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diff --git a/.gitattributes b/.gitattributes new file mode 100644 index 0000000..6833f05 --- /dev/null +++ b/.gitattributes @@ -0,0 +1,3 @@ +* text=auto +*.txt text +*.md text diff --git a/16302-8.txt b/16302-8.txt new file mode 100644 index 0000000..ec07db4 --- /dev/null +++ b/16302-8.txt @@ -0,0 +1,18222 @@ +The Project Gutenberg EBook of Memoiren einer Sozialistin, by Lily Braun + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Memoiren einer Sozialistin + Kampfjahre + +Author: Lily Braun + +Release Date: July 15, 2005 [EBook #16302] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MEMOIREN EINER SOZIALISTIN *** + + + + +Produced by richyfourtytwo and the Online Distributed +Proofreading Team at https://www.pgdp.net + + + + + + +Memoiren einer Sozialistin + + +Kampfjahre + + +Roman + +von + +Lily Braun + +Albert Langen, München + +1911 + + + + +Erstes Kapitel + + +Eine gewitterschwüle Juninacht. In der Kabine unten hatte ich es nicht +ausgehalten. Die eingeschlossene Luft legte sich zentnerschwer auf Kopf +und Brust, und das melancholisch eintönige Anschlagen der Wellen an die +Fenster preßte mir das Herz zusammen, als ob das Unglück selbst es in +seinen harten Händen hielte. + +»Ich bin seefest,« hatte ich der warnenden Stewardeß zugerufen, als ich +die schwankende Treppe hinaufgestiegen war. Zwei-, dreimal atmete ich +auf, tief und schwer, wie nach überstandener Anstrengung, ehe ich mich +in den Korbstuhl fallen ließ. Am Himmel jagte, vom Wind gepeitscht, ein +schwarzes Wolkenheer. Dunkel und drohend rollten die Wellen dem Schiff +entgegen. Kein Mondstrahl spiegelte sich in ihnen, kein Stern +erleuchtete das finstere Firmament. Langsam verschwanden am Horizont die +Küste von Holland und mit ihr die letzten freundlichen Lichter. + +Ich war allein -- ganz allein. Ich sammelte meine Gedanken, die das +Fieber der letzten Tage durcheinandergewirbelt hatte wie der Sturm die +Schaumperlen auf dem Wasser. War das Gebäude meines neuen Lebens, das +ich mir droben auf den Bergen mit eigenen Händen stolz und selbstsicher +errichtet hatte, nichts als ein Kartenhaus gewesen, das ein Stoß mit der +Hand umzuwerfen vermochte? Ich griff suchend in die Tasche meines +Mantels, es war kein Traum, sondern grausame Wirklichkeit: meiner Mutter +Brief knisterte noch darin. Ich konnte ihn auswendig. Schon auf der +Fahrt von Grainau nach Berlin hatte ich ihn gewiß zehnmal gelesen. + +»Es ist mir, Gott sei Dank, möglich gewesen, Deinen Brief ohne Wissen +Deines Vaters in die Hand zu bekommen,« hieß es darin, »und ich schreibe +Dir in größter Hast, Gott anflehend, daß es meinen Worten gelingen +möchte, das Schrecklichste von uns allen abzuwenden. Was ich immer schon +fürchtete, als ich mit anhören mußte, wie Dein verstorbener Mann und Du +unseren Herrn und Heiland verleugnetet, und in Euren 'Ethischen +Blättern' las, wie Ihr immer wieder für die Umsturzpartei eintratet, das +ist jetzt geschehen. Der Samen, den Georg in Deine Seele streute, ist +aufgegangen: kühl und geschäftsmäßig, als handle es sich um den Plan +eines Spaziergangs, teilst Du uns mit, daß Du Deine Redaktionsstellungen +aufgegeben hast, um Dich ganz und gar der Sozialdemokratie in die Arme +zu werfen. Deine große Verirrung, Dein Unglaube haben Dich, wie es +scheint, für alles, was Pflicht, Gehorsam, Liebe und Rücksicht heißt, +blind und taub gemacht, sonst müßtest Du wissen, daß Du mit einem +solchen Schritt Deinem ganzen bisherigen Verhalten Deinen Eltern, Deiner +Familie gegenüber die Krone aufsetzest. Dieser Partei, die alles +besudelt und mit Füßen tritt, was uns heilig ist: Gott und Christentum, +Familie, Ehe, Monarchie und Militär, sollen wir unser Kind überlassen? +Es wäre in dem Augenblick für uns gestorben! Aber freilich, das ist Dir +einerlei, Du wirfst leichten Herzens alles über Bord, was Deinem +Eigensinn, Deinem Ehrgeiz, Deiner Eitelkeit hindernd in den Weg tritt. +Wenn Du aber damit Deinen armen Vater mordest -- von mir will ich gar +nicht reden, eine Mutter scheint dazu da zu sein, daß die Kinder sie mit +Füßen treten --, wirst Du auch dann noch Deiner Selbstherrlichkeit froh +werden können?! Du weißt, daß es ihm in letzter Zeit gar nicht gut geht. +Vor ein paar Tagen fiel er vom Pferd; er sagt, er sei gestürzt, Bruder +Walter aber, der dabei war, ist überzeugt, daß es ein leichter +Schlaganfall gewesen ist. Die kleine Braune, deren Ruhe du kennst, +machte keinerlei Bewegung, er glitt eben einfach aus dem Sattel. Seitdem +leidet er an Schwindel und Kopfschmerz und ist schwerer zu behandeln +denn je. Jede Aufregung kann einen neuen Anfall hervorrufen, der ihn +tötet. Ich wollte nur, ich könnte dann mit ihm sterben, ehe ich so etwas +mit Dir erleben müßte ...!« + +Als ich diesen Brief erhalten hatte, waren meine Austrittserklärungen +aus den Redaktionen der »Ethischen Blätter« und der »Frauenfrage« schon +versandt worden. Kaum in Berlin angekommen, fand ich die Mitteilung +davon in der Presse und die nötigen Kommentare dazu: »Frau von +Glyzcinski hat den längst erwarteten Schritt getan, und die +Sozialdemokratie kann sich ob dieser ebenso interessanten wie pikanten +Aquisition ins Fäustchen lachen« ... so und ähnlich lauteten sie. + +Am nächsten Morgen in aller Frühe war meine Schwester blaß und +verängstigt zu mir gelaufen: + +»Wir sind mit dem Arzt im Komplott,« hatte sie mit stockender Stimme +gesagt, während die Tränen ihr unaufhaltsam über die Wangen liefen, »er +verbietet Papa, auszugehen. So liest er wenigstens im Kasino die +Zeitungen nicht. Und die Post wird dem Briefboten an der Hintertreppe +abgenommen ... Ach, Alix, -- du weißt nicht, wie gräßlich es zu Hause +ist .. Ich muß Papa immer was vormachen, damit er nichts merkt und Mama +nicht zu sehr quält .. Am liebsten liefe ich selber davon ...« + +Zu Tisch war ich dann mit ihr zu den Eltern gegangen. + +Meines Vaters Anblick hatte mich erschüttert. + +»Kommst du wirklich noch zu einer halben Leiche?!« hatte er bitter +lachend gesagt. »Ihr könnt's ja wohl gar nicht erwarten, daß eine ganze +draus wird. Herr Gott, -- wie hübsch könntet ihr dann eurem Vergnügen +leben!« + +Mama begleitete mich nach Hause: »Habe den Mut, ihm deinen Entschluß ins +Gesicht zu sagen! -- So einen Brief schreiben und alle Folgen auf Mutter +und Schwester abwälzen, -- das ist freilich eine Heldentat, die dir +ähnlich steht!« + +Abends war Frau Vanselow noch gekommen, -- tief bekümmert. »Ich verstehe +Ihren Entschluß, -- wenn ich so jung wäre wie Sie, ich täte dasselbe --, +aber das hindert mich nicht, ihn schmerzlich zu bedauern. Unsere +'Frauenfrage' ist nichts ohne Sie. Und darum bitte ich Sie recht +herzlich: wenn ich schon die Mitredakteurin verlieren soll, so doch +wenigstens nicht die Mitarbeiterin. Mehr als je können Sie jetzt für +die Einheit der ganzen Frauenbewegung wirken.« Und dann hatte sie mir +die Einladung zum Internationalen Frauenkongreß nach London vorgelesen, +die auf unser beider Namen lautete. »Wie viel könnten gerade Sie, meine +liebe, junge Freundin, dort lernen und leisten -- England, das +klassische Land der Frauenemanzipation ...!« + +In der Nacht kämpfte ich einen schweren Kampf. Meine Überzeugungen, +meine Zukunftsträume, meine Hoffnungen standen alle bis an die Zähne +gewappnet auf wider mich. + +Sehr langsam, sehr müde schlich ich am Tage darauf zu den Eltern. Noch +nie war mir der Flur, in dem auch heute, an einem strahlenden +Frühsommertage, das kleine Lämpchen brannte, so eng, so dunkel +vorgekommen und die Zimmer mit ihren schweren Vorhängen so kalt. + +Rasch, wie ein Schulmädchen, das den eingelernten Vers herunterhaspelt, +um nur nicht stecken zu bleiben, erzählte ich von der Einladung nach +England. + +»Wenn ihr nichts dagegen habt, möchte ich mit Frau Vanselow +hinüberreisen. Ich kann dabei viel gewinnen. Die englische +Frauenbewegung ist uns weit voraus, die ganze soziale Hilfstätigkeit ist +glänzend organisiert, -- ich werde mir für meine eigene Arbeit ein +Muster nehmen können. In schlechte Gesellschaft komme ich auch nicht,« +hatte ich mit erzwungenem Lächeln hinzugefügt, »denn Gräfinnen und +Herzoginnen sind unsere Gastgeber ...« + +Mama verstand. Sie strahlte. Klein-Ilschen, die sich bei meiner Ankunft +verschüchtert in eine Ecke geflüchtet hatte, sprang auf und wirbelte +lustig im Zimmer umher, der Vater schien förmlich elektrisiert von all +den Aussichten, die sich mir boten. Er studierte das Kursbuch, das +Konversationslexikon und schickte die Minna zum nächsten Buchhändler, um +den neuesten Bädecker von London zu holen. + +Immer wieder griff er verstohlen nach meinen Händen und streichelte sie +so sanft, so leise, daß ich den Kampf der Nacht vergaß und nichts fühlte +als seine Liebe. + +Die Reisevorbereitungen, der Abschied, -- der Vater hatte sich's nicht +nehmen lassen, mich frühmorgens zur Bahn zu bringen und mir, wie ein +feuriger Liebhaber, einen Strauß blühender Rosen in die Hand zu drücken, +-- die Eisenbahnfahrt in Begleitung von Frau Vanselow und Frau +Schwabach, die unaufhörlich von ihrer Vereinsarbeit sprachen, hatten +mich bis zu diesem Augenblick nicht zu Atem kommen lassen. + +Ach, und warum schlief ich nicht jetzt, statt heraufzubeschwören, was +vergangen war, und in schmerzhafter Sehnsucht an den zu denken, den ich +nicht erwecken konnte? Ich sah die Nacht um mich her und die große +Einsamkeit -- war Georg nicht erst jetzt für mich gestorben? Mich +fröstelte; feucht und kalt klebten mir die Kleider am Leibe. + +»Ich will schlafen gehen,« murmelte ich ... und die Augen fielen mir +zu ..... + + * * * * * + +Im Morgengrauen lag die Küste Englands vor mir, unfreundlich und +nüchtern. Mit jener unwirschen Rücksichtslosigkeit aller +Unausgeschlafenen hasteten und stießen sich die Schiffspassagiere. Ich +ließ mich schieben, -- es war ja alles so schrecklich gleichgültig. + +»Frau von Glyzcinski?!« -- Überrascht sah ich auf. »Mister Stratford?« +-- Der rotblonde Hüne, der mich eben begrüßt hatte, nickte erfreut. Wie +einen Gruß von Georg, so empfand ich seinen Händedruck; er war sein +bester Freund gewesen, seine Schriften, seine Briefe hatten ihn mir wie +ein Echo Georgs erscheinen lassen. Und mit leisem Lächeln mußte ich der +Stunde gedenken, in der mir der Verstorbene gestanden hatte, daß er +zwischen uns den Heiratsvermittler habe spielen wollen, ehe er daran zu +denken wagte, ich könne ihn -- den armen Gelähmten -- jedem anderen +vorziehen. + +Stratford war überzeugter Sozialist, wie Georg, nur daß er noch mit +aller Energie an dem Standpunkt der Ethischen Gesellschaft festhielt: +sich offiziell keiner Partei anzuschließen. Wir gerieten während der +Eisenbahnfahrt nach London in eine eifrige Debatte. + +»Grade Menschen wie wir können für die Verbreitung der Ideen des +Sozialismus außerhalb der politischen Organisation weit mehr und +nachhaltiger wirken, als wenn wir ihre eingetriebenen Mitglieder wären,« +sagte er. »Wir verzetteln und verzehren unsere Kräfte nicht im Kleinkram +des Parteilebens, wir finden Gehör, wo wir sonst von vornherein auf +Mißtrauen stoßen würden.« + +»Und Sie als Ethiker können es verteidigen, daß wir mit geschlossenem +Visier kämpfen und unsere Überzeugungen durch Hintertüren in die Häuser +tragen?« rief ich. »Ich komme mir dabei vor wie ein Feigling und ein +Betrüger!« + +Er lenkte ein: »Sie mögen in Deutschland, wo der ganze Sozialismus sich +in der Partei konzentriert, zu dieser Empfindung ein Recht haben, bei +uns gibt es nichts, das der deutschen Sozialdemokratie auch nur +annähernd ähnlich wäre. Wir sind viel zu individualistisch, um uns +herdenweise zusammenscharen zu lassen; Sie werden daher unseren +Sozialismus und seine Ausbreitung nicht nach dem Dutzend kleiner Vereine +beurteilen müssen, sondern nach den Scharen freier Sozialisten, die in +allen Gesellschaftsschichten zu finden sind.« + +Meine Unwissenheit in bezug auf englische Verhältnisse fiel mir +plötzlich schwer aufs Gewissen. Ich ließ meinen Begleiter erzählen, der +sich, wie es schien, gern reden hörte, und warf nur hie und da eine +Frage dazwischen, um seinen Redefluß auf die von mir gewünschten Bahnen +zu lenken. Ein Kaleidoskop bunter Bilder reihte sich vor mir auf: von +der Ethischen Gesellschaft an, deren Sprecher er war, bis zu den +politischen Kämpfen zwischen der konservativ-unionistischen Koalition +gegen das liberale Ministerium Rosebery-Harcourt. Ich war ganz benommen, +als wir uns London näherten. + +Einzelne Häuser tauchten auf, grau, nüchtern, mit trüben Fensterscheiben +und dünnen schwarzen Schornsteinen; sie schoben sich rechts und links +zusammen, enger und enger, sie verdrängten schließlich das letzte +Streifchen grünen Rasens; schmal, feuchtglänzend wie Riesenwürmer, +wanden sich unten die Straßen zwischen den Mauern. Ein schmutzig-grauer +Nebel umhüllte alles, nicht wie ein Schleier, der phantastische +Vorstellungen von dahinter verborgener Schönheit zu wecken vermag, -- +wie ein nasses Tuch vielmehr, das die Häßlichkeit der Formen betont und +jede Farbe verwischt, die sie mildern könnte. In der Bahnhofshalle +brannten die Bogenlampen, sie wirkten wie flackernde Öllämpchen im +Dunkel eines Kohlenbergwerks. Wir fuhren durch die Stadt: leichte Wagen +und schwerfällige Omnibusse, Reiter und Radler schoben und drängten sich +hin und her, kein Fußbreit Weges blieb frei zwischen ihnen. Auf den +Bürgersteigen daneben hasteten die Fußgänger; gleichgültig, nur auf das +eigene Vorwärtskommen bedacht, ohne einen Blick nach rechts und links. +Selbst die Kinder liefen ernsthaft, gradausschauend weiter. Da war +keiner, der Zeit hatte --, unsichtbar schienen in der Menge die +Fronvögte der grausamen Herrin Arbeit ihre Geißeln zu schwingen. + +Hier sollte ich Frieden finden und eine sichere Richtschnur für das +kommende Leben?! + +»Westminster! -- das Parlament,« hörte ich meinen Begleiter sagen. Ich +blickte auf. An einem Palast mit gotischen Türmen und Fenstern fuhr der +Wagen langsam vorbei. In vornehmer Abgeschlossenheit, hinter hohen +Gittern lag er gestreckt am breit dahinflutenden Strom. Schüchterne +Sonnenstrahlen brachen durch den Nebel, leuchteten durch das feine +gotische Maßwerk, blitzten auf den Turmknäufen, sprangen hinüber zu der +altehrwürdigen Kirche und ließen ihre bunten Fenster aufglühen, als +stünde sie im Feuer. + +Ein schmaler Weg am Ufer der Themse, hinter dem Parlament, einfach und +still wie eine Dorfstraße, nahm uns auf. Wir waren am Ziel. + +Meine Wirte, zwei alte Leute, hatten fast ihr ganzes Haus den Besuchern +des Frauenkongresses zur Verfügung gestellt. Sie empfingen mich so +herzlich, als wären wir alte Freunde. Man versammelte sich grade zum +Frühstück. Warum waren die Leute nur alle so feierlich? Selbst Stratford +legte das Gesicht in würdevolle Falten, -- fünf himmelblau gekleidete +Dienstmädchen traten ein, -- ein Harmonium ertönte, -- helle Stimmen +sangen einen Choral. Dann las der Hausherr mit dem Tonfall katholischer +Priester einen Bibelabschnitt, -- ein Gebet folgte. Alles kniete nieder, +den Kopf in den Händen vergraben, -- auch Stratford, Georgs Freund, der +Atheist. Ich fühlte, wie ich rot wurde vor innerem Zorn; ich allein +blieb stehen. + +»Wie können Sie nur?!« frug ich ihn empört, als er sich verabschiedete. + +»Es ist ja nur eine Form!« + +»Durch all unsere Rücksicht auf die Form helfen wir die Sache erhalten!« + + * * * * * + +Am Abend wurde der Kongreß durch einen feierlichen Empfang der +ausländischen Delegierten eröffnet. Eine Schar weißgekleideter Mädchen, +mit breiten Schärpen in den Landesfarben über der Brust, bildete Spalier +auf der Treppe von Queenshall; in ein Meer von Licht war der Riesenraum +getaucht, und alle Blumen des Sommers leuchteten und dufteten rings +umher. In großer Toilette erschienen die Delegiertinnen, bei jeder +Eintretenden ging ihr Name flüsternd von Mund zu Mund. Und wie sie +bekannt waren, so kannten sie sich untereinander und begrüßten sich wie +alte Kriegskameraden. Ich kam allein in meinem schwarzen Trauerkleid, +über das der Witwenschleier schwer herunterfiel. Es war ein leerer Raum +um mich, als ob meine dunkle Erscheinung alles Bunte, Helle von sich +stieße. Mich kannte niemand. Ein scheu-verwundertes »Wer ist das?« +schlug an mein Ohr. + +Auf der Estrade versammelten sich die Delegiertinnen, und jede von ihnen +begrüßte im Namen ihres Heimatlandes die wogende Menschenmasse unter +uns. Da waren sie alle, die alten Vorkämpferinnen, die Frauen Amerikas +und Australiens, die ihrem Geschlecht die Hörsäle der Universitäten und +die Pforten zum Parlament eröffnet hatten. Ein neuer Weibestypus: statt +der weichen Madonnengesichter, die die Stille und Enge häuslichen Lebens +formt, schmale, scharf geschnittene Züge, wie sie die Welt ihren Bürgern +meißelt; statt des treuen, warmen Blicks, der über Kinderstube und +Küchengarten nicht hinauszuschauen braucht, die wissenden, ernsten, +leidenschaftdurchfunkelten Augen jener, denen des Lebens dunkle Abgründe +sich offenbaren. Neben ihnen, den Siegerinnen, standen die noch immer +Besiegten: die dunkeläugige Türkin im schimmernden Märchengewande der +Scheherezade, die Abgesandte Indiens, den schlanken braunen Leib in +weiche Schleier gehüllt. Stolz erzählten die einen von ihren Triumphen, +klagend die anderen von ihren Leiden, -- Triumphen auf dem Gebiete des +wissenschaftlichen, des sozialen, des politischen Lebens, -- Leiden, +hervorgerufen durch sexuelle, soziale und rechtliche Unterdrückung, als +ob Befreiung und Not ihres Geschlechtes damit erschöpft wären. Immer +heftiger schlug mir das Herz: ich sah wie im Traum vor den Türen dieses +glänzenden Saales Scharen blasser Frauen im farblosen Kleide der Arbeit, +wie Werkstätten und Fabriken sie allabendlich zu Tausenden in ihr +elendes Heim entlassen. Und als mein Name gerufen wurde, und die weiße +brillantengeschmückte Hand der Präsidentin sich mit einer leise +bevormundenden Bewegung auf meine Schultern legte, während sie von +Deutschlands rechtlosen Frauen, von meinem ersten Auftreten für ihre +politische Gleichstellung sprach, da wußte ich, was ich zu sagen hatte. + +»Die Millionen Frauen, die unsere Hemden weben und unsere Kleider nähen, +haben mich nicht delegiert, aber ich fühle mich als ihre Abgesandte und +nur als die ihre.« + +Sekundenlanger Beifall unterbrach mich, -- galt er nicht mehr meinem +gebrochenen Englisch und meiner Trauerkleidung als meinen Worten? Mit +einem Blick voll Geringschätzung streifte ich die elegante +Zuhörerschaft. Ich werde euch schon verstummen machen --, dachte ich. + +»Ihre Vorsitzende rühmte mich als die erste deutsche Frau, die +in öffentlicher Versammlung das Stimmrecht für ihr Geschlecht +gefordert habe. Ich muß dieses Lob ablehnen. Seit Jahren tragen +deutsche Arbeiterinnen von Ort zu Ort die Fahne der politischen +Gleichberechtigung, und an der Spitze der Arbeiterpartei, der +Sozialdemokratie, steht ein Mann, dem die Frauen der ganzen Welt zu +Dank verpflichtet sind: August Bebel.« + +Ich hielt unwillkürlich inne, ich erwartete einen Tumult, statt dessen +erhoben sich alle Hände zu einmütigem Applaus, und selbst die Damen des +Präsidiums, unter denen sich die vornehmsten Frauen Englands befanden, +lächelten mir freundlich zu. + +Am Ausgang des Saals trat mir eine starkknochige ältere Frau entgegen. +In dem Druck ihrer harten, unbehandschuhten Hand erkannte ich die +Arbeiterin. »Ich bin Sozialdemokratin,« sagte sie, »und möchte Sie als +Genossin begrüßen.« Auf dem Heimweg begleitete sie mich, und ich gab +meiner Verwunderung und meiner Freude Ausdruck über das Erlebte. Sie +lachte geringschätzig. »Was wollen Sie?! Wir sind in England! Wenn ein +Prinz Anarchist und eine Aristokratin Sozialistin ist, so gilt das als +ganz besonders interessant. Passen Sie auf: man wird sich um Sie reißen. +Für unsere Sache aber hat das gar keine Bedeutung.« Sie nannte mir ihren +Namen -- Amie Hicks -- und ihre Wohnung, fern im äußersten Norden +Londons. »Besuchen Sie mich einmal; ich werde Sie in Arbeiterkreise +führen.« + +Im Trubel der nächsten Zeit war daran nicht zu denken. Der Kongreß und +seine Veranstaltungen nahmen mich ganz in Anspruch. Ich fehlte zwar oft; +nicht nur, um den Morgen- und Abendandachten aus dem Wege zu gehen, mit +denen die Sitzungen regelmäßig eingeleitet und geschlossen wurden, +sondern auch, um Zeit zum Schreiben zu gewinnen. + +In Gedanken an meine zusammenschmelzende Barschaft stieg mir das Blut +oft siedendheiß in die Schläfen. Das sogenannte Gnadenquartal war mir +als Witwe eines Universitätsprofessors freilich bewilligt worden, aber +schon vom nächsten Monat ab hatte ich nichts Sicheres zu erwarten als +meine kleine Pension von hundert Mark monatlich. Ich hatte kaum an den +pekuniären Ausfall gedacht, als ich meine Redaktionsstellungen aufgab. +Nun hieß es: arbeiten, zusammenschreiben, was ich zum Leben nötig hatte. +Ich wußte nicht einmal, wie viel das war. Ich hatte nie mit dem Pfennig +gerechnet. Wie gut, daß mein Trauerkleid mir wenigstens ersparte, den +Luxus der anderen mitzumachen. + +Mit Einladungen wurden wir überschüttet: vom Lord-Major an, der uns mit +dem ganzen Pomp seiner unnachahmlich würdevollen Stellung empfing, +wetteiferte alles in schier grenzenloser Gastfreundschaft. Hinaus aufs +Land führten uns Extrazüge, -- jenes Land voll rührender, weicher +Schönheit, mit seinen grünen, sanft geschwungenen Hügeln, seinen dunklen +Buchengruppen und stillen, rosenumsponnenen Häusern. Fast unmerklich für +Auge und Sinn geht die freie Natur in den Blumengarten, in den +Schloßpark über, nicht wie bei uns, wo die ihr mit allen Mitteln mühsam +aufgezwungene Kultur oft so verletzend wirkt wie protziger Reichtum +neben dürrer Armut. Und in die Häuser Londons waren wir geladen, die, +wie Menschen von alter Kultur, nach außen die gleichförmige, oft +langweilig wirkende Maske guter Erziehung tragen und erst dem Gast, dem +sich die Pforten öffnen, den ganzen inneren Reichtum individuellen +Lebens zeigen. Berlin und die Berliner fielen mir dabei ein, wo Fassaden +und Kleider, um Originalität vorzutäuschen, einander an Buntheit zu +übertreffen suchen, während im Inneren Tapeziergeschmack und Konvention +uneingeschränkt herrschen. + +In Wohltätigkeits- und Bildungsanstalten aller Art wurden wir +eingeführt, und wie in der Frauenbewegung, so imponierte mir hier die +Einheitlichkeit ihrer Organisation, deren gewaltige Räderwerke so +selbstverständlich ineinander griffen wie die jener Dampfturbinen, bei +deren Anblick wir nicht wissen, ob wir die praktische Kunst ihrer +Schöpfer oder die fremdartig-neue Schönheit ihres Baus mehr bewundern +sollen. + +Der Kongreß selbst war eine Parade, wie fast alle Kongresse. Die Reden, +die gehalten, die Berichte, die gegeben wurden, waren den Eingeweihten +ihrem Inhalt nach aus Büchern und Broschüren bekannt. Der Austausch von +Meinungen, der das wichtigste gewesen wäre, wurde an zweite Stelle +gerückt, er hätte die Ordnung und den Glanz der Heerschau am Ende trüben +können. So wäre als Gewinn allein die Anknüpfung persönlicher +Beziehungen übrig geblieben, aber auch er war bei näherem Zusehen für +mich nur gering: diese Frauen hatten mir nichts Neues zu sagen. Ihr A +und O, das Frauenstimmrecht, war für mich in dem Augenblick erledigt +gewesen, als ich die Selbstverständlichkeit seiner Forderung erkannt +hatte. + +Bei einer internen Sitzung der Delegationen wurde ich zur Präsidentin +für Frauenstimmrecht in Deutschland gewählt. Meine ablehnende Haltung +wurde unter allgemeinem Erstaunen als eine Aufgabe des Prinzips +betrachtet. + +»Sie alle haben ihre ganze Kraft auf die Lösung dieser einen Frage +konzentriert,« sagte ich in dem Versuch, mich verständlich zu machen, +»ich bewundere Sie, aber ich kann Ihnen nicht folgen. Das +Frauenstimmrecht ist heute für mich nicht mehr das Ziel, für das ich +mein Leben einsetze, es ist nur ein Ziel, nur eine Etappe ...« + +Man verstand mich nicht, von irgend einer Seite fiel sogar das scharfe +Wort: »... unbrauchbar für praktische Arbeit.« + +Gleich nach der Schlußsitzung des Kongresses wechselte ich mein Domizil. +Freunde von Stratford -- ein liberaler Parlamentarier und seine schöne +elegante Frau -- hatten mich in ihr Haus am Hydepark eingeladen. Alles +trug dort den Anstrich ausgesuchtester Vornehmheit: vom Zeremoniell der +Lebensweise, dem deutschen Hauslehrer und der französischen Gouvernante +bis zu dem würdevollen, glattrasierten Bedienten und dem niedlichen +Kammermädchen. Hausherr und Hausfrau verstießen mit keiner Miene und +keiner Bewegung gegen die Regeln der guten Gesellschaft, und doch wurde +ich den Eindruck nicht los, der uns gegenüber guten Kopien großer +Meisterwerke oft befällt: wir erstaunen über die Technik und vermissen +um so schmerzhafter den Geist. Daß Stratford sich hier heimisch fühlte, +mit allen Fibern die parfümierte Luft dieser von tausend Nichtigkeiten +überladenen Salons einatmete, machte ihn mir noch fremder. Und als ich +ihn in der Ethischen Gesellschaft reden hörte inmitten einer Korona von +lauter typischen Vertretern der Geldaristokratie, denen seine +Sittenpredigten dieselbe angenehme Emotion boten wie die Moral der +biblischen Geschichten den Frommen in der Kirche, da mußte ich mir seine +Briefe, seine Schriften ins Gedächtnis rufen, um noch Georgs Freund in +ihm zu erkennen. + +Er ging den Weg, den ich nach dem Wunsche meiner Familie gehen sollte, +-- wie würde ich jemals imstande dazu sein?! + +»Sie sind sehr ungerecht,« sagte er eines Tages, als ich ihm in meiner +heftigen Art, die der Unruhe meines eigenen Innern entsprang, über seine +Tätigkeit als »Modeprediger« Vorwürfe machte. »Sie kennen mich nur von +der einen Seite.« Noch am selben Abend sollte ich die andere kennen +lernen. + +An der Ecke von zwei engen Straßen, beim Scheine einer trübe flackernden +Laterne sprach er über die Ethik des Sozialismus. Zuerst blieben nur ein +paar neugierige Bummler stehen, aber je stärker seine Stimme von den +Mauern widerhallte, desto mehr Menschen sammelten sich um ihn. Müde, +zerlumpte Gestalten krochen wie Nachtgespenster aus den Kellern hervor, +Hoftüren öffneten sich, und umwogt von einer Wolke ekler Gerüche +erschienen Frauen mit zerwühlten Zügen, halbwüchsige Mädchen, deren +freches Grinsen allmählich zuckendem Schluchzen wich. Mit wüstem +Geschrei stießen sich trunkene Burschen aus der nächsten Kneipe heraus, +und nach und nach entzündeten sich Lichter des Verstehens in ihren eben +noch blöd glotzenden Augen. Die Straße wurde schwarz vor Menschen. +Stratford sprach mit steigender Begeisterung. Um seinen roten Bart +tanzten die Lichter der Laternen, seine Augen strahlten vom eigenen +Feuer. Ich hörte kaum, was er sagte, ich sah nur die Wirkung seiner +Worte. Aus den vertiertesten Gesichtern brach ein Schein von +Menschentum hervor, ein froher Zug von Hoffnung verwischte tiefe +Kummerfalten. + +Wir gingen schweigsam durch die Nacht nach Hause. Vor der Türe reichte +ich ihm die Hand. + +»Ich würde Sie nach dem, was ich eben erlebte, um Verzeihung bitten, +meiner Vorwürfe wegen, wenn ich nicht grade dadurch wüßte, daß Sie +doppelt schuldig sind. Ein Mann wie Sie gehört der Sache des +Sozialismus, und keiner anderen ...« + +»Vielleicht haben Sie recht,« antwortete er leise, »wären nur nicht der +Fesseln so viele, die uns an das andere Leben schmiedeten -- --« + +»Wir werden sie beide zerbrechen müssen --« + + * * * * * + +Im Hause meiner Gastfreunde drehte sich das Interesse fast +ausschließlich um Fragen der Politik. Was für andere Frauen der +Gesellschaft der Flirt, die Kunst, die Toilette, das Theater war: +Reizmittel für ihr Nervensystem, -- das war die Politik für Mrs. Dew. +Fast täglich war ich mit ihr im Parlament; sei es, daß wir den +Kommissionsberatungen des neuen Fabrikgesetzes beiwohnten -- das +Publikum hatte ohne weiteres Zutritt -- oder in den Wandelgängen und auf +der Themseterrasse zwischen Tee und Eis mit den Abgeordneten +debattierten. Seltsam: man nahm uns ernst; vergebens erwartete ich auf +den Zügen der Männer jenes gönnerhaft mitleidige Lächeln, mit dem meine +Landsleute die politisierende Frau zu betrachten pflegten. Eine gewisse +Zurückhaltung mir gegenüber entsprang weniger der Tatsache, daß ich ein +Weib, als daß ich eine Deutsche war, die offenbar nur im Bilde der +»guten Hausfrau« im Bewußtsein der Engländer lebte. + +Schon war es gewitterschwül in den feierlich-hohen Hallen des +Parlaments, bei jeder Gelegenheit drohte ein Wetterstrahl die Regierung +zu stürzen, und die von Elektrizität geladene Luft drang bis hinter die +engen Gitterstäbe der Damengalerie. Unruhiger als sonst raschelten die +seidenen Kleider, unterdrückte Erregung durchzitterte die +Flüstergespräche. Man achtete kaum der Redner im Saal, man erwartete nur +die Katastrophe. Da plötzlich klang eine Stimme von unten empor, rollend +wie ferner Donner, -- dann wieder tief und schwer wie der Ton riesiger +alter Kirchenglocken, -- die Damen verstummten, -- drängten sich enger +an das Gitter, -- und aus ihrer bequemen Stellung auf den weichen +Polstersitzen reckten sich die Abgeordneten auf. Ich hörte nur die +Stimme, den Redner sah ich nicht, aber ich empfand ihn als einen, der +zum Herrschen bestimmt war. »Wer ist das?« -- »John Burns!« -- John +Burns -- der Verräter?! So war er in der deutschen sozialistischen +Presse von dem Augenblick an bezeichnet worden, wo er sich grollend von +der englischen Partei losgesagt hatte. Noch am selben Abend stellte Mr. +Dew ihn mir vor. Ich war zuerst enttäuscht: Alles überragend hatte ich +den Träger dieser Stimme mir gedacht, nun trug er auf dem untersetzten +kräftigen Körper nur den Kopf eines Riesen: Dunkle Haare erhoben sich +widerspenstig über der breiten, scharf durchfurchten Stirn; hinter +buschigen Brauen glänzte ein Augenpaar, das in seiner mächtigen Färbung +und fieberhaften Lebendigkeit der Herkunft aus diesem helläugigen Volke +Hohn sprach. + +Er schüttelte mir kräftig die Hand. Die seinige war breit und schwer, +sie zeugte von dem Hammer, den sie geführt hatte; -- wie war es möglich +gewesen, daß ihr die rote Fahne entglitt, die sie einst an der Spitze +des Heers der Arbeitslosen durch das entsetzte London getragen hatte? +War dieser Mann nicht der geborene Schöpfer und Führer einer großen, +einigen sozialistischen Partei Englands? Ich unterdrückte keine der +Fragen, die sich mir aufdrängten. + +»Ich weiß, daß die Sozialdemokraten, besonders die deutschen, mich für +einen Verräter halten,« sagte er, »aber sie verstehen die Situation +nicht. In Deutschland würde ich nicht anders handeln als Bebel und +Liebknecht, aber hier ...« mit einer raschen Bewegung schob er die +Teetasse beiseite und zeichnete auf die weiße Marmorplatte des Tischs +einen Punkt mit einem großen Kreis rings herum. »Sehen Sie,« fuhr er +fort, »dieser Punkt ist der Sozialismus, um den Kreis herum steht die +deutsche Regierung, Ihr Militär, Ihre Polizei, und diese treiben +naturgemäß alle freidenkenden Elemente dem Mittelpunkt zu, mit dem sie +sich, infolge des äußeren Drucks, fest vereinigen. Bei uns besteht der +Mittelpunkt, aber der Kreis fehlt, und so strömen die Strahlen dieser +sozialistischen Sonne ungehindert nach allen Richtungen aus.« Ich +lächelte ein wenig ungläubig. »Ich werde Ihnen beweisen, was ich sage,« +fügte er rasch hinzu. »Sie kommen morgen mit mir --,« er ließ mir gar +keine Zeit zu Einwendungen, sondern bestimmte Ort und Stunde für unsere +Zusammenkunft. + +Von da an trafen wir uns oft, im Parlament wie im Londoner +Grafschaftsrat. Ich sah erstaunt, mit welchem Respekt Mitglieder aller +Parteien diesem Manne begegneten, der noch vor wenigen Jahren im +unterirdischen London Gasleitungen gelegt hatte; aber noch mehr +erstaunte ich über den freudigen Stolz, mit dem er mir städtische +Einrichtungen als »Strahlen der sozialistischen Sonne« erklärte, in +denen ich nichts anderes sehen konnte als bürgerlich-soziale Reformen. + +»Der deutsche Marxismus hat Sie blind und taub gemacht,« sagte er eines +Tages ungeduldig, als ich mich für die Kommunalisierung der +Verkehrsmittel durchaus nicht begeistern konnte. »Lassen Sie sich von +den Fabiern in die Schule nehmen.« + +»Den Fabiern?!« + +»Eine Gesellschaft von 'Salonsozialisten', würde man bei Ihnen in +Deutschland sagen. Tüchtige Leute darunter ...« + +Mit einem ihrer Begründer und Leiter, Sydney Webb, machte er mich im +Teezimmer des Grafschaftsrats bekannt. Ich wußte von seiner Frau, die +als junges Ding ihr reiches Elternhaus verlassen hatte, um der Sache der +Arbeiter zu dienen, und nun, gemeinsam mit ihrem Mann, durch Wort und +Schrift für Genossenschaften und Gewerkschaften tätig war. Ich wußte +auch, daß sie der Frauenbewegung fern, ja ihren Forderungen sogar +vielfach feindlich gegenüberstand. Gelesen hatte ich keines ihrer +Bücher, nur mit einer gewissen Scheu ging ich darum zu ihr. Eine blühend +schöne Frau fand ich, mit dem ganzen Reiz starken geistigen Lebens in +den Zügen und einer Güte und Anmut des Wesens, der meine Steifheit +nicht lange standhielt. Durch sie erfuhr ich von der Macht und Größe der +englischen Gewerkschaftsbewegung und fand den Weg in die Häuser jener +Arbeiter, die sich durch die Kraft ihrer Organisation aus physischer und +geistiger Versklavung befreit hatten. Wie ein Stück verwirklichter +Zukunftsstaat kam es mir vor, wenn ich sie draußen, vor Londons Toren, +in ihren Gärten traf oder vor dem Kamin ihres Wohnzimmers oder am gut +besetzten Tisch. Wahrhaftig: hier hatten die Strahlen der +sozialistischen Sonne aus ödem Land neues Leben hervorgerufen. + +In den Versammlungen der Fabier, die ich von da an regelmäßig besuchte, +wurden theoretische und praktische Fragen des Sozialismus von allen +Seiten beleuchtet und erörtert. Jene Scheu, zu sagen, was man denkt, die +die Menschen überall schwach und klein macht, wo religiöser, sittlicher +oder politischer Fanatismus die Wahrheit an sich zu besitzen vorgibt, +schien hier verschwunden, und mir war, als fiele Licht auf den Weg, den +ich zu gehen hatte. + +»Es ist nicht wahr, daß die Befreiung der Arbeiterklasse nur ein Werk +der Arbeiterklasse selbst sein kann, -- es ist nicht wahr, daß der +Klassenkampf das Grundelement der sozialistischen Bewegung ist, -- es +ist nicht wahr, daß die Entwicklung des Sozialismus mit der Sicherheit +eines Naturgesetzes notwendig zur Expropriation der Expropriateure +führen wird ...« Eine überschlanke Gestalt stand auf der Rednertribüne, +mit schmalem, gelblich blassem Gesicht, in das weiche blonde Haare wirr +hineinfielen. »Es waren und sind die revoltierenden Söhne der +Bourgeoisie selbst -- Lassalle, Marx, Liebknecht, Morris, Hyndman, Bax +-- alle, wie ich, Bourgeois mit Mischung von Kavaliersblut, die die rote +Fahne entfalteten. Der Hunger der Armen treibt zur Revolte, der Geist +allein zur Revolution ...« Wie Hochverrat an den grundlegenden Dogmen +des Sozialismus klang mir, was dieser Mann hart und scharf in den Saal +hinausschleuderte. Aber ein Ton blieb mir hartnäckig im Ohr und weckte +etwas in mir, das stark und stolz war. In selbstentsagender Askese hatte +ich mich, ein schlichter Soldat, als mein Lebensglück zusammenbrach, in +den Dienst der Partei stellen wollen. Kraft und Jugend kehrten mir +wieder: sollte ich nicht fähig sein und berufen, dem Sozialismus den +Urwald erobern zu helfen, den alle Giftpflanzen des Vorurteils und des +Stumpfsinns noch üppig durchwucherten? + +Ich suchte des Redners Bekanntschaft. Es war Bernard Shaw, der +Theaterkritiker der Saturday Review, der Entdecker Ibsens und Richard +Wagners nicht nur für England, sondern für den Sozialismus, der bissige +Spötter, von dessen Witzen die englische Gesellschaft nie recht wußte, +ob sie über sie lachen, oder sich vor ihnen fürchten sollte. Mich +verlangte nach einer Erklärung dessen, was er in lapidaren Sätzen eben +vor mich hingestellt hatte. + +»Sie waren draußen in Letshfield?« frug er mich statt aller Antwort. +»Und haben die Bewohner in ihren Heimen gesehen? ... Natürlich auch +bewundert?!« Ich nickte. »Und nicht bemerkt, wie drastisch solch eine +Miniatur-Zufriedenheitsexistenz lehrt, daß der Arbeiter in seiner Masse +nichts mehr verlangt, als ein Bourgeois zu werden!« + +»Ist es nicht auch das wünschenswerteste Ziel, ihn zunächst wenigstens +satt zu machen?« warf ich ein. + +»Sicherlich, denn Armut ist ein Laster --, wenn nur die satt gewordenen +nicht am raschesten derer vergessen würden, die noch immer hungern. Im +Grunde sind die Arbeiter das konservativste Element im Staat, und wir +Freigelassenen der Bourgeoisie sind dazu da, sie aufzurütteln.« + +Der Kreis der Fabier war von nun an derjenige, der mich am meisten +anzog, aber die politischen Ereignisse auf der einen, und jenes Gefühl +der Unfreiheit auf der anderen Seite, das mit der Annahme auch der +weitherzigen Gastfreundschaft untrennbar verbunden ist, rissen mich +wieder nach anderen Richtungen fort. Die Abstimmung über eine an sich +unbedeutende Militärfrage führte zu einer Niederlage der Regierung und +damit zum Rücktritt des Ministeriums. Eine Erregung, die sich vom +Parlament aus mit Windeseile auf alle Straßen fortpflanzte, die +Gesichter der überall in Gruppen Zusammenstehenden höher färbte und alle +Augen blitzen ließ, bemächtigte sich der Londoner. Sie steigerte sich +zur Fieberhitze an jenem Abend in Albert-Hall, wo sich die +Menschenmassen vom Parterre dieses Riesenzirkus bis hoch unter die +Kuppel zusammendrängten und die gestürzten Minister Rosebery und +Harcourt in die vom Atem Tausender und der zitternden Glut des Julitages +lebendigen Luft gegen die neue Regierung leidenschaftliche Anklagen +erhoben. Selbst die Nachmittagstees des londoner Westens gestalteten +sich zu Agitationsversammlungen. Die Leidenschaft des Hasardspielers +schien alle ergriffen zu haben, und gespannt, als gelte es dem Einsatz +der ganzen Existenz, hingen die Blicke an der rollenden Roulettekugel +des Wahlkampfes. + +Eines Morgens atmete ich wie erlöst aus einem Banne auf, als ich nicht +mehr in dem eleganten Zimmer von Princes Gardens erwachte, wo dichte +gelbseidene Vorhänge mir stets die Sonne vorgetäuscht hatten und das +blitzende Messinggestell meines Betts mich oft selbst unter der +Daunendecke frösteln machte. Hinter weißen Mullgardinen sah ich jetzt +grüne Zweige schaukeln, und in einem Bett aus warm getönten hellem Holz +hatte ich traumlos geschlafen. Es waren Deutsche von Geburt, Engländer +aus freier Wahl, die mich für die letzte Zeit meines londoner +Aufenthaltes zu sich in ihr Künstlerheim geladen hatten. Jedes +Möbelstück, jeder Teppich und jede Vase standen in den schönen lichten +Räumen des Hauses in feiner Harmonie zueinander, nur die Gemälde an den +Wänden schienen sie mißtönig zu zerstören, und in dem großen Atelier +schrieen sie förmlich. Bilder des Elends waren es, des Hungers und der +Verzweiflung, Bilder des Krieges, auf denen von Wunden grauenvoll +Zerrissene die Hände krampfhaft gespreizt oder wütend geballt gen Himmel +streckten. Der Hausherr malte sie und nichts als sie, -- ein milder, +gütiger Mann mit grauem Patriarchenbart und den Augen eines Jünglings. +Wo immer das Leid der Kreatur zum Ausdruck kam, war sein Herz und sein +Interesse, von der Friedensbewegung an bis zur Tierschutzbewegung. Er +gehörte zu den Menschen, die überall im einzelnen helfen und wirken +wollen, wie der ungelernte Gärtner, der da und dort einem armen +Pflänzlein durch künstliche Nahrung oder durch den stützenden Stab +aufhelfen will, aber bei all seinem aufreibenden Eifer nicht steht, daß +der ganze Boden schlecht ist. Sein weißblondes zartes Frauchen lächelte +oft ganz heimlich, wie eine kleine Mutter zu den Spielen ihres Kindes, +die sie mit der Weisheit der Erwachsenen nicht stören will. + +Ihr Haus übte eine magnetische Anziehungskraft auf Alles aus, was +abseits der großen Heerstraße ging. Shaw traf ich hier wieder als +häufigen Gast; Peter Krapotkin gehörte zu den Intimen des Hauses, -- der +große Revolutionär, der doch ein Kind war: gut und vertrauensselig und +voll phantastischer Träume wie ein solches. William Stead, dessen +rücksichtsloser Kampf gegen die sittliche Fäulnis der londoner +Gesellschaft ihm einen europäischen Ruf verschafft hatte, begegnete mir +hier zum erstenmal und zog mich in den Bannkreis seiner starken +Persönlichkeit. Seine Augen, deren opalisierende Lichter wie durch +geheimnisvoll darüber gebreitete Schleier schienen, übten eine +faszinierende Wirkung aus, und wenn er von seinem Verkehr mit den +Geistern Abgeschiedener erzählte, wenn er von den Kräften der Seele +sprach, die unerweckt auch in mir schlummern müßten, so bedurfte ich der +ganzen Nüchternheit meines Verstandes, der ganzen Stärke meiner +fanatisch materialistischen Weltanschauung, um mich seinem Einfluß zu +entziehen. + +»Ich will mich nicht mit Problemen beschäftigen, die mich von dem +Problem ablenken könnten, dessen Lösung meine einzige Aufgabe ist: dem +des Elends in der Welt ...« antwortete ich ihm eines Tages, als er mich +mit Annie Besant bekannt machen wollte, die sich eben vom Sozialismus +abgewandt hatte und zur begeisterten Verkünderin theosophischer Ideen +geworden war. »Mögen andere heute, wo die Zeit drängt, es vor sich +selbst verantworten, wenn sie ihren Träumen nachhängen...« + +»Sie werden nie mehr träumen?!« Mit einem Blick und einem Lächeln +begleitete Stead seine Frage, die mir das Blut in die Wangen trieben. Er +nahm meine beiden Hände zwischen die seinen -- Hände, die in ihrer Kraft +und ihrer Weiche zum Schützen wie zum Streicheln gleich geschaffen +waren --, und seine Augen bohrten sich in meine Züge. + +»Ich liebe Ihre Tapferkeit und Ihre Klugheit, aber was mich Ihre +Freundschaft suchen ließ, das ist Ihr unbewußtes Ich, das sind Ihre +Träume, die Sie vergessen, wenn Sie wachen, von denen mir aber noch Ihre +Augen erzählen, -- das ist die tiefe Sehnsucht, die Ihr Wesen über sich +selbst hinauszieht.« + +Ich fuhr an jenem Tage mit ihm hinaus nach Wimbledon, wo sich zwischen +hohen Hecken und alten Bäumen sein kleines, stilles Haus versteckte. Und +im verwilderten Garten unter dem schattenden Laubdach duftender Linden +lag ich in der Hängematte und ließ mir von ihm die Kissen unter den Kopf +schieben. + +»Sie sind müde?« + +»Sehr!« + +»Ihr Leben ist Seelen-Selbstmord.« + +Seine Hand glitt sanft über meine Stirn. Viele bunte Schmetterlinge +gaukelten über ein Meer gelber Blumen, und zwei Libellen tanzten über +dem kleinen stillen Teich zärtlich miteinander. Vom Herzen aus zuckte +ein schneidendes Weh mir durch den Körper, die Augen füllten sich mit +Tränen. Was war es nur, das mich überwältigte?! + +»Wie Ihre Jugend um ihr Leben weint!« sagte leise der Mann neben mir. +Meine Jugend?! Kaum wußte ich noch, ob ich alt war oder jung. Ich stand +wohl schon lange jenseits jeden Alters! + +Schweigsam fuhren wir beide nach London zurück. Ich fühlte die Hand +meines Begleiters auf der meinen -- streichelnd, schützend. Nachts +schluchzte ich verzweifelt in die Kissen, und morgens, als ich mich zur +gewohnten Arbeit am Fenster niedersetzte, schweiften meine Gedanken weit +hinaus über die Baumwipfel -- in den glühenden Sommertag -- in das +Leben. Ich ging umher, mir selbst fremd geworden, mit anderen Augen. Ich +entdeckte im Spiegel mein Gesicht wie das einer Fremden. Mechanisch +löste ich die Witwenhaube aus den Haaren. »Georg -- Georg --« schrie es +in mir, »nie bin ich deine Frau gewesen -- wie kann ich deine Witwe +sein?!« + +Die Menschen um mich kamen mir verändert vor: ich fühlte Männerblicke, +die das Weib in mir suchten und nicht die Gesinnungsgenossin, und +Händedrücke, die andere Empfindungen verrieten als die bloßer +Freundschaft. Und wenn ich auf den grünen Wiesen im Hydepark blonde +rosige Kinder sah, kam ich mir vor wie eine Ausgestoßene. Drangen aber +gar durch die Nacht aus den Gärten rings umher sehnsüchtig-süße Lieder +an mein Ohr, so war mir, als hätte ich jetzt schon Georgs Vermächtnis +die Treue gebrochen. + + * * * * * + +Eines Nachmittags -- mein Aufenthalt neigte sich seinem Ende zu -- trat +eine einfache, starkknochige Frau, die weißen Haare straff aus der Stirn +gezogen, an unseren Teetisch und streckte mir eine harte, +unbehandschuhte Hand entgegen: »Sie kennen mich wohl nicht mehr?« Ich +sprang auf, fast hätte ich sie in die Arme gezogen: »Amie Hicks?! Sie +haben mir Londons Elend zeigen wollen! Wollen Sie es noch tun, -- gleich +jetzt?« Sie lachte verwundert über meinen plötzlichen Eifer, aber ich +ließ sie nicht los und wir verabredeten zunächst einen gemeinsamen +Besuch im Bureau des Zentralkomitees für Frauenarbeit. + +Was ich dort kennen lernte, erregte mein höchstes Interesse: Man +hatte sich zur Aufgabe gestellt, die Lage der erwerbstätigen +Frauen zu untersuchen und die Resultate zu veröffentlichen, +gewerkschaftliche Organisationen zu schaffen und zu unterstützen, die +Arbeiterinnenschutz-Gesetzgebung zu studieren und ihre Weiterentwicklung +durch mündliche und schriftliche Propaganda zu fördern. »Wir sind +gewissermaßen ein Arsenal und liefern der Arbeiterbewegung die Waffen,« +sagte mir eine der Leiterinnen; »und wir schaffen zugleich die +Möglichkeit, daß die Frau der begüterten Kreise die Lage der Arbeiterin +kennen lernt, und die Arbeiterin andererseits sich der Kenntnisse der +bürgerlichen Frau bedienen kann,« fügte eine andere hinzu. Der Plan, +etwas Ähnliches in Berlin zu gründen, reifte in mir: der +Arbeiterbewegung Waffen liefern, war mindestens so nützlich, als selbst +die Waffen tragen. Es war praktisch im Grunde dasselbe, was die Fabier +theoretisch leisteten, es würde wertvolle Kräfte in den Dienst des +Sozialismus zwingen, -- ihrer selbst fast unbewußt. Es ermöglichte mir, +außerhalb der Partei für die Partei zu wirken. Mit krampfhafter +Anstrengung zuerst und dann mit wachsender Anteilnahme vertiefte ich +mich in das Studium meiner Aufgabe. Ich flüchtete aus den blühenden +Gärten in die engen Straßen zwischen die geschwärzten Mauern, wo kein +Baum und kein Vogel den Sommer verrät und seine Glut, die draußen vor +den Toren die Knospen wach küßt, nichts hervorruft, als ekle Dünste und +giftige Miasmen. Je mehr ich ihm entfloh, desto grauer und stiller wurde +es auch wieder in mir. Eilig, wie die andern, ohne rechts oder links zu +sehen, lief ich durch die Stadt, über klebrige Höfe, steile Treppen +hinauf in die Bureaus der Fabrikinspektionen und der Gewerkschaften, zu +Besuchen, Sitzungen und Versammlungen. Zahlen, nichts als Zahlen hörte +ich -- neben den Lohntabellen, die Arbeitsstunden und die Wochen der +Arbeitslosigkeit --, sie verfolgten mich bis in meine Träume, +verschwammen ineinander und schoben sich vor meinen Augen dichter und +dichter zusammen, bis sie nichts waren als ein einziges schwarzes +Trauergewand, das Himmel und Erde verhüllte. + +»Nun bleibt mir nur noch übrig, die Illustration zu Ihren Tabellen zu +sehen,« sagte ich eines Abends zu Amie Hicks, die die Arbeiterinnen der +Zündholzfabrikation -- ihre Kolleginnen -- organisiert hatte. Sie wandte +sich an eine junge Soldatin der Heilsarmee, die bescheiden im +Hintergrund stand. »Wollen Sie unsere deutsche Freundin heute nacht nach +Whitechapel mitnehmen?« + +Das Mädchen sah mich zweifelnd an: »Wenn die Dame sich nicht fürchtet +-- und sich entschließt, unsere Kleidung anzuziehen.« Ich war natürlich +zu allem bereit. Ehe wir uns am späten Nachmittag auf den Weg machten, +steckte ich mir die Taschen voll kleiner Kupfermünzen. »Das hat keinen +Zweck,« lächelte meine Begleiterin, »es sind ihrer viel zu viele!« +Unterwegs erzählte sie mir von ihrer Arbeit: einem unaufhörlichen Kampf +mit Laster und Not, einer stündlichen Aufopferung der eigenen Person, +und ihr schmales Gesichtchen strahlte dabei wie das ihrer +Altersgenossinnen, wenn sie von Karnevalstriumphen zu berichten haben. +»Was führte Sie zu Ihrem Beruf?« frug ich. »Jesus rief mich!« antwortete +sie einfach. + +Es fing an zu dämmern. Die Straßen schrumpften zusammen, während die +Menschenmassen unheimlich anschwollen. In ihrer Kleidung schienen die +Farben mehr und mehr zu erlöschen, und die Unterschiede zwischen Alter +und Jugend verwischte ein gleichmäßiger Ausdruck, zwischen Leid, +Stumpfsinn und Gemeinheit schwankend. Kinder keuchten mit Säcken beladen +über die Gassen -- »Heimarbeiter«, bemerkte meine Begleiterin +lakonisch --, an den Rinnsteinen hockten andere in langen Reihen, und +wühlten mit schmutzstarrenden, mageren Fingerchen im Straßenkehricht. +Ein kleiner Bub mit krummen Beinen wollte sich eben heimlich mit dem +gefundenen Rest einer Banane aus dem Kreis der Gefährten davon +schleichen. Ein triumphierendes Grinsen verzerrte sein Gesichtchen. Aber +schon fielen die anderen wutheulend über ihn her und rissen ihm die +fadenscheinigen Lumpen von dem armen rhachitischen Körper. Er weinte +nicht, er duckte sich nur ein wenig und versuchte die zertretene Banane +vom Pflaster abzukratzen, aus seinen verschwollenen Augen traf mich +dabei ein Blick voll grenzenloser Verzweiflung. + +Wir bogen in eine langgestreckte schmale Sackgasse ein. »Nehmen Sie sich +in acht,« warnte meine Begleiterin, als wir in eines der offenen Häuser +traten, »die Treppen haben keine Geländer.« Ich tastete mich hinter ihr +vorwärts, während ein pestilenzialischer Geruch mir den Atem benahm. Wir +stießen eine Türe auf, die weder Griff noch Schlüssel hatte. Ein +schwerer grauer Dunst von Staub und Schweiß schlug uns entgegen, +gespensterhaft bewegten sich die Gestalten der Bewohner dahinter, +während das Rattern und Quietschen schlecht geölter Nähmaschinen jeden +anderen Ton verschlang. Dicht aneinandergedrängt saßen Männer und Frauen +um den Tisch, auf dem ein kleines Lämpchen vergebens versuchte, +spärliches Licht zu verbreiten; an dem einzigen Fenster standen die +Maschinen, von zwei Kindern in Bewegung gesetzt. Keines der dunkeln +Köpfe hob sich bei unserem Eintritt. Nur als mein Kleid eine der Frauen +streifte, sahen ein paar schwarze Augensterne mich prüfend an. +»Russische Juden,« sagte meine Begleiterin und wandte sich dem +finstersten Winkel des Zimmers zu. Eine durchsichtig weiße Hand streckte +sich ihr entgegen. »Er ist schwindsüchtig,« flüsterte sie. Zögernd trat +ich näher. In einem armseligen Bett, mit Haufen bunter Stoffreste statt +mit Kissen gefüllt, lag ein Mann, das blasse durchgeistigte Antlitz von +schwarzen, langen Haaren umrahmt; strahlend richteten sich seine +fieberglänzenden Augen auf das junge Mädchen, aber die Milch, die sie +aus ihrem Körbchen nahm, enttäuschte ihn; erst als sie ein kleines Buch +in seine schlanken Finger legte, lächelte er sie dankbar an. »Ich habe +auch wieder ein Gedicht geschrieben --,« sagte er und zog einen Fetzen +Zeitungspapier aus den Lumpen hervor, am Rande dicht bekritzelt. + +»Nicht einmal Knöpfe kann er mehr annähen,« tönte eine rohe Stimme neben +uns. »Wenn es doch bald zu Ende wäre, -- gestern spuckte er Blut auf ein +fertiges Hemd --« + +Ich mußte mich einen Augenblick schwindelnd an den Pfosten des Torweges +lehnen, als wir hinunterkamen. Es war inzwischen ganz dunkel geworden. +Unter der nächsten Türe stand ein Mädchen mit entblößter Brust und +sprühenden Augen. »Marianne!« -- Vorwurfsvoll tönte die Stimme meiner +Begleiterin. Ein rauhes Lachen antwortete ihr. »Ich will leben!« stieß +das Mädchen zwischen den Zähnen hervor. -- »Leben!« -- wiederholte sie +noch einmal mit einem langgezogenen Nachtigallenton. Wir gingen an ihr +vorbei in die niedrige Stube; eine verrostete Eisenbettstelle, ein paar +Kisten bildeten die ganze Einrichtung. Am Herd in der Ecke stand ein +altes Weib mit den gedunsenen Zügen der Trinkerin, auf dem +feuchtglänzenden Lehmboden kroch eine Schar kleiner Kinder. Meine +Begleiterin hatte gerade begonnen, einem der kleinsten die wunden +Füßchen zu verbinden, da sprang unter wüstem Gekreisch die Türe auf: -- +das Mädchen von draußen stolperte, von ein paar braunen Fäusten +gestoßen, ins Zimmer, zwei Schwerbetrunkene hinter ihr. Sie warf sich +aufs Bett, -- ich floh, von Entsetzen gepackt, aus dem Hause. + +In den Straßen brütete gewitterschwangere Julinacht. Junge und alte +Weiber, von Elend, Laster und Krankheit gräßlich gezeichnet, Männer, +deren Kleidung einen Fuselgeruch ausströmte, Kinder, die eine Kindheit +nie gekannt hatten, strichen an uns vorbei. »Gibt es in der Welt noch +einmal solche Hölle,« stöhnte ich und wischte mir die Schweißtropfen von +der Stirn. »O, -- in Glasgow, in Liverpool, in Manchester ist es +ebenso --,« sagte meine Begleiterin ruhig. + +An der nächsten Straßenecke ballten sich die Menschen zu einem schwarzen +Knäuel. Qualvolle Schmerzensrufe drangen daraus hervor. Wir liefen +vorwärts, -- alles machte uns Platz, -- die Uniform der Heilsarmee war +wie ein Freibrief, den selbst die Rohesten respektierten. Auf dem +Pflaster lag ein Weib und wand sich in Mutterschmerzen. »Er hat sie +hinausgeprügelt,« schrie ein Mädchen, das neben ihr kniete und ballte +wütend die Fäuste. Meine Begleiterin war im Augenblick bei ihr. Es war +keine Zeit mehr zu verlieren. In die Menschen um uns her kam ein +seltsames Leben, sie liefen in die nächsten Häuser, atemlos, -- sie +kehrten zurück, -- auch der Elendeste mit vollen Händen. Tücher, Kissen, +Decken breiteten sich um die Kreißende aus; ein weißhaariges Mütterchen +mit gekrümmtem Rücken schleppte stöhnend Eimer voll Wasser herbei, ein +alter Mann humpelte hastig auf seiner Krücke näher und legte mit +zitternden Händen seine zerschlissene Jacke über die Jammernde. Ein +Sekunde lang war es ganz still, -- das Leben schien den Atem anzuhalten, +da -- ein gellender Schrei, der die Nacht zerriß, -- das Kind war +geboren, das unselige Kind der Straße. Zurückgelehnt in dem Schoß der +Nächsten lag das Weib. Laternenlicht fiel grell auf ihre eingesunkenen +Wangen, die weitaufgerissenen Augen drehten sich in den Höhlen, suchend +griffen die Finger in die leere Luft, dann noch ein Zucken, ein rauhes +Röcheln, -- es war vorüber. Und um die tote Mutter knieten ringsum im +Schmutz der Straße die Genossen ihres Jammers ... + + * * * * * + +Der Sonnenzauber hatte keine Macht mehr über mich. + +Ich hatte nur noch ein Achselzucken, wenn ich die Macht der +Gewerkschaften preisen hörte -- »die Sattgewordenen vergaßen zuerst der +Hungernden« --, und ein verächtliches Lächeln für die Größe und +Einheitlichkeit sozialer Hilfsarbeit, die sich von Rechts wegen +bankerott erklären müßte. Hier galt es nicht mehr, Einzelne vor dem +Ertrinken zu retten, und Wunden zu verbinden, hier galt nur eins: die +alte Welt, die ihre eigenen Kinder mordete, zu zerstören, um der neuen +Platz zu schaffen. + + + + +Zweites Kapitel + + +»Sie wollen wirklich alle Bücher verkaufen?!« + +Der junge Student, der vor mir stand, blickte mich vorwurfsvoll an. Er +war gekommen, mir beim Ordnen der philosophischen Bibliothek meines +verstorbenen Mannes behilflich zu sein. + +»Mit wenigen Ausnahmen, -- ja!« antwortete ich mit erzwungener Ruhe. +»Sie sehen selbst: in der neuen Wohnung fehlt es an Platz für sie, -- +und außerdem werde ich sie kaum je benutzen. Ich werde mit Überlegung +einseitig!« Dabei wies ich lächelnd auf die dickleibigen +Fabrikinspektorenberichte, die vor mir lagen. Er begab sich stumm, +gesenkten Kopfes an die Arbeit. Wie herzlos, daß ich Georgs geliebte +Bücher verkaufte, dachte er jetzt gewiß. Durfte ich ihm sagen, daß ich +sie verkaufen mußte? Daß ich gestern mit dem letzten, was ich besaß, +Georgs Grabdenkmal bezahlt hatte, -- einen schönen hohen Marmorblock, +auf dem in großen goldenen Lettern sein Wahlspruch stand, der nun auch +der meine war: »Wir leben durch die Menschen, laßt uns für die Menschen +leben.« + +Mama hatte mir eben aus Pirgallen entrüstet über meine Verschwendung +geschrieben: »Ein schlichter Stein mit Georgs Namen wäre ausreichend +gewesen.« Ich lächelte unwillkürlich. Arm sind doch nur die Menschen, +die niemals verschwenden können! Ich war ja sonst so schrecklich +vernünftig. Treppauf, treppab war ich seit meiner Rückkehr aus England +gelaufen, um eine Wohnung zu finden, die meinen Mitteln entsprach. In +einem Hof der Kleiststraße, drei Treppen hoch, hatte ich sie endlich +gefunden: zwei Zimmer mit dem Blick auf eine Mauer, die eine riesige +gemalte Schweizer Landschaft schmückte. Zu allerhand öder +journalistischer Tagesarbeit hatte ich mich verpflichtet, um in der +übrigbleibenden Zeit meiner Aufgabe leben zu können. In vier Wochen zog +ich um, bis dahin mußte auch sie festere Gestalt gewinnen. + +Ich hatte mich zunächst schriftlich an eine Anzahl hervorragender +Politiker und Sozialpolitiker gewandt, bei denen ich ein Interesse für +die Sache voraussetzen konnte, und ihnen meinen Plan eines +Zentralausschusses für Frauenarbeit auseinandergesetzt. Sehr höflich, +sehr zuvorkommend hatten sie mir geantwortet. »Ihr Plan hat meine volle +Sympathie,« schrieb mir eben Theodor Barth. »Ich habe nur Bedenken, ob +er sich in seinem vollen Umfang in absehbarer Zeit durchführen läßt. +Nach meinen Erfahrungen scheitern sehr viele an sich vortreffliche +Reformbestrebungen gerade daran, daß das Ziel von vorn herein zu weit +gesteckt ist. Meines Erachtens sollte man zunächst einmal an eine +Sammlung und Sichtung von Material, die Bedingungen der Frauenarbeit +betreffend, herangehen, wie das sub 1 Ihres Programms ja auch in +Aussicht genommen ist. Unternehmer und Arbeiter müßten allerdings +zusammenwirken und Vorurteile -- speziell auch gegen die +Sozialdemokratie -- dürften keine Rolle spielen ... Leider ist meine +Arbeitskraft schon anderweitig so stark in Anspruch genommen, daß ich +wohl mitraten, aber nicht mittaten kann ...« + +Diesen Satz enthielt noch jeder Brief, den ich erhalten hatte. Warnungen +vor der Gefahr sozialpolitischer Dilettantenarbeit, Besorgnisse, Wasser +auf die Mühlen der Sozialdemokratie zu treiben, bedenkliche Fragen nach +der finanziellen Fundierung des Unternehmens wiederholten sich oft. »Auf +alle Fälle ist der Zeitpunkt schlecht gewählt,« hieß es in einem +Schreiben, das Dr. Jacob, mein alter Gegner aus der Ethischen +Gesellschaft, an mich richtete, »jetzt, im Jubiläumsjahr, wo das +unverantwortliche, antipatriotische Verhalten der Sozialdemokratie +selbst solche Kreise erbittern muß, die vielen ihrer Forderungen +sympathisch gegenüberstanden, ist nicht der Augenblick, um zu +gemeinsamer Arbeit aufzurufen. Ich bezweifle auch, daß Sie Kapitalien +finden, die Ihnen zu solchem Zweck die immerhin recht erheblichen Mittel +zur Verfügung stellen werden.