte ich schon begl&uuml;ckt, er schliefe.
+Da ri&szlig; er sich ungest&uuml;m aus meinen Armen, richtete sich
+hoch auf, starrte mich verst&auml;ndnislos an und schrie:
+&raquo;Mama, &mdash; Mama, &mdash; warum bist du so weit, &mdash; so weit
+weg, &mdash; ich sehe dich gar nicht mehr&nbsp;&mdash;&laquo; und in verzweifeltem
+Schluchzen bebten seine Schultern. Das Herz
+krampfte sich mir zusammen, &mdash; und doch hatte ich noch
+Kraft genug ihm beruhigend zuzul&auml;cheln, w&auml;hrend ich
+den kleinen K&ouml;rper wieder in nasse T&uuml;cher h&uuml;llte. Er
+wurde still, er schlo&szlig; die Augen, er atmete regelm&auml;&szlig;iger.
+Aber in meinen Ohren dr&ouml;hnten seine Worte: warum
+bist du so weit weg! Er hatte mich angeklagt, &mdash; und
+ich sprach mich schuldig: War ich nicht Tage, Wochen,
+Monde lang von meinem Sohn &raquo;weit weg&laquo; gewesen?!<a name="Page_503" id="Page_503"></a>
+War nicht auf seinen Gedankenwegen mit ihm gegangen, &mdash; hatte
+nicht mit seinem Herzen gef&uuml;hlt, &mdash; mit seinen
+Augen gesehen? Wenn er nun mich verlassen wollte?!
+Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende. An seinem
+Bette sank ich in die Kniee; ich faltete die H&auml;nde auf
+seinen Kissen; &mdash; ich betete. Nicht zu den Schutzengeln,
+die mir ein M&auml;rchen waren, nicht zu dem Christengott,
+den ich nicht kannte. Mein Gebet war voll Fr&ouml;mmigkeit,
+ob es auch keine Worte hatte, mein Gebet war
+voll Glauben, ob es auch glaubenslos war, mein Gebet
+war voll Kraft, denn es richtete sich nicht gen Himmel, &mdash; es
+brachte dem Heiligtum des Lebens mich selbst zum
+Opfer dar&nbsp;...</p>
+
+<p>Der grauende Tag kroch durch die Fenster. Mein
+Kind schlief mit einem L&auml;cheln um die blassen Lippen.
+Ich k&uuml;&szlig;te es leise. Mir war, als w&auml;re ich erst in der
+letzten Nacht seine Mutter geworden.</p>
+
+<p>Drau&szlig;en l&auml;utete es. Es war der Telegraphenbote:
+&raquo;Wie geht es? Rege dich &uuml;ber Zeitungen nicht auf.&laquo;
+Ich mu&szlig;te den zweiten Satz noch einmal lesen; gab
+es noch irgend etwas in der Welt, &uuml;ber das ich mich
+nach dieser Nacht h&auml;tte aufregen k&ouml;nnen?! Ja so! Der
+Parteitag, &mdash; ich hatte nichts gelesen. &raquo;Otto besser.
+Bin ruhig. W&uuml;nsche dir das Beste,&laquo; antwortete ich.</p>
+
+<p>W&auml;hrend Berta mich bei dem Kranken vertrat, las
+ich die Berichte. Ich erschrak, als ich sah, da&szlig; Heinrich
+entgegen seiner Absicht, durch den Artikel eines
+s&auml;chsischen Parteiblattes herausgefordert, in der Diskussion
+&uuml;ber die Mitarbeit von Genossen an der b&uuml;rgerlichen
+Presse als Erster gesprochen hatte. Die ganze
+Erregung &uuml;ber unser Auseinandergehen, die wachsende<a name="Page_504" id="Page_504"></a>
+Sorge um das kranke Kind mu&szlig;te ihn beherrscht, seine
+Stimmung beeintr&auml;chtigt haben. Und ich f&uuml;hlte zwischen
+jeder Zeile der Rede die Bitterkeit seines Herzens, die
+qu&auml;lende Angst. &Uuml;ber jenen Mann hatte er gesprochen,
+der sich herausnahm im Kampf gegen uns den Ton anzugeben,
+der uns um einiger Artikel in einer b&uuml;rgerlichen
+Zeitschrift willen wie Verr&auml;ter verfolgte; und er
+hatte ihn gekennzeichnet, als das, was er war: ein
+doppelter Renegat, in der Jugend Sozialdemokrat, gleich
+darauf der Verfasser einer der giftigsten Schm&auml;hschriften
+gegen die Sozialdemokratie, nach wenigen Jahren wieder
+Mitglied der Partei, und jetzt: ihr unfehlbarer Sittenrichter.
+Keiner, so schien mir, w&uuml;rde sich dem Eindruck
+der Rede meines Mannes entzogen haben, wenn nicht
+in jedem Ton die Aufregung gezittert h&auml;tte, deren Ursache
+niemand kannte als ich. Immer wieder hatte ihn
+Bebel unterbrochen, mit stets gesteigerter Heftigkeit, und
+jeder Zuruf mu&szlig;te meinen Mann, dessen ganze Seele
+wund war, doppelt schmerzhaft treffen. Und dann waren
+sie alle &uuml;ber ihn und uns hergefallen, und am tollsten
+hatten uns, die freien Schriftsteller &mdash; &raquo;frei&laquo; wie der
+Lohnarbeiter, der seinem Verdienst nachgehen mu&szlig;&nbsp;&mdash;,
+die Genossen geschm&auml;ht, die in sicheren Parteipfr&uuml;nden
+sa&szlig;en. Ein Gef&uuml;hl von Ekel stieg mir bis zum Hals.
+Wie hatte doch Romberg einmal gesagt? &raquo;Durch eine
+bestimmte Personengruppierung kann eine Sache rettungslos
+verloren gehen.&laquo; War diese Gesellschaft w&uuml;tender
+Proleten wirklich noch der w&uuml;rdige Tr&auml;ger der menschheitbefreienden
+Gedanken des Sozialismus?</p>
+
+<p>In einem kurzen Brief, den ich von Heinrich erhielt,
+hie&szlig; es: &raquo;...&nbsp;Die Lage der Dinge ist unbeschreiblich.<a name="Page_505" id="Page_505"></a>
+Die eingeschlossene Luft in diesem engen halbdunkeln
+Saal scheint gef&uuml;llt mit Sprengstoff. Das gezwungene
+dicht Nebeneinandersitzen erh&ouml;ht die Reizbarkeit&nbsp;... Bebel
+ist selbst f&uuml;r Freunde, die ihn beruhigen wollen, unnahbar.
+Er hat sich stundenlang in sein Hotel zur&uuml;ckgezogen
+und hat den Ausdruck eines Rachegottes, wenn
+er wieder erscheint. Warum? Niemand wei&szlig; es. Er
+soll sich w&auml;hrend der Wahlk&auml;mpfe &uuml;beranstrengt haben,
+sagen die einen; die Erbschaft, die ein bayerischer
+Offizier ihm hinterlie&szlig;, und das, was an Prozessen
+mit den Verwandten dieses Offiziers darum und
+daran h&auml;ngt, soll ihn aufregen, meinen die anderen.
+Jedenfalls kommt mehr denn je alles auf seine
+Haltung an; und sein Benehmen mir gegen&uuml;ber l&auml;&szlig;t
+wenig Gutes hoffen. &Uuml;brigens scheint er auf uns beide
+ganz besonders w&uuml;tend zu sein. Als Wanda Orbin die
+Mitarbeit an b&uuml;rgerlichen Bl&auml;ttern als todesw&uuml;rdiges
+Verbrechen kennzeichnete und dabei von den s&uuml;ndigen
+&#8250;Genossen&#8249; sprach, rief er wiederholt mit starker Betonung
+dazwischen: &#8250;Und Genossinnen!&#8249; Damit bist Du
+in erster Linie gemeint&nbsp;... Man spricht von einer
+Resolution, durch deren Unannehmbarkeit die Revisionisten
+hinausgedr&auml;ngt werden sollen&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Seltsam, wie k&uuml;hl, fast gleichg&uuml;ltig ich dieser M&ouml;glichkeit
+gegen&uuml;ber blieb.</p>
+
+<p>Gegen Abend fieberte mein Kind wieder. Es phantasierte
+von Riesen, die das Zimmer f&uuml;llten, und am
+Morgen war mir, als ob ich die ganze Nacht mit
+ihnen h&auml;tte ringen m&uuml;ssen, um sie vom Bett meines
+Lieblings fernzuhalten. Ich f&uuml;hlte mich zu Tode ersch&ouml;pft.</p>
+<p><a name="Page_506" id="Page_506"></a></p>
+<p>&raquo;Wir sind noch nicht &uuml;ber den Berg,&laquo; sagte der Arzt
+mit einem ernsten Gesicht, &raquo;aber Sie sollten sich trotzdem
+schonen&nbsp;&mdash;.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin die Mutter,&laquo; unterbrach ich ihn.</p>
+
+<p>&raquo;Gerade darum,&laquo; antwortete er.</p>
+
+<p>Aber wie konnte ich von meinem Sohne weichen, solange
+seine Augen sich tr&uuml;bten, wenn ich den Platz an
+seinem Bett verlie&szlig;!</p>
+
+<p>W&auml;hrend er ein paar Bleisoldaten auf den wei&szlig;en
+Berg seiner Kissen klettern lie&szlig;, &uuml;berflog ich zerstreut
+den neuen Parteitagsbericht. Erst Bebels Rede fing
+an, mich zu fesseln. Er z&auml;hlte die S&uuml;nden jener Wochenschrift
+auf, f&uuml;r die wir f&uuml;nf Angeklagten geschrieben
+hatten: Vor genau zehn Jahren hatte deren Herausgeber
+ihn als &raquo;rote Primadonna&laquo; verulkt. Ich staunte: sollte
+Bebel, der gro&szlig;e Bebel, von so kleinlicher Empfindlichkeit
+sein, da&szlig; er dergleichen Nebens&auml;chlichkeiten als unausl&ouml;schliche
+Kr&auml;nkungen empfand?! Und im vorigen
+Jahre w&auml;hrend des Zollkampfes hatte derselbe Redakteur
+sich gegen die Obstruktionspolitik der Sozialdemokraten
+ausgesprochen. War das nicht sein gutes Recht? Sollte
+er selbst mit seiner &Uuml;berzeugung hinter dem Berge halten,
+wenn er allen seinen Mitarbeitern die vollste Meinungsfreiheit
+gew&auml;hrte?</p>
+
+<p>Ich las weiter. Ich rieb mir die Augen, &mdash; vielleicht
+war ich es jetzt, die fieberte, &mdash; der Kopf fing an, mir
+zu brennen. Ich las noch einmal. Aber ich irrte mich
+nicht. Hier stand es, ganz deutlich, und noch unterstrichen
+durch den &raquo;st&uuml;rmischen Beifall&laquo;, mit dem es
+begr&uuml;&szlig;t worden war: &raquo;Es gibt unter uns Marodeure,
+die ein solches Blatt unterst&uuml;tzen&nbsp;&mdash;&laquo;, &raquo;Elemente, die
+<a name="Page_507" id="Page_507"></a>moralisch tief gesunken sind&nbsp;&mdash;&laquo;, &raquo;ihnen geb&uuml;hrt nichts
+anderes, als ein kr&auml;ftiges Pfui!&laquo;</p>
+
+<p>Griff mir nicht eine rohe Faust an die Kehle&nbsp;&mdash;, traten
+die Augen nicht schon aus ihren H&ouml;hlen? Und
+der Boden unter mir, auf dem ich stand, schwankte er
+nicht? &mdash; &mdash; Meine Familie, meine Freunde, meine
+Existenz, &mdash; alles hatte ich der Partei geopfert, &mdash; und
+jetzt kam dieser Mann und beschimpfte mich, weil ich
+ein paar literarische Kritiken in ein Blatt geschrieben
+hatte, das ihm nicht pa&szlig;te?! Er, dieser Ritter der
+Frauen, hatte den traurigen Mut, mich vor der ganzen
+Welt f&uuml;r ehrlos zu erkl&auml;ren?! Ich sprang vom Stuhl, &mdash; verga&szlig;
+mein krankes Kind, &mdash; und lief ins Nebenzimmer.
+Dort in der alten Truhe lag sie noch, &mdash; meines
+Vaters Pistole! Wenn ich ein Mann w&auml;re&nbsp;&mdash;!
+Meine Hand krampfte sich um ihren Griff, mein Finger
+suchte den Hahn. Wenn mein Vater noch lebte! Vor
+ihre M&uuml;ndung w&uuml;rde er den R&auml;uber meiner Ehre fordern!</p>
+
+<p>&raquo;Mama!&laquo; rief es von nebenan. Ich strich mit der
+Hand &uuml;ber meine hei&szlig;e Stirn und warf mit einem
+sp&ouml;ttischen Achselzucken &uuml;ber die romantische Anwandlung,
+die ich eben gehabt hatte, die alte Pistole in die
+Truhe zur&uuml;ck. Ich stehe ja nicht allein, dachte ich; mein
+Mann, der auf die kleinste Kr&auml;nkung, die mir angetan
+wird, mit hellem Zorn reagiert, hat mich in diesem
+Augenblick schon verteidigt, und die anderen alle, die
+getroffen wurden, genau wie ich, werden zu flammendem
+Protest einm&uuml;tig zusammenstehen.</p>
+
+<p>Aber schon, da&szlig; die Diskussion ohne Unterbrechung
+ihren Fortgang genommen hatte, machte mich stutzig.
+Freilich, der eine der Angegriffenen, der eben einen<a name="Page_508" id="Page_508"></a>
+Wahlkreis erobert hatte wie wir, verteidigte sich in aufflammender
+Emp&ouml;rung.</p>
+
+<p>&raquo;Auch dem Parteif&uuml;hrer, der die Ehre eines Menschen
+beschmutzt, geb&uuml;hrt ein Pfui,&laquo; rief er aus. Aber mitten
+in seiner Rede war er imstande gewesen, mit sentimentaler
+R&uuml;hrung von der Verehrung zu erz&auml;hlen, die er
+f&uuml;r den Beleidiger empfunden hatte! Ich sch&auml;mte mich,
+auch nur mir selbst solch ein Gef&uuml;hl zuzugeben. Und
+als Bebel nachher ein paar v&auml;terliche Worte der Anerkennung
+f&uuml;r ihn aussprach, bedankte er sich daf&uuml;r!</p>
+
+<p>Der andere stimmte seine Rede auf denselben Ton
+und sprach von der ganz besonderen Verehrung, die er
+f&uuml;r den Veteranen der Partei stets empfunden habe.
+Der Dritte endlich brauste zwar in jugendlichem Eifer
+auf, hatte aber schon vorher reum&uuml;tig abgebeten. Ich
+sch&uuml;ttelte mich. Wer sich so behandeln lie&szlig;, war wert,
+da&szlig; er so behandelt wurde. Mein Mann, dachte ich
+triumphierend, wird anders zu sprechen wissen!</p>
+
+<p>Jetzt endlich fand ich seinen Namen unter den Rednern.
+Unwillk&uuml;rlich suchte ich zuerst nach den Zwischenrufen,
+nach den wilderregten Szenen, die sein Zorn
+hervorrufen mu&szlig;te; &mdash; und da stand es ja schon:
+&raquo;st&uuml;rmische Unterbrechungen&laquo; &mdash; &raquo;gro&szlig;e Unruhe&laquo; &mdash; &raquo;Skandal&laquo;.
+Aber das bezog sich gar nicht auf eine
+Zur&uuml;ckweisung der Beleidigungen Bebels. Meine H&auml;nde,
+die das Blatt hielten, begannen zu zittern.</p>
+
+<p>Wie?! Auch was er sagte, klang wie eine halbe
+Entschuldigung?!</p>
+
+<p>&raquo;Wir sind entschlossen, an der fraglichen Wochenschrift
+nicht mehr mitzuarbeiten, da das Interesse der Partei
+es fordert&nbsp;...&laquo; Und dann: &raquo;Ich erwarte von Bebel,
+<a name="Page_509" id="Page_509"></a>da&szlig; er das schwere und bittere Unrecht, das er begangen
+hat, einsieht und durch eine Erkl&auml;rung gut zu machen
+sucht.&laquo; War das alles? Wirklich alles?! Ich ballte
+die H&auml;nde und dr&uuml;ckte die N&auml;gel ins Fleisch, ich pre&szlig;te
+die Z&auml;hne aufeinander, da&szlig; sie knirschten. Nur nicht
+weinen, nur jetzt nicht weinen, &mdash; wiederholte ich immer
+wieder. Die gro&szlig;e Uhr &uuml;ber dem Schreibtisch tickte
+laut und vernehmlich, &mdash; meines Vaters Uhr, die ich
+vor fremden H&auml;nden gerade noch gerettet hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Er hat dich nicht verteidigt, &mdash; nicht verteidigt&nbsp;&mdash;,&laquo;
+sagte sie unaufh&ouml;rlich; oder war es des Vaters
+Stimme? &mdash; &raquo;Nicht verteidigt&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich schrieb an den Vorsitzenden des Parteitags und
+forderte ihn auf, Bebel zu einer R&uuml;cknahme seiner Beleidigung
+zu veranlassen. Mein Wunsch wurde abgelehnt.
+Ich verlangte ein Schiedsgericht, das &uuml;ber
+meine Ehre entscheiden sollte. &raquo;Wegen der Meinungs&auml;u&szlig;erung
+eines Genossen &uuml;ber den anderen kann ein
+solches nicht angerufen werden,&laquo; lautete die Antwort.
+Jetzt also war ich vogelfrei; ausgesto&szlig;en aus meiner
+alten Welt, als Ehrlose gebrandmarkt in der neuen!</p>
+
+<p>Ich wurde merkw&uuml;rdig ruhig. Ich spielte l&auml;chelnd
+mit meinem Sohn, der sich langsam erholte. Es gab
+Stunden, in denen ich dem Schicksal dankbar war, das
+mich an diese Stelle zwang, das es mir deutlicher sagte,
+als Worte es je vermocht h&auml;tten: dein Kind allein ist
+deine Welt.</p>
+
+<p>Fast mechanisch, interesselos, fing ich wieder an, die
+Berichte zu lesen.</p>
+
+<p>Inzwischen war die Abstimmung &uuml;ber die Erkl&auml;rung
+des Parteivorstandes zur Frage der Mitarbeit
+<a name="Page_510" id="Page_510"></a>von Genossen an b&uuml;rgerlichen Pre&szlig;unternehmungen
+vor sich gegangen. Mit &uuml;berw&auml;ltigender Mehrheit
+war sie zur Annahme gelangt. Ich lachte unwillk&uuml;rlich
+laut auf. So orthodox war bisher nicht einmal
+die Kirche gewesen! Sie war viel zu klug dazu; sie
+benutzte jede Trib&uuml;ne, wenn es galt, auch nur eine
+Seele zu gewinnen.</p>
+
+<p>&raquo;Nicht darauf kommt es an,<em class="spaced"> wo</em> Parteigenossen
+schreiben, sondern<em class="spaced"> was</em> sie schreiben. Je mehr sie mit
+ihrer &Uuml;berzeugung und ihrer Person in die Reihen der
+uns noch feindlich Gesinnten eindringen, desto besser ist
+es f&uuml;r unsere Sache, denn wir sind keine Sekte, die sich
+zu ihrem Gottesdienst in ihrer Kapelle verschlie&szlig;t, sondern
+eine Bewegung, die der ganzen Menschheit dienen
+und die Welt erobern will&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Das w&auml;re eine unserer sozialistischen Grunds&auml;tze w&uuml;rdige
+Erkl&auml;rung gewesen. Niemand beantragte sie. Nur
+vierundzwanzig &mdash; unter ihnen mein Mann, G&ouml;hre,
+Vollmar &mdash; hatten den Vorstandsbeschlu&szlig; abgelehnt.</p>
+
+<p>Und nun stand der zweite Streitpunkt: die Taktik der
+Partei, die Vizepr&auml;sidenten-Frage, auf der Tagesordnung.</p>
+
+<p>Bebel referierte. Nach allem Vorhergegangenen erwartete
+ich eine w&uuml;tende Philippika. Aber das, was
+er sagte, &uuml;bertraf jede Erwartung. War das derselbe
+Bebel, der in Hannover so klug und so einsichtig gewesen
+war?</p>
+
+<p>&raquo;Nie und zu keiner Zeit waren wir in der Partei
+uneiniger als jetzt&nbsp;&mdash;;&laquo; das erkl&auml;rte er, nachdem wir
+eben einm&uuml;tig den gr&ouml;&szlig;ten politischen Sieg erfochten
+hatten! &raquo;So geht's nicht weiter, &mdash; jetzt m&uuml;ssen wir
+endlich reinen Tisch machen,&laquo; und: &raquo;Wer nicht pariert,
+<a name="Page_511" id="Page_511"></a>der fliegt hinaus!&laquo; War das noch die Sprache des
+F&uuml;hrers einer demokratischen Partei, oder nicht vielmehr
+die eines Diktators? Er sprach von den Revisionisten
+als von den Leuten, die mit der Bourgeoisie lieb&auml;ugeln,
+und verlangte, da&szlig; man sie &ouml;ffentlich denunzieren
+m&uuml;sse, damit die Genossen sich vor ihnen h&uuml;ten k&ouml;nnten.
+Er erkl&auml;rte auf der einen Seite, um einen Gewerkschaftsantrag
+zu Falle zu bringen, da&szlig; es f&uuml;r die Fraktion
+viel zu schwierig sei, ganze Gesetzesvorlagen auszuarbeiten,
+und versicherte auf der anderen, da&szlig;, wenn die Partei
+heute zur Herrschaft im Staate k&auml;me, sie schon morgen
+wissen w&uuml;rde, was sie zu tun habe. Der heimliche Ha&szlig;
+gegen die Akademiker, durch den er die Masse des Proletariats
+unzerrei&szlig;bar mit sich verband, ohne zu f&uuml;hlen,
+da&szlig; er dem ersten Grundsatz des Sozialismus dadurch
+ins Gesicht schlug, durchgl&uuml;hte seine Rede.</p>
+
+<p>&raquo;Seht Euch die Akademiker dreimal an, ehe Ihr
+ihnen Vertrauen schenkt!&laquo; &raquo;St&uuml;rmischer Beifall&laquo; stand
+daneben. Und doch waren es Akademiker gewesen, die
+dem Proletariat die Organisation, seiner Bewegung die
+Grundlage und das Ziel gegeben hatten. Schlie&szlig;lich
+warnte er noch vor &raquo;dem anderen Teil der Revisionisten,
+den Proletariern in gehobenen Lebensstellungen&laquo;. Und
+niemand lachte ihm ins Gesicht, &mdash; und niemand
+wies mit Fingern auf die, die Beifall jauchzten: Gastwirte,
+Redakteure, Parteibeamte, lauter ehemalige Proletarier
+in gehobenen Lebensstellungen, &mdash; und ihn selbst,
+der ein wohlhabender Mann geworden war. Fielen
+denn heute lauter Schleier von meinen Augen, oder
+war ich nur vorher blind gewesen?</p>
+
+<p>Nach ihm sprach Vollmar. Er zeigte, wie die Partei
+<a name="Page_512" id="Page_512"></a>seit Jahren angesichts der praktischen Forderungen des
+Tages ein Vorurteil nach dem anderen habe fallen lassen,
+wie zum eisernen Bestand ihrer Taktik geworden sei,
+was kurz vorher als hochverr&auml;terische Forderung gebrandmarkt
+worden war. Dann aber wandte er sich pers&ouml;nlich
+gegen Bebel, &mdash; der erste und der einzige, der
+es mit der Autorit&auml;t seines Namens zu tun vermochte.</p>
+
+<p>&raquo;Ein ungez&uuml;geltes Temperament schadet nicht nur auf
+F&uuml;rstenthronen, sondern auch auf denen der Partei,&laquo;
+rief er aus. &raquo;...&nbsp;In welchem Ton hat Bebel sich an
+die ganze Partei gewandt? &#8250;Ich werde nicht dulden&nbsp;...&#8249;,
+&#8250;Ich werde den Kopf waschen&nbsp;...&#8249;, &#8250;Ich werde Abrechnung
+halten&#8249;. Ich, ich, ich &mdash; so hat der Lordprotektor
+Cromwell zum langen Parlament gesprochen&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Ich atmete tief auf. Auch eine Verteidigung meiner
+Ehre war diese Anklage gewesen. Nur eins verstand
+ich nicht: er betonte die innere Einheit der Partei mit
+derselben Sch&auml;rfe, wie Bebel sie geleugnet hatte. Wie
+konnte er nur?! W&auml;ren all die Wutausbr&uuml;che dieses
+Parteitages m&ouml;glich gewesen, wenn eine innere Einheit
+bestanden h&auml;tte? Sie waren doch nichts anderes als
+Symptome der Zerrissenheit. Aber die Revisionisten
+schienen sich das Wort gegeben zu haben, Vollmars Ansicht
+nicht nur zu teilen, sondern zu unterstreichen. Dieselben
+M&auml;nner, die st&auml;ndig und, wie mir schien, mit Recht
+diese und jene Programmforderungen der Sozialdemokratie
+kritisierten und einer Um&auml;nderung f&uuml;r bed&uuml;rftig
+hielten, erkl&auml;rten pl&ouml;tzlich, da&szlig; prinzipielle Gegens&auml;tze
+nicht vorhanden seien. War das Feigheit oder nur
+Schw&auml;che? &mdash; Schw&auml;che, die in ihren Folgen viel
+gef&auml;hrlicher ist als sie? Und ich befand mich pl&ouml;tzlich
+<a name="Page_513" id="Page_513"></a>in &Uuml;bereinstimmung mit einem der schroffsten Radikalen
+in der Partei: &raquo;Das ist ja der Jammer des deutschen
+Revisionismus, da&szlig; er nie mit einem bestimmten Programm
+hervorkommt,&laquo; sagte Kautsky, nachdem er versucht
+hatte, den auch seiner Ansicht nach vorhandenen Gegensatz
+als den zwischen der Zusammenbruchs- und der
+Evolutionstheorie zu kennzeichnen; &raquo;die einen erwarten
+die Befreiung von der sozialen Revolution, die anderen
+von der allm&auml;hlichen Entwicklung.&laquo;</p>
+
+<p>Mein Mann schrieb mir noch einmal: &raquo;F&uuml;r die Partei
+wird diese traurige Tagung mit ihren zahllosen Hintergr&uuml;nden
+von Gemeinheit, Klatsch und Verhetzung
+schlie&szlig;lich noch zum guten Ende f&uuml;hren. Der Resolution
+des Parteivorstandes zur Frage der Taktik sind ihre
+sch&auml;rfsten Spitzen, auf denen wir gespie&szlig;t werden sollten,
+genommen worden, und ihre einm&uuml;tige Annahme scheint
+danach gesichert, was den Frieden in der Partei wieder
+herstellen wird.&laquo;</p>
+
+<p>Ich antwortete umgehend: &raquo;Ich verstehe Dich und
+die anderen nicht. Selbst wenn die Resolution ihrem
+Wortlaut nach annehmbar w&auml;re, so ist sie es ihrem
+Sinn nach nicht, und Euer Ja bedeutet keinen Frieden,
+sondern Unterwerfung. Ich bedaure, bei der Abstimmung
+nicht zugegen zu sein. Ich w&uuml;rde, &mdash; und wenn
+ich die einzige bliebe, &mdash; laut und deutlich Nein sagen.&laquo;</p>
+
+<p>Als ich den Wortlaut der Resolution zu Gesicht bekam,
+wurde mir die Haltung der Revisionisten vollends
+unverst&auml;ndlich. Wie viele unter ihnen hatten dem Eintritt
+des Sozialdemokraten Millerand in das franz&ouml;sische
+Ministerium zugestimmt, hatten eine allm&auml;hliche Eroberung
+der Regierungsgewalt &uuml;berall f&uuml;r m&ouml;glich, ja f&uuml;r
+<a name="Page_514" id="Page_514"></a>wahrscheinlich erkl&auml;rt, und jetzt beugten sie sich einer
+Resolution, in der es hie&szlig;: Die Sozialdemokratie kann
+einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der
+b&uuml;rgerlichen Gesellschaft nicht erstreben. Wie viele verurteilten
+laut und leise die lediglich negierende Haltung
+der Partei gegen&uuml;ber der Kolonialpolitik, und jetzt verpflichteten
+sie sich selbst zum &raquo;energischen Kampf&laquo; gegen
+sie. Aber da&szlig; dreihundert ja sagten, traf mich immer
+noch nicht so tief, als da&szlig; Heinrich unter ihnen war.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Mein Kind lag noch immer. Den Genesenden
+zu besch&auml;ftigen, kostete fast noch mehr Zeit
+als den Kranken zu pflegen. Herrisch verlangte
+der kleine Tyrann immer wieder nach Mama,
+wenn Berta mich abl&ouml;sen wollte. Aber meine Gedanken
+waren doch wieder frei, und wenn er zur Ruhe gebracht
+worden war, konnte ich, wenn auch mit mattem
+Blick und m&uuml;den H&auml;nden, in den Tr&uuml;mmern meines
+Lebens suchen, was zu neuem Aufbau noch stark genug
+war. Und ich fand eine unersch&uuml;tterte Grundmauer:
+meine politische &Uuml;berzeugung. Vor der Partei konnte
+ein Bebel mich diskreditieren, konnte mir die Arbeit in
+ihren Reihen kraft seines Bannfluchs unm&ouml;glich machen.
+Aber ersch&ouml;pfte sich denn der Sozialismus in der Partei?</p>
+
+<p>Mein Verstand war befriedigt, und doch blieb es so
+kalt, so leer in mir. Ich sah mich suchend um, &mdash; war
+die W&auml;rme und die Farbe aus meinem Leben gewichen?
+Ach, im Garten meiner Liebe waren alle Blumen geknickt!
+Hatte der eine rohe Griff meines Gatten so viel
+vernichten k&ouml;nnen? Oder war es nur ein letzter Herbst<a name="Page_515" id="Page_515"></a>sturm
+gewesen, der die schon lange heimlich welken
+endg&uuml;ltig von den Stielen ri&szlig;?</p>
+
+<p>Eines Abends, ganz pl&ouml;tzlich, &ouml;ffnete sich die T&uuml;re,
+und Heinrich stand vor mir. Wie sah er aus! Aschfahl,
+die Augen tief in den H&ouml;hlen, dunkel umschattet,
+die ganze Gestalt gebeugt.</p>
+
+<p>&raquo;Heinz!&laquo; schrie ich auf und schlang die Arme um ihn.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn du mich nur noch liebst &mdash; du,&laquo; fl&uuml;sterte er
+und bedeckte mein Antlitz mit K&uuml;ssen. &raquo;Ich f&uuml;rchtete mich
+vor der Heimkehr, weil ich dachte, ich k&ouml;nnte auch dich
+verloren haben, &mdash; aber nun ist alles gut, &mdash; nun m&ouml;gen
+sie mich steinigen. Ich f&uuml;hle nichts, nichts als Seligkeit,
+weil deine Liebe mich unverwundbar macht!&laquo;</p>
+
+<p>Mir st&uuml;rzten die Tr&auml;nen aus den Augen, &mdash; Tr&auml;nen
+der Reue, des Schmerzes. Er sollte nicht umsonst an
+meine Liebe geglaubt haben. War es nicht Liebe, die
+wieder erwachte, da er so zerschlagen vor mir stand?</p>
+
+<p>Ich erfuhr allm&auml;hlich, was geschehen war. Artikel,
+Erkl&auml;rungen, Briefe legte er mir vor, voll w&uuml;tender
+Angriffe auf ihn, den &raquo;Urheber des Dresdener Parteitages&laquo;,
+den &raquo;geistigen Vater eines nie dagewesenen
+Parteiskandals&laquo;, voll niedriger pers&ouml;nlicher Verleumdungen.
+Selbst in unserem Leben w&uuml;hlten fremde H&auml;nde,
+und unter ihrem Griff wurde auch das Reinste schmutzig.</p>
+
+<p>Es war ein grauer Herbstabend mit tiefh&auml;ngenden
+Wolken und langen Schatten in den Zimmern. Ich
+kauerte in der Ecke des Sofas, unf&auml;hig, mich zu r&uuml;hren,
+wie zerpr&uuml;gelt. Heinrich ging auf und nieder, rastlos, &mdash; hie
+und da griff er mit der Hand nach seinem Kopf,
+als ob er sich vergewissern m&uuml;sse, da&szlig; er noch lebe.</p>
+
+<p>&raquo;Nach meiner ersten Rede schon sagte mir Victor<a name="Page_516" id="Page_516"></a>
+Geier: &#8250;Das ist politischer Selbstmord&#8249;. Als ich dann
+Bebel antworten wollte, wie es nach seinem Angriff
+allein richtig gewesen w&auml;re,&laquo; &mdash; so hatte mich Heinrich
+doch verteidigen wollen! &mdash; &raquo;da haben sie mich alle bearbeitet,
+haben im Namen des Parteiinteresses an mich
+appelliert, und ich war so t&ouml;richt, durch all die widerw&auml;rtigen
+Szenen so ersch&ouml;pft, da&szlig; ich mich wirklich
+unterwarf. Was n&uuml;tzte es?! Nichts! Der Skandal
+nahm seinen Fortgang. Und auf der Strecke bleibe
+schlie&szlig;lich ich allein!&laquo;</p>
+
+<p>Einige Tage sp&auml;ter kam Geier zu uns. Die erste
+Nummer der Neuen Gesellschaft war eben in hunderttausend
+Exemplaren verbreitet worden.</p>
+
+<p>&raquo;Ich mu&szlig; mit Ihnen reden, Genossin Brandt,&laquo; sagte
+er nach einer raschen Begr&uuml;&szlig;ung. &raquo;Sie haben sich,
+fern von Dresden, hoffentlich so viel k&uuml;hle &Uuml;berlegung
+bewahrt, um eher Vernunft anzunehmen als Ihr
+Mann.&laquo;</p>
+
+<p>Und dann setzte er mir auseinander, was seiner Meinung
+nach geschehen m&uuml;sse. Zun&auml;chst habe sich Heinrich
+dem Schiedsspruch eines Parteigerichts zu unterwerfen.</p>
+
+<p>&raquo;Vielleicht einem so objektiven Richter wie Bebel&nbsp;&mdash;,&laquo;
+warf ich bitter ein.</p>
+
+<p>&raquo;Stehen Sie erst einmal am Ende der Laufbahn
+und m&uuml;ssen zusehen, wie andere den ganzen Gewinn
+Ihrer Lebensarbeit in Frage ziehen!&laquo; rief Geier heftig,
+um sich gleich darauf wieder zur Ruhe zu zwingen.
+&raquo;Ohne eine R&uuml;ge wegen seiner Dresdener Rede wird
+es nat&uuml;rlich nicht abgehen,&laquo; fuhr er fort, &raquo;im &uuml;brigen
+aber, daf&uuml;r lege ich jetzt schon meine Hand ins Feuer,
+werden sich alle Verleumdungen als solche erweisen, und<a name="Page_517" id="Page_517"></a>
+Heinrich wird nachher eine gesichertere Stellung haben
+als zuvor.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du wei&szlig;t, da&szlig; ich die Einsetzung eines Schiedsgerichts
+in meinem Wahlkreis bereits selbst veranla&szlig;t
+habe,&laquo; unterbrach ihn mein Mann, &raquo;wozu also das Gerede?!
+Komm lieber gleich zur Sache!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie du willst,&laquo; antwortete Geier ruhig und wandte
+sich wieder mir zu. &raquo;Er hat Sie, wie es scheint, von
+meiner anderen Forderung noch nicht unterrichtet: das
+Erscheinen der Neuen Gesellschaft einzustellen.&laquo;</p>
+
+<p>Ich fuhr auf: &raquo;In diesem Augenblick sollen wir unsere
+einzige Waffe von uns werfen?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Eine nette Waffe!&laquo; h&ouml;hnte Geier. &raquo;Solange das
+Dresdener Spektakelst&uuml;ck noch in aller Munde ist, werden
+vielleicht ein paar Dutzend Leute euer Blatt kaufen.
+Aber &uuml;ber kurz oder lang bleibt euch von der Waffe
+nichts mehr als eine zerbrochene Klinge.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wir haben schon ein kleines Verm&ouml;gen in die Sache
+hineingesteckt&nbsp;&mdash;,&laquo; murmelte ich mit gepre&szlig;ter Stimme.</p>
+
+<p>&raquo;Kann mir's denken,&laquo; meinte Geier und kr&auml;uselte
+sp&ouml;ttisch die Lippen; &raquo;vorsichtige Gesch&auml;ftsleute seid
+Ihr offenbar nicht. Aber so rettet wenigstens, was zu
+retten ist!&laquo;</p>
+
+<p>Heinrichs Gesicht hatte sich mehr und mehr ger&ouml;tet.
+Jetzt blieb er dicht vor Geier stehen.</p>
+
+<p>&raquo;Du benutzt unsere Notlage, um die Partei von einem
+revisionistischen Blatt zu befreien,&laquo; zischte er ihn an.</p>
+
+<p>Mit einer heftigen Bewegung sprang Geier vom
+Stuhl und hieb mit der Faust auf den Tisch: &raquo;Ich
+komme nach Berlin gereist, um euch einen Freundschaftsdienst
+zu erweisen, und du begegnest mir so&nbsp;&mdash;. St&uuml;rze
+<a name="Page_518" id="Page_518"></a>dich denn meinetwegen kopf&uuml;ber in dein Verderben&nbsp;&mdash;&laquo;
+Und hinaus war er.</p>
+
+<p>Wir gingen tagelang schweigsam nebeneinander her.
+Inzwischen fanden &uuml;berall Parteiversammlungen statt,
+die sich mit den Dresdener Ereignissen und ihren Folgen
+besch&auml;ftigten. In den Angriffen auf die Revisionisten,
+ganz besonders auf meinen Mann, &uuml;bertrafen sie noch
+den Parteitag. Und stets wurde vor der Zeitschrift
+gewarnt, mit der wir uns &raquo;auf Kosten der Partei&laquo; bereichern
+wollten. Es gab keinen Ausweg mehr, als sie
+zun&auml;chst aufzugeben. Wir hatten die Mittel nicht, um
+sie gegen die herrschende Stimmung in der Partei durchzusetzen.</p>
+
+<p>&raquo;Alle freiheitlichen Elemente hatten sich am 16. Juni
+um Ihre Fahnen geschart,&laquo; schrieb mir Romberg, &raquo;weil
+sie, von den b&uuml;rgerlichen Parteien im Stiche gelassen,
+bei der Sozialdemokratie den Schutz der Geistesfreiheit,
+den Hort des Kulturfortschritts zu finden glaubten.
+Dresden hat diesen Wahn zerst&ouml;rt, hat gezeigt, da&szlig; der
+Dogmatismus, die Verfolgungssucht Andersdenkender,
+kurz die ganze Seelenverfassung der Inquisitoren, nirgends
+in so krasser Form zu finden ist, als bei den
+privilegierten Menschheitsbefreiern. Wir sind nun wieder
+vogelfrei. Und Sie?!&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_519" id="Page_519"></a></p>
+
+<p>In der Nacht, nachdem unsere zweite und letzte
+Nummer erschienen war und wir wieder schlaflos
+den huschenden Wolken drau&szlig;en und der
+wachsenden Mondsichel zusahen, sagte Heinrich zu mir:
+&raquo;Was meinst du, wenn ich ginge?&laquo;</p>
+
+<p>Zuerst verstand ich ihn nicht, &mdash; dann aber packte ich
+mit aller Kraft seine beiden H&auml;nde und sah ihm mit
+stummem Entsetzen in das blasse Gesicht.</p>
+
+<p>&raquo;Ich warnte dich schon einmal, &mdash; vor Jahren,&laquo; fuhr
+er leise und langsam fort. &raquo;Ich bringe Allen Ungl&uuml;ck, &mdash; dir, &mdash; der
+Partei. Mir scheint, ich habe hier nichts
+mehr zu tun.&laquo;</p>
+
+<p>Ich stammelte in heller Angst tausend Liebesworte,
+ich schmiegte mich an ihn, als ob ihm aus meiner
+Lebensw&auml;rme Lebensmut zustr&ouml;men k&ouml;nnte. Aber er blieb
+ernst und fest und wu&szlig;te immer neue Gr&uuml;nde nicht nur
+f&uuml;r die Berechtigung, sondern f&uuml;r die Notwendigkeit
+seiner Absicht vorzubringen.</p>
+
+<p>Nach alter Gewohnheit pochte morgens unser Bub
+an die T&uuml;re und sprang herein, ohne unsere Aufforderung
+abzuwarten. Es war das erstemal nach seiner
+Krankheit, da&szlig; er so fr&uuml;h schon aufstehen durfte. Er
+kletterte eilig auf Heinrichs Bett und sah ihn an, halb
+&uuml;berrascht, halb erschrocken. Mit jenem r&auml;tselvollen
+Scharfblick des Kindes schien er das Fremde, Dunkle
+erkannt zu haben, das von der Seele seines Vaters Besitz
+ergriffen hatte. Er legte ihm das H&auml;ndchen auf
+den Kopf; &raquo;so hat Mama auch gemacht, wie ich krank
+war,&laquo; erz&auml;hlte er wichtig, und dann k&uuml;&szlig;te und streichelte
+<a name="Page_520" id="Page_520"></a>er &raquo;den lieben, guten Papa&laquo;, bis sich doch noch ein
+L&auml;cheln um dessen festgeschlossene Lippen stahl.</p>
+
+<p>&raquo;Hast du wirklich hier nichts mehr zu tun?!&laquo; fragte
+ich leise, als der Kleine wieder davongelaufen war.