« Und Frau Schwabach, die einzige unter den +Frauenrechtlerinnen, der ich ein ernsteres Verständnis der Sache +zutraute, war gleichfalls voller Bedenken gewesen. »Wir müssen zuerst +die Peinlichkeiten ausbilden, die zu solcher Arbeit fähig sein sollen,« +hatte sie gesagt. Das alte Lied, das die Gewissen einlullt, das +Selbstvertrauen betäubt und die Schuld trägt, wenn vor lauter +Vorbereitung zur Tat die Tat selbst von einem Tage zum andern verschoben +wird. + +Heute nun erwartete ich Martha Bartels mit zwei ihrer Freundinnen -- +Arbeiterinnen wie sie --, um ihr Urteil zu hören und ihren Rat, der mir +der weitaus wichtigste erschien, zu erbitten. + +»Sie müssen für heute aufhören, mein lieber Schmidt,« wandte ich mich an +den Studenten, der vor den letztem Regalen des Bücherschranks hoch oben +auf der Leiter stand, »es ist unverantwortlich von mir, daß ich Ihre +Kraft und Zeit schon so lange in Anspruch nehme.« + +Er fuhr, wie aus einem Traum erwachend, zusammen und strich sich die +dichten schwarzen Haare aus der heißen Stirn. + +»Muß ich wirklich schon fort?« Hastig wandte er sich um und rieb die +roten, knochigen Hände wie fröstelnd aneinander. Ich nickte, denn schon +hörte ich draußen die Klingel. Langsam stieg er die Leiter hinab. + +»Ach, -- wenn ich doch wirklich etwas für Sie tun könnte --,« damit +senkte er den Kopf tief auf meine Hand. + +In dem Augenblick öffnete sich die Türe, und die drei Frauen traten ein. +Sie sahen uns, wechselten sekundenlang einen vielsagenden Blick, ein +leises spöttisches Lächeln kräuselte die Lippen der einen, der großen, +hageren; -- ein Gefühl, als hätte mich jemand mit Schmutz beworfen, +beschlich mich. Flüchtig erinnerte ich mich, daß meine Mutter die +Anwesenheit eines jungen Herrn bei mir, der Witwe, für unpassend erklärt +hatte, -- aber waren nicht diese Frauen Vorkämpferinnen einer freien +Weltanschauung?! Ich richtete mich gerade auf, zog meine Hand aus der +sie noch immer umklammernden; mit einer ungeschickt eckigen Verbeugung +drückte sich der junge Student an den neuen Gästen vorbei zur Türe +hinaus. + +Bei Kaffee und Kuchen überwanden meine Besucherinnen die erste +Verlegenheit. Sie hatten sich in den besten Sonntagsstaat geworfen und +saßen kerzengerade auf den weichen Lehnstühlen; bei jeder Bewegung +krachten die engen Taillen ihrer schwarzen Kleider, und die vielen +bunten Blumen auf ihren Hüten schwankten hin und her. Nur Martha +Bartels, die nicht zum ersten Male hier war, gab sich ungezwungener. + +Irgend etwas in dem Gesicht der kleinen Näherin hatte sich seit unserem +letzten Zusammensein verändert. + +»Nun, Genossin Glyzcinski, was haben Sie uns Gutes mitzuteilen,« sagte +sie mit einem leisen gönnerischen Ton in der Stimme, den sie damals noch +nicht gehabt hatte, als sie mich »Frau von Glyzcinski« nannte. Freilich, +sie hatte ja im Grunde ein Recht dazu, ich war ja jetzt nur eine Novize +in ihren Reihen --, dachte ich und bezwang die gereizte Stimmung, die +sich meiner zu bemächtigen drohte. + +Mit steigendem Eifer, an der eigenen Sache mich erwärmend, setzte ich +ihnen meine Pläne auseinander. »Ich brauche dabei Ihre Mitarbeit,« +schloß ich; »wir können für die Arbeiterinnen nichts tun, was nicht mit +ihnen geschieht --« + +Tiefe Stille. Die drei löffelten in ihren Kaffeetassen, stießen einander +unter dem Tische an und wollten nicht mit der Sprache heraus. »Ja --,« +meinte Martha Bartels schließlich gedehnt, »das ist ja alles ganz schön +und gut, aber was uns das eigentlich angeht --! Wir wissen doch längst, +wie's bei uns aussieht, und um die Neugierde der Bourgeoisdamen und +-herren zu befriedigen, oder sie gar in unseren Organisationen +herumstänkern zu lassen, -- dazu sind wir nicht da.« + +Frau Resch, die Hagere, nickte eifrig und warf mir einen giftigen Blick +zu. Frau Wiemer, ein rundliches Frauchen mit gutmütigen braunen Augen, +drehte sich hastig auf dem Stuhle um, so daß die Sprungfedern knackten. +»Da bin ich nun ganz und gar anderer Meinung,« rief sie, »wir wären +schön dumm, wenn wir so eine Unterstützung von der Hand weisen wollten. +Wir haben, weiß Gott, keinen Überfluß an Kräften, und wenn wir sie noch +dazu nach unserem Gutdünken benutzen können --« + +Martha Bartels trommelte mit den zerstochenen Fingern auf dem Tisch. »In +meinem Kreis, Genossin Wiemer, kann ich dafür keine Stimmung machen,« +sagte sie scharf. + +»Na, was das schon ist: Ihr Kreis. Ein halb Dutzend Frauen haben Sie +neulich in der Versammlung zur Vertrauensperson gewählt, -- das macht +den Kohl nicht fett!« spöttelte die Angeredete. »Die Männer haben, +gottlob, auch noch ein Wörtchen mitzureden!« + +Frau Resch kicherte: »Sie freilich meinen immer, Sie haben die Männer am +Bändel --!« + +Stumm, in wachsender Verblüffung hörte ich der Debatte zu, die sich mehr +und mehr ins Persönliche verlor. + +»Im übrigen: was ereifern wir uns,« sagte Martha Bartels endlich, +während sie sich mit hochrotem Gesicht in den Stuhl zurücklehnte. »Zu +allererst werden wir doch Genossin Orbins Urteil hören müssen.« + +Die Frauen verstummten. Wanda Orbin: das war die anerkannte Führerin der +Arbeiterinnen-Bewegung, eine Frau, die ich aus der Ferne schon längst zu +bewundern gelernt hatte. Mit der aufreizenden Leidenschaftlichkeit ihrer +Rednergabe vermochte sie alles mit sich fortzureißen. + +Meine Gäste verabschiedeten sich, kühl und verlegen. Nur Frau Wiemer +schüttelte mir kräftig die Hand und zögerte beim Hinausgehen. »Wir reden +noch mal miteinander -- unter vier Augen,« flüsterte sie. + +Enttäuscht -- mutlos blieb ich zurück. Tiefes Verständnis, freudige +Zustimmung, warme Kameradschaftlichkeit hatte ich erwartet --! + +Am nächsten Morgen kam ein Brief von Martha Bartels: »Seit gestern weiß +ich nicht, ob Sie wirklich unsere Genossin sind. Was Sie da vorschlagen, +das kann jede Frauenrechtlerin auch. Es zeigt, daß Sie mit der +bürgerlichen Gesellschaft noch nicht gebrochen haben, und deshalb können +wir kein rechtes Vertrauen gewinnen. Ich sehe nun, daß man immer unrecht +tut, wenn man den schönen Gefühlen der Bourgeoisdamen Glauben schenkt.« +Hatte sie zu ihrer Enttäuschung nicht ein größeres Recht als ich zu der +meinen? War mein ganzes Verhalten nicht wirklich ein Rückzug? Versuchte +ich nicht, nach links und rechts Konzessionen zu machen, damit ich nur +selbst fein säuberlich auf dem normalen Mittelweg mich erhalten konnte? + +In meinen Hoffnungen und Wünschen sehr herabgestimmt, machte ich mich in +den nächsten Tagen auf den Weg, um die Führer der sozialdemokratischen +Partei aufzusuchen, bei denen ich mich schon angekündigt hatte. + +Ich ging zuerst zu Liebknecht. Er wohnte draußen in der Kantstraße, wo +inzwischen das neue Berlin aus der Erde schoß wie eine wildwuchernde +Urwaldpflanze. In der Tauentzienstraße, die vor fünf Jahren nicht viel +mehr als ein breiter Feldweg gewesen war, reihte sich ein Neubau an den +andern, -- hohe vier- und fünfstöckige Häuser, mit lauter Wohnungen zu +neun bis zwölf Zimmern. Wo kam der Reichtum nur her, der so üppig zu +wohnen vermochte? dachte ich. Und weiter nach dem Westen zogen sich +Straßen und Straßen hinaus, -- lange Spinnenarme, die über die Felder +griffen bis fernhin, wo der Grunewald, eine schwarze schmale Linie, am +Horizont auftauchte. Ratternd und fauchend bewegte sich die +Dampfstraßenbahn den Kurfürstendamm hinauf ihm entgegen. Wie viel kleine +gemütliche einstöckige Häuschen zwischen Birkenwäldchen und +Kartoffelfeldern waren der Spitzhacke hier zum Opfer gefallen! Und der +Riesenbaum, der an der Straßenkreuzung ein Wahrzeichen der Gegend +gewesen war hatte einer Kirche weichen müssen. Gut, daß er fiel, dachte +ich; wie hätten die Mauern den alten Recken beengt, wie hätte seine +trotzige, rauhe Schönheit ihre Fassadenpracht Lügen gestraft. Die Kirche +hatte sich noch immer ihrer Umgebung angepaßt, auch hier hatte sie sich +zu ihr nicht in Widerspruch gesetzt. + +In die Kantstraße bog ich ein. Dicht an der Stadtbahnbrücke, im dritten +Stock, wohnte Liebknecht. Er empfing mich vor einem alten Schreibpult in +seinem winzigen Arbeitszimmer, das vollgestopft mit Papieren und +Zeitungen war, so daß dazwischen kaum ein freier Raum zum Treten übrig +blieb. Sein hartgeschnittenes Gesicht mit den tiefen Furchen, dem Blick, +der unter buschigen Brauen wie abwesend über einen hinwegsah, den wirren +dunkeln Haaren über der hohen geraden Stirn, dem grauen ungepflegten +Bart um das breite Kinn und den seltsam schiefstehenden großen Mund, +dazu der Rock, der an den Ellbogen und auf dem Rücken speckig glänzte, +das Hemd darunter mit dem weichen halboffenen Umlegekragen, die +ausgetretenen Pantoffeln an den graubestrumpften Füßen, -- das alles +wirkte zunächst wenig anziehend. Dann gab er mir flüchtig die Hand, die +weich und zart war, -- ich mußte ihn wirklich noch einmal betrachten, um +zu glauben, daß sie diesem Manne gehörte. Sie gab mir Mut zu reden, ich +wäre ohne sie am liebsten wieder umgedreht. Ich erzählte ihm auch von +meinen Erfahrungen mit den Frauen. Er lächelte mit einem gutmütigen +Spott in den Augen. »Soll ich Ihnen einen wirklich freundschaftlichen +Rat geben?« sagte er. »Kümmern Sie sich nicht um sie, wenn Sie was +erreichen wollen. Die sind noch rückständiger als die Männer, können gar +nicht anders sein. Wo sollen sie auch die Erkenntnis hernehmen, die +armen Weiber?! Schon alles mögliche, wenn sie rein aus ihrem +proletarischen Instinkt heraus gute Parteigenossinnen sind.« + +Vergebens suchte ich ihn bei meinem Thema festzuhalten, es interessierte +ihn offenbar nicht; dagegen rief der Name England eine Flut von +Gedankenverbindungen in ihm wach. Er glaubte meinen rettungslos +bourgeoisen Standpunkt daran zu erkennen, daß ich zwar mit Burns und den +Fabiern, nicht aber mit Hyndman und der sozialdemokratischen Föderation, +die allein den Marxismus in England repräsentierten, verkehrt habe. Mit +den sprunghaften Übergängen eines glänzenden Geistes, der weder die +Fähigkeit hat, auf die Interessen des anderen einzugehen, noch die +Fähigkeit, sich in eine Frage zu vertiefen, kam er von da auf unsere +auswärtige Politik zu sprechen, auf das berechtigte Mißtrauen Englands +den offenbaren Weltmachtgelüsten unseres Kaisers gegenüber, auf Rußland, +an das wir um so näher uns anschließen würden, je weiter wir von +England abrückten, auf den künstlich ausgepeitschten Hurrapatriotismus +der Kriegserinnerungsfeiern der Gegenwart, der letzten Endes nur dazu da +sei, gegen die Sozialdemokratie mobil zu machen und die gescheiterte +Umsturzvorlage in anderer Form wieder aufleben zu lassen. + +Mir war diese Gesprächswendung unbehaglich. Gut, daß ich, ohne +aufzufallen, schweigen konnte. Hafteten die Eierschalen der +Vergangenheit noch so fest an mir, daß die Artikel des »Vorwärts« über +die Gedenkfeiern an den »brudermörderischen Krieg« mir das Blut in +Wallung brachten? Sie vertraten doch zweifellos Menschlichkeit und +Gerechtigkeit in weit höherem Maße, als all die mit Orden und Bändern +behängten Kriegervereinler, die sich wie die Wilden an der blutigen +Unterdrückung eines Nachbarvolkes noch in der Erinnerung berauschten. +Liebknecht war in seiner Gegnerschaft gegen jede Art von Chauvinismus +ein Fanatiker. »National gesinnt ist meines Erachtens nur, wer das Recht +und das Wohl anderer Nationen ebenso zu achten weiß, wie das der +eigenen,« sagte er. Und mir wurde bewußt: er fühlte international, +während ich nur die Idee der Internationalität kühl verstandesmäßig +anerkannte. Ich sprach das aus, und er nickte eifrig: »Natürlich, -- das +ist der Unterschied, -- und der kommt zum großen Teil daher, daß das +Jahr 48 und das Sozialistengesetz mir das Vaterland nahmen und die Welt +zur Heimat machten. Auch der Proletarier, der nichts besitzt, und der +Arbeit über alle Grenzen hinweg nachrennen muß, ist von Herzen +international, und die Hammerstein und Konsorten,« -- er lachte +boshaft --, »die sich vom Vaterland den Schmerbauch mästen lassen, +predigen uns Verruchten Patriotismus!« Er unterbrach sich und stand auf. +Ich wollte gehen »Daraus wird nichts, -- nun müssen Sie noch bei meiner +Frau Kaffee trinken.« + +Ich wurde ins Wohnzimmer geführt. Bei Frau Major X. in Bromberg und bei +Frau Hauptmann Z. in Brandenburg war es nicht viel anders gewesen --, +nur daß hier statt der Familienbilder die von Marx, Engels und Lassalle +an den Wänden prangten, statt des Stichs der Sixtina Walter Cranes +Maifestzug, und ich damals noch nicht in die rechte Sofaecke genötigt +wurde. Frau Liebknecht war die typische Gouvernante aus vornehmen +Häusern, der Bildung und Lebensform nicht die Haut war, sondern das +Kleid. Ihm war ich irgendwer gewesen, ihr: »Frau von Glyzcinski.« + +Es dämmerte schon, als ich mit ihm das Haus verließ. Er ging in seine +Redaktion, ich in die Ansbacherstraße, wo ich die Eltern aus Pirgallen +zurückerwarten sollte. »Und für meinen Plan kann ich auf Ihre +Unterstützung nicht rechnen?« fragte ich nun doch noch einmal. Er blieb +stehen. »Meine Unterstützung?! Das würde keinem von uns nützen. +Überlegen Sie sich's selbst noch mal, ob er Ihrer eigenen Unterstützung +wert ist!« + + * * * * * + +Die Stimmung war keine rosige, in der ich Eltern und Schwester empfing, +und auch sie schienen erregt und niedergeschlagen: Mama hatte die Lippen +fest zusammengekniffen, so daß sie nur noch wie ein schmaler, blasser +Strich erschienen, der Vater war feuerrot im Gesicht und räusperte sich +ununterbrochen, Ilschen hatte verweinte Augen. »Alles ging so gut,« +flüsterte sie mir hastig zu, als die Eltern ins Zimmer getreten waren, +und hielt mich im Flur zurück, »da kam es gestern abend wegen der dummen +Hammerstein-Geschichte zu einer Auseinandersetzung zwischen Onkel Walter +und Papa. Das Vertuschungssystem sei unanständig, sagte er, während +Onkel es für notwendig erklärte im Interesse der Partei. Schließlich +schimpfte Papa -- du kannst dir denken, wie --, und Onkel sagte, Papa +habe sich wohl bei seiner Tochter, der 'Genossin', angesteckt, -- ein +Wort gab das andere, Onkel zeigte Papa schließlich die Kreuz-Zeitung mit +der Notiz über dich -- --« + +»So, -- nun haben wir miteinander zu reden --,« unterbrach meines Vaters +vor Erregung rauhe Stimme die Schwester. Es war ein förmliches +Verhör ... + +»Mitglied der sozialdemokratischen Partei bin ich noch nicht --,« sagte +ich. Er lehnte sich tief aufatmend mit geschlossenen Augen in den Stuhl +zurück. Ich wollte fortfahren. Er wehrte mit beiden Händen ab: »Genug -- +genug! Mehr will ich nicht hören -- mehr nicht!« Dann erhob er sich +schwerfällig, ging zum Schreibtisch und setzte ein Telegramm auf: »Baron +Walter von Golzow, Pirgallen. Ich habe Alix' Wort. Verlange nunmehr von +dir Ehrenerklärung. Hans.« Ich wollte widersprechen, -- des Vaters +rotunterlaufene Augen blitzten mich herrisch an, Ilse faltete hinter ihm +mit bittender Gebärde die Hände --, ich schwieg. War es Feigheit? War es +Rücksicht? Oder nichts als schlaffe Ermüdung? + +Beim Abendessen wurde mir mitgeteilt, daß die Gartenwohnung auf +derselben Etage frei geworden sei. »Wir hätten andernfalls umziehen +müssen, nun ersparen wir das, und du ziehst einfach hierher,« sagte der +Vater; »dann haben wir Alten wieder unsere beiden Töchter,« fügte er mit +einem Anflug liebevoller Heiterkeit hinzu und streckte mir über den +Tisch die Hand entgegen. Nur zögernd legte ich die meine hinein. + +»Sehr gütig, Papa, daß du an mich dachtest, aber ich habe schon eine +Wohnung.« Er brauste wütend auf. Schweigend ließ ich den Wortschwall +über mich ergehen. + +»Ich habe euch meine Überzeugung geopfert,« sagte ich dann fest, »meine +Freiheit opfere ich euch nicht ...« + +Durch die sternenlose Augustnacht ging ich nach Hause. Über die +menschenleere Straße schwankten ein paar Betrunkene. Wie fürchtete ich +mich sonst vor ihnen, -- gleichgültig schritt ich heute vorbei, -- +meinetwegen hätten sie mit mir tun können, was sie wollten. Ich war ja +gar nicht ich, nur ein Schatten dessen, das einst lebendig war. In +meiner einsamen dunkeln Wohnung warf ich mich angekleidet aufs Bett und +grübelte stumpfsinnig dem einen Gedanken nach: Warum ich eigentlich den +Morgen erwarten müßte -- und den Tag -- und wieder einen Tag, und so in +endloser Reihe die ganze Leere des Lebens?! + + * * * * * + +In meinen stillen Zimmern lastete die Luft auf mir. Die Sonne strahlte +durch die grünumsponnenen Fenster, über die lachenden Gärten, -- wäre +ich nur erst in meinem neuen Heim, wo ich nichts sah, als eine gemalte +Landschaft! Von innerer Unruhe getrieben, lief ich in der Stadt umher, +blieb vor den Schaufenstern stehen und ertappte mich auf einem halb +unbewußten Verlangen nach hellen Kleidern. Ich saß allein vor dem alten +verräucherten Kaffee Josty und sah über den Potsdamer Platz hinweg den +Menschen nach, die schwatzten und lachten und kokettierten, und unter +die ich mich nicht mischen durfte. Ein Gefühl von wohliger Wärme überkam +mich, wenn bewundernde Blicke mich trafen, -- ach, und Sehnsucht packte +mich, unbändige Sehnsucht nach Lebensfreude. + +Damals begegnete mir Graf Oer, einer meiner alten Tänzer; er hatte den +schlechtesten Ruf und war doch einer der verwöhntesten Männer der +berliner Gesellschaft. Eine aufreizende, schwüle Atmosphäre verfeinerter +Sinnenlust umgab ihn; schon sein forschender Blick aus halbgeschlossenen +Augen, sein weicher, langsamer Händedruck ließ die Frauen erröten, denen +er sich näherte. Mir gegenüber war er ganz teilnehmender Freund. »Ihre +Blässe erhöht zwar nur Ihren Reiz, schönste Frau,« sagte er, »aber im +Verein mit Ihrer sylphidenhaften Gestalt« -- seine Blicke wanderten +förmlich über meinen Körper -- »finde ich sie beängstigend. Sie brauchen +Sonnenweide wie ein Rassepferd. Was meinen Sie, wenn ich Ihnen täglich +ein paar Stunden lang meinen Wagen schicke und Sie in den Grunewald +fahre oder nach Wannsee?« Trotz meiner Ablehnung, die nicht sehr +energisch gewesen sein mochte, hielt sein elegantes Juckergespann am +nächsten Morgen vor meiner Türe. War das wonnig, so in den jungen Tag +hineinzurollen; mit geschlossenen Augen vorbei an den öden Feldern des +Kurfürstendamms, in den Grunewald hinein, dessen vereinzelte Villen sich +rasch verloren, bis zu dem kleinen Försterhaus am stillen See, in dem +die Sonne sich, ihrer Schönheit froh, eitel bespiegelte. »Wie Sie +genießen können!« sagte Graf Oer, als wir beim Frühstück im Gärtchen +saßen. »Und Sie wollen lebendigen Leibes ins Kloster gehen! Die Welt ist +so schön und wartet nur darauf, Sie zu empfangen, -- lassen Sie mich Ihr +Führer sein --« Ich fühlte seine feuchten, kühlen Lippen auf meiner +Hand, sein Knie dicht an dem meinen, -- ein unbezwinglicher Ekel +schnürte mir die Kehle zusammen. Ich sprang auf, raffte mein Kleid und +verließ ohne ein Wort, ohne einen Blick den Garten. Waren Genuß und +Gemeinheit Zwillingsgeschwister, so wollt' ich wahrlich ins Kloster +gehen! + + * * * * * + +Zu Hause erinnerte mich ein Brief an den letzten und wichtigsten Besuch, +den ich im Interesse des Zentralausschusses machen wollte: bei Bebel. Er +lud mich zum Mittagessen ein, »dabei läßt sich am besten besprechen, was +Ihnen am Herzen liegt und mich lebhaft interessiert.« + +In der Großgörschenstraße wohnte er, einer jener neuen Straßen, die jede +Fassadenpracht verschmähte und deren üppiger Blumenschmuck verriet, daß +die vielen kleinen Balkons die Sommerfrische ihrer Bewohner waren. + +Ein lächelndes Dienstmädchen in blendend weißer Schürze öffnete mir auf +mein Läuten an der blank geputzten Klingel. Ein leichter Geruch nach +frischer Seife drang mir entgegen, und in dem hellen Zimmer, das ich +betrat, blinkte die Politur der Möbel, daß sich die Bilder an den Wänden +darin spiegelten. Die vollkommenste Einfachheit herrschte hier, jede +Spur künstlerischer Kultur fehlte, aber es fehlte auch jeder Versuch, +Nichtvorhandenes vortäuschen zu wollen. Die kleine, runde Frau, die mich +herzlich willkommen hieß, mit der schwarzen Schürze über dem schlichten +Kleid, den von Güte strahlenden Zügen unter den glatten Scheiteln, war +wie ein Teil dieses Raumes. Sie nötigte mich in den Lehnstuhl neben dem +Nähtischchen am Fenster, meine Hand fest in der ihren haltend. + +»So eine arme, junge Frau,« sagte sie mitleidig; »ich mußte oft an Sie +denken und an Ihre Einsamkeit, -- ich wäre längst bei Ihnen gewesen, +wenn ich nicht gefürchtet hätte, zudringlich zu erscheinen.« Mir wurden +die Augen feucht, -- meiner Einsamkeit hatten sich auch die Nächsten +nicht erinnert. Mit jener Kunst verständnisvollen Zuhörens, die selbst +die beste Erziehung nicht zu geben vermag, wenn die Teilnahme des +Herzens fehlt, ließ sie sich von meinen kleinen Wohnungs- und +Wirtschaftskümmernissen erzählen. »Was, im Wirtshaus essen Sie --?!« Sie +schlug die Hände erstaunt zusammen. -- »Kein Wunder, daß Sie so blaß und +schmal werden; ordentlich herausfuttern müßte man Sie --« + +Bebel trat ein, mit einem raschen, elastischen Schritt, die glänzenden +Augen gerade auf mich gerichtet, während ein Büschel Haare ihm keck, wie +bei einem Knaben, in die Stirne fiel. Von einer breiten Hand -- zu +schwer fast für den schmächtigen Körper -- fühlte ich meine Finger +umschlossen. »Ich freue mich Ihres Besuchs --,« seine Stimme klang im +Zimmer viel weicher und voller als auf der Rednertribüne, »-- nicht mehr +allein, weil Sie Glyzcinskis Witwe sind. Nach dem Schriftstück hier --,« +er hielt das Programm des Zentralausschusses in der Hand, »-- haben wir +von Ihnen viel Gutes zu erwarten.« + +Er nötigte mich in sein Arbeitszimmer, einen kleinen Raum mit wenigen +gestrichenen Holzmöbeln, blank gescheuerter Diele und musterhafter +Ordnung. Wir erörterten alle Einzelheiten meines Plans. + +»Sie können mit Ihrer Arbeit da einspringen, wo die Regierung nicht +eine, sondern hundert Lücken gelassen hat. Unsere Beteiligung freilich +wird sich wohl nur auf Ratschläge beschränken.« + +»Damit ist mir nicht gedient!« rief ich. »Wie können wir in die Arbeits- +und Lebensverhältnisse der Arbeiter Einblick gewinnen, wenn Sie uns +nicht die verschlossenen Türen öffnen.« + +»Ja, glauben Sie, ich wäre der liebe Gott?!« lachte er. »Ich könnte etwa +den Gewerkschaften befehlen, Ihren Bestrebungen Vertrauen +entgegenzubringen, oder gar unseren Frauen!!« + +Wir wurden zu Tisch gerufen. Kein Diner hatte mir je so gut gemundet wie +dieses einfache Mittagsmahl. Die besten Stücke wurden mir auf den Teller +gehäuft. + +»Sehen Sie, wie's schmeckt, wenn man nicht trübselig allein an einer +schmuddeligen Wirtstafel sitzt!« sagte Frau Bebel, befriedigt über +meinen Appetit. Sie schwieg sonst meist. Nur wenn der lebhafte Gatte gar +zu heftig irgendeinen Gegner angriff, warf sie ein paar besänftigende +oder entschuldigende Worte ein, und als er gegen die Junker wetterte, +sah sie zuerst ihn, dann mich vielsagend an. + +»Ach soo --,« er unterbrach sich ein wenig verlegen, »-- Sie gehören ja +am Ende auch zu ihnen! -- Aber mein Schimpfen ist wahrscheinlich +ein sanftes Flötenspiel gegen die Töne, die angesichts der +Kreuzzeitungsaffäre in Ihren eigenen Kreisen angeschlagen werden. Der +Fall Hammerstein, diese Dekouvrierung eines der Edelsten und Besten, +kommt den privilegierten Beschützern von Religion und Sittlichkeit +gerade jetzt gewaltig in die Quere. Und die Sache ist noch lange nicht +zu Ende, -- die ganze Kreuzzeitungspartei, die den jungen Kaiser vor ein +paar Jahren als Zugpferd vor ihren eignen Wagen spannen wollte, wird +daran glauben müssen.« Er verbreitete sich, immer lebendiger werdend, +über die politische Lage und die nächsten Zukunftsaussichten. Er sah +überall Symptome für den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft, +und auf der anderen Seite Etappen zum Siege des Sozialismus. »Die +Weltmachtpolitik, die, einmal begonnen, nicht mehr aufzuhalten sein +wird, ist der Anfang vom Ende. Sie appelliert zwar an die stärksten, an +die brutalen Instinkte, aber sie führt schließlich mit Notwendigkeit zur +Auspowerung der Massen und treibt sie uns damit in die Arme, -- +gewisser, als alle Agitation von unserer Seite es vermöchte. Selbst ein +möglicher Weltkrieg zwischen den Kolonialmächten wäre nur der Auftakt +der Revolution.« + +Ich dachte an Shaw und seine unbedingte Gegnerschaft zu dieser ans +Fatalistische streifenden Auffassung von der Entwicklung zum Sozialismus +und warf in diesem Sinn eine bescheidene Frage in die Unterhaltung: +»Stehen wir nicht in Gefahr, als bloße Zuschauer die Hände in den Schoß +zu legen, wenn uns die Naturgesetzlichkeit des Sozialismus so zweifellos +fest steht?« + +»Ein Einwurf, der nach dem Katheder schmeckt! Müssen wir nicht die +Menschen für diese Entwicklung vorbereiten?« + +»Also ist alle Gegenwartspolitik der Partei nie Selbstzweck --?« + +»Sondern nur Mittel zum Ziel,« rief er lebhaft, »und ihr Wert ist nur +von diesem Gesichtspunkt aus zu bemessen!« + +»Wie habe ich danach Ihr Interesse für meinen Plan einzuschätzen?« frug +ich lächelnd. »Als bloße Höflichkeit etwa?!« + +»Treiben wir Sozialpolitik aus Höflichkeit?! Doch nur, weil eine +gesunde, kräftige Arbeiterschaft, die Zeit hat zum Denken und zum +Wirken, die Armee ist, die wir haben müssen.« + +Ich streifte mechanisch die Handschuhe über die Finger. Mein Herz schlug +in dem raschen Takt der Melodie, die dieser Mann angeschlagen hatte. Der +Glaube an die Sache --, das war das Unüberwindliche in ihr. An der Tür +hielt mich Bebel noch einmal auf: »Ich rate Ihnen, wenn Sie irgend etwas +im Kreise unserer Genossinnen erreichen wollen, -- setzen Sie sich mit +Wanda Orbin in Verbindung. Am besten, fahren Sie zu ihr. Ist sie gegen +Ihren Plan, so haben Sie alle miteinander gegen sich!« + +Noch am selben Abend schrieb ich an Frau Orbin, um ihr meinen Besuch +anzukündigen; zugleich bat ich sie, in ihrer Zeitschrift, der +»Freiheit«, meine Idee zur Diskussion stellen zu dürfen. Sie antwortete +umgehend, aber was sie schrieb, klang wenig ermutigend: Wenn mein Weg +mich über Stuttgart führe, so würde ihr mein Besuch willkommen sein; zu +einer Reise, eigens ihretwegen, könne sie mir jedoch nicht raten, da sie +zwecklos sein würde; von einer Veröffentlichung meines Plans in ihrer +Zeitschrift könne auch keine Rede sein: »... die 'Freiheit' ist ein rein +sozialdemokratisches Blatt, an dem ich grundsätzlich nur solche +Mitarbeiter zulasse, die auf dem Boden des Klassenkampfes stehen.« +Trotzdem beschloß ich, zu ihr zu fahren, und wäre es nur, um die +Bekanntschaft dieser Frau zu machen, deren Leben und deren +Persönlichkeit ein wahrhaft vorbildliches zu sein schien. Bebel, den ich +in dieser Zeit öfter sah, erzählte mir viel von ihr: wie sie sich mit +Peter Orbin, einem russischen Sozialisten, in freier Ehe verbunden habe, +ihm nach Paris in Elend und Verbannung gefolgt sei und das schwere +Siechtum, das über ihn hereinbrach, jahrelang vor ihren Freunden zu +verstecken verstand, indem sie in seinem Namen korrespondierte, in +seinem Namen Artikel schrieb und mit zwei kleinen Kindern und dem +kranken, ständiger Pflege bedürftigen Mann nicht nur das tägliche Brot +für alle schaffte, sondern auch imstande war, für die Partei +unermüdlich zu agitieren. Mir schwindelte vor dieser Leistungskraft; +meine Schmerzen, meine Kämpfe schrumpften davor kläglich zusammen. + +»Ihre Nerven freilich hat sie dabei ruiniert,« fügte Bebel schließlich +hinzu. + +An einem Abend hatte ich Liebknechts und Bebels zu mir geladen. Längst +erloschene Gesellschaftsvorfreuden empfand ich wieder in der Erwartung +dieser Gäste. Zum erstenmal vermißte ich schmerzlich all die vielen +graziösen Geräte, mit denen ich als Haustochter die Festtafel zu +schmücken verstand, -- ich hatte nicht einmal genug Messer und Gabeln! +Schweren Herzens entschloß ich mich, bei den Eltern zu borgen, was am +notwendigen fehlte. + +»Du gibst Gesellschaften?« frug Mama erstaunt. »Kaum ein halbes Jahr +nach dem Tode deines Mannes?!« + +»Nur ein paar Interessenten meines Zentralausschusses --,« antwortete +ich ausweichend, während die Scham über diese verlogene +Geheimniskrämerei mich erröten machte. War es Zufall oder Absicht, daß +mein Vater, kurz ehe ich meine Gäste erwartete, zu mir kam und Anstalten +machte zu bleiben? In quälender Angst saß ich vor ihm, alle erdenklichen +Gründe ersinnend, um ihn, ohne ihn zu verletzen, zum Gehen zu nötigen. +Endlich stand er auf. »Meine eigene Tochter wirft mich hinaus,« sagte er +mit einem müden, wehen Ton in der Stimme. »Lieber -- lieber Papa! --« +ich schlang die Arme um seinen Hals und küßte ihn. In diesem Augenblick +kam ich mir vor wie ein Verräter. Der Abend, auf den ich mich so gefreut +hatte, war für mich eine Qual. + + * * * * * + +Am nächsten Morgen fuhr ich nach Stuttgart. Ein unbestimmtes Hoffen, das +wie durchleuchtet war von froher Ahnung, erfüllte mich: irgend etwas +ganz Ungewöhnliches würde geschehen. Auf dem Bahnhof empfing mich Frau +Orbin. Ihre Erscheinung war nicht die imponierende, die ich mir +vorgestellt hatte. Ich sah zunächst nichts als eine breite untersetzte +Gestalt und einen großen Hut mit zerzausten Federn, der windschief auf +ihrem Kopfe saß und ihre Züge beschattete. Fast hätte ich sie nicht +wiedererkannt, als sie ihn abgenommen hatte und sich im Speisezimmer des +Hotels zu mir setzte. Rotblonde Haare bauschten sich wellig um Stirn und +Schläfen, helle Augen, in allen Lichtern des Regenbogens spielend, sahen +mir gerade ins Gesicht, auf der Stirn, um Nase und Mund gruben sich +kleine senkrechte Falten, die zu der noch jugendlich-weichen Rundung +der Wangen in peinlichem Mißverhältnis standen. Ohne alle +Höflichkeitspräliminarien begann sie sofort meinen Plan rücksichtslos zu +zerzausen. Sie sprach mit nervöser Überstürzung, die Worte jagten +einander, als wollte eins das andere verschlucken. »An eine +Zusammenarbeit von uns und Ihnen ist natürlich gar nicht zu denken. +Sollte von anderer Seite etwas der Art für möglich erklärt worden +sein --,« ein mißtrauisch-fragender Blick traf mich, -- »so würde +ich jede solche Absicht auf das Schärfste bekämpfen. Der politische +Kampf ist für uns das A und O. Darum ist jede Harmonieduselei mit +bürgerlichen Elementen vom Übel und kann nur verwirrend wirken, den +Klassenkampfcharakter unserer Bewegung verwischen. Nicht die Gegensätze +überbrücken, wie bürgerliche Idealisten und Ethiker wünschen, sondern +sie auf das Schärfste betonen, ist für uns die Hauptsache. Reinliche +Scheidung, -- ohne Konzessionen.« + +Ich seufzte tief auf. Sie verstand mich falsch und ein feines ironisches +Lächeln kräuselte flüchtig ihre Lippen. »Das ist freilich nicht immer +ganz bequem, aber für Menschen wie Parteien die einzig mögliche +Grundlage ihrer Existenz.« + +Sie lud mich für den folgenden Tag zu sich ein. Hätte mich die Frau +nicht gereizt, der Sache wegen schien der Besuch keinen Zweck mehr zu +haben. + +In einer Wohnung von puritanischer Schlichtheit empfing sie mich, aber +ein unbestimmtes Etwas, sei es die Wahl der Bilder, der Fall der +Vorhänge oder nur die ganze Farbenstimmung des Raumes, verriet das +künstlerische Empfinden der Bewohnerin. Und als ihre beiden frischen +Buben hereinstürmten, rotwangig und glänzenden Auges, sah ich hinter der +Rüstung der Kämpferin den Menschen, die Mutter. Wie reich war sie! -- +Wir gingen nachmittags hinaus vor die Stadt, die bewaldeten Hügel hinan, +die sie so zärtlich umschließen. Die Kinder und die Natur schienen Wanda +Orbin zu verwandeln. Sie war viel milder heute. Sie sprach über Kunst +und Literatur mit dem Verständnis eines selbständigen Geistes und der +Wehmut unglücklich Liebender. »Das alles ist eingeschlafen, hat +einschlafen müssen gegenüber der großen, umfassenden Aufgabe,« sagte sie +schließlich, und ihre Augen bekamen wieder den fiebrigen Glanz des +Fanatismus. + +Kaum waren wir in ihrer Wohnung, als ein Mann zu ihr hereinstürzte, +atemlos eine Depesche hin- und herschwenkend, während ihm hinter den +Augengläsern die dicken Tränen über die bärtigen Wangen liefen. »Engels +-- Engels ist tot --,« stieß er mühsam hervor. Mit einer abwehrenden +Bewegung der Hände -- breiter kurzfingeriger Hände, die aussahen, als +hätte der Bildhauer Natur sie nur in rohen Umrissen skizziert und +vergessen, sie auszuführen -- starrte Wanda Orbin dem Unglücksboten +sekundenlang ins Gesicht. Dann warf sie die Arme empor und brach in ein +konvulsivisches Schluchzen aus, unter dem ihr Körper immer heftiger zu +zittern begann. Ihre Füße würden die Schwankende nicht mehr tragen, +dachte ich, und schob ihr vorsichtig einen Sessel zu, in dem sie haltlos +versank. Inzwischen hatte sich das Zimmer gefüllt: die Eintretenden +tauschten miteinander warme Händedrücke. Alles sammelte sich um die +weinende Frau, leise Flüstergespräche, als läge der Tote mitten unter +ihnen, flogen nach langer beängstigender Stille hin und her. Eine +Familie war dies, die Stärkeres zusammengeschweißt hatte als das Blut: +aus gemeinsamen Empfindungen, Gedanken und Idealen entsprang die Tiefe +gemeinsamer Trauer um den, der ihr Führer gewesen war. Auf Zehenspitzen +schlich ich hinaus und fühlte doch mit überwältigender Gewißheit, daß +ich dazu gehörte. + +Spät am Abend kam Wanda Orbin noch einmal zu mir, -- sehr weich, sehr +liebevoll. »Sie hätten bleiben dürfen, Sie sind uns doch keine Fremde,« +sagte sie. Da gewann ich Vertrauen und erzählte ihr von den Zweifeln und +Kämpfen der letzten Wochen. Ich sah, wie sie lächelte, -- nachsichtig +wie eine Mutter über Kinderleiden, aber es verletzte mich nicht. »Im +Zwiespalt der Empfindungen kann niemand dem anderen helfen,« meinte sie +dann. »Ich weiß nur eins gewiß: ist Ihre Überzeugung erst vollkommen +klar und unerschütterlich, so verschwindet vor ihr das bloße Gefühl, wie +Sommerschwüle vor dem Gewitter. Zu dieser Überzeugung zu gelangen, das +ist freilich das schwerste. Die Logik der Tatsachen, die +Lebensverhältnisse pauken dem Proletariat eine Auffassungsweise ein, die +sich der bürgerliche Idealist mit großer Mühe aneignen muß, wenn es ihm +überhaupt trotz aller Ehrlichkeit gelingt, den alten Adam der +bürgerlichen Ideen abzulegen. Es ist so furchtbar schwer, aus seiner +Haut zu fahren, sich von dem zu befreien, was Vererbung und Milieu aus +uns gemacht haben.« Ihre Augen schauten wie nach innen. + +Wir sprachen noch lange miteinander. Sie riet mir jetzt zur Ausführung +meines Planes; ich würde durch ihn vielleicht am besten zur Klarheit +kommen, und an Rat und -- inoffizieller -- Hilfe von ihr sollte es nicht +fehlen. »Setzen Sie sich in Berlin mit den Gewerkschaften in Verbindung, +und zwar speziell mit den Konfektionsarbeitern, die infolge der +Bewegung, in der sie augenblicklich stehen, Ihre Sache als eine +Unterstützung betrachten dürften. Und dann, vor allen Dingen, suchen Sie +unseren Genossen Dr. Heinrich Brandt für sich zu interessieren. Gewinnen +Sie ihn, so ist Ihnen geholfen: er setzt alles durch, was er will.« + +Dr. Brandt! -- Ich schloß unwillkürlich die Lider, verloren in +Erinnerung. »Alle Ströme fließen in unser Meer,« hörte ich eine dunkle +klingende Stimme sagen, und flüchtig -- ein Traumbild -- tauchte ein +Mann vor mir auf, blond und schlank, und tiefe graue Augen versanken +sekundenlang in den meinen. + + * * * * * + +Nach meiner Rückkehr schrieb ich sofort an Johannes Reinhard, den Führer +der Konfektionsarbeiter-Bewegung, und an Heinrich Brandt. Reinhard +kündigte mir umgehend seinen Besuch an; kurz darnach bestimmte Brandt +dafür dieselbe Stunde. Im ersten Gefühl starker Freude, über deren +Ursache ich mir nicht so recht klar war, wollte ich Reinhard +abschreiben, um den anderen bald und zuerst zu sehen. Über mich selbst +errötend, zerriß ich die Karte wieder, die ich zu schreiben begonnen +hatte, und bat statt dessen Brandt, seinen Besuch zu verschieben. +»Schade,« antwortete er mir, »ich wäre gern gleich gekommen. Vorgestern +las ich in der wiener 'Zeit' einen Artikel von Ihnen, der mich so +entzückte, daß der Wunsch, die Verfasserin kennen zu lernen, in mir rege +wurde. Diesem Wunsch begegnete noch am selben Morgen Ihr Brief.« + +Und nun stand Reinhard vor mir, unter der linken Schulter die Krücke, +das Gesicht noch gelber, als da ich ihn zum letztenmal in der +Egidyversammlung gesehen hatte, die schwarzen, dünnen Haarsträhnen wie +festgeklebt um den breiten Schädel und die tief eingefallenen Schläfen. + +»Hielte ich Ihren Plan nicht für gut, für notwendig sogar in diesem +Augenblick, wo der Reichskanzler den Stillstand der Sozialreform nicht +nur zugab, sondern verteidigte, ich würde nicht so rasch hier sein,« +begann er die Unterhaltung, indem er sich mühsam, das linke Bein gerade +ausgestreckt, auf dem Stuhl niederließ. »Wir stehen in der Konfektion +seit Beginn des Jahres in einer Bewegung, die mir Tag und Nacht keine +Ruhe läßt -- --« + +»Ich weiß: um die Durchsetzung von Betriebswerkstätten handelt es sich,« +unterbrach ich ihn. »Der Zentralausschuß könnte nichts Besseres +beginnen, als Sie darin unterstützen.« + +Er sah erfreut auf. »Ich sehe, Sie sind orientiert, und so brauche ich +nur hinzuzufügen, daß Ihr Zentralausschuß auch nirgends reicheres +Material zur Frage der Frauenarbeit finden könnte als bei uns. Ihren +londoner Eindrücken, von denen ich in den Zeitungen gelesen habe, würden +die berliner nicht nachstehen.« + +Ich zweifelte an der Möglichkeit ähnlichen Elends bei uns. Nicht einmal +in der Nacht, wenn ich aus Versammlungen gekommen war, hatte ich so +bittere Not gesehen, wie sie mir in London bei hellem Tage begegnet war. + +»Unsere Ärmsten schämen sich, -- das ist vielleicht der letzte Rest +Menschlichkeit in ihnen,« meinte er; »seit Wochen mache ich fast nichts +anderes als Besuche bei den Heimarbeitern. Eben erst war ich bei einem +alten gelähmten Weibe, das hier im Westen, fünf Treppen hoch, ein +einfenstriges Zimmer und eine fensterlose, winzige Küche mit ihrer +Tochter und deren vier kleinen Kindern bewohnt. Von früh fünf bis nachts +um elf trampelt die Tochter die Nähmaschine, um bestenfalls neun Mark in +der Woche zu verdienen. Vor wenigen Tagen war ich in einem engen +Kellerloch, wo eine Witwe mit zwei Kindern wohnt; auf den schimmeligen +Möbeln, auf dem einzigen wackeligen Bett, liegen elegante Damenblusen, +für die sie ganze fünf Mark wöchentlich einnimmt.« Reinhard erhob sich, +rote Flecken brannten auf seinen Backenknochen, und während er +weitersprach, humpelte er im Zimmer aufgeregt hin und her. »In einem +anderen Keller, wo die Dielen faulen und die Fenster tief unter der Erde +liegen, arbeiten zwei Schwestern, -- junge, bleichsüchtige Dinger, -- +für die, die oben in Luft und Sonne lachend vorübergehen. Ist die Ehre, +die ihr bewahrt habt, das elende Leben wert, -- hätte ich ihnen am +liebsten zugerufen. Dicht unter dem Dach, in zwei kleinen Löchern, sah +ich ein Ehepaar mit fünf Kindern und einem Schlafmädchen; den Mann +zerfrißt auf dem Lager voll Lumpen der Kehlkopfkrebs, die Frau näht +Knopflöcher für ganze vier Mark in der Woche,« -- klipp -- klapp -- +klipp -- klapp, -- rascher und rascher schlug Reinhards Krücke den Takt +zu der grausen Melodie --; »eine arme Mutter fand ich in einem +sonnenlosen Winkel im Norden, sie nähte Hemden, halbfertig lagen sie auf +dem Bett, wo zwei diphtheritiskranke Kinder mit dem Tode rangen. Und, +denken Sie nur«, -- er blieb stehen und lachte grell auf, »-- einen +schneeweißen Mantel, bestimmt für nackte Schultern schöner Frauen, sah +ich einmal in den Händen einer Syphilitischen --« + +»Um Gottes willen -- hören Sie auf!« Auch ich erhob mich. »Warum +schreien Sie diese Tatsachen nicht auf öffentlichem Markte aus? Warum +kleben Sie Ihre Berichte nicht an alle Straßenecken? -- Kein +Reichskanzler würde mehr wagen, den Stillstand der Sozialreform zu +verteidigen.« + +»Wir sind dabei, es zu tun,« antwortete er, und seine Sprechweise nahm +wieder den Ton der alten sachlichen Ruhe an. »Eine Broschüre, an der ich +arbeite, wird allen maßgebenden Persönlichkeiten zugeschickt und unserem +diesjährigen Parteitag vorgelegt werden; wir haben außerdem, +wie Sie wissen, die Unternehmer vor die Alternative gestellt, +Betriebswerkstätten einzurichten, oder einer allgemeinen +Arbeitseinstellung gewärtig zu sein. Kommt es dazu, so wird die +Öffentlichkeit sich mit uns beschäftigen müssen. Übrigens: --,« er +dachte einen Augenblick nach, »wie wär's, wenn Sie die Tätigkeit Ihres +Zentralausschusses auf eigene Faust beginnen und mich bei meinen +Recherchen zuweilen begleiten würden?« + +Dankbar nahm ich sein Anerbieten an. In der nächsten Zeit brachte ich +fast täglich ein paar Stunden mit ihm zu. Wir kamen in Stadtteile, die +ich noch nie gesehen hatte, lange, nüchterne Straßenzeilen, die Häuser +regelmäßig aufgereiht, gleichmäßig grau getüncht; die Öde des Anblickes +nur noch erhöht durch die äußere Ordnung und Reinlichkeit. Wir schritten +durch enge Höfe in dunkle Hinterhäuser, die das Licht der Straße nicht +mehr fürchteten und ohne Scham die Blößen ihrer Not enthüllten. Nach +Osten, nach Süden führte uns der Weg, wo mitten im kahlen, der Stadt +schon preisgegebenen Boden hohe Mietskasernen an zerwühlten, werdenden +Straßen standen. Hier, zwischen den feuchten Wänden, hauste das Elend +und starrte uns an mit den glanzlosen Blicken erloschenen Lebens, die +grausamer in die Seele schneiden als die wildesten Schreie der +Verzweiflung. + +Oft, wenn wir aus dem Dunkel sparsam verteilter Laternen kamen und das +Licht der Friedrichstadt uns blendend empfing, haftete mein Auge +staunend an den glänzenden Spiegelscheiben der Läden und der +Restaurants. Prahlend breiteten sich hinter den einen all die +Herrlichkeiten aus, die den Gaumen laben, den Körper schmücken, das +Leben bereichern; lachend, scherzend, mit vollen Taschen und glänzenden +Augen saßen hinter den anderen die reizenden Frauen, deren einziger +Daseinszweck ihre Schönheit zu sein schien, und die Männer, die ihnen +huldigen. Wie war es nur möglich, daß die von draußen, aus den grauen +Häuserzeilen und den werdenden Straßen, nicht dicht gedrängt, auf leisen +Sohlen, wie Nachtgespenster, hierher sich schoben, um all die Pracht zu +zertrümmern, das Lachen erstarren zu machen?! + +Und in meinem Herzen nistete der Haß sich ein für alle die, die nicht +mehr hassen konnten. + + * * * * * + +Am frühen Morgen des 18. August war es. Eine arme Frau hatte ich +besucht, die ich auf einem unserer Wege gefunden hatte. Sie war +sterbenskrank, -- ach, und wie gern wollte sie sterben, wenn nur die +Kinder nicht gewesen wären, die sie fester als alle Arzeneien der Welt +ans Leben ketteten. Die durchsichtigen Finger durften sich nicht zum +Schlafen friedlich ineinanderfalten, sie hielten krampfhaft die weiße +Leinwand fest, um zierliche Namenszüge, stolze Freiherrn- und +Grafenkronen hineinzusticken. Ein wenig Hoffnung hatte ich ihr gebracht, +-- Hoffnung, daß sie bald ruhig werde sterben dürfen. Nun ging ich nach +Hause, den Kopf gesenkt; die Sonne tat mir weh. An der Königsstraße +geriet ich in einen Menschenschwarm, der mich mit sich riß: geputzte +Frauen mit jenem aus Neugierde, Aufregung und Nervenspannung gemischten +Ausdruck in den Zügen, der gewöhnliche Menschen bei allen großen +Ereignissen, -- seien es Feuersbrünste oder Hochzeitsfeiern, -- +charakterisiert, Männer im Sonntagsstaat, irgend eine Medaille oder ein +Kreuz auf der Brust, das in diesen Tagen der Freibrief für alles war: +Betrunkenheit -- man nannte sie Begeisterung --, Roheit gegen +Nichtdekorierte, -- man nannte sie Vaterlandsliebe. Ich sah um mich: +Fahnen flatterten von den Häusern, Straßenverkäufer boten mit krähender +Stimme Kaisermedaillen aus, von ferne klang Trommelwirbel, +Pferdegetrappel. Richtig: die Grundsteinlegung des Nationaldenkmals war +heute. + +Mit liebevoller Wehmut, wie die Greisin vergilbte Liebesbriefe, hatte +der Vater gestern die Generalsuniform aus ihren Seidenpapierhüllen +herausgeholt, hatte die Stickerei, die Knöpfe und die vielen Orden +selbst mit einem Lederläppchen abgestaubt und war gewiß heute früh, voll +Erregung, zum Schloß gefahren. + +Jetzt waren wir selbst bis dicht hinter die Schutzmannsketten +vorgedrungen. Ein Vorwärts gab's nicht mehr, ein Zurück noch weniger. Es +galt, auszuhalten. Die Galawagen der deutschen Fürsten rollten vorüber +in ihrer altertümlich schwerfälligen Pracht, dröhnenden Schrittes rückte +die Garde auf den Schloßplatz, hinter ihr mit wehenden Fahnen Ulanen, +Dragoner und im blitzenden Küraß die Gardedukorps. + +Von hinten hauchte mir ein heißer Atem in den Nacken, der nach +klebrigem Biere roch; aus dem Halsausschnitt der dicken, kleinen Frau +neben mir stieg ein süßlicher Schweißgeruch. Mich ekelte vor der +Erregung der Menge; eindruckslos rauschte sogar die mich sonst +elektrisierende Musik an meinem Ohre vorüber; wie ein schlechtes +Ausstattungsstück empfand ich das bunte Schauspiel vor mir. +Unwillkürlich fiel mir das Modell des Nationaldenkmals ein: wie gut +paßte es hierher mit seinen unruhigen Tier- und Menschengestalten, +seinen Fahnen, Kanonen, Gewehren und Säbeln und dem theatralisch +daherschreitenden Engel, der des alten Kaisers vierschrötiges +Schlachtroß führt. Von seinem künftigen Standort, dem Winkel vor dem +Schloß, den man noch dazu dem Wasser hatte abringen müssen, tönten +Hammerschläge, Kanonendonner fiel ein, die Luft erschütternd, von tiefen +Glockenklängen untermischt. + +Glocken und Kanonen, -- die führenden Instrumente im Orchester der +bürgerlichen Gesellschaft, mit denen sie das Weinen und Klagen der +Millionen zu übertönen glaubt! Ich aber hörte es, und ich wußte: der Tag +wird kommen, wo die Glocken vor ihm schweigen und die Kanonen vor ihm +verstummen werden. + + * * * * * + +Vor dem Spiegel stand ich in meinem Schlafzimmer. Wie lange war es her, +daß ich nichts als flüchtige Blicke hineingeworfen hatte, die nur der +Ordnung meiner Haare, meiner Kleidung galten. Heute sah ich mich wieder: +schärfer waren meine Züge geworden und schmaler mein Gesicht, meine +Gestalt aber war noch immer die eines jungen Mädchens. Ich lächelte: +'Frau' von Glyzcinski -- und ein Mädchen, ein altes Mädchen sogar von +dreißig Jahren! Aber ich wollte nicht alt sein, -- heute nicht. Ich +fühlte wieder, wie ich rot wurde. Daß das Weib in mir sich nicht töten +ließ! Wo doch so vieles schon gestorben war! + +Es klingelte. Kurz und scharf. Die Aufwärterin hatte ich früh schon nach +Hause geschickt, sie war so alt und so häßlich. Dem Besuch, den ich +erwartete, wollte ich selber öffnen. + +»Gnädige Frau?!« -- Eine überraschte, fragende Stimme. Ich unterschied +im Dämmerlicht der Treppe und des Flurs die Silhouette eines Mannes, mit +dem weiten Mantel über den Schultern, dem breiten Schlapphut auf dem +Kopf. Ich selbst in meinem schwarzen Kleid mußte ihm nur wie ein +Schatten erscheinen. Ich ging ihm voran ins Zimmer, das flutendes +Sonnenlicht durchstrahlte, wie einst, da ich zum erstenmal über die +Schwelle trat. Ich wendete mich um, -- meine Hand blieb vergessen in der +Heinrich Brandts. »Wir sind uns -- keine Fremden --,« stotterte ich +verlegen. »Nein, -- nein --,« antwortete er und sah mich noch immer an. +Die Uhr auf dem Schreibtisch holte zum Schlagen aus. Ich zuckte +zusammen, setzte mich hastig, und steif und förmlich lud ich auch ihn +zum Sitzen ein. + +»Nein,« wiederholte er, und seine Augen ließen mich noch immer nicht +los, während sein Gesicht heller zu werden schien, »-- Sie sind mir +keine Fremde. Kennen Sie das?« Er zog das graue Heft der Wiener »Zeit« +aus seiner Rocktasche. »Im Grunde ein ganz dummer, kleiner Artikel, den +Sie da geschrieben haben, und doch so wundervoll! Ein ganzer Mensch +steckt dahinter!« + +Mir wurde warm ums Herz. Seine Worte streichelten mir die Wangen, seine +Stimme erfüllte die Luft um mich mit einem einzigen Wohllaut. + +»Und Ihr Plan interessiert mich sehr. Ich habe auch gar nicht +abgewartet, bis Sie endlich die Gnade hatten, mich herzubefehlen«, -- er +lächelte ein wenig malitiös, »Sie haben, wie ich höre, Freund Reinhard +den Vortritt gelassen, -- ich habe indessen, ohne zu fragen, den Schritt +getan, von dessen Erfolg Ihre ganze Sache abhängt.« Ich sah fast +erschrocken auf. »Oder sollten Sie wirklich nicht daran gedacht haben, +daß Geld, viel Geld dazu gehört?« Ich nickte lächelnd. »Ich schrieb an +einen unserer ernsthaftesten und reichsten Sozialreformer und schickte +ihm Ihr Programm. Ich zweifle nicht, daß er die Sache in angemessener +Weise finanzieren wird.« + +Ich versuchte, ihm zu danken; es kam vor tiefer innerer Erregung +ungeschickt und hölzern heraus. + +»Lassen Sie doch diese Formalitäten!« sagte er. »Wenn jemand Dank +verdient, so sind Sie es, die den Gedanken hatten. Ich bin bestenfalls +nichts als sein untergeordnetes Werkzeug.« + +Wir sprachen noch lange miteinander. Ich erzählte von allem, was mir +seit den letzten Wochen das Herz bewegte, und Leidenschaft und Haß und +Liebe brachen durch die Dämme, die Einsamkeit und Zurückhaltung um sie +aufgeschichtet hatten. + +»Sie sind wie eine Flamme, die lodernd gen Himmel strebt,« flüsterte er +wie zu sich selbst. + +Als er gegangen war, blieb ich regungslos, die Hände fest +ineinandergekrampft, mitten im Zimmer stehen. War das ein Traum gewesen, +oder hatte er wirklich hier vor mir gestanden?! In diesem selben Zimmer, +wo ich Georg, meinen einzigen Freund, gefunden und verloren hatte?! + +Am nächsten Tag gegen Abend kam er wieder. + +»Ich bin zudringlich, nicht wahr?« lachte er mir entgegen. »Aber Sie +kommen mir vor, wie ein verflogenes Vögelchen, das sich an Scheiben und +Wänden den Kopf stößt und einer Hand bedarf, die es fängt und ins Freie +läßt.« + +»Sie mögen recht haben. Ich bilde mir wohl nur ein, daß ich in Freiheit +flöge, und die anderen Leute waren bisher kurzsichtig genug, mich darin +zu bestärken, wohl gar zu bewundern --« + +Es dämmerte. »Entschuldigen Sie einen Augenblick,« sagte ich und ging +hinaus, um die Lampe zu holen. Als ich wiederkam, fand ich ihn über das +Manuskript eines Artikels gebeugt, den ich eben vollendet hatte. +Ärgerlich wollte ich ihn vom Schreibtisch weg an mich reißen. »Verzeihen +Sie --«, fest drückte er die Hand darauf, -- »das gehört zu meinem +Vogelfang. Wie kommen Sie dazu, dergleichen zu schreiben?!« Ich erschrak +vor dem finsteren Gesicht, das er mir plötzlich zuwandte. »'Londoner +Gefälligkeit'! Haben Sie nichts Besseres zu tun?!« Sein Blick blieb an +der Lampe haften, die ich zitternd auf den Tisch stellte. Seine Stirn +glättete sich, forschend sahen die großen grauen Augen mir ins Gesicht. + + +»Sie müssen sich selbst bedienen? -- Sie öffnen mir immer selbst?! --« + +Ich senkte einen Augenblick lang den Kopf. + +»Wie Sie sehen: ja!« Meine Stimme, die zuerst ein wenig verschleiert +klang, wurde klar und fest. »Ich kann mir ein Dienstmädchen nicht +halten, und ich muß solche Artikel schreiben, weil ich von meiner +Pension nicht leben kann.« + +»Verzeihen Sie, -- aber wie konnte ich ahnen --« Er sah mir tief in die +Augen. + +Wir waren von da an täglich zusammen, sei es, daß er mich zu einem +Spaziergang abholte, sei es, daß wir uns in der Stadt trafen. Mit tiefer +Beglückung empfand ich die zarte Sorgfalt, mit der er mich umgab. Wenn +ich jetzt zu den Eltern kam und der Vater in heller Aufregung über die +Sozialdemokraten schimpfte, -- »lauter Hochverräter, die man hängen +sollte«, -- so hörte ich nur mit halbem Ohre hin, es verletzte mich +nicht; um mich lag es wie ein warmer, kugelfester Mantel, den die +Freundschaft um mich geschlungen hatte. + +Die Freundschaft! -- Ich glaubte an sie, -- ich wollte an sie glauben, +auch wenn die heißen Wellen meines Herzens mich zu überfluten drohten. +»Sie müssen bald einmal mit mir hinauskommen zu meiner Frau und meinen +Buben. Sie ist anders wie Sie, -- ganz anders, aber klug und gut, -- Sie +werden einander verstehen,« hatte er mir einmal gesagt. Es kam aber noch +immer nicht dazu, und ich drängte nicht danach. + +Eines Nachmittags saßen wir zusammen auf dem schmalen Balkon des Kaffee +Klose. In weichem, silbernen Sonnenlicht fluteten unter uns auf der +Leipziger Straße die Menschen auf und nieder. Ein früher Herbstnebel, +zart und duftig wie Feenschleier, spielte um die endlosen Häuserreihen, +und es schien, als dämpfte er selbst das Rasseln der Wagen. + +»Sehen Sie nur, was ich heute bekam,« damit hielt ich ihm einen Brief +entgegen. »Die Wiener Fabier fordern mich zu einem Vortrag auf« -- Er +nickte erfreut, ich sah ihn von der Seite an. »Ich habe keine +Beziehungen in Wien,« fuhr ich nachdenklich fort, »-- sollten Sie auch +hier meine Vorsehung gewesen sein?!« + +»Und wenn dem so wäre?!« + +Ich reichte ihm still die Hand. Ganz sanft, als ob sie sehr zerbrechlich +wäre, nahm er sie in die seine, -- eine zarte Hand mit dichtem Geäder +und nervösen Fingern. + +»Glauben Sie,« fragte er langsam, nach einem Schweigen, das die Nähe +zweier Menschen zueinander verrät, »glauben Sie, daß ein Tag kommen +könnte, an dem unsere Freundschaft uns zwingt, einander 'du' zu sagen?« + +Ein Zittern durchlief meinen Körper. Ich antwortete nicht. Stumm standen +wir auf, stumm fuhren wir zu mir nach Hause. Drinnen im Zimmer sahen wir +uns an, das Herz schlug mir zum Zerspringen, die Finger erstarrten mir +zu Eis. + +»Alix --,« wie ein Hauch kam mein Name über seine Lippen. + +»Du --,« mehr vermochte ich nicht zu sagen. Es dunkelte mir vor den +Augen. Einen Herzschlag lang fühlte ich seinen Mund auf dem meinen, -- +dann schlug die Türe, -- ich war allein. + +Und die Wände schienen um mich zu kreisen, und der Glanz der Abendsonne +wurde zu glühenden Flammen. Wie Gesang lag es in der Luft von lauter +Harfen, -- meines Herzens Jubel hatte sie zum Klingen gebracht. In allen +Weisen der Welt, im Ton süßer Wiegenlieder und stolzer Siegeshymnen sang +und jauchzte es: ich liebe. + + * * * * * + +Wir verkehrten wie früher miteinander. Nur die Augen wagten es hier und +da, eine andere Sprache zu sprechen als der Mund. Ich war mitten im +Packen; schon starrten die lieben Räume mich fremd und öde an, als sein +Weib kam, mich zu besuchen. Entgeistert sah ich sie an, als sie vor mir +stand: sie war hochschwanger. + +Rasch warf ich die Kleider vom Sofa und nötigte sie hinein, ihr +vorsichtig die Kissen in den Rücken legend. Seine Frau! Sein Kind!! -- +Der Gedanke bohrte sich mir ins Gehirn, daß es mir den Kopf zu sprengen +drohte. Nie, -- nie hatte er mir von Liebe gesprochen, dachte ich, +während ich gleichgültig freundliche Phrasen mit ihr wechselte, nur +immer von Freundschaft. Und dieser Frau vor mir mit den großen, breiten +Händen und den stechenden dunklen Augen hatte ich nichts genommen -- +nichts, was ich nicht nehmen durfte. Denn daß ich ihn liebte, was +schadete das ihr?! Und war nicht mein eigenes, großes, wundervolles +Gefühl und seine Freundschaft Glückes genug für mich, die ich gelernt +hatte, auf alles Glück zu verzichten? + +»Wir ziehen im Winter auch in die Stadt,« sagte sie ruhig, »sonst +bekomme ich meinen Mann nicht mehr zu sehen --.« War das eine +Anspielung? Ihr Gesicht blieb unbewegt. »Übrigens sah ich eben im Hause, +wo Sie mieteten, eine Wohnung, die gut für uns passen würde. Das wäre +für alle Teile das beste --, und ich hätte doch auch etwas von Ihnen. +Könnte auch von Ihnen lernen, was mir leider noch an Verständnis für die +Interessen meines Mannes fehlt.« Ich begriff sie nicht; war das echt, +was sie sagte, oder lauerte Bosheit dahinter und Mißtrauen? Feuchtkalt +lag ihre Hand beim Abschied in der meinen. Die Schleppe ihres seidenen +Kleides raschelte hinter ihr her wie eine Schlange. Ich mußte mich ans +Fenster in die Sonne stellen, um wieder warm zu werden, nachdem sie mich +verlassen hatte. + + * * * * * + +»Gute Botschaft bringe ich!« Am frühen Morgen, ich saß noch beim +Frühstück, trat Heinrich Brandt in mein Zimmer, freudestrahlend. »Die +Sache ist entschieden.« Ich griff hastig nach dem Brief, den er brachte +und las. »Nach reiflicher Überlegung habe ich mich dahin entschieden, +das mir vorgelegte Projekt eines Zentralausschusses für Frauenarbeit +insoweit zu unterstützen, als ich zunächst eine Summe von achttausend +Mark jährlich dafür aussetze, die, wenn der Umfang der Arbeiten es +später notwendig macht, entsprechend gesteigert werden kann. Ich hoffe, +Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor, der Sie ja ausdrücklich erklärten, nur +die Rolle eines unbeteiligten Vermittlers zu spielen, nicht zu nahe zu +treten, wenn ich Sie bitte, Frau von Glyzcinski mitzuteilen, daß die +Voraussetzung meiner Unterstützung, von der ich unter keinen Umständen +abweiche, die ist, daß die Leitung der Sache nicht in den Händen von +Sozialdemokraten ruht. Diese meine Forderung entspringt keinerlei +persönlicher Animosität, sondern nur der Erkenntnis, der sich +gegenwärtig kaum jemand verschließen kann, daß die Sozialdemokratie zu +ruhiger Reformarbeit unfähig ist und die maßgebenden Kreise einer von +ihr ausgehenden Bewegung mit Recht ablehnend gegenüberstehen würden.« + +Ich hatte zuerst laut und freudig, dann immer langsamer und leiser +gelesen. »Das nennen Sie eine gute Botschaft?« frug ich kopfschüttelnd. +»Gerade heute sah ich in der Presse, wie alles von rechts und links nach +einer neuen Auflage der Umsturzvorlage schreit. Und gestern erzählte +mein Vater, daß man im Kasino schon die Maßregeln erörtert, durch die +die Sozialdemokraten mundtot gemacht werden sollen --« + +Brandt unterbrach mich: »Nun -- und? Wird Ihre Aufgabe dadurch etwa +überflüssig?« + +»Gewiß nicht. Aber für mein Gewissen kann es eine größere Aufgabe geben: +mich in dem Augenblick der Verfolgung an die Seite derer zu stellen, die +verfolgt werden. Die eigene Überzeugung in die Tasche zu stecken, läßt +sich nur so lange entschuldigen, als es keine Feigheit ist.« + +»Sie haben recht -- wie immer, wenn Ihre erste Empfindung spricht,« er +drückte mir die Hand, fest und kameradschaftlich, »und doch möchte ich +Sie bitten: überlegen Sie ruhig, ehe Sie antworten. Die Ausnahmegesetze +sind bisher nichts als Wünsche und Drohungen, und das klägliche Ende der +Umsturzvorlage dürfte kaum zu einer Wiederholung reizen.