+&raquo;Soll dein Sohn einmal von dir glauben m&uuml;ssen, da&szlig;
+du dich feige davonstahlst?!&laquo;</p>
+
+<p>Er dr&uuml;ckte mir die Hand, fest und lang. Ich wu&szlig;te:
+wenn die Gespenster der Nacht auch nicht auf immer
+gebannt waren, so w&uuml;rden sie doch keine Macht mehr
+gewinnen &uuml;ber ihn.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Die Schiedsgerichts-Verhandlungen zogen sich
+wochenlang hin. Es war eine seelische Folter
+f&uuml;r meinen Mann, und wenn er nach Hause
+kam, gab ich mir alle M&uuml;he, ihn nicht merken zu lassen,
+wie ich selber litt.</p>
+
+<p>Drau&szlig;en entwickelte sich wieder in der alten Weise
+der politische Kampf: Radikale und Revisionisten arbeiteten
+scheinbar einm&uuml;tig zusammen. Es galt diesmal
+den Landtagswahlen. Mich rief niemand zu Hilfe. Zu
+keiner der zahllosen Versammlungen forderte man mich
+auf. Ich war die Gezeichnete. Und nirgends schien
+eine L&uuml;cke entstanden, weil ich fehlte. Ich war wie die
+Welle, die im Meere aufsteigt und zur&uuml;cksinkt, ohne eine
+Spur zu hinterlassen.</p>
+
+<p>Zuweilen trafen wir mit unseren politischen Freunden
+zusammen, &mdash; zuf&auml;llig nur, denn die Revisionisten schienen
+sich nach Dresden noch mehr aus dem Wege zu gehen,
+als vorher. Einmal kamen wir in eine ernstere Unter<a name="Page_521" id="Page_521"></a>haltung,
+und ich verurteilte unumwunden ihre Annahme
+der Dresdener Resolution.</p>
+
+<p>&raquo;Mir ist es sogar fraglich,&laquo; sagte ich, &raquo;ob ihre Ablehnung
+nicht von einem gemeinsamen Austritt aus der
+Partei h&auml;tte begleitet werden m&uuml;ssen.&laquo; Aber ich stie&szlig;
+auf allgemeinen Widerspruch.</p>
+
+<p>&raquo;Damit h&auml;tten die Radikalen erreicht, was sie wollten,&laquo;
+rief der eine.</p>
+
+<p>&raquo;Wegen einiger Gegens&auml;tze in taktischen Fragen werden
+wir doch die Partei nicht im Stiche lassen,&laquo; sagte der
+andere.</p>
+
+<p>&raquo;Es w&auml;re nichts als Fahnenflucht,&laquo; erkl&auml;rte einer
+der Gewerkschafter.</p>
+
+<p>&raquo;Und wir w&uuml;rden zur&uuml;ckbleiben, als Offiziere ohne
+Armee,&laquo; meinte mein Mann. Ich lie&szlig; mich nicht &uuml;berzeugen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben trotz allem Bekenntnis zum historischen
+Materialismus aus der Geschichte nicht allzu viel gelernt,&laquo;
+entgegnete ich. &raquo;Noch immer ist die Entwicklung
+die gewesen, da&szlig; eine gro&szlig;e Bewegung aus sich
+heraus neue Bewegungen zeugt, deren Tr&auml;ger zun&auml;chst
+nichts sind als ein paar Vorl&auml;ufer, als Offiziere
+ohne Armee. Und was nun gar die Gegens&auml;tze
+betrifft, so glauben Sie doch nicht ernsthaft an ihre Geringf&uuml;gigkeit.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; antwortete einer der anderen, &raquo;aber ich glaube,
+und habe nach unserer bisherigen Entwicklung ein Recht
+dazu, da&szlig; unsere Ideen sich im Proletariat von unten
+herauf durchsetzen. Wir schlie&szlig;en Lohntarif-Vertr&auml;ge
+mit den Unternehmern, und niemand zeiht uns deshalb
+eines Vertuschens der <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'Kassengegens&auml;tze'">Klassengegens&auml;tze</ins>; wir arbeiten in
+<a name="Page_522" id="Page_522"></a>den Gemeinden, in den Landtagen, und keiner wagt
+uns deshalb wegen des Paktierens mit der b&uuml;rgerlichen
+Gesellschaft anzuklagen. Unsere Genossenschaften fangen
+an, wie unsere Gewerkschaften zu einer wirtschaftlichen
+Macht zu werden, und kein Radikalinski hat uns noch
+vorgehalten, da&szlig; das gegen die Zusammenbruchstheorie
+verst&ouml;&szlig;t und wir damit bis zum gro&szlig;en Kladderadatsch
+warten m&uuml;&szlig;ten.&laquo;</p>
+
+<p>Ich schwieg. Der Mann der praktischen Arbeit mochte
+gegen&uuml;ber meinen unklaren Theorien doch wohl recht haben.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Kurz vor Weihnachten legte das Schiedsgericht
+von Frankfurt-Lebus dem Parteitag des Kreises
+die Resultate seiner Untersuchungen vor, und
+die Genossen erteilten ihren Abgeordneten daraufhin einstimmig
+das Vertrauensvotum.</p>
+
+<p>&raquo;Und du freust dich gar nicht?!&laquo; sagte mein Mann,
+als er nachts aus Platkow zur&uuml;ckkam, wo die Versammlung
+stattgefunden hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig; freue ich mich, &mdash; aber im Grunde ist doch
+das alles selbstverst&auml;ndlich und macht das Geschehene
+nicht ungeschehen,&laquo; antwortete ich und dachte an die
+Zeitschrift, mit der wir unsere Aufgabe, wie mir schien,
+geopfert hatten, an die unges&uuml;hnte Kr&auml;nkung, die noch
+immer wie eine schw&auml;rende Wunde an mir fra&szlig;, an
+das verst&uuml;mmelte, beschmutzte Bild der Partei, das einst
+in so leuchtenden reinen Farben vor mir gestanden
+hatte, an die gro&szlig;e Flamme meiner Liebesleidenschaft,
+die &uuml;ber dem Aschenhaufen nur noch leise glimmte.</p>
+
+<p>Aus meines Mannes Wahlkreis wurde ich wieder zu<a name="Page_523" id="Page_523"></a>
+Vortr&auml;gen aufgefordert. Seltsam genug: es gab noch
+Genossen, die mir vertrauten, obwohl der erste unter
+ihnen mich f&uuml;r ehrlos erkl&auml;rt hatte! In diesen Kreisen
+schien das Verst&auml;ndnis f&uuml;r eine Empfindung zu fehlen,
+die eine Reminiszenz an meine aristokratische Herkunft sein
+mochte, und offenbar zu jenen &raquo;Eierschalen der Vergangenheit&laquo;
+geh&ouml;rte, &uuml;ber die in der Partei so oft gespottet
+wurde. Aber wenn auch die anderen alle dar&uuml;ber hinwegsehen
+konnten, ich konnte es nicht. Ich lehnte ab.
+Meine Zur&uuml;ckhaltung wurde falsch gedeutet. Meine
+Bemerkung &uuml;ber den Austritt aus der Partei mochte
+irgendwie durchgeackert sein. Ich sah, da&szlig; ich die Stellung
+meines Mannes, die trotz des Vertrauensvotums
+eine schwierige geblieben war, noch mehr erschwerte.
+Und ich hatte mir vorgenommen, ihm nach wie vor ein
+treuer Kamerad zu bleiben.</p>
+
+<p>&raquo;Sie k&ouml;nnen wieder &uuml;ber mich verf&uuml;gen,&laquo; schrieb ich
+nach Frankfurt und st&uuml;rzte mich in die Arbeit, von der
+ich hoffte, da&szlig; sie sich als Morphium f&uuml;r die Schmerzen
+meiner Seele erweisen w&uuml;rde. Und so lange ich am
+Schreibtisch &uuml;ber den Zeitungen und Brosch&uuml;ren sa&szlig;,
+hielt sie, was ich von ihr erwartet hatte.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Die Ereignisse schienen mit besonderem Eifer
+daf&uuml;r zu sorgen, da&szlig; wir nicht im Bruderzwist
+aufgehen konnten. Der Riesenstreik
+der Textilarbeiter von Crimmitschau, die nun schon seit
+Wochen mit einer Ausdauer ohnegleichen um den Zehnstundentag
+k&auml;mpften und dem lockenden Gold der Unternehmer
+ebenso standhielten wie den Verfolgungen der<a name="Page_524" id="Page_524"></a>
+Polizei, lie&szlig; uns f&uuml;hlen, da&szlig; wir gegen den Feind so
+einig waren wie immer. Und die russische Revolution,
+die wie ein vom Sturm gepeitschter Brand von einem
+Ende des Riesenreichs zum anderen &uuml;bersprang, entz&uuml;ndete
+in uns allen eine Hoffnung, als ginge der Stern
+der Menschheitserl&ouml;sung nun wirklich im Osten auf.
+Da&szlig; Preu&szlig;en-Deutschland sich zum Schleppentr&auml;ger des
+Zarismus erniedrigte, da&szlig; russische Polizisten im Verein
+mit den unseren die russischen G&auml;ste der Hauptstadt verfolgen
+konnten, da&szlig; ein Minister die Reichstagstrib&uuml;ne
+benutzte, um die russischen Studenten der Berliner Universit&auml;t
+samt und sonders als Anarchisten zu verd&auml;chtigen
+und ihre weiblichen Kollegen der Unsittlichkeit zu
+zeihen, da&szlig; der Reichskanzler von ihnen als von
+&raquo;Schnorrern und Verschw&ouml;rern&laquo; sprach, &mdash; das l&ouml;ste
+einen Schrei der Entr&uuml;stung aus. Die Partei stand
+wieder auf dem Posten als die einzige, die leidenschaftlichen
+Protest erhob. Und wenn die politischen
+Ereignisse nicht auszureichen schienen, um das Bewu&szlig;tsein
+ihrer Zusammengeh&ouml;rigkeit in den Genossen
+aufs neue zu festigen, so sorgten unsere Gegner daf&uuml;r.
+Sie schufen den Reichsverband zur Bek&auml;mpfung der
+Sozialdemokratie, aber die Kette, die sie schmiedeten, um
+uns damit zu fesseln, verband uns nur.</p>
+
+<p>Ich sah das alles. Ich sch&ouml;pfte Hoffnung daraus
+nicht nur f&uuml;r den Kampf nach au&szlig;en, sondern auch f&uuml;r
+die innere Entwicklung, die um so kr&auml;ftiger zu sein
+pflegt, je unbeachteter sie ist.</p>
+
+<p>Aber als ich zum erstenmal wieder in Frankfurt auf
+die Rednertrib&uuml;ne trat und all die vielen Augen sich
+auf mich richteten, da versagte meine Kraft. Das Blut
+<a name="Page_525" id="Page_525"></a>brannte mir in den Wangen; &mdash; sahen die Menschen
+mir den Schlag nicht an, den ich empfangen hatte?!
+Und ich f&uuml;hlte feindselige Blicke, sp&ouml;ttisches L&auml;cheln, ich
+sprach wie gegen ein Tor von Erz. Meine Zuh&ouml;rer
+blieben kalt.</p>
+
+<p>&raquo;Was fehlte dir nur?&laquo; fragte Heinrich mich kopfsch&uuml;ttelnd.
+Ich gab eine ausweichende Antwort.</p>
+
+<p>Noch ein paarmal machte ich &auml;hnliche Versuche. Von
+nerv&ouml;ser Aufregung gesch&uuml;ttelt, die mir sonst fremd gewesen
+war, trat ich schon vor die Versammlung. Und
+dann sprach ich, da&szlig; ich mich selbst nicht wieder erkannte.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>&raquo;La&szlig; mich eine Zeitlang irgendwo zur Ruhe kommen,&laquo;
+bat ich eines Tages, mit den Tr&auml;nen
+k&auml;mpfend, meinen Mann, der in mich drang,
+ihm die Ursache meiner tiefen Verstimmung anzuvertrauen.
+&raquo;Das alles war ein wenig viel f&uuml;r mich&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Er stimmte mir ohne Besinnen zu. &raquo;Wenn es nichts
+weiter ist, als da&szlig; du Ruhe brauchst!&laquo; sagte er aufatmend
+und entwarf mir die sch&ouml;nsten Reisepl&auml;ne. &raquo;Ich
+w&uuml;rde dir den Weg auf den Mond bahnen wollen,
+wenn ich sicher w&auml;re, da&szlig; meine Alix wieder gesund
+und froh w&uuml;rde.&laquo; Und in alter Z&auml;rtlichkeit zog er mich
+an sich.</p>
+
+<p>Doch ich wollte weder auf den Mond, noch nach
+Italien, noch an die See.</p>
+
+<p>&raquo;Ich m&ouml;chte nach Grainau&nbsp;&mdash;,&laquo; bat ich zaghaft, denn
+ich wu&szlig;te, es regte sich immer eine leise Eifersucht in
+ihm, wenn die Sehnsucht mich dorthin trieb, wo so viele
+Erinnerungen geweckt wurden. &raquo;Ilse wei&szlig; von Tante<a name="Page_526" id="Page_526"></a>
+Klotilde, da&szlig; sie diesen Sommer in Augsburg bleibt, &mdash; die
+Bahn ist also frei, und ein Zimmer find' ich schon
+irgendwo f&uuml;r mich und den Kleinen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Der Bub soll mit?&laquo; fragte er mi&szlig;billigend. &raquo;Dann
+hast du ja keine Stunde Ruhe!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;&mdash;&nbsp;Ich h&auml;tte keine, wenn er nicht bei mir w&auml;re,&laquo;
+antwortete ich.</p>
+
+<p>Eine Woche sp&auml;ter fuhren wir den Bergen entgegen.
+Ich bi&szlig; mir die Lippen wund, um die Tr&auml;nen zu unterdr&uuml;cken,
+als ich im blauen Dunst der Ferne die ersten
+wei&szlig;en Spitzen aufsteigen sah. Wie hatte ich so lange
+leben k&ouml;nnen ohne sie!</p>
+
+<p>Es war fr&uuml;h im Jahr. In Garmisch fingen sie gerade
+an, die Betten zu l&uuml;ften und die Fenster weit aufzurei&szlig;en.
+Vier Wochen noch, dann kamen erst die Fremden.
+Jetzt war's so still! Kein Radler, kein Wanderer begegnete
+uns auf dem Wege nach Grainau. Die Wiesen
+standen voll bunter Fr&uuml;hlingsblumen, voll goldgr&uuml;ner
+Spitzen die B&auml;ume, und aus dem Walde kam der erste
+s&uuml;&szlig;e Maiblumenduft.</p>
+
+<p>Im Dorf, hinter dem Kirchlein, wo der Weg empor
+zum Eibsee f&uuml;hrt, stand ein neues blitzblankes Haus
+mit einer gro&szlig;en himmelblauen Madonna in der Mauernische.
+Der Hof vom B&auml;renbauern sah daneben ganz
+alt und griesgr&auml;mig aus.</p>
+
+<p>&raquo;B&auml;-cke-rei,&laquo; buchstabierte mein Junge, der auf seine
+Lesek&uuml;nste sehr stolz war; &raquo;hurra! &mdash; da gibt's immerzu
+wei&szlig;e Br&ouml;tchen,&laquo; rief er und machte einen Luftsprung &mdash; Semmeln
+waren sein Leibgericht, &raquo;&mdash;&nbsp;dahin ziehen wir!&laquo;</p>
+
+<p>Und schon lief er am Gartenzaun entlang, mit dem
+gro&szlig;en schwarzen Hund dahinter um die Wette. In
+<a name="Page_527" id="Page_527"></a>der T&uuml;r erschien der Meister, dicht hinter seinem breiten
+R&uuml;cken lugte neugierig der kleine Lehrling hervor, beide
+mehlbestaubt, und an ihnen vorbei trat gr&uuml;&szlig;end, den
+gewichtigen Schl&uuml;sselbund &uuml;ber der wei&szlig;en Sch&uuml;rze, die
+blonde Hausfrau. Eben erst hatten sie das Haus gebaut,
+erz&auml;hlte sie lebhaft, als wir die blankgescheuerte
+Treppe hinaufstiegen, und schon h&auml;tten sie die Kundschaft
+der ganzen Gegend. An der &raquo;feinen&laquo; Wohnung
+im ersten Stock gingen wir vor&uuml;ber, trotz der neuen
+st&auml;dtischen M&ouml;bel, die sie uns anpries.</p>
+
+<p>&raquo;Hier droben in den Stuben steht halt nur der alte
+Bauernkram,&laquo; meinte sie entschuldigend und stie&szlig; die
+T&uuml;re auf. Ein blauer Schrank mit roten Herzen darauf,
+eine alte Pendeluhr mit blumenbestreutem Zifferblatt
+und einem kreuztragenden Christus dar&uuml;ber, eine
+breite gewichtige Truhe voll bunter Heiligenbilder lachten
+uns an, wie die Wiesen drau&szlig;en, so farbenfroh. Einem
+Vogelnest &auml;hnlich hing ein kleiner Balkon vor der Glast&uuml;r,
+und durch die Fenster guckte der Waxenstein mit
+seinem faltigen Felsengesicht.</p>
+
+<p>&raquo;Da bleiben wir,&laquo; sagte ich, und mein Junge lief
+durchs Haus in den Garten, und den H&uuml;gel hinauf
+zum Wald und wieder hinunter auf die Wiese, als m&uuml;sse
+er von allem ringsum Besitz ergreifen.</p>
+
+<p>Wie gut es war, wieder schlafen zu k&ouml;nnen und die
+m&uuml;den Augen in lauter Gr&uuml;n und Blau gesund zu
+baden! Von den Bauern im Dorf erkannte mich keiner.
+Nur der Sepp, mein alter Spielkamerad, r&uuml;ckte mit
+einem fl&uuml;chtigen Aufblitzen des Erkennens in den Augen
+an seinem verblichenen gr&uuml;nen Hut. Morgens, w&auml;hrend
+mein Junge sich unten am See aus Moos und Steinen
+<a name="Page_528" id="Page_528"></a>einen kunstvollen Hafen baute, sa&szlig; ich auf der alten
+Bank, dem Rosenhaus gegen&uuml;ber, das sich mit seinen
+geschlossenen L&auml;den und blumenlosen Altanen still und
+verzaubert im gr&uuml;nen Wasser spiegelte. Alle Rosenb&uuml;sche
+vor der Terrasse waren fort.</p>
+
+<p>&raquo;Letzten Herbst hat die alte Frau Baronin sie ausgraben
+lassen,&laquo; erz&auml;hlte meine Hausfrau. &raquo;Sie wird
+wohl nimmer wiederkommen,&laquo; f&uuml;gte sie hinzu.</p>
+
+<p>&raquo;Warum nicht?!&laquo; fragte ich erstaunt.</p>
+
+<p>&raquo;Schon wie sie wegfuhr, war sie nicht zum Erkennen.
+Auch so arg brummig und b&ouml;s. Der alte Doktor von
+Garmisch meint, sie macht's nimmer lang.&laquo;</p>
+
+<p>Ich erschrak. Von ihrer Krankheit wu&szlig;te ich, aber
+nicht, da&szlig; es so schlimm um sie stand.</p>
+
+<p>&raquo;Das Fr&auml;ulein von Kleve ist allweil um sie, Tag
+und Nacht,&laquo; berichtete die kleine blonde Frau weiter,
+die froh war, wenn sie schwatzen konnte, &raquo;aber die
+Theres', die alte K&ouml;chin, hat mir kurz vor der Abreis'
+noch erz&auml;hlt, da&szlig; die Frau Baronin Herzweh hat nach
+einer anderen,&laquo; &mdash; dabei traf mich ein neugierig-forschender
+Blick &mdash; &raquo;einer, die sich grad so schreibt, wie Sie&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich antwortete nicht&nbsp;... Mit meiner Ruhe war es
+wieder vorbei. Alles wurde lebendig, was unter diesen
+Buchen, an diesem See, angesichts dieser Berge an Ha&szlig;
+und Liebe, an Sehnsucht und Verzweiflung, an Trennungsweh
+und Zukunftshoffnung geweint und gejauchzt,
+geseufzt und gel&auml;chelt hatte. Ich war nie mehr allein,
+und es war nie mehr still um mich. Wo ich ging und
+stand, &mdash; meine ganze Vergangenheit umringte mich,
+und wenn ich schlafen wollte, fl&uuml;sterte es mir ins Ohr:
+anklagend, h&ouml;hnend, drohend.</p>
+
+<p><a name="Page_529" id="Page_529"></a>Eines Vormittags, &mdash; ich sa&szlig; wieder am alten Platz,
+mit dem Buch im Scho&szlig; und sah zu dem toten Haus
+hin&uuml;ber, &mdash; kam der Bub vom B&auml;renbauern mir nachgelaufen:</p>
+
+<p>&raquo;A Depeschen w&auml;r da f&uuml;r Sie&nbsp;&mdash;&laquo; Ich ri&szlig; sie ihm
+aus der Hand, sie best&auml;tigte nur, was ich erwartet
+hatte: &raquo;Baronin Artern heute morgen verschieden. Ihr
+sofortiges Kommen erw&uuml;nscht.&laquo;</p>
+
+<p>Wir reisten noch am selben Tage nach Augsburg.
+Mich erf&uuml;llte nur ein Gef&uuml;hl: da&szlig; ich ihr viel zu verdanken
+hatte und sie im Kummer um mich gestorben
+war.</p>
+
+<p>In voller Sommerpracht bl&uuml;hte der Garten um das
+sch&ouml;ne Haus. Weinend empfing mich die Theres'.</p>
+
+<p>&raquo;Warum sind's blo&szlig; nit a Wochen fr&uuml;her gekommen&nbsp;&mdash;,&laquo;
+sagte sie immer wieder. Ich vertraute meinen Sohn
+ihrem Schutz. &raquo;Du herzig's Buberl,&laquo; schluchzte sie,
+&raquo;wenn die Frau Baronin nur dich gekannt h&auml;tt'!&laquo; Ich
+fing an zu begreifen, und jetzt erst fiel mir ein, da&szlig;
+der Tod dieser Frau meines Sohnes ganze Zukunft
+sichern sollte.</p>
+
+<p>Einen Augenblick lang fr&ouml;stelte mich. Aber nein:
+wie konnt' ich nur zweifeln, &mdash; auch die alte Theres'
+sah in ihrer Liebe zu mir nur Gespenster. Meinem
+Vater hatte die Tote ihr Wort verpf&auml;ndet. Ich wandte
+mich zur Treppe.</p>
+
+<p>&raquo;Gn&auml;' Frau wollen doch nicht&nbsp;&mdash;,&laquo; rief die Theres'
+und griff nach meinem Arm.</p>
+
+<p>&raquo;Selbstverst&auml;ndlich,&laquo; antwortete ich und nahm den
+Strau&szlig; frischer Maigl&ouml;ckchen vom Grainauer Wald aus
+ihrer H&uuml;lle.</p>
+<p><a name="Page_530" id="Page_530"></a></p>
+<p>&raquo;Sie sind alle oben, &mdash; die Herren Leutnants und
+das Fr&auml;ulein,&laquo; fl&uuml;sterte sie &auml;ngstlich.</p>
+
+<p>Ich warf den Kopf zur&uuml;ck und richtete mich gerade
+auf. &raquo;Hier bin ich zu Hause gewesen, nicht sie,&laquo; sagte
+ich laut und schritt die Stufen empor. Hinter der T&uuml;re
+des E&szlig;zimmers h&ouml;rte ich Stimmengewirr.</p>
+
+<p>&raquo;Sie wird nicht kommen&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte einer. Ich trat
+ein. Wie vor einer Geistererscheinung sprangen sie von
+den St&uuml;hlen, meine Vettern und Basen, die sich hier
+h&auml;uslich niedergelassen hatten. Ich ging ohne Gru&szlig; an
+ihnen vor&uuml;ber, durch die Flucht der Zimmer mit ihren
+kostbaren Teppichen und seidenen M&ouml;beln, die mir alle
+so lebendig schienen, so vollgesogen von Vergangenheit.
+Im Musiksaal, vor der letzten T&uuml;re z&ouml;gerte ich. Mir
+klang in den Ohren, was die Tote vor Jahrzehnten
+aus diesem Fl&uuml;gel hervorgezaubert hatte. Ich war ein
+Kind gewesen damals; die T&ouml;ne waren an mir vorbeigerauscht;
+jetzt erst verstand ich sie: wieviel Leidenschaft,
+wieviel ungestillte Sehnsucht hatte das Herz der Frau
+bewegt, die nun auf immer verstummt war.</p>
+
+<p>Sie lag aufgebahrt, vom bet&auml;ubenden Duft unz&auml;hliger
+Blumen umgeben, auf ihrem Lager. Ich stand wie erstarrt.
+Ich konnte nicht in die Kniee sinken und nicht
+den Blick losrei&szlig;en von ihr: das war sie doch gar nicht, &mdash; das
+war eine Fremde! Nie hatte ich um ihren
+Mund diesen grausamen Zug gesehen und auf ihrer
+Stirn diese vielen finsteren Falten. Die ich gekannt
+hatte, die mich liebte, war eine andere gewesen. Ich
+hielt den Strau&szlig; Maigl&ouml;ckchen noch in der Hand, als
+ich das Haus verlie&szlig;.</p>
+
+<p>Wir geleiteten sie zu Grabe. All jene alten augs<a name="Page_531" id="Page_531"></a>burger
+Familien mit den ber&uuml;hmten Namen und unber&uuml;hmten
+Nachkommen folgten ihrem Sarge. Aber vor
+der dunkeln Pforte des Erbbegr&auml;bnisses der Artern
+weinten von allen, die es umgaben, nur zwei: die alte
+Theres' und ich. Und von denen, die mir einst nahe
+gestanden hatten, gr&uuml;&szlig;te mich nur einer: mein alter
+Lehrer, der Pfarrer.</p>
+
+<p>Er besuchte mich am Nachmittag im Hotel, und erz&auml;hlte
+mir von seinem letzten Zusammensein mit der Verstorbenen.
+Vor kaum zwei Monaten war es gewesen;
+sie hatte ihn zu sich bitten lassen, um von mir zu sprechen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie hat Ihretwegen mehr gelitten, als sie sich merken
+lie&szlig;,&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>&raquo;Meinen Sie?!&laquo; fragte ich zweifelnd und dachte an
+das fremde Gesicht, das ich auf dem Totenbett gesehen hatte.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin dessen sicher,&laquo; antwortete er; &raquo;sie wird es
+Ihnen auch noch beweisen,&laquo; f&uuml;gte er bedeutungsvoll hinzu.</p>
+
+<p>Dann kam ihr Bankier, um mir &uuml;ber den Zeitpunkt
+der Testamentser&ouml;ffnung Mitteilung zu machen. &raquo;Frau
+Baronin hat mich ausdr&uuml;cklich beauftragt, Sie, als ihre
+Haupterbin, um Ihre Anwesenheit zu ersuchen,&laquo; erkl&auml;rte er.</p>
+
+<p>Etwas wie Freude begann heimlich von meinem Herzen
+Besitz zu ergreifen, und Dankbarkeit l&ouml;schte alle Erinnerung
+an die grausamen Z&uuml;ge der Toten aus. Sie hatte
+mir, da sie lebte, oft bitter weh getan, und nun nahm
+sie die schwere Sorgenlast des Lebens auf einmal von mir!</p>
+
+<p>Es kr&auml;nkte mich, da&szlig; die Theres' mich so mitleidig
+ansah.</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig;, was ich wei&szlig;&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte sie, &raquo;die da oben&nbsp;&mdash;&laquo;
+und sie ballte die Faust nach dem Zimmer, wo die Kleves
+mit dem Testamentsvollstrecker verhandelten, &raquo;&mdash;&nbsp;waren
+<a name="Page_532" id="Page_532"></a>immer bei ihr, &mdash; ich hab' oft genug geh&ouml;rt, wie sie von
+Alix Brandt erz&auml;hlten&nbsp;&mdash;.&laquo;</p>
+
+<p>Acht Tage sp&auml;ter versammelten sich die Erben zur
+Testamentser&ouml;ffnung im Gerichtsgeb&auml;ude. Ein n&uuml;chterner
+Raum mit kahlen W&auml;nden. Kastanienb&auml;ume vor den
+Fenstern, durch die kein Sonnenstrahl drang. An den
+Pulten der grauk&ouml;pfige Richter, der krumme Schreiber.
+Auf den steifen St&uuml;hlen wir alle in schwarzen Kleidern.
+Zwei Schriftst&uuml;cke aus verschiedenen Zeiten wurden verlesen.
+Das erste entsprach der Mitteilung ihres Bankiers.
+Das zweite, &mdash; sie hatte es sechs Wochen vor ihrem Tode
+auf dem Krankenbett geschrieben, &mdash; enthielt nur ein
+paar Zeilen: &raquo;Hiermit enterbe ich meine Nichte, Frau
+Alix Brandt, geborene von Kleve, weil sie in Wort und
+Schrift der Umsturzpartei dient.&laquo;</p>
+
+<p>Es wurde ganz still im Zimmer. Die K&ouml;pfe all derer,
+die neben mir sa&szlig;en, senkten sich; mich aber &uuml;berkam
+ein Gef&uuml;hl des Triumphes. Mit fester Hand setzte ich
+als Erste meinen Namen unter das Protokoll und verlie&szlig;
+das Zimmer, an den anderen vorbeigehend, die
+scheu zur Seite wichen, erhobenen Hauptes.</p>
+
+<p>Jetzt war meiner &Uuml;berzeugung auch das letzte zum
+Opfer gefallen. Die Schmach von Dresden war ausgewischt.
+Das Schicksal selbst zwang mich auf meine
+eigenen F&uuml;&szlig;e. Nun war ich stark genug, allein zu
+gehen.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_533" id="Page_533"></a></p>
+<h2><a name="Funfzehntes_Kapitel" id="Funfzehntes_Kapitel"></a>F&uuml;nfzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Drau&szlig;en auf dem Asphalt brannte die Sommersonne.
+Ein Geruch von Pech und Staub erf&uuml;llte
+die gewitterschwere Luft. In dem
+dunkelsten Winkel einer jener &ouml;den Stra&szlig;en Berlins,
+die keine anderen Farben haben als die grellbunten der
+Firmenschilder, die kein neugierig flanierendes Publikum
+kennen, weil ihnen die Anziehungskraft gl&auml;nzender Schaufenster
+fehlt, hatte der Sommer sein ganzes F&uuml;llhorn
+ausgesch&uuml;ttet: Ein enger Hof war zum Blumenteppich
+geworden, eine graue Eingangshalle zum Laubengang.
+Und &ouml;ffnete sich die Doppelt&uuml;r des hohen Geb&auml;udes dahinter,
+so schlug Sommerblumenduft dem Eintretenden
+entgegen. War er von der n&uuml;chternen Stra&szlig;e in einen
+Palast geraten? Zwischen bl&uuml;henden B&uuml;schen standen
+wei&szlig;e B&auml;nke, auf den Tischchen davor rote Rosen in
+Gl&auml;sern von geschliffenem Kristall. Eine Flucht f&uuml;rstlicher
+R&auml;ume schlo&szlig; sich daran, mit weichen Teppichen
+auf dem Estrich und Gobelins an den W&auml;nden und
+tiefen Sesseln vor den Kaminen. Frauenbildnisse hingen
+in den langen Galerien daneben; ein Rascheln und
+Knistern von Frauenkleidern, ein Wispern und Fl&uuml;stern
+von Frauenlippen war darin. In den gro&szlig;en S&auml;len
+sa&szlig;en dicht gedr&auml;ngt von fr&uuml;h bis sp&auml;t lauter Frauen
+<a name="Page_534" id="Page_534"></a>und lauschten mit sehns&uuml;chtigen Augen und hei&szlig;en Wangen
+den Rednerinnen, die ihnen vom Kampf und Sieg, vom
+W&uuml;nschen und Hoffen ihres Geschlechts erz&auml;hlten.</p>
+
+<p>Das Weltparlament der Frauen tagte hier. W&auml;hrend
+acht Tagen wurde in vier Sektionen zugleich verhandelt.
+Kunst und Wissenschaft, Erziehung und Unterricht,
+Recht und Sitte &mdash; nicht ein Gebiet, das das
+Leben des Weibes ber&uuml;hrt, blieb uner&ouml;rtert. Die Gro&szlig;en
+sprachen und die Kleinen, die Vorsichtigen und die Draufg&auml;nger,
+die Weiten und die Engen. Es war eine Revue
+der Frauenbestrebungen, ein neutraler Boden f&uuml;r alle
+Richtungen, eine freie Bahn, um einander kennen zu
+lernen. Nur die Sozialdemokratie Deutschlands hatte
+sich selbst ausgeschlossen, obwohl die Leitung des Kongresses
+ihr alle Referate &uuml;ber die Arbeiterinnenfrage
+hatte &uuml;berlassen wollen und ihr damit die Gelegenheit
+geboten worden w&auml;re, das Elend der Massen zu schildern,
+das sonst in diese S&auml;le keinen Eingang fand, und
+die Lehren des Sozialismus zu verk&uuml;nden, die die Hunderte
+und Tausende, die hierher kamen, nur in den Zerrbildern
+seiner Gegner gesehen hatten.</p>
+
+<p>Vor acht Jahren hatte ich mich diesem Beschlu&szlig; gef&uuml;gt:
+die christliche Idee der notwendigen Einheit von
+Glaubensdienst und Selbstaufopferung, die ich durch ein
+Leben der Selbstbehauptung glaubte &uuml;berwunden zu
+haben, hatte in dem Augenblick wieder von mir Besitz
+ergriffen, wo ich mich der Sozialdemokratie anschlo&szlig;.
+Die &raquo;Sache&laquo; war die mystische Macht gewesen, die &uuml;ber
+mir gestanden hatte. Sie war bei mir, wie bei Hunderttausenden
+meiner Genossen, &mdash; als wolle Gott, der von
+uns verlassene, sich an uns r&auml;chen, &mdash; an seine Stelle
+<a name="Page_535" id="Page_535"></a>getreten. Nun aber war der Bann gebrochen. Da&szlig;
+ich den zur Hochburg der Frauen verwandelten Musikpalast
+Berlins betrat, war ein erstes Zeichen innerer
+Befreiung.</p>
+
+<p>Ich sprach &uuml;berall, wo die Interessen der Arbeiterinnen
+zur Debatte standen. Und allm&auml;hlich str&ouml;mten die Frauen
+mir nach, wenn ich von einem Saal zum anderen ging,
+und manche Diskussion, manche pers&ouml;nliche Unterhaltung
+bewies mir besser als Beifallssalven, die oft nur der
+Freude an der Sensation gelten mochten, da&szlig; der Samen
+des Sozialismus auf guten Boden gefallen war. Gewi&szlig;,
+solche Wirkungen lassen sich nicht messen, sie
+kommen nicht in den Zahlen der Partei- oder Gewerkschaftsmitglieder
+zu sichtbarem Ausdruck, aber auch sie
+rufen in Haus und Schule, in Gesellschaft und Staat
+jene Kr&auml;fte hervor, die von innen heraus an der allm&auml;hlichen
+Umwandlung der Geistesrichtung der Menschen
+t&auml;tig sind. W&auml;hrend ich hin und herging und
+diese und jene h&ouml;rte, sah ich wie gro&szlig; die Wandlung
+schon war, die die Frauenbewegung im Laufe des letzten
+Jahrzehnts durchgemacht hatte.</p>
+
+<p>Damals hatten sie sich vor mir gef&uuml;rchtet, als ich
+in ihrem Kreise der Sozialdemokratie Erw&auml;hnung tat,
+heute stimmten die meisten von ihnen in ihren wesentlichen
+Gegenwartsforderungen mit denen der Partei
+&uuml;berein. Damals war es innerhalb der b&uuml;rgerlichen
+Frauenbewegung eine vereinzelte Tat gewesen, als ich
+das Frauenstimmrecht in &ouml;ffentlicher Versammlung forderte,
+heute wurde in den Mauern Berlins der Bund
+f&uuml;r Frauenstimmrecht gegr&uuml;ndet So ging es doch vorw&auml;rts,
+auch da, wo meine Parteigenossen nichts als<a name="Page_536" id="Page_536"></a>
+Stillstand sahen, nichts anderes bemerken wollten, weil
+sie meinten, den dunkeln Hintergrund einer einheitlichen
+Reaktion n&ouml;tig zu haben, um sich selbst in um so hellerem
+Licht zu sehen, statt auch aus leisen T&ouml;nen den Siegesmarsch
+des Sozialismus herauszuh&ouml;ren. Mein Mann
+hatte ein wenig sp&ouml;ttisch den Mund verzogen, &mdash; zu
+einem wirklichen L&auml;cheln kam es bei ihm kaum mehr, &mdash; als
+ich an dem Kongre&szlig; teilnahm.</p>
+
+<p>&raquo;Du bist ein Trotzkopf,&laquo; hatte er gesagt; &raquo;du &uuml;bersiehst
+in dem Eifer, mit dem du dich dem Beschlu&szlig; der
+Genossinnen entgegenstemmst, die Folgen, die solch eine
+Handlungsweise f&uuml;r dich haben kann. Man wird dich
+vollends boykottieren.&laquo;</p>
+
+<p>Ich zuckte die Achseln.</p>
+
+<p>&raquo;Solltest du wirklich schon so weit &uuml;ber den Dingen
+stehen?!&laquo; fragte er zweifelnd. Ich wandte mich ab. Er
+sollte nicht sehen, da&szlig; ich schw&auml;cher war, als ich mich
+zeigte.</p>
+
+<p>Als ich sichtlich erfrischt aus den Verhandlungen nach
+Hause kam, meinte er unmutig: &raquo;Vor acht Jahren gefielst
+du mir besser als jetzt, wo du dich freust, weil
+dieselben Leute dir Beifall klatschen, die damals sittlich
+entr&uuml;stet waren&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich unterbrach ihn heftig: &raquo;Wie kannst du mich so
+mi&szlig;verstehen! &mdash; Gewi&szlig;, ich bin nicht von Stein, ich
+freue mich, wenn ich h&ouml;re, wie die Ideen meiner &#8250;Frauenfrage&#8249;
+Verbreitung gefunden haben, ich freue mich, da&szlig;
+die Mutterschaftsversicherung, da&szlig; selbst die Haushaltungs-Genossenschaft
+aus dem Stadium des Bewitzelns
+in das ernster Er&ouml;rterung getreten ist, und ich leugne
+auch gar nicht, da&szlig; Anerkennung mir wohl tut, als
+<a name="Page_537" id="Page_537"></a>tr&ouml;pfle mir jemand ein schmerzstillendes Mittel in eine
+unheilbare Wunde, &mdash; aber das Alles ist doch nicht die
+Ursache meiner Befriedigung. Mein Glaube an die
+Entwicklung im Sinne des Sozialismus ist das einzig
+Feste, was mir noch nach all dem Zusammenbruch geblieben
+ist. Wenn ich nur das Geringste entdecke, was
+ihn zu st&uuml;tzen, zu kr&auml;ftigen vermag, so macht mich das
+st&auml;rker.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du bist doch noch sehr jung und sehr bescheiden!&laquo;
+warf Heinrich ein. Ich unterdr&uuml;ckte einen Seufzer.
+Seine morose Stimmung war imstande, jede Spur erwachter
+Freudigkeit wieder zu zerst&ouml;ren, wie der Flu&szlig;,
+wenn er im Fr&uuml;hjahr aus seinen Ufern tritt, mit &ouml;der
+weiter Wasserfl&auml;che die bl&uuml;henden Wiesen bedeckt. Ich
+f&uuml;hlte, wie auch meine Arbeitskraft darunter litt, wie
+Gedanke und Gef&uuml;hl erstarrten, sobald sie in die eisige
+Atmosph&auml;re seiner Deprimiertheit gerieten.</p>
+
+<p>Leise, unmerklich zun&auml;chst und doch von Tag zu Tag
+mehr, l&ouml;ste ich mich von ihm. Das Problem der Ehe
+wuchs, eine &uuml;ppige Schlingpflanze, und drohte zu &uuml;berwuchern,
+was noch an Liebe zu bl&uuml;hen verlangte.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>F&uuml;r die Frauenbewegung war der Kongre&szlig; neuer
+Wind in die Segel gewesen. Alle Fragen,
+die sie umfa&szlig;te, standen wieder im Mittelpunkt
+der &ouml;ffentlichen Diskussion. Das F&uuml;r und Wider wurde
+leidenschaftlich er&ouml;rtert, und in der konservativen kirchlichen
+Presse erhoben sich lauter als fr&uuml;her die Stimmen
+derer, die mit dem Feldgeschrei: Erhaltung der Ehe und
+der Familie! den Emanzipationsbewegungen des weib<a name="Page_538" id="Page_538"></a>lichen
+Geschlechts gegen&uuml;bertraten. In einer Versammlung,
+die von einem der b&uuml;rgerlichen Frauenvereine
+einberufen worden war, sollte diesen Angriffen begegnet
+werden. Ich ging hin. Mehr aus Neugierde, und weil
+es mich belustigte, da&szlig; lauter ehelose alte M&auml;dchen sich
+f&uuml;r berufen hielten, &uuml;ber diese Probleme zu urteilen, als
+in der Absicht selbst zu sprechen.</p>
+
+<p>Die Referentin verteidigte zuerst die Frauenbewegung
+als die Begr&uuml;nderin eines neuen, sch&ouml;neren, festeren
+Ehe- und Familienlebens:</p>
+
+<p>&raquo;Gerade der Bund zwischen zwei gleichen, geistig und
+sittlich gereiften Menschen ist der gl&uuml;cklichste, dauerndste,&laquo;
+sagte sie. &raquo;Der Mann wird in der Frau nicht mehr
+nur die Geliebte, die Mutter seiner Kinder sehen, sondern
+eine Kameradin, die seine Interessen teilt und
+f&ouml;rdert. Das Familienleben wird sich dadurch erneuern,
+denn der Mann braucht nicht mehr au&szlig;erhalb seines
+Hauses geistiger Anregung, geistigem Austausch nachzugehen...&laquo;</p>
+
+<p>Mich reizte der salbungsvolle Ton, mit dem sie sprach,
+und die Art, wie sie die Wogen der Frauenbewegung
+durch das &Ouml;l unbeweisbarer Prophezeiungen zu bes&auml;nftigen
+suchte. Ich meldete mich zum Wort.</p>
+
+<p>&raquo;All Ihre sch&ouml;nen Argumente,&laquo; rief ich aus, &raquo;beruhen
+auf einem Trugschlu&szlig;: der Instinkt der Sinne ist
+doch nicht identisch mit dem geistigen Verst&auml;ndnis! Nichts
+gibt die Gew&auml;hr daf&uuml;r, da&szlig; zwei geistig reiche Individualit&auml;ten,
+die einander in hei&szlig;er Liebe begehren, nun
+auch mit all den feinen Regungen ihres Seelen- und
+Geisteslebens zusammenstimmen, Regungen, die um
+so differenzierter sind, je h&ouml;her entwickelt der Einzelne
+<a name="Page_539" id="Page_539"></a>ist. Und wer vermag zu sagen, ob nicht trotz geistiger
+&Uuml;bereinstimmung die Liebe erkaltet oder sich auf einen
+anderen Gegenstand richtet? Denn auch die Liebesgef&uuml;hle
+und das Liebesbegehren ist vielgestaltiger, differenzierter
+geworden und nicht mehr so leicht und so unbedingt
+zu befriedigen ... Nein, meine Damen, lassen
+Sie sich nicht einlullen durch falsche Prophezeiungen,
+sammeln Sie vielmehr Ihre Kr&auml;fte durch die klare Erkenntnis
+neuer Probleme. Mit dem durch die Angst
+um die Gef&auml;hrdung alten geliebten Besitztums gesch&auml;rften
+Sp&uuml;rsinn des Feindes haben die Gegner bald empfunden,
+was ihnen droht: Je mehr sich das Weib zur
+selbst&auml;ndigen Pers&ouml;nlichkeit entwickelt, mit eigenen Ansichten,
+Urteilen und Lebenszielen, desto mehr ist die
+alte Form der Ehe bedroht. Ihr Gl&uuml;ck beruhte nicht
+auf Gleichheit, sondern auf Unterordnung, nicht auf
+Arbeitsgemeinschaft, sondern auf Arbeitsteilung. F&uuml;r
+den Mann war die Ehe von einst, an der Seite einer
+von den K&auml;mpfen der Zeit unber&uuml;hrten, nur der Sorge
+des Hauses lebenden Gattin, der Hafen der Ruhe.
+Heute findet er daheim neben der ihm geistig ebenb&uuml;rtigen
+Frau dieselbe Nervosit&auml;t, dasselbe geistig angespannte
+Leben wie drau&szlig;en. F&uuml;r die Frau war er
+das einzige Symbol alles &auml;u&szlig;eren Lebens, allein von
+ihm empfing sie gl&auml;ubig die Botschaften der Welt, die
+Ansichten und Urteile &uuml;ber sie. Jetzt kennt sie das
+Leben aus eigener Anschauung, sie denkt selbst&auml;ndig, sie
+&uuml;bersteht ihn vielfach; sie findet in ihm so wenig den
+Sch&ouml;pfer ihres inneren Lebens, als er in ihr die Quelle
+der Ruhe und des Behagens findet. Was fr&uuml;her einte:
+das Zusammenleben, kann heute sch&auml;rfer trennen, als
+<a name="Page_540" id="Page_540"></a>jede &auml;u&szlig;ere Trennung es vermag ... Es kommt aber
+auch gar nicht darauf an, da&szlig; wir mit hei&szlig;em Bem&uuml;hen
+die Ehe retten; mag sie an der Entwicklung
+zerschellen, wie manche andere Lebensform, wenn nur
+der Kern erhalten bleibt: die Liebe.&laquo;</p>
+
+<p>Man hatte mir mit steigender Erregung zugeh&ouml;rt.
+Ich sah, wie eine Frau nach der anderen sich mit hochrotem
+Gesicht zum Worte meldete. Sie &uuml;berfielen mich
+f&ouml;rmlich. Als eine Vertreterin der freien Liebe, eine
+mit deren Ideen ihre Begebungen nicht das mindeste
+zu tun h&auml;tten, griffen sie mich an.</p>
+
+<p>&raquo;Ihre Verteidigung n&uuml;tzt Ihnen nichts,&laquo; antwortete
+ich nochmals. &raquo;Die ersten Tr&auml;ger einer Entwicklung
+sind nur in seltenen F&auml;llen zugleich die Propheten
+ihrer letzten Konsequenzen gewesen. Als Luther seine
+93 Thesen an die Schlo&szlig;kirche zu Wittenberg schlug,
+glaubte er, die Zyklopenmauer der katholischen Kirche,
+die hier und da abzubr&ouml;ckeln begann, fester aufzubauen.
+Als Montesquieu seinen <em class="antiqua">'Esprit des lois'</em> und Rousseau
+seinen <em class="antiqua">'Emile'</em> schrieb, glaubten sie einige dunkle Gebiete
+des Staats und der Gesellschaft aufzuhellen. Keiner
+von ihnen wu&szlig;te, da&szlig; sie die Brandfackel in das ganze
+Geb&auml;ude warfen. Auch Sie propagieren Reformen und
+werden zu Tr&auml;gern der Revolution...&laquo;</p>
+
+<p>Als ich geendet hatte, k&auml;mpfte lautes Zischen mit
+vereinzeltem Beifall; als ich aber den Saal verlie&szlig;,
+leuchteten mir aus jungen Gesichtern dankerf&uuml;llte Blicke
+entgegen; es war nicht nur mein eigenes Erleben gewesen,
+das ich in Worte gefa&szlig;t hatte.</p>
+
+<p>An der T&uuml;re traf ich meinen Mann, der mir, ohne da&szlig;
+ich es wu&szlig;te, gefolgt war. Ich err&ouml;tete unwillk&uuml;rlich.</p>
+<p><a name="Page_541" id="Page_541"></a></p>
+<p>&raquo;War das ein Bekenntnis?&laquo; fragte er. Ich nickte.
+&raquo;Wollen wir nicht auch unsere Liebe retten?&laquo; fuhr er
+leise fort und zog meinen Arm durch den seinen. Mir
+wurde warm ums Herz: wie gut er war! Ein tiefes
+Schuldbewu&szlig;tsein bem&auml;chtigte sich meiner: Waren es
+nicht im Grunde l&auml;cherliche Kleinigkeiten, die uns voneinander
+entfernten, war es nicht frevelhaft, aus selbstischen
+Motiven den gro&szlig;en Schatz der Liebe aufs Spiel
+zu setzen? Ein b&ouml;ser Zauber hatte ihn in die Tiefe
+versenkt, war er es nicht wert, da&szlig; ich ihn durch
+meine Hingabe erl&ouml;ste?</p>
+
+<p>Ich wu&szlig;te, was meinen Mann bedr&uuml;ckte, aber ich
+hatte es bisher nicht sehen wollen. Je mehr er litt,
+desto schweigsamer wurde er; nur an den gefurchten
+Z&uuml;gen, an den finsteren Blicken, und hie und da an
+einem hingeworfenen Wort erkannte ich, da&szlig; er sich in
+selbstqu&auml;lerischen Vorw&uuml;rfen verzehrte. Die Schatten
+des Dresdener Kongresses fielen noch breit &uuml;ber den
+Weg der Partei, &mdash; er f&uuml;hlte sich mitschuldig daran.
+Und er hatte in einem Moment fortgeworfen, wodurch
+er der Partei wieder h&auml;tte helfen k&ouml;nnen, die Schatten
+zu bannen: die Neue Gesellschaft.</p>
+
+<p>&raquo;Das Aufgeben der Zeitschrift war heller Wahnsinn,&laquo;
+sagte er zuweilen. Aber war nicht der Verkauf des
+Archivs schon Wahnsinn gewesen? Und ich hatte ihn
+darin best&auml;rkt, ich war mitschuldig, wenn er Schiffbruch
+litt! Und in diesem Augenblick hatte ich ihn
+im Stiche lassen wollen! Hatte mich bitter gekr&auml;nkt
+gef&uuml;hlt, weil er seine Stimmung nicht beherrschte, weil
+er es an Liebesbeweisen fehlen lie&szlig;!</p>
+
+<p>Ich wu&szlig;te auch, was ihm helfen w&uuml;rde. Oft genug
+<a name="Page_542" id="Page_542"></a>sprach er davon: die Neue Gesellschaft wollte er wieder
+erscheinen lassen. Aber wenn er mich dabei fragend
+ansah, so schwieg ich, und ein heftiges Wort schwebte
+mir jedesmal auf der Zunge. Richtete er eine direkte
+Frage an mich, so &auml;u&szlig;erte ich r&uuml;cksichtslos meinen
+Widerspruch.</p>
+
+<p>&raquo;Nicht drei Monate w&uuml;rden wir mit dem bi&szlig;chen,
+was wir aus dem Zusammenbruch gerettet haben, die
+Zeitschrift halten k&ouml;nnen,&laquo; sagte ich, &raquo;und ich habe
+schon zu viel an Sorgen ertragen, um sehenden Auges
+dem vollst&auml;ndigen Ruin entgegenzugehen.&laquo;</p>
+
+
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wenn Graf B&uuml;low im Reichstag &uuml;ber den Dresdener
+&raquo;Jungbrunnen&laquo; h&ouml;hnte, wenn jedes
+ernste Wort unserer Fraktionsredner im Gel&auml;chter
+der b&uuml;rgerlichen Parteien erstickte und die Kraft unserer
+81 Abgeordneten lahmgelegt blieb seit Dresden, so
+waren das nicht vereinzelte Erscheinungen, sondern Symptome
+der allgemeinen Stimmung der Partei gegen&uuml;ber.
+Und ein Wochenblatt sollte imstande sein, sie zu zerstreuen?
+Immer deutlicher r&uuml;ckte alles ab von uns, was uns
+nahegestanden hatte. Noch kam ich zuweilen in K&uuml;nstler- und
+Literatenkreise, aber ich f&uuml;hlte sogar ein pers&ouml;nliches
+Sichzur&uuml;ckziehen. Das Interesse wandte sich augenscheinlich
+ganz anderen Gebieten zu. Die <em class="antiqua">l'art pour l'art</em>-Stimmung
+breitete sich aus. Mit dem Verschwinden
+der Arme-Leute-Bilder und Dramen verschwand die oppositionelle
+Gesinnung. Dichter und Maler, die noch
+vor kurzem wenigstens durch lange Haare, Samtjacken
+und fliegende Krawatten den Bohemien markiert hatten,
+<a name="Page_543" id="Page_543"></a>exzellierten jetzt in tadellos weltm&auml;nnischen All&uuml;ren und
+beurteilten den lieben N&auml;chsten nach seinem Schneider.
+Wie vor wenigen Jahren noch der Weg ins Volk die
+Parole der k&uuml;nstlerisch-literarischen Jugend gewesen war,
+so wurde jetzt die Vornehmheit Trumpf. Nicht jene
+echte der Bewegung und Gesinnung, die der Gefahr
+des Kopiertwerdens nicht ausgesetzt ist, sondern die
+m&uuml;de der Dekadenz, die sich jeder aneignen kann, dessen
+Finger gen&uuml;gend lang, dessen Gestalt gen&uuml;gend schmal
+und dessen Charakter gen&uuml;gend biegsam ist.</p>
+
+<p>&raquo;Und von diesem d&uuml;rren Boden glaubst du ernten zu
+k&ouml;nnen?!&laquo; fragte ich meinen Mann.</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; entgegnete er, &raquo;aber ich bin optimistisch genug,
+um auch ihn f&uuml;r bearbeitungsf&auml;hig zu halten.&laquo;</p>
+
+<p>Wir widersprachen einander immer. Nur wenn die
+Ereignisse in der Sozialdemokratie die feindliche Haltung
+gegen die Revisionisten gar zu deutlich hervortreten
+lie&szlig;en, kam es vor, da&szlig; er selber sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Es ist doch vielleicht noch zu fr&uuml;h!&laquo;</p>
+
+<p>Jeder geringf&uuml;gige Anla&szlig; gen&uuml;gte, um in der Partei
+den heftigsten Streit hervorzurufen. So war einem der
+in die Dresdener Skandale verwickelten Revisionisten
+die Kandidatur eines s&auml;chsischen Wahlkreises angeboten
+worden. Alle h&ouml;heren Parteiinstanzen erkl&auml;rten sich
+dagegen; die Vernichtung der bisher geltenden Autonomie
+der Wahlkreise war die Folge, und nun entspann
+sich eine leidenschaftlich erregte Diskussion in der Presse,
+die auch in Volksversammlungen ihr Echo fand.</p>
+
+<p>&raquo;Die Minderheit hat sich der Mehrheit zu f&uuml;gen,&laquo;
+hie&szlig; es kategorisch auf Seite der Radikalen.</p>
+
+<p>&raquo;Die Sozialdemokratie hat jede Art von Macht<a name="Page_544" id="Page_544"></a>entfaltung,
+die die Minderheit in ihrer Existenz bedroht,
+zu bek&auml;mpfen, also zu allererst die in den eigenen
+Reihen. Es ist Despotie und nicht Demokratie, wenn
+die Rechte der Minderheit schutzlos sind,&laquo; lautete die
+Antwort auf Seite der Revisionisten.</p>
+
+<p>In einem anderen Fall vertrat ein Parteigenosse in
+bezug auf die Zollfragen theoretisch von den Ansichten
+der Partei abweichende Meinungen. Er wurde einem
+hochnotpeinlichen Verh&ouml;r unterzogen, und sein Ausschlu&szlig;
+aus der Partei war die Forderung vieler. Wortglaube,
+nicht Geistesglaube war f&uuml;r die Dogmatiker Voraussetzung
+der Parteizugeh&ouml;rigkeit.</p>
+
+<p>Ich h&ouml;rte &uuml;berall dieselbe Dissonanz heraus, die in
+mir t&ouml;nte: Selbstbehauptung gegen Selbsthingabe, &mdash; Individualismus
+gegen Sozialismus, &mdash; dieselbe Dissonanz,
+die dem Dresdener Konzert zugrundegelegen und
+keine Aufl&ouml;sung gefunden hatte. Ob mein Mann und
+mit ihm seine politischen Freunde wohl im Rechte
+waren, wenn sie behaupteten, da&szlig; die Einheit in der
+praktischen Tagespolitik &uuml;ber diese inneren Gegens&auml;tze
+hinweghelfen w&uuml;rde?</p>
+
+<p>Wenn ich meine Zweifel &auml;u&szlig;erte, so war es Reinhard
+vor allem, der sie auf Grund seiner Erfahrungen
+zu entkr&auml;ften suchte.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sollten bei uns in den Gewerkschaften lernen,&laquo;
+sagte er; &raquo;da besteht diese Einheit tats&auml;chlich und ist die
+Grundlage unseres wachsenden Einflusses geworden.&laquo;</p>
+
+<p>Ich erinnerte mich dann der Zeiten, wo er unter den
+Politikern der radikalsten einer gewesen war, und ich
+konnte mich der Empfindung des Bedauerns nicht erwehren:
+damals durchgl&uuml;hten die Ideale des Sozialis<a name="Page_545" id="Page_545"></a>mus
+seine Reden, heute schien nicht nur sein Handeln,
+sondern auch sein Denken den Horizont des Auges nicht
+mehr zu &uuml;berschreiten. Arbeiterrechte und Freiheiten
+rang er mit eiserner Energie dem Unternehmertum ab
+und richtete den Blick bei jedem Schritt vorw&auml;rts konsequent
+nur auf den n&auml;chsten Schritt. Darin lag vielleicht
+seine Kraft. Aber die Stimmung praktischer
+N&uuml;chternheit, die ihn beherrschte, war nicht die Atmosph&auml;re,
+in der die umfassenden Ideen der Menschheitsbefreiung
+sich entfalten.</p>
+
+<p>Mein Mann, der gerade in dieser Richtung auf die
+Forderungen des Tages das Heilmittel f&uuml;r die inneren
+Sch&auml;den der Partei zu finden glaubte, besch&auml;ftigte sich
+viel mit den Gewerkschaften.</p>
+
+<p>&raquo;Das sind die Kerntruppen,&laquo; meinte er, &raquo;ihre W&uuml;nsche
+und Bed&uuml;rfnisse m&uuml;ssen wir kennen, wenn wir einmal
+mit unserer Zeitschrift wirken wollen.&laquo;</p>
+
+<p>Wir besuchten ihre Versammlungen. Ruhige Arbeit
+herrschte hier. Mit tiefgr&uuml;ndiger Kenntnis wurden sozialpolitische
+Fragen behandelt, besonders die des Heimarbeiterschutzes,
+die damals im Mittelpunkt des Interesses
+standen. Es war bezeichnend f&uuml;r den Geist der
+Gewerkschaftsbewegung gewesen, da&szlig; fast zu gleicher
+Zeit, wo die Einladung zum Frauenkongre&szlig; von den
+Sozialdemokratinnen abgelehnt worden war, die Generalkommission
+der Gewerkschaften den Heimarbeiterschutz-Kongre&szlig;
+einberufen und die Interessenten aus b&uuml;rgerlichen
+Kreisen zur Teilnahme aufgefordert hatte.</p>
+
+<p>Aber wenn die bewu&szlig;te Beschr&auml;nkung der Bewegung
+auf der einen Seite einen erstaunlichen Grad von
+Wissen, von Energie, von Zielsicherheit zeitigte, so ent<a name="Page_546" id="Page_546"></a>wickelte
+sich auf der anderen Seite eine gewisse Engigkeit,
+ein Organisationsegoismus, der vom Standesd&uuml;nkel
+alter Zeiten nicht zu weit entfernt war. Ich agitierte
+selbst f&uuml;r die Gewerkschaften; ich verfocht in Versammlungen
+die Forderungen zum Heimarbeiterschutz, die wir
+im Kongre&szlig; aufgestellt hatten, ich wu&szlig;te, wie notwendig
+das alles war, aber ich h&auml;tte darin nicht aufzugehen
+vermocht, und es schien mir nicht unbedenklich, da&szlig; so
+viele t&uuml;chtige Kr&auml;fte, von der politischen Bewegung
+angewidert, mehr und mehr darin aufgingen. T&ouml;nte
+nicht der starke Pulsschlag der Zeit nur ged&auml;mpft hierher,
+wo sich Kr&auml;fte und Gedanken im engen Kreis der
+Organisationsarbeit, der Sozialreform bewegten? Lagen
+hier nicht die Keime einer gef&auml;hrlichen Entwicklung von
+Egoismus gegen Sozialismus?</p>
+
+<p>Allm&auml;hlich war's, als &ouml;ffneten sich mir immer neue
+Tore mit weiten Ausblicken auf unbekannte Gebiete der
+Arbeiterbewegung. Eine Schulvorlage, die von der
+preu&szlig;ischen Regierung schon lange in Aussicht gestellt
+war und auf Einf&uuml;hrung konfessioneller Schulen hinauslief,
+rief in der Presse und in Versammlungen eine
+lebhafte Kontroverse &uuml;ber Erziehungsfragen hervor. Der
+blo&szlig;e selbstverst&auml;ndliche Protest dagegen, die blo&szlig;e Forderung
+der Trennung von Schule und Kirche gen&uuml;gte
+nicht mehr. Wer sich aus Arbeiterkreisen an den Debatten
+beteiligte, der hatte sich auch mit den Details
+der Frage besch&auml;ftigt, und ein Verlangen nach weiterer
+Aufkl&auml;rung wurde laut. In einer kleinen Versammlung
+vor den Toren Berlins h&ouml;rte ich einen alten Arbeiter
+von Pestalozzi sprechen. Er hatte ihn nicht nur
+gelesen, sondern in sich aufgenommen und schilderte die<a name="Page_547" id="Page_547"></a>
+Arbeitsschule der Zukunft, die an Stelle der &raquo;Paukschule&laquo;
+der Gegenwart treten w&uuml;rde, mit demselben
+Enthusiasmus, wie ein anderer sich &uuml;ber den Zukunftsstaat
+verbreitet haben w&uuml;rde. Auf solche und &auml;hnliche
+Erfahrungen hin wagte ich es, die &raquo;p&auml;dagogische Provinz&laquo;,
+Goethes Erziehungsutopie, zum Gegenstand eines
+Vortrags zu machen. Ein Riesenauditorium, das nur
+aus Arbeitern bestand, folgte mit gespannter Aufmerksamkeit
+allem, was ich sagte, und in der Diskussion
+zeigte sich nicht nur, da&szlig; ich verstanden worden war,
+sondern auch wie viele ihren Goethe gelesen hatten.
+Jetzt fing ich an, mit erwachtem Interesse den nicht
+politischen Versammlungen nachzugehen, und ich entdeckte
+mit wachsendem Staunen suchende Menschen, nicht nur
+fordernde. Wo religi&ouml;se, wo philosophische Fragen angeschnitten
+wurden, war das Interesse am st&auml;rksten.
+Jener brutale philosophische Materialismus, der alles
+leugnete, was sich nicht mit H&auml;nden greifen lie&szlig;, und
+f&uuml;r die Masse der Sozialdemokraten um so mehr an
+die Stelle kirchlich-dogmatischen Glaubens getreten war,
+als sie ihn in naheliegender Begriffsverwirrung mit
+dem Grundprinzip des Marxismus, dem historischen
+Materialismus, zusammengeworfen hatten, beherrschte
+nicht mehr so uneingeschr&auml;nkt wie fr&uuml;her die Gem&uuml;ter.
+Der Unglaube, der geblieben war und neben alles Unabweisbare
+sein Fragezeichen aufrichtete, schien erf&uuml;llt
+von Sehnsucht und Heimweh.</p>
+
+<p>Junge und alte M&auml;nner begegneten mir, die in ihrer
+freien Zeit verschlangen, was ihnen an philosophischen
+Schriften erreichbar war: neben Kant und Schopenhauer
+das seichteste Gew&auml;sch sogenannter Popularphilo<a name="Page_548" id="Page_548"></a>sophie,
+neben Dietzgen, dem Parteiphilosophen, allerhand
+theosophische, selbst spiritistische Schriften. In der Qual,
+mit der sie immer wieder versuchten, die geistige Vernachl&auml;ssigung
+ihrer Jugendjahre zu &uuml;berwinden, die
+Grundlagen des Denkens und Wissens, die ihnen fehlten,
+nachzuholen, lag eine gr&ouml;&szlig;ere Tragik als in der leiblichen
+Not.</p>
+
+<p>&raquo;Wir sind alle gute Sozialdemokraten,&laquo; sagte mir
+einmal ein &auml;lterer Mann, der es vom einfachen Arbeiter
+zum einflu&szlig;reichen Gewerkschaftsbeamten gebracht
+hatte, &raquo;und der Sozialismus ist das, was uns zusammengeschwei&szlig;t
+hat, uns im Kampf gegen die Feinde
+un&uuml;berwindbar macht; aber nun will doch jeder auch
+etwas f&uuml;r sich sein.&laquo;</p>
+
+<p>Das war der Wunsch nach Pers&ouml;nlichkeit, der sich
+regte, die Reaktion gegen die geistige Nivellierung, die
+die St&auml;rke und die Schw&auml;che des Sozialismus war.</p>
+
+<p>Und alles W&uuml;nschen und Suchen ging in die Irre.
+Niemand antwortete darauf, niemand sprang hinzu, um
+Taumelnde zu halten, Blinde zu f&uuml;hren. Eint&ouml;nig, wie
+die Zukunftsprophezeiungen der ersten Christen, klang
+ihnen aus dem Munde ihrer F&uuml;hrer immer dieselbe
+Formel entgegen:</p>
+
+<p>&raquo;Die &Uuml;berwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung
+durch den Klassenkampf bringt allen Erl&ouml;sung.&laquo;</p>
+
+<p>Sie f&uuml;hlten mehr, als da&szlig; es ihnen deutlich zum Bewu&szlig;tsein
+kam: &Uuml;ber die Befreiung von Not und Elend
+hinaus mu&szlig; es ein pers&ouml;nliches Ziel geben, f&uuml;r das die
+Erreichung dieses ersten, rohesten nichts als der Ausgangspunkt
+ist. W&uuml;rden sie im Suchen danach nicht
+auf Abwege geraten, sich nicht entfernen vom Wege,
+<a name="Page_549" id="Page_549"></a>der notwendig zuerst zu jener ersten Etappe f&uuml;hren
+mu&szlig;te?</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>In Ru&szlig;land warf die Revolution ihre Brandfackel
+in St&auml;dte und D&ouml;rfer. Die Bl&uuml;te der Jugend,
+die geistige Elite des Landes trugen die Fahne
+voraus, und die schwerf&auml;llige Masse des Riesenvolkes
+geriet in eine ungeheure Bewegung. Selbst die Bauern
+in ihren einsamen Steppen gr&uuml;&szlig;ten das Licht, das sie
+flammen sahen, als ihren Befreier. Hunderte fielen,
+Hunderte verschwanden im grausigen Dunkel russischer
+Zitadellen, Hunderte wurden in Ketten in die Bergwerke
+Sibiriens verschleppt, aber Tausende f&uuml;llten die L&uuml;cken
+wieder aus, die ihr Verschwinden gerissen hatte. Die
+Zeit forderte Helden, und sie wuchsen empor; das Leben
+galt ihnen nichts mehr, wo der Tod die Saat der Freiheit
+war. Das gro&szlig;e Reich, der Hort der europ&auml;ischen
+Reaktion, schien in seinen Grundvesten ersch&uuml;ttert. Vor
+Arbeitern und Bauern, vor Studenten und Frauen
+streckte der Absolutismus die Waffen. Wir sahen, wie
+der Himmel &uuml;ber der Grenze sich r&ouml;tete. Und vielen,
+auf deren Seelen der h&auml;&szlig;liche Parteizank lastete, die sich
+ern&uuml;chtert f&uuml;hlten durch den langen staubigen Weg, den
+sie an Stelle des Schlachtfeldes gefunden hatten, wurde
+der Glanz zu einem Hoffnungsschimmer.</p>
+
+<p>Von der Weltenwende der russischen Revolution,
+von dem Zusammenbruch des Zarismus sprachen prophetisch
+die Redner in unseren politischen Versammlungen.</p>
+
+<p>&raquo;Wir leben in den Tagen der glorreichen russischen<a name="Page_550" id="Page_550"></a>
+Revolution&nbsp;&mdash;,&laquo; damit wurden die N&ouml;rgler und Zweifler
+niedergeschlagen.</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Sie nicht, da&szlig; die Zeit gekommen ist, die
+Marx voraussah, wo die Evolution in die Revolution
+umschl&auml;gt&nbsp;&mdash;?&laquo;</p>
+
+<p>Daran entflammte sich die Begeisterung der Massen.
+Meine Empfindung, meine Phantasie war auf ihrer
+Seite, meine Hoffnung entz&uuml;ndete sich daran.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Oft, wenn ich als Kind am Weihnachtsabend
+erwartungsvoll im dunkeln Zimmer sa&szlig;, hatte
+der Lichtstrahl, der aus dem Raum daneben,
+wo die Mutter den Baum putzte, durch das Schl&uuml;sselloch
+drang, mir die ganze Seele erhellt und alle Angst vor
+der Finsternis um mich vertrieben. So war mir jetzt
+zumut: es drang ein Lichtstrahl in das Dunkel. Noch
+kannte ich seine Quelle nicht; nur da&szlig; er da war,
+bannte die Furcht.</p>
+
+<p>Heinrich hatte recht: es gab f&uuml;r uns nur eine Aufgabe:
+die Neue Gesellschaft wieder ins Leben zu rufen,
+durch sie zusammenzufassen, was in der Arbeiterbewegung
+nach allen Richtungen auseinanderzuflie&szlig;en drohte: den
+geistigen Hunger der Massen, die praktische Arbeit der Gewerkschaften
+und Genossenschaften, die Schwungkraft der
+k&auml;mpfenden Partei. Und wie sie auf dem Wege zu einer
+neuen tieferen Einheit Richtung geben sollte, so sollte sie im
+Kreise der intellektuellen Jugend dem Sozialismus Anh&auml;nger
+werben. Wir bedurften dieser Jugend, das lehrte
+uns Ru&szlig;land, das predigten uns die stummen Lippen all
+der Suchenden, die der geistigen F&uuml;hrer entbehrten.<a name="Page_551" id="Page_551"></a>
+&raquo;Die Wissenschaft und die Arbeiter&laquo;, &mdash; ein Kind
+dieses Bundes war der Sozialismus gewesen, ihn zu
+zerst&ouml;ren und zu verleugnen war der eigentliche Parteiverrat.</p>
+
+<p>Nun war es nicht mein Mann, nun war ich es, die
+zuerst wieder von unserer Zeitschrift sprach. Und was
+ich so lange entbehrt hatte, geschah: Heinrichs verd&uuml;sterte
+Z&uuml;ge erleuchteten sich wie von innen heraus.
+Jetzt endlich kamen die Stunden innerer Gemeinschaft
+zur&uuml;ck, und im &Uuml;berschwang der Freude glaubte ich das
+Mittel wieder gefunden, das auch die klaffenden Wunden
+unserer Ehe schlie&szlig;en w&uuml;rde. In gemeinsamer Arbeit,
+mit demselben gro&szlig;en Ziel vor Augen w&uuml;rden wir
+enger, unaufl&ouml;slicher zusammenwachsen.</p>
+
+<p>Ein Umstand half uns, mit etwas gr&ouml;&szlig;erer Zuversicht
+an die Arbeit zu gehen. Meine Schwester, eine der
+sechs Erben der verstorbenen Tante, hatte, emp&ouml;rt &uuml;ber
+die mir widerfahrene Ungerechtigkeit, versucht, die Annullierung
+des letzten Testaments, das meine Enterbung
+aussprach, durchzusetzen. Und als die Verwandten einm&uuml;tig
+erkl&auml;rt hatten, den letzten Willen der Toten respektieren
+zu m&uuml;ssen, tat sie allein, was sie von den
+anderen verlangt hatte, und verzichtete in Anerkennung
+meines Anspruchs auf den sechsten Teil ihres Erbes zu
+meinen Gunsten. Es war zun&auml;chst nur wenig, was ich
+bekam, &mdash; der gr&ouml;&szlig;te Teil des Verm&ouml;gens lag in Grundst&uuml;cken
+fest, &mdash; aber f&uuml;r uns, die wir von Anfang an
+mit einer so geringen Summe rechnen mu&szlig;ten, da&szlig;
+kaum ein anderer daraufhin den Mut gehabt h&auml;tte,
+eine Zeitschrift zu gr&uuml;nden, war es eine willkommene
+Hilfe. Nur ganz fl&uuml;chtig dachte ich daran, die paar
+<a name="Page_552" id="Page_552"></a>tausend Mark f&uuml;r meinen Jungen festlegen zu wollen, &mdash; ich
+err&ouml;tete dabei &uuml;ber mich selbst. Dr&uuml;ben, im
+Osten, opferten sie ihr Leben ihrer Sache, und ich
+k&ouml;nnte mit dem lumpigen Gelde knausern!</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Es war ein frohes Arbeiten damals. Wir fanden
+Mitarbeiter im eigenen Lager, die unsere
+Ideen teilten, wir fanden aber auch K&uuml;nstler
+und Schriftsteller, die nicht abgestempelte Genossen waren
+und mit Freuden die Gelegenheit ergriffen, einmal zum
+Volk zu sprechen. Und zuerst leuchteten uns &uuml;berall die
+aus den schwarzen Schornsteinen glutrot aufsteigenden
+Flammen der Neuen Gesellschaft entgegen.</p>
+
+<p>Da&szlig; innerhalb der Parteiorganisationen schon gegen
+uns gehetzt, vor einem Abonnement unserer Zeitschrift
+gewarnt wurde, da&szlig; uns die Genossen wieder als &raquo;Gesch&auml;ftssozialisten&laquo;
+&ouml;ffentlich an den Pranger stellten, &mdash; daf&uuml;r
+hatten wir nur ein Achselzucken. Sie glaubten,
+wir wollten w&uuml;hlen, kritisieren; sie w&uuml;rden sich bald
+eines Besseren belehren lassen, denn wir dachten nur
+daran, aufzubauen. Am Himmel der Zeit stiegen Sturmwolken
+auf, und wer wetterkundig war, der sah dahinter
+erfrischte Luft, zu neuem Segen durchtr&auml;nkte
+Erde.</p>
+
+<p>Der Strom der russischen Revolution, der dr&uuml;ben
+alles mit sich ri&szlig;, schien zuerst an Deutschland vor&uuml;berzubrausen,
+als w&auml;re die Grenze ein Felsengebirge. Allm&auml;hlich
+aber begannen seine Fluten Tunnel zu bohren,
+und die deutsche Reaktion warf angstvoll W&auml;lle auf.
+In den Einzelstaaten kam es zu Wahlrechtsverschlech<a name="Page_553" id="Page_553"></a>terungen,
+und die Angriffe auf das allgemeine Reichstagswahlrecht
+wurden lauter. Unter dem Deckmantel
+der scheinbar harmlosen Schulvorlage ging der preu&szlig;ische
+Landtag darauf aus, mit den Seelen der Kinder
+die Zukunft dem Fortschritt zu entwinden. Doch das
+Proletariat lernte von den russischen Freiheitsk&auml;mpfern.
+Zum erstenmal in Deutschland eroberten sich die Arbeiter
+die Stra&szlig;e zu gewaltigen Massendemonstrationen.
+In Leipzig, in Dresden, in Chemnitz durchzogen Tausende
+und Abertausende, dem Polizeiaufgebot trotzend,
+die Stadt. Und wenn sie auch der Hartn&auml;ckigkeit der
+Regierung nichts abzutrotzen vermochten, sie f&uuml;hlten
+sich nicht geschlagen, denn die Siege jenseits der Grenzen
+st&auml;rkten immer wieder ihren Mut: in dunkeln Massen,
+dicht gedr&auml;ngt, mit einem Schweigen, das mehr als
+drohende Rufe von finsterer Entschlossenheit zeugte, war
+die wiener Partei vor dem Parlament aufmarschiert,
+w&auml;hrend in ganz &Ouml;sterreich die Arbeit ruhte, und eroberte
+im gleichen Augenblick eine Wahlreform, die vor
+wenigen Wochen noch von der Regierung abgelehnt
+worden war. Und angesichts der blutgetr&auml;nkten Stra&szlig;en
+Petersburgs, der rauchenden Tr&uuml;mmer baltischer Schl&ouml;sser
+versprach der russische Zar dem Volke die Verfassung.</p>
+
+<p>Jetzt galt es auch in Preu&szlig;en, gegen die Hochburg
+der Reaktion Sturm zu laufen: gegen den Landtag.
+Wir sch&uuml;rten in unserer Zeitschrift mit allen Mitteln
+den Brand.</p>
+
+<p>&raquo;Trotz aller Anerkennung des stark pulsierenden Lebens,
+das in den Spalten der Neuen Gesellschaft herrscht,&laquo;
+schrieb mir Romberg damals, &raquo;bleibt Ihre Schornsteinzeitung
+mir unsympathisch, &mdash; jetzt vollends, wo ich mit
+<a name="Page_554" id="Page_554"></a>aufrichtiger Trauer sehe, da&szlig; Sie jene Vornehmheit
+preisgeben, deren Aufrechterhaltung durch alle F&auml;hrnisse
+proletarischer Versuchung mir bisher so bewundernswert
+erschien. Den ganzen giftigen Zorn der Renegaten
+sch&uuml;tten Sie &uuml;ber Ihre eigenen Klassengenossen, die
+Junker, aus.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;&Uuml;ber Ihren Geschmack streite ich nicht mit Ihnen,&laquo;
+antwortete ich, &raquo;er f&uuml;hrt uns, f&uuml;rchte ich, weit voneinander.
+Aber mir die Preisgabe der Vornehmheit vorzuwerfen,
+dazu haben Sie kein Recht. Gerade weil ich
+Aristokratin war und blieb, wei&szlig; ich zu scheiden zwischen
+dem Adligen und dem Junker. Die Hutten und Berlichingen,
+die Mirabeau und Lafayette, die Struve und
+Krapotkin, &mdash; das waren Aristokraten, das hei&szlig;t freie
+Herren, keine F&uuml;rstenknechte, keine Sklaven des Herkommens.
+Ich bin stolz, zu ihnen zu geh&ouml;ren und werde,
+wie sie, bis zum letzten Atemzug gegen die Junker, das
+hei&szlig;t die Dienstmannen, k&auml;mpfen.&laquo;</p>
+
+<p>Im Abgeordnetenhause erkl&auml;rte Graf Roon: &raquo;Wenn
+jemals die Regierung daran denken sollte, uns in
+Preu&szlig;en die geheime Wahl zuzumuten, so w&uuml;rden wir
+zur sch&auml;rfsten Opposition &uuml;bergehen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Auf das nachdr&uuml;cklichste lege ich dagegen Verwahrung
+ein, da&szlig; das allgemeine geheime Wahlrecht als
+Wahlrecht der Zukunft hingestellt wird,&laquo; sekundierte ihm
+Herr von Manteuffel. H&uuml;ben und dr&uuml;ben schlossen sich
+die Reihen der K&auml;mpfer. Sollte die Schlacht schon bevorstehen?</p>
+
+<p>In den K&ouml;pfen der Parteigenossen spukte diese Frage,
+der die andere auf dem Fu&szlig;e folgte: wie bereiten wir
+uns vor? Das Mittel immer wiederholter Arbeits<a name="Page_555" id="Page_555"></a>einstellungen
+hatte sich in Ru&szlig;land als das eindrucksvollste
+erwiesen. Es wurde nun auch in der deutschen
+Partei er&ouml;rtert. Es trennte die Geister nach einem
+Schema, auf das die Bezeichnung Revisionisten und
+Radikale nicht mehr passen wollte. Mein Temperament
+ri&szlig; mich r&uuml;ckhaltlos auf die Seite derer, die den Massenstreik
+verteidigten; mein Mann stand im entgegengesetzten
+Lager, wo die Gewerkschafter sich vereinigt hatten.
+Auch die Ansichten unserer Mitarbeiter gingen auseinander.</p>
+
+<p>&raquo;Glauben Sie, es l&auml;&szlig;t sich beschlie&szlig;en, &uuml;bermorgen
+nachmittag um vier in den Massenstreik einzutreten?&laquo;
+h&ouml;hnte Reinhard. &raquo;Revolutionen sind keine Paraden, die
+vorher einexerziert werden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber die Truppen m&uuml;ssen daf&uuml;r vorbereitet sein
+wie f&uuml;r die Kriege,&laquo; entgegnete einer unserer Mitarbeiter;
+&raquo;wir m&uuml;ssen den Gedanken in die K&ouml;pfe h&auml;mmern,
+damit er zur rechten Zeit zur Tat reift.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Von unseren drei Millionen W&auml;hlern sind nur viermalhunderttausend
+politisch organisiert, und von zw&ouml;lf
+Millionen Arbeitern nur anderthalb Millionen gewerkschaftlich!&laquo;
+rief Reinhard aus. &raquo;Mir scheint, wir m&uuml;ssen
+zuerst die K&ouml;pfe<em class="spaced"> haben</em>, ehe wir daran denken k&ouml;nnen,
+eine Idee in sie hineinzuh&auml;mmern.&laquo;</p>
+
+<p>Das Feuer meiner Begeisterung verflog angesichts des
+neu entfachten theoretischen Streites, der bei uns Deutschen
+so oft an Stelle des Handelns tritt. Die Demonstrationen
+gegen den preu&szlig;ischen Landtag beschr&auml;nkten
+sich auf ein paar gro&szlig;e Versammlungen, denen erst das
+Aufgebot von Polizei und Milit&auml;r Bedeutung verlieh.
+Die Schulvorlage wurde angenommen. Graf B&uuml;lows<a name="Page_556" id="Page_556"></a>
+Politik der Ablenkung des Volksinteresses bew&auml;hrte sich
+wieder einmal: die Blicke aller derer, die nicht zu unseren
+Kerntruppen geh&ouml;rten, richteten sich wie hypnotisiert
+auf die internationalen Verwickelungen. Von der
+feindseligen Verstimmung sprach der Reichskanzler, als
+die neue Flottenvorlage dem Reichstag zuging: &raquo;Deutschland
+mu&szlig; stark genug sein, sich im Notfall allein behaupten
+zu k&ouml;nnen!&laquo;</p>
+
+<p>Von dem Ernst der Zeit, von der Notwendigkeit, eine
+stets schlagbereite Armee zu haben, sprach der Kaiser.
+So wurde gegen die revolution&auml;re die patriotische Stimmung
+ausgespielt.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wir hatten gearbeitet, den Blick krampfhaft
+vorw&auml;rts gerichtet, besinnungslos. Wir
+hatten unser Programm erf&uuml;llt, waren
+jeder tieferen Volksregung nachgegangen; es hatte an
+aufrichtiger Anerkennung nicht gefehlt, und trotz allen
+lauten und leisen W&uuml;hlens gegen uns war in kurzer
+Zeit ein Stamm von Lesern gewonnen <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'werden'">worden</ins>. Aber
+die Kosten der Zeitschrift &uuml;berstiegen bei weitem die
+Einnahmen. Wir konnten nicht l&auml;nger die Augen davor
+verschlie&szlig;en, da&szlig; unsere Mittel auf einen winzigen
+Rest zusammengeschmolzen waren.</p>
+
+<p>&raquo;Drei Jahre m&uuml;ssen Sie aushalten k&ouml;nnen, dann
+haben Sie sich durchgesetzt,&laquo; sagte uns ein treuer Genosse,
+der zugleich ein guter Gesch&auml;ftsmann war.</p>
+
+<p>&raquo;Drei Jahre!&laquo; wiederholte ich in Gedanken. &raquo;Wo wir
+kein Vierteljahr mehr gesichert sind!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wir d&uuml;rfen die Flinte nicht ins Korn werfen, heute
+<a name="Page_557" id="Page_557"></a>weniger als je,&laquo; erkl&auml;rte mein Mann; &raquo;denn jetzt sch&auml;digen
+wir dadurch die Sache.&laquo;</p>
+
+<p>Die Furcht fl&uuml;sterte mir zu: &raquo;Gib auf, solang es
+noch Zeit ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Heinrich ertr&uuml;ge es nicht,&laquo; antwortete die Stimme
+meines Herzens.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Um jene Zeit kam meine Schwester nach Berlin
+zur&uuml;ck. Sie war in einem Sanatorium
+gewesen und hatte dann eine lange
+Seereise gemacht.</p>
+
+<p>&raquo;Nun bin ich heil und gesund,&laquo; damit trat sie wieder
+vor mich hin, &raquo;und jetzt komme ich zu dir und will
+arbeiten.&laquo; Mit ungl&auml;ubigem L&auml;cheln sah ich sie an.
+&raquo;Meinst du etwa, ich hielte auf die Dauer solch zweckloses
+Leben aus?&laquo; schmollte sie, weil ich sie nicht ernst
+nehmen wollte.</p>
+
+<p>&raquo;Im Sanatorium war einer mein Tischnachbar, der
+ein heimlicher Genosse ist,&laquo; fuhr sie zu plaudern fort.
+&raquo;Er holte nach, was du zu tun vers&auml;umtest; gab mir
+B&uuml;cher und Zeitungen und kl&auml;rte mich auf. Ich bin
+&uuml;berzeugte Sozialdemokratin.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber Ilse!&laquo; lachte ich. &raquo;Du?! Die &Auml;sthetin?! Du
+mit deinem Grauen vor dem P&ouml;bel?!&laquo;</p>
+
+<p>Nun wurde sie wirklich b&ouml;se. &raquo;Ist es so unwahrscheinlich,
+da&szlig; man sich entwickelt? &mdash; Bist du vielleicht
+als Genossin auf die Welt gekommen?! &mdash; Ich bildete
+mir ein, dir mit dieser Nachricht eine besondere Freude
+zu machen, und nun glaubst du mir nicht! Aber ich
+<a name="Page_558" id="Page_558"></a>werde dir beweisen, wie ernst ich es meine: noch heute
+will ich mich dem Vertrauensmann meines Wahlkreises
+vorstellen, ich werde sogar Flugbl&auml;tter austragen, wenn
+er mich brauchen kann.&laquo;</p>
+
+<p>Ich war noch ganz benommen von der erstaunlichen
+Wandlung meiner Schwester, als Heinrich sie begr&uuml;&szlig;te.
+Er fand sich rascher in die ver&auml;nderte Situation.</p>
+
+<p>&raquo;Da h&auml;tten wir ja eine neue Mitarbeiterin,&laquo; sagte
+er lebhaft.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, &mdash; ob ich aber schreiben kann?!&laquo; meinte sie
+z&ouml;gernd.</p>
+
+<p>&raquo;Sind nicht alle ihre Briefe druckreifes Manuskript?&laquo;
+wandte er sich an mich. &raquo;Und pr&auml;destiniert sie nicht ihre
+ganze Vergangenheit, gerade das wichtige, noch so sehr
+vernachl&auml;ssigte Gebiet der k&uuml;nstlerischen Volkserziehung
+zu dem ihren zu machen?&laquo;</p>
+
+<p>Alles Fremde, das seit Jahren zwischen uns gestanden
+hatte, war jetzt vergessen. Die kleine Ilse war wieder
+mein Kind, wie einst, da sie nichts so gerne h&ouml;rte wie
+meine Geschichten, mit nichts spielen mochte als mit
+den Spielen, die ich erfand. Ich streckte ihr beide H&auml;nde
+entgegen:</p>
+
+<p>&raquo;Du brauchst keine Flugbl&auml;tter auszutragen, um zu
+beweisen, da&szlig; du zu uns geh&ouml;rst. In der Partei ist
+viel Raum f&uuml;r Kr&auml;fte wie die deinen.&laquo;</p>
+
+<p>Am Abend sah ich an Heinrichs gr&uuml;blerischem Gesichtsausdruck,
+da&szlig; irgendein Gedanke ihn besch&auml;ftigte.
+Er ging schweigsam im Zimmer auf und nieder. Endlich
+blieb er vor mir stehen: &raquo;Was meinst du, wenn
+wir Ilse aufforderten, sich an der Neuen Gesellschaft
+mit einem Kapital zu beteiligen?&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_559" id="Page_559"></a>Ich hob die H&auml;nde, als gelte es einer Gefahr zu
+begegnen.</p>
+
+<p>&raquo;Um Gottes willen nicht!&laquo; rief ich aus.</p>
+
+<p>&raquo;Du scheinst deiner Schwester wenig zuzutrauen,&laquo;
+entgegnete er stirnrunzelnd. &raquo;Da&szlig; wir alles aufs Spiel
+setzen, ist dir selbstverst&auml;ndlich; da&szlig; Ilse einen Bruchteil
+ihres Verm&ouml;gens opfern soll, kommt dir unm&ouml;glich vor.