« -- -- + +»... Hängt am Tage von St. Sedan Trauerfahnen aus, erhebt feierlichen +Protest gegen den Massenmord und ehrt diejenigen, die zum Kriege hetzen, +wie es ihnen gebührt: steckt sie als Verbrecher ins Zuchthaus.« Mein +Vater hatte mir einen Zeitungsausschnitt geschickt, der diesen Satz aus +der sozialdemokratischen Breslauer 'Volkswacht' zitierte. Roh und +häßlich, unwürdig vor allem war er. Die geistigen Waffen, die wir +führen, sollten blanker und damit auch schärfer sein, dachte ich. + +Wenige Tage später veröffentlichten die bürgerlichen Zeitungen in +Riesenlettern den Trinkspruch, den der Kaiser am Sedantag ausgebracht +hatte: + +»... In die große hohe Festesfreude schlägt ein Ton hinein, der wahrlich +nicht dazu gehört; eine Rotte von Menschen, nicht wert, den Namen +Deutsche zu tragen, wagt es, das deutsche Volk zu schmähen; wagt es, die +uns geheiligte Person des allverehrten verewigten Kaisers in den Staub +zu ziehen. Möge das gesamte Volk in sich die Kraft finden, diese +unerhörten Angriffe zurückzuweisen. Geschieht es nicht, nun, dann rufe +ich Sie, um der hochverräterischen Schar zu wehren, um einen Kampf zu +führen, der uns von solchen Elementen befreit.« + +Wortlos reichte ich Brandt das Blatt, als er kam. »Was haben Sie +beschlossen?« + +»Die Rotte von Menschen sind meine Brüder und Schwestern. -- Ich lehne +ab.« + + + + +Drittes Kapitel + + +Ich stand in Wien auf der Rednertribüne des Ronachersaals und verneigte +mich noch einmal vor dem applaudierenden Publikum. Ich wußte: ich hatte +nicht gesprochen wie sonst. Schon als der Vorsitzende mich an den +dichtgedrängten Reihen vorbeigeführt hatte, an den eleganten, graziösen +Frauen, deren Toiletten nicht wie die der Berlinerin dazu da zu sein +schienen, die Trägerin unter der Last des Glanzes vergessen zu machen, +sondern ihre Individualität betonten, ihre Reize unterstrichen, an den +jungen und alten Herren im Frack und Smoking mit den geschmeidigen +Gestalten und dem süffisanten Lächeln des Weltmanns, war mir der +Kontrast zwischen dem kühlen Ernst meines Vortrags und dieser Umgebung +zum Bewußtsein gekommen. Dann war ein Wogen von bunten Hüten, ein +Knistern von seidenen Kleidern, ein Funkeln von Brillanten unter mir +gewesen. Operngläser aus Silber und Perlmutter hatten sich auf mich +gerichtet, und um das mattschimmernde Rokokoornament an den Decken und +Wänden des reizenden Konzertsaales hatte ein feiner, zarter Nebel +geschwebt, gewoben aus Zigarettenrauch und Parfüm. + +Ich stieg die Stufen hinab. Man klatschte noch immer. Ich mußte wohl so +etwas wie eine neue Sensation gewesen sein, wie sie in Gestalt von +Sängern, Taschenspielern und Diseusen auf dieser Tribüne gewöhnlich zu +erscheinen pflegte. + +»Ich gratuliere Ihnen --,« sagte eine dunkle Stimme neben mir. Nur ein +Mann in der Welt hatte solche Stimme! Es war Brandt. Und als meine Hand +in der seinen lag, war mir, als stünde ich allein mit ihm hoch auf einer +Felseninsel und in der Ferne nur brandete das Meer der Welt. + +»Sie in Wien, -- meinem geliebten Wien, und ich nicht neben Ihnen, -- es +kam mir absurd vor,« hörte ich ihn leise sagen. Aber schon sah ich den +Kreis, der sich um uns gebildet hatte: Menschen, die warteten, mich +begrüßen zu können, mir vorgestellt zu werden, der Vorstand der Fabier, +der mich zum Essen geladen hatte. Ich gewann meine Fassung wieder, und +während mein Herz hoch aufschlug vor Freude, hatte ich das Bedürfnis, +gegen alle, die sich mir näherten, doppelt und dreifach freundlich zu +sein. + +In einem halbdunkeln verräucherten Kaffee spät am Abend trafen wir uns +wieder. Brandt erwartete mich mit Dr. Geier, seinem Schwager, dem Führer +der österreichischen Sozialdemokratie, und einem Kreis von +Parteigenossen, die mitten in einer Debatte jäh verstummten, als ich +eintrat. Sie hatten sich offenbar gezankt, was ich mit der ganzen +Empfindlichkeit der Frohgelaunten sofort empfand. Man stand auf, man +begrüßte mich, aber meine Anwesenheit wirkte sichtlich störend. Eine +kleine brünette Frau mit glänzenden braunen Augen fühlte das Peinliche +der Situation und zog mich auf einen Stuhl neben sich. + +»Ich bin Adelheid Popp,« sagte sie einfach, »ich habe mich so an Ihrem +Vortrag gefreut und wünschte nur, unsere Arbeiterinnen hätten ihn hören +können.« »Das hätte ich auch gewünscht, -- er wäre dann besser gewesen,« +antwortete ich. Ihre Augen lachten mich an. »Wissen Sie was?!« rief sie +lebhaft. »Wiederholen Sie ihn in einer Volksversammlung!« Mit freudiger +Zustimmung schlug ich in die dargebotene kleine, warme Hand. »Aber +garantieren kann ich nicht, daß es derselbe Vortrag wird!« Wir +vertieften uns in ein Gespräch, und ich erfuhr, daß diese zierliche Frau +eine arme Arbeiterin gewesen war, von dem Augenblick an aber, wo sie der +Sozialismus gewonnen hatte, zu einer begeisterten Vorkämpferin der +Arbeiterbewegung sich entwickelt habe. Ganz anders war sie wie unsere +deutschen Frauen: heiter und gutmütig, ohne eine Spur jener steifen +Zurückhaltung, die daheim all meinem Entgegenkommen zu spotten schien. +»Sie sollen mal schauen, was in Wien eine Volksversammlung heißt!« + +Das Gespräch der anderen hatte indessen da wieder angeknüpft, wo ich den +Faden zerrissen hatte. Ich hörte zu. + +»Ist es nicht unerhört für einen praktischen Politiker, sich auf Seite +der breslauer Hundertachtundfünfzig zu stellen und einen blutleeren +Theoretiker wie Kautsky zu verteidigen?!« rief Brandt, während die +dunkeln Brauen sich ihm eng zusammenzogen und die Augen dem Gegner +zornig entgegenblitzten. + +»Bist du vielleicht in deiner gegenteiligen Stellung zur Agrarfrage +weniger Theoretiker als er?!« spöttelte Geier. »Die Güter, auf denen du +dir die Sporen des Praktikus verdient hast, liegen doch auf dem Monde!« +Mit einer entschuldigenden Gebärde wandte er sich mir zu. »Verzeihen +Sie, wenn wir uns auch in Ihrer Gegenwart noch mit so uninteressanten +Dingen beschäftigen --« + +»Sie brauchen sich vor mir nicht zu entschuldigen,« antwortete ich, +»mich haben die Verhandlungen des breslauer Parteitags lebhaft +interessiert, und da ich leider bis heute noch nicht weiß, auf welcher +Seite ich stehe, so höre ich Debatten wie den Ihren besonders gerne zu.« + +Und nun wogte der Streit wieder hin und her. Brandt verteidigte die von +der Mehrheit des breslauer Parteitages abgelehnten Vorschläge der +Agrarkommission, als »notwendige Forderungen der Gegenwartspolitik«, als +ein erfreuliches Zeichen für die wachsende Erkenntnis, daß eine Partei +von der Größe der deutschen Sozialdemokratie die Interessen weiterer +Volkskreise vertreten müsse, als nur die der Industriearbeiter. +»Übrigens, was zanken wir uns, lieber Viktor?« meinte er schließlich und +warf mit einer hochmütigen Geste den Kopf zurück. »Du wärst der Erste, +die Vorschläge nicht nur zu akzeptieren, sondern selbst zu machen und +gegen alle Welt zu verteidigen, oder -- wie Schönlank treffend sagte -- +eine Revision der Vorstellungsweise in der Partei herbeizuführen, wenn +du in die Lage versetzt würdest, Landagitation treiben zu müssen.« + +Geier hieb wütend auf den Tisch, daß die Tassen klirrten und der +Kellner, der verschlafen an einer Säule lehnte, erschrocken die Augen +aufriß und dienstfertig die Serviette schwenkte. »Da liegt doch gerade +der Hase im Pfeffer: ich bin eben nicht in der Lage und Ihr, trotz +Eurer anderthalb Millionen Stimmen auch nicht! Konzentriert doch Eure +Werbekraft auf die Millionen Lohnarbeiter, die Euch noch fehlen, und +laßt Eure Enkel sich über die höhere Bauernfängerei den Kopf zerbrechen! +Was du praktisch nennst, ist eben unpraktisch im höchsten Grade. Das +Aufrollen dieser schwierigen und gänzlich unaufgeklärten Fragen, -- ob +die Konzentration des Kapitals in der Landwirtschaft sich nach denselben +Gesetzen vollzieht wie in Industrie und Handel oder nicht, ob wir daher +mit der Proletarisierung der Bauern oder mit der Vermehrung der +ländlichen Kleinbetriebe zu rechnen haben werden, -- all das noch dazu +auf einem seiner ganzen Zusammensetzung nach inkompetenten Parteitag, +ist nur geeignet, die Parteigenossen zu verwirren. Über theoretischem +Gezänk, das Ihr Reichsdeutsche so liebt, wird ein gut Teil praktischer +Arbeit zum Teufel gehen --« + +»Und glaubst du etwa, die Annahme der lendenlahmen Resolution Kautsky, +die die Agrarfrage doch nicht aus der Welt schafft, sondern ihre Lösung +nur auf die lange Bank schiebt, wird dies Gezänk verhindern? Im +Gegenteil! Die Bebel und Schönlank und David werden sich nicht mundtot +machen lassen,« entgegnete Brandt. + +Geier schüttelte ärgerlich den großen Kopf mit den wirren blonden +Haaren. »Bebel wird sich dem Beschluß des Parteitages fügen; -- die +anderen freilich, geborene Krakehler, getrieben durch den eigentlichen +geheimen Generalstabschef des ganzen Feldzuges, Vollmar, werden die +Parteidisziplin ihrer Rechthaberei opfern.« + +Die Diskussion der leidenschaftlichen Männer fing an, mich zu +beunruhigen, -- nicht ihrem Inhalt, wohl aber ihrer Form nach. Ich hatte +Brandt noch nie so erregt gesehen, und etwas wie Furcht befiel mich. +Kurz entschlossen erhob ich mich. + +»Verzeihen Sie, wenn mein Weggehen Sie stört wie mein Kommen, aber ich +bin sehr müde.« Alles brach auf, sichtlich erleichtert. Kalter Regen, +mit kleinen spitzen Schneeflocken gemischt, schlug uns ins Gesicht, als +wir heraustraten. Menschenleer war's in den engen Gassen. Ist das +wirklich Wien, die Kaiserstadt? dachte ich fröstelnd. Geier und Brandt +begleiteten mich; wir verabredeten allerhand für den nächsten Tag. Ich +erzählte von den verschiedenen Einladungen, die ich bekommen hatte. + +»Zu den Protzen werden Sie doch nicht gehen, die nur Staat mit Ihnen +machen wollen?!« Brandts Stimme klang grollend, wie ferner Donner, und +sein Blick ruhte beinahe drohend auf mir. Und doch erschrak ich nicht; +es lag im Ton etwas, das mir das Blut in Wallung brachte, etwas, das +klang, wie ein Besitzergreifen. »Bist du Frau von Glyzinskis Vormund?« +brummte Geier. + +»Verzeihen Sie mir meine Heftigkeit --,« flüsterte Brandt, und im +raschen Wechsel seines Mienenspiels hatte seine Stirn sich wieder +geglättet, war sein Auge wieder klar geworden. Ich senkte stumm den +Kopf. + +Zögernd, als fesselten sie magnetische Kräfte, glitten unsere Hände +auseinander. Er betrat mit mir das Hotel. »Du -- wohnst auch hier?!« +sagte Geier überrascht. + +Ich schlief nicht in dieser Nacht. Es lag schwer und dumpf auf mir, und +ich wollte -- wollte nicht denken. + +Wir fuhren am nächsten Morgen zusammen nach Schönbrunn. + +Alle Einladungen hatte ich abgelehnt. + +Graue Spätherbststimmung beherrschte die Natur. Die letzten Blätter +rieselten von den Bäumen, ohne daß ein Windhauch sich regte. + +Im freien Walde sind selbst die dunkeln Tage schön: des Laubes beraubt, +reckt sich nackt und kraftvoll das starke schwarze Geäst gen Himmel, ein +wundervoller Teppich vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Rot in halb +verblichenen weichen Farben spielend, breitet sich unter ihm aus. Aber +die Gärten, die des Menschen Kunst gestaltet, starren uns an wie der +Tod. Sie leben nur, wenn im Rasenteppich die bunten Beete blühen, wenn +das Laub der geschnittenen Hecken und der Kugelbäume die armen krummen, +um ihr natürliches Wachstum betrogenen Ästchen dicht umkleidet, wenn von +den Terrassen herunter, aus den Tritonenbecken empor das Wasser rauscht +und springt, und die Sonne sich lachend in den Scheiben der +Schloßfenster spiegelt. Dann spielen, wie große Schmetterlinge, Kinder +in hellen Kleidern auf den breiten gelben Kieswegen, sodaß der Garten +voll Freude sogar der schönen Damen in Reifrock und Puderperücke +vergißt, die einst mit dem graziösen Geschwätz ihrer roten Lippen und +dem lustigen Klappern ihrer Stöckelschuhe seine Gänge belebten. + +Heute waren wir allein, zwei graue Gestalten, zwischen blätterlosen +Laubengängen und schlafenden Fontänen. + +»Sie sind so blaß,« sagte Brandt, »der Heimweg gestern im Schnee hat +Ihnen geschadet --.« Ich schüttelte den Kopf. »Meine Roheit hat Sie +verletzt?« Ich sah zu ihm auf, aber das Lächeln, das ich ihm zeigen +wollte, erstarb mir auf den Lippen. So müde, so traurig war sein Blick. +In dem meinen blieb er hangen. Es war wie ein Abschiednehmen. + +»Ich habe es mir überlegt, stunden-, nächtelang,« kam es tonlos über +seine Lippen, »ich muß fort von Berlin -- mit meiner Fr ... --,« er +stockte, »mit Rosalie --,« verbesserte er sich hastig, »bis -- bis die +Entbindung vorüber ist. Es ist besser, -- besser für uns alle.« + +»Ja,« sagte ich, die Kehle schnürte sich mir zusammen. + +Dann gingen wir. Wo waren wir doch nur noch an diesem Tage? Ich entsinne +mich nicht. Meine Augen nahmen Bilder auf, von denen meine Seele nichts +wußte. + +Später trafen wir wieder irgendwo in einem Kaffee mit Geier zusammen. Es +kamen noch allerlei Menschen, die ich an meinem Vortragsabend gesehen +hatte, sie gingen mit kühlem Gruß und vieldeutigem Lächeln an uns +vorüber. + +»Du siehst,« hörte ich Geier leise sagen, während er mich in die Zeitung +vertieft glaubte, »zum mindesten hättest du nicht im selben Hotel mit +ihr wohnen dürfen.« Brandt fuhr auf. Flehend sah ich zu ihm hinüber. Er +schwieg. Die Kellner brachten die Abendblätter. »Na, da haben wir's ja,« +rief Geier, nachdem er sie rasch überflogen hatte, und stürzte mit einem +kurzen Gruß davon in seine Redaktion. + +Ich las. »Aus Berlin wird uns soeben mitgeteilt: Nachdem seit einiger +Zeit die politische Polizei eine fieberhafte Tätigkeit entwickelte und +Haussuchungen umfassender Art bei fast allen bekannten Mitgliedern der +sozialdemokratischen Partei stattfanden, bringt der Reichs- und +Staatsanzeiger heute folgende Bekanntmachung: 'Es wird hiermit zur +öffentlichen Kenntnis gebracht, daß nachstehende Vereine: die sechs +sozialdemokratischen Wahlvereine, die Preßkommission, die +Agitationskommission, die Lokalkommission, der Verein öffentlicher +Vertrauensmänner, der Parteivorstand der sozialdemokratischen Partei +Deutschlands auf Grund des §8 des Versammlungs- und Vereinsrechts +vorläufig geschlossen sind.'« + + * * * * * + +Kurz vor der Volksversammlung, in der ich sprechen sollte, besuchte ich +Geier in seiner Redaktion, engen, halbdunklen Räumen im Souterrain eines +alten Hauses. Von fast undurchdringlichem Tabaksqualm war sein Zimmer +gefüllt, das den merkwürdigen Mann, der grundhäßlich war und hinreißend +schön sein konnte, der stotterte und doch der glänzendste Redner war, +phantastisch umwogte. »Ich habe nur eine kurze Frage an Sie,« sagte ich, +-- nichts war ihm widerwärtiger, wie überflüssiges Weibergeschwätz, -- +»ich möchte in die Partei eintreten, -- was halten Sie davon?« + +Er sah mich prüfend an, von oben bis unten, strich sich mit der feinen +Hand den wirren rotblonden Schnurrbart und zuckte die Achseln. »Bleiben +Sie draußen,« antwortete er schroff, »eine Krokodilshaut gehört dazu, -- +ich zweifle, daß Sie die haben --« + +»Und wenn ich Sie hätte?!« + +»Dann, -- ja dann tragen Sie wie wir Ihre Knochen auf den Markt der +Partei --.« Er reichte mir mit kurzem Kopfnicken die Hand, -- ich war +entlassen. + + * * * * * + +Und wieder stand ich auf der Rednertribüne, vor mir ein großer Saal, +nüchtern wie eine Scheune, von flackernden Gasflammen erhellt. Von +rechts und links strömten die Menschen herein: junge und alte Frauen in +Kopftüchern und Schürzen, die verfrorenen roten Hände andächtig +gefaltet, Männer in Arbeitsblusen, tiefen Ernst auf den durchfurchten +Gesichtern. Sie richteten alle die Augen auf mich, staunend, fragend, +erwartungsvoll. Kopf an Kopf drängten sie sich um die schmale, niedrige +Stufe, die mich über sie emporhob. Sie kauerten zu meinen Füßen, eng +aneinandergeschmiegt: ein kleines Fabrikmädchen mit zerzaustem +Blondhaar, ein junger Mann mit den klassischen Römerzügen des +Südtirolers, ein altes Mütterchen, die welke Hand horchend hinter das +Ohr gelegt. Und mir war, als wölbe sich der niedrige Saal zum Dom; als +träten die Abgesandten der Menschheit durch seine hohen weitgeöffneten +Pforten. Tiefe, demütige Andacht erfüllte mich. Die Welt, die draußen +war, versank. Denen, die mich umringten, gehörte von dieser Minute an +meine Kraft und meine Hoffnung. Daß ich mich ihnen gab: meinen Arm den +Schwachen, meine Beredsamkeit den Stummen, meinen an Gipfelwanderungen +gewohnten Fuß den Lahmen, und den Blinden mein Auge, das die Befreiung +sah, -- das war dieser Stunde stilles Gelöbnis. + +»Genossen und Genossinnen --« Hell und scharf, wie ein Schlachtruf, +klang meine eigene Stimme mir ins Ohr. Der Jubel der Menge umbrauste +mich, während ich weiter sprach. Das blasse Gesicht des kleinen +Fabrikmädchens vor mir fing an zu glühen, dem alten Mütterchen rollten +die Tränen über die welke Wange und die klassischen Römerzüge des +Tirolers strafften sich in eiserner Energie. + +Als ich geendet hatte, war es sekundenlang still, -- dann eine +Beifallssalve, zahllose Händedrücke von schwieligen Fäusten, und lauter +und lauter anschwellend der Kriegsgesang der Arbeitermarseillaise. In +ihrem Takt schob sich die Menge hinaus, auf der Straße klang sie fort, +zog mit den Wandernden rechts und links in die nachtstillen Gassen, und +auf dem ganzen Heimweg verfolgte mich ihre Melodie: aufreizend, +siegesbewußt. + + * * * * * + +Einen Tag später als Brandt kam ich nach Berlin zurück. Er empfing mich +am Bahnhof, bleicher, übernächtiger als je. Wir fuhren zusammen nach der +Kleiststraße, wo wir nun schon zwei Monate wohnten, er mit seiner +Familie im Vorderhaus, ich im Gartenhaus, in den zwei kleinen Stübchen. +Wir konnten einander an der Mauer mit der Schweizer Landschaft vorbei in +die Fenster sehen. Oft, wenn er bei mir gewesen war, tauchte hinter den +weißen Vorhängen drüben ein Schatten auf, der mit gespenstischer +Schnelle sein Gesicht zu verdunkeln schien. Dann erhob er sich, sah mich +kaum an und verließ das Zimmer. + +»Rosalie will nicht reisen, mit mir nicht,« erzählte er während der +Fahrt. »Sie behauptet, meine Nähe steigere nur ihr Übelbefinden, deshalb +habe sie sich entschlossen, allein zu gehen und zwar -- nach England.« + +»Nach England?« fragte ich erstaunt. »In dieser Jahreszeit?! Hat sie +Freunde dort?« + +»Niemanden! -- Die fixe Idee einer Schwangeren, sagt der Arzt.« + +Ich schwieg, auf das tiefste betroffen. Mir, dem Weibe, schien +sonnenklar, was ihre Beweggründe waren. Das Recht der Abwesenden wollte +sie zur Geltung bringen, und ein instinktives Gefühl trieb sie nach +England --, woher ich gekommen war, wo ich, wie sie meinte, mir an +Kenntnissen und Interessen erworben hatte, was ihren Mann an mich +fesselte. + +Der Wagen hielt. »Ich komme gegen Abend hinüber,« sagte ich und +verabschiedete mich hastig vor der Haustür. Ich mußte allein sein. Meine +Zimmer fand ich mit Blumen geschmückt, wie zu einem Fest. »Der Herr +Doktor --,« sagte die Aufwärterin mit süßlichem Lächeln und einem +vertraulichen Blick. + +»Schon gut --,« unterbrach ich sie hastig und warf die Türe hinter mir +ins Schloß. + +Was nun?! Sie durfte nicht fort. Wirklich nicht?! Ein kalter Schauer +lief mir über den Rücken. War es Furcht? Oder nicht vielmehr Freude -- +Freude, die wie ein orkangepeitschtes Meer alle Dämme überflutete, alles +Denken begrub?! Allein -- allein mit ihm -- tage-, wochen-, monatelang! +Ein ganzes Leben der Entsagung war kein zu teurer Preis dafür! Wenn sie +wiederkam, würde ich gehen, -- aus seinem Gesichtskreis still +verschwinden, -- und zu ihr würde er zurückkehren, -- zu ihr -- und dem +Kinde ... + +Es klopfte. »Frau Dr. Brandt läßt gnädige Frau zum Abendbrot bitten --« +»Ich komme --« + +Wir saßen um den gedeckten Tisch: Brandt schweigsam, mit gerunzelten +Brauen, die beiden kleinen Knaben -- seine Söhne aus seiner ersten Ehe +-- verschüchtert und ängstlich von einem zum anderen blickend, ich, eine +Unterhaltung mühsam aufrecht erhaltend; sie allein schien lustig, fast +übermütig, ihre Augen flimmerten, ihre großen weißen Hände, die mir +immer vorkamen, als hätten sie ein eigenes Leben, als wären sie junge +Raubtiere, -- bewegten sich ruhelos, streichend, klopfend, sich dehnend, +um sich gleich wieder zur Faust zu ballen, auf dem Tisch. Das Mädchen +kam und brachte einen Eiskübel mit einer Flasche Champagner. Brandt sah +mißbilligend auf seine Frau. »Wie kannst du, Rosalie, -- in deinem +Zustand!« + +Sie lachte. + +»Nur heute, -- wo wir ein Fest miteinander feiern und ihr dasitzt wie +Ölgötzen und nicht lustig seid, -- lustig wie ich! -- Trinkt, Kinder, +trinkt, so ein Abend kommt nicht so leicht wieder!« Sie stürzte das +erste Glas in einem Zug hinunter. Und dann sprach sie unaufhörlich, +fieberhaft. Von der Reise, die sie machen werde, von den Herrlichkeiten, +die sie dafür schon eingekauft habe -- »drei seidene Kleider und Hüte +dazu, und einen Rohrplattenkoffer für zweihundert Mark, -- mach' keine +entsetzten Augen, Heinrich; ich weiß ja, du bezahlst es gern, -- so +gern!« --, von ihren Träumen. »Ich sehe immer denselben Mann, der mir +winkt, zu dem ich hin muß,« -- ihre Stimme sank und ihre Augen weiteten +sich, daß das Weiße unheimlich groß um die dunklen Pupillen stand -- +»und der mir helfen wird.« + +»Trinken Sie nicht mehr --,« bat ich erschüttert und legte meine Hand +auf die ihre, die eiskalt war. Sie schüttelte sie ab wie eine lästige +Fliege. + +»Sie glauben, ich spräche im Rausch?!« sagte sie. »Sie irren. Ich bin +nüchtern, ganz nüchtern, -- ich weiß nur mehr als Sie, viel mehr, und -- +und ich glaube an Träume!« + +»Bist du denn nicht eifersüchtig auf deinen Rivalen, zu dem ich reise?« +Damit wandte sie sich mit einem lauernden Blick aus halb geschlossenen +Augen an ihren Mann. + +»Rosalie!« stöhnte er gequält. Rasch stand ich auf. Ich konnte die +Blicke der Kinder nicht mehr ertragen. + +»Es ist schon zu spät für euch,« redete ich sie an und griff nach ihren +Händen, »kommt, -- ich bring' euch zu Bett.« Sie lachten dankbar. + +»Ach, Tante, bring uns doch immer zu Bett!« flüsterte der Älteste, als +er in den Kissen lag, und seine melancholischen Zigeuneraugen sahen mich +flehend an. »Und morgen, bitte, bitte, erzähl uns eine Geschichte,« +fügte der Jüngste hinzu und richtete sich im Bett noch einmal auf. + +Indessen war es im Wohnzimmer zu einer heftigen Szene gekommen. Rosalie +lag schluchzend auf dem Diwan. »Er will mich nicht reisen lassen, er +will mich umbringen, -- mich und das Kind,« schrie sie. »So mäßige dich +doch, um Gottes willen!« beschwor sie Brandt mit einem Blick auf die +Glastür, hinter der sich der Schatten des Mädchens hin und her bewegte. +Sie achtete nicht auf ihn, ihre Stimme wurde nur noch lauter und +heftiger. »Ich halte es nicht mehr aus, -- ich mag deine Bevormundung +nicht, und deine schlechte Laune. Ich laufe davon --« Und ihr Schluchzen +wurde zum Weinkrampf. + +Der Arzt wurde geholt. »Sie müssen ihrem Willen nachgeben, wenn Sie +nicht das schlimmste riskieren wollen,« entschied er schließlich. +»Natürlich darf sie nicht ohne Pflegerin reisen, -- ich kann Ihnen eine +empfehlen, auch eine gute deutsche Pension in London.« + +Schon am nächsten Morgen kam Rosalie zu mir, um Abschied zu nehmen. Sie +war völlig verwandelt, weich, freundlich, ruhig. Es war fast ein +strahlendes Lächeln, mit dem sie mir im Weggehen sagte: »Nun weiß ich +gewiß: Alles -- Alles wird gut werden.« + +Wie unter dem Zwang einer stillschweigenden Verabredung sahen Brandt und +ich uns in der nächsten Zeit selten und nie allein. Ich aß drüben bei +ihm mit den Kindern, nahm sie mit bei meinen Ausgängen und sorgte für +sie, soviel mir an Zeit dafür übrig blieb. Mit wehmütiger Freude sah +ich, wie sie täglich mehr an mir hingen und mit all ihren kleinen +Wünschen und Kümmernissen zu mir kamen. Weihnachten stand vor der Tür. +»Einen richtigen Weihnachtsbaum machst du uns, Tante, nicht wahr?« +bettelte Wölfchen, der Jüngste. »Im vorigen Jahr war er man soo klein.« +»Ich möchte am liebsten zur Mutter fahren, -- wie ganz früher,« meinte +Hans, der Älteste, und seine Augen schimmerten feucht. »Zur Mutter --?!« +staunte ich. + +»Nun ja, du weißt doch, unsere richtige Mutter wohnt weit, weit weg in +Wien,« plauderte Wolf; »sie ist immer krank. Aber im Sommer, da dürfen +wir sie besuchen, wenn sie in Schruns ist oder in Klobenstein --« »Die +Rosalie ist gar nicht mit uns verwandt, aber auch gar nicht,« unterbrach +ihn Hans eifrig, und mit einem fragenden Blick auf mich fuhr er zögernd +fort: »Unsere Marie sagt, sie kommt nicht wieder und -- und du bleibst +bei uns?!« + +Ich blieb ihm die Antwort schuldig. Jäher Schreck lähmte mir die Zunge. +Ich hatte Brandt nach seiner ersten Frau nie gefragt, hatte geglaubt, +sie sei früh gestorben. Welche Schicksale lasteten auf dem Mann, den ich +liebte -- täglich verzehrender, sehnsüchtiger --, und rissen die jungen +Seelen dieser Kinder in ihren Wirbeltanz?! + +Zärtlich zog ich die Knaben in meine Arme: »Seid brav, recht brav, daß +der Vater sich an euch freut, dann sollt ihr einen Weihnachtsbaum haben +wie noch nie!« + +Mit glühendem Eifer, der mich alles andere vergeben ließ, bereitete ich +das schönste Fest des Jahres vor. Freude wollte ich um mich verbreiten, +lauter überschwengliche Freude. Mit dem Geld, das ich mir von Brandt für +seine Kinder erbat, und das er mir verwundert gab -- er hatte an +Weihnachten gar nicht gedacht --, und den Goldstücken, die mir ein paar +Artikel eben eingetragen hatten, kaufte ich einen ganzen Jahrmarkt voll +Spielzeug; und Pfefferkuchen und Marzipan und Schokolade, dazu Schürzen, +Bänder, und ein himmelblaues Kleid für das Dienstmädchen, das mich mit +ihren kleinen blanken Augen immer so lustig anlachte. Am Morgen des +Weihnachtstages schloß ich mich im Eßzimmer ein und putzte die große +duftende Edeltanne mit lauter blitzendem Kram, mit roten Rosen und +bunten Lichtern. Leuchten sollte sie wie das lebendig gewordene Glück. +Vielleicht wird sie ihm ein einziges frohes Lächeln entlocken! dachte +ich. + +Nachmittags mußte ich zuerst zu den Eltern. Es wurde früh beschert, weil +alle Familienmitglieder bei Onkel Walters geladen waren. Im Salon stand +wie immer der Baum: farblos, schneeweiß, sehr kühl, sehr vornehm. Und +davor unsere Tische, beladen mit Geschenken. Der Vater hatte sich einmal +wieder nicht genug tun können. Er war in letzter Zeit für mich von einer +Güte, die mir wehe tat, weil ich wußte, daß sie nur einer Täuschung ihr +Dasein verdankte. Meine wiener Volksversammlungsrede hatte die deutsche +Presse ignoriert, auch sonst mußte es ihm scheinen, als zöge ich mich +mehr und mehr zurück. Was ich für die Tagespresse schrieb, -- ich fing +damals an, auch am »Vorwärts« gelegentlich mitzuarbeiten --, erschien +ohne meine Unterschrift; die wesentlich literarisch-kritischen Artikel +in den Wochenblättern hatten meist seinen Beifall. »Ich wollte dir +handgreiflich zeigen, wie zufrieden ich mit dir bin«, -- damit +entschuldigte er gleichsam die Fülle der Gaben. Daß ich das weiße Kleid +und den Spitzenschal und die seidenen Strümpfe und zierlichen Schuhe mit +solcher Freude empfing, weil ich allein dessen gedachte, für den sie +mich schmücken sollten, -- er ahnte es nicht! Nur die Mutter hatte schon +hie und da mißtrauisch nach Brandts Gattin gefragt, wenn sie ihn allein +bei mir traf, und zuweilen war uns die Schwester begegnet und hatte uns +mit vielsagendem Lächeln begrüßt. + +Der Vater wollte mich durchaus nicht heimgehen lassen, wollte bei Onkel +Walters absagen: »Wenn sie meine Tochter nicht haben wollen, so mögen +sie auch auf mich verzichten.« Es kostete Mühe, ihn umzustimmen. + +»Ich bin ja nicht allein«, sagte ich schließlich -- sehnsüchtig dachte +ich an die erwartungsvollen Knabengesichter, an den stillen Abend mit +ihm --, »ich muß noch zur Bescherung im Kinderheim«, dabei wandte ich +den Kopf dunkel erglühend zur Seite. + +Endlich konnt' ich gehen. Und mein bunter, lustiger Weihnachtsbaum +funkelte und sprühte, ein Fanal der Freude, ein Sonnwendfeuer, ein Gruß +an das steigende Licht. Der Jubel der Kinder klang durch die Räume. »Du +-- du Zauberin,« flüsterte eine tiefe Stimme mir ins Ohr. + +Still und feierlich, in ihr weiches glitzerndes Schneekleid gehüllt, +erwachte die Erde am nächsten Morgen. Der Arbeitslärm des Alltags war +verstummt, und Räderrollen und Menschenschritte klangen gedämpft auf dem +Winterteppich. Es war Feiertag. + +Und im Festgewand stand ich und wartete dessen, der kommen mußte. + +Mein Herzblut, das ich bereit war, restlos für ihn zu vergießen, hatte +es mit roten Rubinen bestickt, Schnüre, an denen die Tränen meiner +Sehnsucht schimmernd gereiht waren, schmückten mir den Nacken, mit +Smaragden der Hoffnung waren die seidenen Schuhe besetzt an meinen +Füßen, die ihm entgegengingen, und auf meinen Armen, die ihn umfassen +wollten, funkelten, alle Farben und allen Glanz der Welt in sich +vereinend, die Diamanten meiner Leidenschaft. Und er kam, er sah mich, +-- und die armen kleinen Liebesworte schämten sich ihrer millionenfachen +Entweihung und verstummten. + +Nicht wie die Tage, die wie Kugeln am Zählbrett gleichgültig rechnend +weiter geschoben werden, waren die jenes sonnendurchleuchteten Winters. +Die Nacht gebar einen jeden als Wesen göttlicher Art, ewigen Lebens +voll. Hoch über die Erde trugen sie uns auf starken Flügeln, und mochte +drunten riesenhaft die schwarze Gestalt der Schuld die Arme drohend +gegen uns recken, -- wir sahen sie nicht. -- Bis einer kam, der häßlich +war und neidisch, und mit Faustschlägen an der Türe uns weckte aus +unserem erdenfernen Liebestraum. + +Wir kehrten vom Wannsee zurück, wo wir unter blauem Himmel auf +spiegelglattem Eis gemeinsam unsere Kreise gezogen hatten. Mit +ängstlichem Gesicht hielt die gute Marie uns einen Brief entgegen. +»Rohrpost -- und Rosaliens Schrift --« Heinrichs Gesicht entfärbte sich. +»Ich bin in Berlin und ersuche dich, mich vom Hotel aus abzuholen. Unser +Kind soll im Vaterhause geboren werden,« schrieb sie. Noch am Abend traf +sie ein. Ich sah ihren dunklen Schatten hinter den Vorhängen. Ich wußte, +was er mir bedeutete: kein Verzichten nach kurzem gestohlenem Glück, wie +ich es einst geglaubt hatte, sondern Kampf um den Einsatz des ganzen +Lebens. Mit dem Recht der Liebe gehörte Heinrich mir. Alles andere +»Recht« ist nur verschleiertes Unrecht. + +Sie verlangte meinen Besuch. Ich fand sie im Bett liegend, vollkommen +ruhig, während die Pflegerin damit beschäftigt war, das Zimmer +umzuräumen. »In vierzehn Tagen etwa erwarte ich,« sagte sie nach +gemessener Begrüßung, »Heinrich ist natürlich sehr unglücklich, daß ich +ihn jetzt schon ausquartiere,« mit spöttischem Lächeln sah sie zwischen +uns hin und her. Ich verabschiedete mich so rasch als möglich und nahm +mir vor, diese Komödie freundschaftlicher Besuche nicht weiter zu +spielen. + +Daß es jetzt für mich an der Zeit gewesen wäre, zu gehen, fern von +Berlin in aller Stille die Entwicklung der Dinge abzuwarten, -- das +fühlte ich instinktiv. Aber die Leidenschaft, die mich beherrschte, +machte mich taub für die leisen Stimmen meines Inneren. Ich konnte ja +gar nicht fort, beruhigte ich mein Gewissen, ich hatte kaum die Mittel, +um zu leben, wie viel weniger, um zu reisen, -- ich war gerade jetzt +unentbehrlich in Berlin, wo der Konfektionsarbeiterstreik täglich +ausbrechen konnte. + +Es kamen auch viele einsame Stunden, wo meine Phantasie böse Träume +spann: Ich sah ein winziges Kinderhändchen von unheimlicher Kraft, das +mir den Geliebten entreißen wollte. Nein: ich konnte nicht fort! + +Er besuchte mich seit Rosaliens Rückkehr nur selten. Sie hatte ihr Bett +und ihren Stuhl am Fenster so gestellt, daß sie zu mir herübersehen +konnte. Auch einen kleinen Spiegel hatte sie anbringen lassen, durch den +ihr niemand entging, der den Hof betrat. Oft, wenn ich das Haus verließ, +um ihn zu treffen, war mir, als verfolge mich dies glänzende runde Ding +mit dem bohrenden Auge darin durch alle Straßen. Zuweilen bemerkte ich +auch, wie die Pflegerin, eine Johanniterschwester mit einem +ausgemergelten fanatischen Asketengesicht mir von ferne nachschlich. Im +Traum sah ich sie dann auf meinem Bette sitzen und mit hungrigen Augen +die Schrift glutheißer Liebe lesen, die mir im Herzen geschrieben stand. + +Wir wählten immer andere Orte für unsere Zusammenkunft: kleine +Weinstuben, stille Konditoreien, wo es nach saurem Wein und altem Kuchen +roch und die Kellner die Wissenden spielten. Es war so widerwärtig, daß +wir es schließlich vorzogen, in Wind und Wetter draußen im Wald zu sein, +wo reine Luft unsere Stirnen kühlte. Einmal führte uns der Weg durch den +Wald nach Paulsborn. Dicht lag der Nebel über dem See, ein feiner Regen +stäubte vom Himmel. Er hatte mit seinem Arm seinen Mantel auch um mich +geschlungen. + +»Vergiß mich, Alix, wenn du kannst,« sagte er, »laß den armen Kerl +laufen, der allen Unglück bringt, die ihm zu nahe kommen.« + +Ängstlich forschte ich in seinen verschlossenen Zügen. »Willst du, daß +ich gehe?« frug ich mit Betonung. + +Er zog mich fester an sich. »Ich müßte es wollen, um deinetwillen! Und +doch, wenn ich mir vorstelle, du tätest es -- lieber brächt' ich dich +um!« Zärtlich drückte ich meine Wange an seine Schulter. »Wenn das der +Tod ist, den ich allein zu fürchten habe, so werd' ich ewig leben.« + +»Weißt du denn auch, was dir bevorsteht --?« »Ja,« lächelte ich, »dein +Weib werde ich sein, dein glückseliges Weib!« + +»Glaubst du so sicher, daß sie in die Scheidung willigt, daß sie nicht +vielmehr alles tun wird, um dich, um uns zu verderben?« + +Ich dachte schaudernd ihrer lauernden Blicke und ihrer Raubtierhände. +Aber ich verscheuchte das Angstgefühl, das mich zu unterjochen drohte. + +»Nur die Trennung von dir wäre mein Verderben, und die erzwingt sie +nicht. Dir werd' ich gehören, auch wenn ich's vor der Welt nicht darf!« + +»Sie werden alle mit Steinen nach dir werfen --« + +»Hast du mich lieb, bin ich unverwundbar --« + +Stärker strömte der Regen, dicht über den schwarzen Kiefern schienen die +Wolken zu lagern. Am warmen Ofen im Wirtshaus trockneten unsere Mäntel. +An Heimkehr war zunächst nicht zu denken. O, daß eine Sintflut uns +umschlösse wie eine Insel und kein Schiff den Weg zurückfände in die +Welt! + +»Kaum ein Jahr ist es her, daß ich Rosalie heiratete,« begann er +nachdenklich, »wie heller Wahnsinn erscheint mir heute, was ich tat. In +zarter Rücksicht hast du, Gute, nie gefragt und hast doch ein Recht, +mehr von mir zu wissen, als daß ich dich liebe. Nach sechsjähriger Ehe, +-- Jahren steigender Qualen, in denen wir uns immer weiter voneinander +entwickelten, -- verließ mich meine erste Frau. Ich hätte es ihr längst +verziehen -- sie litt ja wie ich! --, aber daß sie die beiden kleinen +Kinder im Stiche ließ, das begriff ich nicht, werde es nie begreifen. Im +Scheidungsprozeß wurden sie mir zugesprochen. Und nun begann ein Leben +dauernder Aufregung. Wohl zehnmal am Tage, wenn ich im Redaktionsbureau +saß, packte mich die Angst um die Kleinen. Ich sah sie von den +unzuverlässigen Wärterinnen unbeaufsichtigt gelassen, von der Mutter +heimlich entführt, und fuhr gehetzt zwischen der Wohnung und dem Bureau +hin und her. Ständig war ich auf der Suche nach jemandem, dem ich die +Kinder anvertrauen konnte. Ich klagte meine Not einem Freunde. 'Ich +wüßte eine Dame, mit der Sie das große Los ziehen würden,' sagte der, +'aber sie wird eine Stellung kaum annehmen wollen. Sie ist reicher Leute +einziges Kind, ist aus Liebe zur leidenden Menschheit Krankenpflegerin +geworden, und dabei die schönste Frau der Welt.' Ich war wie +elektrisiert. Er mußte mir Namen und Adresse nennen, und in der nächsten +Stunde schon war ich bei ihr. Wie ein Geschenk des Himmels schien es +mir, daß sie ohne viel Überlegung ja sagte. Sie war gut zu meinen +Kindern. Ich konnte ruhig arbeiten. Ich fand ein behagliches Zuhause, +wenn ich heimkam. Daß sie weder die schönste Frau der Welt, noch reicher +Leute Kind war, sondern irgendwo im Osten in einer Tagelöhnerkate das +Licht der Welt erblickt hatte, war mir eher willkommen, als daß es mich +enttäuscht hätte. Ihre Vorliebe für seidene Kleider, auf die sie all +ihren Verdienst verwandte, mochte das Märchen um sie gesponnen haben. +Ich ließ es geschehen, daß -- daß sie mich liebte. Ich hatte Jahre und +Jahre jede Liebe entbehrt und hielt nun meine Dankbarkeit für Liebe. Nur +daran, mich zu fesseln, dachte ich nicht. Zu schwer lastete die +Erinnerung an die Ehe auf mir. Da warf mich ein heftiges Nervenfieber +aufs Krankenlager. Und während ich noch matt und elend zu Bette lag, +erklärte mir Rosalie, mich noch am selben Tage verlassen zu wollen, wenn +ich ihr nicht die Heirat verspräche. Ich war empört, aber viel zu +schwach zu energischem Widerstand. Ich dachte an meine Kinder. Sie ging +schon am nächsten Tage mit unseren Papieren aufs Standesamt, um das +Aufgebot anzumelden. So wurden wir Mann und Frau --«. Er schwieg. »Und +trotz alledem wirst du mich lieb behalten?« fragte er dann leise. + +»Wenn du mich lieb behältst nach meiner Beichte,« antwortete ich und +erzählte ihm von meiner Jugendliebe. »Weißt du --« sagte ich zum Schluß +träumerisch, während seine Hand leise die meine streichelte, »mein Herz +ist wie die Erde: ohne den Frühling wäre der Sommer mit seiner glühenden +Sonne und seinen voll erblühten Rosen nicht gekommen. Und darum werde +ich noch im Winter an ihn denken müssen.« + +Spät kamen wir nach Hause. Vor dem Tore stand die Johanniterschwester. +Wie Fledermäuse flatterten ihre schwarzen Haubentücher im Wind. + +An meiner Tür empfing mich die Aufwärterin mit grinsender +Untertänigkeit. »Herr Reinhard ist da,« sagte sie, »ich wußte nicht, daß +gnädige Frau so lange fort bleiben würden -- bei dem Wetter.« Ich hörte +seine Krücke hart und heftig aufschlagen. + +»Fast wäre ich wieder gegangen,« grollte er, »ich --« er legte starken +Nachdruck auf dies 'ich' -- »ich habe keine Zeit, um Ausflüge zu +machen.« + +»Verzeihen Sie, daß Sie warten mußten. Hätten Sie mir Ihren Besuch mit +einem Worte angekündigt --« + +Er lachte besänftigt. »Schon gut -- schon gut! Wir wollen uns bei +Präliminarien nicht aufhalten. Die Entscheidung steht vor der Tür --, an +eine friedliche denke ich, nach der allgemeinen Stimmung zu urteilen, +nicht mehr. Werden wir auf Sie rechnen können?« + +»Selbstverständlich. Aber daß Sie gerade jetzt, wo die öffentliche +Meinung sich mehr und mehr auf Seite der Arbeiter stellt, wo +einflußreiche Kreise der Bourgeoisie öffentlich für sie eintreten, an +einer befriedigenden Lösung verzweifeln, begreife ich nicht.« + +»Welch ein Neuling Sie doch sind!« Er schüttelte verwundert den breiten +Kopf. »Weil einigen bürgerlichen Idealisten all das aufgedeckte Elend an +die Tränendrüsen geht, darum, meinen Sie, werden die Unternehmer +nachgeben?! Wo der eigene Geldbeutel in Frage kommt, hört die +Sentimentalität auf. Immerhin: wir werden bis zum äußersten warten, +und --« seine Lippen kräuselten sich höhnisch -- »hoffen. Bei der +miserablen Organisation, trotz der Hundearbeit der ganzen letzten +Monate, ist es kein Kinderspiel, die Verantwortung für den Streik auf +sich zu nehmen.« + +Er erzählte mir noch von den intimen Verhandlungen mit den Meistern der +Damenmäntelkonfektion, von der mühseligen Ausarbeitung eines +detaillierten Lohntarifs, von den Plänen für die nächste Zukunft, und +empfahl sich, nachdem ich ihm nochmals versprochen hatte, als Rednerin +überall zur Stelle zu sein, wo er mich würde brauchen können. Mein +Gewissen schlug. Über dem eigenen Schicksal war ich nahe daran gewesen, +das Geschick der Hunderttausende zu vergessen. Schon waren Schriften +aller Art erschienen, die das Leben der Konfektionsarbeiter malten, wie +ich es oft genug gesehen hatte. Warum war keine von mir? Und in den +Versammlungen der bürgerlichen Frauenvereine wurde plötzlich entdeckt, +daß die Not der Arbeiterin größer war als die höherer Töchter, in der +Ethischen Gesellschaft wurden die Mittel zu ihrer Abhilfe lebhaft +debattiert. Und ich allein schwieg! + +Von nun an fehlte ich nirgends mehr. Und ich fühlte: je weiter ich mich +von mir selbst entfernte, desto stärker wurde ich. In einer Reihe großer +Versammlungen wurden die Forderungen der Konfektionsarbeiter noch einmal +klargelegt, ihre Lage beleuchtet, der sie Abhilfe schaffen sollten. Ich +war in den Feensaal gegangen, wo Martha Bartels sprach. Kaum, daß ich +noch Einlaß fand, denn auf der Straße schon stauten sich die Menschen. +So viel Armut war wohl noch nie aus ihren dunklen Höhlen +hervorgekrochen. Und noch nie hatten sich so viel elegante Frauen in +ihrer nächsten Nähe befunden. + +In dem tief eingewurzelten Gefühl, das noch immer hinter dem schönsten +Kleid die größte Respektsperson vermutet, drängten sich die Armen +schüchtern an den Wänden entlang. Alte Frauen mit müden, rot geränderten +Augen standen auf, um seidenrauschenden Damen Platz zu machen. Keinen +Blick des Neides sah ich, keinen des Hasses. Als Martha Bartels sprach, +schlicht, fast nüchtern, und ihnen die Geschichte ihres eigenen Leides +erzählte, da weinten viele. Aber es waren nicht die fruchtbaren Tränen +der Erkenntnis, unter deren heißer Flut die Kraft des Widerstandes +gedeiht, es waren die Tränen der Verzweiflung, die armseligen Tropfen, +die in den Kirchen fließen, wenn der Pfarrer von der Kanzel die +Ergebenheit in Gottes Willen predigt. Zorn und Leid stritten in mir: +Zorn, -- daß Armut und Religion die Menschheit so um ihre Würde hatten +betrügen können, Leid, -- daß von dieser Menschen Kampfeslust und +Ausdauer Sieg oder Niederlage abhängen würde. + +Beim Ausgang traf ich meine Mutter. Mit einer Anzahl bekannter Damen +hatte sie der Versammlung beigewohnt. Sie waren alle erfüllt von dem +Gehörten. Die Ruhe der Rednerin und der Zuhörer hatte den Eindruck nur +verstärkt. + +In weitesten Kreisen, von den Nationalsozialen bis in die Reihen der +Konservativen hinein, schien das Interesse für die Heimarbeiter rege zu +sein. Meine Mutter war voll Eifer; ich hatte sie um einer solchen Sache +willen nie so erregt, so lebhaft gesehen. Sie zwang mich förmlich, an +einer Zusammenkunft teilzunehmen, die am nächsten Tage bei einem +bekannten berliner Geistlichen stattfinden sollte. + +Ich holte sie ab, um mit ihr hinzugehen, und fand selbst meinen Vater +voller Teilnahme. »Da ist dein Platz, da kannst du was leisten,« sagte +er, mir die Hand schüttelnd, »da findest du uns alle an deiner Seite, +wenn es gilt, den jüdischen Konfektionären, diesen Menschenschindern und +Ausbeutern, das Handwerk zu legen.« Eine ähnliche Stimmung beherrschte +die Sitzung, wenn auch der Wunsch nach einer friedlichen Lösung des +Konflikts und die bestimmte Hoffnung auf seine Erfüllung von dem +Einberufer sehr betont wurde. + +Er berichtete von dem Komitee, das sich kürzlich auf Anregung der +Ethischen Gesellschaft gebildet hatte, um zwischen den Arbeitern und den +Unternehmern eine Verständigung anzubahnen. Männer und Frauen der +verschiedensten Parteirichtungen, deren Namen in der Öffentlichkeit +einen guten Klang hatten, gehörten ihm an. Man beschloß, sich ihm +gleichfalls anzuschließen. »Kommt es trotz alledem zum Streik, so +schaffen wir eine Hilfskasse,« rief eine lebhafte kleine Dame, deren +Energie beim Durchsetzen ihrer Pläne sie bekannt gemacht hatte. Man +stimmte ihr ohne weiteres zu. »Wir müssen alle Geschäfte boykottieren, +die die Forderungen der Arbeiter nicht bewilligen,« erklärte eine +andere, und man überbot sich in steigender Erhitzung in Vorschlägen +zugunsten der Sache. Ich erinnerte mich im stillen des Streiks der +westphälischen Bergarbeiter. Auch damals sprach sich die öffentliche +Meinung, soweit sie mir zu Ohren kam, zugunsten der Kämpfenden aus, aber +sie tatkräftig zu unterstützen, daran wagte noch niemand zu denken. Also +doch ein Fortschritt?! Mein Optimismus regte sich wieder. + +Ich berichtete Reinhard von dem Erlebten. »Halten Sie die Leute vor +allen Dingen bei ihrem Unterstützungsversprechen fest. Alles andere ist +Mumpitz,« sagte er. Und ich lief von einem zum anderen, und ließ mir, wo +es irgend anging, schriftliche Zusicherungen geben. Inzwischen +arbeiteten im stillen auch die Vermittler, und zu gleicher Zeit sah ich +Martha Bartels und ihre Gefährtinnen, wie sie unermüdlich nach ihrer +eigenen Arbeit treppauf, treppab stiegen, um die Begeisterung für den +Kampf anzufachen, der ihnen nicht nur unausbleiblich, sondern erwünscht +war. Sie schimpften laut und leise über das Zögern und Warten der +Fünferkommission: »Wir pfeifen auf alle Versöhnungsduselei, bei der wir +doch nur den kürzeren ziehen. Wir wollen eine ehrliche Entscheidung auf +dem Schlachtfeld.« Die Ereignisse schienen ihnen recht zu geben. + +Am Abend des Kaisergeburtstages kam ich durch die menschenwimmelnde +Friedrichsstadt. Nüchtern wie immer glänzten die Tausende elektrischer +Birnen an den Geschäftshäusern, verschlangen sich zur Kaiserkrone, zum +W. II, und nirgends zeigten sich Spuren einer von Liebe befruchteten +Phantasie, die neue persönlichere Huldigungen hätte schaffen können. +Irrte ich mich, oder waren die Fassaden der großen Konfektionshäuser +sogar um einen Schein dunkler als sonst? Das Kaisertelegramm an den +Burenpräsidenten Krüger schien, so hieß es, den Absatz deutscher Waren +nach England lahmzulegen. Und während Alldeutsche und Antisemiten +jubelten, ballten die Unternehmer die Fäuste im Sack. + +Die Versammlung, in die ich kam, bot ein anderes Bild als die letzte: es +war vor allem eine der Männer. Und die Arbeiterinnen, die erschienen +waren, gehörten zu den besser Bezahlten, zu den Aufgeklärteren, den +Selbstbewußten. Etwas wie Siegeszuversicht schien sie zu beherrschen. +Sie wiesen mit Fingern auf die Herren im Gehrock und Zylinder, sie +tuschelten einander die Namen der Chefs und Zwischenmeister zu, die der +Einladung der Arbeiterkommission heute gefolgt waren, sie warfen +hochmütig den Kopf zurück, wenn einer von ihnen eine vertrauliche +Begrüßung zu wagen versuchte. Reinhard sprach. Er erläuterte die +Forderungen der Arbeiter. Seinem Temperament tat er sichtlich Gewalt an. +Eisige Ruhe begleitete während der ersten Viertelstunde seine Rede. Dann +unterbrach ihn eine gröhlende Stimme: »Bezahlter Agitator --«, das war +das Signal für die anderen. Kein Satz blieb ohne Zwischenruf. Je +dunkler die Flecken auf Reinhards Backenknochen sich röteten, je mehr +die straffen Haarsträhnen ihm an den feuchten Schläfen klebten, und je +heftiger die knochigen Hände ihm zitterten, desto lauter, roher, +unflätiger wurde das Gebrüll der Zuhörer. Er sprach ruhig weiter -- von +den elenden Löhnen der Frauen, von ihrer sittlichen Gefährdung. »Sei man +stille, Quasselkopp,« schrie dicht neben mir ein dicker Kerl, mit +Brillantringen auf den roten Wurstfingern, »die Mächens wissen schon, +wofür wir jut zahlen.« Alles lachte. »Frag mal, von wo die Kleene da +ihren süßen, roten Lockenkopp hat,« rief ein anderer. »Von de sittliche +Jefährdung,« brüllte aus dem Hintergrund eine ölige Stimme. Es war kein +Halten mehr. Man überbot sich in zynischen Witzen. Und die Frauen, die +vorhin so kampfbereit, so unnahbar schienen? Sie kicherten in ihre +Taschentücher, einige lachten kokett die ärgsten Zotenreißer an. +Reinhard schwieg erschöpft. Die Diskussion war von der allgemeinen +Ulkstimmung beherrscht. Nur zuletzt, als es zur Abstimmung gehen sollte, +erhob sich einer der Meister, um eine Programmrede zu halten. Er sprach +vom Mittelstand, »dem sittlich gesunden Kern des Volkes, der wahre +Religion und echtes deutsches Familienleben pflegt und hochhält,« und +den »die Sozialdemokratie in ihrer Respektlosigkeit angesichts der +heiligsten Güter der Nation« vernichten wolle. »Auch dieser uns +angedrohte Kampf ist nichts anderes als ein Vorstoß der Umsturzpartei +gegen die Staatsordnung, und zum Kanonenfutter lassen die Dummen unter +den Arbeitern sich gebrauchen. Wir aber stehen wie ein Fels im Meer;« -- +unter dem Bravogeschrei der Zuhörer warf er sich stolz in die Brust und +bewegte pathetisch die Arme. »Wir sagen nein und abermals nein und +wissen, daß wir trotz dem Geschrei der Gegner, trotz Streikdrohung, +immer noch so viel Arbeiter kriegen, als wir brauchen, -- und wenn wir +sie von den Hottentotten nehmen sollten.« + +Am Ausgang erwartete ich Reinhard. Ich sah, wie Martha Bartels, von +einer Schar lebhaft gestikulierender Frauen umgeben, erregt auf ihn +einsprach. »Es ist kein Halten mehr,« sagte er im Nähertreten. »Nun +ist's aber auch höchste Zeit,« rief ich, noch heiß vor Entrüstung. »Wir +müssen das Eisen schmieden, solange es warm ist, -- in allen Kreisen +findet der Streik Unterstützung.« »Sachte, sachte, liebe Genossin,« +wehrte er ab. »Im Augenblick sind uns stärkere Knüppel zwischen die +Beine geworfen worden, als Ihre hilfsbereiten Damen aufheben können. +Wenn England die deutsche Konfektion boykottiert, so können wir +einpacken.« + +Der Termin für die Antwort der Unternehmer wurde abermals +herausgeschoben. In den Arbeiterkreisen begann es bedenklich zu gären; +es gab Leute, die schon von Intrigen, Schmiergeldern und offenem Verrat +munkelten. In Hamburg, in Erfurt, in Stettin, in Breslau brach der +Streik aus, -- in Berlin zögerte man noch immer, scheinbar um dem +Vermittelungskomitee Zeit für seine Verhandlungen zu gewähren, in +Wirklichkeit aber, um die Entwickelung der Dinge in England abzuwarten. +Man glaubte an einen Krieg, zum mindesten an einen wirtschaftlichen. +Endlich liefen, so zahlreich wie sonst, bei den großen Konfektionären +die Bestellungen ein; und in einer Versammlung der Ethischen +Gesellschaft wurde, zugleich mit einer rückhaltlosen Sympathieerklärung +an die kämpfende Arbeiterschaft, das völlige Scheitern der +Einigungsversuche mitgeteilt. + +Im Bureau der Schneider-Gewerkschaft trat die Arbeiterkommission +zusammen. Es war wie im Hauptquartier eines Krieges. Wir empfingen die +Streikerklärung als unsere Parole und unseren Marschbefehl. In riesigen +Plakaten wurde die Bevölkerung am nächsten Morgen zu den Versammlungen +eingeladen, mein Name stand unter denen der vierzehn Referenten. + +Ich saß mit meiner Rede beschäftigt am Schreibtisch, als es draußen +zweimal heftig klingelte. Der Vater! -- »Dein Name steht auf den +Litfaßsäulen unter lauter Sozialdemokraten,« brauste er mich an. + +»Du bist auf der Seite der Streikenden, wie ich weiß, du selbst hast +mich ermuntert.« Er ließ mich nicht ausreden. »Nicht um ein +ungesetzliches Vorgehen zu unterstützen, -- du mußt deinen Namen +augenblicklich zurückziehen --«. Er stierte mich an mit dem wilden +Blick, den ich so fürchtete. Ich lehnte mich zitternd an den +Schreibtisch. »Fahnenflüchtig?! Nein! Wär' ich's, du würdest dich bei +ruhiger Überlegung meiner schämen müssen.« Er umklammerte mein +Handgelenk. »Soll ich mein Kind verlieren?« stieß er hervor, sein Atem +keuchte, die Augen traten aus den Höhlen. + +»Ich kann mein Wort nicht brechen, -- auch mir selbst gegenüber nicht,« +flüsterte ich. Ein Ruck ging durch seinen Körper, meine Hand stieß er +von sich, faßte sich ein paarmal mit den Fingern an den Kragen, als +würde er ihm zu eng, und schritt festen Schrittes, wortlos, der Türe +zu. Ich hörte sie zufallen, -- eine zweite knarrend sich öffnen, -- +heftig ins Schloß zurückschlagen; ich lief ans Fenster: ein alter Mann +ging über den Hof, sehr langsam, tief gebückt, schwer auf den Stock sich +stützend. O, daß er nur ein einziges Mal den Kopf noch wenden möchte, -- +aber der starre Nacken bewegte sich nicht. Schluchzend brach ich +zusammen. + +»Alix!« Heinrichs entsetzter Ruf brachte mich wieder zu mir. Er hatte +den Vater fortgehen sehen und war, alle Vorsicht vergessend, zu mir +geeilt. »Wirst du heut abend sprechen können?!« »Gewiß, -- nun bin ich +ja ganz -- ganz frei!« Die Tränen waren versiegt, mir war, als läge mein +Herz zu Eis erstarrt in meiner Brust. Selbst der Geliebte kam mir +plötzlich fern und fremd vor. + + * * * * * + +Für die Kriegserklärung, die ich heute abzugeben hatte, war es die +rechte Vorbereitung: kein weiches Gefühl konnte mich überwältigen, +eiserne Entschlossenheit beherrschte mich. Zu _einer_ Riesenkraft wollte +ich die schwarze Menschenmasse vor mir zusammenschweißen, von _einem_ +unbeugsamen Willen beseelt. Und ich richtete die Paläste der Unternehmer +vor ihren Augen auf, die ihre Arbeit gebaut hatte, und wies auf ihre +üppigen Tafeln, die ihr Hunger deckte. Ich zeigte ihnen die seidenen +Kleider ihrer Frauen und ihrer Mätressen, an denen der Schweiß der +Arbeiterinnen klebte, und ihre Edelsteine, in denen das Augenlicht derer +gefangen war, die es in nächtlicher Arbeit verloren hatten. Ich fühlte: +schon war die Luft erfüllt vor unsichtbarem Sprengstoff. Und nun sprach +ich von der kommenden Schlacht, die nichts sei als ein Teil des großen +Krieges zwischen unverschuldeter Armut und schuldbeladenem Reichtum; +sprach von alledem, was der Preis ihres Mutes, ihrer Ausdauer sein +würde, und doch nur darum von unschätzbarem Werte sei, weil es sie +geistig und körperlich fähig mache, den Menschheitsfeldzug bis zu Ende +zu führen. »Eure Sache ist die Sache der ganzen Arbeiterschaft. Jede +Schwäche von euch ist ein Verrat an ihr ...« + +»Eine demagogische Hetzrede,« sagte jemand, als ich die Tribüne verließ. +»Prachtvoll« -- versicherte mir ein sozialdemokratischer +Reichstagsabgeordneter händeschüttelnd. Ich sah fragend um mich: +erstaunte, bewundernde, auch tränenfeuchte Blicke begegneten den meinen, +aber vom Fieberfanatismus der Kriegslust bemerkte ich nichts. +Verständnislose Verlegenheit lag zum Teil auf den abgehärmten Zügen der +Frauen. »Was hat sie gemeint?« hörte ich flüstern. »Was sollen wir tun?« +»Und wie gerade die Damenmäntel dann bezahlt werden, sagte sie nicht« -- +»ob wir gleich in die Betriebswerkstätten kommen?« -- Mir sank der Mut. +Heinrichs Lob -- er hatte sich's nicht nehmen lassen, mich zu begleiten +-- schien mir von Mitleid diktiert. + +Zu Hause fiel ich sofort in den Schlaf der Erschöpfung. Mitten in der +Nacht fuhr ich entsetzt aus dem Traum; irgendein langgezogener Ton +weckte mich. Ich sprang aus dem Bett. Aus den Fenstern drüben drang +helles Licht. Die Schatten vieler Menschen bewegten sich hastig hin und +her. Gellende Schreie klangen über den Hof. + +Jetzt -- jetzt wand sich das unglückselige Weib, das ich betrogen +hatte, in gräßlichen Schmerzen, -- und das Kind -- meines Geliebten +Kind! -- kam zur Welt. Kalter Schweiß trat auf meine Stirne. Das +flackernde Licht von drüben malte gespenstische Gestalten in mein +Zimmer. Ein großes Ungeheures beugte sich über mich, die +zusammengekauert, frostgeschüttelt am Fenster hockte. Es griff mir in +den Nacken mit spitzen Krallen, es wuchs -- wuchs, erfüllte den ganzen +Raum -- die Wohnung -- das Haus -- die Welt. »Ich bin die Schuld -- +deine Schuld!« gellte es in meinen Ohren mit dem letzten Schrei des +Weibes drüben ... + +»Es steht gut -- Mutter und Kind sind wohl --« Heinrich stand vor mir, +leichenblaß; »aber du --« er sah mich erschrocken an, wie eine schwere +Krankheit lag die Nacht hinter mir, -- »wenn du jetzt schon +zusammenbrichst, wo das Schwerste bevorsteht!« + +»Nachdem ich das überstanden, gibt es nichts Schwereres --« + +Ich war in der nächsten Zeit fast nie zu Hause. Wenn ich früh erwachte, +müde, als hätte ich kein Auge zugetan, so schien mir's, als stünde jenes +große Ungeheure hinter mir, vor dem ich unaufhörlich die Flucht +ergreifen mußte. Nur wenn ich draußen war, fern dem Bannkreis dieses +Hauses, wenn die Not der anderen, die der Streik aufdeckte und gebar, +sich zwischen mich schob und meine Schuld, atmete ich freier. + + * * * * * + +Ich saß auf der Reichstagstribüne, als die nationalliberale +Interpellation, die Lage der Konfektionsarbeiterinnen betreffend, zur +Verhandlung kam und alle bürgerlichen Parteien ihr arbeiterfreundliches +Herz entdeckt zu haben schienen. Was noch kein preußischer Minister zu +denken gewagt hatte -- daß eine Arbeitseinstellung berechtigt sein +kann --, das erklärte Herr von Berlepsch vor der deutschen +Volksvertretung angesichts dieses Streiks. Kein Zweifel: der +Riesenkampf, den die Ärmsten der Armen kämpften, wird kein vergeblicher +sein, eine neue Ära sozialer Reformen bricht an. Und dem Verdikt des +Reichstags werden die Unternehmer sich beugen müssen. Ich verstand +nicht, warum der Redner der sozialdemokratischen Fraktion sich +angesichts dieser Kundgebungen so skeptisch äußern konnte. Im ganzen +Reich wurde für die Streikenden gesammelt. Neben den Bureaus der +Streikkommission, in denen Streikkarten ausgestellt und +Unterstützungsgelder gezahlt wurden, richteten bürgerliche Vereine +Hilfsstellen ein, wo Nahrungsmittel und Kleidungsstücke zur Verteilung +kamen. + +Stolz, oft übermütig in ihrer Hoffnungsfreudigkeit stellten sich in den +ersten Tagen die Streikenden ein. Von Unterstützung wollten sie nichts +wissen, nur ihre Karten ließen sie sich geben. + +»Wir halten aus,« sagte ein junges, bleichsüchtiges Mädel, und ihre +Augen blitzten dabei. »Die Unternehmer haben uns für sich hungern +lassen, nun hungern wir mal für uns selber --« und, ein Liedchen +trällernd, war sie wieder draußen. Selbst auf den Gesichtern alter +müder Frauen lag ein stilles Leuchten. Ein halbwüchsiger Bengel, der in +Begleitung seiner Mutter kam, verkündete triumphierend: »Wir arbeeten +jetzt for drei, damit Muttern feiern kann,« und lächelnd streichelten +ihre zerstochenen Finger seine Wange: »Nu kommen ooch janz andere +Zeiten!« + +Oft standen die engen Bureauräume gedrängt voll Wartender. Dann flogen +Witze hin und her; vom »Meester« erzählten sie einander, der mit der +»Ollen« händeringend in der leeren Bude stand. »Noch janz anders soll +die Gesellschaft winseln! Laßt man erst acht Tage ins Land jehen, denn +werden sie zu uns bitten kommen,« rief ein krummbeiniges Schneiderlein. +»Wir werden ihr Mores lehren, der Rasselbande!« fügte zähneknirschend +ein anderer hinzu. + +Allmählich änderte sich das Bild: Blasse Frauen, die unsicher und +ängstlich blickten, mit Kindern auf den Armen und an der Schürze, +drängten sich um die Zahlstellen; das morgens angehäufte Geld, das mir +unerschöpflich schien, war jeden Abend wieder ausgegeben. Auch Männer +kamen, Familienväter, mit zusammengepreßten Lippen. Die Witze +verstummten. Finstere Entschlossenheit lag in dem Schweigen der +Wartenden. Aber immer noch traten welche an den Tisch, die nichts +verlangten, als die Ausfüllung ihrer Streikkarten. Auch Frauen waren +unter ihnen. Eingesunkene Wangen, trockene Lippen, fiebrige Augen +sprachen vom Heldenmut der Hungernden. Verlegen schob sich wohl auch ein +junges Mädel durch die Türe und streckte die Hand nach dem Gelde aus. +»Schämst du dir nicht!« schrie einer einmal eine hübsche Brünette an, +mit Rosen auf dem kecken Filzhut, und riß sie unsanft zurück, »hat noch +so'n Deckel auf'n Kopp und Glacénene an die Finger und will den ollen +Weibern das Brot nehmen?!« Kam aber gar ein kräftiger Mann, so hagelte +es empörte Schimpfworte: ein Verräter, wer in seinem Opfermut nicht bis +zum Äußersten ging. + +Und dann kamen die Tage, wo sie in dichtgedrängten Scharen bis auf die +Straße hinunterstanden, und keiner mehr war, den der Hunger nicht +bezwungen hätte. Viele schämten sich, daß sie unterlegen waren; sie +wagten kaum den Kopf zu heben, wenn sie vor den Zahltisch traten. +Zusammengesunken erschienen andere vor Mutlosigkeit. »Erreichen wir's?« +flüsterte fragend der eine, »geben sie endlich nach?!« der andere. +Tränenumflorte Augen richteten die Frauen auf uns, scheue Blicke voll +Zweifel und Mißtrauen die Männer. Und nichts als Schweigen, als +Achselzucken konnte die Antwort sein. Die Kassen füllten sich langsamer; +der aus rührseliger Sentimentalität entstandene Enthusiasmus +bürgerlicher Kreise verpuffte wie ein Feuerwerk. Die Unternehmer hielten +aus; sie hatten noch immer genug zu essen. Und die Opferwilligkeit der +deutschen Arbeiterschaft für die kämpfenden Brüder hatte ihre äußerste +Grenze erreicht. + +Ich sah Reinhard nur flüchtig. Die hektische Röte wich nicht mehr von +seinen Backenknochen. Er hatte keine ruhige Minute. + +»Wir sind am Ende,« sagte er mir mit rauher Stimme, als wir uns in einem +der Streikbureaus wieder begegneten. Es traf mich wie ein +Peitschenschlag. Was hatte ich damals denen, die ich zum Streik aufrief, +als sicheren Lohn ihres Ausharrens in Aussicht gestellt! Würden sie mir +jemals wieder vertrauen können?! »Die Forderung der Betriebswerkstätten +werden wir fallen lassen müssen --.« »Gerade das?! Die Hauptsache!« rief +ich. »Das einzige Mittel vielleicht, um dem Elend der Heimarbeit, um der +Ausbeutung der Zwischenmeister ein Ende zu machen!« -- »Gerade das. Wir +wollen froh sein, wenn sich der Lohntarif durchsetzen läßt und der +Reichstag sein Versprechen einer durchgreifenden Gesetzgebung einlöst.« + +Schweren Herzens kam ich an jenem Tag in das Bureau. Es war überfüllt, +und lautes Stimmengewirr drang mir entgegen. »Die Führer verraten uns!« +rief einer. »Wir können hungern, und sie stopfen sich die Taschen --,« +brüllte ein anderer. Ein paar keifende Weiber hieben mit Fäusten auf den +Zahltisch: »Betrüger seid Ihr, -- Ausbeuter, -- schlimmer als die +Meister,« schrien sie den Dahinterstehenden ins Gesicht, die das Geld +abzählten. »Wir haben nichts mehr --,« flüsterte einer der +Gewerkschaftsbeamten mir hastig zu, »-- es war ein Ansturm +ohnegleichen.« Ich lief die Treppe wieder hinab, sprang in die nächste +vorüberfahrende Droschke und fuhr zur Zentralstelle der Ethischen +Gesellschaft. Heute, so hatte man mir mitgeteilt, sei eine beträchtliche +Summe eingelaufen. Ich ließ mir geben, was zur Verfügung stand, -- es +war auch nur ein Tautropfen, der im Augenblick in der durstenden Erde +verschwinden würde, -- und fuhr zurück, so rasch der arme Schimmel +laufen konnte. Vor dem Bureau stauten sich die Menschen. Ein paar +Polizisten hielten mühsam die Straße frei. Ich sprang aus dem Wagen und +versuchte mich vorzudrängen. »Wat, so eene biste, daß de erster Jüte +fährst?« schrie mich eine rohe Stimme an, und eine Faust stieß mich in +den Rücken. Ein paar Burschen, die nach Fusel rochen und mit den +Konfektionsarbeitern sichtlich nicht das Geringste zu tun hatten, +überschütteten mich mit unflätigen Redensarten. Ich versuchte, mir mit +ein paar Ellbogenstößen freie Bahn zu schaffen, während meine Hände die +Geldtasche angstvoll umklammerten. »So loof doch, loof -- wir werden dir +Beene machen,« gröhlten sie und ich fühlte ihre Fäuste wieder auf meinem +Rücken. Ich schrie laut auf. Im Augenblick war ich von bekannten +Gesichtern umgeben, ich hörte noch ein paar Ohrfeigen rechts und links +und war halb getragen, halb geschoben im Zimmer. + +Am Abend war auch das letzte Geld verteilt. + +In diesem Augenblick der Not kam es zu einer überraschenden Wendung: ein +Teil der Zwischenmeister, empört darüber, daß die Unternehmer ihnen alle +Schuld an den schlechten Löhnen zuzuschieben suchten, machten gemeinsame +Sache mit den Arbeitern, und die Fabrikanten, die nunmehr ernstlich in +Gefahr standen, die Einnahmen der Saison zu verlieren, die aber +andererseits auch genug von der Lage der Dinge unterrichtet waren, um zu +wissen, daß die Streikenden das Ende ihrer Widerstandskraft erreicht +hatten, riefen offiziell die Vermittlung des Gewerbegerichts an. Die +Fünferkommission der Arbeiter, davon in Kenntnis gesetzt, zögerte nicht, +auch ihrerseits mit dem Einigungsamt in Verbindung zu treten. Im +Bürgersaal des berliner Rathauses, vor einem vielhundertköpfigen +Publikum, kam es zur Verhandlung und zur endlichen Unterzeichnung eines +Vertrags, dessen wichtigste Bedingungen die Erhöhung der Löhne und die +Gegenseitigkeitsverpflichtungen in bezug auf die Durchführung der +Lohntarife waren. Von den Betriebswerkstätten war gar keine Rede mehr. + +Die Streikleitung berief die Referenten zu einer neuen Sitzung. In +öffentlichen Versammlungen sollten wir das Ende des Streiks verkünden. +Ich versuchte, mich frei zu machen. »Wir haben Ihr Wort, Genossin +Glyzcinski,« sagte einer der Führer mit scharfer Betonung. »Wie kann ich +diesen Ausgang als einen Sieg verteidigen,« wandte ich ein. »Darüber +mögen Sie denken, was Sie wollen,« entgegnete Martha Bartels heftig, +»hier haben Sie einfach Ihre Pflicht zu tun, wie wir alle.« Flüchtig +fuhr mir durch den Kopf, daß ich aus meiner Welt dem Zwang der Pflicht +entflohen war, um meiner Überzeugung zu folgen, aber ich fühlte mich +viel zu müde, um jetzt darüber nachzudenken. Ich fügte mich +stillschweigend. Als eine Wohltat sah ich es an, daß ich wenigstens +nicht in demselben Saal, vor denselben Menschen sprechen mußte. Weit in +den Osten, in die Andreasstraße, schickte man mich. »Sie werden keinen +leichten Stand haben,« sagte Reinhard beim Weggehen, »es ist das +Hauptquartier der Anarchisten.« + +Heinrich Brandt begleitete mich auf dem Wege zur Versammlung. Wir hatten +uns in der Zwischenzeit nur immer auf Minuten gesehen. Erst jetzt, wo +Rosalie schon seit einigen Tagen aufgestanden war, schwand unsere Angst +um sie. Das Wochenbett war normal verlaufen; sie nährte den Kleinen und +schien seelenruhig. Trotzdem war Heinrich heute wortkarg, und sein +ausdrucksvolles Gesicht, das jede Stimmung verriet, erschreckte mich. +Aber soviel ich auch in ihn drang, er meinte, es sei nichts, gar nichts +geschehen, ich solle lieber an meinen Vortrag denken, als über die +Ursache seiner schlechten Laune nachgrübeln. + +Der kleine Saal war schon voll, als ich kam. In allen Händen sah ich +weiße Zettel, mein Auge fiel auf lauter erregt gerötete Gesichter. Bei +der Wahl des Bureaus siegte der Führer der Anarchisten mit riesiger +Mehrheit über unseren Kandidaten. Ich empfand es fast wie eine +Erleichterung --, »nun werden sie mich gar nicht reden lassen,« +flüsterte ich Heinrich zu. Aber schon stand der junge blonde Mann mit +den zarten Mädchenzügen auf der Tribüne: »Ich erteile der Referentin +Frau von Glyzcinski das Wort«, und mit einer höflichen Handbewegung +machte er mir neben sich Platz. + +Ich sprach schlecht. Keinen Augenblick konnte ich meiner eigenen +Empfindung, meinen innersten Gedanken folgen. Ich war nur ein +Sprachrohr. Trotz der musterhaften Leitung des jungen Anarchisten, der +die Ruhe immer wieder herzustellen suchte, unterbrachen mich Zurufe +aller Art: sarkastische, gemeine, wütende. Dazu Heinrichs Gesicht, auf +dem meine Blicke immer wieder haften blieben --, ich verlor den Faden, +verwirrte mich, wurde ängstlich. Man rief höhnisch »Bravo«, als ich +geendet hatte. Und dann sprach der Vorsitzende. Seine ganze Rede war ein +feuriger Appell an das Proletariat, eine glühende Anklage der +Streikleitung. Im Moment, wo aus England Millionen an Unterstützung zu +erwarten seien, habe sie sich feige den Kapitalisten unterworfen und die +Sache des Volks verraten. An ihm sei es nun, zu zeigen, daß es sich von +keiner Seite knebeln lasse, daß es den Kampf nicht nur fortsetze, +sondern ausdehne, bis ein Generalstreik dem Volk die Macht verleihe, +dem Unternehmertum seine Gesetze zu diktieren. In jedem Wort, das er +aussprach, brannte das Feuer seiner Überzeugung, und alles jauchzte ihm +zu. Meine Resolution wurde abgelehnt, die seine, die die Fortsetzung des +Streiks erklärte, angenommen. Durch einen Nebeneingang ließ man mich +hinaus. Man hätte mich sonst vor den Insulten der fanatisierten Menge +nicht schützen können. + +Der Streik war trotzdem zu Ende. Die englischen Millionen waren nichts +als ein Märchen. Ein paar Tollkühne hungerten noch eine Woche länger --, +das war alles. + + * * * * * + +Wir gingen durch den Tiergarten heimwärts, Heinrich und ich. Die Kälte +tat mir wohl. »Am liebsten zöge ich selbst solch Schneekleid an, um +ganz, ganz kalt zu werden,« murmelte ich. Eine große Hoffnungslosigkeit +hatte sich meiner bemächtigt. + +»Nun sollst du auch wissen, was mir fehlt,« sagte Heinrich, auf dessen +Arm ich mich müde stützte. »Ich hatte heute eine böse Szene mit Rosalie. +Sie will in den Süden -- auf Monate -- mit mir. Um unsere Ehe wieder +herzustellen, wie sie sagt. Ich weigere mich, brauchte lahme Ausreden, +die sie durchschaute. Sie bekam einen Weinkrampf, dann warf sie mir vor, +daß ich das Kind töten wolle, indem ich sie, die nährende Mutter, nicht +schone.« + +Er blieb aufatmend stehen. + +»Und du?!« + +»Ich versprach ihr jede Rücksicht, -- nur mit ihr reisen könne ich +nicht. Jetzt fordert sie eine Auseinandersetzung, auch mit dir. Zwei +Tage hat sie mir Zeit gegeben.« + +»Sie hat recht,« sagte ich, »auch sie zieht ein Ende mit Schrecken dem +Schrecken ohne Ende vor.« + +Ich zwang mich zur Ruhe, -- seinetwegen. + +Die beiden Tage schleppten sich hin wie ebenso viele Jahre, jede Stunde +beladen mit Qualen, mit Selbstvorwürfen, mit Zweifelfragen. Hatte ich +nicht das Leben dieser Menschen zerstört, hatte den, der mir auf der +Welt der liebste war, in einen Kampf gerissen, der für ihn vielleicht +des Einsatzes nicht wert sein würde, hatte dem Kinde schon im +Mutterleibe den Vater gestohlen! + +Und dann kam der Tag und die Stunde. Ich wartete von mittags bis abends. +Jeder Schritt auf dem Hof ließ mich auffahren, vor jedem Laut, der von +drüben klang, zitterte ich. Minuten gab es, in denen ich die Hände +faltete, wie ein kleines Kind, wenn sinnlose Angst es den schützenden +Vater im Himmel suchen ließ. Aber durfte ich beten -- ich! --, selbst +wenn ich noch glauben könnte?! Die Bilder auf meinem Schreibtisch +starrten mich an und sahen mir nach, wohin ich auch im ruhelosen Auf- +und Abwandern mich wandte: der Vater, der einst einen braven Offizier +seines Regiments für unwürdig erklärt hatte, weiter des Königs Rock zu +tragen, weil er das Weib eines andern liebte; die Mutter, deren ganzes +Leben unter dem einen Gesetz der Pflichterfüllung stand; -- aber lugte +nicht neben ihr aus dem Rahmen ein stilles, edles Antlitz hervor mit +gütigen dunkeln Augen? »Großmama,« schluchzte ich leise. O, daß ich den +Kopf in ihrem Schoß vergraben, ihr beichten und aus ihrem Munde mein +Absolve te hören dürfte! + +War das nicht sein Schritt? Ich riß das Fenster auf. Klang nicht ein Ruf +zärtlich aus dem Dunkel? Mit angehaltenem Atem horchte ich. Klopfte es +nicht an der Pforte? Oder war es mein eigenes Herz, das ich hörte? Ich +blieb auf dem engen, kleinen Flur, an die Mauer gelehnt, mit krampfhaft +aufgerissenen Augen und pochenden Schläfen. Die Treppe draußen knarrte, +ich griff an die Klinke, die Türe sprang auf -- + +»Alix!« Welch ein Ton war in seiner Stimme! Halb bewußtlos sank ich in +seine weitgeöffneten Arme. + +»Sie willigt in die Scheidung.« + + + + +Viertes Kapitel + + +An einem jener norddeutschen Apriltage, wo Frühling und Winter einander +wie Feinde vor dem Ausbruch des Kampfes lauernd umschleichen, die Sonne +auf hellen Plätzen Sommergrüße vom Himmel sendet und daneben der +feuchtkalte Wind triumphierend durch schattige Straßen fegt, ging ich +zum Abschiednehmen zu den Eltern. + +Seit jenem Tage, wo mein Vater mich im Zorn verlassen hatte, war ich +nicht mehr bei ihnen gewesen. Selbst die notwendigen geschäftlichen +Auseinandersetzungen, die sich an den Tod einer Verwandten und der mir +und meiner Schwester zugefallenen kleinen Erbschaft knüpften, hatte mein +Vater schriftlich erledigt. Jetzt aber hatte er mich vor meiner Abreise +noch einmal sehen wollen. + +Er empfing mich ernst und gemessen. »Du siehst schlecht aus,« sagte er +dann und ein liebevoll besorgter Blick strafte seine äußere Strenge +Lügen. Ich wußte es: die letzten Monate hatten meine Nervenkraft +erschöpft; ich bedurfte der Erholung, aber mehr noch des Fernseins von +Berlin während des bevorstehenden Scheidungsprozesses. »Die Erbschaft +kommt dir wirklich zustatten,« fuhr er fort. Er ahnte nicht, in welchem +Umfang er recht hatte! + +Eine konventionelle Unterhaltung entspann sich. Und doch war mir das +Herz so voll: ich allein wußte von uns allen, wie weit ich mich +mit diesem Abschied von ihnen entfernte, -- vielleicht auf +Nimmerwiedersehen. Ein Wort der Dankbarkeit, der Liebe hätte ich gern +gesagt; -- in der Temperatur, die zwischen uns herrschte, erfror es, +noch ehe es über die Lippen kam. + +»Es ist mir nicht recht, daß du allein in die Welt hineinreist,« sagte +mein Vater, als ich schon an der Türe stand, »Ihr Jungen denkt anders +darüber, -- Einfluß habe ich keinen mehr, -- ich kann nur hoffen, daß du +dich stets erinnerst, was du deinem Namen schuldig bist.« Seine Augen +ruhten forschend auf mir. Ich reichte ihm stumm die Hand: »Lebewohl, +Papa --« Ich zwang meine Stimme, nicht zu zittern. »Lebwohl,« antwortete +er mit einem Seufzer. Einen Kuß gab er mir nicht mehr. + +Die Mutter begleitete mich auf den Flur. + +»Hast du etwas besonderes zu schreiben,« sagte sie mit Betonung, »so +lege stets einen besonderen Zettel dem Brief an mich bei, damit ich ihn +Hans ohne Schaden zeigen kann.« Ich hatte die Empfindung, daß mein +Weggehen sie erleichtere. Ilse kam noch bis auf die Straße mit mir. + +»Du, Schwester, ist es wahr, daß Dr. Brandt sich deinetwegen scheiden +läßt?!« flüsterte sie hastig mit glänzenden Augen. Aufs peinlichste +überrascht starrte ich sie an. Sie preßte mir stürmisch die Hand: »Du, +-- das ist furchtbar interessant! Freilich --« und nachdenklich kaute +sie an der Unterlippe -- »mit Papa werden wir wieder aushalten müssen!« + +Ein Regenschauer trieb sie ins Haus zurück. Fröstelnd zog ich den +Mantel fester, der Wind zerrte daran und warf mir eiskalte Tropfen ins +Gesicht. + +Am Abend fuhr ich nach München, wo Heinrich den Zug bestieg. Er hatte +seine Söhne in Pension, Rosalie und den Kleinen mit der Pflegerin aufs +Land gebracht. + +»Es gab wieder eine Szene,« erzählte er, »ihre innere Stimme, an die sie +nun einmal glaubt, hat ihr gesagt, daß du mich unglücklich machen +würdest. Aus Mitleid wollte sie darum alles verzeihen und mich in Gnaden +wieder aufnehmen. Als ich darauf verzichtete, prophezeite sie mir mit +dem Pathos einer Kassandra, ich würde noch einmal kniefällig um ihre +Liebe betteln. Und als auch das ohne Eindruck blieb, machte sie allerlei +dunkle Andeutungen über Zeugenaussagen im Prozeß, und die Pflegerin +lachte mich dabei so impertinent an, daß ich grob wurde.« + +»Nicht umsonst habe ich mich immer vor ihr gefürchtet,« sagte ich +trübsinnig. + +»Mein armer, kleiner Angsthase!« lächelte er, halb ungeduldig, halb +belustigt. Im Lexikon seiner Gefühle hatte das Wort »Furcht« keinen +Platz gefunden. »Du bist so tapfer und kannst so feige sein! Haben wir +nicht bisher schon über alles Erwarten Glück gehabt, und du willst +verzagen -- gerade jetzt, wo wir dem Frühling entgegenfahren?« + +Voll tiefen Vertrauens lehnte ich mich in den Arm zurück, der mich +umschlang, und sah still den weißen Flocken zu, die vor den Fenstern +tanzten, und den in dunkeln Schleiern schwer herabhängenden Wolken, die +der Zug durchschnitt. Es tat so gut, sich in der Obhut des Geliebten zu +wissen, seinen starken Schultern aufzubürden, was ich allein nicht hätte +tragen können. + +Auf dem Brenner glänzte die Sonne über frisch gefallenem Schnee, aber +von den Bergen stürzten schon frühlingsfroh die entfesselten Wasser. In +Gossensaß, wo die Bergwände sich noch einmal finster zusammenschoben, +braute wieder der Nebel um dunkle Fichten und winterstarres Gebüsch, +hinter Franzensfeste jedoch stand das breite Tal in blühendem Lenzkleid +und öffnete die Arme weit, um all die frierenden Wanderer an seine warme +Brust zu ziehen. Frohlockend wiesen von allen Höhen weiße Kirchlein mit +spitzen Fingern hinauf zur Sonne, die behaglich lachend am blauen Himmel +stand. Auf den knorrigen Ästen alter Obstbäume saßen junge lustige rote +und weiße Blüten. Ohne Ehrfurcht vor dem grauen Alter der Ruinen, der +nüchternen Heiligkeit der Klöster, fluteten in blauen Kaskaden die +süß-sehnsüchtigen Blumendolden der Glyzinien über die Mauern, vom +Liebesspiel buntschillernder Käfer umtanzt. + +Im brixener Gasthof zum Elefanten machten wir Rast. Nur das riesige Bild +des Rüsseltiers, dem er seinen Namen verdankt, erinnerte noch an die +Zeit, wo Kaiser und Könige auf der Romfahrt hier Einkehr hielten. Jetzt +saßen nur wenige unscheinbare Leute in dem niedrigen, dunkel getäfelten +Gastzimmer. Sicher: hier kannte uns niemand. Aber kaum saßen wir vor der +Schüssel, die verheißungsvoll nach gut österreichischer Mahlzeit +duftete, als ein Herr an unseren Tisch trat, Heinrich freudig begrüßend. +Umsonst, daß dieser die abweisendste Miene machte, den Fremden weder +nötigte, Platz zu nehmen, noch ihn mir vorstellte. In seiner Freude, +einen Bekannten zu treffen, besorgte er das ohne weiteres selbst; er +hielt mich für Heinrichs Frau und kündigte uns mit vielem Geräusch die +Bekanntschaft seiner Familie an. »Wir werden nicht bleiben können,« +sagte Heinrich langsam, als er sich endlich empfahl, »es sind Berliner.« +Ich zuckte die Achseln. »Diesmal bin ich die Mutigere von uns beiden. +Mir ist nichts so gleichgültig als der Klatsch.« + +»Aber ich dulde nicht, daß man dich verdächtigt,« brauste er auf. + +In aller Frühe am nächsten Morgen fuhren wir weiter bis nach Trient. +»Hierher kommt keiner unsrer Landsleute,« hatte Heinrich gesagt. Und in +der Tat: in den großen Palasträumen des Hotel Trento sprachen selbst die +Kellner nur ein gebrochenes Deutsch. Ob wir uns hier ein paar Wochen +würden ausruhen können? Wir hatten sehr das Bedürfnis danach. + +Vor dem Balkon meines Zimmers lag der weite Platz mit dem ehernen +Denkmale Dantes. Mächtig zeichnete sich seine schwarze Silhouette gegen +den blauen Himmel ab, zu beiden Seiten von den starren Felskulissen der +Berge eingerahmt. Aber der Platz zu seinen Füßen mit ein wenig Rasen und +ein paar kleinen immergrünen Büschen sah im gelben Licht der Sonne öde +aus. + +Wir gingen durch die Straßen: lauter graue Häuser mit verwaschenen +Farben und trüben Fenstern, Paläste dazwischen mit verblichenen Fresken, +Höfe mit alten ausgetrockneten Brunnen und Säulengängen, unter denen +zerlumpte Wäsche hing, stolze wappengekrönte Tore mit Firmenschildern +aus Blech und Anzeigen aus Papier benagelt und beklebt; ein Dom, +geschmückt mit den zierlichsten romanischen Galerien, die hohen Portale +von säulentragenden Löwen bewacht, und darin auf dem ausgetretenen +Estrich, zwischen den Grabmälern edler Geschlechter, ein paar alte +Weiber, die kniend den Rosenkranz durch schmutzige Finger zogen und mit +zahnlosem Munde Gebete plärrten. Und über der Stadt, sie beherrschend, +der prächtige Renaissancebau des alten fürstbischöflichen Schlosses, ein +unvergleichlicher Rahmen üppiger Hofhaltungen, -- eine Kaserne heute. In +der dämmernden Loggia auf dem Brunnenhof, wo die Würdenträger des +fürstbischöflichen Stuhls in roten und violetten Gewändern beim Gesang +des leise plätschernden Wasserstrahls die kunstvollen Lettern +pergamentgebundener Bücher zu lesen pflegten, saßen Soldaten und putzten +Gewehre; in den hohen Sälen, von deren gemalten Decken die Götter des +Olymps auf die tafelnden Priester des Gekreuzigten einst lächelnd +herniedersahen, standen Eisenbetten mit rauher Leinwand gedeckt, an den +Wänden, hinter deren kalkweißer Tünche prächtige Bilder schlummern, +hingen in Reih und Glied Käppis und Tornister. + +Wir gingen schweigsam zurück. In den Gassen lärmten ein paar Kinder: +Mädchen mit seidenen Schleifen im Haar und zerschlissenen Röckchen über +den bloßen Beinen, Knaben, die gierig um ein paar Kreuzer rauften. Vor +den Wirtshäusern auf dem schmalen Trottoir saßen in schäbiger Eleganz +junge Leute, die lange Virginiazigarre zwischen den schwarzen Zähnen. +Die Sonne schien, aber ihre Strahlen trafen auf keinen Lebenssamen, den +sie hätten wecken können; die kahlen Mauern, die baumlosen Straßen +warfen nur sengende Glut zurück. Fürsten erbauten diese Stadt, und +Bettler haben sie daraus vertrieben. + +Wir aber suchten den Frühling. Ein Postwagen mit vier Pferden davor +entführte uns aus Trient. Je weiter wir uns von der Stadt entfernten, +die wie ein steinerner Sarkophag in der Tiefe schlief, desto lachender +wurde die Natur. Auf den Wiesen blühten Lilien und Glockenblumen, um die +elendesten Hütten leuchteten in rosiger Pracht die Mandelbäume. In +Caldonazzo, einem stillen Nest am Ende des Sees, der den klaren Himmel +auf die Erde zu zaubern schien, blieben wir. Unter der Laube im +Obstgarten der Trattoria, die von gelben Rosen überwuchert war, wurde +uns gedeckt. Vino santo funkelte goldfarbig in den Gläsern, ein kleines +Mädchen mit großen runden Augen, wie geschliffene Kohlen, setzte noch +eine blaue Vase mit weißen Lilien mitten auf den Tisch. Dann war es +ganz, ganz still um uns, ein heiliges Abendschweigen, das wir mit keinem +lauten Wort zu stören wagten. Unsere Hände schlangen sich ineinander, +fester zog mich sein Arm an seine Brust, und sehnsüchtiger wurden unsere +Küsse. + +Schlüsselklirrend ging der Wirt durch den Garten. Wir standen auf. Vor +der Tür meines Zimmers blieben wir stehen, stumm, mit herabhängenden +Armen, unsere Augen versanken ineinander, und die ganze verzehrende Qual +unserer Liebe lag in unserem Blick. »Gute Nacht!« -- er berührte mit den +heißen Lippen nur meine Fingerspitzen. + +Ich schlief nicht. Durch das offene Fenster strich die laue Luft und +trug die süßen Gerüche der Wiesen auf ihren Flügeln. Ich preßte die +Zähne zusammen, um nicht den zu rufen, nach dem mein Herz verbrannte, +ich drückte die spitzen Nägel meiner Finger mir ins Fleisch, um mit dem +Schmerz die Qual zu betäuben, die mein Blut durch die Adern peitschte. + +Draußen im Garten knirschte der Kies, -- das Weinlaub am Fenster bewegte +sich, -- schlich nicht ein Schatten leise vorüber? -- O, warum kommst du +nicht, -- sind meine Arme nicht weich, lockt nicht mein Busen wie +Perlmutter glänzend in der Stille der hellen Mondnacht? Was geht mich +die Welt an?! Die sanften Höhen dieses blühenden Tales umschließen die +meine! Und die Menschen? Da doch niemand ist, als ich und du! Und die +Vergangenheit? Sie gehört uns nicht mehr! Und die Zukunft? Nichts ist +unser als dieser Frühlingsnacht zauberische Gegenwart! -- -- + +Aus kurzem, schwerem Morgenschlaf erwachte ich müde und einsam. Wir +trafen uns in der Rosenlaube, und die Spuren nächtlicher Kämpfe lagen +auch auf seinen Zügen. + +Der Telegraphenbote riß uns aus der Versunkenheit unserer trüben +Stimmung. Eine Depesche von Heinrichs Rechtsanwalt: »Frau Brandt +verlangt Schlüssel Ihrer Wohnung, kehrt nach Berlin zurück. Stimmung +nach Mitteilung ihres Anwalts wesentlich verändert.« Das Telegramm war +uns von Bozen nachgesandt worden und trug das Datum von vorgestern. »Ich +muß nach Berlin -- sofort --. Sie kann alles zerstören,« knirschte +Heinrich, »und du -- du Arme?!« »Zunächst begleite ich dich, -- alles +weitere besprechen wir unterwegs.« + +In sausender Fahrt ging es bergab. Die Peitsche des Kutschers pfiff über +die schweißtriefenden Pferde. Wir mußten den Schnellzug erreichen. +Unterwegs bekam ich einen Herzkrampf. Als ich wieder zu mir kam, +ratterte der Wagen über das Pflaster Trients, und Heinrichs +angstentstelltes Gesicht beugte sich über mich. »Wirst du weiter +können?« Ich nickte. Man hob mich in den Zug. Ich erholte mich soweit, +um ruhig denken zu können. Dicht bei Brixen lag unter großen Nußbäumen +ein kleines Dorf, Vahrn genannt; dort wollte ich bleiben, bis --. »Bis +alles gut ist, mein armer Liebling,« flüsterte er; »wenn ich nur sicher +wäre, daß du deiner Angst, deiner Aufregung Herr wirst, -- für mich ist +der Kampf ein Kinderspiel --« Der Triumph des Sieges blitzte schon aus +seinen Augen. In Brixen blieben uns noch ein paar Stunden bis zum +Abschied. Auf der Post fand sich ein Brief an mich von der Mutter mit +einer Beilage in verstellter Schrift: »Diesen anonymen Wisch bekam ich +soeben. Ich habe ihn, Gott Lob, vor Hans verstecken können. Da aber +Wiederholungen, womöglich direkt an ihn gerichtete, wahrscheinlich sind, +und ich von deinem Anstandsgefühl doch noch so viel erwarte, daß der +Inhalt dieses Schriftstückes eine Verleumdung ist und Dr. Brandt nicht +mit dir reist, so ersuche ich dich, zu veranlassen, daß er uns seine +Anwesenheit in Berlin auf irgendeine Weise dokumentiert ...« + +»Bereits morgen wird das geschehen,« sagte Heinrich, »du stehst, wie +notwendig es ist, daß wir das Opfer dieser Trennung bringen. Es wird die +letzte sein!« + +Mit einem leisen Vorwurf sah ich ihn an: »Fast scheint's, als freutest +du dich, daß du fort mußt!« + +»Ich freue mich der Hindernisse, die sich uns in den Weg legen. Mir wäre +bange geworden vor der Größe meines Glückes, wenn sein Besitz keine +Opfer kosten würde.« Ich schämte mich meiner Trauer, und wir nahmen +Abschied voneinander, fast als wäre es ein Willkommen. + + * * * * * + +Im Turmzimmer des Gasthofes zu Vahrn zog ich am selben Abend noch ein. +Von meinem Fenster sah ich ins Schalderer Tal mit seinen dunkeln Fichten +am klaren Bach. Stundenlang saß ich hier in wachen Träumen. Zuweilen +folgte ich dem stillen Waldweg bis hinauf nach Schalders. Aber es mußte +ein heller Tag sein, sonst fürchtete ich mich und sah, wie einst als +Kind, hinter jedem Baum Gespenster lauern. Abends stieg ich nach Salern +hinauf und saß zwischen dem alten Gemäuer der Ruine bis breite +Bergschatten das Tal von Brixen verhüllten und die Spitzen der Dolomiten +fern am Horizont aufglühten wie verlöschende Fackeln. + +Des Nachts aber kamen die finsteren Gedanken. Dann las ich wieder und +wieder seine Briefe und suchte zwischen den Zeilen, was er aus Schonung +verschweigen mochte: »Rosalie macht Besuche bei allen Bekannten, und ich +sehe an den Mienen der Leute, was sie erzählt --«, sie suchte Zeugen +gegen mich; der Preis der Scheidung würde die Verhinderung unserer +Heirat sein! »Sie hat neuerdings Freunde im Egidyschen Kreis« --, sie +suchte eine Verbindung mit den Eltern, sie wird zum Vater gehen, ihm +erzählen, -- und er ertrüge es nicht, so nicht, -- er würde Heinrich vor +die Pistole fordern! + +Noch geschah nichts dergleichen. Meines Vaters Briefe waren erregt, +aber nur über die Ereignisse des Tages: die Verurteilung Hammersteins +wegen Urkundenfälschung zum Zuchthaus, »ein Menetekel für den Adel, +dessen junger Nachwuchs das goldene Kalb umtanzt und dabei unabweisbar +dem Schwindel verfällt,« den Austritt Stöckers aus der konservativen +Partei, »dieses tüchtigen Mannes, den die Sozialdemokraten mit ihrer +verdammten Manier der Veröffentlichung von gestohlenen Privatbriefen auf +dem Gewissen haben,« über die in seinen Jubiläumsreden stets deutlicher +zutage tretenden Weltmachtgelüste des Kaisers, »die uns vom erprobten +geraden Wege altpreußischer Sparsamkeit und dem bewußten Sichbescheiden +auf den angestammten Boden und seine Bearbeitung in die Politik +abenteuernder Seefahrer hineinreißt.« Ich mußte mein Erinnerungsvermögen +immer erst mühsam auf die Welt außer mir einstellen, wenn seine Briefe +Antwort heischten. + +Eines Morgens kam ein Expreßbrief von Heinrich, den ich in Erwartung +erfüllter böser Träume zitternd öffnete. »Deine Liebe soll noch eine +harte Probe bestehen,« schrieb er. »Rosalie will sich nur unter der +Bedingung scheiden lassen, daß ich ihr mein ganzes Vermögen gebe. Es ist +an sich nur klein, wie Du weißt, aber es ist alles. Wirst Du stark genug +sein, einen Mann zu heiraten, der nichts besitzt? Der Dir nur seine +Liebe in die Ehe mitbringt und seinen festen Willen, Dir trotz alledem +ein glückliches Leben zu erkämpfen?... Antworte mir nach reiflicher +Überlegung. Aus Deiner Hand würde ich jedes Geschick ohne Murren +empfangen. Fürchte nichts von mir, wenn Du nein sagen mußt. Das Glück, +das Deine Liebe mir schenkte, war schon so groß, daß ich Dir auch dann +noch dankbar bleibe...« Ich lächelte, von einem Alpdruck befreit; so +viele Worte um solch eine Kleinigkeit! Nicht einen Augenblick des +Besinnens gab es für mich. »Gib, was sie fordert,« telegraphierte ich. +Aber noch immer schien sie nicht genug zu haben. Ein paar Tage später +verlangte sie eine Summe, die Heinrichs Vermögen übertraf. Und als der +Anwalt ihr vorhielt, daß Heinrich Wucherschulden machen müsse, wenn er +ihren Wunsch erfüllen solle, sagte sie ruhig: »Mag sein, -- aber sonst +lasse ich die Scheidung nicht zu.« Sie war unersättlich. In meinen +nächtlichen Träumen sah ich sie: groß, dunkel, mit der Schleppe, die wie +eine Schlange hinter ihr her raschelte, und den weißen Raubtierhänden. + + * * * * * + +Der Tag der Entscheidung nahte. Am Vorabend fuhr ich nach München. Die +Stunden schlichen, die Zeiger an der Uhr wollten nicht von der Stelle +rücken. Ich hörte, wie das Leben draußen verstummte, die letzten Pferde +müde zum Stalle trotteten, das letzte Läuten der Straßenbahn verklang. +Und ich hörte wieder, wie es erwachte, wie die ersten Marktwagen im +Dämmerlicht grauenden Morgens über das Pflaster ratterten und die Tritte +der Bäckerjungen straßenweit zu verfolgen waren; wie das Räderrollen +allmählich anschwoll zu einem brausenden Ton, und kein einzelner Schritt +unter den vielen mehr zu unterscheiden war. Dann kamen die Stunden, die +über mein Schicksal entschieden. Sie waren wie lebendige Wesen, die mit +meinem Herzen Fangball spielten. + + * * * * * + +»Frei!« -- Ich hatte das Telegramm dem Boten aus der Hand gerissen, -- +ich starrte das Wort an, bis mir die Augen übergingen. Im Zimmer ertrug +ich's nicht mehr. Zu groß war mein Glück. Und selbst als der Himmel sich +über mich spannte, war mir's, als müßte es sein blaues Gewölbe +zersprengen. + +Zwei Tage mußte ich des Geliebten warten. »Nachdem Dein heimlicher +Wunsch, Du emanzipationslüsterne Frau, eine freie Ehe zu schließen, an +meinem reaktionären Eigensinn endgültig zu Schanden wurde« schrieb er +neckend, »muß ich unserer altmodisch ordentlichen Verbindung auch eine +bürgerliche Grundlage schaffen.« + +Ich lief indessen in der Stadt umher und suchte, meinem übervollen +Herzen Luft zu machen. Ein Bettler stand an der Ecke mit einem Plakat +vor der Brust: »Ein armer Taubstummer bittet um eine milde Gabe,« ich +drückte ihm ein Goldstück in die Hand, was ihn so verblüffte, daß er +seiner Stummheit vergaß und ein Mal über das andere ein »Vergelt's Gott« +stammelte. Vor allen Schaufenstern blieb ich stehen, in denen die +Maisonne zärtlich über Spitzen und Schleier strich. Und das Schönste, +was ich sah, war nur gerade schön genug, um mich für ihn zu schmücken. + +Meines Lebens hohe Zeit stand vor der Türe; königlich sollte sie +empfangen werden. Niemand durfte ihr begegnen, der Trauergewänder trug. +Keines Menschen Träne durfte den Willkommtrunk verbittern, mit dem ich +sie begrüßen wollte. Und im geschliffenen Kristall des Pokals sollte +sich nur die Sonne spiegeln. + +Der Gedanke an die Eltern krampfte mir das Herz zusammen. Ich sah sie +in der dunkeln Wohnung hinter den schweren Vorhängen, die immer an den +Winter glauben ließen. Würde mein Glück hell genug sein, um +hindurchzudringen? Ich fühlte, wie dumpf die Luft bei ihnen war. Würde +mein Glück stark genug sein, sie zu zerstreuen? + +An einem hellen Morgen, über den der Himmel leuchtete wie ein +geheimnisvoll gleißender Opal, trug ich ein weißes Kleid und Rosen im +Gürtel, die lauter Sonnenlicht getrunken hatten und die Blütenköpfe +senkten, schwer von Schönheit. Ich wartete des Geliebten. Durch die +vielen Scheiben der Bahnhofshalle funkelte und sprühte das Morgenlicht +und malte tanzend helle Flecke auf den Asphalt. Wie blasse Mondscheiben, +wenn der Tag noch herrscht, standen die großen, runden Bogenlampen über +dem hastenden Leben. Hin und her strömten bunte Menschenschwärme. +Reisefieber, das in blaue Fernen treibt, sorgender Ernst, der der +Tagesarbeit entgegenstrebt, lachende Hoffnung, die in die Arme der Liebe +verlangt, bange Angst, die vor der Fremde zittert, malten sich in den +vielen Gesichtern. Die Züge brachten und empfingen sie in unaufhörlichem +Wechsel. Ich allein stand in der Flut ganz still, die Augen auf das +helle riesige Bogenrund gerichtet, in das die großen schwarzen Schlangen +fauchend untertauchten, und aus dem sie, die welterobernden Ungeheuer, +brausend hervorquollen. Endlich! Ein schriller Pfiff aus einer +Lokomotive, die ihre mächtigen, blanken Glieder majestätisch +hereinwälzte, zwei zischende Garben weißer Wasserdämpfe --, sie stand. +Lauter Schatten liefen und drängten an mir vorüber, ich sah nur ihn, -- +und er zog mich in die Arme, ganz fest --, alle Rosen fielen mir aus +dem Gürtel, und streuten ihre Blätter um uns, glutrote ... + + * * * * * + +»Und unsere Hochzeit, mein Lieb, wo soll sie sein?« »Irgendwo zwischen +hohen Bergen, im Walde, wo der Dompfaff uns traut --« + +»Und wann, -- wann?« heiß flüsterte seine Stimme an meinem Ohr. + +»Still muß es um uns sein, ganz still, dann wird die Stunde kommen, der +wir gehorchen müssen ...« + + * * * * * + +Wir fuhren nach Augsburg zu Tante Klotilde, meines Vaters Schwester. +Vielleicht, daß sie sich für uns gewinnen ließ, daß ihr Einfluß den +Vater beruhigen könnte. Am Bahnhof trennten wir uns, er ging ins Hotel, +mich führte ihr Wagen durch das alte schmiedeeiserne Tor vor das schöne +Haus mitten im blühenden Garten. Mit ungewohnter Zärtlichkeit empfing +sie mich: »Du hast mir etwas zu sagen, Kind? Fürchte dich nicht --, du +weißt, ich habe viel an dir gut zu machen.« Ich fürchtete mich doch, -- +aber nicht vor ihr. Wenn sie mich verdammte, so wußte ich: das Herz +würde ihr darum nicht bluten. Um den Vater nur bangte mir, wenn sie die +Verständigung nicht würde herbeiführen wollen. Ich erzählte, daß ich +verlobt sei. Ich verschwieg nicht, daß er sich hatte scheiden lassen, -- +um meinetwillen. Aber von der ersten Ehe erzählte ich nichts, und nichts +von dem Kinde, das vor wenigen Monden erst geboren worden war. Ich +bekannte ehrlich, daß er, wie ich, Sozialdemokrat von Gesinnung sei, +aber ich betonte, daß seine Tätigkeit allein auf neutralem +wissenschaftlichem Gebiete liege. Und als sie die Frage stellte, die, +wie ich wußte, für sie von ausschlaggebender Bedeutung war: »In welcher +Lage ist er?« -- da log ich: »In der besten --« Was ging das alles die +anderen an?! Mein Leben war es, für das ich allein die Verantwortung +trug. Nur dem Vater wollte ich es leicht machen, und die Mutter sollte +sich nicht grämen, und mein blondes Schwesterchen sollte nicht weinen! + +Heinrich wurde zum Essen geladen. Seine ruhige, fast hochmütige +Zurückhaltung der »Frau Baronin« gegenüber imponierte ihr. Sie schrieb +noch am Abend einen langen Brief an den Vater. Und am nächsten Mittag +kam seine telegraphische Antwort: »Tief gerührt über die Liebe, mit der +du Alix in deinen Schutz nimmst, versage ich ihr nicht den Segen ihrer +schmerzbewegten Eltern.« + +Heinrich reiste nach München zurück, -- es wäre ja nicht passend +gewesen, ein Brautpaar beieinander zu lassen! -- ich blieb noch, um in +ein paar Tagen mit Freunden, -- wie ich vorgab, -- nach Tirol zu gehen. +Inzwischen kamen die Briefe der Eltern. Von der Mutter zuerst. Sehr +liebevoll, aber doch voller Sorge. »Ich danke Gott und der lieben +Klotilde,« schrieb sie, »daß Dein Vater die große unerwartete Sache so +aufnahm und ruhig ist, trotzdem ihm alles furchtbar schwer wird und er +noch nicht imstande ist, an Dich zu schreiben. Wenn nur seine Gesundheit +aushält, um die ich oft sehr besorgt bin, besonders bei so großen +Erschütterungen ... Ilschen hat sich reizend benommen; ihre kindliche, +zärtliche Art, ihrem Papa alles recht gut und schön darzustellen, ihre +Bitten und Tränen haben ihn tief gerührt ... Um Deines Vaters willen +bitte ich Dich, Deine Verlobung wenigstens solange geheimzuhalten, bis +er bei Klotilde in Grainau ist, die ihn so freundlich einlud und ihn am +leichtesten wird beruhigen können. Auf diese Weise entgeht er am besten +dem Zeitungsklatsch, an dem es wohl leider nicht fehlen wird ... Mir ist +das Herz so übervoll, daß ich keine Worte finde. Gott führe alles zum +Besten ...« Und dann kam der erste Brief des Vaters, aus dem ich erfuhr, +daß er wußte, was ich ihm schonend verschwiegen hatte. »Wenn Du älter +geworden sein wirst,« hieß es darin, »so wirst Du verstehen, daß ich +nicht Dein Glück stören will, sondern nur mit der Erfahrung eines +Mannes, der am Ende seines Lebens steht, da kein Glück sehe, wo Du +seinen Gipfel glaubst erstiegen zu haben ... Dr. Brandt mußte bei mir +und Mama zuerst um die Erlaubnis zur Verbindung mit Dir nachsuchen, es +mußten mir ganz klar die äußeren Verhältnisse dargetan werden, die zur +Scheidung führten, und die Lebenslage, die Dr. Brandt Dir bietet. Von +alledem ist nichts geschehen, und ich bin und bleibe der vor Gott und +den Menschen für Dich verantwortliche Vater; auf mir, Mama, Ilse bleibt +jeder öffentliche Skandal sitzen. Sage selber, wie soll ich Vertrauen zu +einem Manne haben, der zweimal geschieden ist? Ich kenne die Gründe +nicht, kann also nur bei meinem theoretischen Urteile bleiben, daß es +ihm zweimal nicht gelungen ist, seine ihm 'bis der Tod uns trennt' +angetraute Frau an sich zu fesseln. Es kommt hinzu, daß selbst roheste +Naturen Pietät dafür haben, wenn dem Manne eben von seiner Frau ein +Kind geschenkt worden ist. Diesen Augenblick zur Scheidung zu wählen, +ist gewiß nicht feinfühlig. Meine Tochter ist mir zu schade, als daß ich +ruhig zusehen könnte, wenn sie in solche Verhältnisse verwickelt +wird ...« + +Es entspann sich eine erregte Korrespondenz. Ich war viel zu +empfindlich, besonders gegenüber Angriffen auf den Geliebten, als daß +ich mich wenigstens äußerlich hätte beherrschen können. Mein strahlendes +Glück hatte mich blind gemacht für die Welt, in der meine Eltern lebten +und dachten. Ich empfand als bittere Kränkungen, was von ihrem +Standpunkt aus sorgende Liebe war. »Ich begreife nicht, daß Du scheinbar +gar nicht ahnst, wie schwer uns Deine Heirat werden muß,« schrieb Mama +in Beantwortung eines meiner Briefe, »willst Du denn durchaus nicht die +Wirklichkeit sehen? Muß ich ganz deutlich werden und dir sagen, wie +selbst Dir wohlwollende Menschen über Dich den Kopf schütteln? Du ahnst +wohl gar nicht, was und wie man über Euch spricht! Und jetzt erwähnst Du +wie etwas Selbstverständliches, daß Ihr Euch hier in Berlin wollt trauen +lassen. Ich finde den Gedanken unglaublich. Denke doch nur an das +Aufsehen, und was das für ein Licht auf uns alle werfen würde! Wir +wollen der Welt gegenüber betonen, daß Du mit unserem Segen +heiratest --, hier würde nicht einmal unser Pfarrer, der so streng über +Scheidungen denkt, Euch trauen wollen ... Heiratet in irgend einem +stillen Ort Süddeutschlands, wohin ich und Ilse zur Trauung kommen +werden, und überlegt vor allem, ob es nicht besser wäre, wenn Ihr Euch +dann fern von Berlin niederlaßt? Für alle Teile würde es besser sein, +solange der gemeine Klatsch über Euch nicht verstummt ist. Ich habe auch +an Deinen armen Vater zu denken, den Du ganz zu vergessen scheinst, und +dem jede neue Aufregung erspart werden muß ...« + +Ich erwähnte in meiner Antwort der Schwierigkeiten, die eine Heirat an +anderem Orte bereiten würde. Wir hatten längst beschlossen, uns ohne +alles Aufsehen trauen zu lassen und gehofft, daß die Eltern angesichts +der vollzogenen Tatsache sich um ihr Was und Wie nicht kümmern würden. +Im nächsten Brief meiner Mutter schrieb sie: »Du erwähnst nur der +standesamtlichen Schwierigkeiten, also wollt Ihr wohl die Kirche +umgehen, -- wenn Du mir das noch antust, dann wäre es besser, wir sehen +uns nie wieder, denn das kann ich nicht überwinden, das würde ich nie +verzeihen, und Vater, Schwester und Tante auch nicht! Bedenket wohl, was +Ihr damit tut: Ihr gebt unseren Beziehungen den Todesstoß ...« + +Ich war schon wieder abgereist, als mir in Innsbruck berliner Zeitungen +in die Hände fielen. Sie brachten mit mehr oder weniger hämischen +Randbemerkungen die Mitteilung von Heinrichs Scheidung und meiner +Verlobung. Und gleich darauf kam ein Brief des Vaters: »Was zu erwarten +war, ist geschehen: alle Zeitungen beschäftigen sich mit Dir und ziehen +meinen guten Namen in die Skandalgeschichte meiner Tochter. Sie sagen, +daß Du Dich nun ganz der Sozialdemokratie in die Arme geworfen hast ... +Du nahmst die Gewohnheit an, bei Deinen Handlungen nie an Deine Eltern, +nie an Deine Schwester zu denken. Trotzdem bleibst Du unser Kind, und +wir tragen an Dir mit, gleichgültig welches die Bürde ist, die Du uns +auferlegst. Wenn eine Tochter frank und frei erklärt, sie gehöre zur +Sozialdemokratie, so bleibt an den Eltern etwas hängen. Ich bin alt und +gebrechlich, meine Tage sind gezählt, aber ich bin notwendig für Deine +Mutter und Deine Schwester. Unehre jedoch ertrage ich nicht; wenn man +mich ehrengerichtlich belangt, wegen Deiner Beziehungen zu einer +staatsvernichtenden Partei, so mag man mich begraben. Daß die +Sozialdemokratie es jetzt freudig ausbeutet, wenn die adlige Tochter +eines allgemein bekannten Generals sich zu ihr bekennt, das begreife +ich, es ist ihr Vorteil. Wer ein einziges Mal diese gemein aussehenden +Leute im Reichstage gesehen hat und sich vergegenwärtigt, daß diese +Rotte unheimlicher Kreaturen von den Pfennigen der Arbeiter sich mästet, +die um so reichlicher fließen, je mehr alles in den Schmutz getreten +wird, was uns heilig ist, der muß am Rande der Verzweiflung stehen, wenn +er die eigene Tochter unter ihnen weiß ...« Ich antwortete nicht. Wie +viel besser wäre der offene Bruch gewesen, als daß ich, vom Verstande +unkontrollierten Gefühlen hingegeben, eine Brücke über Unüberbrückbares +zu schlagen versucht hatte. Ich hatte nicht wehe tun wollen --, litten +die Eltern jetzt nicht mehr, wo sie mich von schleichender Vergiftung +befallen glaubten, als wenn ich ihnen ganz gestorben wäre? + +Am Morgen meines Geburtstages erwartete ich den Geliebten. Stille Wehmut +dämpfte die Freude, mit der ich Heinrich empfing. Vor lauter Glück +bemerkte er meine Stimmung nicht. »Ich bringe dir ein schönes +Geburtstagsgeschenk,« rief er, mich zärtlich umarmend. »Herr Charles +Hall, der Deutschamerikaner, von dessen sozialpolitischen Interessen ich +dir oft erzählte, hat sich bereit erklärt, meine Zeitschrift zu +unterstützen. Siehst du, nun hab' ich auch das durchgesetzt: die +bürgerliche Grundlage unserer gut bürgerlichen Ehe! -- Dürfen wir nun +nicht Hochzeit feiern?!« fügte er leiser hinzu. Ich schüttelte den Kopf +und hing mich fest an seinen Arm: »Laß mich erst wieder froh werden, +mein Heinz!« + + * * * * * + +An einem regenfeuchten Julitag kamen wir nach St. Jodok, einem kleinen +Bergnest, das die Brennerbahn fauchend umkreist. »Morgen fruh scheint d' +Sunn,« versicherte der Führer, mit dem wir über unsere Pläne +verhandelten, und so beschlossen wir, noch am Nachmittag zur Geraerhütte +zu gehen. Es war ein einförmig düsterer Weg durch die Wiesen des Valser +Tales mit ihren zahllosen braunen Heuschobern, auf die der Nebel tief +hinunterhing, und dann die Anhöhe hinan auf steinigem Pfad, von +schwarzgrauen Bergen umgeben, deren Gipfel sich in den Wolken verloren. +Und in der Nacht tobte der Wind um die Holzhütte, und der Regen +klatschte an die kleinen Fenster, daß ich mich fröstelnd in die Decken +hüllte und eine undurchdringliche Finsternis noch vor mir zu haben +meinte, als der Führer morgens an die Türe pochte. »Schön wird's,« sagte +er mit unerschütterlicher Sicherheit. Wir traten hinaus, dicht vermummt, +wie zu einer Winterreise. Fast wäre ich schwindelnd zurückgewichen vor +dem Bilde, das die flackernde Laterne unsicher beleuchtete: wie auf +einer Insel im Wolkenmeer standen wir. Unten im Tal lagen die Nebel +dicht geballt, nur hie und da streckte es sich aus ihnen hervor wie +lange schwarze Arme, die, kaum daß sie unsere Höhe erreichten, +verschwanden wie Gespenster beim Glockenschlag. Wir stiegen aufwärts, +Schritt vor Schritt, lange Serpentinen bis zum Alpeiner Ferner. +Frischgefallener Schnee deckte ihn wie ein Leichentuch, nur hie und da +glänzte das Eis hervor in tiefen, dunkelgrünen Spalten, -- geheimnisvoll +lockende Gräber. Kein Leben ringsum; selbst der Sturm war verstummt, +unhörbar versanken unsere Füße im Schnee. Mich grauste. War es nicht das +Reich des Todes, das wir betreten hatten? + +Da begann der Himmel über uns sich rosig zu färben; noch einmal sah ich +hinab in das Nebelmeer der Tiefe, dann stieg ich, so rasch meine Füße +mich tragen konnten, um die Höhe zu erreichen, wenn die Sonne kam. + +Und sie war da. Glühend in junger Liebe, als küsse sie die Erde zum +erstenmal. In der heißen Umarmung ihrer Strahlen ward die keusche Braut +zum Weibe, das sich dem Geliebten schrankenlos hingibt. Sie warf die +dunkeln Schleier von sich, in die sie sich eben noch scheu gehüllt +hatte, und auch die letzten weißen duftigen Hüllen zerriß sie. In ihrer +prangenden Schöne stand sie vor ihm, die schimmernde weiße Stirn stolz +gen Himmel gehoben, den schneeigen Busen rosig überhaucht von dem Gruß +dessen, der sie erlöste. + +Wir standen ganz still und schauten uns an und lasen einander die +Gedanken von den stummen Lippen. Auf dem Weg durch die Nacht und empor +bis hierher, hatten wir die Vergangenheit noch einmal durchlebt, +zusammengedrängt in wenige Stunden. Nun aber war es vorüber. Der Gipfel +war unser. Und über das Schneefeld hinab, der Sonne zu, lag eingebettet +in grüne Matten ein kleines, helles Haus. Mit dem Bergstock, dessen +Spitze rote Alpenrosen schmückten und weiße Edelweißsterne, wies ich +hinab. »Dort will ich Hochzeit halten,« flüstere ich. Da hob mich der +Liebste jubelnd hoch empor, und miteinander sausten wir über den Schnee +in die Tiefe. + +»Arg verliabt san's,« brummte der Führer gutmütig, als wir aufatmend +unten standen. + +Zitherspiel und Gesang empfing uns in der Dominikushütte. Ein paar junge +Männer, Studenten mit blondem Kraushaar und blitzenden Augen, saßen um +den Tisch, und ihre Stimmen füllten den Raum mit lauter Frohsinn. Seil, +Steigeisen und Eispickel lagen neben ihnen; die verstaubten Stiefel und +die braunen Gesichter bewiesen: sie waren echte Höheneroberer. Solche +Söhne will ich haben --, zog es mir durch den Sinn, als spräche es aus +unbekannter Tiefe meines Wesens. + +Feierlich, mit Millionen goldenen Sternen am Himmel, senkte sich die +Nacht in das Tal. Von Wiesen und Wäldern ein starker Duft füllte unsre +braune Kammer. Und leise Winde, die von den Gipfeln kamen und noch +keinen Staub getragen hatten, flüsterten in den Fichten vor dem Fenster. +Da bin ich sein Weib geworden ... + + + + +Fünftes Kapitel + + +Warme Augustsonne flutete durch alle Zimmer und brütete unten in +gewitterschwangerer Hitze auf den jungen Anlagen des Lützowplatzes. +Unruhig wanderte ich von einem Raum in den anderen, rückte auf dem +mächtigen Doppelschreibtisch, den wir uns zu gemeinsamer Arbeit hatten +machen lassen, die Bilder der beiden Buben, die nun meine Stiefsöhne +waren, noch ein wenig in den Vordergrund, ging in ihr Zimmer mit dem +blumengeschmückten Balkon, von dem aus der Blick geradeaus weit über die +dichtbelaubten Bäume am Kanal schweifen konnte und rechts die Straße +hinauf bis in die grüne Tiefe des Tiergartens, strich mechanisch die +Bettdecken glatt und steckte den Kanarienvögeln, mit denen ich die +Kinder überraschen wollte, ein paar Kuchenkrümel zu, die ich nebenan vom +reichbesetzten Vespertisch geholt hatte. Immer wieder zog ich die Uhr: +gleich mußten sie kommen, schon eine Stunde fast war Heinrich fort, um +sie am Anhalter Bahnhof in Empfang zu nehmen. Ich lief durch unser +Schlafzimmer mit seinen hellen Möbeln und meergrünen Vorhängen auf die +breite Loggia hinaus: von hier würde ich sie zuerst entdecken, wenn sie +vom Lützowufer auf den Platz einbiegen würden. Ich musterte +erwartungsvoll alle Menschen. Von der luftigen Höhe meines vierten +Stockes glichen sie aufgezogenen Puppen, wie sie die Händler um +Weihnachten auf dem Asphalt laufen lassen. Und der Herkules auf der +Kanalbrücke sah wie ein Knabe aus, der mit seinem Pudel spielt. + +Wehte dort nicht jemand grüßend mit einem weißen Tuch? Richtig: es war +der kleine, schwarze Hans, der dem Vater und dem Bruder voranlief. Ich +hatte doch rechtes Herzklopfen. »Du wirst sie lieb haben, meine Kinder,« +hatte Heinrich gesagt, ehe er ging. Und mein »Ja« war aus vollem Herzen +gekommen. Nun aber war mir bang. Sie waren bei ihrer Mutter gewesen --, +würden sie der jungen Frau ihres Vaters nun nicht wie einer Feindin +begegnen? Würde all meine Liebe, die ich ihnen entgegenbrachte, weil sie +Heinrichs Söhne waren, ihr Mißtrauen besiegen können? + +Sie stürmten die Treppe hinauf. »Fein, daß du jetzt die Mama bist!« rief +Wölfchen. Hans sah mich nur groß an und kramte in seinem Rucksack nach +einem halbverwelkten Alpenrosensträußchen, das er mir mitgebracht hatte. +»Ihr müßt recht brav sein, damit Ihr so eine gute Mama verdient,« sagte +Heinrich. Ich warf ihm einen flehenden Blick zu. Er sollte mich nicht +loben, -- jetzt, da sie von der eigenen Mutter kamen. Aber ich hatte +ihnen wohl tiefere Empfindungen angedichtet, als sie besaßen. Sie waren +vergnügt, selbst Hans wurde gesprächig; und als ich sie zu Bett brachte, +waren sie ganz von selbst zärtlich zu mir geworden. + +»Ich danke dir, Alix,« sagte Heinrich mit warmer Betonung. »Noch hast du +zum Dank keine Ursache,« antwortete ich. Mir war seltsam beklommen +zumute. + +Als wir schlafen gingen, öffnete ich gedankenlos die Tür zum Zimmer der +Kinder, -- es hatte mir in den acht Tagen seit unserem Einzug als +Ankleideraum gedient --, erschrocken fuhr ich zurück: »Bist du's, +Mutter?« rief eine schlaftrunkene Stimme. Ganz leise zog ich die Türe +wieder ins Schloß; auf Zehenspitzen schlich ich ins Bett. »Liebste -- +Einzigste!« flüsterte Heinrich und zog mich in seine Arme. Noch waren +wir in den Flitterwochen unserer jungen Ehe, und uns war, als ob jeder +Tag und jede Nacht uns einander aufs neue schenkte. Heute aber wehrte +ich dem Geliebten mit einem ängstlichen Blick auf die Tür, -- kaum daß +ich seinen Kuß zu erwidern wagte. Wir waren nicht mehr allein. +Zehnjährige Knaben sind hellhörig. + +Am nächsten Morgen ging ich mit ihnen in die Stadt. Ich hatte mich +überzeugt, daß sie ganz neu eingekleidet werden mußten, auch die +Schulbücher galt es anzuschaffen. In recht gedrückter Stimmung kam ich +nach Hause; die Einkäufe hatten ein großes Loch in mein Portemonnaie +gerissen. Siebenzig Mark, -- das war der ganze Rest meiner Erbschaft; +auf unsere Reisen, auf die Wohnungseinrichtung war sie draufgegangen; +Heinrich hatte schließlich auch noch den ganzen Haushalt der +geschiedenen Frau mitgegeben, und es war nun nötig geworden, alles +Fehlende zu ersetzen. Gewiß: ich hätte weniger ausgeben können --; ich +hatte an nichts anderes gedacht, als unserer Liebe ein Heim zu schaffen, +das ihrer würdig war. Glückselig hatten wir in den Tag hineingelebt; nun +erst schien das Alltagsleben anzufangen, ganz nüchtern, ganz prosaisch, +mit seinen täglichen kleinen Forderungen und seinen persönlichen Sorgen, +in deren Schwüle der Altruismus so leicht verdorrt und der Egoismus +üppig emporwuchert. Mir sank der Mut: wie würde Heinrich, der, wie es +schien, an die Unerschöpflichkeit meiner Kasse ebenso fest geglaubt +hatte wie ich, die unerwartete Nachricht aufnehmen? Ich war bei Tisch, +-- dem ersten Mittag zu Hause, wir hatten bis dahin wie lustige +Studenten stets irgendwo draußen gegessen, -- nicht gerade redselig. +Gut, daß die Buben so viel zu erzählen wußten! + +Als wir uns am Schreibtisch allein gegenübersaßen, Korrekturen und +Manuskripte vor uns, bekannte ich Heinrich meine Entdeckung. Er sah mich +ganz entgeistert an. »Aber das ist doch nicht möglich!« sagte er +schließlich und strich sich mit der Hand über die heiße Stirn. »Du hast +dich bestehlen und betrügen lassen --«, fuhr er dann los mit einem +Ausdruck und einer Stimme, die ihn mir vollkommen fremd erscheinen +ließen. Entsetzt starrte ich ihn an: so hatte mein Vater ausgesehen, +wenn ich vor dem Ausbruch seines Zorns verängstigt aus dem Zimmer +entfloh. Mir stürzten die Tränen aus den Augen. »Und nun weinst du auch +noch, -- als ob damit geholfen wäre --« rief Heinrich aufgeregt. Ich +drückte mein Taschentuch vor die Augen, stand auf und riegelte +geräuschvoll die Schlafzimmertür hinter mir zu. Ich hörte, wie er die +Entreetür krachend ins Schloß warf. Es war die erste, ernste Differenz +in unserer Ehe. Aber schon als ich ihn mit langen Schritten unten über +den Lützowplatz gehen sah, war mein Kummer verflogen. Ich hätte ihn, +ohne Rücksicht auf die Verwunderung der Menschen, zurückgerufen, wenn +meine Stimme ihn erreicht haben würde. Nun stand ich weit hinausgelehnt +auf der Loggia und winkte mit dem Tuch, das noch feucht von meinen +Tränen war. Mitten auf dem Platz stand eine alte Frau mit einem Korb +voll Rosen. Seine Schritte verlangsamten sich, als er in ihre Nähe kam. +Zögernd ging er an ihr vorüber. Dann aber drehte er um, ganz rasch, als +habe er etwas sehr Wichtiges vergessen; ich sah, wie er der alten Frau +alle Rosen aus dem Korbe nahm, und den Weg hastig zurückging, den er +gekommen war. In diesem Augenblick hob er den Kopf und sah mich. Er +winkte mit der Hand voll Blumen. Ich lief die Treppe hinab, ihm +entgegen. Wir sanken einander in die Arme. »Verzeih mir, Geliebte, +verzeih!« flüsterte er. »Was sollte ich dir zu verzeihen haben ...!« + +Noch am Abend fuhr er nach Frankfurt, um Hall um einen Vorschuß zu +bitten; vierundzwanzig Stunden später depeschierte er: »Anstandslos +bewilligt. Sei ohne Sorgen.« + + * * * * * + +»Nun müssen wir doch wohl ein paar Besuche machen,« meinte Heinrich +seufzend, ein paar Tage später, »bei meinem Bruder, bei August, bei dem +Alten --« + +Wir gingen zuerst zum »Vorwärts« in die Beuthstraße, in dessen Redaktion +mein Schwager tätig war, Dunkle, schmierige Steintreppen führten hinauf. +Nur spärlich drang das Tageslicht in die Redaktionsräume, vor deren +Fenstern ein großes Fabrikgebäude mit dem Rattern seiner Maschinen und +den grauen Gestalten, die sich eilig hin- und herbewegten, als ständiges +Menetekel für die Vertreter der Arbeiterschaft drüben aufgerichtet +schien. Zwischen Haufen von Büchern und Zeitungen saß mein Schwager, +blaß und abgespannt. + +Er war immer überarbeitet, denn zu seiner redaktionellen Tätigkeit +lastete er sich stets noch tausend andere Dinge auf. + +»Du interessierst dich ja für die Konfektionsarbeiter,« wandte er sich +an mich, »Reinhard und ich bereiten eine Enquete vor. Man muß die +Öffentlichkeit immer wieder mit der Nase auf die Dinge stoßen. Berlepsch +ist abgesägt, die Konfektionäre haben ihr Wort gebrochen, ohne daß ein +Hahn darnach krähte, jetzt gilt's wieder Spektakel machen, sonst ist's +ganz und gar aus mit der Sozialreform.« Ich sicherte ihm freudig meine +Hilfe zu. Und mit jener nervösen Unruhe, die stets das Zeichen geistiger +Überreiztheit ist, schnitt er in der nächsten halben Stunde ein Dutzend +anderer Gesprächsthemen an, um schließlich von seinem Bruder bei der +Frage des Vorwärtskonflikts festgehalten zu werden, der gerade die +Gemüter in der Partei erhitzte und die Gegner sehr beschäftigte, die +überall hoffnungsvoll Unfrieden witterten. + +»Ihr habt unrecht von Anfang bis zu Ende,« erklärte Heinrich +kategorisch. »Zuerst in der Ironisierung der Quarckschen Vorschläge und +dann in der unwürdigen Behandlung des alten Liebknecht.« »Was verstehst +du davon?« brummte Adolf. + +»Erlaube: von Sozialpolitik verstehe ich ebenso viel wie du. Und +Quarcks Vorschläge liefen darauf hinaus, den Gewerkschaften eine +intensivere Beschäftigung mit sozialpolitischen Fragen ans Herz zu +legen. Darin hat er recht. Sie sind wichtiger, als leichtsinnig +begonnene Streiks.« + +»Die Regierung würde auf unsere schönsten sozialpolitischen Kongresse +pfeifen, und die Folge wäre nur eine Verwischung des Klassencharakters +der Bewegung« -- Adolf redete sich in steigende Erregung hinein; jede +Unterhaltung schien sich in der Familie Brandt zum Streit auszuwachsen; +-- »selbst einen verlorenen Streik, der sie trotz alledem stärkt, weil +er die Erbitterung steigert, ziehe ich einem Liebäugeln mit bürgerlicher +Sozialreformerei vor. Und was den Alten betrifft --, ich möchte sehen, +was du tätest, wenn du mit ihm in der Redaktion säßest!« -- »Mich zanken +-- höchst wahrscheinlich! Aber nicht vor der Öffentlichkeit!