+Und doch k&ouml;nnte das ihr geben, was ihr fehlt: einen
+ernsten Lebensinhalt, einen Antrieb zur Arbeit, die mehr
+ist als Laune und Spielerei.&laquo;</p>
+
+<p>Ich widersprach auf das heftigste: &raquo;Was wir tun
+und lassen, ist unsere Sache, aber die Verantwortung
+f&uuml;r Ilse d&uuml;rfen wir nicht auf uns nehmen. Niemals
+ertr&uuml;g' ich's, sie in unseren Ruin hineinzuziehen!&laquo;</p>
+
+<p>Heinrich brauste auf. &raquo;Wie kannst du von Ruin
+sprechen, wo uns nichts fehlt als die Mittel, noch
+einige Zeit auszuhalten, &mdash; wo wir in zwei, drei Jahren
+&uuml;ber das schlimmste hinaus sein werden! Hast du so
+gar keinen Glauben an die eigene Sache?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe ihn, Heinz, ich hab ihn gewi&szlig;&nbsp;&mdash;,&laquo; meine
+H&auml;nde pre&szlig;ten sich flehend ineinander, &raquo;&mdash;&nbsp;aber lieber
+will ich mir die Finger blutig schreiben, lieber will ich
+von Ort zu Ort gehen, um die Mittel f&uuml;r die Neue
+Gesellschaft zusammenzubringen, als da&szlig; ich mich an
+Ilse wende.&laquo;</p>
+
+<p>Mit gerunzelten Brauen sah Heinrich mich an. &raquo;Ich
+finde deinen Standpunkt kleinlich, &mdash; deiner und deiner
+Schwester unw&uuml;rdig. Sie wird sich freuen, mit einem
+Teil ihres &Uuml;berflusses etwas N&uuml;tzliches leisten zu k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>Aber ich lie&szlig; mich nicht &uuml;berzeugen. &raquo;La&szlig; uns wenigstens
+noch versuchen, ob sich nicht auf anderem Wege<a name="Page_560" id="Page_560"></a>
+Hilfe schaffen l&auml;&szlig;t,&laquo; bat ich. Heinrich schwieg, sichtlich
+verletzt.</p>
+
+<p>Alle Schritte, die er in den n&auml;chsten Wochen unternahm,
+waren umsonst. Immer n&auml;her r&uuml;ckte die Zeit,
+die uns vor die letzte Entscheidung stellte. Mich schauderte
+im Gedanken daran.</p>
+
+<p>Als ich ihn eines Abends wieder von einer vergeblichen
+Reise zur&uuml;ckkehren sah, &mdash; so m&uuml;de, so gebrochen,
+da hielt es mich nicht l&auml;nger: &raquo;Geh zu Ilse,&laquo;
+sagte ich.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>War es der Leichtsinn der Jugend, war es
+die &Uuml;berzeugungskraft der Reife, die Ilse
+ohne einen Augenblick des &Uuml;berlegens dem
+Vorschlag Heinrichs entsprechend handeln lie&szlig;? Wie kam
+es nur, da&szlig; in dem Augenblick, wo sie sich nicht nur
+im Denken, sondern auch im Handeln mit mir vereinte,
+ein kalter Reif auf die kaum wieder entfaltete Blume
+meiner Schwesterliebe fiel? Irgendeine Fessel, die die
+freie Bewegung meiner Glieder hemmte, wurde schmerzhaft
+angezogen.</p>
+
+<p>Eine Unrast der Arbeit packte mich, die mich jede
+ruhige Stunde als Unterlassungss&uuml;nde empfanden lie&szlig;.
+Selbst in den Augenblicken, wo die Sache, der ich diente,
+mich ganz zu packen schien, fiel mir ein, da&szlig; ich arbeiten
+mu&szlig;te, um das Geld meiner Schwester nicht zu verlieren.
+Da&szlig; die Arbeitsgemeinschaft mit meinem Mann unsere
+Liebe zueinander festigen sollte, &mdash; daran dachte ich kaum
+<a name="Page_561" id="Page_561"></a>mehr. Kam mir in hei&szlig;en N&auml;chten nach gehetzten Tagen
+die Erinnerung daran, so grauste mich's. Ich sa&szlig; meinem
+Mann gegen&uuml;ber, tagaus, tagein, &uuml;ber Manuskripte und
+Korrekturen gebeugt. Ich hatte keine Gedanken mehr,
+mich f&uuml;r den Geliebten zu schm&uuml;cken, keine Zeit mehr
+f&uuml;r das s&uuml;&szlig;e Spiel der Liebe, f&uuml;r Suchen und Finden,
+Zur&uuml;cksto&szlig;en und Wiedererobern. Nur f&uuml;r mein Kind
+stahl ich mir morgens und abends noch eine Stunde;
+aus der Frische seines Denkens und F&uuml;hlens flo&szlig; mir
+der Tropfen Lebensfreude, den ich brauchte, um weiter
+schaffen zu k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Meinen kleinen Haushalt &uuml;berlie&szlig; ich nun schon
+lange der Berta. Zuweilen wunderte ich mich wohl,
+da&szlig; er bei seiner Einfachheit so kostspielig war. Aber
+jede Spur von Mi&szlig;trauen lag mir fern. Opferte die
+Berta uns nicht ihre ganze Arbeitskraft? War sie es
+nicht, die unter Hinweis auf die entstehenden Kosten
+jede fremde Hilfe ablehnte und alles allein besorgte?</p>
+
+<p>Eines Tages sah ich ein goldenes Armband auf ihrem
+N&auml;htisch liegen. &raquo;Mein Onkel hat es mir zum Geburtstag
+geschenkt,&laquo; sagte sie.</p>
+
+<p>Bald darauf brachte die Portierfrau, als sie abwesend
+war, ein Paket f&uuml;r &raquo;Fr&auml;ulein Berta&laquo;, die Uhrkette sei
+darin, die sie sich durch sie habe besorgen lassen, f&uuml;gte
+sie erkl&auml;rend hinzu. Ich wurde stutzig und lie&szlig; mich in
+ein Gespr&auml;ch mit ihr ein.</p>
+
+<p>&raquo;Auch das Armband hat mein Mann besorgt,&laquo;
+schwatzte sie, &raquo;es kostete nur sechzig Mark. Und Fr&auml;ulein
+Berta kann sich wohl mal was selber g&ouml;nnen,
+nachdem sie immer das viele Geld nach Hause schickt.&laquo;</p>
+
+<p>Nach Hause?! dachte ich verbl&uuml;fft, ihr Vater war
+<a name="Page_562" id="Page_562"></a>doch, wie sie oft genug erz&auml;hlt hatte, in beh&auml;biger
+Lage. Nun verfolgte ich erst aufmerksam ihr Tun
+und Lassen. Im Lauf einer Woche hatte ich alle Beweise
+in der Hand: seit Jahren war ich von ihr betrogen
+worden. Im ersten Gef&uuml;hl der Emp&ouml;rung wollte
+ich ihre Unterschlagungen zur Anzeige bringen. Aber
+dann sch&auml;mte ich mich. War ich nicht die Schuldige
+gewesen? Ich, die ich dem einfachen Bauernm&auml;dchen
+eine Freiheit gelassen, eine Selbst&auml;ndigkeit aufgeb&uuml;rdet
+hatte, der sie geistig und moralisch nicht gewachsen war;
+ich, die ich sie aus Dankbarkeit mit Geschenken &uuml;berh&auml;uft
+hatte, die ihre Eitelkeit, ihre Habsucht erwecken
+mu&szlig;ten? Sie war f&uuml;r die Lebenssph&auml;re, in die sie
+zur&uuml;cktreten mu&szlig;te, bei mir und durch mich verdorben
+worden.</p>
+
+<p>Ich entlie&szlig; sie; ich bekannte meinem Mann meine
+Schuld. Von nun an mu&szlig;te ich mich um die t&auml;glichen
+Sorgen des Haushalts k&uuml;mmern, mu&szlig;te vor allem die
+Zeit er&uuml;brigen, um mit meinem Buben ins Freie zu
+gehen. Ich war viel zu &auml;ngstlich, um ihn sich selbst
+zu &uuml;berlassen. Wie m&uuml;de f&uuml;hlte ich mich, wenn ich
+abends schlafen ging! Wie zerschlagen, wenn ich
+morgens erwachte! Wie lange noch w&uuml;rde ich aushalten
+k&ouml;nnen?!</p>
+
+<p>Und mehr denn je verlangte unsere Arbeit die ganze
+Nervenkraft, die volle Anspannung des Willens. Ein
+neuer Parteiskandal forderte gebieterisch unsere Stellungnahme.
+Die Auseinandersetzungen &uuml;ber den Massenstreik
+hatten in einem Teil unserer Tagespresse wieder
+die Formen pers&ouml;nlichen Gez&auml;nks, gegenseitiger Verd&auml;chtigungen
+angenommen. Zur Emp&ouml;rung der radi<a name="Page_563" id="Page_563"></a>kalen
+Berliner vertrat das Zentralorgan der Partei den
+Standpunkt der Gewerkschaften, und obwohl der Jenaer
+Parteitag eine wenigstens &auml;u&szlig;ere Verst&auml;ndigung zwischen
+beiden Richtungen herbeif&uuml;hrte und auch die Pre&szlig;fehde
+zu schlichten schien, lie&szlig; sich Groll und Mi&szlig;trauen nicht
+durch Resolutionen beseitigen. Trotz aller gegenseitigen
+Versicherungen blieb die Mehrheit der Vorw&auml;rts-Redaktion,
+die ihre Ansichten weder dem Votum der Masse
+unterwerfen, noch sich zu einem Inquisitions-Tribunal
+hergeben wollte, des Revisionismus verd&auml;chtig. Kaum
+war der Parteitag vor&uuml;ber, als der Parteivorstand mit
+den Berlinern in Verhandlungen eintrat, deren Resultat
+die Entlassung und der Ersatz eines oder mehrerer Redakteure
+und die Neugestaltung der Mitarbeiterschaft
+&uuml;ber den Kopf der Redaktion hinweg sein sollte. Hinter
+verschlossenen T&uuml;ren, mit strengstem Schweigegebot f&uuml;r
+die Teilnehmer und &mdash; unter Ausschlu&szlig; der Angeklagten
+ging das alles vor sich. Ein Fehmgericht nach demselben
+Prinzip wie das, dem ich einmal seitens der
+Frauen unterworfen worden war. Wo war hier die
+Gleichheit, wo die Br&uuml;derlichkeit?! Als die Redaktion
+trotz aller Vorsichtsma&szlig;regeln von den Vorg&auml;ngen erfuhr
+und der Parteivorstand ihren Protest gegen ein
+allen Grunds&auml;tzen der Demokratie hohnsprechendes Verhalten
+schroff zur&uuml;ckwies, handelte sie, wie organisierte
+Arbeiter handeln, wenn der Unternehmer ihre Kameraden
+ohne sie zu h&ouml;ren mit Aussperrung bedroht: sie
+erkl&auml;rte sich in ihrer Mehrheit solidarisch, reichte ihre
+Entlassung ein und begr&uuml;ndete ihre Handlungsweise
+vor der &Ouml;ffentlichkeit. Mit gez&uuml;ckten Schwertern standen
+einander nun wieder zwei Richtungen in der Partei
+<a name="Page_564" id="Page_564"></a>gegen&uuml;ber. Aber die Masse vertrat nicht die Prinzipien
+der Demokratie, sondern die der Despotie.</p>
+
+<p>&raquo;Wie k&ouml;nnen wir noch mit freier Stirn unsere Ideale
+gegen&uuml;ber der Willk&uuml;rherrschaft monarchischen Absolutismus
+verteidigen,&laquo; schrieben wir in der Neuen Gesellschaft,
+&raquo;wie k&ouml;nnen wir die Selbstherrlichkeit des
+Unternehmertums, seinen r&uuml;cksichtslosen Herrenstandpunkt
+gegen&uuml;ber dem Arbeiter angreifen, wenn der Gegner
+uns mit den eigenen Waffen zu schlagen vermag? Wie
+k&ouml;nnen wir an den endlichen Sieg unserer Sache glauben
+und uns unterfangen, andere davon &uuml;berzeugen zu wollen,
+wenn die Ansichten einzelner, &mdash; hier des Parteivorstands,
+ganz besonders die Bebels, &mdash; zum Kredo erhoben
+werden und jeder Andersgl&auml;ubige der Ketzerei
+beschuldigt wird, &mdash; ungeh&ouml;rt, wie bei den Hexenprozessen?&nbsp;...
+Die Redakteure haben ihre Schuldigkeit getan,
+tun wir die unsere!&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Wie der Stein, der in den Teich geworfen wird,
+nicht nur weite und immer weitere Kreise zieht, sondern
+auch den Grund aufw&uuml;hlt, soda&szlig; dieser pl&ouml;tzlich
+in das klare Wasser schwarz und schlammig emporsteigt,
+so war es hier. Man hatte vergessen, den
+Grund zu s&auml;ubern und auszumauern, ehe der frische
+Quell des Sozialismus hineingeleitet wurde. Die
+Moral der b&uuml;rgerlichen Gesellschaft, die ihr das Christentum
+mit Feuer und Schwert und Verfolgung eingeimpft
+hatte, beherrschte alles menschliche Denken
+und F&uuml;hlen.</p>
+
+<p>&raquo;Besser unrecht leiden, als unrecht tun,&laquo; predigten
+salbungsvoll unsere Parteibl&auml;tter; also sich beugen, sich
+der Macht unterwerfen, Demut und Unterw&uuml;rfigkeit f&uuml;r
+<a name="Page_565" id="Page_565"></a>der Tugenden gr&ouml;&szlig;te erkl&auml;ren, &mdash; konnte, durfte das die
+Ethik des Sozialismus bleiben?</p>
+
+<p>Ich empfand das alles nur dumpf, wie einen Traum;
+ich hatte keine Zeit, Gedanken zu formen; ich hatte
+auch keine Kraft.</p>
+
+<p>Sonderbar, wie elend ich mich f&uuml;hlte. Als st&uuml;nde
+mir eine gro&szlig;e Krankheit bevor. Ich ballte die H&auml;nde,
+soda&szlig; die N&auml;gel mich in der Handfl&auml;che schmerzten: ich
+durfte nicht krank werden. Oft wenn ich mit meinem
+Sohn durch die Stra&szlig;en ging, &uuml;berfiel mich ein
+Schwindel. Dann lehnte ich mich an irgend eine
+Mauer, und er blieb vor mir stehen, die gro&szlig;en ernsten
+Augen &auml;ngstlich auf mich gerichtet. Und wenn ich
+abends mit irgend einer notwendigen N&auml;harbeit bei
+ihm war, und er mir mit all dem &uuml;berzeugten Pathos
+des Kindes vorlas, &mdash; M&auml;rchen und Gedichte, die
+feierlichsten am liebsten, &mdash; dann brauste es mir vor
+den Ohren, soda&szlig; ich kaum seine Stimme noch h&ouml;rte.
+Was war das nur?</p>
+
+<p>Meinem Mann verschwieg ich meinen Zustand. Mein
+Junge war mein Vertrauter und mein Verb&uuml;ndeter zugleich.
+Er hatte mir versprechen m&uuml;ssen, dem Vater
+nichts zu sagen.</p>
+
+<p>&raquo;Papachen hat soviel &Auml;rger, er soll sich nicht auch
+noch um mich Sorge machen!&laquo; &mdash; Und dies erste Zeichen
+eines freundschaftlichen Vertrauens seiner Mutter hatte
+ihn sichtlich reifer gemacht.</p>
+
+<p>Aber dann kam ein grauer Tag; der Regen klatschte
+unaufh&ouml;rlich an die Scheiben; um meinen Kopf lag es
+wie ein Band von Eisen. Pl&ouml;tzlich aber mu&szlig;te ich vom
+Stuhle springen, auf dem ich zusammengekauert gesessen
+<a name="Page_566" id="Page_566"></a>hatte; ein Gedanke traf mich, blendend wie ein Blitz.
+Wie hatte ich nur so lange fragen k&ouml;nnen, was mir
+fehlte: ich war guter Hoffnung. &raquo;Guter&laquo; Hoffnung?!
+Sehns&uuml;chtig hatte ich mir oft noch ein Kind gew&uuml;nscht,
+hatte, wenn ich meinen Buben ansah, es fast als ein
+Naturgebot empfunden, mehr seinesgleichen zu geb&auml;ren.
+Und jetzt? Wie anders f&uuml;hlte ich mich, als da ich ihn
+unter dem Herzen trug: schwach, schwerm&uuml;tig, arbeitsunf&auml;hig.
+Und ich mu&szlig;te doch arbeiten!</p>
+
+<p>Seit wir in dem letzten Parteikampf so energisch die
+Rechte der Minderheit vertreten hatten, regnete es Angriffe
+auf das &raquo;parteisch&auml;digende Treiben der Neuen
+Gesellschaft&laquo;. Auf wessen Tisch die rotleuchtende Flammenschrift
+unseres Blattes entdeckt wurde, der erschien schon
+verd&auml;chtig.</p>
+
+<p>Wenn meine Schwester kam, wurde mir hei&szlig; und
+kalt. Etwas wie Schuldbewu&szlig;tsein machte mich ihr
+gegen&uuml;ber immer scheuer. Wir mu&szlig;ten uns durchsetzen, &mdash; um
+jeden Preis! &mdash; Und ich bi&szlig; die Z&auml;hne zusammen
+und trug schweigend meine Qual, bis ich nicht
+mehr konnte.</p>
+
+<p>Meine &Auml;rztin machte ein ernstes Gesicht: &raquo;Sie m&uuml;ssen
+sich vollkommen ruhig halten, sich vor jeder Aufregung
+h&uuml;ten,&laquo; sagte sie mit scharfer Betonung.</p>
+
+<p>Ich verzog den Mund zu einem L&auml;cheln und ging
+heim, als schleppte ich eine Zentnerlast mit mir. Und
+wenn ich mich in irgend einen Erdenwinkel h&auml;tte verkriechen
+k&ouml;nnen, sie w&uuml;rde weiter dr&uuml;ckend auf mir liegen.
+Wen einmal die Sorge umstrickt, den h&auml;lt sie fest.</p>
+
+<p>Eine krankhafte Angst bem&auml;chtigte sich meiner. Ich
+f&uuml;rchtete mich vor dem keimenden Leben in mir wie
+<a name="Page_567" id="Page_567"></a>vor einem M&ouml;rder. Ich malte mir in dunkeln Nachtstunden
+den Augenblick schreckhaft aus, wo der Ruin
+vor der T&uuml;re stand.</p>
+
+<p>Und dann brach ich zusammen. Ehe das Kind in
+meinem Scho&szlig; Leben gewesen war, starb es. W&auml;hrend
+der langen dunkeln Stunden, die ich nun regungslos
+auf dem R&uuml;cken lag, richtete das Ungeborene
+zwei starre Augen auf mich, anklagend, richtend. Und
+ich beweinte es, als h&auml;tte es schon in meinen Armen
+gelegen.</p>
+
+<p>Als ich wieder aufstehen durfte, nahm ich aus meiner
+Gro&szlig;mutter Zeichenmappe ein kleines, in zarten Farben
+gemaltes Bild: ein K&ouml;pfchen mit wei&szlig;en Rosen bekr&auml;nzt, &mdash; ihr
+j&uuml;ngstes Kind, das gestorben war, ehe seine
+Lippen das erste &raquo;Mutter&laquo; zu lallen vermochten. Ich
+stellte es auf den Schreibtisch vor mich hin. Es sollte
+mich zu jeder Stunde daran erinnern, da&szlig; mein Kind
+zum Opfer gefallen war.</p>
+
+<p>Ich erholte mich schwer. Mir fehlte der Wille zur
+Kraft.</p>
+
+<p>Eines Abends sa&szlig; ich mit meinem Sohne zusammen
+unter der gr&uuml;numschirmten Lampe. Er war in das
+Buch vertieft, das aufgeschlagen vor ihm auf dem
+Tische lag.</p>
+
+<p>&raquo;Das mu&szlig;t du h&ouml;ren, Mama,&laquo; rief er aus; seine
+Augen gl&auml;nzten vor Entz&uuml;cken.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Nun geht in grauer Fr&uuml;he<br /></span>
+<span class="i0">Der scharfe M&auml;rzenwind,<br /></span>
+<span class="i0">Und meiner Qual und M&uuml;he<br /></span>
+<span class="i0">Ein neuer Tag beginnt ...&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>las er. In den Stuhl zur&uuml;ckgelehnt, h&ouml;rte ich ihm zu.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza"><p><a name="Page_568" id="Page_568"></a></p>
+<span class="i0">&raquo;Kein Dr&auml;uen soll mir beugen<br /></span>
+<span class="i0">Den Hochgemuten Sinn;<br /></span>
+<span class="i0">Ausduldend will ich zeugen,<br /></span>
+<span class="i0">Von welchem Stamm ich bin..&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Ich richtete mich auf. &raquo;Ausduldend will ich zeugen,
+von welchem Stamm ich bin,&laquo; wiederholte ich leise,
+nahm meines Kindes Kopf zwischen beide H&auml;nde und
+k&uuml;&szlig;te ihn auf die Stirn. Es war ein Gel&ouml;bnis.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_569" id="Page_569"></a></p>
+<h2><a name="Sechzehntes_Kapitel" id="Sechzehntes_Kapitel"></a>Sechzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>&raquo;Wie die Hasen auf der Treibjagd werden die
+Revolution&auml;re von den Soldaten zusammengeschossen,&laquo; &mdash; &raquo;f&uuml;nfzehntausend
+Gefallene
+bedecken Stra&szlig;en und Barrikaden&nbsp;&mdash;,&laquo; so meldete der
+Telegraph aus Moskau; &raquo;die Regierung hat uns betrogen!
+Der Zar hat sein Versprechen gebrochen! Die
+Knute der Kosaken herrscht wieder &uuml;ber uns,&laquo; &mdash; so
+klangen die Verzweiflungsschreie der Freiheitsk&auml;mpfer
+&uuml;ber die Grenze. Und schwer und dumpf gr&uuml;&szlig;ten die
+Glocken das Jahr 1906.</p>
+
+<p>Auf den eroberten Gebieten des Absolutismus halten
+unsere russischen Br&uuml;der ihre Siegeszeichen aufgepflanzt,
+und an ihnen waren die &uuml;ppigen Ranken unserer Hoffnung
+wuchernd emporgewachsen. Jetzt lagen sie am
+Boden. Die Soldaten der Reaktion traten darauf.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Und doch bedurften wir in dem Kampf, den
+wir f&uuml;hrten, der Siegeszuversicht. Ein <em class="antiqua">rocher
+de bronce</em> war Preu&szlig;en noch immer, dem
+er galt, denn als die Frage der Ab&auml;nderung des Dreiklassenwahlrechts
+im Landtag endlich zur Besprechung
+kam, da erkl&auml;rte die Regierung: das Reichstagswahl<a name="Page_570" id="Page_570"></a>recht
+ist unannehmbar, und f&uuml;gte der Absage durch den
+Mund des Ministers von Bethmann Hollweg die versteckte
+Drohung hinzu: &raquo;das Gef&uuml;hl der Unlust besteht
+ja auch im Reiche, wo wir noch dieses angeblich ideale
+Wahlrecht besitzen.&laquo; Noch! &mdash; Wir hatten achtzig Abgeordnete
+im Parlament, und doch w&uuml;rde Preu&szlig;ens Reaktion
+sie mit einer Handbewegung beiseite schieben. Es
+klang wie ein Hohn unserer Ohnmacht, wenn der Kanzler
+die Machtmittel des Staats f&uuml;r ausreichend erkl&auml;rte,
+um &raquo;P&ouml;belexzesse zu verhindern.&laquo; Er hatte recht. Es
+kam zu keinen Exzessen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Die Einf&uuml;hrung des Zolltarifs stand vor der
+T&uuml;re. Mit neuen Steuern und Abgaben
+drohte eine Reichsfinanzreform. Im Hintergrund
+lauerte das Raubtier des Kriegs, und die Diplomaten,
+die mondelang in Algeciras beisammensa&szlig;en, um
+es in Ketten zu legen, schienen es statt dessen gro&szlig; zu
+f&uuml;ttern. F&uuml;r neue Kriegsschiffe agitierten die Regierungsparteien
+und malten den Weltbrand glutrot auf
+die leere Leinwand der Zukunft. Aber das Volk h&ouml;rte
+gleichg&uuml;ltig zu, als ginge es das alles nichts an. Wo
+es im Laufe der letzten Jahre bei Nachwahlen zum
+Reichstag um sein Verdikt gefragt worden war, hatte
+es Junkern und Junkergenossen das Feld &uuml;berlassen.</p>
+
+<p>&raquo;Mir ist eine kleine Schar &uuml;berzeugter Genossen
+lieber, als eine gro&szlig;e Menge unsicherer Mitl&auml;ufer,&laquo;
+hatte Bebel wiederholt gesagt. Das sollte ein Trost
+sein und war bei Licht besehen nur die Konstatierung
+einer Tatsache, denn der Zuzug aus b&uuml;rgerlichen Kreisen
+<a name="Page_571" id="Page_571"></a>hatte sich verlaufen. Freiheit, Gleichheit, Br&uuml;derlichkeit, &mdash; das
+war der Trunk gewesen, an dem sich deutsche
+Tr&auml;umer von jeher berauscht hatten. Diesmal war er
+von der Sozialdemokratie kredenzt worden. Als sie
+aber erwachten und die Welt noch immer nicht ihren
+Dichteridealen entsprach, und die Genossen die Ritter
+vom heiligen Gral nicht waren, die sie in ihnen gesehen
+hatten, da versanken sie wieder in politische Gleichg&uuml;ltigkeit.</p>
+
+<p>In die Maienpracht junger Hoffnungen war der Reif
+der Entt&auml;uschung gefallen. Es schien fast, als ob alle
+Knospen daran sterben sollten.</p>
+
+<p>An jenem &raquo;roten Sonntag&laquo;, der in ganz Preu&szlig;en
+der Demonstration gegen das Dreiklassenwahlrecht gewidmet
+war, sprach ich in einem kleinen Fabrikort
+Brandenburgs. Es war ein tr&uuml;ber Abend; der Saal
+lag abseits zwischen hohen Mauern in einem feuchten
+Grunde. Mein Appell an die Begeisterung, an die
+Widerstandskraft verhallte wirkungslos. Und es war
+nicht nur meine Schuld, da&szlig; das Feuer nicht brennen
+wollte. Regenschauer hatten das Holz na&szlig; gemacht, so
+da&szlig; es nur knisterte. Wir protestierten gemeinsam gegen
+die preu&szlig;ische und gegen die russische Reaktion, aber
+mir schien, als st&uuml;nde hinter diesem Protest nicht der
+Wille zur Tat, sondern ein resigniertes Gef&uuml;hl der
+Ohnmacht.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_572" id="Page_572"></a></p>
+
+<p>Die Neue Gesellschaft f&uuml;hrte die Sprache der
+Kraft. War sie nicht mehr die der Massen,
+da&szlig; sie sie nicht h&ouml;ren wollten?</p>
+
+<p>Fr&uuml;hling und Sommer zogen an unseren Fenstern
+vorbei. Wir sa&szlig;en geb&uuml;ckt am Schreibtisch und wagten
+nicht, einander in das Antlitz zu schauen. Zuweilen war
+mir wie einem, der in eine H&uuml;tte mit blinden Scheiben
+gesperrt ist und nichts sieht als den Staub und die
+D&uuml;rftigkeit der n&auml;chsten N&auml;he. Dann durstete ich so
+sehr nach Luft und Sonne, da&szlig; ich jeden Hauch, der
+durch die T&uuml;re drang, jeden Strahl, der sich hinein
+verirrte, wie einen Boten der Erl&ouml;sung begr&uuml;&szlig;te.</p>
+
+<p>Meine Schwester hatte sich verlobt.</p>
+
+<p>&raquo;Jetzt erst wei&szlig; ich, was Liebe ist,&laquo; hatte sie mir mit
+gl&uuml;henden Wangen und hei&szlig;en Augen zugefl&uuml;stert. Das
+Leben war ihr viel schuldig geblieben, darum glaubte
+ich freudig daran, und ihr Gl&uuml;ck lie&szlig; mich ihr gegen&uuml;ber
+freier atmen, darum unterdr&uuml;ckte ich jeden Zweifel.
+Sie f&uuml;hrte uns ihren Verlobten zu, einen jungen
+Arzt, hinter dessen auffallender Schweigsamkeit ich den
+Menschen zu sehen mich zwang, den sie lieben konnte.
+Sie heirateten bald. Auf den H&ouml;hen der Schw&auml;bischen
+Alb &uuml;bernahm er die Leitung eines Sanatoriums. Sie
+schrieb Briefe, die ein einziger Jubel waren, und sandte
+Bilder mit Bergen und W&auml;ldern und weiten Blicken
+&uuml;ber friedliche T&auml;ler. Aber es fiel auf meine Seele
+nur wie ein Sonnenstrahl aus dem Gew&ouml;lk, das sich
+danach nur noch dichter und dunkler zusammenzog.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_573" id="Page_573"></a></p>
+
+<p>Um jene Zeit erging von einem aus den Anh&auml;ngern
+der verschiedensten Parteien bestehenden
+englischen Komitee, dem unter anderen
+auch eine gro&szlig;e Zahl englischer Parlamentsmitglieder
+angeh&ouml;rte, an die Zeitungen aller deutschen Parteien
+die Einladung zu einem Besuch nach England. Angesichts
+der gewissenlosen Hetze und der Kriegstreiberei
+h&ouml;fisch-milit&auml;rischer Kreise und ihrer Werkzeuge in der
+Presse sollte diese Veranstaltung dazu dienen, die wahre
+Gesinnung des englischen Volkes kennen zu lernen und
+die freundschaftlichen Beziehungen der beiden L&auml;nder
+wieder f&ouml;rdern zu helfen. Keir Hardie, der F&uuml;hrer der
+englischen Arbeiterpartei, hatte die Einladung mit unterzeichnet.
+Auch bei der Redaktion der Neuen Gesellschaft
+lief sie ein, von einem Brief meines alten
+Freundes Stead begleitet, der die Hoffnung aussprach,
+wir w&uuml;rden ihr Folge leisten.</p>
+
+<p>England! Wieviel Erinnerungen wurden in mir
+wach! Es war mir das Sprungbrett des neuen Lebens
+gewesen. Vielleicht, da&szlig; es mich nun aus seinem Labyrinth
+wieder ins Freie zu f&uuml;hren verm&ouml;chte! Meine
+Hoffnung sah einen Weg aus der Not und der Enge
+heraus, &mdash; und wenn's nur ein fl&uuml;chtiges Aufatmen
+w&auml;re in freier Luft! Mein Mann legte die Einladung
+beiseite wie etwas selbstverst&auml;ndlich Abgetanes.</p>
+
+<p>&raquo;Meinst du nicht, da&szlig; ich sie annehmen k&ouml;nnte, &mdash; in
+unserem Namen,&laquo; fragte ich z&ouml;gernd. &raquo;Ich m&ouml;chte
+fort, &mdash; hinaus, ein einziges Mal nur!&laquo; &mdash;</p>
+
+<p>Er sah verwundert von der Arbeit auf. &raquo;Wenn dir
+<a name="Page_574" id="Page_574"></a>soviel daran liegt, bedarf es gar nicht der tragischen
+Geb&auml;rde!&laquo; antwortete er ruhig.</p>
+
+<p>Nun erschien mir mein Wunsch doch im Lichte str&auml;flicher
+Vergn&uuml;gungssucht. Ich mu&szlig;te mich und ihn beruhigen,
+der nicht anders denken mochte: &raquo;Ich werde
+Berichte schreiben, &mdash; neue Beziehungen ankn&uuml;pfen.
+Vielleicht verschaffe ich mir sogar bei der Gelegenheit
+die Korrespondenz f&uuml;r ein englisches Blatt.&laquo;</p>
+
+<p>Der Gedanke besonders elektristerte mich: das w&auml;re
+doch eine Sicherheit, wenn die Neue Gesellschaft zusammenbr&auml;che.</p>
+
+<p>Kurz vor meiner Abreise besuchte uns Reinhard. &raquo;Ich
+lese Ihren Namen unter denen der Journalisten, die
+nach England fahren,&laquo; begann er erregt.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig;,&laquo; entgegnete ich, &raquo;und was haben Sie dagegen?
+Keine der ber&uuml;hmten bindenden Parteitagsresolutionen
+hindert mich daran!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber Ihr Gef&uuml;hl m&uuml;&szlig;te es tun,&laquo; brach er los;
+wollen Sie sich denn gewaltsam jeden Vertrauens berauben?!
+Kein Genosse wird es begreifen, da&szlig; Sie mit einer
+Reihe unserer &auml;rgsten Gegner gemeinsame Sache machen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Schlimm genug, wenn dem wirklich so sein sollte!&laquo;
+rief ich aus. &raquo;Haben wir nicht auf dem Heimarbeiterschutzkongre&szlig;
+mit Gegnern zusammen gearbeitet, tun wir
+es nicht dauernd im Parlament? Und mir sollte es verdacht
+werden, wenn ich mich an einer Reise beteilige,
+deren Zweck durchaus im Interesse der Partei liegt?
+Wir Mitreisenden sollen uns doch nicht untereinander
+verbr&uuml;dern; uns wird nichts als die Gelegenheit geboten,
+es mit aufrichtigen Friedensfreunden in England
+zu tun.&laquo;</p>
+<p><a name="Page_575" id="Page_575"></a></p>
+<p>&raquo;Das mag alles so sein, wie Sie sagen,&laquo; antwortete
+er, &raquo;trotzdem d&uuml;rfen Sie &mdash; gerade Sie, deren Stellung
+doch schon schwierig genug ist &mdash; nicht als einzelne der
+Empfindung der Massen entgegenhandeln.&laquo;</p>
+
+<p>Ich warf den Kopf zur&uuml;ck. Jetzt erst wu&szlig;te ich, da&szlig;
+diese Reise nicht nur meine pers&ouml;nliche Angelegenheit
+war. &raquo;Ich verstehe Ihre gute Absicht,&laquo; sagte ich, &raquo;aber
+wenn etwas mich in meinem Vorhaben noch best&auml;rken
+k&ouml;nnte, so sind es die Gr&uuml;nde, durch die Sie mich davon
+abbringen wollen. Nichts ist mir von jeher so ver&auml;chtlich
+gewesen wie Lakaiengesinnung, gleichg&uuml;ltig ob
+sie vor dem einzelnen oder vor der Masse zum Ausdruck
+kommt&nbsp;&mdash;&laquo;.</p>
+
+<p>&raquo;Ich mute Ihnen doch nicht Lakaiengesinnung zu!&laquo;
+unterbrach er mich heftig.</p>
+
+<p>&raquo;Was ist es anderes, wenn Sie verlangen, ich sollte
+mich der Empfindung der Masse beugen, nicht weil sie
+die rechte, sondern weil sie die herrschende ist?! Wir
+kommen nie vom Fleck, wenn wir unsere bessere Einsicht
+nicht zur Geltung bringen; wir erziehen dadurch
+im Volk nur einen noch beschr&auml;nkteren, noch despotischeren
+Herrscher, als unsere F&uuml;rsten es sind.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Im Grunde bin ich ja Ihrer Meinung,&laquo; lenkte er ein;
+&raquo;es handelt sich doch in diesem Fall nur um eine kleine
+Konzession, f&uuml;r die Sie gr&ouml;&szlig;ere Werte eintauschen werden.&laquo;</p>
+
+<p>Ich lachte sp&ouml;ttisch auf: &raquo;Meinen Sie?! Man wird
+mir nicht mehr vertrauen und mich nicht weniger verleumden,
+wenn ich auf die Reise verzichte. Aber man
+wird wissen, da&szlig; ich kein Zeug zum Demagogen habe,
+wenn ich auf meinen Entschlu&szlig; beharre, &mdash; auch jetzt,
+wo mir die Folgen klar sind.&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_576" id="Page_576"></a>Reinhard verabschiedete sich k&uuml;hl und fremd. Er war
+einer der Besten und Selbst&auml;ndigsten unter den Genossen.
+&raquo;Ich f&uuml;rchte, wir haben ihn verloren,&laquo; sagte mein Mann.
+Ich unterdr&uuml;ckte einen schweren Seufzer.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Mitte Juni reisten wir ab. Schon im Zuge,
+der uns nach Bremerhaven f&uuml;hrte, freute ich
+mich der Gegenwart Theodor Barths; &mdash; ein
+freier Mensch und ein Gentleman, also einer der Seltenen,
+mit denen sich &uuml;ber alle trennenden Schranken
+der Politik verkehren l&auml;&szlig;t. Auf dem Schiff fanden sich
+die &uuml;brigen Reisegef&auml;hrten ein: neunundvierzig Journalisten,
+unter denen ich die einzige Frau war. Ich
+empfand, wie meine Anwesenheit sie beunruhigte. Sollten
+sie mich als Dame oder als Sozialdemokratin behandeln?
+Sie entschlossen sich in der Mehrzahl, ihrer politischen
+Gesinnung auch auf dem neutralen Boden unseres
+Dampfers unverf&auml;lschten Ausdruck zu geben. Offenbar
+st&ouml;rte es sie nur, da&szlig; ich ihnen durch mein Benehmen
+keinen besseren Anla&szlig; dazu bot.</p>
+
+<p>Ich k&uuml;mmerte mich wenig um sie; mit durstigen Z&uuml;gen
+atmete ich die frische Salzluft ein, und mit jeder Meile,
+die wir uns von der K&uuml;ste entfernten, fiel mehr und
+mehr von mir ab, was lastend und qu&auml;lend mein Herz
+bedr&uuml;ckte. Ich stand lange am Zwischendeck, wo sie beieinander
+hockten, all die M&auml;nner, Frauen und Kinder,
+die das Vaterland ausgesto&szlig;en hatte. In dem Antlitz
+der meisten blitzte etwas wie Zukunsfshoffnung auf. Fast
+d&uuml;nkte es mich beneidenswert: das alte Leben hinter
+<a name="Page_577" id="Page_577"></a>sich zu lassen und nur mit dem leichten B&uuml;ndel unter
+dem Arm einem neuen entgegen zu gehen.</p>
+
+<p>In London hatte Beerbohm Tree in seinem Theater
+f&uuml;r die deutschen G&auml;ste den ersten Empfang bereitet.
+Ich ging nicht hin; unsere heimische B&uuml;hnenkunst hat
+uns den Geschmack f&uuml;r ein Kom&ouml;diantentum verdorben,
+das vielleicht vor f&uuml;nfzig Jahren auch bei uns noch das
+herrschende war. Ich erwartete statt dessen Stratfords
+Besuch.</p>
+
+<p>&raquo;Wissen Sie noch, wie wir damals voneinander
+gingen?&laquo; fragte er nach der ersten Begr&uuml;&szlig;ung.</p>
+
+<p>Ich nickte l&auml;chelnd: &raquo;Ein Mann, wie Sie, geh&ouml;rt der
+Sache des Sozialismus, sagte ich Ihnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;W&auml;ren nur nicht der Fesseln so viele, antwortete
+ich, und Sie riefen mir zu: &#8250;wir werden sie beide zerbrechen
+m&uuml;ssen&#8249; &mdash; nun haben wir sie zerbrochen!&laquo;</p>
+
+<p>&Uuml;berrascht sah ich ihn an.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kandidiere als Vertreter der Arbeiterpartei f&uuml;r
+das Parlament,&laquo; f&uuml;gte er mit einem Aufleuchten in den
+hellen Augen hinzu.</p>
+
+<p>Ich dr&uuml;ckte ihm die Hand.</p>
+
+<p>Er schien einen Ausdruck gr&ouml;&szlig;erer Freude erwartet
+zu haben. &raquo;Haben Sie das Kettenbrechen bereut?!&laquo;
+fragte er zweifelnd.</p>
+
+<p>&raquo;Nein, lieber Freund,&laquo; antwortete ich mit starker
+Betonung, &raquo;nein! Ich erinnerte mich nur der wunden
+H&auml;nde, die es kostet.&laquo;</p>
+
+<p>Am n&auml;chsten Morgen sprach ich John Burns auf der
+Themseterrasse des Parlaments. Mir schien, als sei es
+gestern gewesen, da&szlig; er mir auf den Marmortisch die Situation
+der deutschen Sozialdemokratie aufgezeichnet hatte.</p>
+<p><a name="Page_578" id="Page_578"></a></p>
+<p>&raquo;Habe ich nicht recht behalten?&laquo; fragte er im Laufe
+des Gespr&auml;chs.</p>
+
+<p>&raquo;Nicht ganz,&laquo; entgegnete ich; &raquo;der Druck von au&szlig;en
+pre&szlig;t uns zwar zusammen, aber er hindert nicht nur
+die Wirkung &uuml;ber seinen Ring hinaus, er tr&auml;gt auch
+dazu bei, da&szlig; wir unsere Kr&auml;fte im gegenseitigen Kleinkrieg
+verzetteln.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie &uuml;bertreiben,&laquo; meinte er leichthin. &raquo;Jeder Kampf
+ist Leben und weckt Leben! Sie sind wie der Akteur
+auf der B&uuml;hne, der das Ganze nicht &uuml;bersehen kann,
+w&auml;hrend wir, die Zuschauer, von fern mit unserem
+Opernglas Handlung und Szenerien begreifen. Der
+deutsche Revisionismus siegt nicht nur, &mdash; er hat schon
+gesiegt.&laquo;</p>
+
+<p>Ich l&auml;chelte ein wenig von oben herab zu seinen
+apodiktischen S&auml;tzen und lenkte die Unterhaltung auf
+sein eigenes Wirken.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin nach wie vor Sozialist, gerade weil mich
+keine Arbeit schreckt, wenn es gilt, meiner &Uuml;berzeugung
+auch nur einen Fu&szlig; breit Boden zu gewinnen,&laquo; sagte er,
+&raquo;ich scheue nichts, wenn der Preis daf&uuml;r mehr Macht
+ist. Wer immer nur zuschaut und schimpft und kritisiert
+und dazwischen moralische Bomben wirft, ist in
+meinen Augen Anarchist.&laquo;</p>
+
+<p>Einer der deutschen Englandfahrer n&auml;herte sich in
+respektvoller Haltung. Unser langes Gespr&auml;ch setzte ihn
+offenbar in Erstaunen. Er wartete darauf, vorgestellt
+zu werden. Und erst jetzt fiel mir ein: der John Burns
+von heute war ja Minister!</p>
+
+<p>Der Gastfreundschaft, mit der uns die Engl&auml;nder
+empfingen, entzog ich mich von da an nur selten. Ich
+<a name="Page_579" id="Page_579"></a>hatte meine leise Freude an den verbl&uuml;fften Gesichtern
+meiner Reisegef&auml;hrten, die allm&auml;hlich einsahen, da&szlig; im
+Lande alter Kultur nur die Erziehung, nicht aber die
+politische Stellung des Einzelnen gesellschaftliche Unterschiede
+herbeif&uuml;hrt, und ich merkte erst jetzt, wo ich einmal
+wieder als Gleiche von Gleichen behandelt wurde,
+wieviel ich entbehrt hatte.</p>
+
+<p>Eines Vormittags besichtigten wir den Tower. Schon
+als ich aus dem Hotel trat, war mir aufgefallen, da&szlig;
+die photographischen Kameras der englischen Reporter
+sich pl&ouml;tzlich auf mich richteten.</p>
+
+<p>Auf dem Wege kam Bernard Shaw mir entgegen
+und reichte mir mit einem sarkastischen: &raquo;Da haben Sie
+wieder einmal ein unverf&auml;lschtes Zeugnis der deutschen
+Sozialdemokratie,&laquo; ein englisches Morgenblatt.</p>
+
+<p>Es enthielt ein Telegramm aus Berlin: &raquo;Der &#8250;Vorw&auml;rts&#8249;
+beschuldigt Frau Alix Brandt, die einzige Vertreterin
+der sozialdemokratischen Presse bei der Englandreise
+deutscher Journalisten, des Parteiverrats und k&uuml;ndigt
+ihr an, da&szlig; sie ihres unbotm&auml;&szlig;igen Verhaltens
+wegen zur Rechenschaft gezogen werden w&uuml;rde.&laquo;</p>
+
+<p>Ich ballte das Blatt Papier heftig zusammen und
+schleuderte es zu Boden. &raquo;Das glaube ich nicht,&laquo; stie&szlig;
+ich zornig hervor.</p>
+
+<p>Shaw lachte: &raquo;Und doch ist nichts gewisser, weil
+nichts folgerichtiger ist! Die deutsche Partei ist von
+nichts freier als von &mdash; Freiheit. Sie ist die konservativste,
+die respektabelste, die moralischste und die b&uuml;rgerlichste
+Partei Europas. Sie ist keine rohe Partei
+der Tat, sondern eine Kanzel, von der herab M&auml;nner
+mit alten Ideen eindrucksvolle Moralpredigten halten.<a name="Page_580" id="Page_580"></a>
+Mit Millionen von Stimmen zu ihrer Verf&uuml;gung, widersteht
+sie den Lockungen des Ehrgeizes und denen realer
+Vorteile, die ein &ouml;ffentliches Amt mit sich bringt, und
+bezeichnet denjenigen, der sich von den Freuden tugendhafter
+Entr&uuml;stung zu den Arbeiten praktischer Verwaltung
+wendet oder auch nur an einer allgemeinen Veranstaltung
+in &ouml;ffentlichem Interesse teilnimmt, als einen
+Abtr&uuml;nnigen und Verr&auml;ter. Freiheit vom Dogmenglauben
+ist eines der Grundprinzipien des echten Sozialismus, &mdash; die
+Deutschen sind dogmatischer als die
+Kirchenv&auml;ter. Der Wille zur Macht ist ein anderes, &mdash; die
+Deutschen machen den Willen zur Phrase daraus.