« Ich hielt +den Augenblick für kritisch und stand auf. »Übrigens habe ich noch was +für dich, Schwägerin,« sagte Adolf und begann seine sämtlichen mit +Papieren vollgestopften Taschen vor uns auszuleeren. Endlich fand sich +der Zeitungsausschnitt, den er suchte. + +Ich las: »Zur Palastrevolution im Vorwärts -- cherchez la femme! Wir +erhalten von authentischer Seite folgende interessante Aufklärung über +die tieferen Beweggründe der Empörung der Vorwärtsredaktion gegen ihren +Chef, Wilhelm Liebknecht. Frau von Glyzcinski, alias Fräulein Alix von +Kleve, heiratete kürzlich Dr. Brandt, einen der Vorwärtsredakteure. Ihr +brennender Ehrgeiz, der das Ziel verfolgt, das Zentralorgan der Partei +in die Hand zu bekommen, ist es, der die Intrige anzettelte. Eine +Dynastie Brandt dürfte die Dynastie Liebknecht nunmehr ablösen.« +»Verlogenes Pack!« knirschte Heinrich. Adolf lachte. »Beruhige dich,« +sagte er zu ihm, »wir bringen heute schon eine Berichtigung --« »Und wir +gehen sofort zu Liebknechts, um der Geschichte die Spitze abzubrechen.« + +Adolf hielt uns noch einmal zurück: »Ich rate euch dringend, den Besuch +zu unterlassen. Der Alte kümmert sich freilich um keinerlei Geklatsch, +aber Frau Natalie erzählt in allen Parteikaffeekränzchen +Räubergeschichten über euch, die sie von deiner geschiedenen Frau gehört +haben will. Sie ist euch noch feindseliger gesinnt als Leo.« »Leo?!« +wiederholte Heinrich überrascht. So hieß jener Freund, auf dessen +enthusiastische Schilderung hin er die Bekanntschaft Rosaliens gesucht +hatte. »Das weißt du nicht?!« staunte Adolf. »Jedem, der es hören oder +nicht hören will, zählt er haarklein deine Sünden auf: daß du Rosalie +gezwungen habest, nach England zu gehen, um hier -- na, sagen wir: +ungestört zu sein, daß du sie selbst im Wochenbett nicht geschont, +sondern ihr die Einwilligung zur Scheidung durch unaufhörliche Quälerei +erpreßt hättest und sie, kaum daß sie aufstehen konnte, mit dem Säugling +aus dem Hause getrieben hast.« Heinrich war außer sich. Einer seiner +besten Freunde war Leo gewesen, und er verurteilte ihn, ohne ihn gehört +zu haben! + +Wir gingen schweigsam nach Hause. Auf dem Lützowplatz sah ich Frau +Vanselow uns entgegenkommen. Sie bemerkte uns, stutzte und bog hastig in +einen Nebenweg ein. Heinrich sah mich forschend an und zog, wie zum +Schutz, meinen Arm durch den seinen. »Mach dir nichts draus, Schatz. Es +ist alles Gesindel! Du stehst zu hoch, als daß es dich verletzen +könnte.« -- »Und dich?!« fragte ich und zwang mich zum Lächeln. Er biß +sich die Lippen und schwieg. + +Fast immer, wenn ich ausging, hatte ich ähnliche Begegnungen: Kein +Zweifel, meine alten Gefährtinnen aus der bürgerlichen Frauenbewegung +wollten mich nicht mehr kennen. Frau Schwabach ging mit hoch erhobenem +Kopf vorüber, wenn sie mich sah, und ich erfuhr aus den Zeitungen von +den Vorbereitungen zum internationalen Frauenkongreß, den einzuberufen +ich im Frühjahr noch mit beschlossen hatte. Man lud mich zu keiner +Sitzung mehr ein, es fehlte nur noch, daß man mir das Referat über die +Arbeiterinnenfrage fort genommen hätte, das mir seit Monaten übertragen +worden war. Ich schrieb an Frau Morgenstern, um sie daran zu erinnern. +Sie antwortete in sichtlicher Verlegenheit: »Wir glaubten nicht, daß Sie +noch Wert darauf legten, geschieht es dennoch, so können wir Sie +natürlich nicht hindern.« + +Nach all diesen Erfahrungen sah ich dem Besuch bei Bebels nicht ohne +Herzklopfen entgegen, obwohl wir zu unserer Hochzeit ein +Glückwunschschreiben erhalten hatten. Vielleicht war das nichts als eine +Höflichkeit gewesen; ich fing an, mißtrauisch zu werden, und etwas wie +Verbitterung bemächtigte sich meiner. Um so freudiger war ich +überrascht, als die gute Frau Julie uns herzlich willkommen hieß. Vor +Rührung und Dankbarkeit wäre ich ihr fast um den Hals gefallen. Und wenn +ich in Bebel bisher den Vorkämpfer des Sozialismus bewundert hatte, -- +von dem Augenblick an, wo er mir mit einem freundlichen: »Nun sind Sie +ganz die unsere« kräftig die Hand schüttelte, verehrte ich ihn um seiner +Menschlichkeit willen. + +Ich beklagte mich über die Behandlung durch die vielen anderen, -- +selbst durch Parteigenossen. »Sie wundern sich noch, daß Ihre Geschichte +so viel Staub aufgewirbelt hat?!« sagte Bebel. »Da kennen Sie unsere +männlichen und weiblichen Philister schlecht! In der Theorie läßt man +sich allerlei bieten, aber in der Praxis -- nein, das geht doch nicht! +Wo bliebe da die Moral!! Meine Frau und ich haben schon schwer für Sie +kämpfen müssen --« + +»So laß doch, August, -- das erzählt man doch nicht!« wehrte Frau Julie +errötend ab, während ich ihr dankbar die mütterlich-weiche Hand drückte. + +»Warum denn nicht?« meinte er. »Es ist besser, Brandts sind orientiert, +als daß sie täglich aufs neue unangenehm überrascht werden.« + +»Ich hörte, daß Leo sich sehr feindselig benimmt?« fragte Heinrich. + +»Und ob! Aber auch mit Singer habe ich mich schon herumgestritten, so +daß er mich schließlich fragte, ob ich ihn für einen Philister hielte, +was ich bejahte. Daß Frau Liebknecht gegen Sie beide Partei ergreift, +war bei ihren Anschauungen gar nicht anders zu erwarten. Bei den Frauen +müssen Sie sowieso darauf gefaßt sein, daß sie von einem wahren horror +ergriffen sind. Im Mittelalter hätten sie Sie als Hexe verbrannt, heute +werden Sie von hundert Mäulern begeifert und auf hundert Federn +gespießt.« + +»Und da läßt sich gar nichts machen?« Meinem Mann schwollen die Adern +an den Schläfen. »Warten Sie's ab, daß ist der einzige Rat, den ich +geben kann. In vier Wochen stürzen sich die Raubtiere auf irgendeinen +anderen armen Piepmatz, der so vermessen ist, fliegen zu wollen.« + +Frau Julie fragte nach meinen Eltern. Ich erzählte freimütig, was wir +durchgemacht hatten. »Arme, junge Frau -- arme junge Frau,« wiederholte +sie immer wieder und streichelte mir die Wange. + +»Mach unsere Genossin nicht noch weicher, als sie ist,« sagte er -- »Sie +müßten statt dessen in Drachenblut baden! Aber eins wird Sie trösten: +die Arbeit in der Partei. Damit werden Sie schließlich auch die bösesten +Zungen zum Schweigen bringen.« + +Wir schieden wie Freunde. Ich fühlte mich neu gekräftigt und voll +Hoffnung. Als wir ein paar Tage später zu Bebels geladen wurden, sah ich +diesem Ereignis mit erwartungsvoller Freude entgegen. Eine Gesellschaft +freier Geister, die die höchsten Ideale der Menschheit vertreten -- +meine Sehnsucht, seit ich denken konnte --, würde sich bei ihnen +zusammenfinden: unsere Gefährten auf dem Weg in die Zukunft. + +Lautes Stimmengewirr schlug uns entgegen, als wir an jenem Abend über +die gastliche Schwelle traten. Es verstummte jählings, sobald die Türe +vor uns aufging. Sie haben eben von uns gesprochen, dachte ich +unwillkürlich. Ich wurde vorgestellt und aufs Sofa gezogen. Auf dem +Tisch davor stand eine blendende Petroleumlampe. Neben mir saß eine +große, dicke Dame, die sich nicht anlehnen konnte, weil sie zu eng +geschnürt war. Sie war selbstbewußt wie anerkannte Schönheiten, warf +ihre braunen Augen siegessicher umher und behandelte mich sehr gnädig. +Ein Herr mit einem schwarzen Vollbart, der wie gut gewichste Stiefel +glänzte, rückte ihr mit seinem Stuhl immer näher und schlug sich bei +jedem Witz, den er erzählte, schallend auf die Schenkel. Er versuchte, +auch mich ins Gespräch zu ziehen. »Sie sind ja, Gott Lob, auch eine +vorurteilslose Frau,« sagte er und zwinkerte vertraulich mit den Augen. +Ich wandte mich ostentativ zur anderen Seite den Damen zu, die Frau +Bebel an den Tisch führte. Aber die Unterhaltung blieb an den +oberflächlichsten Phrasen kleben. Dazwischen hörte ich mit halbem Ohr +das Gespräch der beiden neben mir. Seine Witze wurden immer eindeutiger, +in irgend einer Friedrichsstraßen-Bar mochte er sie nicht anders +erzählen. Endlich ging's zu Tisch; ich hatte den Ehrenplatz neben Bebel. +Man sprach über die lieben Mitmenschen genau wie bei den »sauren Möpsen« +schrecklichen Angedenkens, die ich in den verschiedenen Garnisonen +meines Vaters hatte mitmachen müssen, und an Stelle von Regiments- und +Manövergeschichten über interne Parteiaffären. Da ich nichts von ihnen +verstand, konnte ich die Gesellschaft um so mehr beobachten; die Damen +waren sehr erhitzt, und wenn der Nachbar eine Bemerkung machte, +kicherten sie unaufhörlich. Die Hausfrau ging von einem zum anderen, um +zum Essen zu nötigen. Ich fing an, mich zu amüsieren, -- nicht mit den +Gästen, sondern über sie, -- und schämte mich doch wieder, daß meine +Beobachtung so kleinlich an lauter Äußerlichkeiten kleben blieb. Ich +wußte doch von vorn herein: hier waren keine Montmorencys. Aber so etwas +wie eine Gesellschaft bei Madame Roland vor 89 hatte ich mir doch wohl +vorgestellt. + +Zwischen Fisch und Braten benutzte ich die Gelegenheit, um meines +Nachbarn Ansicht über den bevorstehenden Frauenkongreß einzuholen. Eine +Notiz in Wanda Orbins Zeitschrift hatte mir zu denken gegeben. »Die +Genossinnen haben beschlossen, die Einladung zum Kongreß abzulehnen,« +hieß es darin. + +»Ich kann Ihnen nur raten, sie ruhig anzunehmen, ohne Rücksicht darauf, +wie Frau Wanda sich stellt,« sagte Bebel und warf mit einer lebhaften +Bewegung die widerspenstigen Haare aus der Stirn. »Ich befinde mich mit +ihr stets in kleinen Konflikten wegen der ungeschickten Taktik und der +oft recht gehässigen Art, mit der sie die bürgerliche Frauenbewegung +bekämpft. Sie käme mit einer sachlichen, ruhigen Darstellung viel +weiter. Haben Sie zum Beispiel gelesen, was sie über die Resolutionen +schrieb, die hier in vier großen Versammlungen zwischen der zweiten und +dritten Lesung des Bürgerlichen Gesetzbuchs zur Annahme gelangten?« + +Ich nickte: »Mich hat überhaupt gewundert, daß von seiten der +sozialdemokratischen Frauen so wenig geschah. Das Bürgerliche Gesetzbuch +hätte zu einer großen Protestbewegung Anlaß genug gegeben!« + +»Sicherlich!« bekräftigte er, »und statt den gegebenen Anlaß zu +benutzen, lehnte Frau Wanda den Anschluß an den Protest der bürgerlichen +Damen ab --, nicht etwa wegen dem, was darin steht, sondern wegen dem, +was nicht darin steht! Mich amüsiert der Vorgang besonders deshalb, weil +ich selbst den Resolutionen, die Frau Vanselow mir schickte, ihre letzte +Form gegeben habe.« + +»Sie scheinen mir mehr von der bürgerlichen Frauenbewegung zu halten, +als ich, die ich aus ihr hervorging,« meinte ich lächelnd. + +»Die Distanz verändert immer das Urteil,« antwortete er. »Ich mache mir +aber keinerlei Illusionen, finde nur, daß es taktisch richtiger gewesen +wäre, die Empörung der bürgerlichen Damen über die Haltung des +Reichstags für uns auszunutzen, als sie so plump, wie Frau Wanda es tat, +vor den Kopf zu stoßen. Die Frauen haben tatsächliche Fortschritte +gemacht und sind mit ihren männlichen Parteigenossen, den Liberalen, +nicht in einen Topf zu werfen.« + +Ich erinnerte ihn an das erwachende Interesse, das sie seit dem +Konfektionsarbeiterstreik für die Arbeiterinnenfrage an den Tag legten. +»Auch auf dem Kongreß wird sie im Verhältnis zu früheren Zeiten einen +breiten Raum einnehmen.« + +»Ein Verdienst Glyzcinskis und Ihrer Zeitschrift --, das werden Sie sich +hoffentlich nicht verhehlen,« warf er ein. »Im übrigen ist das natürlich +die schwächste Seite der Damen und wird es bleiben. Sie können ihnen ja +darüber tüchtig die Leviten lesen. Mit Ausnahme der christlich-sozialen +Frauen jüngerer Richtung verstehen sie nicht einen Deut von ihr.« + +Christlich-sozial, -- das war das Stichwort zur Verallgemeinerung des +Gesprächs. Göhre hatte eben sein Pfarramt niedergelegt, Naumann plante +eine Tageszeitung; die offene Trennung der Gruppe, die sich um ihn +gebildet hatte, von der Stöckerpartei, war eine schon fast vollendete +Tatsache. Man stritt mit steigender Lebhaftigkeit über ihre Ansichten, +über die Bedeutung, die sie für die Sozialdemokratie haben könne. + +»Nichts als ein Unterschlupf für die Möchtegern- und +Kanndochnicht-Politiker; Offiziere ohne Armee, die mit den Jahren nach +rechts abschwenken,« sagte der mit dem schwarzen Bart und zog ihn +schmeichelnd durch kranke, blutleere Finger »Es wird unsere Sache sein, +ihnen die Entwicklung zu uns zu ermöglichen,« hörte ich Heinrichs +Stimme. »Sie sind immer ein Ideologe gewesen, lieber Brandt,« antwortete +ihm eine andere, »sollten wir uns um eine Handvoll Intellektueller die +Beine ablaufen, wo Millionen Arbeiter noch nicht die unseren sind?!« +»Gerade um die Millionen zu gewinnen, brauchen wir eine solche +Handvoll --,« entgegnete Heinrich. + +»Dafür lassen Sie nur ruhig die Verhältnisse sorgen,« sagte Bebel +lebhaft, »sie werden uns schneller, als ihr alle glaubt, die Massen +zutreiben. Noch ein paar Jahre Flottenrummel, einige Reden von S. M..« + +»Und wir werden glücklich ein Dutzend Mandate mehr haben --, oder meinst +du wirklich, wir sprängen dann schon mit beiden Beinen in den +Zukunftsstaat?!« Der mit gutmütigem Spott gesprochen und bisher fast +immer geschwiegen hatte, war Ignaz Auer. Auf meine rasch entzündliche +Begeisterung, die Bebels Worte ganz anders ergänzte, wirkten die seinen +wie ein kalter Wasserstrahl. Anderen schien es ähnlich zu gehen, das +Gespräch verlor seinen allgemeinen Charakter; man stand auf. Nach ein +paar Höflichkeitsphrasen wurde der weibliche Teil der Gesellschaft in +das Wohnzimmer genötigt; die Herren rückten mit ihren Zigarren um den +Eßtisch zusammen, und durch die Tür klang ihre laute Unterhaltung. Bei +uns drinnen sprach man von Fleischpreisen und Kochrezepten; keine der +anwesenden Frauen schien in der Parteibewegung irgend eine aktive Rolle +zu spielen. Fragen von allgemeinerem Interesse wurden nicht berührt. Nur +die große, dicke Frau, deren Schönheit und Geist mir inzwischen +irgendwer gepriesen hatte, stellte sich wie ein Inquisitor kerzengerade +vor mich hin und fragte: »Wie denken Sie über Ibsen?« Die anderen +richteten selten ein Wort an mich; im Hintergrund schienen sie über mich +zu tuscheln, und ich fühlte ihre Blicke, die musternd auf mir ruhten. + +Auf dem Heimweg konnte ich mir endlich Luft machen. »Das sind ja alles +Philister --,« brach ich los, »vom Herrn Amtsrichter in Neu-Ruppin hätte +ich nichts anderes erwartet.« Heinrich lachte. + +»Glaubst du, die politischen Ideale könnten aus ihren Vertretern +gewandte Salonhelden machen?« + +»Das nicht. Aber freiere Menschen.« + +»Darüber dürften Generationen vergehen. Die Gewohnheit ist wie eine Haut +und läßt sich nicht auf einmal abziehen. Du mußt unsere Genossen bei der +Arbeit kennen lernen, nicht beim Souper.« + + * * * * * + +Die erste Gelegenheit dazu bot sich bald. Adolf lud uns ein, der Sitzung +der Gewerkschaftskommission beizuwohnen, in der die Vorschläge Dr. +Quarcks erörtert werden sollten. In einem Lokal der Kommandantenstraße +fand sie statt. Durch die enge Kneipe, wo es nach schlechtem Fett und +süßlichem Schnaps roch, und den regenfeuchten dunkeln Garten, wo ein +paar verkümmerte Kastanien zwischen haushohen Mauern einen endlosen +Todeskampf führten, ging es in die große, hölzerne Veranda, deren +spärliche Gasflammen die dichtgedrängte Menge unruhig beleuchteten. +Gegen hundert verschiedene Berufe waren durch ihre Delegierten +vertreten, fast lauter ernste, ältere Männer im Sonntagsrock, die +Zigarre zwischen den Lippen, den Bierkrug vor sich; nur zwei Frauen +unter ihnen: Martha Bartels und Ida Wiemer. Sie sahen uns kommen. Aber +während Martha Bartels den leeren Stuhl neben sich hastig aus der Reihe +schob und meinen Gruß frostig und fremd erwiderte, kam uns Ida Wiemer +freundlich entgegen und zog uns an ihren Tisch. »Haben Sie die Bartels +gesehen?« flüsterte sie mir zu. »Sie hat den Moralkoller, wie alle alten +Jungfern.« Mühsam drängte sich Reinhard mit seinem steifen Bein durch +die Reihen, um uns die Hand zu schütteln. »So kann ich Ihnen noch +persönlich gratulieren,« sagte er herzlich, »und uns dazu, weil Sie nun +ganz Genossin sind.« + +Er war der Referent des Abends. Mit einer Schärfe, die mir die +Wichtigkeit der Sache zu überschätzen schien, wandte er sich gegen die +Vorschläge Quarcks. Erst allmählich hörte ich das Leitmotiv aus seiner +Rede heraus: den Gewerkschaften die Beratung und Beschlußfassung +sozialpolitischer Fragen überlassen, hieße den Frieden zwischen +Gewerkschaft und Partei gefährden, hieße den Parteitagen, die sich +bisher allein damit beschäftigt haben -- »den Bedürfnissen und +Interessen der deutschen Arbeiterklasse vollständig entsprechend« --, +Sonderorganisationen gegenüberstellen, in die der Einfluß bürgerlicher +Sozialreformer einzudringen imstande sein würde. Die folgende +Diskussion verschärfte noch den Eindruck, den ich gewonnen hatte. + +Es fielen harte Worte, vor denen ich erschrak, weil sie mir eine +Vorahnung dessen gaben, was mir bevorstehen mochte. »Ein Mensch, der in +seiner bürgerlichen Existenz Fiasko gemacht hat, will uns, -- lauter +alte erprobte Gewerkschafter, -- auf neue Wege führen,« sagte der eine +unter dem Applaus der Anwesenden. »Erst soll er, wie jeder Arbeiter +auch, in die Schule gehen, ehe er das Maul aufreißt.« -- »Eine +Sozialpolitik, wie Quarck sie empfiehlt, ohne Parteipolitik, ist nichts +als jene Politik bürgerlicher Reformer, zu denen er im Grunde noch +gehört,« rief ein anderer. »Wenn er mit seiner bescheidenen +Parteistellung nicht zufrieden ist, dann hätte er lieber gleich sagen +sollen: für einen so großen Mann wie mich muß eine Extrawurst +gebraten werden, statt seine Wünsche hinter die Forderung eines +Zentral-Gewerkschaftsbureaus zu verstecken,« meinte ein dritter Redner, +dem die verbissene Wut aus dem roten Gesicht leuchtete. Erhob sich die +Debatte über persönliche Gehässigkeiten hinaus, so stand auf der einen +Seite die geschlossene Phalanx derer, die mit leidenschaftlichem Eifer +den Nachdruck auf die Gewinnung der politischen Macht durch die +Gesamtheit der Partei gelegt wissen wollten und den Gewerkschaften den +internen Kampf um bessere Lohn- und Arbeitsverhältnisse als alleinige +Aufgabe zuwiesen, auf der anderen Seite die sehr Wenigen, aus deren +Worten die Unzufriedenheit mit der praktischen Gegenwartspolitik der +Partei leise herausklang, und die vom Einfluß der Gewerkschaften auf +die soziale Gesetzgebung ein Wiederaufleben der Sozialreform erhofften. +Ganz nebenbei erwähnte auch jemand, daß unsere Vereinsgesetzgebung den +Gewerkschaften aus der Beschäftigung mit Sozialpolitik einen Strick +drehen und die Organisierung der Frauen unmöglich machen könnte. Keiner +ging weiter auf diese Bemerkung ein, auch die Frauen schwiegen, ich war +zu schüchtern, um in diesem Kreis für mein Geschlecht eine Lanze zu +brechen. Mir schien dieser Grund ausschlaggebend, um die Vorschläge +unausführbar zu finden. + +Ich fühlte mehr, als daß ich verstand: unter diesen Männern, die so +eifrig debattierten, die alle so selbstverständlich nur ein Ziel im Auge +hatten, das Wohl ihrer Klasse, schlummerten Gegensätze, die irgendwann +und -wo an die Oberfläche würden treten müssen. + +Wir gingen noch zusammen ins Kaffee: Reinhard, der Schwager, die beiden +Frauen und wir. Martha Bartels hatte sich erst durch Reinhards langes +Zureden dazu bewegen lassen. »Wir müssen doch unsere Enquete +besprechen,« hörte ich ihn noch sagen, als sie sich uns näherte. Ida +Wiemer stieß mich mit dem Ellbogen an und schob dann vertraulich ihren +Arm in den meinen: »Sie wissen doch: Genossin Bartels verbreitet, daß +Sie nur, um einen Mann zu finden, in die Partei kamen.« + +Das gab meinem Herzen einen Stich: Martha Bartels war fast die einzige, +die die Motive meines Schritts hätte richtig beurteilen müssen. Sie +blieb steif und zurückhaltend und taute erst auf, als Adolf vorschlug, +ein paar Frauenrechtlerinnen, die sich während des Streiks bewährt +hatten, zur Arbeit heranzuziehen. »Niemals!« rief sie leidenschaftlich. +»Wir werden ihnen doch nicht die Beziehungen zur Arbeiterschaft +vermitteln, die sie nur für ihre Zwecke ausnutzen würden. Die +Christlich-Sozialen vor allem gehen nur auf den Gimpelfang aus!« Es war, +als ob ich Wanda Orbin sprechen hörte. Aber ich konnte nicht anders, als +ihr recht geben. Halb mißbilligend, halb verwundert sah Frau Wiemer, die +andrer Ansicht war, mich an, und beim Weggehen sagte sie mit einem +gereizten Ton in der Stimme. »Sie stellen sich auf ihre Seite -- nach +allem, was ich Ihnen von ihr erzählt habe?!« Die Reihe, zu staunen, war +jetzt an mir: »Hier handelt es sich um die Sache, -- nicht um die +Person!« + +Auf der Heimfahrt fühlte ich mich plötzlich sehr unwohl. War es der +Tabaksqualm, den ich nicht vertragen konnte, war es die feuchte +Nachtluft, -- ich kam nur schwer die steilen vier Treppen hinauf und +warf mich angekleidet aufs Bett. Heinrich zündete das Nachtlämpchen an. +Es glühte auf dem Tisch wie ein verirrter Stern, -- und die meergrünen +Wände waren wie ein milder Sommerabendhimmel, auf den das rote Glas der +Lampe rosige Wölkchen malte. Heinrich nahm mir die Schildpattkämme aus +den Haaren --, mein Kopf wurde freier; er zog mir Schuhe und Strümpfe +aus und rieb meine eiskalten Füße zwischen seinen Händen, von denen +wohlige Wärme mir durch den ganzen Körper strömte. »Ist dir jetzt +besser, mein Schatz?« fragte er besorgt mit dem weichsten Ton seiner +Stimme. Ich sah ihn dankbar an --, dabei blieb mein Blick über seine +Schulter hinweg an einem Bilde haften; ich hatte es selbst dorthin +gehängt, ich wollte es immer vor Augen haben, ich hatte verlegen +gelächelt, als Heinrich wissen wollte, warum. Und jetzt -- in +glückseligem Erschrecken preßte ich beide Hände aufs Herz --: glänzte +nicht in den tiefen Dichteraugen des lockigen Ganymed von Watts ein +Funken lebendigen Lebens? Ich sank in die Kissen zurück, Tränen strömten +mir aus den Augen, -- war's möglich, daß ich vor der Erfüllung meiner +tiefsten Sehnsucht stand?! + +Am nächsten Morgen kam die Ärztin. Sie lachte über die Erregung, mit der +ich sofort und ganz sichere Auskunft von ihr haben wollte, und sagte +nichts anderes als: »Vielleicht!« Ich klammerte mich an dies Vielleicht, +ich drehte es jeden Tag hundertmal hin und her, ob es sich nicht doch in +ein Gewiß verwandeln könnte. Allerhand gespenstische Vorstellungen +quälten mich: als hätte die Frau, die mir hatte Platz machen müssen, +eine geheimnisvolle Macht über meinen Schoß, als könnten ihre +Raubtierhände das Fünkchen Leben zerdrücken. Mein Mann wurde heftig und +schalt meine Torheit, wenn ich von meinen Ängsten sprach. So war ich +denn ganz allein mit ihnen. Hätte ich nur eine Freundin, -- oder eine +Mutter --, dachte ich oft. + +Um die Zeit kamen Mutter und Schwester aus Pirgallen zurück. »Ich muß +Euch, ehe Hans wieder in Berlin ist, allein sprechen,« schrieb sie und +kündigte ihren Besuch für denselben Tag an. Ich war nicht ganz ohne +Furcht: sie hatte es doch wohl übel genommen, daß wir ihr Anerbieten, +bei unserer Hochzeit zugegen zu sein, immer wieder abgelehnt hatten. +Zuerst würde sie darum ein bißchen steif sein, aber dann --, sie würde +doch fühlen müssen, wie es um mich stand! Mit ausgestreckten Händen ging +ich ihr entgegen, -- ich sehnte mich nach einer Mutter! Aber sie +übersah sie, -- vielleicht weil der Flur dunkel war. Und sie atmete +rasch und war sehr rot, -- vielleicht weil die Treppe sie überanstrengt +hatte. Sie sah sich gar nicht um in unserem Zimmer, -- und ich hatte es +ihr zum Empfang mit lauter leuchtenden Herbstblumen geschmückt. + +»Willst du nicht ablegen?« fragte ich zaghaft. + +»Nein,« antwortete sie schroff und setzte sich auf den äußersten Rand +des großen Lehnstuhls, der sonst selbst den Fremdesten zwang, sich +behaglich in seine Polster zu lehnen. »Ich komme nur, um eins zu +erfahren, das über unsere künftigen Beziehungen entscheidet --« die +ruhige kühle Frau sprach so rasch, wie ich sie nie hatte sprechen hören. +»Meinen brieflichen Fragen seid Ihr ausgewichen, mir ins Gesicht hinein +könnt Ihr nicht lügen: seid Ihr kirchlich getraut?« Noch härter als das +ihre klang jetzt mein »Nein«. Aus der Tiefe meines verletzten Gefühles +kam es. Die Mutter hatte ich erwartet!! Sie sprang vom Stuhl, blaurot im +Gesicht, mit zitternden Händen ihren Schirm umklammernd. »So ist eure +Ehe ein Konkubinat, und du bist seine Mätresse,« schrie sie mit +gellender Stimme. Ich fühlte, wie das Zimmer sich um mich zu drehen +begann und ein krampfhafter Schmerz meinen Leib zusammenzog. + +»So nehmen Sie doch Rücksicht auf Alix' Zustand --, schonen Sie ihr +Kind!« rief Heinrich, mich fest umschlingend, da er sah, wie ich +schwankte. Sie schien einen Augenblick Atem zu schöpfen, dann lachte sie +schneidend: »Schonen?! Hat sie etwa ihre Eltern je geschont?!« + +Ich verlor die Besinnung. Als ich wieder zu mir kam, lag ich zu Bett. +»Ist sie fort?!« flüsterte ich und sah angstvoll fragend auf den +Geliebten. Er nickte. + +»Für diesmal ist es nichts!« sagte die Ärztin ein paar Stunden später. +In meinem Blick muß meine ganze Verzweiflung gelegen haben, denn sie +streichelte mir die Wange wie einem kleinen Kinde und sagte tröstend: +»Um so sicherer wird es das nächste Mal sein!« + + * * * * * + +Ich erholte mich rasch. Mit der Arbeit versuchte ich gegen den Schmerz +zu kämpfen. Es schien fast, als sollte die Waffe, die so oft +unüberwindlich zu machen vermag, an seiner Riesenkraft zuschanden +werden. Nicht einen Augenblick durfte ich sie aus den Händen lassen, er +hätte mich sonst wieder in seine Gewalt bekommen. Ich bereitete meine +Kongreßrede vor und studierte alles, was über die Lage der Arbeiterinnen +irgend erreichbar war; ich arbeitete mit den Kindern und frischte +heimlich längst vergessene Schulkenntnisse auf, um ihnen helfen zu +können, ich versuchte, der Köchin die alten Kochkünste beizubringen, die +ich einst zu Hause gelernt hatte. + +Wanda Orbin überraschte mich eines Morgens dabei. »Was, Sie können +kochen?!« lachte sie. »Ich kann, -- ja,« antwortete ich, »aber ich sehe, +daß die Ausführung meiner Kenntnisse teuer ist; ich werde meiner Köchin +das Feld wieder räumen müssen --.« »Das wird für beide Teile das Beste +sein. Ich hab's zwar auch jahrelang tun müssen, bin aber dafür nicht als +Generalstochter aufgewachsen.« Ein leiser Spott lag in ihren Worten. +»Sie werden überhaupt noch viel lernen müssen, Genossin Brandt!« + +»Ich bin davon überzeugt und immer bereit dazu,« antwortete ich kühl. + +»Dann wollen wir gleich damit anfangen. Ich fand ihren Namen auf dem +Kongreßprogramm --, Sie müssen ihn zurückziehen!« + +Überrascht sah ich auf. Sie hatte mit dem Ton einer Vorgesetzten +gesprochen. »Warum?! Bebel hatte gegen meine Teilnahme nichts +einzuwenden!« + +»Bebel! Er sieht die Dinge aus der Vogelperspektive, vor allem die +Frauenbewegung. Die Genossinnen haben beschlossen, die Aufforderung zu +offizieller Beteiligung abzulehnen.« + +»Ich weiß,« entgegnete ich; »im Frühjahr aber, zur Zeit, als ich das +Referat übernahm, bestand dieser Beschluß noch nicht. Ich würde meinen +Rücktritt, so kurz vor dem Kongreß, für einen Wortbruch halten, der um +so weniger zu entschuldigen wäre, als ich selbstverständlich mein Thema +auf Grund meiner politischen Überzeugung behandeln werde und es für dies +Publikum sehr nützlich ist, auch diese ihm ganz fremde Seite kennen zu +lernen. Zahlreiche Elemente, die der bürgerlichen Frauenbewegung in die +Arme liefen -- die Lehrerinnen, die Handelsangestellten, die +Beamtinnen --, gehören ihrer ganzen Lage nach zu uns. Wir können sie nur +gewinnen, wenn wir ihnen bis ins feindliche Lager nachgehen --« + +Frau Orbin unterbrach mich. »Sie irren. Diese Leute kommen für uns +zunächst gar nicht in Betracht. Und wenn Sie wirklich durch Ihre +Überredungskünste« -- sie schürzte wieder spöttisch die Lippen -- »zwei +oder drei gewinnen würden, stünde der Nachteil, den Ihre Teilnahme an +einer bürgerlichen Veranstaltung zur Folge hätte, gar nicht im +Verhältnis zu diesem minimalen Gewinn.« Ich sah sie fragend an. Sie +stand auf, ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder und blieb dann +dicht vor mir stehen. + +»Sie sind eben erst die Unsere geworden,« sagte sie mit einer Art +mütterlicher Freundlichkeit, »Sie sind Aristokratin, -- Gründe genug, um +Ihnen mißtrauisch zu begegnen, um Ihnen die Tätigkeit in der Partei, von +der ich so viel erwarte, sehr zu erschweren. Und nun wollen Sie noch als +einzige, -- gegen unseren Beschluß, -- an diesem einseitig +feministischen Kongreß teilnehmen! Das verstehen die Genossinnen nicht. +Und wenn Sie dabei mit Engelszungen den Sozialismus verkündigen würden, +sie hören Sie nicht, -- sie sehen darin doch nichts anderes, als daß Sie +eben noch zu jenen gehören. Ich habe gestern Ihretwegen einen schweren +Kampf gehabt: die Genossinnen weigern sich unbedingt, Sie zur internen +Arbeit zuzuziehen, wenn Sie nicht durch Unterwerfung unter unseren +Beschluß Ihre Zugehörigkeit zu uns dokumentieren.« Sie zögerte und sah +mich erwartungsvoll an. Als ich noch immer schwieg, legte sie mir beide +Hände auf die Schultern und fuhr mit eindringlicher Stimme fort: »Sie +sind in die Partei eingetreten, um für sie zu wirken; wollen Sie sich +aus Rücksicht auf die alten Kolleginnen Ihre künftige Stellung +erschweren, wenn nicht gar unmöglich machen? Haben die Damen das um Sie +verdient ...?« Sie machte abermals eine Pause. Ich erinnerte mich, wie +Frau Vanselow in einen Seitenweg eingebogen war, um mich nicht grüßen +zu müssen, wie Frau Schwabach mit hochmütig erhobenem Kopf an mir +vorüberging. Aber hatte ich durch meinen Brief an Frau Morgenstern das +Referat nicht erzwungen, -- konnte ich unter diesen Umständen daran +denken, zurückzutreten? Vor allem aber: entsprach es meiner Überzeugung? + +»Sie mögen in allem recht haben, -- nur in der Hauptsache nicht: in +Ihrem Beschluß. Würde ich Ihnen nicht selbst als eine Heuchlerin, zum +mindesten als ein Schwächling erscheinen, wenn ich mich ihm fügen wollte +wider besseres Wissen und Gewissen?!« sagte ich. Auge in Auge standen +wir uns gegenüber. Sie ballte die kleinen breiten Fäuste, aus ihrem +Gesicht brannten hektische Flecke, ihre roten Haare umgaben es wie mit +einem Feuerkranz. Ich dagegen erschien ganz ruhig, ganz kühl; ich wußte, +daß kein Blutstropfen meine Wangen färbte; und wie um meine sie +überragende Gestalt zu betonen, reckte ich mich gerade auf. + +»Noch nicht das Abc der Demokratie scheinen Sie gelernt zu haben!« rief +sie aus. »Auers Worte kann ich Ihnen entgegenhalten, mit denen er in +Frankfurt vor zwei Jahren seinen aufsässigen Landsleuten diente: 'Das +gehört zum Demokraten und zum Sozialdemokraten, daß er sich sagt: Esel +seid ihr zwar, aber ich muß mich fügen'. Mögen Sie uns meinetwegen für +Esel halten -- der Reichtum Ihrer Erfahrung gibt Ihnen ja wohl ein Recht +dazu! --, wenn Sie aber zu uns gehören wollen, so haben Sie Ihre Person +der Allgemeinheit unterzuordnen.« Jetzt war die untersetzte, kleine Frau +doch die Überlegene. Ich wandte mich ab und lehnte die heiße Stirn an +die kühle Fensterscheibe; -- sie sollte nicht sehen, wie schwer es mir +wurde, mich zu unterwerfen. Aber sie folgte mir. + +»Genossin Brandt --,« aus ihrer Stimme war der schrille Ton wieder +verschwunden, der an den Kasernenhof erinnerte, -- »wir haben uns alle +opfern müssen --« Ich sah ihr ins Gesicht. Die scharfen Züge waren weich +geworden. »So will ich Ihnen nicht nachstehen,« antwortete ich. In ihren +Augen leuchtete es auf wie Triumph. Mir war, als ob ihr Händedruck mich +in neue unsichtbare Fesseln schlüge. + +»So, -- und nun soll Ihnen eine goldene Brücke gebaut werden,« damit zog +sie mich neben sich aufs Sofa. »Wir erlassen Ihnen den offiziellen +Rücktritt, aber Sie benutzen die kurze Zeit, die Ihnen sowieso nur zur +Verfügung steht, zu einer Erklärung Ihres Standpunktes und überbringen +dem Kongreß unsere Einladung zu den Volksversammlungen, in denen die +Arbeiterinnenfrage in einem Umfang zur Erörterung kommen wird, der ihrer +Bedeutung allein entspricht. Sie müssen es ja selbst schon als eine +skandalöse Zumutung empfunden haben, daß man Ihnen dieselben fünfzehn +Minuten zugestand, die man so welterschütternden Fragen wie den +Volksküchen oder den Kleinkinderschulen auch gewährt hat --«. Ich +bejahte, ohne recht hinzuhören, sie sprach weiter, wie ein unaufhörlich +knarrendes Wasserrad, immer rascher, ohne Absatz. »Den ersten Vortrag in +unseren Versammlungen übernehmen Sie,« -- damit war ihr Redestrom +endlich versiegt. Wir verabschiedeten uns. An der Treppe blieb sie noch +einmal stehen: »Ich hätte fast die Hauptsache vergessen: Wir haben +morgen eine Sitzung. Holen Sie mich um acht Uhr ab; es wird für sie +angenehmer sein, wenn ich Sie einführe.« + +So war ich also aufgenommen -- endgültig, aber zu einer rechten Freude +darüber kam ich nicht. So sehr sich mein Nachgeben begreifen und +entschuldigen ließ, so notwendig es vielleicht in der gegebenen +Situation für mich war, ich wurde das peinliche Gefühl dabei nicht los, +einen Wortbruch begangen zu haben. Was mir zuerst wie eine Erleichterung +schien: die »goldene Brücke«, -- kam mir nun vollends wie eine Täuschung +vor. Aber ein Zurück gab es nicht mehr. + + * * * * * + +Die sozialdemokratische Frauenbewegung stand damals noch immer im +Zeichen des Köller-Kurses. Ihre Bildungsvereine waren unter den +nichtigsten Vorwänden aufgelöst worden; ihre Vorkämpferinnen mußten sich +wiederholt polizeilichen Haussuchungen unterwerfen, jede Korrespondenz +mit Gesinnungsgenossinnen, die man auffand, genügte, um sie als +staatsgefährliche Verbrecher hinter Schloß und Riegel zu setzen. An der +Frauenbewegung blieb daher der Charakter revolutionären +Geheimbündlertums, den die Partei als solche mehr und mehr abstreifte, +noch lange haften. Für die Zusammenkünfte, die notwendig waren, bedurfte +es der größten Vorsichtsmaßregeln, und nur ein kleiner Kreis +vertrauenswürdiger Frauen wurde dazu eingeladen. Die Sitzung, zu der wir +gingen, Frau Orbin und ich, fand bei einem kleinen Parteibudiker in der +Linienstraße statt. Wir vermieden es, durch das Lokal zu gehen -- »hier +gibt's überall Spitzel,« meinte meine Gefährtin --, und bogen in den +dunkeln Torweg ein, stiegen vorsichtig tastend eine stockfinstere Treppe +hinauf und standen einen Augenblick zögernd vor einer Tür, durch deren +Schlüsselloch ein schwacher Lichtschein drang. Ich bemühte mich, +hindurch zu sehen. »Drinnen ist niemand,« sagte ich, »eine Photographie +hängt an der Wand, -- ein Mann mit schwarzem Bart und weißen Locken.« -- +»Marx!« rief Wanda Orbin, »so sind wir richtig.« Wir durchquerten den +fensterlosen Raum, dessen stickige Luft mir den Atem benahm, und traten +in die niedrige Stube, die daneben lag. Eine Petroleumlampe hing von der +geschwärzten Decke; mit einem Geruch von schlechtem Tabak schienen alle +Gegenstände im Zimmer, -- die schmutzigen Vorhänge, die fettigen +Zeitungen, die rotgewürfelte Tischdecke, das alte Klavier im Winkel --, +förmlich imprägniert zu sein. Und dazu hatte der frische September +draußen den Rest stickiger Sommergroßstadthitze hier hereingedrängt. Die +Frauen, die um den langen Tisch in der Mitte saßen, schwitzten. Ich +wurde vorgestellt. Mein verbindliches Lächeln begegnete +unfreundlich-neugierigen Blicken. Erst als Wanda Orbin mit +ungewöhnlicher Wärme von mir sprach, meinen Entschluß, dem Kongreß eine +Erklärung abzugeben, statt den angekündigten Vortrag zu halten, mit +großem Nachdruck herausstrich, klärten die Mienen sich auf. Eine kleine +runde Frau, die neben mir saß, streckte mir die arbeitsharte Hand +entgegen: »Na, sehen Se mal, det is scheen von Ihnen!« sagte sie laut +mit feucht schimmernden Äuglein. »Ruhe, Genossin Wengs!« rief die +Bartels vom Tischende hinunter und trommelte mit den Fingerknöcheln auf +den Tisch. Man versuchte parlamentarisch zu verhandeln, aber es +entspannen sich immer wieder Privatunterhaltungen. Endlich schien sich +das Interesse auf einen Punkt zu konzentrieren: die Kassenverhältnisse +eines der aufgelösten Vereine wurden erörtert. Da man Bücher und +Protokolle aus Angst vor Polizei und Staatsanwalt nicht zu führen +pflegte und das kleine Rechnungsbuch aus demselben Grunde eilig +verbrannt worden war, so fehlte es an den nötigen Unterlagen, um zu +einem tatsächlichen Ergebnis zu gelangen. Es kam zu einer heftigen +Debatte. Die arme Frau, die Kassiererin gewesen war, wurde laut und +leise der Unredlichkeit geziehen --, sie hätte unbedingt noch vier Mark +haben müssen und behauptete schluchzend, nichts zu haben. + +»Zu all die Arbeet un Schreiberei, die ich vor nischt gemacht hab,« +heulte sie, »soll ich nu noch als Diebin dastehn. In Zukunft macht Euren +Dreck alleene!« Und hinaus war sie. Immer drückender wurde die Luft. Das +Fenster durfte nicht geöffnet werden, man hätte uns vom Hof aus hören +können. Ich erstickte fast in dieser Atmosphäre. Die anderen schienen an +sie gewöhnt zu sein, niemand beklagte sich. »Wir müssen unbedingt die +beiden Hauptpunkte unserer Tagesordnung heute noch erledigen,« erklärte +schließlich Wanda Orbin, nachdem man sich schon zwei Stunden um lauter +persönliche Dinge hin- und hergezankt hatte. »Ich bitte daher ums Wort +zur Frage des bürgerlichen Frauenkongresses.« Man schwieg, und sie fuhr +fort, indem sie nochmals den Standpunkt der Genossinnen begründete, -- +mit einer Stimme und einer Ausführlichkeit, als gelte es eine +Volksversammlung zu überzeugen. Machte sie eine Pause, so gab Martha +Bartels das Signal zu allgemeinem Applaus. »Wir sind in der vorigen +Sitzung mit unserer Besprechung zu keinem Abschluß gekommen. Ich frage +die Genossinnen, ob sie sich meinen Antrag, in die Diskussionen des +Kongresses einzugreifen, überlegt haben, und wie sie sich dazu stellen?« +Mit dieser mich nicht wenig überraschenden Frage, schloß sie ihre Rede. +Alles blieb still. Martha Bartels sah erwartungsvoll von einer zur +anderen. »Wir sind wohl alle einer Meinung,« meinte sie dann, »und +können ohne weiteres zur Abstimmung schreiten.« Ich hatte bisher mit +keinem Wort in die Debatte eingegriffen. Man sah mich mißbilligend an, +als ich mich jetzt meldete. Wanda Orbin runzelte die Stirne. »Ich habe +der Sitzung nicht beigewohnt, in der Sie, scheint's, die Angelegenheit +schon hinreichend besprochen haben,« sagte ich, »mir fehlen daher, um zu +einem sicheren Urteil zu kommen, Ihre Gründe. Ich möchte mir deshalb nur +die Frage erlauben, ob es nicht eine Inkonsequenz ist, die Beteiligung +am Kongreß abzulehnen und die Teilnahme an der Diskussion zu +beschließen?« Allgemeines, stummes Erstaunen. Nur Ida Wiemer, die neben +mir saß, stieß mich unter dem Tisch heimlich an und warf mir einen +aufmunternden Blick zu. Mit endlosem Wortschwall suchte Wanda Orbin, vom +Beifallsgemurmel der Anwesenden begleitet, die grundsätzliche +Verschiedenheit beider Arten der Beteiligung auseinander zu setzen. »Es +hieße das Prinzip des Klassenkampfes preisgeben,« sagte sie, »wenn wir +mit bürgerlichen Elementen irgend etwas gemeinsam unternehmen wollten, +aber es gehört zum Klassenkampf, daß wir in der Debatte ihnen +geschlossen gegenüber treten.« »Niemand hinderte uns, in selbständiger +Rede dasselbe zu tun --«, warf ich noch einmal ein. Meine Worte gingen +im allgemeinen Geschwätz, das wieder entfesselt war, verloren. Wanda +Orbin hatte alle Stimmen auf ihrer Seite, -- auch Ida Wiemer. »Wenn man +nicht mittut, wird man gehenkt --,« flüsterte sie mir sich +entschuldigend zu. Ich enthielt mich der Abstimmung. »Wir kommen zum +nächsten Punkt der Tagesordnung: Parteitag,« sagte Martha Bartels, die +den Vorsitz führte. »Genossin Orbin hat das Wort.« »Der Parteitag in +Gotha ist für uns ganz besonders bedeutungsvoll,« begann sie; »die +Frauenagitation steht auf der Tagesordnung. Es ist infolgedessen +wünschenswert, daß viele der tätigen Genossinnen als Delegiertinnen +anwesend sind, damit die praktische Erfahrung neben der theoretischen +Schulung zu Worte kommt. Unsere Resolution ist Ihnen durch die +'Freiheit' bekannt; es hat niemand an ihr etwas auszusetzen gehabt, sie +wird ohne Zweifel zur Annahme gelangen, da sie nichts Neues bringt, +sondern nur das bewährte Alte zusammenfaßt. Nach anderer Richtung jedoch +drohen uns Kämpfe: es liegen Anträge vor, die die Schaffung einer +besonderen Arbeiterinnnenzeitung bezwecken. Ihre Verfasser sind mit +unserer 'Freiheit' unzufrieden. Es ist notwendig, daß die Berliner +Genossinnen klipp und klar dazu Stellung nehmen.« Nun entwickelte sich +etwas wie eine Diskussion. Ein paar Frauen, Martha Bartels voran, lobten +die 'Freiheit' in allen Tönen, Frau Wiemer allein sprach mit dem Wunsch +nach etwas populäreren Artikeln zugleich einen leisen Tadel aus, den +Frau Orbin dadurch entkräftete, daß sie erklärte, die 'Freiheit' sei +gar nicht für die Massen bestimmt, sondern nur für die Führerinnen. Man +war darnach ausnahmslos entschlossen, jede Änderung ihres Inhalts und +jeden Plan eines Konkurrenzunternehmens abzulehnen. Als ich bemerkte, +man möge wenigstens dafür sorgen, daß, als wichtiges Mittel unserer +Agitation, die allgemeine Parteipresse der Frauenfrage einen breiten +Raum gewähre, lachte alles. »Da kennen Se unsere Männer schlecht,« +meinte die dicke Frau Wengs neben mir, »die wollen von uns rein jar +nischt wissen.« »Die mehrschten erlooben den Frauen nich, daß se in ne +Versammlung jehn oder in 'nen Verein. Daheem sollen se sitzen un Strümpe +stoppen,« rief eine andere und ein allgemeines Klagelied über die Männer +hub an; erst die energische Stimme der Orbin stellte die Ruhe wieder +her: »Es ist zwölf Uhr, -- wir müssen zu Ende kommen.« »Jotte doch, +schon zwölwe, un ick habe soo'n weiten Weg,« jammerte Frau Wengs und +erhob sich. Ein paar andere, die schon lange auf ihren Stühlen hin und +hergerückt waren, sprangen auf. »So bleiben Sie doch fünf Minuten, +Genossinnen,« kommandierte Martha Bartels, »wir müssen doch die +Delegiertinnen zum Parteitag noch bestimmen.« Frau Wengs ging eilig zu +ihrem Stuhl zurück, mit ihr die anderen; gespannte Neugierde drückte +sich in den Mienen aller aus. Die Bartels fuhr mit erhobener Stimme +fort: »Vorgeschlagen sind Genossinnen Stein, Wolf und meine Wenigkeit.« +Ein eifriges Geraune und Getuschel setzte ein. »Hat jemand andere +Vorschläge?!« Sie sah drohend umher. Ein Dutzend Frauen meldeten sich +auf einmal. »Immer dieselben!« -- »Laßt doch ooch andere drankommen!« +-- »Die gewerkschaftlich tätigen Genossinnen werden natürlich +übergangen --!« schrie und lärmte es durcheinander. »Ick schlage die +Jenossin Brandt vor --,« rief Frau Wengs. Es wurde still. Die Frauen +sahen mich an, -- mißtrauisch, feindselig. Ich hatte die Situation rasch +erfaßt. »Ich danke der Genossin Wengs für ihre Freundlichkeit,« sagte +ich, »aber ich fühle mich noch viel zu jung in der Bewegung, als daß ich +solch einen Ehrenposten annehmen könnte.« Wanda Orbin nickte mir, +sichtlich erleichtert, zu: »Nun aber schnell zur Abstimmung, -- wir +versäumen ja noch die Pferdebahn! -- Ich denke, wir bleiben bei unseren +Vorschlägen --« Niemand widersprach, aber kaum war die Sitzung +geschlossen, als die allgemeine Unzufriedenheit sich in lauter +Unterhaltung wieder Luft machte. Man ging in kleinen Gruppen +auseinander, -- lauter feindliche Lager, wie mir schien. Wanda Orbin +legte ihren Arm in den meinen, die Bartels begleitete uns; ihre Stimmung +gegen mich war wieder umgeschlagen. Sie drückte mir herzlich die Hand, +als wir Abschied nahmen. + +Mein Mann erwartete mich im nächsten Kaffee. »Das hat aber lange +gedauert,« meinte er. »Wenn die Bedeutung Eurer Beschlüsse der Länge der +Zeit entspricht, die Ihr darauf verwandt habt --!« Ich lachte, aber es +war nicht das Lachen glücklichen Humors, der den Ereignissen die +komische Seite abgewinnt und sich dadurch über sie erhebt. Heute würde +mich der Humor im Stich gelassen haben, auch wenn ich ihn je besessen +hätte. Es war alles so eng gewesen, so drückend, -- wie die schmutzige +Stube und die eingeschlossene Luft in ihr; kein großer Gesichtspunkt +war zutage getreten. »Wir Genossinnen sind immer einig,« hatte Wanda +Orbin mir gesagt. Konnte sie wirklich für Einigkeit halten, was nichts +war als die Beherrschung armer Frauen kraft ihres Willens und ihrer +Intelligenz? »So wird es also deine Aufgabe sein, diesen Absolutismus zu +brechen,« sagte Heinrich. -- »Nachdem ich mich ihm selbst schon +unterworfen habe?!« + + * * * * * + +Ich schritt die breite Treppe des Berliner Rathauses hinauf. Seit vier +Tagen verhandelte der Frauenkongreß in dem festlichen Bürgersaal vor +einem Publikum, das immer weniger aus Neugierde, immer mehr aus +Interesse kam. Es war zwar im Grunde nichts als eine Truppenschau, bei +der jede Teilnehmerin ihr Schlachtroß in raschem Galopp vorzuführen +hatte. Aber Berlin sah zum erstenmal: Die Frauen konnten reiten. Heute +war der Tag der großen Sensation: Die Arbeiterinnenfrage stand auf der +Tagesordnung; man erwartete eine Schlacht zwischen den bürgerlichen +Frauen und den Proletarierinnen, und auch mir persönlich galt ein Teil +der allgemeinen Spannung, -- der Frau, deren Roman von Mund zu Mund +ging, der Renegatin. An der Türe stand Egidy, mein alter Freund. Er +drückte mir die Hand: »Ich bin erst eben nach Berlin zurückgekehrt. +Sonst wäre ich schon bei Ihnen gewesen. Zwischen uns bleibt alles beim +alten.« Ich lächelte dankbar. Bei meinem Eintritt in den überfüllten +Saal entstand eine bemerkbare Unruhe: Kleider raschelten, Stühle wurden +gerückt, Köpfe wandten sich nach mir um, man flüsterte meinen Namen. +Eine Gruppe russischer Studentinnen, an denen ich vorüber mußte, +klatschte stürmisch. Vom Vorstandstisch mahnte eine scharfe Stimme zur +Ruhe. Die Genossinnen begrüßten mich; die erwartungsvolle Erregung, in +der sie sich befanden, steigerte ihre Freundlichkeit mir gegenüber. +Wanda Orbin nötigte mich auf den Stuhl neben sich. Ich blieb trotzdem +befangen und suchte mit den Augen meinen Mann, als müßte ich mich +wenigstens mit den Blicken an ihn klammern. + +Eine Österreicherin sprach zuerst über die Ergebnisse der Wiener +Arbeiterinnen-Enquete. Ich kannte sie. Sie war eine überzeugte +Sozialdemokratin. Die fünfzehn Minuten reichten aus, um ein ergreifendes +Bild schrecklichen Elends zu malen. So hatte ich zu sprechen gedacht! +Eine Engländerin folgte ihr. Sie begründete die Notwendigkeit der +gewerkschaftlichen Organisation der Frauen in wenigen scharf-umrissenen +Sätzen; in langer Rede hätte sie kaum mehr sagen können. + +»Frau Alix Brandt hat das Wort«, -- tönte jetzt die heisere Stimme der +Vorsitzenden durch den Saal. Ich stand auf und zwängte mich durch die +Stuhlreihen, am dichtbesetzten Tisch der Presse vorbei. »Sie wissen« -- +»Scheidungsprozeß« -- »Verhältnis« -- »Unglaublich«, -- flüsterte es. +Mein Blut begann zu sieden. Ich stand auf der Tribüne; -- am +Vorstandstisch zischte jemand, aus einer Ecke des Saales klang +Beifallsgeklatsch und Getrampel. Das Zischen wurde stärker. Sekundenlang +kämpften beide Laute miteinander, -- die Vorsitzende rührte sich nicht. +Helle Empörung bemächtigte sich meiner, -- jetzt war ich bereit, ihnen +meine Verachtung ins Gesicht zu schleudern. Ich begann sehr ruhig, +indem ich erklärte, warum die Vertreterinnen der deutschen +Arbeiterinnenbewegung es abgelehnt hätten, sich an den Arbeiten des +Kongresses durch Delegierte zu beteiligen. »Für sie, die auf dem Boden +der Sozialdemokratie stehen, ist die Frauenfrage nur ein Teil der +sozialen Frage, und als solche durch die mehr oder weniger gut gemeinten +Bestrebungen bürgerlicher Sozialreformer nicht lösbar. Ich selbst teile +diese Auffassung vollkommen.« Meine Stimme hob sich und wurde schärfer; +zu schneidendem Schwert sollte jedes meiner Worte sie schleifen. »Wer +vorurteilslos und logisch denkt und sich eingehend mit der Frauenfrage, +-- wohl gemerkt, der ganzen Frauenfrage, nicht mit der Damenfrage, -- +beschäftigt, der muß notwendig zur Sozialdemokratie gelangen.« +Stürmische Choruse unterbrachen mich, die der Beifall der Genossinnen +vergebens zu ersticken suchte. »Mit anderen Worten: wer es nicht tut, +ist ein Dummkopf oder ein Heuchler?!« schrie eine der Damen vom +Pressetisch zitternd vor Aufregung. Ich neigte mit spöttischer +Zustimmung den Kopf; sie sprach aus, was zwischen meinen Worten klingen +sollte. Die Unruhe wuchs, ich mußte lauter sprechen, um durchzudringen. +»Die Wertschätzung und das Verständnis der bürgerlichen Frauenbewegung +für die Arbeiterinnenfrage wird durch nichts deutlicher charakterisiert, +als durch die Tatsache, daß man mir zu einem Vortrag über sie, die die +größte Masse des weiblichen Geschlechts umschließt, und die entrechtete +und unglücklichste, dieselben fünfzehn Minuten gewährt hat, wie etwa der +Damenfrage der Mädchengymnasien. Ich verzichte daher auf meinen +Vortrag...« + +Die Zuhörer schrieen und tobten, ein paar Männer sprangen auf die +Stühle und drohten mir mit erhobenen Armen, in größter Erregung schwang +die Vorsitzende unaufhörlich die Glocke, deren wimmerndes Klagegeheul +die Melodie zu der Begleitung brüllender Stimmen zu sein schien. Endlich +verschaffte ich mir wieder Gehör: + +»In zwei Volksversammlungen, die von uns einberufen worden sind, soll +den Teilnehmerinnen des Kongresses Gelegenheit geboten werden, die +Arbeiterinnenbewegung kennen zu lernen. Nicht als ob wir des frommen +Glaubens lebten, auch nur eine von Ihnen für uns gewinnen zu können. Zu +tief eingewurzelt ist der jahrhundertelang genährte Klassenegoismus, zu +einschneidend in das Leben und Denken gerade der abhängigen Frau sind +die Interessen ihrer Klasse, als daß sie sich so leicht davon losreißen +könnte. Aber vielleicht wird Ihnen eine Ahnung davon aufgehen, daß es +ein größeres, ergreifenderes Elend gibt, als das der unbefriedigten, +berufslosen Töchter Ihrer Stände; daß außerhalb Ihrer Kreise ein Kampf +gekämpft wird, der ernster, heiliger ist als der um den Doktorhut; daß +der Schwung der Begeisterung, der Heldenmut der Aufopferung nur dort zu +finden ist, wo Männer und Frauen ihre vereinten Kräfte für das eine +große Ziel einsetzen: Befreiung der Gesamtheit aus wirtschaftlicher und +moralischer Knechtschaft ...« + +Ich stieg vom Podium. Es war ein Spießrutenlaufen. Die eleganten Frauen +Berlins, die in ihren schönen Herbsttoiletten die ersten Reihen besetzt +hielten, hatten ihre ganze gesellschaftliche Haltung verloren. Sie +zischten, sie riefen mir Schimpfworte zu, weißbehandschuhte Fäuste +erhoben sich in bedrohlicher Nähe. Aber schon war Heinrich neben mir und +reichte mir den Arm. Ein paar Schritte weiter umringten mich die +Genossinnen, Wanda Orbin schloß mich stürmisch in die Arme. + +Kurz vor dem Ausgang stand eine Gruppe von erhitzten Damen um den +jüngsten Philosophen Berlins geschart; er war ein Freund meines Mannes. +»Sie haben Gift gespritzt,« schrie er mir zu. Mit einem Blick voll Zorn +und Verachtung maß ihn Heinrich. Den nächsten Augenblick trat mir Egidy +entgegen. »Sie haben sich schwer versündigt,« sagte er, seine blauen +Augen funkelten zornig. + +An der Türe zögerte ich. Mir war, als müßte ich noch einmal rückwärts +sehen, über die Menge hinweg in den festlich glänzenden Saal: Von der +Decke herab flutete das Licht in Strahlenbündeln; es schimmerte weich +auf weißen Marmorfiguren, es zauberte lebendige blutdurchflossene Adern +in die Säulen von rotem Granit, es funkelte prahlend auf goldenen +Gesimsen, und dem grauen Herbstabend draußen wehrten die hohen farbigen +Bogenfenster den Eintritt. + +Langsam gingen wir die breite Steintreppe hinab auf die schmutzige +Straße. + + * * * * * + +Am Südende der Friedrichstraße, wo das Licht spärlicher wird, lag der +alte Tanzsaal, in dem ich am Abend sprechen sollte. Durch ein paar Höfe, +die nur die glühenden Augen breiter Fabrikfenster erhellten, führte der +Weg. Sie waren schwarz voll Menschen. Auf den ausgetretenen Stufen der +Holztreppe bis zum Saal war ein Vorwärtskommen fast unmöglich. Ein paar +stämmige Ordner bahnten uns mit Ellbogenstößen den Weg. »Die berliner +Arbeiter wollen Sie alle sehen, Genossin Brandt,« sagte der eine. Ich +senkte den Kopf. Wie ich mich freute! Über den Massen, die den Raum +erfüllten, in den wir endlich gelangten, lagerte Tabaksqualm und +Menschenschweiß in schweren, dunkeln Nebeln. Das Licht von den +verstaubten Kronleuchtern drang nur trübe durch den grauen Dunst. +Rußgeschwärzt war die niedrige Decke, von den Wänden bröckelte der Kalk, +blinde Spiegelscheiben warfen gespensterhaft verzerrt das Bild der +Menschen zurück, die sich vor ihnen sammelten. Ein paar steile Stufen zu +einer kleinen Bühne ging es empor, auf der grell gemalte Kulissen einen +Wald von Palmen darstellen sollten. Unter mir stand jetzt die Menge Kopf +an Kopf. Siedende Hitze stieg von ihr auf, daß der Atem mir sekundenlang +stockte. + +»So warten sie schon seit zwei Stunden wie eine Mauer,« sagte Ida +Wiemer, die den Vorsitz führte. Der graubärtige Polizeileutnant +schüttelte bedenklich den Kopf. »Ich kann nur einen kurzen Vortrag +gestatten,« sagte er, »wenn ich nicht die Versammlung auflösen soll.« +»Genossen,« rief Ida Wiemer so laut sie konnte in den Saal, »macht den +fremden Kongreßdelegierten Platz, die heute unsere Gäste sind --.« Eine +Anzahl Arbeiter versuchten, sich langsam hinauszuschieben. Aber die +Scharen, die die Türen belagerten, versperrten den Weg. »Das ist +lebensgefährlich,« wiederholte der Polizeileutnant und wischte sich den +Schweiß von der Stirne. »Fangen Sie an und machen Sie's kurz, -- ein +anderes Mittel gibt's hier nicht.« + +Ich trat vor. Kirchenstille umfing mich. Ich sprach gegen jene +landläufigen Vorwürfe, durch die die Gegner der Sozialdemokratie sie +tödlich zu treffen glauben: Die Zerstörung der Familie, die Propagierung +der freien Liebe, die Vernichtung der Religion, den blutigen Umsturz. +Und ich zeigte, wie die wirtschaftliche Not es ist, die das +Familienleben zerstört, wie aus derselben Not die käufliche Liebe +wächst, die nichts gemein hat mit jener Freiheit der Liebe, die wir als +die einzige Grundlage echten Familienglückes den Menschen erobern +wollen; wie es die Kirche ist und der Staat, die die Religion Christi +vernichtet haben, wie die blutige Revolution nicht von uns, sondern von +denen vorbereiten wird, die mit Flinten und Säbeln drohen, die der +wehrhaften Jugend befehlen, auch auf Vater und Mutter zu schießen, die +den Ruf hungernder Arbeiter um ein paar Pfennige mehr Lohn, um ein paar +Stunden weniger Arbeitszeit mit Gewehrsalven beantworten. Ich sah nichts +mehr; zwischen mir und den Menschen da unten hingen dichte Schleier. +Aber ich fühlte ihren heißen Atem, ich hörte mit gesteigerten Sinnen ihr +Stöhnen, wenn ich ihr Elend malte, ihren Beifall, wenn ich von ihren +Kämpfen sprach, ihren hoffnungsstarken Jubel, wenn ich der Zukunft +gedachte, die unser sein wird. + +Ich schwieg erschöpft, -- jetzt erst fühlte ich, wie der Kopf mir +brannte und der Atem nach Luft rang. Hundert Hände streckten sich mir +entgegen, als ich zitternd die Stufen hinabstieg. Die Masse umdrängte +mich. Dank, -- Vertrauen, -- Liebe las ich in ihren Mienen. Ein paar +Frauenrechtlerinnen gingen mit steif erhobenen Köpfen an mir vorbei. Ich +lächelte. Wie hatte ich mich nur je über ihre Feindseligkeit grämen +können?! Ich kam nur langsam vorwärts. Mit lauter Fragen und Bitten +wurde ich aufgehalten: »Nicht wahr, Sie sprechen auch bei uns einmal?« +-- »In unserem Kreis?« -- »In meiner Gewerkschaft?« Und immer wieder +sagte ich freudig ja. Die hier glaubten an mich und erwarteten von mir, +daß ich ihnen etwas sein könnte. Im dunkeln Saal war mein Herz wieder +warm und hell geworden. + +Wir gingen den weiten Weg durch die Nacht nach Haus. Am Kanalufer +raschelten die gelben Blätter uns zu Füßen und tanzten wie goldige +Schmetterlinge in der feuchten Herbstluft. + +»Warum die Menschen trauern, wenn die Blätter fallen?« sagte ich. »Sie +machen doch nur den jungen Trieben Platz!« Mein Liebster küßte mich. +»Du, was denken die Leute?!« rief ich lachend und lief ihm davon. »Die +Wahrheit!« sagte er, mich einholend, und preßte mir die Hände mit einem +starken Griff zusammen. »Daß wir ein Liebespaar sind!« + +Im Schlafzimmer droben riß ich die Kleider vom Leibe, in denen der Dunst +des Saales noch hing. Das rosige Licht der Lampe umflutete mich; meine +Augen suchten den kleinen Ganymed. Unwillkürlich faltete ich die Hände. +Auch an diesen Frühling glaubte ich wieder. + + + + +Sechstes Kapitel + + +Goldener Herbst! Ein königlicher Verschwender bist du. Deiner Geliebten, +der Sonne, gibst du in brennenden Farben zurück, was sie an Sommerglut +der Erde geschenkt hat. Nichts ist dir zu gering, um es mit dem Glanz +deiner Liebe zu überschütten. Auf die ödesten Mauern zaubert dein Blick +jauchzende Melodien von Gelb und Rot. Aus dem armen Sand märkischen +Bodens lockst du der Sonnenblumen tropische Pracht hervor und lehrst +sie, ihr Strahlenangesicht deiner Geliebten anbetend zuzukehren. Unter +deinem Hauch reifen die Früchte, und schwer von Segen neigen sich die +Äste vor dir. Von entblätterten Blüten trägt dein Atem zarte Samenfäden +über die Wiesen und schüttelt von den alten Eichen die Hoffnung +kommender Jahre. + +Tage, über die der Himmel leuchtet wie flüssiges Silber, läßt du in +Nächten untergehen, die tief und dunkel sind, ein zukunftschwangeres +Geheimnis. + +Nicht wie die jungen Mädchen den Lenz begrüßen -- schämig errötend und +demutsvoll -- empfing ich dich. Ich forderte von dir, erhobenen Hauptes, +meinen Anteil an deinem Reichtum, Fürst des Jahres. Und, siehe, aus +meinem Herzen wuchsen glutrote Blumen, meine Seele wurde zu deinem +Saitenspiel, mein Schoß zum Tempel des Lebens -- -- -- + +Es kam über mich wie ein einziger großer Feiertag. Er duldete nichts +Dunkles. Aus den Kammern vertrieb ich allen Staub der Vergangenheit, aus +Kisten und Kasten alles, was moderte. Ich badete meine Augen, daß sie +klar und hell wurden und die Welt ihnen in einem Glanz erschien, wie sie +ihn nie vorher gesehen hatten. Wie der Herbstwind am Morgen die Nebel +zerstreut, so flohen die Sorgen vor dem Sturm meiner Seligkeit. Ich ging +der Sonne nach. Auch den verlorensten ihrer Strahlen fing ich auf und +barg ihn in der Schatzkammer meiner Seele. + +Sonnengesegnet sollte es sein, mein Kind! + +Ich war nicht mehr Ich. Das geheimnisvoll neue Leben unter meinem Herzen +hatte von mir Besitz ergriffen. Ich träumte nicht mehr meine engen +Träume, die sich im Kreise um mich selbst bewegten, und lebte nicht mehr +meiner kleinen Hoffnung, die ihren Bogen nur bis zum Friedhofstor des +eigenen Daseins spannte. Wie Wandervögel flogen meine Träume weit über +mein Gesichtsfeld hinaus, und die Brücke, die die Hoffnung baute, +verband die Zeit mit der Ewigkeit. + +Ich ward mir selbst zum Heiligtum. Ich pflegte meinen Körper wie der +Gläubige den Schrein, der das Allerheiligste birgt. Und meiner Seele +Eingang hüteten goldgepanzerte Wächter; die Schärfe ihres Schwertes traf +jeden bösen Gedanken, ihren Speeren entging kein niedriges Gefühl. Denn +mein Körper und meine Seele nährten das neue Leben. Kein Tropfen Giftes +durfte in ihnen sein. + + * * * * * + +Ich wünschte mir einen Sohn. Einen, der ein Führer und Vorkämpfer werden +könnte. Aber die Erfüllung dieses Wunsches schien mir fast zu viel des +Glücks. Und so dachte ich auch der Tochter -- einer, die ein Vollmensch +und darum ein echtes Weib sein sollte. Von nun an stand Watts Ganymed +vor meinem Platz auf unserem großen Schreibtisch und neben ihm ein +süßes, blondes Mädelchen nach einem Porträt von Gainsborough. Ich sah +von einem zum anderen, und tief in mein Herz prägten sich die holden +Kindergesichter. Mein Mann brachte mir täglich frische Blumen für sie. +Einmal aber kam er nach Haus und stellte statt ihrer ein neues Bild +mitten auf den Schreibtisch. Es war Meister Dürers furchtloser Ritter, +der seelenruhig, im Schritt, den Kopf erhoben, das Auge gradaus +gerichtet, an allen Schrecken des Daseins vorüberreitet. + +»Laß kommen die Höll, mit mir zu streiten, ich will durch Tod und Teufel +reiten --,« ist sein Wahlspruch. »Wenn's ein Bub wird,« sagte der +Liebste, »so soll's so einer sein.