+Die Herrschaft des Geistes ist ein letztes, im Gegensatz
+zur Herrschaft des Kapitals, &mdash; die Deutschen stellen
+das auf den Kopf und verlangen die Unterwerfung unter
+die Herrschaft der Masse.&laquo;</p>
+
+<p>Ich hatte seinen raschen Redeflu&szlig;, den der Zorn diktierte,
+nicht unterbrochen. Ich h&ouml;rte den gleichen Ton
+heraus wie bei den Worten von Burns, und in mir
+begann eine Saite, die schon lange leise t&ouml;nte, lebhaft
+mitzuschwingen.</p>
+
+<p>Noch am selben Abend bekam ich einen Brief von
+Keir Hardie.</p>
+
+<p>&raquo;... Ich bin ganz au&szlig;erstande, zu begreifen, welches
+der Grund sein konnte, Ihre Teilnahme an der Englandreise
+zu verurteilen,&laquo; hie&szlig; es darin. &raquo;Es ist f&uuml;r
+uns Sozialisten in England eine selbstverst&auml;ndliche Gewohnheit,
+gelegentlich mit Nichtsozialisten zusammenzugehen,
+wenn es im Interesse der F&ouml;rderung einer
+gro&szlig;en und guten Sache gelegen ist. Unsere Erfahrung
+hat uns bewiesen, da&szlig; der Sozialismus dadurch nur
+<a name="Page_581" id="Page_581"></a>gest&auml;rkt werden kann. Ich will damit nicht behaupten,
+da&szlig; unsere deutschen Genossen unserem Beispiel unbedingt
+folgen m&uuml;&szlig;ten, aber im vorliegenden Fall bleibt
+ihre Haltung Ihnen gegen&uuml;ber mir vollst&auml;ndig unverst&auml;ndlich&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Ich stand nun pl&ouml;tzlich im Mittelpunkt des Interesses
+und wurde von Interviewern belagert, die von der
+ganzen Sache keine andere Auffassung hatten, als da&szlig;
+die gro&szlig;e deutsche Arbeiterpartei sich dadurch dem Gel&auml;chter
+der Welt ausgesetzt habe. Und ich gab ihnen
+stets die gleiche Antwort: &raquo;Die Sozialdemokratie, der
+ich stolz bin anzugeh&ouml;ren, hat mit den Quertreibereien
+einzelner von preu&szlig;ischem Polizeigeist durchseuchter Genossen
+nichts zu tun.&laquo; Als aber mein Mann mir die
+Zeitungen schickte, &mdash; nicht nur den &#8250;Vorw&auml;rts&#8249;, sondern
+eine ganze Anzahl anderer Parteibl&auml;tter, &mdash; da
+sch&auml;mte ich mich und ging den Interviewern so weit
+als m&ouml;glich aus dem Wege, um nicht reden zu m&uuml;ssen.
+Und doch war es weniger die beleidigende Form der
+Angriffe, die mich verletzte, als die Geh&auml;ssigkeit,
+die dabei zum Ausdruck kam. Wie stark mu&szlig;te
+sie sein, um alle Klugheit, alle R&uuml;cksicht auf das Ansehen
+der Partei beiseite zu schieben? Oder gab es
+etwas L&auml;cherlicheres, als meine Reise, &mdash; gleichg&uuml;ltig, ob
+man sie verurteilte oder nicht, &mdash; zu einem Parteiskandal
+aufzubauschen? Nur eine tiefe, innere Krankheit konnte
+solche Symptome zeitigen. Ich k&auml;mpfte noch mit mir,
+ob es nicht meiner unw&uuml;rdig w&auml;re, mich gegen Ausbr&uuml;che
+der P&ouml;belgesinnung zu verteidigen, als ich die
+Antwort erhielt, die mein Mann der Parteipresse hatte
+zugehen lassen. Das waren Rutenstreiche, &mdash; es blieb
+<a name="Page_582" id="Page_582"></a>mir nichts zu sagen &uuml;brig. Seltsam nur, da&szlig; die Ritterlichkeit,
+mit der er f&uuml;r mich eintrat, eine alte Wunde
+aufs neue bluten machte, statt sie zu schlie&szlig;en.</p>
+
+<p>Der Schatten, der sich mir &uuml;ber Englands sch&ouml;ne
+Sommertage breitete, wich nicht mehr.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Ich hatte immer gegen Massen-Museumsf&uuml;hrungen,
+gegen Gesellschaftsreisen und dergleichen eine ausgesprochene
+Abneigung gehabt. Wem Kunst und
+Natur mehr sein soll als ein Gespr&auml;chsthema, der mu&szlig;
+ihnen Auge in Auge still und allein gegen&uuml;berstehen. Und
+wer vor den Heiligt&uuml;mern der Menschheit seine Andacht
+verrichten will, der kann es nur in Gegenwart derer,
+die seine N&auml;chsten sind.</p>
+
+<p>Wir traten zusammen an Shakespeares Grab, &mdash; es
+war wie ein Sakrileg. Wir kamen in sein Geburtshaus
+und in die blumenumrankte, strohgedeckte H&uuml;tte
+seiner Liebsten, &mdash; aber Shakespeares Geist floh vor uns.</p>
+
+<p>Wir kamen nach Cambridge, jener alten Universit&auml;t,
+die sich den Typus der mittelalterlichen Klosterstadt noch
+erhalten hat. Wer ihre S&auml;ulenhallen um alte G&auml;rten
+allein betreten k&ouml;nnte, dem m&uuml;&szlig;ten die B&auml;ume in den
+Weisen derer rauschen und fl&uuml;stern, die hier dichteten:
+eines Marlowe, Milton, Byron. Und wer sich still an
+einen alten Pfeiler lehnen und in die d&auml;mmernden
+Bogeng&auml;nge blicken d&uuml;rfte, dem w&uuml;rde aus dunkel geschnitzten
+Pforten Erasmus von Rotterdam entgegentreten,
+und Cromwell, und Newton.</p>
+
+<p>Wir sahen nur freundliche Professoren und Photographen
+und h&ouml;rten Reden und Tellergeklapper.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_583" id="Page_583"></a></p>
+
+<p>Als die Mehrzahl der Geladenen England wieder
+verlassen hatte, sprach ich meinen Freund Stead,
+der als Reisemarschall der G&auml;ste unaufh&ouml;rlich
+in Anspruch genommen gewesen war, zum erstenmal allein.</p>
+
+<p>&raquo;Ihnen geht es gut,&laquo; sagte er, als wir einander in
+seinem Heim gegen&uuml;ber sa&szlig;en.</p>
+
+<p>&raquo;Woher wissen Sie das?&laquo; fragte ich mit einem bitteren
+Gef&uuml;hl im Herzen.</p>
+
+<p>&raquo;Sollten Sie etwa noch den alten Gl&uuml;cksbegriffen
+huldigen?&laquo; fragte er dagegen.</p>
+
+<p>&raquo;Jeder hat seine pers&ouml;nlichen,&laquo; antwortete ich ausweichend.</p>
+
+<p>&raquo;Und sollte nur einen haben, aus dem sich alle
+anderen entwickeln: leistungsf&auml;hig zu sein,&laquo; erg&auml;nzte er.
+War ich schon so alt, da&szlig; er mir solch einen Gl&uuml;cksbegriff
+zumutete, der mir nur mit &auml;u&szlig;erster Selbstverleugnung
+Hand in Hand zu gehen schien?</p>
+
+<p>&raquo;Sie mi&szlig;verstehen mich,&laquo; meinte er. &raquo;Ich begreife
+darunter die st&auml;rkste Selbstbehauptung: die Entwicklung
+aller F&auml;higkeiten zum &auml;u&szlig;ersten Ma&szlig; ihrer Leistungskraft&nbsp;...&laquo;
+Wir wurden unterbrochen; es war gut so,
+denn um so st&auml;rker pr&auml;gten sich mir seine Worte ein.</p>
+
+<p>Nun blieb mir noch &uuml;brig, ehe ich heimfuhr, zu
+erreichen, was ich mir vorgenommen hatte. Ich
+verhandelte mit verschiedenen Redaktionen wegen der
+&Uuml;bernahme einer deutschen Korrespondenz. In den
+Briefen meines Mannes sp&uuml;rte ich immer deutlicher den
+schweren Atem der Sorgen. Um irgend eine ihrer
+Lasten erleichtert, mu&szlig;te ich nach Hause kommen. Aber
+so oft ich auch durch die gluthei&szlig;en Stra&szlig;en Londons
+<a name="Page_584" id="Page_584"></a>von einem Bureau zum anderen ging, meine Abreise
+immer wieder aufschiebend, weil eine neue leise Hoffnung
+mich festhielt, das Ergebnis blieb ein negatives.
+Inzwischen war auch die b&uuml;rgerliche Presse Deutschlands
+meiner Reise wegen &uuml;ber mich hergefallen, &mdash; die
+vereinzelten Stimmen der Verteidigung waren im
+Chor der Schreier verhallt, &mdash; das mochte die h&ouml;flich
+ablehnende Haltung mit verursachen. Ich mu&szlig;te mich
+entschlie&szlig;en, mit leeren H&auml;nden zur&uuml;ckzukehren. Nur
+einer Einladung wollte ich noch Folge leisten.</p>
+
+<p>In Warwick, einem St&auml;dtchen am Avon, das von den
+dicken T&uuml;rmen einer uralten Burg &uuml;berragt wird, fand eines
+jener historischen Festspiele statt, an denen sich allj&auml;hrlich
+in den verschiedenen Gegenden Englands die ganze
+Bev&ouml;lkerung beteiligt. Ich fuhr hin und sah im Park
+des Schlosses die Darstellung jenes glanzumflossenen
+Teiles der englischen Geschichte, von der seine Mauern
+noch erz&auml;hlen. Auf der weiten, von m&auml;chtigen B&auml;umen
+zu beiden Seiten abgeschlossenen Rasenfl&auml;che, mit dem
+Flu&szlig; in der Mitte, der zwischen bl&uuml;henden Rosenb&uuml;schen
+und h&auml;ngenden Weiden lautlos vor&uuml;berzieht, und dem
+Hintergrund einer sanft verschwimmenden H&uuml;gellandschaft
+zogen Jahrhunderte vor&uuml;ber. Und zuletzt vereinigten
+sich noch einmal zweitausend Menschen zu Fu&szlig;
+und zu Pferde in den R&uuml;stungen und Gew&auml;ndern aller
+Zeiten. Nun kommt die Schlu&szlig;apotheose, dachte ich,
+mit der B&uuml;ste des K&ouml;nigs und einem &raquo;Rule Britannia&laquo;
+aus allen Kehlen. Ich erhob mich, um zu gehen.</p>
+
+<p>Aber da sah ich, wie die Ritter und Edeldamen, die
+F&uuml;rsten und K&ouml;nige langsam und leise hinter B&auml;umen
+und B&uuml;schen verschwanden. Nur einer blieb zur&uuml;ck,
+<a name="Page_585" id="Page_585"></a>allein, weltbeherrschend, als w&auml;re die jahrhundertelange
+Entwicklung nur notwendig gewesen, um diesen einen
+hervorzubringen, der gr&ouml;&szlig;er ist als alle: William Shakespeare.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Der Wille zur Macht, &mdash; die h&ouml;chstm&ouml;gliche
+Entwicklung der Pers&ouml;nlichkeit als Ziel des
+einzelnen, &mdash; der &Uuml;bermensch als Ziel der
+Menschheit&nbsp;&mdash;: zu einem einzigen vollen Akkord vereinigten
+sich pl&ouml;tzlich die Kl&auml;nge, die mir diesmal in
+England entgegenget&ouml;nt hatten. Mein Herz schlug zum
+Zerspringen wie das eines Gefangenen, dem die Ketten
+vom Fu&szlig;e gel&ouml;st werden und die Pforten sich &ouml;ffnen
+zur freien Wanderschaft. Er sieht nichts wieder als die
+alte vertraute Welt seiner Jugend, und doch erscheint
+sie ihm wie ein Wunder so neu. Ein halbes Kind war
+ich gewesen, als ich aus Nietzsches Fr&ouml;hlicher Wissenschaft
+den ersten Ruf pers&ouml;nlicher Befreiung vernahm:
+&raquo;Das Leben sagt: Folge mir nicht nach; sondern dir!
+sondern dir!&laquo; &mdash; Galt nicht derselbe Ruf heute der
+Menschheit?</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Am letzten Tage meines londoner Aufenthalts
+traf ich auf der Stra&szlig;e eine Kapit&auml;nin der
+Heilsarmee, die mich herzlich begr&uuml;&szlig;te.</p>
+
+<p>&raquo;Sie kennen mich wohl nicht mehr?&laquo; fragte sie l&auml;chelnd;
+&raquo;aber der Nacht in Whitechapel vor elf Jahren erinnern
+Sie sich gewi&szlig;.&laquo;</p>
+
+<p>Im Augenblick sah ich das Weib wieder vor mir,
+<a name="Page_586" id="Page_586"></a>die, von den Gef&auml;hrten ihres Jammers umringt, im
+Schmutz der Gasse geboren hatte. Ich streckte meiner
+einstigen F&uuml;hrerin ersch&uuml;ttert die Hand entgegen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie w&uuml;rden mir heute, nach all den Reformen des
+Grafschaftsrats, nichts &Auml;hnliches zeigen k&ouml;nnen,&laquo; sagte ich.</p>
+
+<p>&raquo;Man hat aufger&auml;umt, &mdash; gewi&szlig;,&laquo; antwortete sie
+ruhig, &raquo;und an Stelle mancher elenden H&auml;user neue gebaut,
+aber das Elend ist immer dasselbe. Die einen
+sterben, andere wandern zu&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Entsetzlich!&laquo; rief ich aus. &raquo;Wie k&ouml;nnen Sie das nur
+ertragen?! Erscheint Ihnen nicht Ihre ganze Arbeit
+hoffnungslos?!&laquo;</p>
+
+<p>Sie l&auml;chelte freundlich: &raquo;Ich habe viele Seelen gewonnen,
+denen f&uuml;r allen Erdenjammer der Himmel
+offen steht.&laquo;</p>
+
+<p>Noch nie war mir der Christenglaube so grausam erschienen
+als in diesem Augenblick. Wie eine Zyklopenmauer
+richtete er sich auf zwischen den Menschen und
+ihrer Erl&ouml;sung. Ich verabschiedete mich rasch. Den
+vollen Akkord, den ich eben noch vernommen hatte,
+durcht&ouml;nte eine schrille Dissonanz. Ich war der schaffende
+K&uuml;nstler nicht, der die einheitliche L&ouml;sung h&auml;tte finden
+k&ouml;nnen. Als ich aber dann heimw&auml;rts fuhr, beherrschte
+mich nicht mehr jene niederdr&uuml;ckende Empfindung, mit
+leeren H&auml;nden zu kommen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_587" id="Page_587"></a></p>
+
+<p>Mein Mann empfing mich mit wehm&uuml;tiger Z&auml;rtlichkeit,
+soda&szlig; ich ihm angstvoll forschend ins
+Auge sah. &raquo;Es ist nichts, Kind, nichts!&laquo;
+wehrte er in nerv&ouml;ser Erregung ab. &raquo;Ich bin nur abgespannt, &mdash; nur
+m&uuml;de.&laquo; Aber allm&auml;hlich erfuhr ich
+doch, was geschehen war: eine Gruppe von Parteigenossen
+seines Wahlkreises forderte von ihm die Niederlegung
+seines Mandats, weil &mdash; ich mich an der Englandreise
+beteiligt hatte, und ein au&szlig;erordentlicher Kreistag
+sollte dar&uuml;ber entscheiden.</p>
+
+<p>Gl&uuml;hende Sommerhitze br&uuml;tete &uuml;ber der Mark; an
+den B&auml;umen in den Stra&szlig;en hingen die Bl&auml;tter schon
+gelb und tot; kein L&uuml;ftchen r&uuml;hrte sich, und doch umgaben
+dichte Staubwolken den Wagen, der uns von
+Gusow nach Platkow f&uuml;hrte. In dem kleinen Saal
+herrschte unertr&auml;gliche Schw&uuml;le. Er war schon gef&uuml;llt,
+als wir kamen: von lauter schweigenden Menschen mit
+harten Z&uuml;gen und finsteren Blicken. Unsere alten Kampfgef&auml;hrten
+r&uuml;hrten kaum an die M&uuml;tze bei unserem Eintritt.
+Einen Augenblick lang umklammerte ich den Arm
+meines Mannes, &mdash; au&szlig;er ihm hatte ich hier keinen
+Freund mehr. Die Anklage wurde verlesen. Es war
+die Sprache des &raquo;Vorw&auml;rts&laquo;, den sie f&uuml;hrte. &raquo;Das hat
+Berlin diktiert!&laquo; rief Heinrich. Die Falten auf der
+Stirn unserer Richter vertieften sich.</p>
+
+<p>Mein Mann antwortete zuerst. Er erinnerte daran,
+wie h&auml;ufig schon hervorragende Parteigenossen sich mit
+politischen Gegnern zu gemeinsamer Arbeit vereinigt
+h&auml;tten, wie es auch an Beispielen f&uuml;r das harmlosere
+Zusammensein zu geselligen Zwecken nicht gefehlt habe.<a name="Page_588" id="Page_588"></a>
+Und als einer w&uuml;tend dazwischen schrie: &raquo;Die Monarchentoaste!&laquo;
+erkl&auml;rte er, da&szlig; die Teilnahme an dieser Form
+internationaler H&ouml;flichkeit um so weniger als eine Verleugnung
+der republikanischen Gesinnung angesehen
+werden k&ouml;nne, nachdem wir uns den viel ernsteren Treueiden
+der Landtagsabgeordneten unterwerfen m&uuml;&szlig;ten.
+Als er geendet hatte, hoben sich ein paar H&auml;nde zu
+sch&uuml;chternem Applaus; die Mehrzahl der Genossen aber
+verharrte weiter in finsterem Schweigen. Die nach ihm
+sprachen, hatten ihre Reden alle auf einen Ton gestimmt:
+da&szlig; die Partei durch uns gesch&auml;digt worden sei.</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;r uns jibt's nur ein rechts und links,&laquo; rief
+der Maurer Merten; &raquo;die Akademiker, die nich Fleisch
+sind von unserem Fleisch, die zieht's eben immer wieder
+zu den Bourgeois. Ich aber sage Euch, Jenossen&laquo; &mdash; dabei
+hieb er mit der breiten Faust auf den Tisch &mdash; &raquo;sowas
+d&uuml;rfen wir uns nich l&auml;nger gefallen lassen, am
+wenigsten von unserem Abgeordneten. Was w&auml;re verloren,
+wenn die Jenossin Brandt nich nach England jefahren
+w&auml;re?! Es w&auml;re ooch noch so! Nu aber, wo
+sie hinfuhr, sehen wir, da&szlig; sie kein proletarisches Bewu&szlig;tsein
+hat; da&szlig; sie den Klassenkampf in Harmonieduselei
+verwandeln m&ouml;chte und statt gegen die Gegner
+neben uns zu stehen mit ihnen bei Schampagner un
+Braten techtelmechtelt&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bravo, Bravo&laquo; &mdash; klang es von allen Seiten, w&auml;hrend
+mein Mann w&uuml;tend vom Stuhl sprang und ein
+&raquo;Unversch&auml;mt!&laquo; zwischen den Z&auml;hnen hervorstie&szlig;. Mich
+packte ein j&auml;her Schreck, als habe sich pl&ouml;tzlich vor mir
+die Erde gespalten: standen wir allein auf der einen
+Seite und jenseits die selbsterw&auml;hlten Gef&auml;hrten?!</p>
+<p><a name="Page_589" id="Page_589"></a></p>
+<p>&raquo;Die Genossin Brandt hat das Wort,&laquo; h&ouml;rte ich wie
+von weit her sagen. Ich sammelte mich rasch. Aller
+Augen sah ich auf mich gerichtet.</p>
+
+<p>&raquo;Mein Vorredner,&laquo; begann ich, &raquo;hat einen konsequenten
+Standpunkt vertreten, er h&auml;tte nur hinzuf&uuml;gen
+m&uuml;ssen, warum bei uns zum Verbrechen gestempelt wird,
+was anderen kein H&auml;rchen kr&uuml;mmte: wir sind des Revisionismus
+verd&auml;chtig. Das Schauspiel, das Sie hier
+auff&uuml;hren, w&auml;re noch kl&auml;glicher, als es so wie so schon
+ist, wenn nicht im Hintergrund tiefere Differenzen
+schliefen. Sie stehen auf dem Boden des Klassenkampfes, &mdash; wir
+auch; Sie hassen die kapitalistische
+Wirtschaftsordnung, &mdash; wir auch. Aber ihrer selbst unbewu&szlig;t,
+f&uuml;hren Sie den Klassenkampf im Sinne des
+Krieges; Sie wollen den Gegner niederzwingen, Sie
+wollen sein Land erobern. Sie, die Sie seit Jahrtausenden
+die Lasttr&auml;ger der Menschheit sind, w&uuml;rden
+es schon als gerecht empfinden, wenn nur die Rollen
+der Unterdr&uuml;cker und Unterdr&uuml;ckten vertauscht w&uuml;rden.
+Sie sehen in jedem Vertreter der herrschenden Gesellschaft
+einen Feind, weil Sie ihm als die Abh&auml;ngigen,
+Unfreien gegen&uuml;berstehen, weil Sie ihm schon das blo&szlig;e
+Sattsein neiden m&uuml;ssen. Wir k&ouml;nnen Ihren von der
+Bitterkeit des eigenen Herzens gen&auml;hrten Ha&szlig; nicht mitf&uuml;hlen,
+denn nicht pers&ouml;nliches Leiden machte uns zu
+Ihren Genossen. Uns ist das Ziel des Kampfes nicht
+die ver&auml;nderte Herrschaft von Menschen &uuml;ber Menschen,
+sondern die uneingeschr&auml;nkte Herrschaft der Menschheit
+&uuml;ber die Natur. Die Erde wollen wir erobern, um
+gleiche Entwicklungsbedingungen f&uuml;r alle zu schaffen,
+nicht Feindesland, das Unterworfene beackern sollen&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_590" id="Page_590"></a>Ein unwilliges Gemurmel erhob sich. Im Saal fing
+es an zu d&auml;mmern. Ich unterschied nur noch die Zun&auml;chstsitzenden.
+Sonst war alles eine schwarze Masse,
+aus der nur hie und da ein kahler, breiter Sch&auml;del,
+ein wei&szlig;er Bart, der gl&uuml;hende Punkt einer Zigarre herausleuchtete.</p>
+
+<p>&raquo;Die Diktatur des Proletariats!&laquo; klang es mit tiefer
+Stimme drohend aus dem dunkelsten Winkel.</p>
+
+<p>Die Jakobiner! antwortete es in meinem Innern. Ich
+f&uuml;hlte, die Luft war geladen mit Sprengstoff gegen mich.</p>
+
+<p>Den Faden meiner Rede hatte ich verloren, und unsicher
+und leise fuhr ich fort: &raquo;Ich habe Schulter an
+Schulter mit Ihnen gek&auml;mpft, &mdash; was bedeutet das
+gegen&uuml;ber der Tatsache, da&szlig; ich mit politischen Gegnern
+auf demselben Schiff nach England fuhr! Wir haben
+zusammen diesen Wahlkreis erobert, und in jener Nacht,
+da die alte rote Fahne als Zeichen des Sieges &uuml;ber
+uns flatterte, hat uns ein starkes Gef&uuml;hl, wie ich glaubte,
+auf immer verbunden, &mdash; aber was bedeutet das gegen&uuml;ber
+dem Verbrechen der Kaisertoaste! Der Zweck der
+Reise war nichts anderes, als was im Interesse des
+Sozialismus gelegen ist, &mdash; was bedeutet das gegen&uuml;ber
+der S&uuml;nde, mit Nichtsozialisten an einem Tische gesessen
+zu haben! Daf&uuml;r ist's nicht genug, da&szlig; unsere Presse
+mich beschimpfte, wie kein b&uuml;rgerliches Blatt jemals zuvor, &mdash; nein,
+es mu&szlig; auch noch ein Exempel statuiert
+werden: der Genosse Brandt mu&szlig; fallen!&nbsp;... Nicht um
+unsertwillen, denn nicht wir sind die Unterlegenen, wenn
+Sie den vorliegenden Antrag annehmen, sondern im Interesse
+der Partei erwarte ich von Ihnen seine Ablehnung.
+Leisten Sie ihm Folge, so enth&uuml;llen Sie eine
+<a name="Page_591" id="Page_591"></a>schw&auml;rende Wunde, und das in einem Augenblick, wo
+die b&uuml;rgerliche Welt gierig darauf wartet, uns bei einer
+Schw&auml;che ertappen zu k&ouml;nnen&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Keine Hand r&uuml;hrte sich. Die Petroleumlampe, die
+von einem roten Papierschirm umgeben, von der Decke
+herabhing, flammte auf und warf ein unsicher flackerndes
+Licht &uuml;ber hei&szlig;e Gesichter.</p>
+
+<p>Mein Mann sprach noch einmal, &mdash; kalt, zornig.
+&raquo;Ich verlange nicht nur, da&szlig; Sie den Antrag ablehnen,
+sondern da&szlig; Sie ihn zur&uuml;ckziehen,&laquo; sagte er.</p>
+
+<p>Der Geruch der qualmenden Lampe machte mich
+schwindeln. W&auml;hrend der Pause, die die Genossen zur
+internen Beratung anberaumt hatten, verlie&szlig;en wir den
+Saal. Drau&szlig;en empfing uns die stille, mondhelle Nacht.
+Das Armenhaus gegen&uuml;ber warf einen breiten, schwarzen
+Schatten auf den Sand.</p>
+
+<p>&raquo;Der Antrag, den Genossen Brandt zur Niederlegung
+seines Mandats zu veranlassen, ist zur&uuml;ckgezogen,&laquo; erkl&auml;rte
+der Vorsitzende, als wir wieder eintraten.</p>
+
+<p>Die Versammlung ging ruhig auseinander. Wir verabschiedeten
+uns mit einem f&ouml;rmlichen Gru&szlig;. Auf unserem
+Wege nach der Station geleitete uns niemand.</p>
+
+<p>Kaum waren wir ein paar Tage lang in unsere Arbeit
+wieder vertieft, als ich erfuhr, da&szlig; die Berliner
+Parteileitung mich aus der offiziellen Rednerliste der
+Partei gestrichen habe. Ich legte Protest ein und verlangte,
+geh&ouml;rt zu werden.</p>
+
+<p>Man lud mich vor. Rings um den Saal sa&szlig;en
+die M&auml;nner, in der Mitte an einer langen Tafel
+die Frauen, Wanda Orbin an ihrer Spitze. Sie
+waren meine Ankl&auml;ger gewesen. Martha Bartels war
+<a name="Page_592" id="Page_592"></a>der Staatsanwalt. Sie z&auml;hlte alle meine S&uuml;nden
+auf, von einer Agitationsreise an, die ich vor vier
+Jahren hatte absagen m&uuml;ssen, bis zur Englandfahrt.
+Aber auch meine Verteidigung war eine Anklage:
+ich verschwieg nichts. Mitten in meiner Rede
+erhob sich Wanda Orbin ungest&uuml;m von ihrem Platz;
+ich sah, wie ein Zittern ihren K&ouml;rper durchlief, wie der
+Zorn ihre Z&uuml;ge verzerrte. Im n&auml;chsten Augenblick stand
+sie vor mir und erhob die Faust, &mdash; einer der zun&auml;chst
+sitzenden Genossen sprang dazwischen.</p>
+
+<p>&raquo;So diskutieren wir nicht!&laquo; rief er emp&ouml;rt.</p>
+
+<p>Der Beschlu&szlig;, meinen Namen von der Rednerliste zu
+entfernen, wurde aufgehoben. Das Verhalten Wanda
+Orbins mochte die Genossen stutzig gemacht haben.
+Trotzdem war mein Sieg nur ein scheinbarer; in seinen
+Folgen blieb der Beschlu&szlig; bestehen.</p>
+
+<p>Eine tiefe Niedergeschlagenheit bem&auml;chtigte sich meiner.
+Jeder Kampf um Ideen wirkt erfrischend, selbst wenn
+er mit den sch&auml;rfsten Waffen gef&uuml;hrt wird. Aber was ich
+erlebte, war so eng, so klein, hinterlie&szlig; einen so arm,
+mit einem so bitteren Geschmack auf der Zunge. Nicht
+Gewitterschw&uuml;le war's, die lastend auf mir ruhte und
+die Hoffnung auf Blitz und Wolkenbruch weckt, sondern
+feuchtwarmer Nebel, ganz dichter, undurchdringlicher.
+Und er umschlang mit seinen langen Armen, die sich
+nicht greifen, noch weniger zur&uuml;cksto&szlig;en lassen, die ganze
+Partei.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_593" id="Page_593"></a></p>
+
+<p>Unter dem Zeichen der siegreichen russischen Revolution
+hatte der Jenaer Parteitag gestanden,
+eine tiefe Erregung, die nach Taten
+schrie, hatte sich aller bem&auml;chtigt; die Resolution zum
+Massenstreik hatte angesichts dieser Stimmung, so vorsichtig
+sie gefa&szlig;t war, wie eine Fanfare geklungen.
+Und nun war der Rausch vor&uuml;ber; die Ern&uuml;chterung
+allein blieb. In kleinlichem Hader, in gegenseitigen
+Vorw&uuml;rfen machte sie sich Luft.</p>
+
+<p>Mit steigendem Mi&szlig;behagen empfanden die Nur-Politiker
+den leisen Hohn, mit dem die Gewerkschafter
+ihnen begegneten. Sie hatten von jeher dem Theoretisieren
+&uuml;ber den Massenstreik skeptisch gegen&uuml;bergestanden,
+und auf ihrem Kongre&szlig; in K&ouml;ln sprachen sie sich r&uuml;ckhaltlos
+aus; von der Unfruchtbarkeit der Partei, von
+dem stagnierenden Sumpf der gegenw&auml;rtigen Situation,
+von der kl&auml;glichen Lage, in die wir durch die wirkungslos
+verpuffte Landtagswahldemonstration gekommen seien,
+von dem Mi&szlig;verh&auml;ltnis zwischen Worten und Taten
+war viel die Rede. Nicht ohne berechtigten Stolz wiesen
+sie darauf hin, da&szlig; die anderthalb Millionen gewerkschaftlich
+Organisierter eine st&auml;rkere Macht repr&auml;sentierten
+als die viermalhunderttausend Mitglieder der
+sozialdemokratischen Wahlvereine.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe die M&ouml;glichkeit einer Spaltung der Partei
+immer weit von mir gewiesen,&laquo; sagte einer der gewerkschaftlichen
+F&uuml;hrer; &raquo;aber wenn die Dinge sich weiter
+entwickeln wie jetzt, dann rei&szlig;t uns, wei&szlig; Gott, die
+Geduld! Die Radikalen, die, wenn man den Firnis
+abkratzt, nichts sind als gew&ouml;hnliche Spie&szlig;er, bilden
+<a name="Page_594" id="Page_594"></a>sich ein, wir tanzen nach ihrer Pfeife, blo&szlig; weil sie so
+laut ist. Sie sollen sich wundern!&laquo;</p>
+
+<p>Auf dem Parteitag zu Mannheim kam es zu einem
+Duell zwischen Bebel und Legien. Keiner war unbestrittener
+Sieger, Wunden trugen beide davon, die
+sogenannte Einigungsresolution war nichts als ein
+Pflaster. Und die schweren Nebelschwaden senkten sich
+tiefer.</p>
+
+<p>Pl&ouml;tzlich aber erhob sich ein Sturm, den kein Wetterkundiger
+vorausgesehen hatte: die Regierung forderte
+einen Nachtragsetat f&uuml;r den Krieg gegen die Hereros,
+der im Verh&auml;ltnis zu den Millionen, die die Reichstagsmehrheit
+bisher f&uuml;r die Kolonien bewilligt hatte,
+eine Lappalie war. Von den Rednern des Zentrums
+und der Sozialdemokratie wurde dabei die ganze Kolonialpolitik
+mit ihren Gewaltma&szlig;regeln, ihren Grausamkeiten
+aufgerollt, und zu allgemeiner &Uuml;berraschung wurde
+der Kredit f&uuml;r S&uuml;dwest-Afrika abgelehnt. Das erschien
+der Regierung als der geeignete Moment, dem Volke
+durch die Tat zu beweisen, da&szlig; der Konstitutionalismus
+in Deutschland nur auf dem Papiere steht: nicht der
+Kanzler und die Minister danken ab, wenn die Volksvertreter
+sie desavouieren, sondern die Volksvertreter
+werden mit einem Fu&szlig;tritt hinausgeworfen, wenn sie
+das pers&ouml;nliche Regiment nicht jasagend anerkennen.</p>
+
+<p>Wir erfuhren die Nachricht der Reichstagsaufl&ouml;sung,
+als wir mit Romberg im Kaffee des Kaiserhofs sa&szlig;en.
+Und hier, wo eine Anzahl der politischen Berichterstatter
+gr&ouml;&szlig;erer Zeitungen zu verkehren pflegten, rief
+sie einen Aufruhr hervor, wie ihn Berlin sonst nicht
+kannte.</p>
+<p><a name="Page_595" id="Page_595"></a></p>
+<p>&raquo;Eine unglaubliche Dummheit der Regierung!&laquo; rief
+der eine stirnrunzelnd, der andere frohlockend.</p>
+
+<p>&raquo;Nun geht's in den Kampf&nbsp;&mdash;&laquo; Ich mu&szlig;te an mich
+halten, um es nicht jubelnd herauszusto&szlig;en. Ich sah
+wieder entw&ouml;lkten Himmel, weiten Horizont.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn die Partei sich selbst zerfleischt, so ist noch
+immer die Regierung zugesprungen, um die Wunden zu
+heilen,&laquo; sagte mein Mann. Romberg zuckte die Achseln:</p>
+
+<p>&raquo;Die Kolonialfrage als Wahlparole?! Ich f&uuml;rchte,
+Sie t&auml;uschen sich &uuml;ber ihre Bedeutung.&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Der Winter war ungew&ouml;hnlich hart damals.
+Gerade die Not, die ihn zum Gefolge hat,
+macht ihn zu unserem Agitator, dachte ich.
+Alle unsere Gegner, an ihrer Spitze der Reichsverband
+gegen die Sozialdemokratie und der Flottenverein, r&uuml;steten
+sich bis an die Z&auml;hne wider uns. Ich war &uuml;berzeugt:
+das steigere nur unsere Kampflust und festige unsere
+Einigkeit wieder. F&uuml;rst B&uuml;low selbst trat auf das
+Schlachtfeld und rief die staatserhaltenden Kr&auml;fte gegen
+die Sozialdemokratie auf. Dieses Eingreifen des h&ouml;chsten
+Staatsbeamten wird selbst unsere lauen Anh&auml;nger zu
+hellem Zorn entflammen, &mdash; dessen war ich gewi&szlig;.</p>
+
+<p>Und der Kampf begann. &Uuml;ber knirschenden Schnee
+flog der Schlitten, der mich von einem Dorf zum anderen
+trug. Oft bestieg ich ihn, gl&uuml;hhei&szlig; von der eben
+gehaltenen Rede, und die Luft, die mir den Atem am
+Munde gefrieren lie&szlig;, schien mir eine Wohltat. In
+den niedrigen S&auml;len fanden sich die Menschen ein wie
+sonst, aber der Sturm, der in den Schornsteinen heulte,
+<a name="Page_596" id="Page_596"></a>der Schnee, der in dichten Flocken gegen die Fenster
+flog, trieb ihnen k&uuml;hle Schauer &uuml;ber den R&uuml;cken.</p>
+
+<p>Je n&auml;her der Tag der Entscheidung r&uuml;ckte, desto
+fieberhafter arbeiteten wir. Den Husten, der mir des
+Nachts den K&ouml;rper ersch&uuml;tterte, suchte ich zu ersticken,
+meine Stimme, die versagen wollte, zwang ich unter
+meinen Willen. Wir glaubten an den Sieg. Und
+in Augenblicken selbstvergessener Hoffnung, wo die b&ouml;sen
+Geister der Sorge vor unserer Zuversicht die Flucht ergriffen,
+wo alle Furcht sich verkroch wie Schakale vor
+der aufgehenden Sonne, da f&uuml;hlte ich, wie mein Herz
+hei&szlig; wurde und der Aberglaube Gewalt &uuml;ber mich
+bekam: von der Entscheidung h&auml;ngt auch unsere Zukunft
+ab.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wieder, wie vor vier Jahren, sa&szlig;en wir am
+Abend der Wahl im Gewerkschaftshaus zu
+Frankfurt. Und wieder hatte die G&auml;rtnersfrau
+den Korb voll roter Nelken neben sich, und die
+Fahne lehnte eingerollt an der Wand. Aber die Genossen,
+die sich allm&auml;hlich hereindr&auml;ngten, machten ernste
+Gesichter, und die Boten, die kamen, brachten lauter
+Hiobsposten. Kein Ort, ohne einen R&uuml;ckgang unserer
+Stimmen! Dazwischen die Depeschen aus anderen Kreisen:
+Verlust um Verlust. Noch ehe die letzten Nachrichten
+gekommen waren, leerte sich die Stra&szlig;e unter unseren
+Fenstern, und aus dem Saal schlich sich leise einer nach
+dem anderen. Es schlug Mitternacht, &mdash; die Nelken
+welkten schon im Korbe. Wir waren nur noch ein H&auml;uf<a name="Page_597" id="Page_597"></a>lein
+in dem gro&szlig;en &ouml;den Raum, &mdash; wir wollten uns
+nichts ersparen: die Schlacht war endg&uuml;ltig verloren.</p>
+
+<p>Wenige Tage sp&auml;ter &mdash; in der Nacht nach den Stichwahlen &mdash; gingen
+wir durch die Stra&szlig;en Berlins: da
+kamen sie in langen Z&uuml;gen, unsere &Uuml;berwinder &mdash; kein
+Polizeis&auml;bel, kein Schutzmannskordon hielt sie auf. Vor
+dem K&ouml;nigsschlo&szlig; sammelten sie sich in schwarzen Massen.
+&raquo;Heil dir im Siegerkranz&nbsp;&mdash;&laquo; brausend stiegen die T&ouml;ne
+durch die klare Winterluft zu dem hellen Fenster empor,
+an dem der sich zeigte, der heute in Wahrheit der
+Sieger war: der Kaiser.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_598" id="Page_598"></a></p>
+<h2><a name="Siebzehntes_Kapitel" id="Siebzehntes_Kapitel"></a>Siebzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>Vor einem halben Menschenalter war's. Ich
+stand allein auf Bergesspitze im Gewittersturm.
+Dicht &uuml;ber mir hingen die Wolken, aus denen
+das Wasser brausend in die Tiefe scho&szlig;, unter mir
+ballten sie sich zusammen und verdeckten jeden Ausblick
+auf stille D&ouml;rfer und freundliche Heimst&auml;tten. Der
+Donner rollte; die Berge antworteten ihm, &mdash; ein Gel&auml;chter
+der Riesen &uuml;ber das kleine Menschengeschlecht.
+Jeder Blitz &ouml;ffnete die Wolkenwand; das Himmelsgew&ouml;lbe
+dahinter stand in Flammen.</p>
+
+<p>Ich aber konnte nicht vor, &mdash; nicht zur&uuml;ck. Ich mu&szlig;te
+mich dem Wetter preisgeben, &mdash; und ich f&uuml;rchtete
+mich &mdash; &mdash;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Wir lagen n&auml;chtelang wach. Jeder tat, als
+schliefe er, aus Schonung f&uuml;r den anderen.
+Unsere Arbeit l&auml;hmte Hoffnungslosigkeit.
+Wir l&auml;chelten, als w&auml;ren wir froh, um dem
+anderen nicht wehe zu tun.</p>
+
+<p>&raquo;Ilse meldet sich an&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte Heinrich, als er
+eines Morgens die Post durchsah.</p>
+
+<p>&raquo;Jetzt?!&laquo; rief ich erschrocken. Sie kam schon am
+<a name="Page_599" id="Page_599"></a>n&auml;chsten Tage, hatte einen seltsam ver&auml;ngstigten Zug
+im Gesicht und ein erzwungen leichtsinniges L&auml;cheln um
+die Lippen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich mu&szlig; einmal wieder Gro&szlig;stadtluft atmen,&laquo; meinte
+sie; &raquo;die Stille bei uns ist oft schaurig.&laquo;</p>
+
+<p>Mir schien, als zittere sie dabei. Von nun an war
+der Telegraphenbote unser h&auml;ufigster Gast. Zuerst glaubte
+ich, ihres Mannes besorgte, sehns&uuml;chtige Liebe k&auml;me
+in diesem Depeschenwechsel zum Ausdruck. Warum hatte
+sie denn nur jedesmal rote Augen, wenn ein Telegramm
+gekommen war?</p>
+
+<p>Da, eines Morgens, st&uuml;rmte einer in unser
+Zimmer, die Haare zerzaust, die Augen rot unterlaufen, &mdash; der
+Gatte meiner Schwester. Vor seinen Verfolgern
+sollten wir ihn sch&uuml;tzen, schrie er verzweifelt und barg
+den dunkeln Kopf in Ilsens Scho&szlig;, die mit erloschenem
+Blick auf ihn niedersah, die kleinen schwachen H&auml;nde
+auf seinem Haar. Noch am selben Tage kam er ins
+Irrenhaus. Er war tobs&uuml;chtig. Dann brach auch Ilse
+zusammen; aber sie weinte nicht, sie sprach nicht &uuml;ber
+ihr Schicksal, sie war nur wie erstarrt. Auch als sich
+herausstellte, da&szlig; ein gro&szlig;er Teil ihres Verm&ouml;gens
+am Sanatorium ihres Mannes verloren gegangen war,
+zuckte sie nur die Achseln.</p>
+
+<p>Um so furchtbarer traf es uns. Bisher w&auml;re der
+Verlust des Geldes, mit dem sie sich an der Neuen Gesellschaft
+beteiligt hatte, keine ernste Frage f&uuml;r sie gewesen.