« + +»Du hast recht,« antwortete ich und drückte ihm zärtlich die Hand, »ich +habe schon zu viel an das Kind und zu wenig an den Mann gedacht,« dabei +wies ich lächelnd auf die Wolken weißen Linnens, die mich umgaben, und +zeigte stolz die ersten winzigen Hemdchen, die daraus entstanden waren. +Mein Mann hatte zuerst von dieser Arbeit nichts wissen wollen. »Du +nimmst einer armen Näherin das Brot und hast selbst weit Besseres zu +tun,« war seine Ansicht gewesen. Aber zum erstenmal hatte ich ihm +widersprochen und meinen Willen durchgesetzt. Auf die Stoffe, die meines +Kindes Körper berühren sollten, durften keine Kummertränen fallen; +Mutterliebe mußte die Nadel führen, Mutterträume sich mit jedem Stich +hinein verweben. Nun kam es freilich vor, daß ich im Übereifer +stundenlang über der Arbeit saß und vernachlässigte, was ich sonst zu +tun hatte. »Das muß anders werden, Heinz,« sagte ich laut und faltete +die Leinwand zusammen. »Auch um des Kindes willen darf ich die Welt +außerhalb unserer vier Wände nicht vergessen, die doch auch seine Welt +sein wird. Schau, hier ist ein Brief von Wanda Orbin --,« ich reichte +ihn meinem Mann hinüber, der sich an den Schreibtisch gesetzt hatte; +»sie beklagt sich, weil ich zu wenig für die 'Freiheit' schreibe; hier +sind eine Reihe Aufforderungen zu Vorträgen, -- ich war nahe daran, sie +ablehnend zu beantworten --« + +»Und hier,« unterbrach er mich, »habe ich Bücher, die deiner Besprechung +harren. An den Artikel, den du mir für mein Archiv versprochen hast, +will ich schon gar nicht erinnern --« + +Ich stand auf und reckte mich mit einem Gefühl tiefen Wohlbefindens. »Du +wirst ihn bekommen! Ich verstehe nicht recht, warum so viele Frauen +jammern, wenn sie guter Hoffnung sind. Ich fühle Kraft für zwei!« + +Und mit Feuereifer stürzte ich mich in die Arbeit, die ich nur +stundenweise unterbrach, um frische Luft zu schöpfen. + + * * * * * + +Ich sollte mir täglich Bewegung machen und vermied den nahen Tiergarten, +weil ich den Eltern zu begegnen fürchtete. Ich wußte: mein Herz würde +sich schmerzhaft zusammenkrampfen, und ich wollte mich jetzt nicht +grämen. So fuhren wir denn fast immer in den Grunewald und wanderten um +die stillen Seen, die zwischen entlaubten Bäumen und schwarzen Kiefern +dem Winter entgegenträumten, oder gingen auf den gepflegten Wegen der +jungen Kolonie, all die vielen Villen betrachtend, die rascher als die +Mietskasernen auf dem Kurfürstendamm aus der Erde wuchsen. Sie waren +anders als die, die noch vor wenigen Jahren entstanden waren, -- heller, +freundlicher. Die verlogenen Butzenscheibenerker und die altdeutschen +Sprüche über den Türen verschwanden mehr und mehr. Die Zeit wurde +selbstbewußter und schämte sich der erborgten Formen vergangener +Jahrhunderte. Oft freilich sahen wir halb staunend, halb lachend Häuser, +die aus lauter Originalitätssucht absurd geworden waren. Aber auch das +war im Grunde nichts anderes, als der tolle Ausbruch überschäumender +Jugendkraft, und wenn mein Mann spotten wollte, erinnerte ich an Goethes +Wort: Es ist besser, daß ein junger Mensch auf eigenem Wege irre geht, +als daß er auf fremdem recht wandelt. + +Heute blieben wir in Schauen versunken vor einem Häuschen stehen, das +aus dem Märchenbuch ins Leben versetzt zu sein schien: ein tiefes Dach +hing schützend über den von rotem Weinlaub dicht umsponnenen Wänden, +hinter kleinen blitzenden Fenstern hingen weiße Vorhänge, auf den +braunen Holzaltanen blühten noch rote Geranien, und davor auf dem +glatten Rasenteppich warf ein kleiner Knabe jauchzend den bunten Ball in +die helle Herbstluft. »Wenn doch mein Kind wie dieses in Wald und Garten +wachsen könnte,« dachte ich. »Solch ein Haus möcht' ich euch bauen, dir +und dem Kinde,« sagte Heinrich im gleichen Augenblick. Ich lachte ein +wenig gezwungen. »Wie sollte das möglich sein, wo unsere Mietwohnung für +uns schon zu teuer ist!« »Wenn wir Zinsen statt Miete zu zahlen +hätten --,« meinte er nachdenklich; »Hall hat in dieser Weise schon +mancher Familie die Möglichkeit verschafft, im eigenen Häuschen und im +Freien zu wohnen!« Wir gingen schweigsam weiter, nur hier und da fiel +eine Bemerkung, die mir zeigte, das er denselben Gedanken weiter spann. + +Am Wildgatter nach Hundekehle holte uns eine große Gesellschaft junger +Radler ein; ihre blanken Räder blitzten, knapp und elegant schmiegten +sich die Sportanzüge neuster Mode um die schlanken Gestalten. »Ist das +nicht --,« rief ich unwillkürlich, und mein Herz klopfte rascher, aber +schon wandte das reizende Mädchen, das dicht an mir vorbei geflogen kam, +dunkelerrötend den Kopf zur Seite. »Ilse, -- kein Zweifel,« antwortete +Heinrich. »Und sie grüßt mich nicht einmal!« Tränen verdunkelten mir den +Blick. »Wollen wir umkehren?« frug mein Begleiter sanft und zog meinen +Arm fest durch den seinen. »Nein,« entgegnete ich und versuchte zu +lächeln; »sie kann ja nichts dafür, die Kleine! Sie darf mich nicht +kennen.« + +Unten vor dem Wirtshaus standen die Räder. Wir wollten gerade links +einbiegen, den Weg nach Paulsborn, der für uns so reich war an +Erinnerungen, als Ilse, nach einem Augenblick des Zögerns, quer über die +Straße zu uns herüberlief. Sie umarmte mich stürmisch. + +»Sei nicht böse, Schwester,« rief sie atemlos und zog mich tiefer in den +Wald hinein. »Sie würden mich zu Hause verraten, wenn ich dich gegrüßt +hätte.« Zärtlich streichelte ich ihr das erhitzte Gesicht und drückte +ihr kleines Händchen, das immer noch so weich und zart war, so unfähig +zuzupacken und festzuhalten. + +»Die Eltern wollen nichts von mir wissen?« fragte ich zaghaft. + +»Wir reden viel von dir, Mama und ich,« antwortete sie, »aber vor Papa +dürfen wir deinen Namen nicht nennen. Trotzdem weiß ich, daß er sich +bangt nach dir,« fügte sie rasch hinzu, als sie sah, wie ich erschüttert +war. »Wir holen ihn manchmal vom Kasino ab; wenn wir über den +Lützowplatz fahren, läßt er deine Fenster nicht aus den Augen.« + +»Und Mama, sagst du, spricht von mir?!« + +»Ja. Sie hatte zuerst des Morgens rote Augen, aber jetzt ist sie ruhig. +Es quält sie nur, glaube ich, daß sie nicht weiß, ob -- ob --,« sie +errötete, ein forschender Blick glitt über meine Gestalt. + +Heiß strömte es mir zum Herzen, mein ganzes, reiches Glück überkam mich, +und alles Erinnerungsweh verschwand vor ihm. »Grüße Mama,« sagte ich +weich, »und sage ihr, daß ich guter Hoffnung bin.« Ihre Hand löste sich +aus der meinen, ein Schatten schien über ihre Züge zu huschen, etwas +Fremdes stand auf einmal unsichtbar zwischen uns. »Ich muß fort, -- sie +suchen mich sonst, -- lebwohl -- --!« und schon war sie wieder jenseits +der Straße. + +»Verstehst du das?« fragte ich meinen Mann, der die ganze Zeit mit +gerunzelter Stirn neben uns gestanden hatte, und sah ihr kopfschüttelnd +nach. »Nein,« sagte er, »sie scheint mir aus Widersprüchen +zusammengesetzt, deine Schwester.« + +Auf dem Rückweg ertappten wir uns gegenseitig bei einem verstohlenen, +sehnsüchtigen Blick nach dem weinumsponnenen Häuschen mit dem tiefen +Dach darüber. Der Rasenplatz war leer. Ob der Kleine da oben hinter den +zugezogenen weißen Vorhängen schlummern mochte? Und ich träumte, während +wir heimwärts fuhren, offenen Auges einen gar süßen Traum. + +Mein Herz war heut übervoll. Als ich abends bei den Knaben saß, um ihre +Arbeiten zu beaufsichtigen, fühlte ich stärker als sonst, wie wenig ich +sie eigentlich kannte. Sie waren nachmittags wie gewöhnlich im +Zoologischen Garten gewesen. Es kam mir wie ein Unrecht vor, daß ich sie +dort allein ließ; ich wußte nicht, was sie hörten und sahen, welchen +Einflüssen sie inmitten der verdorbenen Großstadtjugend unterliegen +mochten. Und doch, nicht möglich wäre es gewesen, so große Jungen auf +Schritt und Tritt unter Aufsicht zu halten. + +Ihr Verhältnis zueinander war kein brüderliches, sie klagten sich häufig +gegenseitig bei mir an, -- das einzige Mittel, wodurch ich etwas von +ihnen zu erfahren bekam. Hätte ich doch ihr volles Vertrauen besessen! +Aber freilich: ich hatte kein Recht darauf; für sie stand ich nicht +einmal an Stelle der Mutter, denn sie lebte noch. Je erfolgloser mein +Bemühen gewesen war, ihnen näher zu kommen, desto unbegreiflicher war es +mir, daß die Mutter sich hatte von ihnen trennen können. Ein Kind bedarf +der Mutter, die es besser versteht, als es sich selbst verstehen kann. +Tiefes Mitleid ergriff mich mit den beiden Buben, aber ein noch tieferes +fast mit ihrer Mutter. Welch Schicksal mußte sie getroffen haben, daß +sich ihr Herz so hatte verhärten können? Heinrich sprach nicht gern von +ihr; und meinen Gedanken, ihr zu schreiben, um wenigstens in bezug auf +die Erziehung der Kinder im Einvernehmen mit ihr zu handeln, hatte er +schroff und ärgerlich als einen ganz törichten und zwecklosen +zurückgewiesen. Ich hatte ihn trotzdem ausgeführt -- heimlich, um ihn +nicht zu ärgern. Da wir aber im Überschwang unseres jungen Eheglücks +einander gestattet hatten, unsere Briefe gegenseitig zu öffnen, so las +er ihre Antwort: ein paar kühle hochmütige Zeilen, im Tone der Herrin +gegenüber der Gouvernante. Heinrich war damals ernstlich böse geworden, +und -- was mir am tiefsten in die Seele schnitt -- traurig dazu. »Ich +kann alles vertragen,« hatte er gesagt, »nur eins nicht: daß du +unehrlich bist mir gegenüber. Ich muß dir unbedingt vertrauen können, +sonst ist unsere Ehe keine mehr.« Seitdem hatte ich die kaum begonnene +Korrespondenz wieder abgebrochen, und die Brücke zum Herzen der Kinder, +auf die ich gehofft hatte, blieb ungebaut. Und nun kam es plötzlich wie +eine Erleuchtung über mich: ich wußte, womit ich sie würde gewinnen +können. + +»Erzähl uns was,« bettelte Wolfgang wie immer, wenn er aufatmend die +Schulbücher zuschlug. »Gleich!« antwortete ich lächelnd, und ging +hinaus, um mit dem Korb voll weißer Leinwand wiederzukommen. + +»Was meint ihr wohl, was das ist?« fragte ich und hielt ein kleines +Hemdchen hoch, sodaß das Licht der Lampe rosig hindurchschimmerte. Sie +rissen erstaunt die Augen auf. »Eurem Brüderchen oder eurem +Schwesterchen gehört es, das ihr bekommen werdet. Habt ihr die Eicheln +gesehen, die von den Bäumen fallen? Wenn die Erde sie aufnimmt, und +weich und warm einhüllt, damit der Winter ihnen nichts Böses tun kann, +so wachsen im Frühling junge Bäumchen daraus ... Und ein Vogelei kennt +ihr doch auch? Da ist zuerst gar nichts drin, wie eine weißliche +Flüssigkeit. Wenn's aber eingebettet im Nestchen liegt, und die Henne es +mit ihrem Leib bedeckt, dann entwickelt sich zuerst die gelbe Dotter und +aus ihr ein winziger lebendiger Vogel. Sobald er groß genug ist, +zerbricht er das Ei und ist da! Wir sind so sehr daran gewöhnt, daß wir +uns des großen Wunders gar nicht mehr bewußt werden, -- eines Wunders, +das viel unfaßlicher ist, als wenn der Storch die kleinen Kinder +brächte, wie man es früher zu erzählen pflegte.« Ich machte eine Pause; +meine Zuhörer rührten sich nicht, und ich hatte nicht den Mut +aufzusehen. Wußte ich doch nicht, was für Blicken ich begegnen würde. +»Euch ist vielleicht auch einmal das Märchen vom Storch zu Ohren +gekommen,« fuhr ich leiser fort, »es ist dumm und albern! Die Wahrheit +ist tausendmal schöner: wie die Eichel im Schoß der Erde, ruht der +Menschensamen im Mutterleib, und wie das Vögelchen sich entwickelt, so +entwickelt sich das Kind, nur daß die Menschenmutter das Ei unter dem +Herzen trägt, bis es zerspringt und das junge Leben geboren wird.« Ich +schwieg wieder; es war so still, daß ich hätte meinen können, ich wäre +allein im Zimmer. »Weil ich euch lieb habe, euch beide --,« flüsterte +ich und senkte den Kopf tief auf die Arbeit, die meine zitternden Hände +hielten, -- »darum mag ich euch nicht belügen, darum will ich euch +anvertrauen, was mein glückseliges Geheimnis ist: ich werde auch ein +Kind bekommen!« + +Eine beklemmende Stille; ich konnte die Nadel hören, wenn sie den Stoff +durchstach. Endlich sah ich empor. Die Köpfe gesenkt, mit dunkelroten +Wangen saßen die Knaben vor mir. Ein rascher scheuer Blick traf mich aus +Wolfgangs hellen Augen, um seine Lippen zuckte es. Waren es verhaltene +Tränen, oder war es am Ende gar -- Spott? Hans rutschte vom Stuhl auf +die Erde und machte sich, abgewandt von mir, an seiner Dampfmaschine zu +schaffen. Ich wußte nur zu gut, wie verdorbene Kinder das Geheimnis des +Lebens ihren Schulkameraden zu erklären pflegen: mit lüsternen +Augenzwinkern, mit der Freude am Schmutz. Hatten sie es so erfahren?! +Mir stieg die Schamröte bis unter die Haarwurzeln. Oder hatten sie, +während ich sprach, ihrer Mutter gedacht, hatten plötzlich empfunden, +daß ich sie nicht so würde lieben können wie mein eigenes Kind? Ich +seufzte tief auf. So war auch das vergebens gewesen; statt eine Schranke +einzureißen, hatte ich eine neue errichtet. Ich begegnete ihnen von nun +an mit doppelter Zärtlichkeit; ich suchte ihre Wünsche zu erfüllen, noch +ehe sie laut wurden. Aber ihre Scheu überwand ich nicht. + +Vor Heinrich ließ ich mir nicht merken, was in mir vorging. Er hätte +mich mißverstehen, hätte glauben können, daß ich seine Bitte, die Kinder +lieb zu haben, nicht zu erfüllen vermöchte, -- dachte ich. Auch war er +den Kindern gegenüber oft so reizbar, daß ich Mühe hatte, ihn zu +besänftigen. Das Verlangen, mit mir allein zu sein, äußerte er zuweilen +in einer, wie mir schien, für die unschuldigen Buben empfindlichen +Weise. Ich lenkte ein, -- ich deckte zu, -- ich versteckte mein eigenes +Empfinden, das in derselben Sehnsucht gipfelte wie das seine. Wie viele +warme Worte und heiße Blicke und zarte kleine Aufmerksamkeiten, die wie +ein holder Frühlingsflor den Garten junger Ehe schmücken, wagten sich +vor den fremden Augen der Kinder nicht ans Tageslicht. Auch über das +Glück meiner Mutterhoffnung mußt' ich vor ihnen einen Schleier ziehen. + + * * * * * + +Wir lebten damals ganz still. Von geselligem Verkehr war selten die +Rede. Wir scheuten noch immer unliebsame Begegnungen, und unsere +Zurückhaltung, die mir als Hochmut ausgelegt wurde, steigerte nur unsere +Isoliertheit. Es kam vor, daß wir im Theater zwischen lauter alten +Bekannten saßen und uns doch wie auf einsamer Insel mitten im Meer +befanden. Man musterte uns neugierig, man tuschelte über uns, man grüßte +bestenfalls, und ich setzte dazu meine abweisendste Miene auf, um den +Menschenhunger, der mich manchmal überfiel, nicht merken zu lassen. + +Zuweilen besuchten uns die Mitarbeiter an meines Mannes Zeitschrift: +Nationalökonomen, Juristen und Politiker aus aller Herren Länder, die er +mit dem ihm eigenen redaktionellen Geschick unter einen Hut zu bringen +gewußt hatte, und die, -- mochten sie sonst in ihren Ansichten noch so +weit auseinander gehen, -- unter seiner Führung gemeinsam am selben +Strange zogen. + +»Ihr Mann ist ein wahres Redaktionsgenie!« sagte mir einmal einer von +ihnen, nachdem er sich nach langer Debatte doch wieder unterworfen +hatte, halb ärgerlich, halb bewundernd. »Meist erdrücken die Autoren den +Redakteur, er nimmt dankbar, was 'bewährte Mitarbeiter' ihm bringen und +ist eigentlich nur ihr Geschäftsführer. Ihr Mann aber zwingt uns in +seinen Dienst wie ein Feldherr seine Soldaten. Wenn er will, so müssen +wir alles andere stehen und liegen lassen, uns hinsetzen, die Feder +ergreifen und den gewünschten Aufsatz schreiben.« + +Ich freute mich jedesmal dieser Gäste; denn mochten sie von Rußland oder +Frankreich, von England oder Italien kommen, -- eins war ihnen +gemeinsam: Tatkraft und Hoffnungsfreudigkeit. Ganz richtig äußerte sich +einer über diese innere Einheit, wenn er sagte: »Wir sind Leute mit der +Devise 'Ja, also!', im Gegensatz zu der älteren Generation der +kathedersozialistischen Nationalökonomen, die die Männer des 'Ja, aber!' +gewesen sind.« Sie zogen die Konsequenzen ihrer wissenschaftlichen +Erkenntnis und traten rückhaltlos auf Seite der Arbeiter in Fragen des +Arbeiterschutzes. In ihnen sah ich starke Verbündete der +Sozialdemokratie, und es schien mir kein Zweifel, daß die Logik der +inneren Entwicklung und der äußeren Geschehnisse sie schließlich zu +ihren offenen Parteigängern würde machen müssen. + +Aber noch eine andere Tatsache unterstützte meinen Glauben an den +Fortschritt sozialer Erkenntnis: die Gründung der nationalsozialen +Partei. + +Sie war eben in Frankfurt zur Welt gekommen und getauft worden; sie +hatte im Rausch der Festesfreude freilich den Mund sehr vollgenommen, +wie das nun einmal in solcher Situation deutsche Art zu sein pflegt: +»Wir stehen als Erben vor der Türe der Sozialdemokratie,« hatte Göhre +erklärt. »Wir stellen uns an die Spitze der Arbeiterbewegung, denn die +Zeit der Sozialdemokratie ist um,« hatte Sohm ihm sekundiert. Aber +solche rednerischen Entgleisungen, die unsere Parteipresse mit einem +übertriebenen Pathos rügte, statt über sie zu lächeln, wogen leicht +gegenüber dem Handeln dieser Männer und Frauen: sie anerkannten die +Gegenwartsforderungen der Sozialdemokratie, sie stellten sich, bei aller +Betonung nationaler Gesinnung, in bewußtem Gegensatz zur Regierung, die +die sozialen Pastoren maßregeln ließ, -- zum Kaiser, der ihre +Bestrebungen für sträflichen Unsinn erklärte. + +Ein Ereignis trat ein, das vollends zwischen rechts und links wie +Scheidewasser wirken sollte: der Hafenarbeiterstreik in Hamburg. Hatte +wenige Jahre vorher die Cholera die Augen der ganzen Welt auf die +gräßlichen Elendsquartiere der reichen Kaufmannsstadt gerichtet, so +zeigte sich jetzt, daß selbst ihr Schrecken nicht imstande gewesen war, +die Brutstätten des Todes aus der Welt zu schaffen. Noch hausten zwanzig +Prozent ihrer Bewohner dicht zusammengedrängt in winzigen Räumen und +engen Gassen, -- zu fünft in einem Zimmer, zu neun in zweien! Und zu +diesen gehörten vor allem die Hafenarbeiter, die bei schwerer Arbeit, +die sie oft Tag und Nacht nicht los ließ, nicht genug verdienten, um +sich auch nur in Frieden ausruhen und frische Arbeitskräfte sammeln zu +können. Der Eindruck der Tatsachen, die der Streik enthüllte, war ein +ungeheurer, und die Haltung der Hamburger Reeder, die sich allen +Einigungsversuchen der Arbeiterorganisationen widersetzten und einen +Kampf um ein paar Groschen mehr Lohn zu einem Kampf um ihre Macht +erweiterten, empörte jeden, der vorurteilslos zu denken vermochte. In +höherem Maße als zur Zeit des Konfektionsarbeiterstreiks nahm die +Öffentlichkeit Partei für die Arbeiter, geführt von den jungen +sozialpolitischen Professoren und der nationalsozialen Partei. Das +waren, so schien mir, Symptome für das Erwachen eines Geistes, der nicht +mehr zu bannen sein würde. Und die Haltung der Gegner bekräftigte meine +Auffassung: Kleine Nadelstiche, wie die Ausweisungen englischer +Arbeiterführer, die, um Frieden zu stiften, nach Hamburg gekommen waren, +-- schroffe Erklärungen der Reichsregierung gegen die Streikenden, -- +von ihr unwidersprochene Aussprüche, wie die des alten Reaktionärs +Kardorff im Reichstag: »Ich freue mich, daß man von den bedenklichen +Wegen des Erlasses von 1890 jetzt abgekommen ist,« -- Wünsche eines +Stumm und seiner Gesinnungsgenossen, die zur Bekämpfung +staatsgefährlicher Umtriebe eine Änderung der Vereinsgesetze forderten, +-- waren das alles nicht Zeichen der Angst und der Schwäche? Und war +nicht die Wandlung, die der Kaiser seit seinen sozialpolitischen +Erlassen durchgemacht hatte, ein unbewußtes Eingeständnis schwindenden +Einflusses? Erfüllt von seinem Gottesgnadentum, durchtränkt von der +Vorstellung, die Tradition und Erziehung den Fürsten unauslöschlich +einprägt: daß das Volk ihnen gegenüber im Verhältnis des Kindes zum +Vater steht, hatte er ein sozialer Kaiser sein wollen, indem er der +Arbeiterschaft als Geschenk brachte, was ihm gut schien für sie. Als sie +es ihm nicht dankte, als sie Rechte forderte, statt Gnaden zu erbitten, +sie sogar mit Gewalt ertrotzen wollte, -- da wurde der in seiner +Autorität verletzte Fürst zum zürnenden, strafenden Vater. Und derselbe +Kaiser, der 1890 für die Schaffung von Schiedsgerichten eintrat, stellte +sich 1896 auf die Seite der Hamburger Reeder und forderte die +Vereinigung aller Arbeitgeber gegen die Arbeiter. + +Um diese Zeit besuchte uns mein alter Freund Professor Tondern, der ein +stiller Gelehrter irgendwo an einer Provinzuniversität geworden war, und +den ich für unsere Sache fast schon aufgegeben hatte. Er war zur Zeit +des Streiks in Hamburg gewesen, und mein Mann hatte ihn für das Archiv +zu einer Arbeit darüber aufgefordert. Statt aller Antwort kam er selbst, +ganz erfüllt von dem Erlebten. + +»Da bilden wir uns nun wer weiß wie viel auf unsere Bildung, unsere alte +Kultur ein,« sagte er, »und müssen angesichts solcher Kämpfe beschämt +eingestehen, daß wir mit all dem lumpigen Rüstzeug ihren Forderungen +gegenüber jämmerlich Schiffbruch leiden würden, während die in Elend und +Unwissenheit Aufgewachsenen sich wie Helden bewähren. Sie hätten nur +sehen sollen, wie tapfer die Frauen, vom kleinen Mädchen bis zum +steinalten Mütterchen, ihren Vätern und Söhnen zur Seite standen. Da +steckt ungebrochene Jugendkraft --« Er brach seufzend ab. + +»Zeugt die arbeiterfreundliche Haltung gewisser bürgerlicher Kreise +nicht auch dafür?« fragte ich. + +Er schüttelte heftig den Kopf, daß die dünn gewordenen roten +Haarsträhnen flogen. »Immer noch die alte Optimistin!« murmelte er. »Zu +einem guten Teil haben Sie freilich recht --« fügte er dann laut hinzu. +»Der Streik hat die Verschlafenen aufgerüttelt, hat die +sozialpolitischen Probleme wieder in den Fluß der Diskussion gebracht, +hat die brennende Feindschaft, die der Generalstab des Kapitals, das +heißt das Kapital in seiner bedrohten politischen Machtsphäre gegen die +freie Wissenschaft empfindet, zu hellen Flammen werden lassen, -- und +das kann dem echten, dem kritischen wissenschaftlichen Geist nur heilsam +sein.« + +»Diese Feindschaft muß aber auch mehr und mehr zu uns herübertreiben,« +entgegnete ich. + +»Zur Sozialdemokratie? Nein! Erinnern Sie sich unserer Haltung nach der +frankfurter Tagung der Ethischen Gesellschaft? -- Seitdem hat sich für +uns nichts verändert. Wir sind sogar nur noch fester an die +Staatskrippe, und damit an den Dienst der kapitalistischen Gesellschaft +geschmiedet, weil unsere Kinder inzwischen größer und anspruchsvoller +wurden. Eine Ausnahme, wie Sie, bestätigt nur die Regel. Marx hat keine +größere Wahrheit ausgesprochen als die, daß die gesellschaftliche +Umwandlung nur das Werk der Arbeiterklasse sein kann.« + +Er stand auf. »Ich muß eilen, -- meine Frau wartet auf mich,« sagte er +hastig, und strich sich gleich darauf mit einer verlegen ungeschickten +Bewegung den roten Bart. Ich verstand. Es war gewissermaßen nur ein +Geschäftsbesuch gewesen. Mit Damenbesuchen wurde ich nicht verwöhnt! Er +schüttelte meinem Mann die Hand: »Sie bekommen den Aufsatz in spätestens +vierzehn Tagen.« Dann wandte er sich abschiednehmend zu mir: »Sie dürfen +mir auch die Hand geben. Meine Stellung zu Alix Brandt ist genau +dieselbe geblieben wie zu Alix von Glyzcinski.« + +Kurze Zeit darauf meldete sich einer der geistvollsten +Archiv-Mitarbeiter, Professor Romberg, bei uns an. Ich sah ihm mit +gespannter Erwartung entgegen, denn ihm war ein Buch vorausgegangen, das +ihn wie ein Herold mit Fanfarenstößen angekündigt hatte. Ein schmaler +roter Band war es nur, aber das Wort »Sozialismus« prangte in goldenen +Lettern darauf, und sein Inhalt war nichts anderes als eine Verteidigung +der Lehren von Karl Marx, als eine Anerkennung der sozialdemokratischen +Arbeiterbewegung. Das Katheder eines wohlbestallten ordentlichen +preußischen Universitätsprofessors hatte sich der Verfasser wohl auf +immer verscherzt, aber eine Zuhörerschaft hatte er sich erobert, aus der +für die Sache des Sozialismus eine große Gefolgschaft werden mußte. + +Mein Mann lächelte über meinen Enthusiasmus, er spielte sogar ein wenig +den Eifersüchtigen, als ich zum Empfang dieses Gastes ganz besondere +Vorkehrungen traf, den Tisch mit buntem Herbstlaub schmückte und eine +Flasche Wein besorgen ließ, -- zum erstenmal seit unserer +Hochzeitsfeier. + +Als er eintrat, hatte ich jene seltsame Empfindung, die ich als Kind +besonders häufig gehabt hatte: daß mir derselbe Mann in derselben +Situation schon einmal begegnet war; selbst die gleichgültige +Begrüßungsphrase und der Ton seiner Stimme dabei war mir bekannt, ehe er +sie aussprach. Im ersten Augenblick war ich verwirrt und überließ +Heinrich die Unterhaltung, dann musterte ich den Gast, und dabei +verwischte sich das Gefühl langen Bekanntseins wieder, ähnlich wie ein +Traum uns um so gewisser entgleitet, je mehr wir über ihn nachdenken. +Diesen großen, tiefbrünetten Mann mit den lebhaften braunen Augen und +der hochgewölbten Stirn hatte ich gewiß noch nie gesehen. War es +Sympathie, die ich für ihn empfand? Der dunkle Bart beschattete dicke +Lippen, die von stark entwickelter Sinnlichkeit zeugten, die großen +Hände mit den breiten Fingerkuppen und den abgebrochenen Nägeln +widersprachen der vornehmen Eleganz seiner schlanken Gestalt. Aber diese +Mischung von Roheit und alter Kultur prädestinierte ihn vielleicht +gerade für die Rolle eines Führers der öffentlichen Meinung, die er, +unserer Ansicht nach, zu spielen bestimmt war. + +In einer Rede, die von Geist und Wissen sprühte, setzte er meinem Mann +die Ideen auseinander, die er in einer Abhandlung für das Archiv +zusammenfassen wollte. »Wir müssen der Sozialpolitik die Krücken nehmen, +die Ethiker, Christlichsoziale und neuerdings Rassenhygieniker ihr +glaubten geben zu müssen, um sie dem von ihnen willkürlich gesteckten +Ziele entgegenhumpeln zu lassen. Sie kann und muß auf eigenen Füßen +gehen, eigene Ziele verfolgen. Ich verlange die Autonomie des +sozialpolitischen Ideals, das nicht nur nicht ethisch, nicht religiös, +nicht rassenhygienisch, sondern diesen Idealen direkt entgegengesetzt +sein kann.« + +»Das sei Ihnen in bezug auf das religiöse Ideal zugegeben,« warf mein +Mann ein, »aber das ethische, das rassenhygienische?! Die 'Befreiung des +gesamten Menschengeschlechts, das unter den heutigen Zuständen leidet', +ist doch wohl ein ethisches Postulat!« + +Romberg bewegte lebhaft abwehrend die Hände: »Bleiben Sie mir mit der +Zukunftsmusik des Erfurter Programms vom Leibe! Sie könnten ebenso gut +die 'Versöhnung der Klassengegensätze', die die Ethiker unter den +Nationalökonomen der Sozialpolitik als Aufgabe zuschieben, predigen. +Nein: wir stehen im Klassenkampf, wir müssen in diesem Kampf Partei +ergreifen, und zwar nicht für die Schwachen nach christlicher +Auffassung, sondern für das höchst entwickelte Wirtschaftssystem, für +die den wirtschaftlichen Fortschritt repräsentierende Klasse, das heißt +auf Kosten der anderen.« + +»Mit anderen Worten: für das Proletariat?« fragte ich. Er wandte sich +mir zu. + +»Gewiß: für das Proletariat, soweit seine Ideale sich mit dem Ideal der +Sozialpolitik decken: der wirtschaftlichen Vollkommenheit, und,« -- er +betonte scharf den letzten Satz, -- »soweit sie sich dauernd mit ihm +decken werden. Denn es ist einerseits in dauerndem Fluß begriffen und +ist andererseits kein absoluter Endzweck, sondern nur ein Mittel zur +Verwirklichung höherer Zwecke. Das wirtschaftliche Leben ist die +Schranke, in der unser ganzes Dasein, auch in seinen höchsten +Äußerungen, eingeschlossen ist. Wir müssen sie erweitern, so rasch als +möglich, ohne Rücksicht auf die Bedenken empfindsamer Seelen, um zu +Licht und Luft zu gelangen.« + +»Und mit diesen Ansichten können Sie es verantworten, außerhalb unserer +Partei zu stehen!« rief ich aus. Er schien erstaunt. + +»Alles, was ich sagte, was ich schrieb, beweist doch, daß ich es +verantworten kann!« meinte er langsam. »Oder glauben Sie, ich würde mehr +erreichen, wenn ich mich in Ihr Heer einreihen, Ihre Uniform anziehen +würde, wenn ich jede meiner Ideen, ehe ich sie auszusprechen mich +getraute, dem Votum Ihres Parteitages unterwerfe?!« + +»Ich verstehe Sie nicht!« antwortete ich. »Wie reimt sich Ihre Abneigung +gegen die Partei mit diesem Buch zusammen,« -- ich hielt ihm den roten +Band entgegen, -- »mit Ihrer Verteidigung des Klassenkampfes, mit Ihrer +Prophezeiung der dauernden, der notwendigen Einheit der Bewegung?« + +»Ich muß Ihre Frage mit einer Frage beantworten: Ist die Zugehörigkeit +zur Bewegung abhängig von der namentlichen Einschreibung in einen +Wahlverein? Ist es für meine Stellung wichtiger, wie ich mich nenne, als +was ich leiste?! Die Frage des Eintritts in die Partei kann für +unsereinen nur individuell gelöst werden. Ich zum Beispiel würde in dem +Augenblick flügellahm werden, wo ich in _der_ Gesellschaft aushalten +müßte.« + +»Für einen Augenblick vielleicht, aber in dem Moment, wo Sie sich +durchsetzen, wo Sie Einfluß gewinnen würden, hätten Sie die Kraft Ihrer +Flügel in doppeltem Maße wieder --,« mischte sich mein Mann ins +Gespräch. + +»Sie überschätzen mich, lieber Freund. Über gewisse Dinge komme ich +nicht hinweg. Sie wissen, mein 'Sozialismus' hat einen ungeahnten +Erfolg; ich brauche mich in meiner Schriftstellereitelkeit wahrhaftig +nicht gekränkt zu fühlen. Aber die Behandlung, die mir -- mir, der ich +den Sozialismus verteidige! -- von einem Teil Ihrer Presse zuteil +geworden ist, hat mir die ganze Gesellschaft auf lange verekelt!« + +Der Gegensatz zwischen dem Enthusiasmus, der ihn wenige Minuten vorher +erfüllt hatte, und der morosen Stimmung, die jetzt aus Wort und Ton und +Haltung sprach, war so verblüffend, daß wir verstummten. Aber Romberg +forderte uns zur Antwort heraus: + +»Sie mißbilligen meinen Standpunkt?« Fragend sah er von einem zum +anderen. + +»Ganz und gar!« antwortete ich heftig. »Glauben Sie, daß wir um der +schönen Augen der Parteigenossen willen Sozialdemokraten geworden sind, +-- oder der Partei entrüstet den Rücken kehren würden, weil ein paar +Nasen uns nicht gefallen?! Wir dienen der Sache, nicht den Personen.« + +»Eine so reinliche Scheidung zwischen der Sache und den Personen läßt +sich in Wirklichkeit nicht durchführen,« sagte er, sichtlich verletzt. +»Es kann sehr wohl der Fall eintreten, daß eine Sache durch eine +bestimmte Personengruppierung rettungslos verloren geht, und ich bin der +Meinung, daß in Ihrer Partei Leute den Ton angeben, die Ihre Sache +diskreditieren.« + +»Wenn Sie dieser Ansicht sind, müßten Sie erst recht in die Partei +eintreten, um die Sache, die doch auch die Ihre ist, vor solchen +Einflüssen zu retten!« + +Er biß sich auf die Lippen und schwieg sekundenlang. Dann ließ er sich, +wie ermüdet, in den Lehnstuhl fallen und sagte langsam: »Sie mögen recht +haben, -- auf Grund Ihrer Individualität. Ich würde einfach zugrunde +gehen, wenn ich mit dem Gesindel, das Ihre Partei groß gefuttert hat, +auf gleich und gleich verkehren müßte. Übrigens,« er lächelte ein wenig, +»Sie sind ja erst seit vorgestern 'Genossin', -- wir wollen unser +Gespräch in zehn Jahren zu Ende führen! Und Sie, mein lieber Brandt, +sind doch auch nur im Nebenberuf 'Genosse'. Wenn Sie Ihrer Frau +beistimmen, warum treten Sie nicht in die politische Arena?« + +Mein Mann ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder, ehe er antwortete. +»Ich habe nicht Ihre Begabung, die Sie zum Agitator stempelt. Und ich +bin nicht unabhängig wie Sie, was, meiner Ansicht nach, eine wichtige +Voraussetzung ist, wenn man in der Partei Wertvolles leisten will. Das +Archiv ist mein Brotgeber. Es könnte seine wertvollsten Mitarbeiter +verlieren, wenn sein Redakteur politisch hervorträte. Sonst, -- lieber +heute als morgen würde ich ein tätiger Parteigenosse sein!« + +Ich hatte Heinrich noch nie so sprechen hören; eine tiefe Unbefriedigung +enthüllte sich mir, eine Seite seines Wesens, die sich selbst dem +durchdringenden Blick meiner Liebe bisher versteckt hatte. Ich konnte +den Gedanken daran nicht los werden und vergaß fast unseres Besuchers +darüber. + +Beim Abschied reichte ich ihm die Hand. Ein unbehagliches Gefühl überkam +mich: die seine lag, so groß sie war, schwach und leblos in der meinen. +Menschen ohne Händedruck waren mir immer unsympathisch gewesen. Und +doch zog dieser Mann mich an. + +»Wollen wir nach all dem Ernst nun nicht Berlin ein wenig genießen?« +fragte er. »Wir armen Provinzler müssen uns mit Großstadtluft auf Monate +versorgen, wenn wir einmal von unserer Kette loskommen.« Wir +verabredeten allerlei, und er ging. + +»Nun?!« fragte Heinrich, als die Tür sich hinter ihm geschlossen hatte. + +»Ein interessanter Mensch, ob ein Kämpfer?!« antwortete ich +nachdenklich. »Aber was interessiert mich dies Problem, wo mein eigner +Mann mir eins aufgegeben hat!« + +Er zuckte lachend die Achseln: »Kümmere dich nicht darum, Schatz, es ist +doch zunächst unlösbar.« »Du würdest wirklich gern politisch tätig +sein?« drängte ich unbeirrt. »Wäre es dir willkommen?« fragte er statt +der Antwort. Mir stieg das Blut in die Wangen. Ich sah den Geliebten an +der Stelle, die ich Romberg zugedacht hatte; ich sah uns beide Schulter +an Schulter im Kampfe stehen. »O wie schön wäre das!« flüsterte ich. + +Die nächsten Tage nahm uns Romberg sehr in Anspruch. Er war von einer +fast kindlichen Genußfähigkeit, dabei voller Interesse für Kunst und +Literatur, in allem das Gegenspiel des typischen deutschen Professors. + + * * * * * + +Berlin war damals reich an neuem Leben für den, der es zu finden +verstand. Denn die Oberfläche trug noch immer das Stigma geschmackloser +Alltäglichkeit. Mein Instinkt war doppelt wach; meine Sinne schienen +geschärft für alles Werden, und meine Hoffnung umschlang mit üppigen +Ranken jede neue Erscheinung. + +Wir sahen Gerhart Hauptmanns »Versunkene Glocke«, die zum erstenmal zur +Aufführung kam. Alles stritt um des schönen Märchens eigentlichen Inhalt +und riß ihm im Streit grausam die Schmetterlingsflügel aus. Den einen +erschien es als das tragische Bekenntnis eigener Schwäche: denn die im +Tal gegossene, für die Höhe bestimmte Glocke Meister Heinrichs stürzte +vom Berge hinab in die Tiefe, und als er selbst emporstieg, um droben +ein neues Wunderwerk zu schaffen, zog sie ihn nach sich ins Grab. Den +anderen war es nichts als ein Zeichen geistiger Reaktion: der Dichter +der 'Weber' floh vor dem wirklichen Leben. Ich aber hörte darin das +immer wiederkehrende Leitmotiv der Sehnsucht, das den Glockengießer +emporzog, auch als er an seiner Schwäche sterben mußte, ich sah die +Sonnenpilger, die den Marmortempel suchten, dessen Baumeister zugrunde +ging, dem aber Kräftigere als er Hammer und Kelle aus den toten Händen +nahmen. + +Und dieselbe Sehnsucht, die der Hoffnung Schwester ist, die aus unserer +nüchternen, auf praktisch-greifbare Ziele gerichteten Zeit +hinwegverlangt in reichere, blühendere Gefilde, wo die arme gehetzte +Seele nicht mehr zu dursten und zu frieren braucht, schien einer jungen +noch unbekannten Künstlerschaft die Hand zu führen. Wir sahen Gläser, +deren zart schimmernde Blumenkelche in Märchenfarben strahlten, und +Teppiche, auf denen die ganze Fülle des Frühlings ausgestreut erschien. +Wir kamen in eine Ausstellung, die eine Welt fremder Wunder enthielt, +deren Schöpfer ein noch Unbekannter war. Staunend stand ich vor dem +schönsten, das sie bot: einem Fenster voll leuchtender Glut, mit den +Gestalten Tristans und Isoldens. In ihren Augen, in ihrer Gebärde +steigerte sich die Sehnsucht zum Verlangen; die Farben waren eine Hymne +des Lebens: das Rot jauchzte, das Blau verging in zärtlichen Melodien, +wie ein mystischer Orgelton stand das Violett dazwischen. + +Achselzuckend ging die Masse an alledem vorüber. Auch die beiden Männer, +die mich begleiteten, waren mehr erstaunt als betroffen. Ob wohl nur +eine, die schwanger war, die verborgenen Lebenskeime dieser Zeit zu +schauen vermochte? Ich sog mit allen Sinnen ein, was der Menschenknospe +in meinem Schoß zur Nahrung dienen konnte. + +»Seit ich Sie kenne, begreife ich nicht, wie Sie Genossin werden +konnten,« sagte Romberg beim Abschied, »mit Ihrem starken +Kulturbedürfnis, ihrem Schönheitsdurst!« + +»Für mich war das nur ein Motiv mehr, um es zu werden,« antwortete ich. +»Auch den Seelenhunger der Massen nach höheren Lebenswerten möchte ich +stillen helfen.« + +»Sie haben kaum einen --,« meinte er wegwerfend. + +»Dann ist meine Aufgabe doppelt groß: ich muß sie hungrig machen -- --« + + * * * * * + +Mein Zustand hinderte mich zunächst nicht an der Parteitätigkeit. Ich +hielt Versammlungen ab, solang es ging, obwohl die schlechte Luft sich +mir immer schwerer auf den Kopf legte; ich besuchte die Sitzungen der +Frauenorganisation regelmäßig trotz der ekelerregenden Düfte der Lokale, +in denen sie stattfanden. Wenn die Polizei, die uns ständig auf den +Fersen war, gewußt hätte, wie wenig welterschütternd die Fragen waren, +über die wir debattierten, sie würde uns ruhig unserem Schicksal +überlassen haben. Seitdem Wanda Orbin nicht mehr in Berlin war, schien +zwar auch den Nur-Ja-Sagerinnen der Mund geöffnet zu sein, aber was sie +vorbrachten, das drehte sich meist um die kleinlichsten Dinge. Derselbe +Zank, derselbe Neid, der mir die bürgerliche Frauenbewegung vergällt +hatte, fand sich auch hier, nur daß er sich in gröberen Formen äußerte. +Ich wäre bitter enttäuscht gewesen, wenn ich nicht allmählich Einblicke +gewonnen hätte, die mir die Dinge in anderem Licht erscheinen ließen. + +Ich lernte das Leben dieser Frauen kennen. Da war eine, die tagaus, +tagein in dieselbe elende Zwischenmeisterwerkstatt ging, um, wenn sie +todmüde heimkam, von dem betrunkenen Mann mit Schlägen oder +zudringlichen Zärtlichkeiten empfangen zu werden; -- sollte sie nicht +verbittert sein? Da war eine andere, die, obwohl sie einen braven Gatten +hatte, auf ihre alten Tage in die Fabrik zurückgekehrt war, weil sie nur +auf diese Weise ihrem kranken Sohn den Besuch eines Sanatoriums +ermöglichen konnte; -- sollte sie die glücklicheren Mütter nicht +beneiden, die die Gesundheit ihrer Kinder nicht so schwer erkaufen +mußten? Und ein verblühtes Mädchen war zwischen uns, die ihrer gelähmten +Mutter ihre ganze Jugend hatte opfern müssen, -- war's nicht +begreiflich, daß etwas wie Haß in ihren Augen aufblitzte, wenn ich +sprach? + +Einmal besuchte ich die kleine dicke Frau Wengs; sie war vor drei Tagen +ihres siebenten Kindes genesen, und ich fand sie schon wieder hinter dem +Waschfaß. War es erstaunlich, daß sie reizbar war? All diese Frauen +standen in harter Arbeitsfron; war es nicht viel merkwürdiger, daß sie +sich dabei die Kraft, den Opfermut, die Begeisterungsfähigkeit erhalten +hatten, die es ihnen möglich machte, ihre spärliche Freizeit, ihre ihnen +so bitter nötige Nachtruhe dem Dienst der Partei zu widmen? Sie +leisteten das äußerste, was sie leisten konnten; es war nicht ihre +Schuld, daß es trotzdem so wenig war. + +Ich grübelte lange nach, wie hier zu helfen wäre. Mein alter Plan eines +Zentralausschusses für Frauenarbeit tauchte wieder auf. Wenn man mit +Hilfe der Partei solch einen Mittelpunkt schaffen, die begabtesten der +Frauen dabei beschäftigen, von ihrer Erwerbsarbeit dadurch befreien +könnte? Frau Wengs war nach dem Parteitag zur »Vertrauensperson für ganz +Deutschland« gewählt worden. War es nicht wie ein Hohn auf die +Frauenbewegung, daß sie, die kaum Zeit hatte, eine Zeitung zu lesen, für +die das Schreiben eines Briefes eine fast unüberwindliche Aufgabe war, +an ihrer Spitze stehen sollte? Man hatte mir freilich erzählt, Wanda +Orbin habe ihre Wahl unterstützt, um die Leitung um so sicherer in der +eigenen Hand zu behalten, Wanda Orbin, die uns so fern war, deren +unzureichende Kenntnis der Verhältnisse schon daraus hervorging, daß +sie ihre Zeitschrift in einem Tone schrieb, der einen hohen Grad von +Wissen bei dem Leser voraussetzte. Ja, wenn sie in Berlin wäre, wenn sie +offiziell die Führung in die Hände bekäme, wenn die Gestaltung der +'Freiheit' dem Einfluß der Genossinnen zugänglich gemacht werden könnte! +Schon damit, so schien mir, wäre viel geholfen. Ich schrieb ihr in +diesem Sinne, ich fragte sie, ob sie kommen würde, wenn man die +Anstellung einer weiblichen Parteisekretärin durchgesetzt hätte. Sie +antwortete ausweichend: es fessele sie vieles, vor allem die Erziehung +ihrer Söhne in Stuttgart. Ich gab die Sache noch nicht verloren. Ich +legte meinen Plan der Schaffung eines Sekretariats für die +Frauenbewegung den Genossinnen vor, ich entwickelte ihn in einem +längeren Artikel in der 'Freiheit' und hütete mich zunächst, Wanda +Orbins Namen zu nennen, da ich wußte, daß auch sie Gegnerinnen hatte. +Die Wirkung war verblüffend: die Frauen gerieten in eine Aufregung, die +in keinem Verhältnis zur Sache zu stehen schien. Man fand es +ungeheuerlich, daß ich, die ich noch nichts, aber auch rein gar nichts +geleistet hätte, mir herausgenommen habe, an der Arbeiterinnenbewegung +Kritik zu üben; man bekämpfte meinen Plan durch Wort und Schrift, als +bedeute er eine Gefahr für die Partei. Bei der Abstimmung erhob sich +keine Hand für ihn. Ich erfuhr erst allmählich die wahre Ursache dieser +wütenden Gegnerschaft: die Frauen hatten angenommen, daß ich für mich +selbst eine einträgliche Stellung schaffen wolle. Und Wanda Orbin hatte +sie offenbar in diesem Glauben gelassen. Es gab Momente, in denen diese +Erfahrung mir wehe tat, -- trotz aller Mühe, überall nur das Gute zu +sehen. Und die Entrüstung meines Mannes, der jeden Nadelstich, der mich +traf, wie einen Dolchstoß empfand, trug nicht dazu bei, mich zu +beruhigen. + +Aber die öffentlichen Ereignisse sorgten dafür, Gedanken und Interessen +auf wichtigere Dinge zu lenken, und die Verstimmung zwischen mir und den +Genossinnen in einmütige Kampflust gegen die Feinde, die unsere Sache +von außen bedrohten, zu verwandeln. + +Hatten die Parlamentsreden der Herren der Rechten, vom Geiste Stumms +beherrscht, schon kriegerisch genug geklungen, so kündigten die +kaiserlichen Worte auf dem brandenburger Provinzial-Landtag Kampf bis +aufs Messer an: »Die Aufgabe, die uns allen aufgebürdet ist, die wir +verpflichtet sind zu übernehmen, ist der Kampf gegen den Umsturz mit +allen Mitteln... Ich werde mich freuen, in diesem Gefecht jedes Mannes +Hand in der meinen zu sehen, er sei edel oder unfrei,« hieß es darin, +und zum Schluß: »Wir werden nicht nachlassen, um unser Land von dieser +Pest zu befreien, die nicht nur unser Volk durchseucht, sondern auch das +Heiligste, was wir Deutsche kennen, die Stellung der Frau, zu +erschüttern trachtet.« + +Kein Zweifel: ein Gewitter stand bevor, das unsere Saaten bedrohte; dem +Blitz, der die Situation grell beleuchtet hatte, folgte der Donner und +der prasselnde Regen in Gestalt einer Vereinsgesetznovelle, die dem +reaktionären preußischen Landtag zur Entscheidung vorlag und nichts +anderes bedeutete, als eine Knebelung des Koalitionsrechts, eine +Auslieferung unserer Organisationen an die Willkür der Polizei. Da war +niemand unter uns, dem nicht das Herz stürmisch geschlagen hätte, -- +vor Empörung über das drohende Unrecht, vor Freude über den +aufgezwungenen Kampf. Es gab keinen kleinlichen Zank mehr; man drängte +sich zur Arbeit und übernahm auch die geringfügigste mit dem +Pflichtbewußtsein des Soldaten, der seinen Posten bezieht. Ich konnte +der vorgeschrittenen Schwangerschaft wegen nur mit der Feder tätig sein, +und Zorn und Begeisterung führte sie. Ich sah eine Zeit nahe +bevorstehen, wo die besten Elemente des Bürgertums, wo vor allem die +Vertreter der freien Wissenschaft, vor die Wahl gestellt zwischen der +Reaktion und dem Proletariat, sich auf die Seite der Arbeiter stellen +müßten. + +»Du prophezeist trotz einem Bebel,« lachte mein Mann, wenn ich mich +fortreißen ließ, alles zu sagen, was ich erträumte, und dann erinnerte +er mich an jene anderen Kaiserreden, die den Dreizack des Meergottes für +die deutsche Faust verlangten, und den Beifall derselben Männer fanden, +auf die ich rechnete. Aber ich hörte nicht darauf, ich wollte nicht +hören. + + * * * * * + +Die Fähigkeit, Dunkles zu sehen, war meinem inneren Auge mehr und mehr +abhanden gekommen. Wo immer ich den Blick hinwandte: überall war es +hell, überall strahlte die Welt voll Frühlingsahnen. Und als es draußen +in den Gärten und auf den Plätzen wirklich zu blühen begann, da schien +mir's, als wäre dies der erste Lenz, den ich erlebte. Ich saß in der +Sonne auf dem Balkon und sah staunend, wie aus den braunen saftig +glänzenden Knospen auf den Kastanienbäumen kleine zartgrüne Blätter +leise ans Licht strebten. Ich ging am Arm des Geliebten durch den +Tiergarten, den ein starker würziger Erdgeruch erfüllte, und stand vor +dem Wunder still, das in Hunderten bunter Frühlingsblumen aus dem +Rasenteppich emporwuchs. Und die Sonne schien so mild und warm, -- wenn +sie meine Wange traf, war mir, als streichle sie mich. In der Nacht lag +ich oft stundenlang wach; ich war nicht müde. Regte sich dann in meinem +Schoß das junge Leben, so strömte es mir durch die Glieder wie Feuer. + +Frühzeitig war alles zu seinem Empfang bereit. Oft, wenn niemand es +merkte, schloß ich mich ein in dem hellen Zimmer, wo alles seiner +wartete, und kniete vor dem kleinen Bettchen, und vergrub meine heißen +Wangen in seinen kühlen Kissen. + +Einmal, als ich mit Heinrich am Ufer entlang heimwärts ging, an der +Bucht vorbei, wo die Weiden ihre grünen Schleier tief bis zum Wasser +hinuntergleiten lassen, kam uns ein alter grauhaariger Mann entgegen. +Ich hörte zuerst nur seinen schleppenden Schritt, denn die Abendsonne, +die im Westen verglühte, blendete mich. Aber ich wußte: das war mein +Vater. Meine Knie zitterten. Und schon war er vorbei. Er schien in +Gedanken verloren und hatte uns wohl nicht erkannt. Ich wandte den Kopf +nach ihm, -- da stand er wie angewurzelt und starrte mich an, so voll +Zärtlichkeit --! Ich wäre ihm fast zu Füßen gestürzt, aber er machte +eine rasche, abwehrende Bewegung und ging weiter. An dem Abend weinte +ich. Und ich hatte doch mein Kind vor allem Kummer schützen wollen! + +Wenige Tage später waren wir wieder zur gewöhnlichen Zeit fort gewesen. +Mit geheimnisvollem Lächeln öffnete mir das Mädchen die Tür, als ich +heimkam. Ins Kinderzimmer sollt' ich kommen, sagte sie. Da brannte die +Lampe unter dem Rosenschleier und auf dem weißen Tisch lagen lauter +spitzenbesetzte Hemdchen und Jäckchen, und kleine Schuhe und +Steckkissen, und lange Tragekleidchen; durch die blauen Bänder, die sie +zusammenhielten, waren Sträuße duftender Maiblumen gezogen. »Das gnädige +Fräulein brachte alles selbst,« berichtete lächelnd das Mädchen und +übergab mir einen Brief von Mama: + +»Mein liebes Kind! Das alles schickt Dir Dein Vater. Er hat mir und +Deiner Schwester erlaubt, zu Dir zu gehen, und Dir seine Grüße zu +bringen. Schreibe mir, wann wir Dich besuchen können,« schrieb sie. Bald +darauf kam sie selbst. Ich hatte vor Erregung eine böse Nacht gehabt und +empfing sie auf dem Diwan liegend. Sie aber war so ruhig, so +teilnahmsvoll, als läge höchstens eine Reise zwischen ihrem ersten +Besuch und heute. Drohte eine verlegene Pause, so half das Geplauder +Ilschens darüber hinweg, die mir von ihren ersten Ballfreuden und ihren +Triumphen nicht genug erzählen konnte. + +»Wie geht es dem Vater?« fragte ich schließlich zaghaft, da sie zu +vermeiden schienen, seiner Erwähnung zu tun. »Er ist recht alt +geworden,« antwortete Mama langsam. »Aber noch so rüstig,« fiel die +Schwester ein, und berichtete zum Beweis dafür von den Diners und den +Bällen, zu denen er sie begleitet hatte. Sie nannte Namen, die ich nicht +kannte, und erwähnte Gesellschaftskreise, die er früher auf das +peinlichste gemieden hatte: Tiergartensalons, in denen, wie er zu sagen +pflegte, der jüngere Offizier nur als Mitgiftjäger, der alte nur als +Tafeldekoration auftritt. Ich fühlte jetzt: er mußte sehr alt geworden +sein. + +Ehe sie gingen, bat ich Ilschen, nun aber recht oft zu mir zu kommen. +Sie sah, statt zu antworten, ängstlich fragend auf Mama. »Allein darf +sie euch nicht besuchen,« sagte diese mit dem alten harten Ton in der +Stimme, während sich tiefe Falten um ihre Mundwinkel gruben. Als sie +fort waren, trat ich auf den Balkon. Ich hatte das Bedürfnis, frische +Luft zu schöpfen. Da fiel mein Blick auf die Straße: mit kleinen, +hastigen Schritten ging der Vater vor unserer Haustür auf und ab, und +als Ilse ihm entgegentrat, wandte er sich ihr mit einer raschen Bewegung +zu, und ich sah, wie sie sprach und sprach, und wie er horchte, den Kopf +ihr zugeneigt, als fürchte er, auch nur ein einzig Wort zu verlieren. An +diesem Abend mußt' ich wieder weinen. + + * * * * * + +Der Sommer kam. Ich schleppte mich nur noch mühsam die hohen Treppen +herauf und hinunter. Ich zählte nicht mehr nach Wochen, sondern nach +Tagen. Meine Zimmer standen voll Junirosen. + +Ich war noch einmal mit den Kindern in die Stadt gegangen, um zu +besorgen, was ihnen für die Ferienreise zu ihrer Mutter noch fehlte. Als +ich daheim die Sachen in den Koffer legte, dunkelte es mir plötzlich vor +den Augen. Ein jäher Schmerz zog mir den Leib zusammen. Ich schlich ins +Wohnzimmer und fiel meinem Mann, der erschrocken vom Schreibtisch +aufgesprungen war, in die Arme. »Nun ist's so weit,« flüsterte ich und +sah ihn glückselig an. Er schickte zu meiner Ärztin. Ich aber saß still +im Lehnstuhl und spottete seiner Ängstlichkeit. Wie hätte ich mich auch +nur einen Augenblick lang fürchten können! Wenn ich die Augen schloß, +sah ich Großmamas gütiges Antlitz vor mir und hörte sie tröstend +wiederholen, was sie mir früher so oft versichert hatte: Ein Kind +gebären ist das leichteste von der Welt. Aber der Abend kam und die +Nacht, -- ich wartete noch immer. Und am folgenden Tag war ich zu +schwach, um vom Bett aufzustehen, und in der Nacht standen zwei +Ärztinnen um mein Bett, und Heinrich wich nicht von mir. Ich allein +spürte nichts von Angst; wenn ich vor Schmerzen stöhnte, so war mir's, +als wäre ich's nicht. + +Am Morgen des dritten Tages strahlte der Himmel in wolkenloser Pracht; +von der Gedächtniskirche herüber klang tiefer Glockenton, und von allen +Seiten antworteten ihm hellere Stimmen. »Es will ein Sonntagskind sein,« +flüsterte ich lächelnd dem Liebsten zu, der neben mir saß, und an den +ich mich klammerte, wenn es gar zu wehe tat. + +»Und in der Johannisnacht geboren werden,« hörte ich wie von ferne +sagen. Müde sank ich in die Kissen. Mir träumte von den Bergen, die zum +Himmelszelt stolz ihre weißen Häupter heben, und von grünen Matten, die +sich zart und weich zu Füßen grauer Felsen schmiegen. Und ich sah, wie +alle Spitzen zu glühen begannen, als hätten sich die Sterne auf sie +herniedergesenkt, und von allen Hügeln die Flammen loderten. Plötzlich +aber war mir, als stünde ich selbst auf dem Scheiterhaufen, -- schon +züngelte das Feuer an meinem nackten Körper empor, -- ich schrie laut +auf -- -- + +War ich gestorben, -- und darum so seliger Ruhe voll?! Ich schlug die +Augen auf. »Heinz!« kam es ganz, ganz leise von meinen Lippen. Ich +tastete mit den Händen auf dem Bett, -- ich fühlte seinen Kopf, -- seine +Schultern, -- warum bebten sie nur so?! Heiße Augen, die durch Tränen +leuchteten, richteten sich auf mich. Von der anderen Seite öffnete sich +die Türe, ein breiter Strom von Licht ergoß sich in das dunkel +verhangene Zimmer, auf der Schwelle stand eine Frau, ein weißes +Bündelchen auf den Armen. »Mein Kind --!« rief ich. »Unser Sohn!« +antwortete Heinrich und legte ihn mir an die Brust. Ehrfürchtig +berührten meine Lippen die von wirren Löckchen dunkel umrahmte Stirn. +Und zwei große blaue Augen, in denen des Werdens tiefes Geheimnis noch +zu schlafen schien, blickten mich an. + + + + +Siebentes Kapitel + + +Drei Monate später saß ich an unserem Schreibtisch, in einen Artikel +vertieft, den ich Wanda Orbin versprochen hatte. + +»Fast schien es, als sollte der Züricher Arbeiterschutz-Kongreß den +Beweis erbringen, daß die Anhänger der verschiedensten politischen und +religiösen Weltanschauungen auf dem Gebiete praktischer Sozialreform zu +gemeinsamen Resultaten gelangen könnten. Die Fragen der Kinder- und der +Sonntagsarbeit riefen keinerlei tiefere Differenzen hervor. Nur hie und +da fiel ein Wort, das wie Wetterleuchten die Abgründe erhellte, die +tatsächlich zwischen den Rednern auseinanderklafften. Aber erst die +Frage der Frauenarbeit vollzog schließlich die Trennung der Geister. +Schon in der vorbereitenden Sektion kam es zu hitzigen Debatten: auf der +einen Seite standen die katholischen Sozialreformer Belgiens und +Österreichs, unter ihnen Männer in langem Priesterrock und brauner +Mönchskutte, auf der anderen die Führer der internationalen +Sozialdemokratie, die Bebel und Liebknecht, die Vandervelde und Geier an +ihrer Spitze. Und als wir uns am nächsten Morgen in dem hohen Saal der +Tonhalle wieder versammelten -- einem Saal, der nur für Festesfreude +geschaffen schien, -- und der blaue See und die weißen Berge durch die +breiten Fenster zu uns hereinstrahlten, ein Bild glücklichen Friedens, +da wußten wir: heute kommt es zur Schlacht. Die Tribünen waren +überfüllt: die ganze studierende Jugend Zürichs drängte sich dort oben +zusammen. Erwartungsvolle Erregung brannte auf ihren Wangen. Und unten +sammelten sich die Delegierten um ihre Tische: die Luft schien zu +vibrieren unter dem Einfluß all der klopfenden Pulse, all der +kampfheißen Blicke. Der katholische Demokrat Carton de Wiart trat hinter +das Rednerpult zur Verteidigung seines Antrags: Verbot der +großindustriellen Frauenarbeit. Mit tiefem Glockenklang erfüllte seine +schöne Stimme den Riesenraum und steigerte sich zum tragischen Pathos, +wenn sie die zerstörenden Folgen der Frauenarbeit schilderte: 'Der +Säugling verkommt in Hunger und Schmutz, die heranwachsenden Kinder +werden ein Opfer der Straße; vom erloschenen Herdfeuer flieht der Mann +und sucht Trost und Wärme im Trunk ...' Er malte nicht zu schwarz, und +auch aus den Reihen der Gegner hätte ihm niemand widersprechen +können. Aber während die tatsächlichen Zustände ihm und seinen +Gesinnungsgenossen als eine beklagenswerte Verirrung der Menschheit +erschienen, die durch ein gebieterisches 'Zurück!' von dem alten +kleinbürgerlichen Familienleben wieder abgelöst werden könnten, sahen +die Sozialdemokraten in ihnen eine notwendige Begleiterscheinung der +kapitalistischen Wirtschaftsordnung, die nur durch ein 'Vorwärts!' zum +Sozialismus zu überwinden ist. 'Auch wir sind für die Verkürzung der +Arbeitszeit, für gesetzlichen Mutterschutz, für Verbot der Frauenarbeit +in gesundheitsschädlichen Betrieben,' erwiderte Frau Alix Brandt dem +Redner; 'aber für ein Verbot der Frauenarbeit überhaupt sind wir nicht. +Denn nicht jenes idyllische Bild glücklichen Familienlebens, das Herr de +Wiart in so leuchtenden Farben malte, würde seine Folge sein, sondern +eine noch größere Zerstörung der Familie, eine noch gefährlichere +Untergrabung weiblicher Kraft. Weder Laune noch Neigung treibt die +Frauen in Scharen in die Fabriken, sondern Not. Schließt ihnen deren +Tore, und dieselbe Not wird sie in das Elend der Heimarbeit treiben, wo +schrankenlos die Ausbeutung herrscht, wird sie demjenigen Frauenberuf +zuführen, vor dem weder die christliche Sittlichkeit des Staates, noch +die Ritterlichkeit der Männer das weibliche Geschlecht jemals gehütet +haben: der Prostitution.' Und in einer Rede voll hinreißender +Leidenschaft verteidigte Frau Wanda Orbin die Berufsarbeit der Frau als +die Grundlage ihrer sozialen Befreiung: 'Die Arbeit ist ihre +Menschwerdung. Was sie auf der einen Seite zerstört, baut sie auf der +anderen wieder auf für die sittliche und geistige Einheit von Mann und +Frau. Aus den Konflikten zwischen Beruf und Haus erwachsen dem Weibe +zwar die größten Schmerzen, aber auch die größte Kraft. Nicht nur, weil +ein Verbot der Frauenarbeit heute die Not steigern würde, wie meine +Vorrednerin Ihnen auseinandersetzte, stimmen wir geschlossen gegen den +Antrag Wiart, sondern weil wir Frauen die Arbeit wollen um unserer +Selbstbefreiung willen, um einer künftigen Neugestaltung der Ehe und der +Familie willen, die die ökonomische Unabhängigkeit des Weibes zur +Voraussetzung hat.' Minutenlang umbrauste der Jubel aus dem Saal +hinauf, von den Tribünen herab die Rednerin. Und als die Baronin +Vogelsang, eine zarte, schlichte Frauengestalt, sie ablöste, -- mit +niedergeschlagenen Augen und leise zitternden Händen, ungewohnt des +öffentlichen Auftretens, -- erschien sie wie die Personifizierung jener +fernen versunkenen Welt, die sie mit leisen, weichen Worten, mit einem +Appell an das Gefühl wieder glaubte heraufbeschwören zu können: 'Um der +Kinder willen, denen die Industrie die Mütter raubt, nehmen Sie den +Antrag an --;' ihre erhobenen Blicke flehten und rührten manch einem ans +Herz, so daß die rauhe Wahrheit, die der Verstand erkennt, hinter den +weichen Schleiern, die die Empfindung webt, zu verschwinden drohte ...