+Jetzt war sie es. Hatte ich vor ihrem Kommen
+geglaubt, zusammenzubrechen, jetzt kam mir die Kraft
+zur&uuml;ck, eine des Fiebers.</p>
+
+<p>&raquo;Wir m&uuml;ssen aushalten, Heinz, wir m&uuml;ssen!&laquo; sagte
+<a name="Page_600" id="Page_600"></a>ich, und wenn eine seiner vielen Bem&uuml;hungen, Hilfe zu
+schaffen, wieder vergeblich gewesen war, so trieb ich ihn zu
+immer neuen Versuchen an. Und hie und da gl&uuml;ckten
+sie. F&uuml;r ein paar Monate konnten wir weiter schaffen,
+konnten leben. Aber jedesmal, wenn wir Hoffnung
+sch&ouml;pften, erschien sicherlich irgendein Hetzartikel in der
+Parteipresse gegen uns, oder in den Wahlvereinen
+wurden wir von radikalen Genossen einer neuen Ketzerei
+beschuldigt, oder der alte Vorwurf des Gesch&auml;ftssozialismus
+wurde laut. Wir sp&uuml;rten das alles an der Abnahme
+der Abonnenten.</p>
+
+<p>Wie kann ich Geld schaffen, &mdash; wie?! Die Frage
+beherrschte meine Gedanken immer mehr. Ein &raquo;freier&laquo;
+Schriftsteller war ich, &mdash; einer von den Tausenden, die
+ausziehen, ihre Feder zu f&uuml;hren wie ein Schwert. Aber
+die Not heftet sich an ihre F&uuml;&szlig;e, zuerst ein Zwerg,
+und dann ein Riese, der sie in seine Dienste zwingt.</p>
+
+<p>&raquo;Lieber sterben!&laquo; st&ouml;hnte ich.</p>
+
+<p>Doch dann sah ich mein Kind, &mdash; wie es bla&szlig; war,
+welch forschende Augen es auf mich richtete! Ich ri&szlig;
+es in meine Arme:</p>
+
+<p>&raquo;Unter jedes Joch beuge ich meinen Nacken f&uuml;r dich,&laquo;
+dachte ich verzweifelt.</p>
+
+<p>Ich beschlo&szlig;, Vortr&auml;ge zu halten gegen Entree. Das
+war nichts Erniedrigendes. Jeder Dozent an der Universit&auml;t
+bekommt ein Honorar f&uuml;r die wissenschaftlichen
+Erkenntnisse, die er den H&ouml;rern vermittelt. Trotzdem
+widerstrebte es mir. Ein Gef&uuml;hl grenzenloser Scham
+trieb mir den Angstschwei&szlig; jedesmal auf die Stirn,
+wenn ich die Rednertrib&uuml;ne betrat. Ich hatte immer
+einen vollen Saal. Ich &raquo;zog&laquo;, &mdash; ich war eine Sen<a name="Page_601" id="Page_601"></a>sation.
+Wie ein gez&auml;hmter L&ouml;we im Zirkus. Gegen
+ein paar Mark Eintritt konnte sich nun die beste Gesellschaft,
+ohne sich etwas zu vergeben, die ber&uuml;chtigte
+Sozialdemokratin ansehen, &mdash; mit dem Opernglas sogar.
+Meine Zuh&ouml;rer trugen rauschende Kleider und viele
+Brillanten an den wei&szlig;en H&auml;nden, mit denen sie Beifall
+klatschten, um zu erzwingen, da&szlig; ich mich vor ihnen
+verbeugte.</p>
+
+<p>&raquo;Unglaublich von einer Genossin, in diesem goldstrotzenden
+Saal zu reden und sich von diesem Publikum
+bezahlen zu lassen&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte eine Besucherin, als ich
+gerade an ihr vor&uuml;ber ins Freie trat. Ich pre&szlig;te die
+Lippen zusammen, um nicht heftig aufzufahren&nbsp;&mdash;.</p>
+
+<p>Sobald ich sprach, erschrak ich vor der Stimme, die
+nicht mehr die meine war. Im letzten Wahlkampf
+hatte sie ihren Klang verloren, war heiser und rauh
+geworden. Und ich hatte sie geliebt, weil sie meine
+Worte so leicht und willig bis in jeden Winkel trug.
+Doch: &mdash; was bedeutete das jetzt?! Es war mehr verloren
+gegangen als der helle Ton meiner Stimme.</p>
+
+<p>Ich fing an zu reisen; von einer Stadt in die andere.
+Zuweilen auf die Einladung irgendeines literarischen
+Vereines hin. In Hannover sagte mir der Vorsitzende:</p>
+
+<p>&raquo;Nicht wahr, Sie richten sich darauf ein, da&szlig; Offiziere
+unter unseren Mitgliedern sind.&laquo;</p>
+
+<p>In K&ouml;ln hie&szlig; es: &raquo;Wir rechnen darauf, da&szlig; Sie
+auf unsere jungen M&auml;dchen R&uuml;cksicht nehmen.&laquo;</p>
+
+<p>H&auml;tte ich ihnen doch den R&uuml;cken kehren k&ouml;nnen!</p>
+
+<p>Wenn ich nach Hause kam, umklammerte mich mein
+Sohn mit &uuml;berstr&ouml;mender Z&auml;rtlichkeit. Wie ich ihm
+fehlte! Niemand hatte Zeit f&uuml;r ihn! Und doch be<a name="Page_602" id="Page_602"></a>durfte
+er immer mehr der Freundschaft der Eltern!
+&Uuml;ber hundert R&auml;tselfragen des Daseins begann er in
+seinen vielen einsamen Stunden nachzugr&uuml;beln. Und
+seine Phantasie, deren &uuml;ppige Ranken ohne St&uuml;tze
+blieben, ohne die Hand des G&auml;rtners, der sie zur
+rechten Zeit zu beschneiden versteht, &uuml;berwucherten sein
+Gef&uuml;hl. Er f&uuml;rchtete sich oft vor seinen eigenen
+Tr&auml;umen, so da&szlig; ich ihn des Nachts zu mir betten
+mu&szlig;te.</p>
+
+<p>&raquo;Du verz&auml;rtelst den Jungen&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte Heinrich dann
+&auml;rgerlich. Und f&uuml;r &uuml;bertriebene Sentimentalit&auml;t hielt
+er es, wenn ich von der Atmosph&auml;re des Ungl&uuml;cks
+sprach, die sichtlich auf des Kindes Seele lastete. So
+lernte ich schweigen, auch &uuml;ber das, was mir am tiefsten
+das Herz bewegte. Und in sehr dunkeln Stunden bem&auml;chtigte
+sich meiner ein fremdes, b&ouml;ses Gef&uuml;hl. Dann
+h&auml;ufte ich auf meinen Mann alle Schuld.</p>
+
+<p>In solch einer Stimmung traf mich Romberg. Er
+war voll aufrichtiger Teilnahme.</p>
+
+<p>&raquo;Lange halte ich es nicht mehr aus,&laquo; sagte ich, den
+Kopf in den H&auml;nden vergraben. Er sollte nicht sehen,
+da&szlig; meine Kraft nicht einmal mehr ausreichte, um die
+Tr&auml;nen zur&uuml;ckzuhalten.</p>
+
+<p>&raquo;Ich w&uuml;&szlig;te eine Hilfe,&laquo; begann er dann langsam,
+&raquo;eine, durch die Sie frei w&uuml;rden und sorgenlos.&laquo;</p>
+
+<p>Ich hob den Kopf; alles Blut str&ouml;mte mir zum
+Herzen. Eine Hilfe! Er z&ouml;gerte. Dann sah er mich
+an mit einem festen warmen Blick, der die Freundschaft
+langer Jahre in sich schlo&szlig; und sagte, jedes Wort
+betonend:</p>
+
+<p>&raquo;Trennen Sie sich von Ihrem Mann.&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_603" id="Page_603"></a>Als Minuten vergingen, ohne da&szlig; ich antwortete, erhob
+er sich.</p>
+
+<p>&raquo;Z&uuml;rnen Sie mir?&laquo; fragte er.</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; antwortete ich, ihm die Hand entgegenstreckend.
+Dann &uuml;berliefs mich kalt. Auch jetzt lag die
+seine schlaff und kraftlos zwischen meinen Fingern.</p>
+
+<p>Ich &uuml;berlegte seinen Rat und erschrak nicht einmal
+vor der k&uuml;hlen Ruhe, mit der ich es zu tun vermochte.
+Er hatte recht: allein mit meinem Sohn, der Last der
+Zeitschrift ledig, die das meiste verschlang, was ich verdiente,
+w&uuml;rde ich, wenn auch noch so bescheiden, von
+meiner Arbeit leben k&ouml;nnen. Und ich w&auml;re frei, &mdash; frei!
+Unwillk&uuml;rlich streckte ich die Arme weit aus, als
+gelte es, die Welt zu umfassen. Aber dann sah ich
+ihn: meinen Mann, meinen Kampfgef&auml;hrten, meinen
+Leidensgenossen, &mdash; den Vater meines Kindes! Ich
+fing an, ihn zu beobachten. Wie er leiden mu&szlig;te.
+Und wie er mich liebte!</p>
+
+<p>Er brachte mir t&auml;glich ein paar Blumen mit, und
+wenn es nur wenige Veilchen waren. Das schlimmste
+suchte er mir aus dem Wege zu r&auml;umen, so lange es
+ging. Er hatte eine ritterliche, zur&uuml;ckhaltende Z&auml;rtlichkeit
+f&uuml;r mich. Und mein Junge hing an dem
+Vater.</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann nicht, lieber Freund,&laquo; sagte ich mit einem
+wehen L&auml;cheln, als Romberg wiederkam. Er runzelte
+die Stirn und wandte sich ab. Ich legte ihm die Hand
+auf den Arm.</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen versuchen, mich zu verstehen, Sie vor
+allem!&laquo; bat ich. &raquo;Haben Sie mich nicht selbst verspottet,
+als ich einmal die freie Liebe predigte, weil
+<a name="Page_604" id="Page_604"></a>ich &uuml;berzeugt war, das Eheproblem dadurch l&ouml;sen
+zu k&ouml;nnen? Heute wei&szlig; ich, da&szlig; der Zettel auf
+dem Standesamt nicht die st&auml;rkste Fessel ist, die sie
+unfrei macht. Ich habe Frauen gesehen, die sich
+voll Idealismus dem Mann ihrer Wahl verm&auml;hlten,
+ohne ihren Bund nach au&szlig;en sanktionieren zu lassen.
+Nach kurzer Zeit sind sie bedauernswertere Sklavinnen
+geworden als die staatlich abgestempelten Ehefrauen.
+Ihre und ihres Kindes Existenz war von ihrem Manne
+abh&auml;ngig, und jeden Tag konnte er sie verlassen. Darum
+klammerten sie sich an ihn, unterwarfen sich ihm, ertrugen
+seine Brutalit&auml;t, seine Launen, seine Treulosigkeiten.
+Ich erkannte, da&szlig; die wirtschaftliche Selbst&auml;ndigkeit
+der Frau die Voraussetzung des freien Liebesbundes
+sein mu&szlig;..&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun &mdash; und sind Sie etwa wirtschaftlich abh&auml;ngig?!
+Sie, mit Ihrer Begabung, Ihrer Arbeitskraft?&laquo; unterbrach
+er mich heftig.</p>
+
+<p>&raquo;Nein, gewi&szlig; nicht,&laquo; entgegnete ich; &raquo;diese Fessel
+trag' ich nicht mehr, und keine Frau brauchte ihre
+Menschenw&uuml;rde von ihr erdrosseln zu lassen, wenn sie
+arbeiten gelernt hat. Aber es gibt andere Fesseln, &mdash; zart
+und weich wie Seide, &mdash; die unzerrei&szlig;bar sind.
+Mein Sohn liebt seinen Vater. Wie kann ich sein
+Kinderherz verwunden, solch einen Zwiespalt in seine
+Seele tragen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ein Kind &uuml;berwindet rasch,&laquo; antwortete Romberg
+mit einer wegwerfenden Handbewegung.</p>
+
+<p>Ich verstummte. Er, der mir so nahe gewesen war,
+r&uuml;ckte pl&ouml;tzlich weit, weit von mir ab. Ihm von Heinrichs
+Liebe, von seinem Ungl&uuml;ck und den anderen f&uuml;r
+<a name="Page_605" id="Page_605"></a>mich unzerrei&szlig;baren Fesseln zu reden, w&auml;re mir wie eine
+Preisgabe vorgekommen.</p>
+
+<p>Und doch: irgend etwas mu&szlig;te geschehen.</p>
+
+<p>&raquo;Bald, &mdash; bald reise ich nicht mehr fort ohne dich,&laquo;
+hatte ich immer wieder beim Abschiednehmen mein Kind
+getr&ouml;stet.</p>
+
+<p>&raquo;Wann bleibst du wieder bei mir, Mamachen?&laquo; fragte
+es, und jedesmal wurde der Ausdruck seines Gesichtchens
+qu&auml;lender.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Meine n&auml;chste Vortragsreise f&uuml;hrte mich nach
+Leipzig. Dort wohnte einer jener stillen Genossen,
+der f&uuml;r den Revisionismus eine offene
+Hand zu haben pflegte. Als mein Mann sich im Interesse
+der Neuen Gesellschaft einmal schriftlich an ihn
+gewandt hatte, war seine Antwort ein unfreundliches
+glattes Nein gewesen. Trotzdem hoffte ich noch auf die
+Wirkung einer pers&ouml;nlichen Unterredung. Es galt einen
+letzten verzweifelten Versuch.</p>
+
+<p>Ich werde die Reise nie vergessen, nie den Augenblick,
+wo ich, zitternd vor Scham und Angst, in des reichen
+Mannes Zimmer trat. Er mochte ahnen, da&szlig; ich als
+Bittende kam. Es dauerte Sekunden, ehe er mich zum
+Sitzen n&ouml;tigte. Vielleicht w&uuml;rde er es gar nicht getan
+haben, wenn er nicht gesehen h&auml;tte, da&szlig; mir die Kniee
+bebten. Ich hatte einen Mantel an. W&auml;hrend der
+Zeit, die ich bei ihm war, nahm er ihn mir
+nicht ab. Er lie&szlig; mich reden, ohne eine Miene zu verziehen.
+Und dann sprach er &mdash; langsam, jedes Wort
+betonend, soda&szlig; es mir weh tat, wie lauter Schl&auml;ge:<a name="Page_606" id="Page_606"></a>
+&raquo;Ihr Mann ist ein guter Redakteur; das hat er am
+Archiv bewiesen. Aber er ist ein schlechter Gesch&auml;ftsmann,
+sonst h&auml;tte er das prosperierende Archiv, das ihm
+eine sichere und angesehene Stellung bot, nicht hingegeben,
+um ein aussichtsloses Unternehmen zu beginnen.
+Ich mag nicht Wasser in ein hohles Fa&szlig; sch&ouml;pfen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und doch erkannten Sie, wie ich h&ouml;rte, selber an,
+da&szlig; die neue Aufgabe, die er sich stellte, wichtig, ja
+notwendig war,&laquo; wandte ich ein.</p>
+
+<p>&raquo;Ja. F&uuml;r einen Mann, der ausreichende Mittel hat,
+um die Sache durchzuf&uuml;hren.&laquo; Damit erhob er sich.</p>
+
+<p>Ich war entlassen. Mir klebte die Zunge am Gaumen.
+Nun war der Moment, der einzige, der mir noch blieb.
+Ich war ja nicht gekommen, um einen Rechtsanspruch
+durchzusetzen, &mdash; ich mu&szlig;te bitten &mdash; bitten. Ich f&uuml;hlte die
+Tr&auml;nen der Aufregung mir hei&szlig; die Augen f&uuml;llen. Nur
+nicht weinen, &mdash; jetzt nicht weinen, dachte ich und bi&szlig;
+die Z&auml;hne aufeinander. Da aber sah ich pl&ouml;tzlich mein
+Kind vor mir &mdash; ganz deutlich: mit dem ernsten Blick
+und der sehns&uuml;chtigen Frage auf den Lippen. Mein
+Kind! Gl&uuml;hende Schwei&szlig;tropfen bedeckten meine Stirn,
+der Atem stockte. Mit einer raschen Bewegung warf
+ich den schweren Mantel von mir und ri&szlig; das Fenster
+r&uuml;cksichtslos weit auf. Ein konvulsivisches Schluchzen,
+dessen ich nicht Herr werden konnte, ersch&uuml;tterte meinen
+K&ouml;rper. Dann wandte ich mich um und hob den Mantel
+von der Erde auf.</p>
+
+<p>&raquo;So will ich gehen&nbsp;&mdash;,&laquo; kam es tonlos &uuml;ber meine
+Lippen, &mdash; ich konnte nicht bitten, ich konnte nicht!</p>
+
+<p>&raquo;Setzen Sie sich!&laquo; &mdash; Es war wie ein Kommando. Die Ersch&ouml;pfung,
+nicht der Gehorsam zwang mich, ihm zu folgen.</p>
+<p><a name="Page_607" id="Page_607"></a></p>
+<p>&raquo;Ich werde Ihnen helfen, &mdash; Ihnen pers&ouml;nlich, &mdash; dieses
+eine Mal&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich kehrte zum Hotel zur&uuml;ck. Pl&ouml;tzlich fiel mir ein,
+da&szlig; ich die k&uuml;hle Hand mit meinen Fingern dankend
+umschlossen hatte. Die Hand des Mannes, vor dem ich
+mich so erniedrigt hatte!</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Und nun ging es zu Ende. Unweigerlich. Trotzdem
+ich noch hergab, was ich eben empfangen
+hatte. Ein einziges Mal noch stieg unsere Hoffnung
+hoch auf, wie eine Leuchtkugel. Heinrich erhielt
+von einem, der helfen konnte, ein festes Versprechen. Er
+schlo&szlig; darauf hin aufs neue mit dem Drucker ab und
+mit dem Papierlieferanten. &mdash; Aber die Leuchtkugel zerplatzte,
+und es wurde ganz, ganz dunkel.</p>
+
+<p>Ich verlangte Klarheit von meinem Mann, &mdash; r&uuml;ckhaltlose.
+Er gab sie mir mit einer Ruhe, von der ich
+glaubte, da&szlig; sie eine erzwungene sei: Alles war verloren.
+Da wir den Konkurs vermeiden wollten, blieb uns eine
+Schuldenlast, an der wir Jahre zu tragen haben w&uuml;rden.
+Um die allern&auml;chsten Zahlungen leisten und selbst leben
+zu k&ouml;nnen, gab es nur einen Ausweg.</p>
+
+<p>&raquo;Wir verpf&auml;nden unsere M&ouml;bel&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte Heinrich,
+mit einem Ton, als spr&auml;che er von dem Gleichg&uuml;ltigsten
+von der Welt.</p>
+
+<p>Bisher hatte ich zusammengekauert auf dem gro&szlig;en
+Stuhl gesessen, der mir immer wie etwas Lebendiges gewesen
+war, weil seine Lehne den m&uuml;den Kopf st&uuml;tzte,
+seine Arme sich sch&uuml;tzend an mich schmiegten.</p>
+
+<p>Jetzt fuhr ich auf. &raquo;Das Letzte soll ich hergeben?!<a name="Page_608" id="Page_608"></a>
+Und du meinst, ich t&auml;te das so kaltbl&uuml;tig wie du es aussprichst?!&laquo;
+rief ich, vor Entr&uuml;stung am ganzen K&ouml;rper
+zitternd. &raquo;Das hier ist der Rest Heimat, den ich
+habe. Fast jedes St&uuml;ck erinnert mich an den Vater, &mdash; die
+Gro&szlig;mutter, &mdash; an Georg, an meine Jugend&nbsp;&mdash;&laquo;
+Tr&auml;nen erstickten meine Stimme.</p>
+
+<p>Mein Mann ma&szlig; mich mit einem k&uuml;hl-erstaunten
+Blick. &raquo;Stellung, Verm&ouml;gen, Familie, &mdash; alles hast du
+geopfert ohne ein Wort der Klage, und nun jammerst
+du um diesen Tr&ouml;del,&laquo; sagte er kopfsch&uuml;ttelnd. Mein
+Verstand gab ihm recht, aber mein Herz blutete, als
+w&auml;re ihm die schwerste Wunde geschlagen worden.</p>
+
+<p>In der Nacht darauf &ouml;ffnete sich die T&uuml;r zu meines
+Sohnes Zimmer, er st&uuml;rzte auf mich zu, umschlang
+meinen Hals und schluchzte verzweifelt: &raquo;Warum weinst
+du nur so? Warum weinst du nur so?!&laquo;</p>
+
+<p>In diesem Augenblick wu&szlig;te ich, da&szlig; ich ein Opfer
+bringen mu&szlig;te wie keines zuvor. Ich weinte nicht
+mehr. Ich war ganz still und ganz entschlossen. &raquo;Otto
+darf den Zusammenbruch nicht mit erleben,&laquo; sagte ich
+zu meinem Mann. &raquo;Schon jetzt ist er wie vergiftet, &mdash; gar
+kein Kind mehr&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich erwartete eine heftige Szene.</p>
+
+<p>Statt dessen erhellten sich Heinrichs Z&uuml;ge. &raquo;Nun bist
+du wieder meine tapfere Alix&laquo; &mdash; damit dr&uuml;ckte er mir
+die Hand, so herzlich wie seit Monden nicht &mdash; &raquo;nat&uuml;rlich
+ist das f&uuml;r alle Teile das Beste. Wir beide bauen
+ungehindert ein neues Leben auf, und er wird irgendwo
+auf dem Land wieder ein starker, froher Junge ...&laquo;</p>
+
+<p>Ich h&ouml;rte seine Stimme nur noch wie ein fernes
+Brausen. So nahm er auf, wovon ich nie gesunden
+<a name="Page_609" id="Page_609"></a>w&uuml;rde: &mdash; fast froh! Ich starrte ihn an; die schreckliche
+Erregung verzerrte mir sein Bild, als h&auml;tte ich ihn noch
+nie gesehen. Mit diesem Mann hatte ich mein Leben
+verkn&uuml;pft, &mdash; und eben noch den Gedanken an eine
+Trennung weit, weit von mir gewiesen?! Mir schien,
+als w&auml;re die Trennung vollzogen, lange schon, sonst h&auml;tte
+er in dieser Stunde, da mein ganzes Leben zusammenbrach,
+so nicht zu mir sprechen k&ouml;nnen, &mdash; so nicht!</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Ich schrieb an einen Freund Egidys, den ich seit
+der Zeit, da ich ihn in dessen Hause traf, hie
+und da wiedergesehen hatte. So selten das gewesen
+war, mit einem Gef&uuml;hl warmer gegenseitiger Anteilnahme
+waren wir uns immer begegnet. Jetzt leitete
+er eine Schule hoch oben im Th&uuml;ringer Wald. Ich
+sprach ihm r&uuml;ckhaltlos von der Lage, in der wir uns
+befanden. &raquo;Mein Sohn leidet darunter, halb unbewu&szlig;t,
+und ich will ihm das Schlimmste ersparen, will seine
+Jugend nicht hineinrei&szlig;en in den Strudel unseres k&uuml;nftigen
+Lebens. Sie sehen, es ist ein Freundschaftsopfer
+das ich von Ihnen erwarte&nbsp;&mdash;,&laquo; hier zitterte mir die
+Hand und versagte den Dienst.</p>
+
+<p>Er antwortete umgehend, mit einem zarten Takt, der
+mir wohltat: &raquo;Ihr Sohn soll uns von Herzen willkommen
+sein. Und kein dr&uuml;ckendes Gef&uuml;hl darf Ihnen
+daraus entspringen. &Uuml;berlassen Sie ruhig der Zukunft
+die materielle Seite der Sache. Da er Ihr Kind ist,
+wird er unserer Schule mehr geben, als er erh&auml;lt und
+sich durch Gold aufwiegen l&auml;&szlig;t..&laquo;</p>
+
+<p>Zu Ostern wollte ich ihn hinbringen, aber ich verschob
+<a name="Page_610" id="Page_610"></a>es von Tag zu Tag, mit ihm davon zu sprechen; er war
+so gl&uuml;cklich, da&szlig; ich auf einmal immer bei ihm war,
+mit ihm spielte, mit ihm spazieren ging, ihm Geschichten
+erz&auml;hlte wie in der sch&ouml;nen alten Zeit.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Indessen erschien die letzte Nummer der Neuen
+Gesellschaft, mit einem kurzen Abschiedswort
+an die Leser. Keiner von unseren Gesinnungsgenossen
+hatte ein Wort des Bedauerns daf&uuml;r, niemand
+von denen, f&uuml;r deren &Uuml;berzeugung sie gek&auml;mpft hatte,
+ohne sich durch geh&auml;ssige Angriffe und gemeine Verleumdungen
+vom Wege ablenken zu lassen, der ihr als
+der rechte erschien, k&uuml;mmerte sich um uns. Keinem
+konnte es ein Geheimnis sein, da&szlig; wir alles verloren
+hatten, aber kaum ein einziger hatte auch nur eine teilnehmende
+Frage danach. Wir waren abgetan, &mdash; fertig.
+Die Genossen gingen &uuml;ber uns hinweg wie die Soldaten
+im Krieg &uuml;ber die gefallenen Kameraden auf dem
+Schlachtfeld.</p>
+
+<p>Damals hatte ich daf&uuml;r nur eine ver&auml;chtliche Geb&auml;rde.
+Gro&szlig;e Schmerzen sind ein Palliativmittel gegen
+die kleinen.</p>
+
+<p>Nur eins erf&uuml;llte mich mit tiefer Bitterkeit: da&szlig;
+auch Romberg nicht wiederkam. Er hatte eine Auseinandersetzung
+mit meinem Mann gehabt, bei der
+seine lange im stillen herrschende Feindschaft gegen ihn
+zu offenem Ausbruch gekommen war. Ich erfuhr
+nicht viel davon. Aber um mich mochte sich's gehandelt
+haben und darum, da&szlig; Romberg meinem Mann
+vorwarf, unser Ungl&uuml;ck verschuldet zu haben, und dieser
+<a name="Page_611" id="Page_611"></a>sich jede Einmischung in unser Tun und Lassen verbat.
+War das Grund genug, um mich gerade jetzt im Stich
+zu lassen? Und an seine aufrichtige Freundschaft hatte
+ich geglaubt!</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Ein Ostermorgen war es, hell und leuchtend. Ein
+Auferstehungsfest, das die gefl&uuml;gelten Musikanten
+der Natur mit hundertstimmigem Gesang
+begr&uuml;&szlig;ten. Mit lauter lustigen goldgelben Flecken
+bedeckte die Sonne den Erdboden unter den Kieferst&auml;mmen.
+Wir gingen durch den Grunewald nach
+Schildhorn, mein Sohn und ich. Wie er sich freute!
+Jedes armselige Bl&uuml;mlein, das der karge Sand hervorsprie&szlig;en
+lie&szlig;, bewunderte er. Und die Luft, die ein
+Odem erwachenden Lebens war, sog er ein mit tiefen
+durstigen Z&uuml;gen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich hasse die Stadt,&laquo; sagte er mit der ganzen Energie
+seiner zehn Jahre. &raquo;Warum k&ouml;nnen wir nicht auf dem
+Lande leben?&laquo;</p>
+
+<p>Das war der rechte Augenblick, um ihm von Waltershof
+zu sprechen, der Schule im Th&uuml;ringer Wald. Mit
+stockender Stimme begann ich, und erz&auml;hlte von dem
+freien Leben dort und den vielen Kindern.</p>
+
+<p>Seine Augen gl&auml;nzten. &raquo;Das denke ich mir riesig
+fein!&laquo; rief er.</p>
+
+<p>&raquo;M&ouml;chtest du am Ende gar selber hingehen?&laquo; fragte
+ich z&ouml;gernd.</p>
+
+<p>Er machte einen Luftsprung. &raquo;Nat&uuml;rlich! Aus der
+scheu&szlig;lichen Stadt heraus auf die Berge, &mdash; was gibt
+es Sch&ouml;neres!&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_612" id="Page_612"></a>Ich h&auml;tte mich freuen m&uuml;ssen, &mdash; aber die Tr&auml;nen
+traten mir in die Augen. So w&uuml;rde ihm der Abschied
+nicht allzu schwer werden!</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Ein paar Tage sp&auml;ter reisten wir ab. Er war
+wie umgewandelt; in leuchtenden Farben
+malte er sich das Leben aus, das seiner wartete.
+Zuweilen schien er zu stutzen, wenn er mich
+ansah.</p>
+
+<p>&raquo;Und du besuchst mich oft, sehr oft, nicht wahr,
+Mamachen? Und zu den Ferien komme ich immer
+nach Haus?&laquo; sagte er dann, im Gef&uuml;hl, mich tr&ouml;sten
+zu m&uuml;ssen.</p>
+
+<p>Von der Station fuhren wir mit dem Wagen bergauf
+durch dichte Tannenw&auml;lder. Mein Sohn verstummte
+und schmiegte sich an mich. Ob ihn nun der Abschiedsschmerz
+packen w&uuml;rde? Das Herz klopfte mir erwartungsvoll.
+&raquo;Ein bi&szlig;chen geniere ich mich doch vor den fremden
+Jungens,&laquo; meinte er.</p>
+
+<p>Oben auf der Hochebene, wo der Wind &uuml;ber freie
+Felder strich und mit den kleinen runden Fr&uuml;hlingsw&ouml;lkchen
+spielte wie ein Kind mit dem Fangball, verlor
+er seine scheue Stimmung wieder.</p>
+
+<p>&raquo;Wie wunder &mdash; wundersch&ouml;n das ist,&laquo; sagte er mit
+einem Blick in die Ferne.</p>
+
+<p>In stiller gro&szlig;er Einsamkeit reihte sich Berg an Berg;
+die kleinen grauen Menschenwohnungen verschwanden in
+den tiefen T&auml;lern.</p>
+
+<p>Der Direktor begr&uuml;&szlig;te uns wie vertraute Freunde.
+Die Sch&uuml;ler betrachteten aus gemessener Entfernung
+<a name="Page_613" id="Page_613"></a>den Ank&ouml;mmling. Er umfa&szlig;te wie schutzsuchend meine
+Hand. Jetzt, &mdash; jetzt wird er bei mir zu bleiben
+verlangen! &mdash; Da trat ein brauner Bursche aus der
+Schar.</p>
+
+<p>&raquo;Sieh mal die Wiese dort,&laquo; sagte er zu meinem
+Jungen und wies auf den gelbbl&uuml;henden Abhang, der
+sich hinter dem Hause in die Tiefe senkte; &raquo;willst du da
+hinunter mit mir um die Wette laufen?&laquo;</p>
+
+<p>Und im selben Augenblick, &mdash; kaum da&szlig; er Zeit
+gefunden hatte, mir Mantel und M&uuml;tze zuzuwerfen, &mdash; flog
+er mit ihm davon. Wie heller Sonnenschein
+tanzten ihm die blonden Locken um den Kopf. Ich
+starrte ihnen nach. Mir gingen dabei die Augen &uuml;ber.
+Hinter den Fichtenst&auml;mmen, &mdash; weit, weit im Tal, erloschen
+sie.</p>
+
+<p>&raquo;Er wird sich rasch zu Hause f&uuml;hlen,&laquo; sagte der Direktor.</p>
+
+<p>Er wird sich rasch zu Hause f&uuml;hlen&nbsp;&mdash;!</p>
+
+<p>Ich verlie&szlig; Waltershof schon am n&auml;chsten Morgen.
+Jede Stunde, die ich blieb, kam wie ein verschlagener
+R&auml;uber und stahl mir st&uuml;ckweise mein Liebstes.</p>
+
+<p>Ehe ich in den Wagen stieg, umarmte mich mein
+Sohn mit st&uuml;rmischer Heftigkeit. Nun endlich wird es
+ihn &uuml;bermannen&nbsp;&mdash;! Ich pre&szlig;te ihn an mich, ich hielt
+ihn fest. Dieser Scho&szlig; hat dich geboren, an diesem
+Herzen wuchsest du empor, &mdash; schrie es in mir, &mdash; nur
+ein Wort der Liebe sag mir, ein Wort der Sehnsucht,
+und ich verteidige deinen Besitz gegen H&ouml;lle und Himmel!
+Aber er schwieg. Seine Augen blieben hell. Ringsum
+standen die Lehrer und die Sch&uuml;ler&nbsp;&mdash;. Ich nahm
+seinen Kopf zwischen meine H&auml;nde und k&uuml;&szlig;te ihn. Ich
+<a name="Page_614" id="Page_614"></a>gr&uuml;&szlig;te noch einmal l&auml;chelnd nach rechts und links. Dann
+zogen die Pferde an &mdash;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Damals, vor einem halben Menschenalter, als
+ich im Gewittersturm auf dem Berge stand,
+dem Wetter preisgegeben, f&uuml;rchtete ich den Tod.
+Was h&auml;tte ich jetzt noch f&uuml;rchten k&ouml;nnen?</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_615" id="Page_615"></a></p>
+<h2><a name="Achtzehntes_Kapitel" id="Achtzehntes_Kapitel"></a>Achtzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>In Schleier aus durchsichtigem Silber gewoben
+h&uuml;llte sich der blaue Fr&uuml;hlingshimmel. Milde
+l&auml;chelnd gl&auml;nzte sein gro&szlig;es Sonnenauge. Und
+die kleinen wei&szlig;en Wolken standen ganz still wie erwartungsvoll
+staunende Kinder, ehe der Vorhang vor
+dem M&auml;rchenspiel aufgeht. Die Luft streichelte mit
+weichen H&auml;nden die Erde, als w&auml;re sie sehr, sehr krank.</p>
+
+<p>Jetzt trugen sie den letzten Hausrat aus der alten
+Wohnung. Der gro&szlig;e gelbe Wagen vor der T&uuml;r wartete
+darauf, ihn in die neue hin&uuml;berzufahren.</p>
+
+<p>Ich sah mich um in den leeren R&auml;umen: auf dem
+Boden lag Papier und Stroh und Scherben, in den
+Winkeln Staub in gro&szlig;en grauen Flocken. Z&ouml;gernd,
+als hielte eine unsichtbare Hand mich zur&uuml;ck, &ouml;ffnete ich
+die T&uuml;r zu meines Sohnes Zimmer. Von seinen unruhigen
+F&uuml;&szlig;chen war die Diele zertreten. Dunkel zeichnete
+sich der Platz am Boden ab, wo sein Bett gestanden
+hatte; &mdash; wie oft, seitdem er fort war, hatte
+ich den Kopf in die leeren Kissen vergraben &mdash;</p>
+
+<p>Eine Hand ber&uuml;hrte meine Schulter.</p>
+
+<p>&raquo;Komm, Alix,&laquo; sagte Heinrichs weiche, tiefe Stimme
+hinter mir. Auf seinen Arm gest&uuml;tzt, mit tief gebeugtem<a name="Page_616" id="Page_616"></a>
+Nacken ging ich die Treppen hinab. Auf der Stra&szlig;e
+versagte mir der Atem; mein Begleiter hatte einen so
+raschen, elastischen Schritt, da&szlig; ich ihm nicht zu folgen
+vermochte. Er trug auch den Kopf ganz hoch, wie
+einer, der noch als Eroberer ins Leben tritt. Und
+waren wir nicht Geschlagene?! Ich hatte meinen Gedanken
+laut werden lassen. Heinrich blieb stehen.</p>
+
+<p>&raquo;Hast du die Waffen gestreckt?!&laquo; fragte er stirnrunzelnd
+mit scharfer Betonung. &raquo;Ich nicht! Was uns
+nicht umbringt, das macht uns st&auml;rker.&laquo;</p>
+
+<p>Ich senkte den Kopf noch tiefer; eine j&auml;he R&ouml;te scho&szlig;
+mir in die Schl&auml;fen.</p>
+
+<p>Er hatte die T&uuml;re zu unserer neuen Wohnung mit
+Blumen bekr&auml;nzen lassen. Da&szlig; ich sie nicht abri&szlig;, geschah
+nur, um ihm nicht wehe zu tun. Drinnen empfingen
+uns schon die stummen vertrauten Gef&auml;hrten
+unseres Lebens. Aber an dem gro&szlig;en Schreibtisch stand
+jetzt nur noch ein Stuhl. Ich hatte ein eigenes kleines
+Zimmer.</p>
+
+<p>&raquo;Das ist der erste Schritt zur Ehetrennung,&laquo; l&auml;chelte
+mein Mann, mit einem Blick auf mich, in dem eine
+ernste Frage lag. Ich blieb ihm die Antwort schuldig.</p>
+
+<p>&raquo;Freust du dich denn gar nicht, da&szlig; all der Kram
+dir nun doch erhalten blieb?!&laquo; sagte er nach einer
+Pause in einem erzwungen leichten Ton. &raquo;Wie hast du
+darum gezittert, du armer Angsthase du!&laquo; Und wieder
+stieg mir das Blut ins Gesicht. Ich sch&auml;mte mich, da&szlig;
+ich so hatte empfinden k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>&raquo;Dem, der mir dazu verhalf, werde ich immer dankbar
+sein,&laquo; sagte ich leise, &mdash; es war keiner der alten
+Freunde, keiner der offiziellen Vertreter der &raquo;Br&uuml;der<a name="Page_617" id="Page_617"></a>lichkeit&laquo;
+gewesen! &mdash; &raquo;Aber mehr darum, weil ich doch
+noch einen Menschen mit warmem Herzen gefunden
+habe, als um der St&uuml;hle und Schr&auml;nke und Kisten und
+Kasten willen&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Heinrich dr&uuml;ckte mir die Hand. Dann nahm er eine
+der letzten Nummern der Neuen Gesellschaft aus dem
+B&uuml;cherschrank.</p>
+
+<p>&raquo;'Solchen Menschen, welche mich etwas angehen,
+w&uuml;nsche ich Leiden, Verlassenheit, Mi&szlig;handlung, Entw&uuml;rdigung, &mdash; ich
+w&uuml;nsche, da&szlig; ihnen das Elend der
+&Uuml;berwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein
+Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das einzige w&uuml;nsche,
+was heute beweisen kann, ob Einer Wert hat, oder
+nicht, &mdash; da&szlig; er standh&auml;lt&nbsp;...'&laquo; las er. &raquo;Diese Worte
+Nietzsches habe ich abgedruckt, weil sie meine eigene tiefe
+&Uuml;berzeugung aussprechen.&laquo;</p>
+
+<p>Seine Kraft verletzte mich fast. Ich wollte nicht
+&uuml;berwinden. Es kam mir wie ein Verrat an meinem
+Kinde vor, wenn auch mich ein Gef&uuml;hl ergriff, als ginge
+ich gest&auml;rkt einem neuen Leben entgegen. Ich pflegte
+mein Leid mit selbstqu&auml;lerischer Wollust. Ich liebte es.</p>
+
+<p>Aber &mdash; seltsam&nbsp;&mdash;: Je l&auml;nger es neben mir herging,
+desto mehr wandelte sich sein gr&auml;&szlig;liches Medusenhaupt
+in das stille, ernste Antlitz eines Freundes. Es
+nahm mich bei der Hand und f&uuml;hrte mich langsam,
+Schritt vor Schritt, &mdash; mein Herz ertrug es nicht anders, &mdash; einen
+hohen Berg hinauf. Und von da oben sah
+ich in das Tal meines Lebens. Ich erkannte seine
+gro&szlig;en Umrisse und geraden Linien, aber all die Hindernisse
+auf den Wegen &mdash; den Unrat auf den Stra&szlig;en &mdash; sah
+ich nicht mehr.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_618" id="Page_618"></a></p>
+
+<p>Eines Tages trat mein Mann mit einem gro&szlig;en
+Strau&szlig; duftender Rosen in mein Zimmer.</p>
+
+<p>&raquo;Zum Zeichen, da&szlig; ich dir wieder Blumen
+bringen kann,&laquo; sagte er l&auml;chelnd. Nun erfuhr ich
+erst von seiner Arbeit, von den Pl&auml;nen, die ihrer Verwirklichung
+entgegengingen, &mdash; rein gesch&auml;ftlichen Unternehmungen,
+denen er neben seiner literarischen T&auml;tigkeit
+all seine Kr&auml;fte widmete, ohne sich eine Stunde
+der Ruhe, eine Pause der Erholung zu g&ouml;nnen, &mdash; nur
+das eine Ziel im Auge: die dr&uuml;ckenden Schulden zu
+zahlen, uns eine Existenz zu gr&uuml;nden und &mdash; er sprach
+es so leise aus, als ob er sich scheue, daran zu r&uuml;hren &mdash; &raquo;dir
+dein Kind zur&uuml;ckzugeben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Heinz!&laquo; rief ich, &mdash; die Tr&auml;nen st&uuml;rzten mir aus
+den Augen, &mdash; ich griff nach seinen beiden H&auml;nden und
+dr&uuml;ckte sie zwischen den meinen.</p>
+
+<p>&raquo;Was meinst du, wenn du den Buben holen gingst?!&laquo;
+Und vorsichtig, als w&auml;re ich etwas sehr Zerbrechliches,
+zog sein Arm mich an sich.</p>
+
+<p>Ich fuhr schon am n&auml;chsten Morgen nach Waltershof.
+Wie langsam schlich der Zug durch die bl&uuml;hende
+Sommerpracht, wie endlos hielt er sich an all den
+vielen Stationen auf! Endlich, endlich kam ich an.
+Droben auf der H&ouml;he, wo jetzt das Korn in hohen
+Garben stand und alle &Auml;hren gr&uuml;&szlig;ten und nickten, als
+w&uuml;&szlig;ten sie um mein Gl&uuml;ck, kam mir mein Junge entgegengelaufen &mdash; &mdash;</p>
+
+<p>Wie gro&szlig; und wie braun, und wie stark und wie
+froh er war! Sonderbar, da&szlig; irgend etwas dabei mich
+schmerzte. Er k&uuml;&szlig;te und herzte mich immer wieder, &mdash; aber<a name="Page_619" id="Page_619"></a>
+nicht mit dem Bed&uuml;rfnis nach Schutz, nach Anlehnung,
+wie die kleinen Kinder, wenn sie sich an die
+Mutter schmiegen. Ich sah ihn dann im Kreise der
+Kameraden auf der gr&uuml;nen Wiese, im Tannenwald: wie
+er seine Kr&auml;fte an den ihren ma&szlig;. Ich dachte an
+unsere Stra&szlig;e, unsere enge Wohnung; &mdash; ich wagte
+noch nicht, ihm zu sagen, warum ich gekommen war.
+Und als ich am n&auml;chsten Vormittag dem Unterricht
+beiwohnte, in Klassen, wo kaum mehr als zehn
+Kinder beieinandersa&szlig;en und der Lehrer imstande war,
+sich mit jedem einzelnen zu besch&auml;ftigen, auf seine Interessen
+und F&auml;higkeiten einzugehen, &mdash; da dachte ich
+an die &uuml;berf&uuml;llten st&auml;dtischen Gymnasien mit all ihrem
+Gefolge von Krankheit und Laster und Stumpfsinn; ihre
+ungl&uuml;ckseligen Opfer fielen mir ein, die den Martern
+des Geistes und K&ouml;rpers den Tod vorzogen. Mich
+schauderte: hatte ich ein Recht, &uuml;ber mein Kind zu verf&uuml;gen
+nach meinem Gefallen? Kein Zweifel: sein Instinkt
+hatte f&uuml;r Freiheit und Natur entschieden.</p>
+
+<p>&raquo;Ich komme morgen nach Haus, und komme &mdash; allein,&laquo;
+schrieb ich an meinen Mann. &raquo;Otto ist ein
+selbst&auml;ndiger Mensch geworden, und ich habe hier gelernt,
+was keine p&auml;dagogische Buchweisheit mir h&auml;tte
+beibringen k&ouml;nnen: da&szlig; auch die Kinder sich selbst geh&ouml;ren,
+nicht uns; da&szlig; die Kindheit einen Wert an sich
+hat. Es mu&szlig;te so sein, wie es ist. Wenn unser Sohn
+stark genug ist, um auch neben uns ein Eigener zu
+bleiben, wird er vielleicht freiwillig zur&uuml;ckkehren&nbsp;...
+Ich schreibe das Alles so hin, und die Worte sehen aus,
+als kosteten sie mich nichts. Ich glaube, ich brauche Dir
+nicht erst zu sagen, was ich &uuml;berwinden mu&szlig;te. Es
+<a name="Page_620" id="Page_620"></a>wird noch lange dauern, bis ich von meiner Mutterliebe
+abgestreift haben werde, was jeder Liebe eigent&uuml;mlich
+ist: den Willen zum Besitz. Seitdem Du mich
+f&uuml;hlen lie&szlig;est, da&szlig; auch Du unser Kind entbehrst, wei&szlig;
+ich: Du wirst Geduld mit mir haben.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt erst wurde ich mir der ganzen Leere meines
+Lebens bewu&szlig;t: war ich schon so alt, um nur noch in
+philosophischer Ruhe seine Resultate zu ziehen? Um abseits
+zu stehen wie Zuschauer am Schlachtfeld?</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Als mir von seiten der Gewerkschaften die Aufforderung
+zuging, einige ausschlie&szlig;lich Bildungszwecken
+dienende Vortr&auml;ge im internen Kreise organisierter
+Arbeiter zu &uuml;bernehmen, ergriff ich die Gelegenheit, von
+der ich glaubte, da&szlig; sie mir wenigstens eine befriedigende
+T&auml;tigkeit er&ouml;ffnen w&uuml;rde. Seit dem Jahre 1906 hatten
+die Partei und die Gewerkschaften, einem Beschlu&szlig; des
+Mannheimer Parteitags folgend, den Bildungsbestrebungen
+tatkr&auml;ftigeres Interesse zugewandt. Au&szlig;er der
+Partei- und Gewerkschaftsschule in Berlin und &auml;hnlichen
+Einrichtungen in den gr&ouml;&szlig;eren Provinzst&auml;dten,
+wo eine beschr&auml;nkte Zahl ausgew&auml;hlter Sch&uuml;ler systematischen
+historischen und national&ouml;konomischen Kursen
+regelm&auml;&szlig;ig folgte, wurden Referate gehalten, die Allen
+zug&auml;nglich waren, die ihre Mitgliedschaft zu einer Arbeiterorganisation
+nachweisen konnten. Die Lehrer der
+Parteischule waren Radikale strengster Observanz. Sie
+sprachen von &raquo;b&uuml;rgerlicher&laquo; Wissenschaft, &raquo;b&uuml;rgerlicher&laquo;
+Kunst, zu der die vom Zukunftsstaat zu erwartende in
+scharfem Gegensatz st&uuml;nden. Sie waren Geist vom Geist
+<a name="Page_621" id="Page_621"></a>des preu&szlig;ischen Kultusministers, der einen Privatdozenten
+abgesetzt hatte, weil er Sozialdemokrat war. In ihrem
+Kreise waren die k&uuml;hnen S&auml;tze gefallen, da&szlig; die Philosophie
+eine ideologische Begleiterscheinung der Klassenk&auml;mpfe
+und ihre Geschichte eine Geschichte b&uuml;rgerlichen
+Denkens sei.</p>
+
+<p>Die Gewerkschaften standen zu ihnen in einem leisen
+aber darum nicht weniger starken Gegensatz, der auch
+in der Wahl ihrer Referenten zum Ausdruck kam. Schon
+als ich zum erstenmal sprach, &mdash; vor einer Zuh&ouml;rerschaft
+von ein paar hundert Arbeiterinnen, &mdash; wurde mir erz&auml;hlt,
+wie emp&ouml;rt die f&uuml;hrenden Genossinnen seien, da&szlig;
+man mich dazu aufgefordert habe.</p>
+
+<p>Durch Fragen, durch Bitten um Ratschl&auml;ge f&uuml;r ihre
+selbst&auml;ndige Fortbildung, durch B&uuml;cher, die ich auslieh,
+und die mir pers&ouml;nlich zur&uuml;ckgebracht wurden, kam ich
+in Ber&uuml;hrung mit M&auml;nnern und Frauen, die noch nicht
+zu den &raquo;gehobenen Existenzen&laquo; geh&ouml;rten. In der N&uuml;chternheit
+des Alltagslebens, fern der Begeisterung, die Feste
+und K&auml;mpfe entz&uuml;nden, lernte ich ihr Leben, ihr Denken
+und F&uuml;hlen kennen. Es stand fast ausnahmslos unter
+dem Zeichen der Unzufriedenheit, des Mangels an einem
+Inhalt, der &uuml;ber die Misere des Daseins hinaus stark
+und hoffnungsfroh macht. Eine gewisse seelische Leere
+kam vielen zum Bewu&szlig;tsein, etwa wie ein Gef&uuml;hl
+dauernden Frierens. Die Ideale des Sozialismus
+hatten, da ihre Verwirklichung so fern ger&uuml;ckt war, f&uuml;r
+das pers&ouml;nliche Leben viel von ihrem Feuer verloren.</p>
+
+<p>Aber gerade in der zum Ausdruck kommenden Unzufriedenheit
+mit den &auml;u&szlig;eren Erfolgen und den inneren
+Werten der Partei lag eine starke latente Kraft, die
+<a name="Page_622" id="Page_622"></a>bereit war, jeden Augenblick alles Lastende, Hindernde
+fortzuschieben, wenn nur irgendwo der Weg ins Freie
+sich zeigte.</p>
+
+<p>Nach einer meiner Versammlungen begr&uuml;&szlig;te mich
+Reinhard. Er war zuerst ein wenig verlegen, als ich
+aber harmlos und freundlich blieb, taute er auf. Ich
+erz&auml;hlte ihm von meinen Beobachtungen. &raquo;Ich bilde mir
+nat&uuml;rlich nicht ein, da&szlig; sie ma&szlig;gebend sind, aber ich
+halte sie doch f&uuml;r Symptome.&laquo;</p>
+
+<p>Er gab mir recht. &raquo;Wir befinden uns zweifellos in
+einer inneren Krisis,&laquo; sagte er, &raquo;die sich immer wieder
+nach au&szlig;en bemerkbar macht. Jetzt beginnt der Zank
+schon wieder. Diesmal um die Frage der Budgetbewilligung.
+Sobald wir versuchen durch eine Politik,
+die immer mehr oder weniger auf Konzessionen beruht,
+Schritte nach vorw&auml;rts zu tun, Vorteile oder Einflu&szlig;
+zu gewinnen, kommen die anderen und schwenken mit
+Geschrei die angeblich von uns verratene Fahne des
+Prinzips. Ich m&ouml;chte wissen, was geschehen soll, wenn
+wir einmal in den Parlamenten eine Vertretung haben,
+mit der gerechnet werden mu&szlig;? Ob wir dann das
+prinzipienfeste Neinsagen unseren W&auml;hlern gegen&uuml;ber
+verantworten k&ouml;nnen? &mdash; Ich sehe schwarz in die Zukunft,
+Genossin Brandt, sehr schwarz! Ich f&uuml;rchte, wenn
+erst einmal unsere Alten tot sind, dann f&auml;llt die Partei
+auseinander.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und w&auml;re das wirklich so f&uuml;rchterlich?&laquo; wandte ich ein.
+Er fuhr auf. Seine Augen blitzten mich an wie fr&uuml;her.</p>
+
+<p>&raquo;Genossin Brandt!&laquo; rief er entr&uuml;stet. &raquo;Sollten die
+Leute recht haben, die von Ihnen behaupten, da&szlig; Sie
+nicht mehr die unsere sind?!&laquo;</p>
+<p><a name="Page_623" id="Page_623"></a></p>
+<p>&raquo;So&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte ich gedehnt, &raquo;das also erz&auml;hlt man
+von mir?! Und Ihnen erscheint es m&ouml;glich, weil ich
+eine Spaltung der Partei nicht f&uuml;r den schrecklichsten der
+Schrecken halte?! Es zeugt f&uuml;r ein sehr geringes Vertrauen
+in die Notwendigkeit der Entwicklung zum Sozialismus,
+wenn wir annehmen wollten, da&szlig; solch ein
+Ereignis einen mehr als vor&uuml;bergehenden Nachteil nach
+sich z&ouml;ge. Unser Ziel bleibt doch unver&auml;ndert dasselbe, in
+wie viel Heerscharen wir ihm auch entgegenmarschieren!&laquo;</p>
+
+<p>Reinhards Gesicht f&auml;rbte sich dunkelrot. &raquo;Sie scheinen
+ja ein solches Ungl&uuml;ck fast zu w&uuml;nschen!&laquo; sagte er mit
+verbissenem Grimm.</p>
+
+<p>&raquo;Davon bin ich ebensoweit entfernt wie Sie,&laquo;
+antwortete ich. &raquo;Ich suche nur, Sie und mich von
+der Angst davor zu befreien. Dabei frage ich mich, ob
+es nicht viel korrumpierender f&uuml;r den einzelnen und
+l&auml;hmender f&uuml;r die Aktion der Masse ist, wenn immer
+wieder um der &auml;u&szlig;eren Einheit willen Resolutionen
+angenommen werden, die f&uuml;r sehr viele nur auf dem
+Papiere stehen, und das Erfurter Programm krampfhaft
+aufrecht erhalten wird, obwohl immer weitere Kreise
+von Genossen ganze S&auml;tze daraus f&uuml;r unrichtig halten.
+Die Radikalen, die in der Form des Ausschlusses aus
+der Partei eigentlich nichts anderes wollen als eine
+Spaltung, gehen dabei von einer ganz richtigen Empfindung
+aus: da&szlig; die innere Einheit die Voraussetzung
+der &auml;u&szlig;eren sein mu&szlig;. Nur da&szlig; sie wie Kurpfuscher
+an den Symptomen herumkurieren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und Sie w&uuml;&szlig;ten ein Mittel, die Krankheit zu
+heilen?&laquo; Dabei sah Reinhard mich an, als erwartete
+er eine Offenbarung von mir.</p>
+
+<p><a name="Page_624" id="Page_624"></a>Ich lachte. &raquo;Wenn ich ein Mittel w&uuml;&szlig;te, glauben
+Sie, ich h&auml;tte es nicht schon l&auml;ngst auf allen Gassen
+ausgeschrien?! Nur einen Weg dahin glaube ich zu
+wissen. Die &Uuml;bel, unter denen wir leiden, lassen sich
+alle auf eine Ursache zur&uuml;ckf&uuml;hren: die fehlende richtige
+Grundlage unserer Bewegung. Was bisher als solche
+galt, hat sich zu einem Teil als falsch oder nicht ausreichend
+erwiesen.&laquo;</p>
+
+<p>Er machte ein entt&auml;uschtes Gesicht: &raquo;Also ein neues
+Programm! Wenn es weiter nichts ist!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich las gestern in einem Brief von Hegel einen
+Satz, der sich mir ins Ged&auml;chtnis gepr&auml;gt hat,&laquo; fuhr ich
+fort, &raquo;'die theoretische Arbeit bringt mehr in der Welt
+zustande als die praktische; ist das Reich der Vorstellung
+revolutioniert, so h&auml;lt die Wirklichkeit nicht stand'. Gerade
+wir Revisionisten haben diese tiefe Wahrheit fast
+vergessen. Sie auch, wie ich sehe. Und doch glaube
+ich, h&auml;tten wir ein Programm, das alle inzwischen
+zweifelhaft gewordenen Theorien beiseite lie&szlig;e, alle praktischen
+Forderungen den Entscheidungen des Tages anheimg&auml;be
+und nur den Ausgangspunkt feststellte, &mdash; den
+Klassenkampf, &mdash; und das Ziel, &mdash; die Aufhebung des
+Privateigentums an Produktionsmitteln; wir w&uuml;rden
+weniger zerr&uuml;ttende K&auml;mpfe in unseren Reihen haben,
+und Millionen Au&szlig;enstehender w&uuml;rden nicht Mitl&auml;ufer,
+sondern Parteigenossen werden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich wundere mich, da&szlig; Sie bei Ihrem gr&uuml;ndlichen
+Aufr&auml;umen den Klassenkampf nicht auch zum Fenster
+hinauswerfen,&laquo; spottete Reinhard mit einem Anflug von
+&Auml;rger.</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind hellsehend, lieber Genosse,&laquo; entgegnete ich,<a name="Page_625" id="Page_625"></a>
+&raquo;denn die Form, in die er vor einem halben Jahrhundert
+gezw&auml;ngt wurde, ist freilich unbrauchbar geworden.
+Leute wie ich zum Beispiel haben keinen
+Platz in ihr. Man redet uns ein, und wir glaubten
+es, da&szlig; wir aus reinem selbstlosen Edelmut in die Partei
+eintraten; wir blieben infolgedessen, als nicht recht dazu
+geh&ouml;rig, unsichere Kantonisten in den Augen der geborenen
+Klassenk&auml;mpfer. Ich bin inzwischen schon f&uuml;r
+mich allein von dem Kothurn dieses Edelmuts herabgestiegen
+und habe gefunden, da&szlig; ich mit demselben
+Recht wie der Arbeiter im Klassenkampf stehe. War ich
+nicht, mittellos, auf meine Arbeit angewiesen? War ich
+nicht abh&auml;ngig von meiner Familie, also unfrei?
+Der hungernde Arbeiter sucht freilich in erster Linie
+Brot; aber das k&ouml;nnte ihm auch eine vern&uuml;nftige b&uuml;rgerliche
+Sozialreform sicherstellen. Er ist Sozialdemokrat,
+weil er mehr will: Freiheit. Genau dasselbe, wonach
+ich verlangte, als es mich in die Partei trieb; genau
+dasselbe, wonach Hunderttausende sich sehnen, &mdash; lauter
+Abh&auml;ngige, &mdash; lauter geborene Klassenk&auml;mpfer, die die
+Partei mit ihrem engen: &#8250;die Befreiung der Arbeiter
+kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein&#8249;, mit der
+&#8250;Diktatur des Proletariats&#8249; als notwendiges Befreiungsmittel
+zur&uuml;ckst&ouml;&szlig;t, im besten Falle nur duldet&nbsp;...&laquo;</p>
+
+<p>Wir waren vor der T&uuml;r meiner Wohnung angekommen.</p>
+
+<p>&raquo;Selbst wenn Sie recht h&auml;tten, &mdash; was ich nicht
+wei&szlig;&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte Reinhard; &raquo;die radikale Tradition ist viel
+zu stark innerhalb der Arbeiterschaft, als da&szlig; solch eine
+Programm&auml;nderung m&ouml;glich w&auml;re. Mir scheint auch,
+es w&uuml;rde immer noch etwas fehlen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_626" id="Page_626"></a>Ich nickte. &raquo;Es fehlt noch immer etwas, &mdash; ja&nbsp;&mdash;,&laquo;
+meinte ich nachdenklich. Dann trennten wir uns.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Als mein Vortragskursus zu Ende war, bekam
+ich keine Aufforderungen mehr. An meinen
+Zuh&ouml;rern lag das nicht; ihr regelm&auml;&szlig;iges Erscheinen,
+ihr wachsendes Interesse zeugte daf&uuml;r. Aber
+der Einflu&szlig; der Zionsw&auml;chter des Radikalismus war
+st&auml;rker als sie.</p>
+
+<p>&raquo;Nun haben sie dich wieder an der Arbeit verhindert,&laquo;
+sagte mein Mann &auml;rgerlich.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist vielleicht f&uuml;r mich das beste,&laquo; meinte ich. &raquo;Zuviel
+Zweifelfragen sind in mir wach geworden. Jahrelang
+hat das Fieber der Tagesforderungen sie immer
+wieder unterdr&uuml;ckt. Jeder denkende Mensch sollte eigentlich
+die M&ouml;glichkeit haben, sich hie und da von der
+Welt zur&uuml;ckziehen zu k&ouml;nnen, um zu sich selbst zu kommen.
+Trappistenkl&ouml;ster f&uuml;r Ungl&auml;ubige, &mdash; das w&auml;re eine erl&ouml;sende
+Einrichtung.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;M&ouml;chtest du den Schleier nehmen?!&laquo; fragte er, &mdash; etwas
+wie Besorgnis sprach sich in seiner Frage aus.</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;r ein paar Monate, ja!&laquo; entgegnete ich. &raquo;Um
+als ein starkes und frohes Weltkind zur&uuml;ckzukehren.&laquo;</p>
+
+<p>Aber wenn ich ihn ansah, sch&auml;mte ich mich, solche
+W&uuml;nsche zu haben. Er war abgespannt und m&uuml;de.
+Er bedurfte mehr als ich einer Zeit der Ruhe. So
+wenig er von sich selber sprach, ich erfuhr doch, da&szlig; das
+Mi&szlig;lingen sich mit grausamer Hartn&auml;ckigkeit an seine
+Fersen heftete.</p>
+
+<p>Die Sorgen, die er hatte von unserer T&uuml;re fern<a name="Page_627" id="Page_627"></a>halten
+wollen, krochen durch die Fenster herein; aber
+wenn ich sah, wie er ruhig blieb, wie neue Hindernisse
+nur immer neue Widerst&auml;nde in ihm entwickelten, dann
+&uuml;berkam mich das Bed&uuml;rfnis, mich an ihn zu schmiegen,
+ganz dicht, geschlossenen Auges, voll tiefen Vertrauens&nbsp;...</p>
+
+<p>Im Herbst begann ich meine Vortragsreisen wieder.
+Ich mu&szlig;te Geld verdienen. Und was dies Publikum verlangte:
+ein wenig Anregung, ein wenig Sensation, war
+ich f&auml;hig zu geben. Es wurde mir diesmal leichter als
+sonst. Viele Menschen kreuzten meinen Weg, und was
+mir bei den Proletariern begegnet war, das fand ich in
+anderer Form wieder: wer nicht im Genu&szlig;leben ertrank
+oder im Kampf ums Dasein zerrieben wurde, den beherrschte
+ein Gef&uuml;hl brennender Unzufriedenheit, ein unbestimmtes
+Suchen.</p>
+
+<p>Es war die Zeit, wo F&uuml;rst B&uuml;low, in der Hoffnung
+auf diese Weise die Steuerforderungen der Regierung
+durchzusetzen, die unnat&uuml;rliche Verbindung zwischen Liberalen
+und Konservativen herbeigef&uuml;hrt hatte. Wer noch
+vom echten Liberalismus einen Blutstropfen in sich
+f&uuml;hlte, mu&szlig;te sich dieser Paarung sch&auml;men.</p>
+
+<p>Die besten Elemente des B&uuml;rgertums waren politisch
+obdachlos. Ihr steuerloses Schiff n&auml;herte sich unwillk&uuml;rlich
+wieder der Flut des Sozialismus.</p>
+
+<p>&raquo;Den Kulturwert der Arbeiterbewegung erkennt wohl
+jeder von uns an,&laquo; sagte mir ein junger Gelehrter in
+einer kleinen Universit&auml;tsstadt. &raquo;Und da&szlig; ihr &ouml;konomisches
+Streben zugleich ein sittliches ist, wird kein objektiv
+Denkender bestreiten. Sie ist im Kampf gegen
+die Reaktion auch die Hoffnung derer, die nur zusehen
+m&uuml;ssen.&laquo;</p>
+
+<p><a name="Page_628" id="Page_628"></a>Der Kreis der modernen Snobisten, die aus der Erkenntnis
+der Notwendigkeit sauberer W&auml;sche und reiner
+N&auml;gel eine Weltanschauung konstruiert und Rombergs
+Ausspruch, da&szlig; Bildung und Politik unvereinbare Begriffe
+w&auml;ren, zu dem ihren gemacht hatten, schrumpfte
+sichtlich zusammen.</p>
+
+<p>Und auch auf anderen Gebieten geistiger Interessen
+wuchs die Innerlichkeit, der Ernst. Aus einer Spielerei
+m&uuml;&szlig;iger Stunden wurde die Kunst zu einer Angelegenheit
+pers&ouml;nlichen Lebens, &mdash; eine Kunst, die von den
+G&ouml;ttern und Madonnen zur Erde herabgestiegen war,
+die den charakteristischen Stempel innerer Notwendigkeit
+allem aufpr&auml;gte, &mdash; vom geringf&uuml;gigen Gebrauchsgegenstand
+bis zum hamburger Bismarckdenkmal. Aus
+einer Tradition, der man sich nur an jedem Feiertag
+erinnerte, wurde die Religion zu einer die Gem&uuml;ter erregenden
+Bewegung; daneben dr&auml;ngten p&auml;dagogische und
+sexuelle Probleme sich mehr und mehr in den Vordergrund,
+und neben den alten Werten der Schule, der
+Ehe, der Familie, erschienen wie aus Flammen gebildet
+riesengro&szlig;e Fragezeichen.</p>
+
+<p>Als eine reaktion&auml;re Masse wurde die Bourgeoisie
+nach altem Rezept von der Partei bezeichnet. Die
+Wirklichkeit strafte sie L&uuml;gen. Was ich sah, war
+wie ein Strom, dessen Wassermassen der alten
+D&auml;mme zu spotten schienen und sich nun wahllos,
+ziellos ausbreiteten. Es fehlte nur das neue Bett,
+um ihre gro&szlig;e Kraft zu vereinen und nutzbar zu
+machen.</p>
+
+<p>Ich f&uuml;hlte, wie ich froh wurde angesichts der neuen
+Erkenntnis, wie meine Hoffnung ihre Fl&uuml;gel regte und<a name="Page_629" id="Page_629"></a>
+&Uuml;berzeugungen, die im Sturm der Zweifel geschwankt
+hatten, nur noch tiefere Wurzeln schlugen.</p>
+
+<p>Aber es war, als st&uuml;nde unser Leben unter einem
+b&ouml;sen Zauber: Sahen junge Triebe der Freude mit
+einem hellen Fr&uuml;hlingsl&auml;cheln aus dem Erdboden hervor,
+so prasselten Hagelk&ouml;rner vom Himmel und schlugen
+sie grausam nieder.</p>
+
+<p>Mitten in einer Vortragsreise versagte meine Stimme
+v&ouml;llig. Was die &Auml;rzte schon lange vorausgesagt hatten,
+geschah: von einer T&auml;tigkeit wie der bisherigen konnte
+keine Rede sein.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Was nun? Ich sa&szlig; vor meinem Schreibtisch, &mdash; einem
+ganz alten aus hellem
+Birnbaumholz mit schwarzen S&auml;ulchen,
+der fr&uuml;her irgendwo in einem Winkel gestanden hatte, &mdash; und
+lehnte mich m&uuml;de in den tiefen Stuhl zur&uuml;ck.
+Gro&szlig;mutters Stuhl! Mir war, als s&auml;he ich sie
+vor mir: das schmale, dunkle Gesicht mit den gro&szlig;en
+Augen, und einem L&auml;cheln um die feinen Lippen, das
+&uuml;ber alles Erdenleid zu triumphieren schien. Viel, viel
+zu fr&uuml;h hatte ich sie verloren! Pl&ouml;tzlich fielen mir die
+Papiere ein, die ich von ihr besa&szlig;: Briefe, Tagebuchnotizen,
+Stammb&uuml;cher. Sie hatte sie mir hinterlassen,
+mir allein. Als ob sie mir sich selbst habe schenken
+wollen. Ich suchte sie hervor und las und las. Aus
+den vergilbten Bl&auml;ttern duftete der Fr&uuml;hling berauschend,
+und die Sonne schien bis tief hinein in das winterstarre
+Herz, und aus schweren dunkeln Wolken str&ouml;mte
+<a name="Page_630" id="Page_630"></a>warmer Regen, segenspendender. Und eine weiche Hand
+streichelte mich, als w&auml;re auch ich krank, sehr krank.</p>
+
+<p>Ihr Leben war voll stiller K&auml;mpfe gewesen, und aus
+einem jeden war sie st&auml;rker hervorgegangen. Es hatte
+ihr den Geliebten ihrer Jugend, hatte ihr Freunde und
+Kinder geraubt, und ihr Herz war bei jedem Verlust
+nur reicher geworden an Kraft und Liebe. Dann war
+sie einsam zur&uuml;ckgeblieben, zwischen lauter Fremden, und
+war doch nicht bitter geworden, und verstand auch den
+Fernsten und den &Auml;rmsten. Nur eins &uuml;berwand sie nie:
+das unverschuldete Elend in der Welt&nbsp;&mdash;.</p>
+
+<p>Ich ging jeder Regung ihrer Seele, jeder Spur ihres
+Daseins nach. Dabei entdeckte ich ein Gewebe feiner
+F&auml;den, das sich von ihr bis zu mir her&uuml;berspann, eine
+ununterbrochene Folge von Ursache und Wirkung, eine
+eherne Gesetzm&auml;&szlig;igkeit.</p>
+
+<p>Nun schrieb ich das Buch von ihr, weil ich es schreiben
+mu&szlig;te. Von fr&uuml;h bis sp&auml;t arbeitete ich. Es war dabei
+sehr still um mich und in mir. Nur wenn ein
+Brief von meinem Kinde kam, &mdash; einer jener kurzen,
+frohen, lebenspr&uuml;henden Zeichen seiner Jugendkraft, &mdash; nahmen
+meine Gedanken eine andere Richtung an. Aber
+sie trieben mir nicht mehr die Tr&auml;nen in die Augen:
+denn mein Sohn lebte, mein Sohn blieb mir nah, auch
+wenn er fern war. Meiner Gro&szlig;mutter Kinder waren
+ihr fern gewesen, wenn sie sie mit H&auml;nden hatte greifen,
+mit Augen hatte sehen k&ouml;nnen. Und auch daran war sie
+nicht zugrunde gegangen. Sie hatte standgehalten.</p>
+
+<p>Ich schrieb wie im Fieber. Die Arbeit war wie eine
+W&uuml;nschelrute. Sie schlo&szlig; in meinem Innern lauter
+versch&uuml;ttete Quellen auf.</p>
+
+<p><a name="Page_631" id="Page_631"></a>Von dem gl&uuml;henden Abendhimmel der klassischen Periode
+Weimars war der Gro&szlig;mutter Jugend umstrahlt
+gewesen; die geistigen Heroen des neunzehnten Jahrhunderts
+hatten auf ihren Lebensweg breite Schatten
+geworfen. Je deutlicher mir der geistige Werdegang
+der Vergangenheit entgegentrat, zu desto klareren Bildern
+schoben sich die scheinbar wirr durcheinanderlaufenden
+Zeichen der Gegenwart zusammen. Unter dem
+Gesetz dieses gro&szlig;en Entwicklungsprozesses stand auch
+ihr Leben; das gab ihm seine Bedeutung, so eng, so
+still es an sich auch gewesen war.</p>
+
+<p>Mein Buch erschien. Und pl&ouml;tzlich schien die Gro&szlig;mutter
+nicht nur f&uuml;r mich lebendig geworden. Sie
+stand da, mitten in der Welt und redete mit den Menschen.
+Selbst aus den verstimmten Instrumenten der Seelen
+lockte sie wie einst Melodien hervor. Viele kamen und
+dankten mir, als ob ich sie geschaffen h&auml;tte!</p>
+
+<p>Nur in der Parteipresse gab es Leute, die mich beschimpften;
+es war in dem Buch auch von F&uuml;rsten
+und Aristokraten die Rede, die keine Schufte waren.
+Als ich es las und mein Herz dabei nicht einmal schneller
+klopfte, erschrak ich: Sollte ich so stumpf geworden sein?
+Oder stand ich den alten Genossen so fern? Erst allm&auml;hlich
+fing ich an, mich selbst zu verstehen.</p>
+
+<p>&raquo;Geht es dir so nahe, da&szlig; du nicht dar&uuml;ber zu sprechen
+vermagst?&laquo; fragte mich mein Mann.</p>
+
+<p>&raquo;Es &auml;rgert mich nicht einmal,&laquo; antwortete ich.</p>
+
+<p>Sein Gesicht leuchtete auf: &raquo;So stehst du endlich &uuml;ber
+den Dingen und wertest die Menschen, wie sie es verdienen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du verstehst mich nicht ganz,&laquo; wandte ich ein. &raquo;Nicht
+<a name="Page_632" id="Page_632"></a>nur weil ich wei&szlig;, da&szlig; sie mir in Wahrheit nichts anhaben
+k&ouml;nnen, gr&auml;me ich mich nicht mehr &uuml;ber Urteile
+wie diese, sondern weil ich sie verstehe&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Er sah mich ungl&auml;ubig l&auml;chelnd an.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, ich verstehe sie,&laquo; wiederholte ich. &raquo;Uns trennt
+ein un&uuml;berbr&uuml;ckbarer Abgrund: der der inneren Kultur.
+Wie die Genossinnen sich st&auml;ndig &uuml;ber mein &Auml;u&szlig;eres
+&auml;rgerten, &mdash; weil ich eben anders war als sie, &mdash; so
+mu&szlig; der Durchschnitt der Genossen an meinem Wesen
+Ansto&szlig; nehmen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Hm&nbsp;&mdash;,&laquo; machte mein Mann, &raquo;das klingt&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sehr hochm&uuml;tig,&laquo; vollendete ich. &raquo;Ganz gewi&szlig;!
+Und doch ist es weit von jedem Hochmut entfernt. Was
+ich wurde, bin ich anderen schuldig: Nicht nur meinen
+Vorfahren, sondern auch den vielen Tausenden, die deren
+gesicherte Existenz, deren geistige Entwicklung durch ihr
+sklavisches Arbeitsleben erst m&ouml;glich machten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Folgerst du nun aus deiner Behauptung, da&szlig; Menschen
+wie du sich von der Partei fern halten m&uuml;&szlig;ten? Da&szlig;
+also der Satz: &#8250;Die Befreiung der Arbeiterklasse kann
+nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein&#8249; im Sinne
+der radikalen Genossen, die heute jeden &Uuml;berl&auml;ufer
+zur&uuml;ckweisen m&ouml;chten, aufgefa&szlig;t werden darf?&laquo; fragte
+Heinrich interessiert.</p>
+
+<p>&raquo;Damit w&uuml;rde ich mich selbst negieren,&laquo; rief ich lebhaft.
+&raquo;Ich folgere zun&auml;chst etwas rein Pers&ouml;nliches: da&szlig;
+ich den Genossen unrecht tat, wenn ich ihnen ihre Feindseligkeit
+zum Vorwurf machte; da&szlig; es himmelblauer,
+allen realen Erfahrungen spottender Idealismus war,
+wenn ich von ihnen Anerkennung, Verst&auml;ndnis, Anteilnahme
+erwartete. Sind sie uns denn in ihrer Masse
+<a name="Page_633" id="Page_633"></a>pers&ouml;nlich anziehend? St&ouml;ren uns nicht schon eine Menge
+blo&szlig;er &Auml;u&szlig;erlichkeiten? Verstehen wir sie denn so gut?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du vergi&szlig;t, wie mir scheint,&laquo; warf Heinrich ein,
+&raquo;da&szlig; eine Reihe Akademiker ganz im Proletariat aufging&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube es nicht, so demagogisch sie sich auch geb&auml;rden
+m&ouml;gen, um den Anschein zu erwecken, es w&auml;re
+so,&laquo; entgegnete ich. &raquo;Wenn ihre Kultur nicht nur
+T&uuml;nche ist, so r&auml;cht sich ihre Heuchelei in stillen Stunden
+bitter an ihnen. Wei&szlig;t du&nbsp;&mdash;,&laquo; f&uuml;gte ich langsam hinzu,
+&raquo;sobald ich mir Wanda Orbins fr&uuml;h gealterte, durchfurchte
+Z&uuml;ge vergegenw&auml;rtige, bin ich gewi&szlig;, da&szlig; sie
+empfindlich darunter leidet&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Heinrich runzelte die Stirn: &raquo;Du gehst denn doch ein
+wenig weit in deinem Mitgef&uuml;hl. Willst du vielleicht
+auch ihr Verhalten gegen dich besch&ouml;nigen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Besch&ouml;nigen &mdash; nein; erkl&auml;ren &mdash; ja! Sie mu&szlig;
+herrschen, um die Preisgabe der inneren Freiheit ertragen
+zu k&ouml;nnen. Infolgedessen beseitigt sie jeden, der
+ihr im Wege steht, &mdash; ganz abgesehen davon, da&szlig; ich
+ihrem fanatischen Radikalismus als Sch&auml;dling erscheinen
+mu&szlig;te!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das Endresultat deiner Erw&auml;gungen,&laquo; sagte mein
+Mann mit einem leisen Spott im Ton der Stimme, &raquo;ist
+demnach ein erhaben christliches: Liebet eure Feinde,
+segnet, die euch fluchen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Ich hob abwehrend beide H&auml;nde. &raquo;Nein, nein,
+nein!&laquo; rief ich aus und stand auf, um mit raschen
+Schritten im Takt meines Herzschlages auf und ab zu
+gehen. &raquo;Vom Christentum bin ich weiter entfernt denn
+je. Die tief eingewurzelte christliche Auffassungsweise ist
+<a name="Page_634" id="Page_634"></a>es ja, die uns zu so falscher Stellungnahme getrieben
+hat. Da ist zun&auml;chst die christliche Idee der Selbstaufopferung.
+Keiner von uns &Uuml;berl&auml;ufern, mich selbst eingeschlossen,
+hat sich nicht zuweilen mit einer Art pf&auml;ffischer
+Selbstzufriedenheit an seinem eigenen Opfermut berauscht,
+hat sich nicht innerlich vorgerechnet, was er alles um der
+Sache willen aufgab, hat sich nicht das Leben in dem
+Gef&uuml;hl verbittert, da&szlig; die Genossen dieses Opfer nicht zu
+w&uuml;rdigen verstehn. Wenn ich schon als Kind au&szlig;erstande
+war, den Opfertod Christi als solchen zu empfinden, &mdash; nicht
+nur, weil er als Gottessohn die Gewi&szlig;heit
+ewigen Lebens besa&szlig;, sondern weil es mir nicht
+so heldenhaft erschien, in der Ekstase des Glaubens f&uuml;r
+die Erl&ouml;sung der ganzen Menschheit zu sterben, &mdash; so
+wei&szlig; ich jetzt, da&szlig; unser Opfer gar kein Opfer ist,
+sondern im Gegenteil Selbstbehauptung. Es w&auml;re ein
+Opfer gewesen, &mdash; und eine S&uuml;nde wider den Geist
+wie jedes &#8250;Opfer&#8249;, &mdash; wenn ich mich nicht zum Sozialismus
+bekannt h&auml;tte. Seiner &Uuml;berzeugung nicht folgen,
+die Stimmen seines Innern nicht h&ouml;ren wollen, &mdash; das
+allein sind Opferungen; die sie bringen, sind arme
+Lebensschwache. Auch ich habe mich solcher S&uuml;nden
+schuldig gemacht: als ich mich einmal Wanda Orbin
+unterwarf, als ich Forderungen meines Geistes und
+Herzens zum Schweigen brachte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Auch des Herzens?&laquo; unterbrach mich mein Mann.</p>
+
+<p>&raquo;Wei&szlig;t du nicht mehr, &mdash; damals, &mdash; als meine
+Sehnsucht nach dir rief &mdash; und ich sie unterdr&uuml;ckte!&laquo;</p>
+
+<p>Er nickte mit gesenktem Kopf. &raquo;Ich habe mir
+schweren Schaden getan,&laquo; bekannte ich, als spr&auml;che ich
+jetzt nur mit mir selber, &raquo;die Liebe ist eine Quelle der<a name="Page_635" id="Page_635"></a>
+Kraft. Da&szlig; so viele Frauen so klein sind und so armselig,
+liegt wohl nur daran, da&szlig; sie sich selbst verurteilen,
+daneben zu stehn, w&auml;hrend die anderen die freien Glieder
+in ihrem brausenden Strome baden.&laquo;</p>
+
+<p>Heinrich sah auf. Sein Blick forschte in meinen
+Z&uuml;gen. &raquo;Hast du &mdash; noch andere Opfer gebracht?
+Herzensopfer &mdash; meine ich,&laquo; fragte er langsam. Ich
+pre&szlig;te die Handfl&auml;chen krampfhaft aneinander.</p>
+
+<p>&raquo;Mein Kind&nbsp;&mdash;,&laquo; kam es m&uuml;hsam &uuml;ber meine Lippen.</p>
+
+<p>Wir schwiegen beide. Ich mu&szlig;te mir ein paarmal
+mit der Hand &uuml;ber die Stirne streichen; mit schweren,
+grauen Schwingen strichen die V&ouml;gel meiner Schmerzen
+mir um das Haupt.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe dich aus deinem Gedankengang gerissen, &mdash; verzeih!&laquo;
+kn&uuml;pfte Heinrich das Gespr&auml;ch nach einer langen
+Pause wieder an. &raquo;Von der christlichen Idee der Selbstaufopferung
+gingst du aus&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mit ihr haben wir nur immer uns selbst irre gef&uuml;hrt,&laquo;
+fuhr ich fort, &raquo;aber mit den anderen f&uuml;hren wir
+die Massen irre: mit der Gleichheit aller im Sinne
+gleichen Wertes und gleicher Entwicklungsf&auml;higkeit, mit
+der Br&uuml;derlichkeit im Sinne gegenseitigen Verst&auml;ndnisses.
+Als ob die Natur, die jeden Grashalm vom anderen
+unterschied, den Menschen nicht eine noch reichere Mannigfaltigkeit
+erm&ouml;glichen sollte; &mdash; als ob wahre Br&uuml;derlichkeit
+nicht immer seltener, daf&uuml;r aber immer tiefer w&uuml;rde,
+je mehr wir uns entwickeln! Nat&uuml;rliche Schranken
+respektieren, statt sie niederzurei&szlig;en, &mdash; Distanzen anerkennen,
+statt sie mit Phrasen zu &uuml;berbr&uuml;cken, &mdash; kurz, im
+Sinne der Entwicklung handeln, die stets vom Einf&ouml;rmigen
+zum Vielfachen schreitet, &mdash; das w&auml;re unsere Aufgabe!<a name="Page_636" id="Page_636"></a>
+Statt dessen ziehen wir unter der Maske der Br&uuml;derlichkeit
+den D&uuml;nkel gro&szlig;, rotten die Ehrfurcht vor den
+Heroen des Geistes aus, so da&szlig; schlie&szlig;lich jeder Hans
+Narr einen Goethe Bruder nennt. Von dem Dreigestirn
+der Forderungen, das die Revolution vom Christentum
+&uuml;bernahm und der Sozialismus von beiden, wird
+nur eins &uuml;brig bleiben: die Freiheit!&laquo;</p>
+
+<p>Es wurde wieder sekundenlang still zwischen uns.
+&raquo;Vielleicht begegnen wir einander allm&auml;hlich in unseren
+Gedankeng&auml;ngen und k&ouml;nnten dann wenigstens noch zu
+jener seltenen Br&uuml;derlichkeit gelangen&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte Heinrich
+schlie&szlig;lich.</p>
+
+<p>Mit einer raschen Bewegung n&auml;herte ich mich ihm
+und legte den Arm um seinen Hals. Der Klang
+seiner Stimme tat mir zu weh. Er l&ouml;ste sich sanft
+aus der Umschlingung. &raquo;Nicht so, Alix&nbsp;&mdash;,&laquo; sagte
+er leise; &raquo;wei&szlig;t du noch, wie du einmal zu mir sagtest:
+der Stunde sollten wir warten, der wir gehorchen
+m&uuml;ssen?! &mdash; Ich f&uuml;rchte, sie ist noch fern&nbsp;&mdash;!&laquo; Und in
+ruhigem Gespr&auml;chston fuhr er fort: &raquo;Du wirst dich dar&uuml;ber
+in keiner T&auml;uschung befinden: Alles, was du sagtest,
+ist f&uuml;r die heutige Sozialdemokratie Ketzerei.&laquo; Ich nickte.</p>
+
+<p>&raquo;Noch kennt sie niemand als du. Aber sollten die
+losen Gedanken sich zur Kette zusammenschieben, so werde
+ich den Schatz nicht in meine Truhe legen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Auch wenn sie dich bezichtigen, falsches Gold zu
+fabrizieren?!&laquo;</p>
+
+<p>Ich warf den Kopf zur&uuml;ck. Ein hei&szlig;es Gef&uuml;hl der
+Kampflust str&ouml;mte mir durch die Adern und bewies mir,
+da&szlig; ich lebte. &raquo;Auch dann!&laquo;</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_637" id="Page_637"></a></p>
+
+<p>Das Erbe meiner Gro&szlig;mutter befreite mich von
+einem gut Teil &auml;u&szlig;erer Sorgen. Und jetzt
+erst, da die Not, dieser Sklavenhalter, nicht
+mehr hinter mir stand, f&uuml;hlte ich alle Striemen, mit
+denen ihre Peitschenschl&auml;ge meinen K&ouml;rper gezeichnet
+hatten. Ich sah die Bl&auml;sse meiner Wangen, die Falten
+um meinen Mund, die m&uuml;den Augen. Und doch
+wollte ich nicht alt sein, denn noch lag ein Leben vor
+mir, und ich wollte nicht h&auml;&szlig;lich sein, denn eine tiefe,
+tiefe Sehnsucht trieb mir hei&szlig;es Blut durch die Adern.</p>
+
+<p>Ich ging in ein Sanatorium in die N&auml;he von Dresden,
+um gesund zu werden. Unter dem Menschenschwarm
+aus der alten und neuen Welt, der sich dort ein Stelldichein
+zu geben schien, traf ich auch einen Bekannten:
+Hessenstein. Meinen alten T&auml;nzer, einen der
+gl&auml;nzendsten Kavaliere der Westf&auml;lischen Gesellschaft,
+h&auml;tte ich in dem grauhaarigen Mann mit dem gebeugten
+R&uuml;cken kaum wiedererkannt.</p>
+
+<p>&raquo;Merkw&uuml;rdig,&laquo; sagte er nach der ersten Begr&uuml;&szlig;ung,
+&raquo;Sie sind immer noch Alix von Kleve! &mdash; Eben las
+ich Ihr Buch. Daraus erfuhr ich, da&szlig; Sie auch innerlich
+noch Alix von Kleve sind, oder &mdash; besser gesagt &mdash; da&szlig;
+Sie heimkehrten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie meinen Sie das?&laquo; fragte ich l&auml;chelnd. &raquo;Ich
+brauchte nicht heimzukehren, denn ich war immer bei
+mir!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Auch als Sie noch zu den Singer, Stadthagen,
+Luxemburg, und wie die Zierden der Partei alle hei&szlig;en
+m&ouml;gen, geh&ouml;rten?!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich war und bin Sozialdemokratin, &mdash; damit geh&ouml;re
+<a name="Page_638" id="Page_638"></a>ich meiner &Uuml;berzeugung, nicht den Menschen,&laquo; antwortete
+ich merklich k&uuml;hler werdend.</p>
+
+<p>&raquo;Wie, Sie sind nicht aus der Partei ausgetreten und
+konnten dies schreiben&nbsp;&mdash;,&laquo; er zog das Buch von der
+Gro&szlig;mutter aus der Tasche, &raquo;&mdash;&nbsp;das Werk eines vollendeten
+Aristokraten&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben einmal andere Ansichten gehabt, Herr
+von Hessenstein,&laquo; unterbrach ich ihn.</p>
+
+<p>&raquo;Wer von uns h&auml;tte nicht t&ouml;richten Tr&auml;umen nachgehangen?!&laquo;
+meinte er.</p>
+
+<p>Wir sahen einander oft, und es tat mir wohl, einem
+teilnehmenden Menschen von meinem Leben zu erz&auml;hlen.</p>
+
+<p>An einem k&uuml;hlen Herbsttag, &mdash; dem letzten vor meiner
+Abreise, wanderten wir auf die Heide hinaus. &raquo;Ich
+liebe sie,&laquo; sagte Hessenstein, &raquo;sie geht mit so stiller
+W&uuml;rde dem Winter entgegen, ohne sich durch &uuml;berfl&uuml;ssige
+St&uuml;rme &uuml;ber die Hoffnungslosigkeit der Situation aufzuregen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun wei&szlig; ich endlich, warum ich sie nicht liebe,&laquo;
+antwortete ich; &raquo;diese Ergebung in das Schicksal wird
+mir immer fremd sein. Ich w&uuml;rde mich an den Sommer
+klammern, wenn es Winter werden wollte.&laquo;</p>
+
+<p>Er sah mich kopfsch&uuml;ttelnd an: &raquo;Nach all Ihren Erfahrungen
+diese Lebenskraft?! Nachdem all Ihre Opfer
+nutzlos waren?!&laquo;</p>
+
+<p>Ich schwieg betroffen still. Die Frage, ob ich genutzt
+hatte oder nicht, hatte ich mir selbst nie gestellt. Ich
+&uuml;berlegte: all die Reformen, f&uuml;r die ich in hartem
+Kampf gegen die Genossen eingetreten war, kamen mir
+jetzt, aus der Vogelperspektive, nicht mehr so weltersch&uuml;tternd
+vor. Aber immerhin; sie hatten sich durch<a name="Page_639" id="Page_639"></a>gesetzt.