« + +Ich legte die Feder aus der Hand und seufzte tief auf. Seit meines +Kindes Geburt waren die Probleme der Frauenbefreiung für mich keine +bloßen Theorien mehr. Sie schnitten in mein eigenes Fleisch, -- und ich +war keine Industriearbeiterin, -- ich brauchte nicht von früh bis spät +in der Fabrik zu schuften, fern meinem Liebling. Mir grauste, wenn ich +daran dachte, daß so etwas möglich, ja notwendig sein konnte. Es gab +Augenblicke, in denen meine Überzeugungen auf tönernen Füßen zu stehen +schienen. + +Schon die Reise nach Zürich war mir schwer genug geworden, obwohl ich +mein Kind in bester Obhut zurückgelassen hatte. Meine Phantasie malte +sich täglich neue Schrecken aus, die ihm zustoßen konnten. Und wie viele +Stunden des Tages mußte ich jetzt fern von ihm sein! Wie oft sprang ich +vom Schreibtisch auf und sah sehnsüchtig auf den sonnigen Platz +hinunter, wo es, in seinen weißen Wagen gebettet, auf- und +niedergefahren wurde. Wie viele Blicke aus seinen blauen Augen, wieviel +krähendes Babylachen von seinem roten Mündchen gingen mir verloren! Und +abends, und nachts: wie oft mußte ich, statt an seinem Bettchen zu +sitzen, in Versammlungen sprechen, an Partei-Zusammenkünften teilnehmen. + +Manche meiner Genossinnen kamen aus der Werkstatt und der Fabrik, auch +sie hatten kleine Kinder zu Hause und kein Dienstmädchen, um sie zu +hüten; -- meine Bewunderung für sie stieg und zugleich mein Verständnis +für all die Bitterkeit, den Haß und das Mißtrauen, das sich in ihnen +angesammelt hatte. Kann ein Weib der Welt, die den Kindern die Mutter +entreißt, mit anderen Empfindungen gegenübertreten? Und doch hatte ich +mich in Zürich mit aller Leidenschaft dafür eingesetzt, die weibliche +Berufsarbeit -- auch die der Mütter -- zu erhalten? Ich zerriß den +halbfertigen Artikel wieder und schrieb an Wanda Orbin ein paar +entschuldigende Worte. Ich konnte nicht mehr über eine Frage sprechen, +ich war außer stande, den Lesern fix und fertige Ansichten aufzutischen, +seitdem sie mir zur persönlichen Angelegenheit geworden war, und ich ihr +für mich selbst die Antwort noch schuldig bleiben mußte. + +Mein Mann kam nach Hause. »Bist du schon fertig?« fragte er mit einem +verwunderten Blick auf den Schreibtisch, dessen Aussehen keine Arbeit +mehr verriet. Ich erklärte ihm die Situation, obwohl ich von vorn herein +wußte, daß ihm das volle Verständnis dafür fehlen würde. Er hatte schon +oft nachsichtig, wie über eine kindliche Torheit gelächelt, wenn ich den +Konflikt berührte, in dem ich mich befand; er war sogar hie und da +heftig geworden, hatte mich für sentimental, für überängstlich erklärt, +wenn ich die Trennung von meinem Kinde, die meine Berufs- und +Parteipflichten mir auferlegte, so schwer nahm. Auch heute schüttelte er +den Kopf und unterdrückte sichtlich eine Antwort, weil er mich nicht +verletzen wollte. »Ich glaube, wir haben Grenzpfähle berührt, die das +Reich des Weibes von dem des Mannes trennen,« sagte ich nachdenklich. +»Wir sind nicht imstande, wie Ihr, alle Probleme in kühler Objektivität +zu lösen, -- wie eine mathematische Aufgabe.« + +Gegen Abend besuchte uns Romberg. Wir waren rasch mitten in lebhaftester +Debatte. Das Fernbleiben aller jungen sozialpolitischen Professoren vom +Züricher Arbeiterschutz-Kongreß hatte wie eine gemeinsame Demonstration +gewirkt und war mir um so peinlicher aufgefallen, als es im Gegensatz +nicht nur zu meinen großen Hoffnungen, sondern auch im Gegensatz zu +ihren eigenen Wünschen und Äußerungen gestanden hatte. + +»Waren Sie nicht derjenige, der es stets bedauerte, daß Gelehrte und +Arbeiter nicht einmal auf dem Gebiet der Sozialpolitik sich begegnen und +miteinander beraten könnten?« fragte mein Mann. »Und nun bot sich Ihnen +endlich die Gelegenheit, und Sie ergriffen sie nicht!« Romberg biß sich +in die Lippen, wie immer, wenn er um eine Antwort verlegen war. + +»Die Zeit war unglücklich gewählt,« meinte er schließlich zögernd. + +»Warum sagen Sie nicht lieber gleich, was die linksliberale Presse zu +ihrer Rechtfertigung feierlich erklärte,« rief ich empört, »daß die +starke Beteiligung unserer Partei den Kongreß von vorn herein zu einem +sozialdemokratischen gestempelt habe und preußische Professoren daher +nicht hingehörten!« + +Er unterbrach mich: »Sie wissen genau, daß der Vorwurf eines Mangels an +Mut mich nicht treffen kann!« Ich dachte an das rote Buch und lenkte +ein. Aber die gegenseitige Verstimmung wich erst allmählich dem +Interesse am Gegenstand unseres Gesprächs. + +»Die blutige Wanda hat, wie ich gelesen habe, in Zürich auch die +Frauenfrage gelöst,« sagte Romberg mit einem sarkastischen Lächeln. + +»Ich fürchte, jede 'Lösung' ist nur der Ausgangspunkt neuer Probleme,« +erwiderte ich. + +Romberg warf mir einen überraschten Blick zu: »Wie, -- auch Sie +beginnen, an der Unfehlbarkeit Ihrer Päpste zu zweifeln?! Das wird ja +immer besser: Schönlank putzt den alten Liebknecht herunter wie einen +Schulbuben und weist ihm nach, daß die Verelendungstheorie angesichts +der gestiegenen Lebenshaltung der Arbeiter zum alten Eisen geworfen +werden muß wie das eherne Lohngesetz seligen Angedenkens; Bebel tritt +für die Beteiligung an den Landtagswahlen ein, was ein Preisgeben eines +mit aller Lungenkraft verteidigten Prinzipes ist, und Alix Brandt wird +zur Antifeministin -- --« + +»Wenn Ihre Zusammenstellung eine Berechtigung hat, so ist es die, daß +meine Zweifel ebensowenig zum Antifeminismus führen, wie Schönlanks oder +Bebels Negationen veralteter Anschauungen zum Antisozialismus.« + +»Also auch hier nur eine Revision des Programmes?« + +»Auf Grund der Revision der Erfahrungen, die wir durchgemacht haben, -- +gewiß! Übrigens fehlt es ja der Frauenbewegung noch an jedem Programm, +weil es ihren Problemen an der wissenschaftlichen Formulierung fehlt.« + +»Das wäre eine Aufgabe, die Sie lösen müßten,« meinte Romberg lebhaft. + +»Damit würdest du dir und anderen zur Klarheit verhelfen --,« fügte +Heinrich rasch hinzu, »ein Buch über die Frauenfrage, das von einer +Darstellung der tatsächlichen Verhältnisse ausgehen müßte, das die +wirtschaftliche, die soziale und die rechtliche Lage der Frauen zu +behandeln hätte, ...« + +»In Ihnen regt sich doch sofort der Redakteur,« unterbrach ihn Romberg. +»Die vage angedeutete Idee ist unter Ihren Händen zur Disposition eines +ganzen Werkes geworden.« + +Das Herz klopfte mir vor Erregung. Der Gedanke an diese Arbeit packte +mich gerade durch seine Selbstverständlichkeit. Ein zusammenfassendes, +grundlegendes Werk der Art gab es noch nicht. Es fehlte nicht nur mir, +es fehlte der ganzen Bewegung, die auch darum so unsicher hin- und +hertastete. + +»Ich habe, fürchte ich, die nötigen Vorkenntnisse nicht,« meinte ich +schließlich zaghaft. + +»Dafür haben Sie ja einen Nationalökonomen zum Mann,« antwortete +Romberg. + +Während des Abends, den wir im Theater verbrachten, dachte ich nur an +den Plan der Arbeit, die ich entschlossen war auszuführen. Erst auf +Rombergs wiederholtes: »Sehen Sie nur!« sah ich mich um. In der Reihe +vor uns erschienen zwei seidenrauschende Damen mit goldroten Haaren, +feuchtschimmernden Augen und unnatürlich glühenden Lippen. »Wird für +diese in Ihrem Zukunftsstaat kein Platz sein?« flüsterte Romberg. »Ich +hoffe nicht!« sagte ich. »Schade!« antwortete er lächelnd. In der +Bewunderung für derlei Erscheinungen ist er wie ein Onkel aus der +Provinz, dachte ich ärgerlich. Als wir aber nachher, seiner Gewohnheit +gemäß, die die Nacht gern zum Tage machte, noch lange bei uns +zusammensaßen, kam er auf die Begegnung zurück: »Können Sie sich +wirklich eine Welt als wünschenswert vorstellen, in der alle Frauen +Berufsphilister werden, wie es heut schon alle Männer sind; in der sie +keine Zeit mehr haben, ihre Schönheit zu pflegen, kurz, in der alle +duftenden Luxusgärten in Kartoffelfelder verwandelt werden?« -- + +»Ich würde solch eine Welt zerstören und nicht schaffen helfen! Aber +Frauen, wie jene, auf die Sie anspielen, gehören nicht zu den duftenden +Blumen, zu den an sich unnützen, aber unentbehrlichen Reizen des Lebens. +Sie sind verdorbene Speisen für verdorbene Gaumen.« + +»Sie mögen in dem Einzelfall recht haben; unumstößlich aber bleibt für +mich das Eine: nicht die Berufsarbeiterin, nicht die, nach Ihren +Begriffen freie, emanzipierte Frau wird der Kultur höchste Blüte sein, +sondern die femme amante.« Er sah mich kampflustig an, er liebte den +Widerspruch und erwartete ihn; der Typus einer Frauenrechtlerin stand +für ihn ein für allemal fest, und er glaubte immer wieder, ihn in mir +vor sich zu haben. + +»Sie hoffen umsonst auf meine sittliche Empörung,« spottete ich, »meine +Meinung stimmt fast überein mit der Ihren, nur daß ich die Existenz der +femme amante leugne, solange nicht die wahrhaft freie Frau ihre +Voraussetzung ist...« + +Als Romberg uns verlassen hatte, zog mein Liebster mich in seine Arme +und flüsterte mir ins Ohr: »Hätte ich nicht meinem dummen Katzel +widersprechen müssen, das die femme amante wegdisputieren will und +selbst nichts anderes ist?« »Und nichts anderes sein will,« sagte ich +leise und gab ihm seinen Kuß zurück. + +Ich lag noch lange wach und grübelte. Ob ich ihm anvertrauen könnte, was +mich bewegte? Schon in der kurzen Zeit meiner Ehe war mir klar geworden, +was ich vorher nicht verstanden und darum nur verurteilt hatte: warum +Staat und Kirche nicht die Liebe, sondern die Pflicht zur Grundlage der +Ehe gemacht haben, warum nach ihnen die Zeugung, Erhaltung und Erziehung +der Nachkommenschaft ihre Hauptaufgabe ist. Die Ehe kam mir vor wie eine +moralische alte Jungfer, die der jungen unbändigen Liebesleidenschaft +durch ihre Predigten das Leben ständig vergällt. Die Liebe braucht +Festtagsstimmung, die Ehe braucht den Alltag. Vor jedem rauhen Luftzug, +den die Ehe erzeugt, läßt die zarte Blume der Liebe die Blätter hängen. +Die Liebe ist ein Rausch, die Ehe ist nüchtern. Lodern auf dem Altar der +Liebe die Flammen, so schämen sich die Opfernden wie arme Sünder, wenn +die Ehe sie plötzlich ertappt. Eins aber vor allem wurde mir täglich +gewisser: die Liebe fordert Freiheit, die Ehe Abhängigkeit. Einer muß +sich dem anderen unterordnen, wenn der Frieden des Hauses gewahrt sein +soll, wo aber in der Liebe Unterordnung anfängt, flieht sie selbst. + +So türmten sich die Probleme der Frauenfrage, -- meiner Frauenfrage. +Wahrlich, es war eine große Aufgabe, sie zu lösen. + + * * * * * + +Ich stürzte mich mit Feuereifer in die Vorstudien meiner Arbeit; daß sie +mich ans Haus, an den Schreibtisch fesselte, war eine willkommene +Begleiterscheinung. + +Als der Vortragsaufforderungen gar zu viele wurden, -- und es blieb +nicht bei bloßen Aufforderungen, deren Annahme oder Ablehnung der +Entscheidung des Einzelnen überlassen blieb, die Genossinnen verfügten +vielmehr ohne viel zu fragen über meine Arbeitskraft --, erzählte ich +von dem Buch, das ich vorbereitete, und das mir eine gewisse +Beschränkung auferlege. Ich war nicht wenig erstaunt, daß dieselben +Menschen, die der Wissenschaft eine fast unbegrenzte Bedeutung zumessen, +über meine Mitteilung die Nase rümpften und sie nur als einen Vorwand +ansahen, um mich von der Agitation zurückzuziehen. Je mehr ich sie zu +überzeugen suchte, desto weniger verstanden sie mich. »Wer so 'ne +Erziehung jehabt hat, wie die Jenossin Brandt, für den is das Schreiben +doch keen Kunststück,« sagte eine von ihnen. »Un ieberhaupt: im Erfurter +Programm steht haarkleen allens, wat wir wollen,« fügte eine andere +hinzu. »Genosse Bebels 'Frau' und Genossin Orbins Artikel in der +'Freiheit' sind als Grundlage für unsere Bewegung mehr als ausreichend,« +sagte Martha Bartels mit einer Schärfe, die sich steigerte, je älter +sie wurde. Ich sah ein, daß nichts zu machen war; im Grunde hatten die +Frauen recht, wenn sie sich um ungelegte Eier nicht kümmern mochten. + +Nur eine Idee erwähnte ich noch, die ich kürzlich als den gesunden Kern +aus der ungenießbaren Schale einer französischen Broschüre +herausgeschält hatte: die einer staatlichen Mutterschafts-Versicherung. +Ich wollte ihr eine fest umrissene Gestalt geben und sie in den +Mittelpunkt meines Buches stellen. Die Mutter schützen, solange sie das +Kind unter dem Herzen trägt, sie dem Kinde erhalten, solange es der +Pflege und Ernährung durch sie bedürftig ist, -- das schien mir aber +auch ein Ziel, würdig einer starken Bewegung, es zu erreichen. Ich +schlug vor, in unseren Versammlungen die Frage zur Erörterung zu +bringen. Aber seltsam: um unseren Sitzungstisch saßen die früh +gealterten, abgehärmten Mütter, und kein Wort, keine Miene verriet, daß +der Gedanke sie zu erwärmen vermöchte. Alles Neue galt ihnen zunächst +als etwas Feindliches. Diese Revolutionärinnen hatten schon eine +Tradition und waren darum vielfach reaktionär. + +Von dem Plan meines Werkes sprach ich mit ihnen nicht mehr. Aber ich +beschloß, alle Zeit, die mir blieb, ihm zu widmen. + +Doch auf die Möglichkeit stetiger Arbeit hoffte ich vergebens. + +An unserem Schreibtisch saßen wir, mein Mann und ich. Wie schön hatten +wir es uns gedacht, das gemeinsame Arbeiten! Aber dieses +Einandergegenübersitzen von zwei Menschen, die sich lieben, die jeden +Ausdruck im Gesicht des anderen sehen müssen und unwillkürlich zu deuten +versuchen, diese Sorge, einander ja nicht zu stören, schufen eine +Atmosphäre von Nervosität, die um so unerträglicher wurde, als keiner +den Mut hatte, sie dem anderen zu gestehen. Es kam vor, daß ich +aufatmete, wenn mein Mann das Zimmer verließ; und oft ging ich hinaus, +weil ich fühlte, daß er allein sein mußte. + +Tausenderlei Dinge zerrissen die Tage und die Stimmung: Da gab's bei den +Kindern Vokabeln zu überhören und Anzüge zu flicken, da waren die +Haushaltssorgen, die mich um so stärker in Anspruch nahmen, je weniger +ich von ihnen verstand, und die ständige angstvolle Frage: komme ich +aus? Auf meinen Mann, der für mich die Güte und Rücksicht selber war, +wirkte sie wie ein rotes Tuch. Ohne irgendeine Erklärung und +Entschuldigung gelten zu lassen, hielt er mich stets für schuldig, wenn +ich sie nicht bejahend beantworten konnte. »Du verschwendest, -- du läßt +dich vom Mädchen betrügen --,« rief er, während die Zornadern ihm auf +der Stirne schwollen. Und doch lebten wir nach meinen anerzogenen +Begriffen über die Maßen einfach. Mich kränkte sein Zorn, den ich als +Ungerechtigkeit empfand. Ich konnte keine gute Hausfrau sein, wenn ich +zu gleicher Zeit meinen schriftstellerischen Beruf ausüben wollte. Das +menschliche Gehirn ist auf das Nebeneinander von zwei Gedankenketten +nicht eingerichtet. Und der Haushalt erfordert umsomehr die Gedankenwelt +der Frau, je weniger ihr seine Pflichten zur mechanischen Gewohnheit +geworden sind. Mir blieb kein Ausweg: ich verschwieg meine Sorgen, ich +vermied es soviel als möglich, meinen Mann um Geld zu bitten, was ich +immer als eine Erniedrigung meiner selbst empfand. Wanda Orbin hatte +recht, tausendmal recht: die ökonomische Selbständigkeit des Weibes ist +die Voraussetzung einer glücklichen Verbindung der Geschlechter, sie +hilft so manche andere Klippen der Ehe umschiffen. Ich schrieb, neben +der Vorarbeit für mein Buch, wieder Artikel für Zeitschriften und +Tagesblätter, um Geld zu verdienen. + +Nur wenn ich bei meinem Kinde war, wenn seine Pflege meine Gedanken in +Anspruch nahm, dann empfand ich das nicht wie eine Störung oder wie ein +Ablenken von meiner eigentlichen Tätigkeit. Fühlte ich sein warmes +rundes Körperchen in meinen Armen, so strömte wunschloser Friede mir +tief ins Herz. Lachten mich seine blauen Augen an, so vergaß ich alles +darüber, was es an Glück in der Welt noch geben mochte, und weinte er, +und ich wußte nicht warum, so gab es kein Menschenleid, das mir hätte +größer erscheinen können; klammerten sich seine rosigen, kleinen Finger +fest um die meinen, so fühlte ich, daß er für immer von mir Besitz +ergriffen hatte; daß mein Herz dazu da war, um ihn zu lieben, mein +Geist, um ihn zu erziehen, meine Kraft, um ihm den Weg ins Leben bahnen +zu helfen. Kam ich von ihm zu meinem Mann zurück, so war jeder Schatten +von Kummer verschwunden, ich liebte ihn doppelt, weil er meines Kindes +Vater war. Und sah ich meine Stiefsöhne dann, so tat mir das Herz weh: +ich konnte sie nicht lieben wie mein eigenes Kind; sie mußten das +fühlen, wenn ich mich auch noch so sehr bemühte, meine Zärtlichkeit für +den Kleinen nur zu äußern, sobald sie fern waren. + +Zuweilen, wenn das Geld wieder einmal recht knapp war, dachte ich nicht +ohne Bitterkeit an die reiche Mutter dieser Kinder. Aber meinem Mann +sagte ich nichts davon. Die Erziehung, die ich zu Hause genossen hatte, +und deren Folgen Georgs sanfte Hand von mir abzustreifen vermochte, +bekam wieder Macht über mich: ich lernte schweigen, um nicht zu +verletzen, und um Auseinandersetzungen aus dem Wege zu gehen. + +Meine Mutter kam um jene Zeit häufig zu mir. Seitdem wir unser Kind +hatten taufen lassen, war sie viel milder und herzlicher geworden, +obwohl ich sie über unsere Beweggründe nicht im Irrtum gelassen hatte. +»Wir haben kein Recht, dies Kind von vornherein in eine Ausnahmestellung +zu zwingen,« hatte ich ihr gesagt, als sie in unserer Handlungsweise +einen Ausdruck unseres eigenen Gesinnungswechsels zu sehen glaubte; +»ebensowenig wie wir es später, wenn es selbständig denken kann, hindern +wollen, zu tun oder zu lassen, was seiner eigenen Überzeugung +entspricht.« + +Aber nach anderen Richtungen hütete ich mich um so mehr, sie ins +Vertrauen zu ziehen. Sie hatte mir häufig gesagt: »Wenn du einmal +verheiratet bist, wirst du einsehen, daß das Leben der Frau aus lauter +Opfern und im Kampf mit lauter Kleinkram besteht!« Sie durfte nicht +glauben, daß ihre Prophezeiung in Erfüllung gegangen wäre. Und sie mußte +in der Meinung erhalten werden, die sie schließlich allein über meine +Heirat getröstet hatte: daß meine äußere Lage die behaglichste sei. An +der Art, wie diese ruhige, anscheinend kühle Frau ihre Freude darüber +äußerte, sah ich erst, wie sehr sie selbst unter den dauernden +pekuniären Sorgen gelitten hatte. Wie oft hatte ich sie um ihrer Härte +willen im stillen angeklagt. Jetzt bat ich ihr manches ab. Ich erinnerte +mich, wie umsichtig sie den großen Haushalt geführt hatte, wie sie +stunden- und tagelang Wäsche flickte und uns unsere Kleider nähen half, +-- wie schwer mochte es auch ihr geworden sein, wie viel mochte sie +entbehrt haben! + + * * * * * + +Weihnachten 1897 war es. Zum erstenmal putzte ich für mein Kind den +Weihnachtsbaum. Erstaunt riß es die Augen auf und streckte die Händchen +verlangend aus, als es die vielen bunten Lichter sah! Unter der Tanne +lag allerlei Spielzeug für ihn, darunter ein großer bunter Hampelmann, +den mein Vater geschickt hatte. Mit dem Söhnchen auf dem Arm trat ich zu +meinem Weihnachtstisch, auf dem ein geheimnisvoll versiegelter Brief +lag. Ich öffnete ihn, während mein Junge fröhlich lallend den Hampelmann +hin- und herschwenkte: »Ein Häuschen im Grunewald« stand darin. Vor +Überraschung war ich sprachlos. Heinrich umarmte mich und das Kind, +glückselig über die Freude, die er bereitet hatte. In aller Stille hatte +er mit Hall verhandelt und ihn rasch bereit gefunden, unseren Wunsch +durch die Beschaffung von Baugeld und Hypotheken erfüllen zu helfen. +»Wie wird unser Kind gedeihen, wie ruhig und friedlich wird meine Alix +dort arbeiten können!« sagte er. + +»Werden wir auch die Zinsen aufbringen können?« meinte ich schließlich, +nachdem der erste Sturm der Freude sich gelegt hatte. Ein Schatten flog +über seine Züge: »Mußt du dich immer gleich wieder fürchten, -- auch +angesichts solch eines Glücksfalles?!« Beschämt senkte ich den Kopf. Die +Lichter waren längst erloschen, und die Kinder schliefen, unser Liebling +mit dem Hampelmann, fest an sich gedrückt; der süße Duft der +Wachskerzen, vereint mit dem starken der Tanne, erfüllte das Zimmer; wir +großen Kinder träumten darin unseren Weihnachtstraum: von dem stillen +Häuschen im Wald, fern dem Lärm der Großstadt, von einer Heimat, die wir +beide nie gekannt hatten, von unserem Kind, das wachsen sollte wie die +Bäume: die Wurzeln im Boden der Mutter Erde, das Haupt erhoben, der +Sonne zu und dem Sturme trotzend. + +Am nächsten Morgen, einem echten Weihnachtsfeiertag, über den der Himmel +all seinen Glanz und seine Farben goß, zog ich meinem blonden Buben ein +weißes Mäntelchen an, packte ihn sorgfältig in die weichen Kissen seines +weißen Wagens und schickte ihn zu den Eltern. Meine Gedanken begleiteten +ihn: wie ein helles Licht sah ich ihn auftauchen in dem dunklen Flur, +sah, wie der Großvater ihn feuchten Auges in die Arme nahm, fühlte, wie +der letzte eiserne Reifen um des alten Mannes Herz zersprang. + +»Das war ein lieber Gedanke von Dir,« schrieb die Mutter. »Ich habe +Deinen Vater seit Jahren nicht so froh gesehen. Er strahlt noch jetzt +und behauptet, es gäbe in der ganzen Welt kein zweites Kind wie seinen +Enkel. Mich hat die Nachricht von Heinrichs Weihnachtsgeschenk noch +besonders beglückt: so hat Gott meine Gebete doch erhört und alle Strafe +von Dir abgewendet!« + + * * * * * + +Unseren wundergläubigen Vorfahren galten die zwölf Nächte, die dem +Weihnachtsabend folgen, für heilig: in dieser Zeit wurde die Arbeit auf +das notwendigste beschränkt, nur in Feiertagsgewändern begegneten die +Menschen einander, und die Träume, die geträumt wurden, gingen in +Erfüllung. Unter der Schwelle unseres Bewußtseins lebt und wirkt auch +heute noch dieser Glaube. In den Straßen und in den Herzen ist es +stiller als sonst. Der fieberhafte Pulsschlag des öffentlichen Lebens +stockt. Selbst der heimatloseste Weltenbummler sucht sich einen Winkel +Familienleben, wo er unterkriechen kann. Und wem es recht wohl und warm +ums Herz wird, der wünscht zuweilen, sich auf immer einspinnen zu können +in diese Stille. + +Aber das junge Jahr wirft alle guten Gaben, die die Greisenhand des +alten zum Abschied spendete, aus seinem Lebenspalast hinaus und ruft mit +schmetternden Fanfaren zu neuen Kämpfen, richtet Ziele auf mit lockenden +Preisen, so daß auch die süß Schlummernden sich dem Land ihrer Träume +entreißen und im grellen Licht des Tages den alten Wettlauf wieder +beginnen. + +So erging es auch uns. Sturmzeichen sahen die Wetterkundigen am Himmel +seit jenen ersten Gewitterwolken kaiserlicher Reden im vergangenen Jahr. +»Rücksichtslose Niederwerfung jeden Umsturzes« hatte die eine gefordert, +als »Vaterlandslose« hatte die andere diejenigen gebrandmarkt, die den +Flottenforderungen ablehnend gegenüberstanden. Inzwischen war die +Flottenvorlage dem Reichstag zugegangen, die ihren Schatten monatelang +vorausgeworfen hatte, und auf sieben Jahre hinaus Millionen und +Abermillionen für neue Schiffsbauten forderte. Doch die stürmische +Entrüstung, zu welcher der Philister sonst immer bereit ist, wenn seinem +Geldsack Gefahr droht, war ausgeblieben. Denn in seiner psychologischer +Kenntnis der Menschennatur, die um so überraschender war, als die +Regierungen ihre Völker mit dergleichen nicht zu verwöhnen pflegen, +waren Vorfälle, die früher spurlos vorübergingen, -- wie der Streit +eines deutschen Kaufmanns mit den Polizeibehörden der Republik Haiti und +die Ermordung zweier deutscher Missionare in China, -- zu so ernsten +Konflikten mit fremden Mächten aufgebauscht worden, daß der furor +teutonicus sich daran zu entzünden vermochte. Einmal gereizt, griff der +gute deutsche Michel wutschnaubend nach dem Racheschwert, und in seinen +Träumeraugen brannte plötzlich wieder die alte Sehnsucht nach fernen +fremden Ländern und ihren Märchenschätzen. Was uns, die wir nüchtern +geblieben waren, wie eine romantische Floskel klang, -- die pathetische +Rede des Kaisers an seinen nach China ausziehenden Bruder von dem +Dreinfahren der gepanzerten Faust und dessen Antwort von dem »Evangelium +der geheiligten Person Seiner Majestät«, das er im Auslande verkünden +wolle, -- das entsprach im Augenblick dem fanatisierten Empfinden des +deutschen Bürgers. Er, dessen Leben so lange sang- und klanglos +dahingeflossen war, der seit Bismarcks Abschied für seine +Begeisterungsfähigkeit keinen Gegenstand mehr gehabt hatte, berauschte +sich an der Idee der Weltmacht, und die ungeheure Flottenforderung +schreckte ihn nun nicht mehr. + +Aber die Regierung erreichte durch ihre Politik noch mehr als das: +hatte das Interesse eines großen Teiles der Bourgeoisie sich in einer +für sie bedenklichen Weise in den letzten Jahren der sozialen Frage +zugewandt, so war nunmehr ein Mittel gefunden, es von ihr abzulenken. +Mit schmerzlichem Erstaunen sah ich, wie Männer, auf die ich noch vor +wenigen Monden für unsere Sache gerechnet hatte, den Nationalismus über +den Sozialismus siegen ließen, wie selbst ein Romberg und seine Freunde +die Weltmachtpolitik verteidigten. Daß es zwischen ihr und der +Arbeiterpolitik nichts anderes geben könne als unversöhnlichen +Gegensatz, schien mir über allem Zweifel zu stehen. Für Rombergs +Argumente, der in der Erschließung neuer Absatzgebiete auch einen +Vorteil für die deutsche Arbeiterschaft sah, war ich vollkommen +unzugänglich. + +Die große Flutwelle patriotischer Begeisterung trieb nicht nur alte +Freunde von unserer Sache ab, sie trug uns auch neue Feinde zu. Vielen, +die sich um Politik bisher kaum gekümmert hatten, galten wir jetzt als +Feinde des Vaterlandes, die mit allen Mitteln bekämpft werden müßten. +Der Weizen Herrn von Stumms, unseres grimmigen alten Gegners, blühte; er +drohte mit der Revolution von oben, wenn die Flottenvorlage im Reichstag +zu Falle käme. Und tatsächlich schien ein neues Ausnahmegesetz in +Vorbereitung. Der »Vorwärts« veröffentlichte ein Geheimschreiben des +Staatssekretärs des Innern an die verbündeten Regierungen, worin er ein +Gesetz zum Schutz der Arbeitswilligen in Aussicht stellte, das, nach den +Absichten unserer Gegner, die Koalitionsfreiheit der Arbeiter notwendig +beeinträchtigen, wenn nicht vernichten würde. + +Was die Regierung gewollt hatte, wurde erreicht: eine Mehrheit für die +Flottenvorlage, eine scharfe Trennung zwischen den bürgerlichen Parteien +und der Sozialdemokratie für die Wahlen zum neuen Reichstag. + +Aber auch für uns schien die Lage günstig: auf der einen Seite die +Weltmachtpolitik mit ihrer möglichen Folge kostspieliger Kriegsabenteuer +und drückender Steuerlasten, auf der anderen die Bedrohung des +Koalitionsrechtes, -- war das nicht genug, um die proletarischen Massen +zu einem gewaltigen Protest aufzupeitschen?! Warum war die Stimmung in +unseren Versammlungen so flau, warum fehlte auch mir, wenn ich sprach, +jene anfeuernde Kraft der Rede, die früher an ihren Wirkungen zutage +getreten war? Die starke, hoffnungsvolle Freudigkeit war verloren +gegangen, als ob sich zwischen uns und das Ziel, dem wir so +leidenschaftlich zustrebten, ein dunkler Schleier gesenkt hätte. Durch +die Einheit, die unsere Kraft gewesen war, ging ein blutender Riß. Das +Instrument der Partei klang verstimmt, als wäre eine Saite gerissen. + +Langsam und allmählich, für die meisten unmerklich, hatte es sich +vorbereitet: mit der Entwickelung der Sozialdemokratie von der Sekte zur +Partei hatte sich zuerst die Taktik ihres Vorgehens leise verändert. Von +der Ablehnung jeder Beteiligung an einem Parlament des kapitalistischen +Staates als eines unmöglichen Paktierens mit der Bourgeoisie bis jetzt, +wo sogar von alten bewährten Führern die Teilnahme an den Landtagswahlen +unter dem Dreiklassenwahlsystem empfohlen wurde, war ein weiter Weg. Und +er war gegangen worden. Was einer der wenigen Staatsmänner der Partei, +Georg von Vollmar, nach dem Fall des Sozialistengesetzes unter dem +empörten Widerspruch der radikalen Elemente in der Partei erklärt hatte: +daß in dem Maße, in welchem wir einen unmittelbaren Einfluß auf den Gang +der öffentlichen Angelegenheiten gewinnen, wir unsere Kraft auf die +nächsten und dringenden Dinge konzentrieren müßten und »dem guten Willen +die offene Hand, dem schlechten die Faust« zu zeigen sei, -- das hatte +sich von Jahr zu Jahr als immer notwendiger erwiesen, und vor der Logik +der Tatsachen wich die radikale Phrase bloßer Verneinung Schritt vor +Schritt zurück. + +Jetzt aber begann sogar die alt-ehrwürdige Theorie vor dem Ansturm der +jungen Praxis in ihren Grundfesten zu zittern. Im Lichte der +fortschreitenden Zeit erwiesen sich manche Fundamentalsätze, wie sie das +Erfurter Programm formuliert hatte, als überholt. Schon die +Beschäftigung mit der Agrarfrage hatte gezeigt, daß die wirtschaftliche +Entwickelung sich nicht überall mit den von Marx aufgestellten Gesetzen +in Einklang bringen ließ, daß die Konzentrierung des Kapitals sich nicht +so rasch und nicht so schematisch vollzieht, wie er auf Grund damaliger +Erfahrungen angenommen hatte. Und auch das vom kommunistischen Manifest +mit apodiktischer Sicherheit in Aussicht gestellte allgemeine +Herabsinken der Arbeiter in den Pauperismus war nicht eingetreten; die +Lebenslage des Proletariats hatte sich vielmehr im Laufe des letzten +halben Jahrhunderts gehoben. Und nun trat einer der bewährtesten +Vorkämpfer des Sozialismus, einer ihrer Märtyrer, der noch im Exil in +England lebte -- Eduard Bernstein --, auf und erörterte in breiter +Öffentlichkeit die neuen Probleme des Sozialismus. Er rüttelte weder an +seiner Voraussetzung noch an seinem Ziel, aber er zeigte an der Hand der +Tatsachen, daß der Weg zwischen beiden länger ist und anders geartet, +als Marx und seine Schüler ihn dargestellt hatten, daß wir ihn daher +mehr berücksichtigen, unsere Handlungen mehr auf seine Etappen, als auf +das schließliche Ende einstellen müßten. + +Auf uns, die wir durch die Erkenntnis des Elends in der Welt zum +Sozialismus geführt worden waren, die wir von ihm in einem in seiner +Wurzel religiösen Glaubensüberschwang die Erlösung von allem Übel +erwartet hatten, wirkte die kühle Klarheit der Bernsteinschen +Beweisführungen niederschmetternd. Meinem Verstande waren die Grundsätze +des Sozialismus so ohne weiteres einleuchtend gewesen, weil mein Gefühl +mit seinem Wollen von vornherein übereinstimmte. Sie kritisch und +wissenschaftlich zu prüfen, war mir, wie Tausenden meiner +Gesinnungsgenossen, nie eingefallen. Jetzt war es ein Gebot der höchsten +Tugend, -- der intellektuellen Redlichkeit, -- es nachzuholen. + +Die Zeiten meiner religiösen Kinderkämpfe schienen wiedergekehrt zu +sein. Nur daß ich jetzt mit allen Fasern meines Innern in dem Glauben +wurzelte, dem ich meinen ganzen Lebensbesitz geopfert hatte, aus dem ich +alle meine Kräfte sog. Was stand noch fest, dachte ich verzweifelt, wenn +so vieles schwankte? Ernüchtert, -- bar jener stürmischen Begeisterung, +die mich ausziehen ließ, der Menschheit eine neue Welt zu erkämpfen, sah +ich den langen, öden Weg vor mir mit all seinen kleinen Hindernissen, +die im Schweiße unseres Angesichts überwunden werden sollten, und mit +dem Ziel, das im Nebel der Ferne fast verschwand. Die Naivetät jungen +Glaubens, die noch keine Probleme kennt, ist für die Masse der Menschen +die Voraussetzung ihres Enthusiasmus und damit ihrer Stärke. Ich hatte +sie verloren wie viele meiner Genossen; das lähmte uns. Oft kamen +Augenblicke, wo ich die anderen beneidete, die, sei es aus unbewußter +Furcht vor einem inneren Zusammenbruch, sei es aus einer gewissen +Beschränktheit ihres Denkens, den alten Glauben gegenüber der neuen +Erkenntnis aufrecht erhielten und leidenschaftlich verteidigten. Mein +Gefühl war auf ihrer Seite, und nur zu häufig riß es mich wieder mit +sich fort. Vielleicht wäre es sogar auf lange Zeit hinaus das +herrschende geblieben, wenn nicht mein Mann immer wieder meinen Verstand +gegen mein Herz zu Hilfe gerufen hätte. Und die Tatsachen und die Zahlen +waren unerbittlich: Die Konzentration des Kapitals und die Eroberung der +politischen Macht durch das Proletariat waren die beiden anerkannten +Bedingungen der Verwirklichung des Sozialismus. Aber der Schneckengang +der Entwickelung zum Großbetrieb, der zuweilen sogar ein Krebsgang zu +sein schien, und die Tatsache, daß von hundert Wahlberechtigten nur +achtzehn sozialdemokratische Stimmzettel abgaben und mehr als die Hälfte +der erwachsenen männlichen Arbeiterschaft der Sozialdemokratie noch +gleichgültig, wenn nicht feindlich gegenüberstand, bewiesen, wie weit +wir noch vom Ziel entfernt waren. Eine Selbsttäuschung hierüber wäre ein +Verbrechen an unserer Sache gewesen, -- das sah ich ein. Es galt, den +Kinderglauben ruhig und mutig aufzugeben. + +Mit jener rücksichtslosen Leidenschaft, die stets das Produkt der Angst +um die Gefährdung der Grundlagen des Lebens und Wirkens ist, bekämpfte +die Masse der Arbeiterschaft, an ihrer Spitze all die Führer, deren +heißblütiges Temperament über alle Zweifel siegte, und all die klugen +Demagogen, die auf der Seite der Mehrheit blieben, weil ihre Macht von +dieser Mehrheit abhing, die neuen Ideen und ihre Vertreter. Und dieser +ganze Kampf fiel in die Vorbereitung der Reichstagswahlen; er lähmte die +Agitationskraft der einen, die wie ich noch mit sich selbst zerfallen +waren, er lenkte die Interessen der anderen ab, die die Partei vor dem +unheilvollen Einfluß der Ketzer glaubten schützen zu müssen. + +Wenn ich in Versammlungen sprach, fühlte ich: meine Worte zündeten +nicht. Einmal traf ich bei solcher Gelegenheit Reinhard wieder. Er +schien mir sehr gealtert. Wir sprachen über unsere Aussichten. »Wir +hätten zwanzig bis dreißig Mandate erobern können,« sagte er, »wäre das +ganze Getratsch von Endziel und Bewegung uns nicht in die Parade +gefahren.« + +»Hat Bernstein etwa nicht recht?!« fragte ich. + +»Recht! -- Recht!« antwortete er heftig. »Natürlich hat er recht in dem, +was er sagt, aber daß er es sagte, in diesem Augenblick sagte, war ein +Fehler, ein schwerer Fehler. Wir alten Gewerkschafter, die wir mitten im +Leben stehen, sind schon lange seiner Meinung, aber wir machen die +Genossen nicht kopfscheu mit theoretischem Kram, wir handeln einfach, +wie die Verhältnisse es fordern.« + +»So hätte er schweigen sollen?« + +»Keineswegs! Er hätte nach den Wahlen fünf Jahre zum Reden Zeit genug +gehabt. Aber daß er uns jetzt diesen Knüppel zwischen die Beine +schmeißt --« + +Ich dachte an Reinhards Worte, als mir ein andermal in der Diskussion +ein rabiater Genosse vorwarf, auch ich hätte »das Endziel in die Tasche +gesteckt«, und verteidigte mich nicht. Solange wir im Kampf gegen den +gemeinsamen Gegner standen, mußte die Streitaxt begraben werden. Aber +die Radikalen dachten anders. Es kam vor, daß Reichstagskandidaten von +den eigenen Genossen wie Parteiverräter behandelt wurden. Wanda Orbin +vor allem, die immer wieder erklärte, daß die Reinheit der Partei ihr +höher stünde als ihre numerische Stärke, wurde zur fanatischen Gegnerin +aller derer, die sich nicht unverbrüchlich auf die alten Dogmen +einschwuren. Und mehr als je hatte sie die Frauen auf ihrer Seite, -- +die Frauen, die nicht auf dem Wege wissenschaftlicher Erkenntnis, +sondern einzig und allein durch ihr Gefühl geleitet zu Sozialistinnen +geworden waren. Mit jener naiven Kraft der ersten Christen, die ihr +ganzes Tun und Denken auf die unmittelbare Wiederkehr des Gekreuzigten +eingerichtet hatten, hofften sie auf die baldige Erfüllung ihres +Zukunftstraums. + +Als das Resultat der Wahlen bekannt wurde, -- es war in bezug auf die +Zunahme der Mandate, aber noch mehr im Hinblick auf das +Stimmenverhältnis weit hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben, -- +stieg die Erbitterung gegen die »Bernsteinianer«, denen man die Schuld +an diesem Ergebnis zuschob, noch mehr. + +Ein Symptom für die allgemeine Stimmung war der Beschluß, der nach +einer stürmischen Versammlung im Feenpalast von den Berlinern gefaßt +wurde. Seinem Wortlaut nach richtete er sich zwar nur gegen eine +Beteiligung an den Landtagswahlen in Berlin selbst, sein Tenor aber war +eine Verurteilung der Beteiligung überhaupt. Sie erschien den Radikalen +als ein bedenkliches Hinneigen zu revisionistischen Ideen. + + * * * * * + +In dem Kreise der Genossinnen äußerte sich das gegenseitige Mißtrauen +weniger im Streit um Meinungen, als in persönlichen Reibereien. War ich +schon während meiner Tätigkeit in der bürgerlichen Frauenbewegung zu der +Überzeugung gelangt, daß diese spezifisch weibliche Art nur durch eine +Zusammenarbeit mit dem Mann sich beseitigen lassen würde, so war ich +jetzt entschlossen, den Einfluß, den ich noch besaß, nach dieser +Richtung geltend zu machen. + +»Wir haben die Gleichberechtigung der Geschlechter auf das Programm +geschrieben, wir müssen sie also zu allererst in der eigenen Partei +durchführen,« erklärte ich, und selbst die Feindseligsten waren in +diesem Gedanken mit mir einig. »Bei den Genossen aber werden Sie damit +schön abblitzen!« meinte Martha Bartels. »Bei denen heißt's noch immer, +wenn unsereins den Mund auftut: Kusch dich! zu Hause -- wie in der +Bewegung,« sagte eine andere langjährige Parteigenossin. »Sie wissen, +wie wir voriges Jahr behandelt worden sind, --« fügte die dicke Frau +Wengs hinzu, »als wir auch nur eine Einzigste von uns in den +allgemeinen Versammlungen als Delegiertin zum Parteitag wollten +aufgestellt haben. 'Wascht man eure dreckige Wäsche alleene --,' sagten +uns die Vertrauensleute.« »So müssen wir eben immer wiederkommen,« +entgegnete ich, »Na -- für die schönen Augen von Genossin Brandt tun +sie's am Ende,« höhnte Martha Bartels. Schließlich beschloß man, +noch einen Versuch zu machen, und es gelang auf einer der +Parteiversammlungen, zunächst meine Delegation zum Parteitag der Provinz +Brandenburg durchzusetzen. Die Freude der Genossinnen über diesen Erfolg +war die der Kinder, wenn sie ein neues Spiel beginnen: auf eine Zeitlang +war jeder Streit vergessen. + + * * * * * + +Am Vorabend der Provinzialkonferenz veröffentlichte die Presse eine neue +Rede des Kaisers, die er im Kurhause von Öynhausen gehalten hatte: »Das +Gesetz naht sich seiner Vollendung und wird den Volksvertretern noch in +diesem Jahre zugehen, worin jeder, der einen deutschen Arbeiter, der +willig ist, seine Arbeit zu vollführen, daran zu verhindern sucht, oder +gar zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus bestraft werden soll ...« + +Das bedeutete nichts weniger und nichts mehr, als eine Vernichtung des +Koalitionsrechts, das war eine Kriegserklärung an das Proletariat, für +die es nur eine Antwort gab: einmütiges Zusammenhalten. In der Sitzung +am nächsten Morgen brachte ich eine Protestresolution ein, die zur +einstimmigen Annahme gelangte, und unter dem Eindruck der kaiserlichen +Drohung verlief die Tagung ohne einen Mißklang. Martha Bartels +schüttelte mir herzlich die Hand, wie seit Monaten nicht, die gute Frau +Wengs lachte über das ganze runde Gesicht, klopfte mir wohlwollend auf +die Schulter und versicherte: »Nun haben Sie uns aber alle miteinander +auf Ihrer Seite.« + +Zwei Tage später erfuhr ich, daß einer der berliner Wahlkreise bereit +sei, mich zum nächsten Parteitag zu delegieren. + +»Du bist leicht zu befriedigen!« sagte mein Mann mit einem leise +spöttischen Ton in der Stimme, als er meine Freude sah. + +»Es ist doch ein Anfang,« antwortete ich. »Oder meinst du, ich wäre in +die Partei gekommen, um ewig Rekrut zu bleiben?« + +»Gewiß nicht,« lachte er, »ich kenne doch meinen ehrgeizigen Schatz!« + +Mir stieg das Blut in die Schläfen. War es Ehrgeiz, der mich +beherrschte, oder nicht vielmehr der berechtigte Wunsch nach einem +Wirkungskreis für meine Leistungskraft? Zu tief empfand ich das Opfer, +das ich brachte, wenn ich mein Haus und mein Kind verließ, als daß ich +es dauernd für überflüssige Nichtigkeiten hätte bringen können. Jetzt +war ich im Aufstieg, und weil ich es war, hatte ich die Sympathie der +anderen für mich; es galt nunmehr, beides festzuhalten. + + * * * * * + +In der Versammlung, die über die Parteitagsdelegationen endgültig zu +entscheiden hatte, herrschte von Anfang an Gewitterschwüle. Die +schroffsten Gegner saßen einander gegenüber, und bei jedem Punkt der +Tagesordnung kam es zu hitzigen Wortgefechten. Eines schien von +vornherein klar: die Masse der radikalen Berliner erwartete vom nächsten +Parteitag eine Abrechnung mit den revisionistischen Elementen in der +Partei, ja sie scheuten sich nicht, selbst gegen Bebel Stellung zu +nehmen, weil er in der Landtagswahlfrage nicht auf ihrer Seite stand. +Man forderte schließlich, daß sämtliche Delegierte sich auf die +Feenpalastresolution verpflichten sollten. Während ringsumher alles +durcheinander schrie und tobte, wurden die zur Delegation +Vorgeschlagenen aufgerufen. + +»Genossin Brandt, stehen Sie auf dem Boden unseres Beschlusses?« +Überrascht fuhr ich auf, -- ich hatte nicht erwartet, als Erste gefragt +zu werden, -- ich versuchte mir im Moment die Situation zu +vergegenwärtigen. »So antworten Sie doch!« rief ungeduldig die Stimme +des Vorsitzenden. + +Die Genossinnen umringten mich: »Sie werden uns doch nicht im Stiche +lassen,« flüsterte Frau Wiemer von der einen Seite, -- »wir haben ja nur +für Berlin die Beteiligung abgelehnt,« zischte mir Martha Bartels von +der anderen ins Ohr. Und ein leises »Ja« kam zögernd von meinen Lippen. + +Gleich darauf hörte ich Reinhards Namen nennen, und im selben Augenblick +seine Antwort: ein scharfes »Nein«. Ich wurde gewählt -- er nicht. + +Glückwünschend umringten mich die Genossinnen. Aber jedes Wort, das sie +sagten, ließ mich dunkler erröten. Am Ausgang traf ich Reinhard. »Das +hätte ich von Ihnen nicht erwartet,« sagte er. »Sie kannten doch den +tieferen Sinn der Resolution.« + +Ich schlich nach Hause, müde, schuldbewußt. Noch in der Nacht schrieb +ich eine Erklärung für den »Vorwärts«, und legte mein Mandat in die +Hände meiner Wähler zurück ... + +Die Frauen hätten mich am liebsten gesteinigt, die Männer lachten mich +aus. Ich schwieg. Womit hätte ich mich verteidigen können? + + + + +Achtes Kapitel + + +»Ottoo -- addaa,« rief das helle Stimmchen meines Sohnes. Er saß auf +meinen Knieen im Wagen und winkte unermüdlich nach rechts und links, als +ob er in seiner Freude alles grüßen müßte, was er sah. Wir fuhren hinaus +in den Grunewald. Es war ein strahlender Sommertag; Scharen von Radlern +flogen an uns vorüber; selbst die Dampfstraßenbahn fauchte heut wie ein +vergnügter Alter, weil sie so viel Jugend in hellen Kleidern ins Grüne +fuhr. + +Vor einem umzäunten Waldwinkel hielten wir. Ich setzte den Kleinen ins +Moos, und verwundert tippte er mit den runden rosigen Fingern jeden +Grashalm an und kroch den schillernden Käfern nach und sah mit einem +jauchzenden »Da -- da!« den Vögeln zu, die von Zweig zu Zweig hüpften. +Die alten dunkeln Kiefern wiegten ihre Häupter im Winde, die Sonne malte +runde goldene Flecke auf ihre braunen Stämme, ein paar kleine blaue +Blümchen reckten neugierig die Köpfe, und ein gelber Schmetterling +tanzte über ihnen, -- es war eine große Sommer-Festvorstellung für mein +Kind. + +Wir erwachsenen Leute gingen indessen ernsthaft umher und betrachteten +das grüne Erdenfleckchen, auf dem unser Haus stehen sollte. Der +Baumeister war mit uns gekommen. Er war noch jung und ein echter +Künstler; von allen, bei denen wir gewesen waren, hatte er uns am besten +verstanden. Ich hielt das Bild des Häuschens in der Hand, das seinen +Namen trug -- Alfred Messel --, und sah es schon lebendig vor mir, mit +seinen blumenbesetzten Fensterbrettern und seinem lachenden roten Dach. +»Ein rotes Dach?« sagte der Baumeister. »Nein! Unter die schwarzen +Kiefern paßt nur ein graues.« Schwarz und grau? Wie trübe klang das! Ich +sah ihn erschrocken an, -- mir war auf einmal die Freude vergangen. + +»Schwester Alix!« rief es über den Zaun. Ilse stand an der Türe, die +Hand auf der blitzenden Lenkstange ihres Rades, und neben ihr ein +großer, überschlanker Mann. Errötend stellte sie ihn vor: »Professor +Erdmann!« Sie hatte mir schon von ihm erzählt, dem aufgehenden Stern am +Himmel des Kunstgewerbes, der in den Salons des Tiergartenviertels eine +Rolle zu spielen begann, und Messel begrüßte ihn wie einen lieben +Kollegen. Nach ein paar raschen Worten drängte Ilse zum Aufbruch: »Wir +dürfen die anderen nicht verlieren,« sagte sie. »Ich find' es viel +hübscher zu zweien,« meinte ihr Begleiter und sah sie mit einem Lächeln +an, das auf ein tieferes Einverständnis der beiden schließen ließ. Sie +fuhren davon. Das helle Köpfchen meiner Schwester hob sich empor zu ihm, +seine lange Gestalt neigte sich zu ihr, -- so flogen sie nebeneinander +die sonnige Straße hinauf, bis der dunkle Wald sie verschlang. + + * * * * * + +»Ottoo -- addaa,« klang es wieder aus dem Wagen heraus, als wir +heimwärts fuhren. Aber die Händchen grüßten nicht mehr nach rechts und +links; krampfhaft umspannten sie einen Büschel grünes Gras, und +unverwandt hafteten die Augen meines Kindes auf dem bunten Käfer, der +sich gemächlich darin niedergelassen hatte. Auf einmal breitete er seine +schillernden Flügel aus und flog mit surrendem Geräusch davon; entsetzt +starrte mein Kind ihm nach, das Gras entfiel den Fäustchen -- ein +sehnsüchtig-schluchzendes »adda -- adda« kam von dem zuckenden Mündchen, +und verzweifelt weinte es vor sich hin. Mein Mann lächelte über den +wilden Schmerz um den entflogenen Käfer. Tut er dem kleinen Seelchen +nicht ebenso weh, wie wenn die großen Leute um den Verlust ihrer +Eroberungen trauern? dachte ich und zog meinen Liebling mitleidig in die +Arme. + + * * * * * + +Am nächsten Morgen in aller Frühe kam meine Schwester. Sie wollte mich +allein sprechen. Ihr heißes Gesichtchen, ihr rascher Atem, drei mühsam +hervorgestoßene Worte: »ich liebe ihn,« sagten mir genug. »Und die +Eltern?« fragte ich. »Sie wissen von nichts,« stotterte sie und sah ganz +verängstigt drein. + +Ich dachte an meinen Vater: mit welch verächtlichem Naserümpfen hatte er +früher über Künstlerehen gesprochen. Sollten für seine Töchter keine +seiner heißen Wünsche in Erfüllung gehen? + +»Du wirst dich auf harte Kämpfe gefaßt machen müssen, --« sagte ich, und +mein Blick haftete auf ihren kleinen, kraftlosen Händen. »Ich laufe +davon, wenn Papa es nicht zugibt,« rief sie. + +Noch am selben Tage besuchte ich Erdmann. Mein Schwesterchen war einmal +mein Kind gewesen, sie war es mir von dem Augenblick an wieder, wo sie +schutzbedürftig vor mir stand. + +Als der Mann, den sie liebte, mir in seinem Atelier entgegentrat, war +mein erstes Gefühl das des Schreckens: wie bleich war er, wie groß und +schmal, wie seltsam durchsichtig waren seine schlanken, langfingrigen +Hände. Aber die Art, wie er mit mir sprach, ließ mich über den Menschen +seine Erscheinung vergessen. + +»Ich liebe Ihre Schwester und werde sie heiraten,« antwortete er auf +meine Frage. »Freilich: Ilse stellte mir eine Bedingung, --« fügte er +lächelnd hinzu, »du mußt Alix gefallen, sagte sie.« + +»Das dürfte weniger schwer sein, als daß Sie ihren Eltern, vor allem dem +Vater, gefallen müssen,« meinte ich. + +»Gegen den härtesten Schädel hat sich noch immer der meine als der +härtere erwiesen,« entgegnete er. + +»Aber Ilse ist weich; ob sie schweren Kämpfen gewachsen sein würde?!« + +»Gerade weil sie so zart ist, liebe ich sie, und nehme alle Kämpfe auf +mich, -- nur ihrer Treue muß ich sicher sein.« Dabei funkelten seine +Augen. Ein starkes Temperament schien sich hinter den leichten Formen zu +verstecken; würde die kleine Ilse es ertragen können? + +»Sie ist noch sehr jung,« warf ich noch einmal ein. »Um so besser,« -- +ein warmer Glanz echter Freude verschönte seine Züge, -- »wir Künstler +brauchen leere Leinwand und unbehauenen Stein.« + +Vor dem Abschied versprach er mir, sich meiner Mutter zu erklären, damit +sie imstande sei, den Vater vorzubereiten. Ich ging nachdenklich heim. +Ilse war ein leicht zu leitendes Kind gewesen, -- fast zu leicht, denn +mit dem Zuckerbrot der Liebe ließ sie sich willenlos hin- und herführen; +aber hörte sie auch nur eine Peitsche knallen, so erwachte ein +unbändiger Trotz in ihr, und in ihren Augen glühte der Haß gegen den, +der sie meistern wollte. Würde die Liebe dieses Mannes, der nur aus von +Energie gespannten Nerven und Sehnen zu bestehen schien, die richtige +Grenze zu finden wissen? + +Meine Mutter war zuerst außer sich, als Erdmann sich ihr eröffnet hatte. +Sie kam zu mir und kämpfte mit den Tränen: »Nun bin ich es wieder, die +Eurem Vater standhalten muß! Und ich habe es doch so satt!« »Dafür wirst +du nachher um so mehr Ruhe haben,« suchte ich sie zu beruhigen. Ihre +schmalen Lippen kräuselten sich, sie hatte wohl ein bitteres Wort auf +der Zunge, aber sie sprach es nicht aus. + +Erdmann verkehrte von nun an bei den Eltern. »Denk' nur, er gefällt +Papa!« erzählte mir Ilse ganz glücklich, und die Mutter lebte wieder +auf. Daß der Bewerber ihrer Tochter in guten Verhältnissen war, +beruhigte sie vor allem. Und auch ich freute mich dessen; meine +Schwester war ein verwöhntes Prinzeßchen; wie oft hatte nicht die Mutter +vor ihr gekniet, um ihr die Stiefel zuzuschnüren, damit ihr nur ja der +Rücken nicht schmerzte! Zu keinerlei Arbeit war sie jemals genötigt +worden, -- ich selbst hatte ihr nur zu häufig die Schularbeiten gemacht, +damit das Köpfchen unter den schweren goldenen Flechten nicht gar zu +müde wurde! + +Eines Morgens kam die Nachricht: »Papa hat eingewilligt!« und daneben +von der Mutter Hand: »Hans war ganz ruhig. Nur als Erdmann fort war, hat +er sich stundenlang in sein Zimmer eingeschlossen.« Er mußte doppelt +gelitten haben, da er sich durch keinen Ausbruch seiner Leidenschaft +mehr zu erleichtern vermochte. Ich konnte mich noch nicht freuen, weil +ich nur seiner gedachte. Ob ich ihm schreiben dürfte, -- ob ein +verständnisvolles Wort von mir ihm zu helfen vermöchte? + +Im Zoologischen Garten erwartete er täglich mein Kind. Er hatte immer +die Taschen voll für den Kleinen; war das Wetter schlecht, so ließ er +ihn zu sich kommen, setzte sich zu ihm auf den Teppich und baute dem +Enkel Bleisoldaten in Schlachtordnung auf. Und stets ließ er mich +grüßen, sagte das Mädchen. Er würde einen Brief von mir nicht +zurückweisen! An einem blauen Bändchen knüpfte ich ihn meinem Jungen um +den Hals, als er das nächste Mal zu »Apapa« fuhr. Auf dieselbe Weise +brachte er die Antwort mit zurück: + + »... Hast es richtig getroffen, mein Kind: ein Auge weint, und das + andere lacht nicht. Ich muß mich selbst überwinden. Wenn man das + Fahrwasser kennt, dann hat die Hoffnung ihr Recht; aber das + unbekannte Fahrwasser, in das man sein Letztes lassen muß, das gibt + an keiner Stelle Ruhe. Daß Du mich verstanden hast, erfreut mich und + macht mich dankbar. + + Dein alter Vater.« + +Meine Schwester strahlte vor Glück. Mit jener geistigen Beweglichkeit, +die ihr von jeher eigen gewesen war, ging sie vollkommen auf im +Künstlertum ihres Verlobten. Sie schien wirklich die leere Leinwand, der +unbehauene Stein, aus dem erst unter seinen Händen ein lebendiges Werk +werden sollte. Selbst ihre Kleidung richtete sie nach seinem Geschmack; +sie war eine der ersten, die jene malerischen Gewänder trug, wie sie aus +den Köpfen der jungen Vorkämpfer des aufblühenden Kunstgewerbes +hervorgingen und von den Frauenrechtlerinnen aus hygienischen, von den +Malern aus künstlerischen Gründen geschaffen wurden. Jedes Stück ihrer +künftigen Einrichtung wurde nach den Zeichnungen Erdmanns angefertigt. +»Oskars Stil entspricht so vollkommen meinem ästhetischen Empfinden,« +sagte sie, und ihr Blick flog ein wenig hochmütig über unsere Möbel +hinweg, »daß ich in einer anderen Umgebung nicht leben könnte.« Sie +hatten nahe dem Kurfürstendamm eine Wohnung gemietet, die nach Erdmanns +Angaben umgestaltet wurde. Kam das junge Paar mit der Mutter zu uns, so +drehte sich das Gespräch um die Zukunftspläne mit all ihren reizvollen +Details. Meine eigenen, die mich so glücklich gemacht, so ganz gefangen +hatten, traten dabei zurück. »Du willst uns wohl mit eurem Haus +überraschen, daß du so wenig davon erzählst,« meinte die Mutter einmal +und ich nickte dazu. + +Die Gründe, warum ich schwieg, waren freilich anderer Art. Das Haus, das +inzwischen immer stattlicher aus der Erde herauswuchs, war zur Quelle +neuer drückender Sorgen geworden. Wir hatten in unserer naiven +Unkenntnis aller realen Forderungen des Lebens vorher nicht berechnet, +daß doch auch während des Baues Zinsen zu zahlen waren, die unser Budget +auf das Schwerste belasten mußten. Ich wußte oft nicht ein noch aus; +dabei sah ich, wie mein Mann unter den Verhältnissen litt, und zwar um +so mehr, je mehr er empfand, daß ich von ihnen betroffen wurde. Machte +ich einmal irgend eine von der Angst diktierte Bemerkung, so fuhr er +sich mit der Hand nervös durch das weiche, wellige Haar und sagte mit +einem gequälten Ausdruck in den Zügen: »Kümmere dich doch nicht darum! +Überlasse mir all diese Lappalien. Ich werde dir alles aus dem Wege +räumen.« + + * * * * * + +Um jene Zeit kamen die Kinder aus den Ferien zurück. Ich fürchtete mich +schon davor, denn noch Wochen nachher pflegten sie mir in naivem +Egoismus zu erzählen, was alles bei ihrer Mutter besser und schöner +gewesen war. Hörte es Heinrich, so schalt er sie, weil er sah, daß es +mich kränkte, und eine bleischwere Stimmung herrschte um unseren Tisch. +Diesmal stürmten sie besonders eilig die Treppe hinauf; -- so freuen sie +sich doch, nach Hause zu kommen, dachte ich. Wolfgang, der +Leichtfüßigere, kam zuerst. Kaum ließ er sich Zeit, mich zu begrüßen. +»Die Mutter läßt dir sagen,« rief er atemlos, »sowas dürfte nicht mehr +vorkommen. Mützen hatten wir, wie sie in Österreich nur Portiers tragen, +und Anzüge, über die die Bauernjungens lachten.« Ich fühlte, wie blaß +ich wurde. Ich hatte sie wie immer für die Reise neu eingekleidet, um ja +keinerlei Vorwurf auf mich zu laden. Und diesmal war es mir noch +schwerer geworden als sonst. Bei Tisch fing auch Hans, der stets +zurückhaltender war, zu erzählen an. »Warmes Abendessen ist viel +gesünder, meint die Mutter,« sagte er, »und es schmeckt auch besser als +immer bloß Wurst.« + +Ich war so überreizt, daß ich mit den Tränen kämpfte, und als am +nächsten Morgen auch noch ein Brief aus Wien kam, in dem mir die Mutter +der Kinder über meine unzureichende Erziehung allerlei Vorhaltungen +machte, war es zu Ende mit meiner Selbstbeherrschung. Konnte ich die +Kinder denn überhaupt erziehen, wo ich ständig fürchtete, von ihnen als +die böse Stiefmutter angesehen zu werden und damit jeden Einfluß zu +verlieren?! Konnte ich sie strafen, wo ich wußte, daß sie sich bei der +eigenen Mutter darüber beklagen würden?! Ich zeigte Heinrich den Brief +und schüttete ihm, nicht ohne mich selbst all meiner versäumten +Pflichten anzuklagen, mein Herz aus. + +»Und das alles sagst du mir erst jetzt?« rief er. »All den Kummer +schleppst du mit dir herum und sprichst dich nicht aus?« Er schlang den +Arm um mich und küßte mir die Tränen aus den Augen. »Hier muß gründlich +Wandel geschaffen werden, um deinetwillen ...« »Vor allem um der Kinder +willen, Heinz,« unterbrach ich ihn; »so gut geartet, wie sie sind, -- +schließlich müssen sie Schaden leiden.« Wir berieten, was zu tun sei. + +In früheren Jahren hatte die Mutter wiederholt versucht, ihre Söhne bei +sich zu behalten, aber immer wieder hatte Heinrich sie zurückgefordert. +»Wie konntest du?!« sagte ich leisem Vorwurf. »Kinder gehören zur +Mutter!« »Ich war sehr einsam, sehr liebebedürftig; ich hatte im +Scheidungsprozeß mit Nägeln und Zähnen um die Kinder gekämpft,« +antwortete er. »Jetzt aber ist die arme Frau viel einsamer als du, --« +»-- sie zu bemitleiden, habe ich keinen Grund,« entgegnete er hart, »sie +war es, die zuerst ihre Kinder im Stiche ließ! Jetzt darf nur die +Rücksicht auf dich und auf das Wohl der beiden Buben den Ausschlag +geben.« + +In der Nacht nach unserem Gespräch warf sich Heinrich im Bett schlaflos +hin und her; im ersten Morgengrauen stand er leise auf, und ich hörte, +wie er im Zimmer nebenan auf und nieder ging. Ich hätte doch nichts +sagen sollen, dachte ich angstvoll. Er sah müde und vergrämt aus, als er +wieder zu mir hereinkam. + +»Ich habe mich entschlossen, ihr die Kinder anzubieten,« sagte er. + +»Wollen wir nicht doch lieber alles beim alten lassen, -- ich sehe +vielleicht nur zu schwarz,« warf ich ein. + +Ich dachte an die Stunde, da er mir mit der Bitte, sie recht lieb zu +haben, seine Söhne anvertraut hatte. Er sah so finster drein! Jähe +Furcht beschlich mich um meinen kostbaren Besitz: seine Liebe. Aber er +blieb bei dem einmal gefaßten Beschluß. + +Sein Anwalt schrieb in seinem Auftrag nach Wien. Die Antwort war keine +rückhaltlos zustimmende: jede Verbindung, so wünschte die Mutter, sollte +zwischen den Söhnen und dem Vater abgebrochen werden, sobald sie ihr +Haus betreten würden. Wochenlang zogen sich die Verhandlungen hin, und +die Korrespondenz nahm eine immer erbittertere Form an. Ich konnte nicht +mehr mit ansehen, wie Heinrich litt, und all die Selbstvorwürfe, die +mich quälten, nicht mehr ertragen. + +Eines Abends benutzte ich meines Mannes Abwesenheit und fuhr mit dem +Nachtzug nach Wien. Vom Hotel aus meldete ich mich bei der Mutter der +Kinder an. Herzklopfend stieg ich die steinernen Stufen hinauf. In einem +Salon mit schweren Renaissancemöbeln empfing sie mich, eine schlanke, +dunkle Frau mit scharf geschnittenen, fast männlichen Zügen. Sie gab mir +nicht die Hand, sie zögerte offenbar, mir auch nur einen Stuhl +anzubieten. + +»Ich komme, weil ich hoffe, daß eine mündliche Besprechung leichter zum +Ziele führen wird,« begann ich. + +»Er schickt Sie?« Ihre Stimme hatte einen merkwürdig leblosen, kalten +Ton, als käme sie weit her aus dunkler Tiefe. + +»Nein! Ich reiste ohne sein Wissen. Wir Frauen, meine ich, werden uns +verständigen, -- mit einigem guten Willen natürlich, -- denn zwischen +uns steht nichts --« + +»Meinen Sie wirklich, daß zwischen uns nichts steht?!« Ein Blick voll +Haß streifte mich. »Meine Kinder stehlen Sie mir!« + +»Ich?! --« Aufs Äußerste erstaunt sah ich sie an. »Ich, die ich sie +Ihnen wiederbringe?!« Aber sie hörte nicht auf mich. In +leidenschaftlicher Erregung kamen die Worte, sich überstürzend, von +ihren Lippen: »Habe ich nicht in diesem letzten Sommer tagtäglich hören +müssen: 'Die Mama erlaubt das alles, -- die Mama straft uns nicht, -- +die Mama schenkt uns dies und jenes'?! Und jetzt soll ich vielleicht +erleben müssen, daß meine eigenen Kinder sich fort wünschen von mir? +Oder jedesmal unzufrieden heimkehren, wenn sie, wie ihr Vater es +wünscht, zu den Ferien in Berlin gewesen sind?!