+Die Dienstbotenbewegung war im Gang, die
+Mutterschaftsversicherung war zur Forderung der Partei
+geworden; die Haushaltungsgenossenschaft stand wenigstens
+auf dem Diskussionsprogramm; selbst jene Zentralstelle
+der Arbeiterinnenbewegung, deren Forderung mir
+fast den Hals gekostet hatte, war vor ein paar Jahren
+geschaffen worden und funktionierte vortrefflich. Und
+wie viele mochte ich dem Sozialismus gewonnen haben?
+Ich sah wieder gl&auml;nzende Augen auf mich gerichtet,
+f&uuml;hlte den Druck schwieliger H&auml;nde, h&ouml;rte den Siegesjubel
+mich umbrausen&nbsp;&mdash;.</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; sagte ich hell und laut, &raquo;meine Arbeit ist
+nicht nutzlos gewesen! Es gibt kein Wort, das nicht
+die Luft in Schwingung versetzt, keinen Gedanken, der
+sich nicht weiterpflanzt! &mdash; Und da&szlig; ich in der Partei
+aushalte?! Meinen Sie denn, es w&uuml;rde an
+meiner &Uuml;berzeugung irgend etwas ge&auml;ndert werden,
+wenn ich ihr nicht offiziell angeh&ouml;rte, oder wenn sie, &mdash; was
+ich nicht f&uuml;r unm&ouml;glich halte, &mdash; mich noch
+einmal gehen hei&szlig;t? Gewi&szlig;, ich zweifle an der Richtigkeit
+mancher ihrer Programmforderungen, ich halte
+ihre Taktik sehr oft f&uuml;r falsch, ich sehe, da&szlig; sie
+von hundert Sch&ouml;nheitsfehlern behaftet ist, &mdash; aber all
+das vermag die Hauptsache nicht zu ersch&uuml;ttern. Der
+Sozialismus ist das einzige Mittel, um die Menschheit
+aus dem Zustand der Barbarei auf die erste Stufe der
+Kultur zu erheben&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Er legte beschwichtigend seine schmale, blauge&auml;derte
+Hand auf die meine. &raquo;Sie sind in keiner Volksversammlung,&laquo;
+sagte er; &raquo;sie brauchen nicht so starke Farben
+aufzutragen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+<p><a name="Page_640" id="Page_640"></a></p>
+<p>&raquo;Ich trage sie nicht auf. Ich spreche in ruhigster
+&Uuml;berlegung,&laquo; fuhr ich fort. &raquo;Oder ist es etwa keine
+Barbarei, da&szlig; die &uuml;berwiegende Masse der Menschheit,
+da&szlig; Millionen, viele Millionen, von Kindheit an bis
+zum Greisenalter zu h&auml;rtestem Frondienst verurteilt sind,
+da&szlig; sie von dem einzigen Sinn des Lebens, der Entfaltung
+der Pers&ouml;nlichkeit zur h&ouml;chsten Potenz ihrer
+Leistungs- und Genu&szlig;kraft, durch den Zufall der Geburt
+und des Besitzes ausgeschlossen sind?! Die Befreiung des
+Menschen von den blinden Gesetzen des Schicksals, die
+vollkommene Unterjochung der Materie unter den Geist, &mdash; das
+ist uns das Ziel; einer fernen Zukunft aber
+wird es zweifellos erst als der Anfang der Menschheitsentwicklung
+erscheinen.&laquo;</p>
+
+<p>Mein Begleiter blieb stumm. Erst als wir droben
+von der Heide in den herbstbunten Wald schritten, sprach
+er wieder. &raquo;Ich bewundere Ihren Glauben. Sollte
+wirklich die Vergesellschaftung der Produktionsmittel
+solchem Ziel entgegenf&uuml;hren?! Dann w&auml;re es allerdings
+str&auml;flich, sich ihrer Durchsetzung entgegenzustemmen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich sehe zun&auml;chst kein anderes,&laquo; antwortete ich. &raquo;Freilich:
+ein aktuelles Problem ist sie nicht. Aber so etwas
+wie eine regulative Idee. Im &uuml;brigen: ich schw&ouml;re ja
+nicht darauf. Ich kann mir vorstellen, da&szlig; sie einmal
+durch andere Forderungen erg&auml;nzt werden m&uuml;&szlig;te. Aber
+das Ziel ist f&uuml;r mich unverr&uuml;ckbar.&laquo;</p>
+
+<p>Wir n&auml;herten uns wieder dem Sanatorium. &raquo;Sie
+gehen nach Java zur&uuml;ck?&laquo; fragte ich, ehe wir uns trennten.
+&raquo;Nein,&laquo; entgegnete er. &raquo;Dreizehn Jahre habe ich da
+unten gelebt, &mdash; eine b&ouml;se Zahl! &mdash; Ich bin dabei ein
+reicher Mann geworden. Aber kein gl&uuml;cklicher. Jetzt
+<a name="Page_641" id="Page_641"></a>will ich&nbsp;&mdash;,&laquo; er sch&uuml;rzte in bitterer Selbstverh&ouml;hnung die
+Lippen, &raquo;&mdash;&nbsp;mein Leben als Europ&auml;er genie&szlig;en. Sie
+sehen: Ihre ersehnte Beherrschung der Materie ist keine
+zuverl&auml;ssige Grundlage des Gl&uuml;cks.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gl&uuml;cklichsein &mdash; im Sinne der Befriedigung unserer
+Triebe ist doch auch nur ein Herdenideal. Wessen Leben
+es ausf&uuml;llt, der ist entweder ein Schw&auml;chling oder ein
+Greis&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Er dr&uuml;ckte mir die Hand. &raquo;Sie sind eine merkw&uuml;rdige
+Frau. Vielleicht komme ich nach Berlin und lerne auf
+meine alten Tage noch leben. Nur eins geben Sie
+mir bitte jetzt schon auf den Weg: Sind Sie so kalt,
+da&szlig; Sie das Gl&uuml;ck ganz auszuschalten verm&ouml;gen, und &mdash; wenn
+nicht &mdash; was verstehen Sie darunter?&laquo;</p>
+
+<p>Ich atmete tief auf. Ich sah mich an einem Tage
+wie diesem mit dem Geliebten im Wald, &mdash; die Sehnsucht
+packte mich, so hei&szlig;, so stark, da&szlig; ich erschauerte.
+Aber dem fremden Mann, der erwartungsvoll vor mir
+stand, h&auml;tte ich nicht sagen k&ouml;nnen, was mich bewegte.
+&raquo;Kampf, &mdash; Kraftentfaltung, &mdash; Widerst&auml;nde beseitigen, &mdash; sie
+aufsuchen, wenn sie sich nicht von selbst ergeben, &mdash; darin
+kulminiert das Lebensgef&uuml;hl der Starken,&laquo; sagte ich.</p>
+
+<p>Er verabschiedete sich. Ich sah ihn im Hause verschwinden,
+mit gebeugtem R&uuml;cken, sehr m&uuml;de.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Auf der Heimfahrt klopfte mir das Herz unruhiger
+als sonst. Ich dachte an Heinrich. Seine Lebensauffassung
+war's, der ich Worte geliehen, an
+der ich mich selbst zuerst aufgerichtet hatte, und die
+nun wie ein Fluidum in meine Seele gestr&ouml;mt war.<a name="Page_642" id="Page_642"></a>
+Ein Gef&uuml;hl tiefer Zusammengeh&ouml;rigkeit &uuml;berkam mich,
+das ich noch nie empfunden hatte, &mdash; am wenigsten
+dann, als wir, an den gleichen Pflug gespannt, unzertrennlich
+waren. Vielleicht, da&szlig; Freunde so miteinander
+leben und arbeiten k&ouml;nnen; &mdash; Liebende nicht, sicher nicht!
+Aber sind es nicht die besten Ehen, die zur Freundschaft
+werden? Oder ist das nicht auch eine jener alle Nat&uuml;rlichkeit
+knechtenden Anschauungen, die wir armen Menschen uns von
+der Moral des Christentums einpauken lie&szlig;en, einer Moral,
+f&uuml;r die die Sinne und die S&uuml;nde identisch waren, der
+ihre &Uuml;berwindung als der Tugend Krone erschien?! Ehe
+ist der Bund zweier Liebenden; wo sie zur blo&szlig;en Freundschaft
+wurde, sind die Sinne tot oder &auml;ugen sehns&uuml;chtig
+nach anderer Befriedigung.</p>
+
+<p>Die Ehe von einst beruhte auf der Autorit&auml;t des
+Mannes gegen&uuml;ber der Frau, der Autorit&auml;t der Eltern
+gegen&uuml;ber den Kindern, &mdash; ein Staat im kleinen mit
+Herren und Knechten. Jetzt aber stehen Individualit&auml;ten
+einander gegen&uuml;ber. Das Leben von einst l&auml;&szlig;t
+sich ihnen wohl noch aufzwingen, aber sie zerbrechen
+daran. Zur Herdflamme wird die Liebe nicht mehr.
+Aber zum lodernden Opferbrand an den hohen Festen
+des Lebens!</p>
+
+<p>F&uuml;r die Liebe ist der sicherste Tod die Unfreiheit.
+Sie w&auml;chst mit dem Pathos der Distanz.</p>
+
+<p>Wie ein kleines M&auml;dchen, das zum ersten Male liebt,
+wagte ich kaum mir selbst zu gestehen, was ich f&uuml;hlte.
+Als mein Mann mich am Bahnhofe empfing und mir
+die Hand k&uuml;&szlig;te, err&ouml;tete ich. Und abends ertappte ich
+mich dabei, wie ich im Spiegel forschend meine Z&uuml;ge
+musterte und die Haare anders zu stecken versuchte. &mdash; Er<a name="Page_643" id="Page_643"></a>
+war jetzt immer so f&ouml;rmlich, so ritterlich zu mir!
+Ob ich am Ende zu alt war: &mdash; Zweiundvierzig Jahre!
+In Paris hatte ich Frauen gesehen, die &auml;lter waren als
+ich und doch noch sch&ouml;n. Freilich: das Leben hatte
+mich gezeichnet! &mdash; Ganz heimlich &mdash; ich h&auml;tte mich
+sonst vor ihm zu sehr gesch&auml;mt! &mdash; fing ich an, mich mehr
+zu pflegen als sonst, die Farbe meiner Kleider, die
+Form meiner H&uuml;te sorgf&auml;ltiger auszuw&auml;hlen. Ich verschwendete
+fast. Ganz, ganz in der Ferne sah ich
+einen neuen Sommer voll Glanz und Glut. Noch
+lag er im Zauberschlaf, tief unten in der winterstarren
+Erde. Aber meine Sehnsucht trog mich nicht: er mu&szlig;te
+kommen.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_644" id="Page_644"></a></p>
+<h2><a name="Neunzehntes_Kapitel" id="Neunzehntes_Kapitel"></a>Neunzehntes Kapitel</h2>
+
+
+<p>In Eis gepanzert, einen langen Mantel von Schnee
+um die Schultern, trat das neue Jahr seine
+Herrschaft an. Gleichg&uuml;ltig sahen seine kalten
+Augen &uuml;ber die Menge hinweg, die jammernd die Arme
+zu seinem Thron erhob.</p>
+
+<p>Die Not war gro&szlig;. Brot und Fleisch waren teuer,
+und f&uuml;r die Menschenkraft, die sich billig anbot, gab es
+keine Arbeit. Der Winter trieb die Arbeitslosen in
+Scharen in die W&auml;rmehallen; vom fr&uuml;hen Nachmittag
+an dr&auml;ngten sich die Obdachsuchenden vor den Asylen.
+Wer in ihre N&auml;he kam, den trafen Blicke, in denen
+der Ha&szlig; gegen die Herrschenden, der Groll mit dem
+Schicksal flammte. Das waren keine Almosen heischenden
+Bettler mehr, keine in ein gottgewolltes Geschick
+Ergebenen.</p>
+
+<p>Das Proletariat f&uuml;llte den ganzen Winter &uuml;ber die
+S&auml;le, um gegen eine Politik zu protestieren, die zwar
+mit den Insignien des Konstitutionalismus prunkte, aber
+nur ein Werkzeug des Absolutismus war. Es wu&szlig;te
+von den Millionen neuer Steuern, die drohten, es
+hatte erfahren, da&szlig; es gegen die geeinte Reaktion
+machtlos war, da&szlig; die eiserne Hand Preu&szlig;ens auf ihm
+ruhte, wenn es sich aufrichten wollte. Es erkannte, da&szlig;
+<a name="Page_645" id="Page_645"></a>es Mauern und Gr&auml;ben zu bew&auml;ltigen galt, ehe die
+feste Burg, der Staat, ihm zufiele. Junker und Pfaffen
+hielten sie besetzt, bereit, nur &uuml;ber ihre Leichen den Weg
+frei zu geben.</p>
+
+<p>Der erste Akt des Dramas begann.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin eine dichtgedr&auml;ngte
+Menschenmasse. Polizisten zu Fu&szlig; und
+zu Pferd, den Revolver im gelben G&uuml;rtel, halten
+die Zufahrt frei. Und hinter ihnen stehen Tausende,
+M&auml;nner, Frauen, Kinder. Sie warten. Sie besetzen die
+Auffahrt des gegen&uuml;berliegenden Kunstgewerbemuseums.
+Sie halten Umschau von oben. Und pl&ouml;tzlich biegt in
+scharfem Trabe eine Karosse um die Ecke der Prinz
+Albrechtstra&szlig;e. &raquo;Der Reichskanzler!&laquo; gellt es laut. Die
+Menge flutet ihm entgegen, ihm nach, eine einzige
+dunkle Welle. Und brausend t&ouml;nt es um ihn: &raquo;Hoch
+das freie Wahlrecht!&laquo; Dann wieder Stille. Sie wartet
+weiter.</p>
+
+<p>Und auf der Rednertrib&uuml;ne des Abgeordnetenhauses
+erscheint F&uuml;rst B&uuml;low zur Beantwortung des freisinnigen
+Antrags: Einf&uuml;hrung des allgemeinen, gleichen und
+direkten Wahlrechts mit geheimer Stimmabgabe f&uuml;r den
+preu&szlig;ischen Landtag. Mit unterschlagenen Armen,
+ruhig und selbstbewu&szlig;t, den harten Ausdruck geborener
+Herrscher auf den Z&uuml;gen, sitzt die Mehrheit vor ihm.
+Sie wei&szlig;, was sie zu erwarten hat; dieser Mann ist
+ein Erw&auml;hlter des Kaisers, nicht des Volkes, und der
+Kaiser ist der Ihre.</p>
+
+<p>&raquo;...&nbsp;F&uuml;r die K&ouml;nigliche Staatsregierung steht es
+<a name="Page_646" id="Page_646"></a>nach wie vor fest, da&szlig; die &Uuml;bertragung des Reichstagswahlrechts
+auf Preu&szlig;en dem Staatswohl nicht entspricht
+und daher abzulehnen ist. Auch kann die K&ouml;nigliche
+Staatsregierung die Ersetzung der &ouml;ffentlichen Stimmabgabe
+durch die geheime nicht in Ansicht stellen.&laquo;</p>
+
+<p>Scharf, ohne die liebensw&uuml;rdigen Floskeln des Weltmannes,
+ohne das verbindliche L&auml;cheln des Diplomaten,
+klingt die Erkl&auml;rung durch den Saal.</p>
+
+<p>Das Volk drau&szlig;en wartet. Da nahen neue Schutzmannspatrouillen;
+hart schl&auml;gt ihr Tritt auf den Asphaltboden
+auf, Pferdehufe klappern dazwischen, &mdash; die Begleitung
+zum Text des Kanzlerliedes.</p>
+
+<p>Das Volk zieht sich zur&uuml;ck.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Zwei Tage sp&auml;ter. Ein heller Wintersonntag.
+Mittags Unter den Linden das gleiche Bild wie
+immer: flanierende Damen und Herren, Offiziere
+und Studenten, hinter den Spiegelscheiben der Kaffees
+neugierige Sonntagsbummler.</p>
+
+<p>Wir gehen langsam dem Schlo&szlig;platz entgegen. Schutzleute
+erscheinen. Aus allen Nebenstra&szlig;en blitzen ihre
+Helmspitzen auf. Im Zeughaus, vor dem Museum, am
+Dom und rings um das Schlo&szlig; &mdash; lauter Pickelhauben.
+Mit klingendem Spiel zieht die Wache auf, bunt und
+gl&auml;nzend, eine Augenweide f&uuml;r alle Farbenfrohen. An
+der Kreuzung der Friedrichstra&szlig;e stockt der Zug der
+Soldaten, ein anderer &uuml;berschreitet seinen Weg, ein
+einf&ouml;rmig dunkler: Arbeiter, die aus dem Innern der
+Stadt kommen, wo heute die Wahlrechtsversammlungen
+<a name="Page_647" id="Page_647"></a>tagen. Schweigend zieht er vor&uuml;ber. Es ist, als ob
+er auf alle Gesichter seinen Schatten geworfen habe.</p>
+
+<p>Da &mdash; Signalt&ouml;ne aus der Hupe. Die Spazierg&auml;nger
+stutzen; drei gelbe Automobile rasen vorbei, dem Schlosse
+zu. Der Kaiser. Kein Hurra, kein Gru&szlig;, alles bleibt
+still, &mdash; wie benommen.</p>
+
+<p>Und pl&ouml;tzlich, als h&auml;tte die Erde sie ausgespieen,
+wimmelt es auf der breiten Stra&szlig;e von Menschen; im
+selben Augenblick bildet sich vor dem Schlo&szlig; eine
+Mauer von Polizistenleibern. Die Menge mi&szlig;t ihre
+Gegner mit dem sp&ouml;ttischen Blick der &Uuml;berlegenheit:
+Wenn wir wollten&nbsp;&mdash;! Aber sie wollen nicht. Sie
+haben st&auml;rkere Mauern zu st&uuml;rmen.</p>
+
+<p>Aus der Ferne klingen T&ouml;ne, wie Donnerrollen. Sie
+schwellen an. Sie begleiten den gleichm&auml;&szlig;igen Tritt
+Tausender: &mdash; soweit das Auge die Friedrichstra&szlig;e hinunter
+gen S&uuml;den reicht &mdash; ein Meer von Menschen.
+Es &uuml;berflutet die Linden. Rechts und links weichen die
+Spazierg&auml;nger zur&uuml;ck. Noch nie hat die Allee der F&uuml;rstentriumphe
+solch einen Aufzug gesehen! Eine Schwadron
+Berittener sprengt den Demonstranten entgegen, mitten
+in ihren Zug hinein. Ein Aufkreischen &auml;ngstlicher Weiberstimmen, &mdash; dann
+gewitterschwangere Stille.</p>
+
+<p>Einsam liegt das K&ouml;nigsschlo&szlig;. Leer gefegt ist der
+weite Raum ringsum. Schwer h&auml;ngt die Kaiserstandarte
+in der unbewegten Luft. Hier h&auml;lt das Leben seinen
+Atem an.</p>
+
+<p>Aber ringsum, von Norden und Osten, von S&uuml;den
+und Westen, str&ouml;men sie jetzt herbei in hellen Scharen.
+Sie singen. Niemand hat den Taktstock geschwungen,
+sie sehen einander nicht einmal, und doch ist es dasselbe<a name="Page_648" id="Page_648"></a>
+Lied, das aus den Kehlen aller dringt, das die Bastille
+gest&uuml;rmt hat und die Barrikaden: die Marseillaise. Es
+schl&auml;gt gegen die Mauern der Kirchen und der Pal&auml;ste, &mdash; und
+ihr Echo mu&szlig; es wiedergeben. Es braust sieghaft
+hinweg &uuml;ber die Ketten der H&uuml;ter der Ordnung.
+Hoch &uuml;ber dem K&ouml;nigsschlo&szlig; fluten seine T&ouml;ne zusammen, &mdash; es
+klingt wie das Klirren scharfer Klingen, &mdash; wie
+Wotans gespenstisches Heer.</p>
+
+<p>Und nun h&uuml;llt der Abend die Stadt in seinen dunkeln
+Mantel. Der Gesang verstummt. Das Pferdegetrappel
+der Polizisten, das Geschrei der Verfolgten t&ouml;nt nur
+noch von weit her.</p>
+
+<p>Mir aber ist, als s&auml;he ich in einen unerme&szlig;lichen
+Saal. An seinen W&auml;nden prangen die Bilder verflossener
+Jahrhunderte: die Geschichten von den K&ouml;nigen
+und den Kriegen; Marmorstatuen stehen ringsum: Feldherrn
+und F&uuml;rsten, Priester und Propheten. In der
+Mitte aber auf goldenem Stuhl thront Er. Um das
+Haupt den Kr&ouml;nungsreif wie einen Heiligenschein; die
+Finger der Linken um den Reichsapfel gespannt, &mdash; die
+Weltenkugel; in der rechten das Zepter, &mdash; eine Peitsche,
+um Nacken zu beugen, Widerspenstige zu z&auml;hmen; auf
+der Brust ein gro&szlig;es leuchtendes Kreuz. Ich staune
+ihn an: Alles Vergangene lebt in ihm. Alles, was uns
+tot ist, umgibt ihn. Gegen die Nacht, die nur sein
+Glanz erhellt, erscheint das Licht des Tages grau und kalt.</p>
+
+<p>Er ist kein einzelner. Er ist die Welt, die wir &uuml;berwinden
+m&uuml;ssen.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_649" id="Page_649"></a></p>
+
+<p>Eine kleine Gruppe von Parteigenossen fand sich
+in einem Restaurant der Friedrichstadt in der
+Nacht nach den Wahldemonstrationen zuf&auml;llig
+zusammen. Die Erregung, die in allen noch nachzitterte,
+verscheuchte jede M&uuml;digkeit. Gro&szlig;e Ereignisse l&ouml;sen die
+Lippen. Auch die K&uuml;hlen waren warm geworden. Man
+diskutierte lebhaft: &uuml;ber die heutige Eroberung der
+Stra&szlig;e, &uuml;ber die k&uuml;nftige Entwickelung der Bewegung,
+&uuml;ber die M&ouml;glichkeit, in diesem Augenblick, wo es sich
+nicht um die Aufrichtung des Zukunftsstaates, sondern
+um die Niederwerfung der Junkerherrschaft handelte,
+das liberale B&uuml;rgertum und alle Schmollenden, die unsicher
+abseits standen, mobil zu machen. &raquo;Ein Riesenkampf
+gegen die Reaktion, &mdash; das ist's, was die stagnierenden
+Gew&auml;sser in Flu&szlig; bringen w&uuml;rde!&laquo; sagte einer.</p>
+
+<p>&raquo;Er w&uuml;rde die Geister scheiden, wie nichts zuvor&nbsp;&mdash;,&laquo;
+erg&auml;nzte enthusiastisch ein anderer.</p>
+
+<p>&raquo;Sie glauben wirklich, da&szlig; das Ziel des allgemeinen
+Wahlrechts f&uuml;r den preu&szlig;ischen Landtag solch weltbewegende
+Kr&auml;fte entfesseln k&ouml;nnte?&laquo; fragte ich. Mein
+Spott r&ouml;tete die Gesichter der Begeisterten noch mehr.</p>
+
+<p>&raquo;Und gerade Sie waren vor einer Stunde bis zur
+Stummheit ergriffen!&laquo; meinte vorwurfsvoll mein Nachbar.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin es noch,&laquo; antwortete ich; &raquo;mir war, als
+h&auml;tte ich wirklich den Fl&uuml;gelschlag der neuen Zeit gef&uuml;hlt.
+Ich f&uuml;rchte nur, sie rauscht an uns vor&uuml;ber.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das aber liegt doch an uns!&laquo; rief &uuml;ber den Tisch
+her&uuml;ber ein jungem Literat, der darauf brannte, sich die
+politischen Sporen zu verdienen. &raquo;Wir m&uuml;ssen sie fest<a name="Page_650" id="Page_650"></a>halten,
+wir m&uuml;ssen das Eisen schmieden, solange es
+warm ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Womit, wenn ich fragen darf?&laquo; &mdash;</p>
+
+<p>Die Antworten schwirrten von allen Seiten durcheinander:
+&raquo;Durch die Aussicht auf eine wahrhaft liberaldemokratische
+&Auml;ra,&laquo; &mdash; &raquo;auf wirtschaftliche Reformen
+gro&szlig;en Stils,&laquo; &mdash; &raquo;Verminderung der Steuern,&laquo; &mdash; &raquo;der
+Milit&auml;rlasten,&laquo; &mdash; &raquo;Trennung von Kirche und
+Staat&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Lauter Einzelforderungen, die gro&szlig;e, heute noch indifferente
+Massen kaum begeistern, die heterogene Elemente
+nicht zusammenschwei&szlig;en werden, die, vor allen
+Dingen, kein sicher wirkendes Scheidewasser sind,&laquo; sagte
+ich ruhig.</p>
+
+<p>&raquo;So nennen Sie es, wenn Sie es wissen!&laquo;</p>
+
+<p>Ich sah mich scheu im Kreise um. Sobald ein Gespr&auml;ch
+Fragen ber&uuml;hrte, die mir sehr nahe gingen, &uuml;berkam
+mich oft eine gewisse verlegene Unbeholfenheit.
+&raquo;St&uuml;nde ich vor einer Volksversammlung, so w&uuml;rde es
+mir leichter werden als vor all Ihren forschenden, erwartungsvollen
+und &mdash; l&auml;chelnden Mienen,&laquo; meinte ich.</p>
+
+<p>&raquo;So wollen wir streng parlamentarisch verfahren,&laquo;
+sagte mein Nachbar sichtlich belustigt; &raquo;wir sind die
+letzten G&auml;ste, beherrschen also im Moment die Situation.
+Silentium, meine Herren! Frau Alix Brandt hat das
+Wort.&laquo;</p>
+
+<p>Ich sah zu meinem Mann hin&uuml;ber. Er nickte mir zu.
+Ich klammerte meinen Blick an den seinen und erhob
+mich. Was mir diese Nacht zum erstenmal klar vor
+Augen gestanden hatte, das sollte ich in Worte fassen. &mdash; Mir
+war die Kehle wie zugeschn&uuml;rt. Und doch f&uuml;hlte
+<a name="Page_651" id="Page_651"></a>ich, es mu&szlig;te sein. Nicht um dieser Tafelrunde willen, &mdash; sondern
+meinetwegen. Der Gedanke zerflattert, wenn
+er nicht in die Form der Sprache gepre&szlig;t wird.</p>
+
+<p>&raquo;Mir scheint,&laquo; begann ich z&ouml;gernd, &raquo;da&szlig; es nicht so
+sehr darauf ankommt, einzelne praktische Ziele zu setzen.
+Das haben die Parteien schon l&auml;ngst getan und sind
+&uuml;ber die Verschiedenheit ihrer Einzelforderungen in
+Gruppen und Gr&uuml;ppchen auseinander gefallen. Alle
+gro&szlig;en entscheidenden Weltbewegungen sind von<em class="spaced"> einem</em>
+Geist getragen worden&nbsp;&mdash;&laquo; &raquo;Und die materialistische
+Geschichtsauffassung?!&laquo; unterbrach mich ein Genosse.</p>
+
+<p>&raquo;Von<em class="spaced"> einem</em> Geist&nbsp;&mdash;,&laquo; fuhr ich unbeirrt fort, &raquo;der
+sich selbstverst&auml;ndlich erst aus den allgemeinen wirtschaftlichen
+und sozialen Verh&auml;ltnissen heraus entwickeln
+konnte und immer erst dann entstand, wenn der Widerspruch
+der Gegenwart zur Vergangenheit &uuml;berall schmerzhaft
+f&uuml;hlbar geworden war. Das gilt f&uuml;r das Christentum, &mdash; den
+Muhamedanismus&nbsp;&mdash;&laquo; &raquo;die Revolution,&laquo;
+rief einer dazwischen.</p>
+
+<p>&raquo;Nein,&laquo; antwortete ich. &raquo;Es gibt Zeiten, in denen
+der Geist der Verneinung, wie ich ihn einmal nennen
+will, nicht zu reinem, vollem Ausdruck kommt, wo er
+nur beschr&auml;nkte Schichten des Volkes ergreift, &mdash; wie
+zur Zeit der Renaissance, der Revolution, &mdash; und wo er
+darum schlie&szlig;lich gezwungen wird, mit dem Geist der
+Vergangenheit zu paktieren. So baute die Renaissance
+christliche Kirchen, und die Revolution &uuml;bernahm die
+Phraseologie des Christentums. Auch wir versuchen mit
+jener Geistesfaulheit, die sich scheut, zu Ende zu denken,
+neuen Wein in alte Schl&auml;uche zu gie&szlig;en. Ich erinnere
+an die Bem&uuml;hungen, die Kirche zu modernisieren, an
+<a name="Page_652" id="Page_652"></a>das Bestreben, in der Partei die Ethik Kants f&uuml;r den
+Sozialismus in Anspruch zu nehmen.&laquo;</p>
+
+<p>Hier unterbrach mich mein Nachbar, ein begeisterter
+Kantianer, und verga&szlig; im Eifer des Widerspruches
+die von ihm selbst gewollte parlamentarische Ordnung.</p>
+
+<p>&raquo;Der kategorische Imperativ, von seiner transzendentalen
+Herkunft losgel&ouml;st, ist tats&auml;chlich der dirigierende
+Geist, auf den Sie offenbar hinauswollen,&laquo; rief er.</p>
+
+<p>&raquo;Das bestreite ich. Schon weil er sich von dieser
+transzendentalen Herkunft nicht losl&ouml;sen l&auml;&szlig;t, weil er
+Geist vom Geist des Christentums ist, weil wir auf
+Grund unserer Kenntnis der historischen Entwicklung
+und Umwandlung sittlicher Ideale wissen, da&szlig; es ein
+allgemein gleiches, verpflichtendes Sittengesetz nicht gibt,
+weil nicht einmal zwischen Einzelindividualit&auml;ten eine
+&Auml;quivalenz der Handlungen besteht&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich h&ouml;re Alix Brandt, und es ist Friedrich Nietzsche!&laquo;
+spottete jemand. Die anderen l&auml;chelten vielsagend.</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben mir vorgegriffen,&laquo; entgegnete ich ruhig.
+&raquo;Ich h&auml;tte den Namen des Mannes genannt, der zwar
+nicht der Erl&ouml;ser, wohl aber sein Prophet sein kann.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber, Genossin Brandt, Sie verirren sich,&laquo; h&ouml;rte
+ich entr&uuml;stet rufen; &raquo;wie verm&ouml;gen Sie Ihre sozialdemokratische
+Gesinnung mit dem Nachbeten Nietzschescher
+Lehren zu vereinigen?! Denken Sie doch an seine Verg&ouml;tterung
+der &#8250;Herrenmenschen&#8249;, an seine Verh&ouml;hnung
+jedes &#8250;Sklavenaufstands&#8249;!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Diesen Einwand mu&szlig;te ich erwarten. Ich erinnere
+Sie demgegen&uuml;ber zun&auml;chst nur daran, da&szlig; es derselbe
+Nietzsche war, der anerkannte, da&szlig; die einzelne starke
+Individualit&auml;t am leichtesten in einer demokratischen Ge<a name="Page_653" id="Page_653"></a>sellschaft
+sich erhalten und entwickeln k&ouml;nne. Aber diese
+Idee ist zwischen uns, wie ich glaube, schon so sehr zum
+unbestreitbaren Gemeinplatz geworden, da&szlig; ich nicht
+weiter darauf einzugehen brauche. Nat&uuml;rlich gebe
+<em class="spaced"> den</em> Nietzsche preis, der unsere gro&szlig;e soziale Bewegung
+weder kannte, noch kennen wollte. Und ich kann das
+um so leichter, weil er unbewu&szlig;t selbst im Flusse dieser
+Bewegung schwamm, weil er dem Sozialismus das gab,
+was wir brauchen: eine ethische Grundlage.&laquo;</p>
+
+<p>Von allen Seiten wurde mir heftig widersprochen,
+aber jetzt, da ich mir selbst immer klarer wurde, st&ouml;rte
+mich das nicht mehr.</p>
+
+<p>&raquo;Alle seine gro&szlig;en Ideen leben in uns: der Trieb
+zur Pers&ouml;nlichkeit, die Umwertung aller Werte, das Jasagen
+zum Leben, der Wille zur Macht. Wir brauchen
+die blitzenden Waffen aus seiner R&uuml;stkammer nur zu
+nehmen, &mdash; und wir sollten es tun. Mit dem Ziel des
+gr&ouml;&szlig;ten Gl&uuml;cks der gr&ouml;&szlig;ten Anzahl, &mdash; an das ich
+glaubte, wie Sie alle, &mdash; schaffen wir eine Gesellschaft
+beh&auml;biger Kleinb&uuml;rger.... Und sp&uuml;ren Sie den Geist der
+Verneinung nicht in allem, was heute lebenskr&auml;ftig ist
+und vorw&auml;rts will? Kunst und Literatur, Wissenschaft
+und Politik setzen ihr Nein der Vergangenheit entgegen,
+die noch Gegenwart sein will. Was ihr Tugend war, &mdash; Unterw&uuml;rfigkeit,
+Demut, Ergebung in das Schicksal,
+Ungehorsam gegen sich selbst, wenn der Gehorsam gegen
+Obere es fordert, &mdash; erscheint uns mindestens als Schw&auml;che,
+wenn nicht als Unrecht. Der Glaube an die gottgewollten
+Zust&auml;nde von Armut und Reichtum, von Herrschaft
+und Dienstbarkeit ist weit &uuml;ber die Kreise der
+Partei hinaus zerst&ouml;rt. Und mit alledem, das wir un<a name="Page_654" id="Page_654"></a>bewu&szlig;t
+und bewu&szlig;t von uns geworfen haben, panzert
+sich der Riese der Reaktion. Vor neunzehnhundert
+Jahren unterwarf die Moral des Christentums die heidnische
+Welt. Vergebens hat die Renaissance und die
+Revolution sich gegen sie emp&ouml;rt, &mdash; die Zeit war noch
+nicht reif. Heute aber ist sie es; der Sozialismus hat
+ihr den Boden bereitet. W&auml;re ihre Fahne voll entfaltet,
+so w&uuml;rden sich vor ihr die Feigen von den Mutigen,
+die Schwachen von den Starken sondern, und alles
+w&uuml;rde ihr zustr&ouml;men, was jungen Geistes ist, was Zukunft
+in sich hat. Den Weg zu unserem Ziel finden
+wir nur, wenn die Idee der ethischen Revolution der
+Idee der &ouml;konomischen Umw&auml;lzung Fl&uuml;gel verleiht....&laquo;</p>
+
+<p>Die T&uuml;re ging auf. Ein verschlafener Kellner musterte
+mi&szlig;mutig die se&szlig;haften G&auml;ste. Ich erwachte wie aus
+einem Traum. Die anderen blieben stumm. Ob aus
+&Uuml;berraschung, aus Emp&ouml;rung, aus M&uuml;digkeit? &raquo;Ich
+m&ouml;chte heim,&laquo; sagte ich leise zu meinem Mann. Wir
+gingen allein und schweigsam nach Hause.</p>
+
+<p>Ich h&ouml;rte danach, da&szlig; man mich verspottete: Die
+Sozialdemokratin und Verk&uuml;nderin der &raquo;Herrenmoral&laquo;!
+Mir schien, als gingen mir die Genossen noch mehr als
+sonst aus dem Wege. Aber es kr&auml;nkte mich nicht.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Ein feuchter M&auml;rzwind strich durch die Stra&szlig;en.
+Die B&auml;ume und B&uuml;sche zitterten in seiner Umarmung,
+denn er fl&uuml;sterte ihnen vom Fr&uuml;hling
+die frohe Botschaft zu. Auch um meine Stirne wehte sein
+weicher Atem. Hatte ich nicht geglaubt, da&szlig; ich den Lenz wie
+alte Leute gr&uuml;&szlig;en w&uuml;rde: versunken in Erinnerungen? &mdash;</p>
+
+<p><a name="Page_655" id="Page_655"></a>Ich sa&szlig; am Fenster und las meines Sohnes Briefe.
+Seit einiger Zeit schrieb er mir oft: Seiten und Seiten
+voller Fragen und erregter Gest&auml;ndnisse. Zum erstenmal
+stand sein junger Geist in offenem Kampf mit der Wahrheit
+und den Autorit&auml;ten. Und er unterwarf sich nicht.
+Er war mein Kind.</p>
+
+<p>Noch immer hatte ich mich gescheut, Heinrich zu
+zeigen, was er schrieb. Wir waren fr&uuml;her heftig aneinander
+geraten, weil ich schon des kleinen Kindes
+Selbst&auml;ndigkeit respektierte. Und jetzt hatte ich mehr zu
+f&uuml;rchten als nur den v&auml;terlichen Zorn. Ein Pr&uuml;fstein
+w&uuml;rde es sein auch f&uuml;r unsere Beziehungen. Ich liebte
+meinen Mann. Viel mehr, viel tiefer als zu jener Zeit,
+da ich mich ihm zuerst verband. Denn damals kannte
+ich ihn nicht. Aber meine Liebe war zu gro&szlig;, um
+Unterwerfung ertragen zu k&ouml;nnen. Wenn er das Kind
+nicht verstand, so w&uuml;rde er auch mich nicht verstehen.
+Wieder aneinander gebunden sein, so da&szlig; jeder selbst&auml;ndige
+Schritt des einen den anderen ins Fleisch
+schneiden mu&szlig;; die Blume der Liebe, die nichts als der
+Pers&ouml;nlichkeit reichste Entfaltung ist, abpfl&uuml;cken, nur
+damit sie die Brust des anderen schm&uuml;ckt, zu fr&uuml;hem
+Welken verurteilt, &mdash; das vermochte ich nicht mehr &mdash;</p>
+
+<p>Es l&auml;utete drau&szlig;en, lang und heftig. Ich sprang
+auf, beide H&auml;nde auf das wild klopfende Herz gepre&szlig;t.
+Wer l&auml;rmte zu fr&uuml;her Morgenstunde so ungeduldig an
+der T&uuml;re? Wer?! Schon sprang sie auf, und ins
+Zimmer flog es herein wie ein Wirbelwind, und zwei
+Arme umschlangen mich, und ein gl&uuml;hendes Gesicht mit
+zwei gl&auml;nzenden Augen hob sich zu mir empor. &raquo;Mein
+Kind! Mein Kind!&laquo; &mdash;</p>
+
+<p><a name="Page_656" id="Page_656"></a>Der Rucksack flog im Bogen von den Schultern. &raquo;Davongelaufen
+bin ich &mdash; bei Nacht und Nebel, &mdash; ich hielt's
+nicht l&auml;nger aus,&laquo; sprudelte es hervor, atemlos, triumphierend.</p>
+
+<p>Ich h&ouml;rte kaum, was er sprach, ich sah nur, da&szlig; er
+da war, wirklich da war!</p>
+
+<p>Ein fester Tritt auf dem Flur weckte mich aus meiner
+Versunkenheit. &raquo;Der Vater!&laquo; rief ich angstvoll und legte
+wie sch&uuml;tzend den Arm um meinen Sohn. Der aber
+ri&szlig; sich los, lachte mich an und lief mit einem: &raquo;Ich
+f&uuml;rchte mich nicht!&laquo; dem Kommenden entgegen.</p>
+
+<p>Ich stand wie angewurzelt. Ich h&ouml;rte einen Wortwechsel,
+dann ein langes, ernstes Gespr&auml;ch. Frage und
+Antwort. Hand in Hand kamen sie zu mir ins Zimmer.
+&raquo;Nun werden wir den Schlingel doch wohl behalten
+m&uuml;ssen,&laquo; l&auml;chelte mein Mann, &raquo;und heute soll f&uuml;r uns
+drei ein Feiertag sein.&laquo;</p>
+
+<p>Wir gingen durch den Wald nach Paulsborn. Die
+Kiefern standen schwarz gegen den hellen Himmel, und
+lichtgr&uuml;n schmiegten sich die B&uuml;sche ihnen zu F&uuml;&szlig;en.
+Auf dem See tanzten die Sonnenstrahlen. Und weit
+voraus sprang unser Sohn.</p>
+
+<p>&raquo;Wei&szlig;t du noch?!&laquo; sagte Heinrich.</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig;! Damals sch&uuml;ttelte der Sturm die B&auml;ume.
+Mich fror, und du schlugst deinen Mantel um mich&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und habe dich doch nicht sch&uuml;tzen k&ouml;nnen&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke es dir, denn dadurch wurde ich stark.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So stark, da&szlig; du allein zu gehen vermagst&nbsp;&mdash;,&laquo; seine
+Stimme schwankte dabei. Mich traf's wie blendendes
+Licht, &mdash; ich sah auf dem Wasser nichts mehr als die
+goldene, schimmernde Sonnenstra&szlig;e.</p>
+<p><a name="Page_657" id="Page_657"></a></p>
+<p>&raquo;Damals warnte ich dich vor mir,&laquo; fuhr er fort.</p>
+
+<p>&raquo;Ich aber lie&szlig; dich nicht&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und heute?!&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du siehst: ich gehe auf eigenen F&uuml;&szlig;en, aber neben
+dir&nbsp;&mdash;&laquo;</p>
+
+<p>Wo die dunkle Allee sich der weiten, sonnenbegl&auml;nzten
+Wiese &ouml;ffnet, tauchte die schlanke Gestalt unseres Sohnes
+auf. Er hielt einen Zweig jungen Gr&uuml;ns in der hochgehobenen
+Hand. Der wehte &uuml;ber ihm wie eine Fahne.</p>
+
+<hr style='width: 45%;' />
+
+<p>Und dann kam das Leben wieder und der Alltag,
+und sein Pfad blieb rauh. Aber ich hatte
+ihn freiwillig gew&auml;hlt, und meines Herzens
+Glut sch&uuml;tzte mich vor dem Frost. Er blieb einsam.
+Aber ich wu&szlig;te vorher: wer eigene Wege sucht, findet
+wenig Gef&auml;hrten. Und &uuml;ber das Donnern der Sturzb&auml;che
+hinweg flog siegreich hin und her der Gru&szlig; der Liebe.</p>
+
+<p>Einmal, als der F&ouml;hn mich umheulte und die Steine
+meine F&uuml;&szlig;e verwundeten, sah ich forschend zur&uuml;ck. Und
+ich erkannte, da&szlig; ich nicht irre gegangen war.</p>
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
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+
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+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at https://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at https://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit https://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including including checks, online payments and credit card
+donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
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+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
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