« + +Ich verstand sie, -- so hatte ich auch ihr unbewußt Böses getan! »Sie +wissen, mein Mann hat für das erste Jahr schon auf ein Wiedersehen +verzichtet,« antwortete ich. + +»Das ist aber auch das Allermindeste, was ich verlange! Im übrigen --,« +sie nahm wieder den alten eisigen Ton an und zwang sich zur Ruhe, »muß +ich umziehen, ehe die Kinder kommen. Sie sehen hier meine Wohnung --,« +sie wies nach dem Eßzimmer nebenan, »ich habe keinen Platz für sie.« + +Keinen Platz für die eigenen Kinder?! Sie schien zu fühlen, was ich +empfand, denn rasch fuhr sie fort: »Ich wünsche, daß die durch Unordnung +sowieso schon genug geschädigten Buben gleich in ein regelmäßiges Leben, +eine zu ernster Arbeit gestimmte Häuslichkeit kommen.« + +»Und wann, meinen Sie, dürfte das sein?« Drängte ich. »Die Situation ist +für alle Teile unerträglich!« + +Sie lächelte: »Finden Sie? Ich habe Schlimmeres ausgehalten!« Tiefe +Falten gruben sich auf ihre Stirn, um ihre Mundwinkel. Wieder streifte +mich ein Blick, -- zum Fürchten. »Warten Sie nur, bis Sie fünf, sechs +Jahre mit ihm gelebt haben werden!« + +Ich erhob mich, -- fast wäre der geschnitzte Stuhl bei meiner raschen +Bewegung zu Boden geglitten. Hier hatte ich nichts mehr zu tun. Sie +geleitete mich hinaus. Und als müßte sie mir zuletzt noch ihren Haß +fühlen lassen, sagte sie: »Ich werde schwere Mühe haben, -- die Kinder +sind zu schlecht erzogen.« + +Ich dachte an die Buben, -- an ihre lustigen Knabenstreiche, an die +ungebundene Freiheit, die sie genossen. Noch ein gutes Wort wollte ich +bei der strengen Frau für sie einlegen und sagte bittend: »Sie werden +ihnen nicht zu plötzlich die Wandlung fühlen lassen?« + +»Wie können Sie sich erlauben --?!« rief sie fassungslos. »Wer ist hier +die Mutter: Sie oder ich?!« + +Krachend fiel die Flurtüre hinter mir zu. In der nächsten Nacht fuhr ich +nach Berlin zurück. Nicht das mindeste glaubte ich erreicht zu haben. +Ein Brief des wiener Anwalts folgte mir auf dem Fuße. Er enthielt den +unterschriebenen Vertrag und übermittelte den Wunsch, den Kindern möchte +die Reise nach Wien nur als ein Besuch dargestellt werden, »damit sie +gerne kommen.« + +Das war ein Jubel: Der Schule entrinnen, -- und eine Reise nach Wien! +Wir brachten sie zur Bahn und sahen den strahlenden Gesichtern nach, die +grüßend aus dem Kupeefenster nickten, bis der Zug unseren Blicken +entschwand. + + * * * * * + +Kaum drei Wochen später kehrten sie zurück, -- still und blaß. Wolfgangs +rundes Kindergesicht war schmal geworden, in Hans' dunkeln Augen hatte +sich der Ausdruck von Melancholie noch vertieft. Ihr Aufenthalt in Wien +war wirklich nur ein Besuch gewesen. Ob die einsame Frau das Glück nicht +ertragen hatte? Ob die Forderungen eines Lebens für andere sie erdrückt +haben mochten? In die größte, die letzte Einsamkeit hatte sie plötzlich +der Tod entführt. + +Aber noch darüber hinaus wirkte ihr Haß: das Testament bedrohte die +Kinder mit Enterbung, wenn sie im Hause des Vaters bleiben würden. Und +so mußten sie wieder fort, da sie der Wärme, der Liebe am meisten +bedurften. + +Von einer neuen Schule im Harz hatten wir erfahren, wo die Jugend in +schöner Abwechselung von Spiel und Arbeit, von der Übung körperlicher +und geistiger Kräfte sich frei und fröhlich zu entwickeln vermag, einer +Schule, deren Leiter den Mut hatte, dem Geist engherzigen Preußentums +den Eintritt bei sich zu verwehren. Dorthin brachten wir sie. Es war das +beste, das wir hatten finden können, und doch so schrecklich wenig für +die, denen die Mutter gestorben war. + + * * * * * + +Nun war es still bei uns im Hause. Ottochen, der sich inzwischen auf +seinen eigenen Füßchen zu bewegen gelernt hatte, lief im Zimmer der +Brüder von Stuhl zu Stuhl, guckte in die Schränke und unter die Betten +und rief vergebens »Wof« und »Ans«. Zuerst weinte er, weil sie nicht +kamen, um mit ihm zu »pielen«, dann erinnerte er sich ihrer nur noch, +wenn er auf meinem Schoß am Schreibtisch saß und ich ihm ihre Bilder +zeigte. Er war ein unbändiger kleiner Kerl, der nie lange an einem Platz +aushielt. Ein Sonnenstrahl im Zimmer, eine Fliege am Fenster, +Hundegebell und Pferdegetrappel auf der Straße, -- alles erregte seine +brennende Neugierde; wenn aber gar Soldaten vorübermarschierten, so +zappelte er mit Händen und Füßen vor Freuden, und rief, so laut er +konnte: »Daten! daten!« + +Seitdem der Großvater sich dem Enkel zu Liebe einmal in die alte +Generalsuniform gezwängt hatte, ging er noch einmal so gern in die +Ansbacherstraße. »Apapa Dat, Apapa Dat,« hatte er mir mit erstaunten +Augen und einem Ausdruck von Ehrfurcht in dem Gesichtchen damals +erzählt. Und »Apapa dehn!« schrie er mit Stentorstimme, wenn wir nicht +ruhig genug mit ihm spielten. + +Eines Abends im Herbst kam meine Mutter und erzählte mir, der Vater habe +heute, ohne sie zu fragen, die Wohnung gekündigt. »Er will im Grunewald +mieten,« fügte sie hinzu, »um Ottochen nahe zu sein.« Mir wurden die +Augen feucht: so ersetzte ihm der Enkel die Tochter, die er verloren +hatte. + +Kurze Zeit darauf bekam ich einen Brief von ihm: + + »Liebes Kind! denke doch nicht, daß es mir genügt, Deinen Jungen bei + mir zu sehen. Alte Leute brauchen viel Wärme, darum sagte ich + Ottochen heute, daß er Papa und Mama das nächste Mal mitbringen soll. + Er sah mich so ernsthaft an, daß ich glaube, er hat mich verstanden. + + Dein treuer Vater.« + +Und so trat ich mit meinem Kind auf dem Arm in die alte Wohnung. Die +Schwester kam mir entgegen: »Nun wird meine Hochzeit erst ein richtiges +Fest für mich sein,« sagte sie und küßte mich stürmisch. Sie öffnete die +Tür zum Zimmer des Vaters. »Er kommt gleich,« flüsterte sie und lief +davon. Ich mußte mich setzen; die Kniee zitterten mir. Alles hatte ein +Gesicht, ein liebes, vertrautes: die verblichenen Sessel, die so +einladend die Armlehnen nach mir ausstreckten, der alte, grüne Teppich, +der sich warm und weich unter meine Füße schmiegte, die dunkeln Bilder +an der Wand, die zu lächeln schienen. Auf dem Schreibtisch lagen wie +einst in Reih und Glied die sorgfältig gespitzten Bleistifte und die +Gänsefedern, die der Vater sich selbst zu schneiden pflegte, und der +»Soldatenhort«, für den er schrieb. Und in der Ecke -- die alte +Reiterpistole! Aus dem Zimmer war ich einmal geflohen vor ihr. -- Der +sie auf mich gerichtet hatte, rief mich heut zurück! Nein, -- mich +nicht! Nur dieses süßen blonden Kindes Mutter! + +Die Türe ging auf. »Apapa!« rief der Kleine und streckte ihm die Ärmchen +entgegen. Im nächsten Augenblick fühlte ich uns beide umfaßt: Die Lippen +zitterten, die meine Stirn berührten. »Wir wollen einander nicht weich +machen, Alix,« sagte er leise. »Wir wollen so tun, als wärst du gar nie +weg gewesen.« + +Von nun an sahen wir uns oft. Mühsam, mit schwerem Atem, auf jedem +Treppenabsatz minutenlang innehaltend, kam er immer häufiger zu uns +herauf, und meist um die Stunde, die er früher im Kasino zuzubringen +pflegte. Er hatte stillschweigend auch diese alte Gewohnheit aufgegeben, +und als die Mutter ihn darnach fragte, sagte er: »Was soll ich mich +jetzt noch über Menschen und Zeitungen ärgern?!« + +Mein Mann, der sich nie als »Schwiegersohn« fühlte, sondern stets sehr +zurückhaltend, sehr förmlich blieb, gefiel ihm. »Du ahnst ja kaum, wie +der Frieden auf mich wirkt,« schrieb er mir einmal. »Ich bin Dir die +Erklärung schuldig, daß dein Mann, dessen vollendeter Takt mir so +wohltuend ist, ganz auf mich zählen kann.« + +Zuweilen fuhr er mit uns in den Grunewald, wo er zum Frühjahr in unserer +Nähe eine Wohnung gemietet hatte. Er strahlte vor Freude, wenn er unser +Häuschen wachsen und werden sah. + +»Wie mich das glücklich macht, dich so ohne Sorgen zu wissen,« sagte er +zu mir, während er unermüdlich über die Balken kletterte und jeden Raum +in Augenschein nahm. Dann drückte er Heinrich die Hand: »Daß du meiner +Alix solch eine Heimat schaffst!« + +Draußen im Garten freute ihn jeder Strauch, der gepflanzt wurde. »Hier +muß Ottochen einen großen Sandhaufen haben,« -- meinte er, »und eine +Schaukel und eine Kletterstange, damit seine Muskeln straff werden. +Daneben aber baut mir eine Laube, in der ich im Sommer, ohne euch zu +stören, sitzen und mit meinem Jungen spielen kann.« + + * * * * * + +An einem dunkeln Spätherbsttag, kurz vor der Hochzeit meiner Schwester, +kam ich nach Hause. »Exzellenz ist beim Kleinen,« sagte das Mädchen. Ich +nickte lächelnd. Ottochen war nicht ganz wohl und durfte des schlechten +Wetters wegen nicht ausgehen. Nun kam der Großvater zu ihm. Ich trat in +sein Zimmer. Auf dem Teppich saß mein Kind, vertieft in die neuen +Soldaten, die ihm »Apapa« mitgebracht haben mochte; im Lehnstuhl lag der +Vater tief zurückgelehnt und schlief. Der sonst so lebhafte Junge +bewegte sich leise zwischen dem Spielzeug und sah erschrocken auf, als +ich näher trat. »Pst, pst!« machte er und legte ein Fingerchen auf die +Lippen. »Apapa baba!« + +Der graue Schatten des frühen Abends kroch durch die Fenster. Schwer lag +er über den Zügen des Schlafenden, verwischte jede Lebensfarbe, ließ +jede Falte tiefer erscheinen. Ich faltete unwillkürlich die Hände: Wie +alt, wie blaß, wie müde sah er aus! Und war doch ein so starker Mann +gewesen und den Jahren nach kein Greis! Ich sank in die Kniee und küßte +die herabhängende Hand. Der Kummer um mich war es gewesen, der ihm ein +Stück seines Lebens gekostet hatte. + + * * * * * + +Ende November wurde Ilse im Elternhaus mit Oskar Erdmann getraut. Nur +die nächsten Verwandten waren geladen worden, und auch von ihnen hatten +manche abgesagt, als sie erfuhren, daß wir zugegen sein würden. Meine +Schwester sah aus wie eine Frühlingselfe. Alles Licht im Raum ging von +ihren goldenen Haaren aus, deren Glanz selbst der keusche Brautschleier +nicht zu dämpfen vermochte. Erdmann schien mir noch schmaler als sonst. +Ein unbestimmtes Angstgefühl beschlich mich. Meiner Schwester »Ja!« +klang so froh, so hell an mein Ohr, daß es die Sorge verscheuchte. Als +aber der Geistliche sich fragend an ihn wandte, verschlang ein rauher +Husten, unter dem ich seinen Rücken beben sah, seine Antwort. Mir war, +als wechselten seine Geschwister, die neben uns standen, einen +erschrockenen, vielsagenden Blick. Doch wie das junge Paar sich uns +zuwandte, überstrahlte ihr Glück auch diesen Eindruck. + +Vor der Hochzeitstafel überkamen mich alte Träume. Sie stiegen aus den +schlanken Kelchen, die einst aneinanderklangen, während Walzermelodien +mich umrauschten, sie schimmerten in den silbernen Jardinieren, in denen +so viel Rosen, -- duftende Zeugen meiner Balltriumphe --, verblüht +waren. + +Jemand schlug ans Glas. Nun, wußte ich, wird meines Vaters klare Stimme +die Luft in rasche Schwingung versetzen, sein Geist und sein Witz wird +alle bezaubern, und alle verdunkeln, die nach ihm reden werden. +Erwartungsvoll sah ich ihn an. + +Seine Finger zerdrückten unruhig die Serviette, seine Lippen öffneten +sich einmal -- zweimal, bis daß ein Ton sich ihnen entrang, der rauh und +heiser war. Und dann sprach er, -- langsam, schwerfällig, wie +eingelernt. Meine Erwartung verwandelte sich in Staunen, mein Staunen in +Angst. Seine Hand hob sich wie zu einer jener alten Gesten, die so +wirksam zu unterstreichen pflegten, was er sagte, -- gleich darauf sank +sie schlaff herab, die Lippen zuckten, -- der begonnene Satz zerriß; -- +eine qualvolle Pause; -- dann griff er hastig nach dem Kelchglas, hob es +empor, wobei die Tropfen zitternd über den Rand spritzten: »Die Familie +Erdmann lebe hoch -- hoch -- hoch!« -- In den Stuhl sank er zurück; +seine Augen wanderten wie um Verzeihung bittend von einem zum anderen, +und als sein Blick den meinen traf, sah ich die Träne, die ihm in den +Wimpern hing. + + * * * * * + +Im Winter ging es meinem Vater Woche um Woche schlechter. Es duldete ihn +nicht im Hause; schon früh trieb ihn eine unerklärliche Unruhe fort; +versuchte die Mutter, ihn zurückzuhalten, so setzte er ihren Bitten +einen so heftigem Widerstand entgegen, daß sie ihn gehen lassen mußte. +Er besuchte meine Schwester und schleppte sich bis zu uns herauf, obwohl +es ihm täglich schwerer wurde. Es war, als ob er das Alleinsein mit der +Mutter nicht ertrüge. Nur wenn sein Enkel bei ihm war, wich seine innere +Unruhe einem Ausdruck stillen Friedens. Zuweilen verließ ihn das +Gedächtnis, dann nannte er den Kleinen »Alix« und war noch zärtlicher zu +ihm als sonst. Einmal kaufte er eine Puppe, um sie »Alix« zu schenken; +als ihn die Mutter auf den Irrtum aufmerksam machte, geriet er in helle +Wut. »Alle Freude willst du mir verderben,« schrie er und sprach +stundenlang nicht mit ihr. Irgendeine Pflege duldete er nicht; er schloß +sich im Schlafzimmer ein, wenn der Arzt kommen sollte. + +Ich sah, wie meine Mutter sich mühte, ihm alles recht zu machen. Aber +die Sorgfalt, mit der sie ihn umgab, hatte etwas Kühles, Fremdes, -- als +ob das Herz nicht dabei wäre. Sie litt unter seiner Heftigkeit; es kam +vor, daß ihre starre Selbstbeherrschung zusammenbrach; dann weinte sie +bitterlich, aber es waren Tränen des Zornes, nicht des Leides. »Er ist +so böse zu mir, so böse!« kam es krampfhaft zwischen ihren fest +geschlossenen Zähnen hervor. Hilflos stand ich vor der Offenbarung der +Ehetragödie meiner Eltern. Manches Erlebnis, das meine Jugend verbittert +hatte, tauchte in der Erinnerung wieder auf, und ich fand jetzt den +Schlüssel dazu. + +»Die Ehe hat sie zerstört,« sagte ich zu meiner Schwester, als wir +darüber berieten, wie ihnen vielleicht noch zu helfen sei. + +»Ja, -- das glaube ich gern,« antwortete sie mit einem grüblerischen +Ausdruck, der ihrem weichen Gesichtchen sonst fremd war. + +Ich horchte auf; -- kaum zwei Monate war sie verheiratet! Von da an +führte mein Weg, wenn ich zu den Eltern ging, regelmäßig bei ihr +vorüber. Ich hatte sie in ihrem jungen Glück nicht stören wollen, jetzt +trieb mich die Sorge, zu sehen, ob es nicht schon gestört war. Aber ich +fand sie stets heiter inmitten ihrer schönen Häuslichkeit, die in Formen +und Farben so harmonisch zusammenstimmte, daß eine Vase, ein +Blumenstrauß schon störend zu wirken vermochte, wenn sie nicht in +bewußtem Einklang damit gewählt worden waren. Und ich fand ihren Mann +zärtlich um sie besorgt, -- in einer Art freilich, die ich nicht +vertragen hätte, die der Natur Ilsens aber zu entsprechen schien. Er +bestimmte ihre Kleidung, er beaufsichtigte die Hauswirtschaft, er +ordnete den Tisch, wenn Besuch erwartet wurde. Und alles nahm unter +seiner Hand den Charakter seines Künstlertums an: der Vornehmheit, die +jedes äußeren Schmuckes entbehren konnte, weil sie das Wesen des +Materials zu reinstem Ausdruck brachte; der jedem lauten Ton abholden +Ruhe, die wie Sonnenuntergang am Tage durch die orangeseidenen Vorhänge +klang und am Abend in den Falten der grünen, die sich darüber breiteten, +träumte; und der Liebe zur Natur, die sich in allem, was ihn umgab, +widerspiegelte, -- in den dunkelroten Kastanienblättern der Tapete, den +zarten Pflanzen- und Vögelstudien japanischer Stiche, dem Wandteppich +mit dem stillen Waldbach, auf dem die Schwäne ziehen. Es war gut sein +bei ihnen, und wer davon ging, dem kam die Welt draußen doppelt häßlich, +unharmonisch, laut und herzlos vor. Aber es ging auch etwas wie eine +Lähmung von dieser Umgebung aus, etwas, das vom wirklichen Leben +gewaltsam abzog. + +Die Gäste des Hauses entsprachen dieser Stimmung; keine der Fragen, die +uns bewegten, traten mit ihnen über seine Schwelle. Die Kunst stand im +Mittelpunkt all ihres Denkens und Fühlens; nicht jene nebenabsichtslose, +die wächst wie ein Baum, gleichgültig, ob nur einsame Wanderer ihn +finden, oder ob Scharen unter seinem Schatten ruhen, sondern jene +märchenhafte Treibhausblume, die nur für die Auserwählten gezogen wird. +Sie vertraten alle den Individualismus, aber hinter ihrer Forderung der +höchsten Kultur des Individuums verbarg sich nur sein Kultus. Man sprach +mit halber Stimme, man las Bücher, die in numerierten Exemplaren nur für +einen kleinen Kreis von Freunden gedruckt wurden; am Flügel saß häufig +ein katholischer Priester, der in dem milden Wachskerzenlicht des +zartgetönten Salons Palestrinas feierliche Weisen ertönen ließ. + +Dieselbe Atmosphäre, die sich weich um die Stirne legt, herrschte hier, +wie im Theater, wo Hofmannsthals Hochzeit der Sobëide jenen +Haschichrausch hervorrief, der der Welt entrückt. Und am Ende des +Jahrhunderts jauchzte die Jugend den neuen Göttern ebenso stürmisch zu, +wie wir die Ibsen und Gerhart Hauptmann empfangen hatten. Flüchteten die +Menschen nur im Gefühl ihrer Schwäche aus der Wirklichkeit, oder waren +nicht unter denen, die sich abseits des rauhen Lebens in einem weißen +Tempel versteckten, auch solche, die als geweihte Priester der +Menschheit wieder aus ihm hervorgehen werden? + +Ich hätte die Frage nicht entscheiden können, aber mein Optimismus +glaubte gern an Keime neuen Werdens, wo andere Fäulniserscheinungen +sehen. Auch Erdmanns Persönlichkeit berechtigte dazu. Er selbst wurzelte +zu bewußt im Boden der Erde, als daß er seine Kunst ihr hätte entreißen +können. Er behandelte die jungen Männer, die seine genial geknoteten +Krawatten nachahmten, von seinem tiefsten Wesen aber wenig wußten, mit +leiser Ironie. Die l'art pour l'art-Devise war für ihn nicht das Letzte. + +»Wir müssen den Snob benutzen,« sagte er, als wir einmal unter uns +waren, »um allmählich zum Volk zu kommen. Es ist mit dem Kunstgewerbe +wie mit der Mode: Das Neueste ist zuerst ein Vorrecht der Wenigen und +nach einem Jahr die Gewohnheit der Massen.« Lebhaft hin- und hergehend +setzte er uns dann seine Zukunftspläne auseinander: Handwerkerschulen +wollte er schaffen, in denen nicht alte Klischees immer wieder benutzt +werden, sondern die neuesten und schönsten Errungenschaften der Kunst zu +Mustern dienen. + +»Es ist bewundernswert, wie verständnisvoll all die kleinen Handwerker, +die ich jetzt schon zusammengesucht habe, meinen Ideen entgegenkommen. +Sie sind in ihrem Geschmack weniger verdorben, sie haben vor allem weit +mehr Gefühl für das Material, das sie bearbeiten, als die meisten +unserer Kunstgewerbetreibenden, die vor lauter theoretischem Wissenskram +jede persönliche Stellung zu den Dingen verloren haben --.« Ein heftiger +Hustenanfall unterbrach ihn, rote Flecken zirkelten sich auf seinen +eingefallenen Wangen ab. Meine Schwester erblaßte, lief hinaus und +brachte ihm eine Tasse Tee, die er entgegennahm, wie etwas längst +Gewohntes. »Der berliner Winter, -- dies ekelhafte Regenwetter --,« +sagte er dann und lehnte sich müde in den Stuhl zurück, während seine +Brust sich noch krampfhaft hob und senkte. »Ich war um diese Zeit immer +im Süden --,« fügte er halblaut wie zu sich selbst hinzu. + +Wir gingen. Meine Schwester begleitete uns bis zur Tür. Ich sah sie +fragend an. Sie nickte, um ihren Mund zuckte es verräterisch: »Ich weiß, +-- wir sollten fort, aber er will nicht. Er kann seine Arbeiten nicht im +Stiche lassen, sagte er. Aber später, in Jahr und Tag, wenn er sehr viel +verdient haben wird, --« dabei lächelte sie wieder hoffnungsvoll, -- +»dann wollen wir reisen --« »Ilse!« klang es ungeduldig von innen. Sie +fuhr erschrocken zusammen: »Nun wird er wieder böse sein!« und lief, +sich hastig verabschiedend, hinein. + +Wochenlang war er an das Zimmer gefesselt. Nun ging meine Mutter +zwischen dem Mann und dem Schwiegersohn unermüdlich hin und her. +»Ilschen ist viel zu zart für solch eine Pflege,« meinte sie, während +sie selbst dabei immer magerer wurde. Bat ich sie, sich zu schonen, so +hatte sie nur die eine Antwort: »Solange mir Gott Pflichten auferlegt, +habe ich sie zu erfüllen.« Dabei rückte der Umzugstermin näher; er mußte +pünktlich inne gehalten werden, denn die Wohnung der Eltern war +vermietet. In der Nacht, wenn der Vater schlief, kramte und packte die +Mutter, um ihn nur ja bei Tage damit nicht zu stören. + +Bei uns sah es ähnlich aus, denn unser Häuschen war inzwischen fertig +geworden, und der Tag des Einzugs war festgesetzt. Aber die Freude +fehlte, mit der ich ihm vor Monaten entgegengesehen hatte. + +»Sind wir erst draußen, so wird alles gut werden,« versicherte mir +Heinrich immer wieder, wenn meine sorgenvollen Mienen ihm meine Stimmung +verrieten. »Glaubst du, daß wir Taler von den Kiefern schütteln können, +wie das Kind im Märchen?« antwortete ich. »Wertvollere jedenfalls,« +meinte er gereizt. »Deines Kindes und deine Gesundheit, deine +Arbeitskraft sind doch wohl wichtiger, als die paar blauen Lappen, die +du momentan vermißt.« Ich zuckte die Achseln. Die Sorgen waren ja meine +Krankheit, und sie gedeihen auch in der besten Luft. + + * * * * * + +Hans geht es schlecht, kommt bitte gleich --« Meine Mutter schickte +diese Zeilen. Wir fuhren in die Ansbacherstraße. Auf seinem Lehnstuhl +saß der Vater, halb angezogen, mit blaurotem Gesicht und +blutunterlaufenen Augen. Gepackte Kisten standen umher, öde starrten uns +die vorhanglosen Fenster entgegen, grauer Staub lag auf den abgeräumten +Tischen. + +»Ich will nicht zu Bett, -- ich will nicht,« stöhnte der Kranke. Der +Mutter liefen die Tränen über die abgehärmten Wangen. + +»Er stößt mich zurück, wenn ich ihm helfen will,« flüsterte sie. Der +Arzt trat ein. Mit gewaltsamer Anstrengung erhob sich der Vater, stützte +sich mit beiden Händen auf den Tisch vor ihm und schrie, während die +Augen ihm aus den Höhlen zu treten schienen: »Hinaus -- hinaus! Ich mag +keinen Quacksalber!« -- + +Dann brach er zusammen, krallte die Hand in die linke Seite, -- langsam +wich die Farbe aus seinen Zügen; willenlos ließ er sich ins Schlafzimmer +führen, den Kopf tief gesenkt, schwankend, mit kleinen, unsicheren +Schritten. Im Bett lag er ganz still. Nur die Augen, die merkwürdig groß +und klar geworden waren, sprachen, was die Lippen nicht sagen konnten. + +Während Heinrich und Erdmann von den neuen Mietern der Wohnung, die sich +zu einem Aufschub des Einzugs nicht verstehen wollten, zum nächsten +Krankenhaus fuhren, um die Übersiedlung dorthin vorzubereiten, und die +Mutter mit Ilsens Hilfe draußen das Notwendigste zusammenpackte, war ich +allein bei dem Kranken. + +Wir redeten miteinander. Seine Augen bohrten sich forschend in meine +Züge. »Du kannst ruhig, -- ganz ruhig sein, lieber Papa. Ich bin +vollkommen glücklich --,« versicherte ich. Sie leuchteten auf, um sich +gleich darauf in jäher Angst, halb geschlossen, wieder auf mich zu +richten. »Ich liebe dich, Papa, ich habe nie aufgehört, dich zu lieben,« +antwortete ich mit tränenerstickter Stimme. Um seine blassen Lippen +zuckte ein leises Lächeln, seine schwache Hand versuchte, die meine zu +umschließen, die Lider deckten sekundenlang die stahlblauen Pupillen, -- +dann zuckten sie schreckhaft wieder empor. Eine einzige, ungeheure, +verzweifelte Frage starrte aus diesen Augen, in die das ganze Leben sich +zu einer letzten Zuflucht zusammendrängte. Ich verstand. Vorsichtig +löste ich meine Hand aus der seinen und ging hinaus -- »Mama!« rief ich +leise. Sie kam. Ich sah noch zwei Hände, die sich zitternd ihr +entgegenstreckten, -- dann zog ich die Türe hinter mir ins Schloß ... + +Als der Krankenwagen vorfuhr, trat sie aus dem Zimmer, bleich, +regungslos, wie versteinert. »Er schläft,« sagte sie. Ich beugte mich +über ihn: wie ein Hauch schwebte der Atem nur noch von seinen Lippen. +Die Augen waren geschlossen, das Gesicht weiß und still, beherrscht von +einem Ausdruck feierlichen Ernstes. + + * * * * * + +Zu Hause lief mir mein Kind entgegen. »Apapa dehn!« schrie es +ungeduldig. Es war die Stunde seiner täglichen Ausfahrt. Ich schüttelte +traurig den Kopf. Da fing es an herzbrechend zu schluchzen. + + * * * * * + +Noch zwei Tage atmete der Sterbende. Mit einer Ruhe, von der ich nicht +wußte, ob ich sie bewundern oder mich vor ihr entsetzen sollte, ordnete +die Mutter alles an, als wäre er schon gestorben. + +Angstvoll sah ich hinüber zu dem starren Gesicht in den weißen Kissen. +»Er ist ohne Bewußtsein,« hatte der Arzt versichert. Zuweilen aber +schien mir, als hörte er noch, als sähe er mit geschlossenen Augen, als +ginge ein Beben durch seinen Körper. + +In der dritten Nacht starb er. + + * * * * * + +Droben an der Hasenhaide, wo der Riesenleib der Stadt sich gigantisch +den Hügeln zu Füßen hinstreckt und der Sturm ungehindert durch die alten +Bäume pfeift, ist die letzte Garnison der Soldaten. Von den +Schießständen grüßen die Flintenschüsse herüber, von den Kasernenhöfen +die Trompetensignale, und vom Tempelhofer Feld klingen zuweilen die +Kriegsmärsche in den Frieden des Kirchhofs. + +Dorthin trugen alte Regimentskameraden den Sarg, in dem der Tote +schlief, gehüllt in den Mantel, der in allen Feldzügen sein +unzertrennlicher Begleiter gewesen war. Es war ein stilles Begräbnis. +Für die alten Freunde war er gestorben, als er sich mit mir, der +Abtrünnigen, versöhnte. + +Auch der Kaiser hatte des Mannes vergessen, der seinem Ahnherrn in +Frankreichs blutgetränkter Erde die Krone des deutschen Reiches erobern +half. + + * * * * * + +Acht Tage später verließen wir die Wohnung, in der die Sonne durch alle +Fenster hatte fluten können, in der mein Sohn geboren worden war. »Ottoo +-- addaa --« jauchzte er wieder, als wir davonfuhren; aber die Fenster +des Wagens waren geschlossen, und der Frühlingsregen peitschte an das +Glas. Im Walde draußen empfing uns die neue Heimat: Unter dem tiefen +grauen Dach unseres Hauses schauten die kleinen Fenster wie Augen unter +schattenden Wimpern hervor, geheimnisvoll lockend und feindselig +abwehrend zurück. Darüber wiegten die Kiefern ihre schwarzen Kronen. Es +war wie ein Stück der stillen, ernsten Natur, die es umgab. Und still +und ernst trat ich über seine Schwelle. + + + + +Neuntes Kapitel + + +Der Winter des Jahres 1899 wollte kein Ende nehmen. Die Stadt Berlin, +die durch Reinlichkeit zu ersetzen pflegte, was ihr an Schönheit +gebrach, war dem Schnee, der sich auf den Straßen bis in den April +hinein in schmutzig-grauen Schlamm verwandelte, nicht gewachsen. +Heerscharen, mit Spaten und Hacke bewaffnet, schickte sie aus, um den +hartnäckigen Feind aus den Toren zu treiben, und um die Massen der +Arbeitslosen, die unter seinem Regiment immer stärker angeschwollen +waren, zu verringern. Vergebens. Der Schnee ballte sich zu Haufen; vor +den Asylen der Obdachlosen staute sich die Menge. Mehr als je waren +kräftige Männer darunter. Selbst um die am schlechtesten bezahlte +Heimarbeit rissen sich die Frauen; wovon sollten sie die Kinder +ernähren, da die Väter feiern mußten und das Fleisch immer teurer wurde? + +»Der Winter ist mit den Ausbeutern im Bunde,« sagte eine blasse, kleine +Parteigenossin, die jedesmal mit entzündeteren Augen in die Sitzungen +kam. »Die Agrarier, die Konfektionäre und die Kohlenfritzen werden dick +und fett, und wir kriegen die Schwindsucht.« Sie stickte Hemden, -- +»ganz feine aus Battist, mit 'ner Fürstenkrone. Ich wünschte man bloß, +jeder Stich wäre 'ne Nadelspitze, wenn sie den durchlauchtigsten Körper +berühren,« fügte sie hinzu. Die Bitterkeit, mit der sie sprach, erfüllte +mehr denn je ihre Klassengenossen. + +Sie froren und hungerten. Im Reichstag aber bewilligte die Mehrheit der +bürgerlichen Parteien eine Militärvorlage, die Millionen und +Abermillionen kostete. Sie suchten vergeblich nach Arbeit, und im +Abgeordnetenhaus brachten die Junker den Plan des Mittellandkanals zu +Fall, der zahllose neue Arbeitsmöglichkeiten eröffnet hätte. Überall +siegten die Interessen der Besitzenden gegen die der Arbeiter, +und nun drohte die Zuchthausvorlage, ihnen im Kampf um bessere +Arbeitsbedingungen die letzte Waffe zu nehmen: Das Koalitionsrecht. + +Noch zögerte die Regierung mit der Veröffentlichung des Wortlautes der +Vorlage, aber sie warf ihre Schatten voraus, so daß an ihrem Inhalt +niemand mehr zweifeln konnte. + + * * * * * + +Um diese Zeit erschien Eduard Bernsteins längst erwartete Broschüre: +»Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der +Sozialdemokratie.« Sie faßte zusammen und führte aus, was er ein Jahr +vorher in seiner Artikelserie über die Probleme des Sozialismus gesagt +hatte. Jetzt, wo die erste Erregung hinter mir lag und ich mit ruhigem +Verstand zu lesen vermochte, spürte ich den Einfluß der englischen +Fabier, der Webb, der Shaw, der Burns, in deren geistiger Atmosphäre +dies Buch entstanden war. Ich spürte aber auch den deutschen Gelehrten, +der der rauhen Luft Preußens seit Jahrzehnten entwöhnt war und es in +seiner stillen londoner Studierstube, fern der Heimat, verfaßt hatte. Er +konnte drüben nicht wissen, wie der deutschen Partei im Augenblick jede +Aufnahmefähigkeit für theoretische Erörterungen gebrach, und wie der +Masse der Parteigenossen, die sich von allen Seiten in ihrer physischen +und rechtlichen Existenz bedroht sahen, seine Mahnung, den Liberalismus +nicht zurückzustoßen, zu handeln wie eine demokratisch-sozialistische +Reformpartei, als blutiger Hohn erscheinen mußte. Wo waren denn die +freigesinnten Elemente der Bourgeoise, auf die es sich verlohnte, +Rücksicht zu nehmen, um mit ihnen gemeinsam demokratische Forderungen +durchzusetzen? Sie entflammten in schöner Begeisterung für +Völkerfreiheit, -- wenn es sich um den Kampf der Buren gegen die +Engländer handelte. Sie empörten sich wider Unrecht und Vergewaltigung, +-- wenn von Dreyfus und dem französischen Generalstab die Rede war. Es +kam sogar etwas wie ein Entrüstungssturm zustande, als das Zentrum die +Kunst in die Ketten kirchlicher Moral zu legen drohte, -- aber dem +Urteil von Löbtau, das neun Maurer, die sich mit ihren über die schwer +errungene zehnstündige Arbeitszeit hinaus arbeitenden Kollegen in eine +Schlägerei verwickelten, mit Zuchthaus bestrafte, standen sie stumm und +kalt gegenüber. + +So sehr ich mich genötigt sah, der theoretischen Kritik Bernsteins +zuzustimmen, so wenig seiner Auffassung von der Notwendigkeit eines +Paktierens mit dem Liberalismus. »Wer nicht mit uns ist, der ist wider +uns --.« Getäuschte Liebe trägt die Maske brennenden Hasses; darum +urteilt der Renegat über die Klasse, die er verließ, am schärfsten. Wo +waren all die, auf die ich gerechnet hatte? Ein einziger hatte seitdem +den Weg zu uns gefunden: Göhre. Alle anderen starrten geblendet in die +Fata Morgana deutscher Zukunftsweltmacht. + + * * * * * + +»Ich habe den Genossinnen einen Vorschlag zu unterbreiten,« begann +Martha Bartels in einer unserer Frauensitzungen. »Unter uns ist kaum +eine, die nicht wenigstens die Bernsteindebatten im Vorwärts verfolgt +hätte. In engeren Parteikreisen haben wir wohl auch Gelegenheit gehabt, +uns darüber auszusprechen und Belehrung durch andere zu empfangen. An +einer großen öffentlichen Auseinandersetzung fehlt es leider noch. Ich +beantrage, Genossin Orbin zu bitten, in öffentlicher Volksversammlung +einen Vortrag über den Streit, der uns so nahe angeht, halten zu +wollen.« + +Mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit stimmte man ihr zu. Ich wußte, daß es +Wanda Orbin selbst gewesen war, die ihr diesen Gedanken souffliert +hatte. Sie wütete in der »Freiheit« gegen Bernstein. »Soweit es sich um +die Erörterung der praktischen Vorschläge Bernsteins handelt, scheint +auch mir der Antrag annehmbar,« sagte ich. »Seine Theorien aber sind +doch wohl kein Thema für eine öffentliche Volksversammlung.« + +»Genossin Brandt hält uns mal wieder für zu dumm,« hörte ich die +schrille Stimme der rotäugigen Stickerin sagen. »Bernstein meent ja +ooch, daß wir noch nich reif sind,« meinte eine andere mit einem +giftigen Blick auf mich, »er is nischt als so'n verkappter Bourgeois, +der uns zum St. Nimmerleinstag vertrösten will, damit's ihm nich an den +Schlafrock jeht.« + +Ich hielt diesem Ausbruch proletarischer Eitelkeit, die die Partei groß +gezogen hatte, ruhig stand. Die apodiktische Sicherheit, mit der die +Partei in ihrer Presse ihre Ansichten vertrat; die verflachende +Popularisierung der Lehren ihrer Vorkämpfer, durch die sie sie den +Massen mundgerecht machte; der Hohn, mit dem sie die Äußerungen +»bürgerlicher Wissenschaft« überschüttete, konnten keine andere Wirkung +haben. + +»Wie wär's, wenn Genossin Brandt das Korreferat übernähme?« fragte Ida +Wiemer, die vor allem gewerkschaftlich tätig war und infolgedessen zu +einer weniger radikalen Auffassung neigte. + +»Selbst wenn Sie das wünschen, müßte ich nein sagen,« antwortete ich +rasch; »ich bin außer stande, theoretische Fragen zu beurteilen, die +einen Mann wie Bernstein jahrelang beschäftigt haben, ehe er eine +Antwort fand.« Rings um mich sah ich spöttisches Lächeln in den Mienen, +Ida Wiemer senkte errötend den Kopf, als schäme sie sich für mich. + +Tatsächlich hätte ich nicht törichter vorgehen können: Nur wer keck +alles zu wissen und zu können behauptet, verschafft sich Ansehen in der +Öffentlichkeit. Ich hatte mir eine Blöße gegeben, die mir nicht +vergessen werden würde. + +Luise Zehringer sprach nach mir, eine Genossin aus Hamburg, eine +Zigarrenarbeiterin mit harten vermännlichten Zügen. Es fehlte ihr, auch +in dem Klang der Sprache, jede Spur von Weiblichkeit. Ein ernstes +Arbeitsleben von Kindheit an hatte der ganzen Erscheinung jede +Weichheit genommen. + +»Ich gehöre zu denen, die eine energische Zurückweisung der +Bernsteinschen Angriffe auf unsere Grundanschauungen nicht nur für +notwendig, sondern für jede von uns, die im Besitze proletarischen +Klassenbewußtseins ist, für möglich hält,« sagte sie. »Ich habe keine +vornehme Erziehung genossen, wie die Genossin Brandt, aber meine fünf +Sinne habe ich beieinander. Ich weiß darum, ohne jahrelanges Studium, +daß Bernstein Marx und Engels Unterstellungen macht, die sie niemals +vertreten haben, daß er gegen eine Verelendungstheorie kämpft, die +niemals von uns propagiert worden ist. Wir verstehen unter Proletariat +nicht diejenigen, die mit zerlumptem Rock und knurrendem Magen +umherlaufen, sondern jeden, der abhängig ist vom Kapital. Und diese +Abhängigkeit wächst von Tag zu Tag und damit die Masse des Elends. Und +ist die Zunahme der Erwerbsarbeit proletarischer Hausfrauen und Mütter +nicht ein weiterer, schlagender Beweis für die Zunahme des Elends? +Glauben Sie vielleicht, Genossinnen, sie verließen aus Vergnügungssucht, +wie die Damen der Bourgeoisie, ihr Zuhause und ihre Kinder?!« + +Aller Augen hingen an der Sprecherin, die ihre leidenschaftlich +vorgestoßenen Worte mit lebhaften eckigen Gestikulationen begleitete. +»Ich weiß aber noch mehr: ich weiß, daß die Empörung gegen das Elend mit +ihm wächst, daß die Gleichgültigsten, wenn sie hungernd über den +Jungfernstieg gehen, während hinter den Spiegelscheiben der feinen +Restaurants die Protzen schmatzen und saufen, die Fäuste ballen lernen +und weniger denn je von einem Techtelmechtel mit den schlauen +Verführern der Bourgeoisie, den Liberalen, wissen wollen. Zwischen uns +und ihnen gibt es nur Kampf, -- Kampf bis aufs Messer, -- bis zur +Diktatur des Proletariats, vor dem der behäbige, gut genährte Herr +Bernstein und seinesgleichen solch ein Grausen hat ...« Sie schwieg +erschöpft; ihre Züge waren noch um einen Schein blasser geworden. Wanda +Orbins Referat war gesichert. + + * * * * * + +»Wie stellen sich die Parteigenossen Berlins zu Bernsteins Schrift?« Auf +leuchtend gelben Zetteln prangte diese Frage an den Litfaßsäulen. Im +Westen gingen die Spaziergänger achtlos daran vorbei. In der +Friedrichstadt blieben Studenten mit unverkennbar russischem Typus +nachdenklich davor stehen, während ihre deutschen Kollegen der Anzeige +der Amorsäle ihre Aufmerksamkeit zuwandten. Im Norden und im Osten +dagegen sammelten sich Gruppen von Arbeitern vor ihr, und in die +Kneipen, in die Arbeitssäle und in die Wohnungen wurde die Frage weiter +getragen. Als Wanda Orbin die Tribüne betrat, erwarteten nur wenige +ihrer Zuhörer von ihr etwas anderes, als die Bestätigung der Antwort, +die für sie selber schon feststand. + +Sie verkündete mit priesterlichem Fanatismus den beseligenden Glauben an +die Herrlichkeit des nahe bevorstehenden Zukunftsstaates gegenüber der +kühlen Beweisführung seiner langsamen Entwicklung; sie schürte den Haß +wider die bürgerliche Gesellschaft, sie mahnte zum Vertrauen allein auf +die eigene Kraft des Proletariats. Zwischen ihr und der Zuhörerschaft +entstand jene hypnotische Verbindung, durch die der Redner nur als +Sprachrohr der Massen erscheint und die Massen wieder unter der +Suggestion des Redners stehen. Sie war die Stimme des Volkes, das die +Ketzer verdammte, die ihm nehmen wollten, was ihres Lebens einziger +Reichtum, ihres Willens einzige Triebkraft war: den religiösen Glauben +des Sozialismus. In ihr lebte die Urkraft der Bewegung, die nur Freunde +und Feinde kannte, die kämpfen wollte, aber nicht paktieren, die im +Eroberungskrieg das Leben jedes einzelnen zu opfern bereit war, nicht +aber die Hoffnung auf raschen Sieg. + +Ein alter Mann saß neben mir. Er war müde gekommen; jetzt glänzten seine +Augen, seine Wangen glühten, sein gebeugter Rücken richtete sich auf. An +einem Tische nicht weit davon sah ich eine Gruppe junger Arbeiter; sie +trommelten mit den breiten Fäusten auf den Tisch, und Haß und Lust und +barbarische Kampfbegier leuchtete aus ihren Zügen. Unter dem Spiegel an +der Wand lehnten umschlungen ein paar schwarzhaarige Studentinnen; aus +ihren Blicken sprach jene Schwärmerei, die Hirtenmädchen zu Heldinnen +macht. Auch ich war erschüttert; was mein Verstand, mir selbst zum +Trotz, Stein um Stein aufgerichtet hatte, das drohten die Pfeile von der +Rednertribüne zu zerstören. Aber dann vernahm ich schrille, falsche +Töne, für die nur mein Gehör fein genug schien: die Rednerin verhöhnte +die Kraft ethischer Motive als einen in Rechnung zu stellenden Motor in +der revolutionären Bewegung. Sie überschüttete mit Spott jene +»bürgerliche Intelligenzen«, die mit der »Gerechtigkeitsidee« ins weite +Meer gesteuert und mit gebrochenen Masten in den Hafen der Entsagung +zurückgekehrt sind. »Nur der aus seinen Klasseninteressen entstehende +Klassenkampf des Proletariats wird dem Sozialismus die Welt erobern.« +Welche Motive hatten denn die Marx und Engels, die Lassalle, die +Liebknecht auf die Seite der Enterbten getrieben? Waren sie nicht +»bürgerliche Intelligenzen« gewesen, wie Wanda Orbin selbst? Mit +frenetischem Beifall nahm das Volk ihren Kniefall vor seiner Majestät +entgegen, während mir die Schamröte in die Schläfen stieg. Als sie dann +mit einer Stimme, die nur noch ein Kreischen war, weil nicht mehr das +Feuer der Begeisterung, sondern weibische Rachsucht sie belebte, in den +Saal hinausschrie: »Wenn die Gegensätze so schroff zutage treten, wie +zwischen der Masse der Genossen und den Bernstein, den Heine, den David, +den Schippel, so ist eine reinliche Scheidung besser als ein fauler +Friede,« und die Zuhörer trampelnd und johlend Beifall klatschten, da +wußte ich, daß die Partei der Freiheit Scheiterhaufen zu schichten +imstande sein würde. + +Still davon zu gehen, nachdem die Versammlung geschlossen worden war, +wäre gewiß am klügsten gewesen. Der Wirbelsturm meiner Gefühle, der sich +aus Bewunderung und Empörung, aus Schüchternheit und Angst +zusammensetzte, hatte mich gehindert, in der Diskussion zu sprechen, +jetzt aber kochte mir das Blut; ich wollte nicht feige erscheinen, ich +mußte mit Wanda Orbin sprechen, die mich noch immer für ein Glied ihrer +Gefolgschaft hielt. Sie kam meinem Wunsch entgegen. + +Wir gingen noch in ein Kaffee, und schon auf dem Wege dahin sprach sie +mich an: »Sie waren gegen mein Referat, hörte ich?« »Ja, und ich bin es +nachträglich noch mehr, als vorher,« antwortete ich. »Das ist ja sehr +interessant,« meinte sie spitz und wandte sich von mir ab. Ich war den +Rest des Abends Luft für sie. + +Wir verabschiedeten uns mit einer kühlen Verbeugung, und während sie, +umringt von den Genossinnen, ihrem Absteigequartier entgegenging, fuhr +ich allein nach Hause. Ich kämpfte mit den Tränen. In dem engen Kreise +der Arbeiterinnenbewegung Wanda Orbin als Gegnerin gegenüberzustehen, +das bedeutete entweder mein Ausscheiden aus ihm oder einen endlosen +aufreibenden Kampf. + + * * * * * + +Spät in der Nacht kam ich nach Hause. Hier draußen im Grunewald bedeckte +eine feste Schneedecke Straßen und Gärten, tiefschwarz stiegen die +Kiefern aus ihrer hellen Weiße empor; ihre dünnen, dürftigen Wipfel +verloren sich im Nebel. Ich fürchtete mich. Nacht und Dunkelheit waren +meine schlimmsten Feinde. Dann sah ich, wie in meiner Kindheit, drohende +Gestalten hinter Baum und Busch, und hörte die Tritte Unsichtbarer +hinter mir. Ich lief. Auf dem kleinen Platz wenige Schritte vor unserem +Garten blieb ich stehen. Der Atem wollte versagen. Ich sah hinüber: +Grau, düster, als wäre es selbst nur ein Gebilde des Nebels, schlief +unser Haus zwischen den schwarzen Stämmen, die es umstanden wie lauernde +Wächter. + +Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken: wir hatten hier noch keinen +frohen Tag gehabt. Der Kleine schlief schlecht, -- der Kiefernduft rege +ihn auf, meinte der Arzt, -- er war oft krank gewesen. Und zwischen mir +und meinem Mann richteten die Sorgen sich auf, immer höher und höher, +wie eine trennende Mauer, in die die Kraft unserer Liebe nur hie und da +Bresche schlug. Wir trugen unsere Qualen allein, -- aus Rücksicht; wir +hüllten unsere Seelen in den dunkeln Mantel des Schweigens, damit der +Anblick ihrer Not nicht den anderen verletze. Daß einer den anderen +überhaupt nicht mehr sehen konnte, blieb uns verborgen. Unausgesprochene +Vorwürfe wirkten auf unsere Gefühle wie früher Frost auf entfaltete +Rosen. Uralte Vorurteile, Traditionen, deren triebkräftige Wurzeln den +Boden umklammern, wenn auch der Baum gefällt ist, nährten sie. + +Unter der Schwelle des Bewußtseins lebte in mir, der Emanzipatorin ihres +Geschlechts, die Vorstellung: daß der Mann, dem das Weib sich +anvertraute, wie ein Schutzengel über ihrem Leben stehen müsse, daß er +verpflichtet sei, sie vor Sorgen zu hüten. Statt dessen hatte der meine +-- der Vorwurf wühlte in mir -- sie über mich heraufbeschworen! Und in +dem Grunde der Seele des Mannes, der aus eigener Überzeugung meine +Berufsarbeit förderte, lebte der Gedanke: daß die Frau das Reich des +Hauses zu regieren habe, daß ihr die Pflicht obliege, durch ihr Wirken +die Not von seiner Schwelle zu bannen. Statt dessen verstand die seine +nichts von alledem, und nur zu oft las ich in seinen sprechenden Zügen +den Vorwurf: Du -- du bist schuld. + +Ein Licht, das im Erdgeschoß, wo die Köchin schlief, aufflammte, riß +mich aus meinem Sinnen. Ich eilte der Gartenpforte zu. Da öffnete sich +die Türe zum Kücheneingang, -- »auf morgen!« hörte ich flüstern, ein +Mann trat heraus, kletterte gewandt über den Zaun und ging, vor sich +hinträllernd, die Straße hinab. Das Licht im Mädchenzimmer erlosch. + +Ich schlich hinauf. Mein Mann schlief fest. Wie ich ihn schon um diesen +Schlaf beneidet hatte! Ihn suchte er auf, ich mußte ihn mir erst +erzwingen! Heute wollte er sich überhaupt nicht festhalten lassen. Der +Gedanke, daß ich morgen die Minna schelten mußte, peinigte mich: +dadurch, daß ich ihre Arbeitskraft in Anspruch nahm, hatte ich doch noch +kein Recht über ihre Person. Wie durfte ich verlangen, daß sie mir ihre +Liebe opfern sollte? Und doch würde vermutlich die Konsequenz meiner +Nachsicht nichts anderes sein, als daß sie ihren Liebhaber mit ernährte. +Eine gute Hausfrau nimmt alle Schlüssel an sich, -- die des Hauses wie +die der Speisekammer. Ich vermochte es nicht: Konnte ich einen fremden +Menschen einsperren, wie einen Sklaven? Vor einer Hausgenossin alles +verschließen, als hielte ich sie von vornherein für eine Diebin? Wieder +rollte sich durch einen geringfügigen Anlaß ein ganzes Problem vor mir +auf. Ich grübelte ihm nach, über die kleinen Nöte meiner eigenen vier +Wände hinaus, und fand keine andere Lösung als die radikalste: +Vernichtung des patriarchalischen Haushalts, Entwicklung des +Dienstmädchens, das unter ständiger Kontrolle steht, das Tag und Nacht +dienstbereit sein soll, zur freien Arbeiterin, die stundenweise +beschäftigt und entlohnt wird. + +Mit dem grauenden Tage kehrte ich wieder zu mir selbst zurück. Die +nächste Zeit stellte starke Anforderungen an mich: der Feldzug gegen den +Zuchthauskurs sollte auf der ganzen Linie eröffnet werden, -- ich würde +häufig abends fort sein müssen. Wenn ich doch irgend jemand hätte, der +mich im Hause vertreten könnte. Aber die guten Hausgeister der +Vergangenheit, -- all die unbeschäftigten Tanten und Cousinen waren +ausgestorben, hatten sich in selbständige Berufsarbeiterinnen +verwandelt. Und meine Mutter?! + + * * * * * + +Gleich nach des Vaters Tod hatte sie ihren Haushalt aufgelöst und war zu +Erdmanns gezogen. Eine Lungenentzündung hatte Ilse aufs Krankenlager +geworfen, die Mutter war Pflegerin und Haushälterin zugleich gewesen. +Durfte ich sie jetzt, wo sie selbst der Erholung bedürftig war, für mich +in Anspruch nehmen? + +Sie besuchte uns am nächsten Tag. Ottochen lief ihr entgegen. Er suchte +immer noch den »Apapa« und weinte, wenn er nicht mitkam. + +Wie leicht, wie elastisch der Gang der Mutter ist, dachte ich erstaunt, +als ich sie näher kommen sah. Mir war, als wäre sie sonst schwer und +hart aufgetreten. Ihre Wangen waren gerötet, der bittere Zug um ihren +Mund wie weggewischt, die schmalen, blassen, zusammengepreßten Lippen +wölbten sich plötzlich, wie von jungem Blut durchglüht. + +»Nun kann ich reisen!« sagte sie mit einem Aufleuchten in den Augen. +»Meine Pflicht Erdmanns gegenüber ist erfüllt, -- sie wollen selbst so +rasch als möglich auf See, um ihre Lungen auszuheilen; da bin ich +frei --,« sie dehnte dies letzte Wort, als müßte sie es ganz auskosten. + +Nach Italien wollte sie zuerst. Sie erzählte von einem ganzen Stoß +kunsthistorischer Bücher, die sie mitnehmen wollte. »Ich bin nie zum +Lesen gekommen,« meinte sie; »wie viel hab' ich versäumt, wie viel kann +ich nachholen!« + +Ich sah sie verwundert an, wie eine Fremde: hatte sie mich nicht so und +so oft aus der Lektüre herausgerissen, als ich noch daheim war, und mich +neben sich an den Flickkorb gezwungen? Hatte sie jemals etwas anderes +gelesen als die Zeitung und hie und da einen Roman? + +»Du bist erstaunt?« lächelte sie. »Du wirst es noch selbst erfahren, wie +die Pflicht für andere zu leben uns Frauen fast bis zur +Selbstvernichtung treiben kann.« Ich fand keine Antwort. Wie unglücklich +mußte sie gewesen sein, -- und wie unglücklich gemacht haben, da sie +fünfunddreißig Jahre lang nur aus Pflichtgefühl die Ketten der Ehe +getragen hatte! + +»Im nächsten Winter werde ich mich hier in einer Pension etablieren,« +fuhr sie fort, »du glaubst nicht, wie allein der Gedanke mich beruhigt, +alle Haushaltsquälerei los zu sein!« Und sie war scheinbar in ihrem +Haushalt aufgegangen! + +»Was geschieht aber dann mit den Möbeln?« fragte ich, um nur irgend +etwas zu sagen. + +»Ich habe heute das letzte verkauft -- --« + +»Verkauft?!« Ich starrte sie entgeistert an. Wie?! Ohne uns, ihren +Kindern, auch nur eine Mitteilung davon zu machen, hatte sie all die +hundert lieben Dinge, die ein Stück Heimat für mich gewesen waren, +achtlos in alle Winde verstreut?! Des Vaters Schreibtisch mit den +geschnitzten Eulen, -- den alten Stuhl davor, -- die Reiterpistole! Ich +strich mir mechanisch mit der Hand über die heiße Stirn, um den bösen +Traum zu verscheuchen, -- denn es war doch nur ein Traum! + +»Auch die grünen Lehnsessel -- und das alte Sofa, das in meinem Zimmer +stand?« murmelte ich. + +»Gewiß!« antwortete sie mit heller Stimme, aus der der scharfe +ostpreußische Akzent mehr als sonst hervortrat. »Ihr alle habt, was ihr +braucht, -- das Gerümpel hätte kaum noch einen Umzug ausgehalten; -- nur +Silber, Glas und Porzellan ließ ich bei Ilse auf den Boden stellen. Ich +habe lang genug all dies Schwergewicht mit mir gezogen.« + +Mir schoß das Blut in die Schläfen: So strich sie Jahrzehnte ihres +Lebens aus und mit ihnen die Erinnerung! Schon hatte ich bittere Worte +auf der Zunge. Ich hob den Blick: Der Ausdruck ihrer Züge entwaffnete +mich. Mir war, als sähe ich plötzlich bis zum Grunde ihres Herzens. Dem +Götzen der Pflicht hatte sie ihr Leben geopfert und wußte nun nicht +einmal, wie groß ihre Sünde gewesen war. Jetzt erst trat sie aus dem +Dämmerdunkel seines Tempels ans Tageslicht und grüßte es, als sähe sie +es zum erstenmal. Arme Mutter! Keinen Strahl deiner schon leise +sinkenden Sonne will ich dir verdunkeln, dachte ich, und bat ihr im +stillen ab, was ich an heimlichem Groll gegen sie im Herzen getragen +hatte. Als ich sie zum Abschied küßte, liebte ich sie, -- mit jener +mitleidigen Liebe, die eine einzige Trennung ist. + +Es war gut, daß sie ging, -- für sie und für mich. Der Glaube, daß ihre +Kinder keine materiellen Sorgen hatten, gehörte zu dem Glücksgefühl, mit +dem sie die späte Freiheit genoß. Hätte ich sie zurückgehalten, ihr in +meine Häuslichkeit Einblick gewährt, er wäre doch erschüttert worden. +Ich mußte selbst mit mir und den Verhältnissen fertig werden. + + * * * * * + +»Eine Villa im Grunewald, --« wie oft hörte ich in den Kreisen der +Parteigenossen mit einem mißtrauisch-hohnvollen Blick auf mich diese +vier Worte flüstern. Sie wußten nicht, daß uns kein Stein von ihr +gehörte, daß sie aber mit dem Gewicht aller ihrer Steine auf uns +lastete. Die Zinsen, die wir zu zahlen hatten, waren schließlich doch +höher, als die Miete gewesen; Haus und Garten erforderten mehr +Arbeitskräfte, als die kleine Etagenwohnung, und das Leben hier draußen +war auf Rentiers und Millionäre zugeschnitten, die den Grunewald +allmählich bevölkert hatten. Noch mehr als früher war jeder Erste des +Monats ein Schreckenstag für mich. Und wenn ich am Schreibtisch saß und +meine Gedanken auf das Buch, an dem ich arbeitete, konzentrieren wollte, +kamen die Sorgen grinsend aus allen Winkeln gekrochen und bohrten ihre +Knochenfinger in mein Gehirn und zerdrückten meine Gedanken zwischen +ihnen. Dann lief ich zu meinem Sohn hinauf oder spielte im Garten mit +ihm, -- denn über seinen Zauberkreis wagten sich die grauen Gespenster +nicht. + +Wie hatte die Mutter gesagt, als sie mit jungen Augen von ihrer +Freiheit sprach? »Lang genug hab' ich dieses Schwergewicht mit mir +gezogen -- --« Ein Schwergewicht, -- eine Kette am Fuß, -- so empfand +ich auf einmal das Haus, in dem ich wohnte. Flügellos machte es mich und +-- alt, alt! + +Du hast Falten um Mund und Nase, sagte mein Spiegel, Falten, und trübe +Schleier über den Pupillen wie all jene Frauen, denen der jämmerliche +Kleinkram des Lebens die Seele zertritt. Ich aber will nicht alt sein, +schrie es in mir; noch braust und schäumt der Strom der Jugend in meinem +Innern, der starke Strom, der Felsen höhlt und Riesen des Waldes +entwurzelt, und den die Ehe in ihre gemauerten Kanäle zwang. + +»Heinz, hab' einmal Zeit für mich,« sagte ich eines Abends. Wir saßen +fast immer bis zum Schlafengehen arbeitend an unserem Schreibtisch. +Gemeinsame Abende gab's für uns nicht. Ich hatte unter diesem Mangel im +Beginn unserer Ehe schwer genug gelitten. Er sah von seiner Lektüre auf; +ein helles Licht huschte über seine Züge. »Immer, mein Schatz -- nur +leider verlangst du nie danach.« + +»Ich weiß, du hast es sehr gut gemeint,« begann ich stockend, »du hast +nur meinen Wunsch erfüllen wollen, als du dieses Haus für uns bautest. +Keiner von uns hat vorher gewußt, daß -- daß es eine unerträgliche Last +für uns sein würde -- --« + +»Aber, Alix, du kommst auf diesen vernünftigen Gedanken, du?!« +unterbrach er mich. »Du könntest -- du wolltest --?!« + +»Das Haus verkaufen, -- ja! Tausendmal lieber, als in dieser Angst +weiterleben --« Mir stürzten die Tränen aus den Augen, trotz aller +Selbstbeherrschung. + +Heinrich gehörte zu den wenigen Männern, die durch Frauentränen nicht +weicher, sondern härter werden. »Wozu die Tragik,« sagte er ärgerlich. +»Wenn du einsiehst, was mir längst klar ist: daß wir über unsere +Verhältnisse leben, so sind wir einig, und die Konsequenzen sind +selbstverständlich.« + +Meine Tränen flossen nur noch stärker; ich hatte unwillkürlich so etwas +wie ein Lob für meinen Opfermut erwartet. Erst allmählich kam ich zur +Ruhe. + +Wir saßen aneinandergeschmiegt wie in den ersten Zeiten unserer Ehe auf +dem pfauenblauen Sofa und spannen neue Zukunftsträume, als wäre durch +unseren bloßen Entschluß schon die Bahn für sie frei. + + * * * * * + +Wochen und Monde vergingen. Niemand fragte nach unserem Haus. Indessen +zog mit blauem Himmel und heißer Sonne der Sommer ein, und auch unter +den Kiefern lachten und dufteten Rosen, Nelken und Lilien. Grüne Ranken +kletterten übermütig an den grauen Wänden empor, vor allen Fenstern +nickten rote Geranien. Und mitten in all der Pracht blühte mein Kind. Es +spielte den ganzen Tag im Grünen, jeder Busch wurde ihm ein lebendiger +Gefährte. Und wenn es droben im Giebelstübchen hinter den Blumenbrettern +schlief, dann saßen wir noch lange auf der Altane und atmeten den +würzigen Duft der Nacht und genossen der zauberischen Ruhe des Waldes. +Ich fing an, dies Stückchen Erde zu lieben: es hatte meinem Sohn eine +Heimat werden sollen. Ich trennte mich immer schwerer von dem stillen +Winkel. + +Nichts ist gefährlicher für den Altruismus, als die mit Egoismusbazillen +gefüllte Luft häuslicher Gemütlichkeit. Nur die ganz Starken, +Widerstandsfähigen entziehen sich der Ansteckung. + +Die Vorkämpfer der Menschheit waren fast immer die Heimatlosen. + +Aber auch meine Körperkräfte hinderten mich oft an der agitatorischen +Tätigkeit. War ich genötigt, ein paar Abende hintereinander zu sprechen, +so versagte meine Stimme. »Sie dürfen sich niemals in Rauch und Staub +aufhalten,« sagte dann der Arzt und verordnete mir Schweigen und frische +Luft. Meine robusten Genossinnen, für die die Atmosphäre der +Versammlungssäle nicht schlechter war als die ihrer engen Stuben, ihrer +überfüllten Werkstätten und Fabrikräume, hielten mich für schulkrank und +mißtrauten mir mehr noch als früher. + + * * * * * + +Wir hatten im Winter einen Arbeiterinnenbildungsverein gegründet, -- +einen Notbehelf, da das Gesetz den Frauen die Teilnahme an politischen +Organisationen untersagte und seine Handhabung den Arbeiterinnen +gegenüber besonders streng war. Er wurde aber rasch zum Selbstzweck; die +Frauen hatten ein lebhaftes Bedürfnis nach geistiger Aufklärung aller +Art, und es war für mich eine Erfrischung, seinen Zusammenkünften +beizuwohnen. Zwei Abende war schon über Erziehung gesprochen worden, +und die Debatte bewies, mit wie viel Ernst, mit wie viel Eifer diese +armen Arbeiterfrauen ihre Aufgabe als Mütter erfaßten. + +Diesmal hatte ich Romberg genötigt, mitzukommen. Er war in bezug auf die +geistige Entwickelungsmöglichkeit der Frauen sehr skeptisch, und so sehr +er aus rein ökonomischen Gründen die Frauenbewegung für notwendig +anerkannte, so war sie ihm doch nur eine traurige Notwendigkeit; was sie +erstrebte, erschien ihm nicht als Fortschritt, sondern nur als eine +unausbleibliche beklagenswerte Wandelung. Den Bildungshunger der +»Waschfrauen und Näherinnen« hielt er nun gar für eine meiner +unverzeihlichen Illusionen. Ich wollte ihm einmal statt Gründe Beweise +liefern. Und allmählich schien er wirklich erstaunt. Eine kleine, adrett +gekleidete Frau stand jetzt auf dem Podium. »Mein Mann ist +Maschinenschlosser,« sagte sie, »wir haben nur zwei Kinder und soweit +unser Auskommen, so daß ich nicht mit zu verdienen brauchte. Aber unser +Junge ist ein heller Kopf. Da hab' ich mir gesagt: Der soll was Besseres +werden als seine Eltern, der soll auch mal wissen, wie schön und wie +reich die Welt ist, und nicht, wie wir, bloß durch so'n schmales +Guckloch ein Endchen von ihr zu sehen kriegen. Und nun gehe ich wieder +in die Fabrik, und der Fritze geht dafür aufs Gymnasium. Ich will mich +nicht rühmen, daß ich's tu', ich möcht' nur jeder raten, es ebenso zu +machen.« + +In jener Impulsivität, die ich so sehr an meinem Mann liebte, stand er +auf, um der tapferen kleinen Frau, die wieder ihrem Platz zuschritt, +die Hand zu drücken. Romberg dagegen sagte: »Meinen Sie, daß der +'Fritze' als Geistesproletarier glücklicher sein wird!?« »Auf das Glück +kommt es nicht an, sondern auf den Grad der sozialen Leistung, und die +wird größer sein, wenn seine Begabung zu ihrem Rechte kommt,« antwortete +ich rasch. + +Ein junges Mädchen trat an unseren Tisch. »Genossin Brandt?« forschend +sah sie mich an. -- »Die bin ich.« -- »Ich wollte Sie nur mal was +fragen. Ich bin nämlich Dienstmädchen gewesen und habe eine Freundin, +die noch Köchin is, und die hat mich neulich in den Dienerverein +mitgenommen, wo sie jetzt wollen auch die Mädchens aufnehmen. Sie +schimpfen aber dort alle gegen die Sozialen, und da wollt ich gern mal +wissen, ob Sie nich mal könnten hinkommen --« + +»Sie werden doch nicht!« flüsterte mir Romberg zu. »Verpflichte dich zu +nichts,« sagte mein Mann leise. + +»Selbstverständlich komme ich,« entgegnete ich der zaghaft vor mir +Stehenden; ihr Gesicht erhellte sich; wir verabredeten alles weitere. + +Beim Heimweg schalt mein Mann: »Du läßt dich von jeder beschwatzen, und +alle spekulieren schließlich auf deine Gutmütigkeit.« + +»Wenn diese kleine Begegnung zu einer Dienstbotenbewegung den Anlaß +gibt, so wirst du anders denken.« + +»Mir tut es in der Seele weh, wenn ich Sie in der Gesellschaft seh,« +meinte Romberg. Er sah mich mit einem Blick an, der mich erröten machte. +Wie töricht, -- dachte ich gleich darauf, zornig über die eigene +Schwäche, und doch blieb ich den ganzen Abend über im Bann jener +Frauenfreude, die belebend wirkt wie prickelnder Champagner: der Freude +an der Bewunderung. Alix von Kleve stieg aus der Versenkung ernster +Jahre empor und sonnte sich an altvertrauten Triumphen. In meinen +Verkehr mit Romberg trat ein neuer Reiz: er ließ es mich fühlen, daß das +Weib in mir ihn anzog und nicht nur die neutral-interessante +Persönlichkeit. Es gibt Frauen, die angesichts solcher Erfahrung die +Beleidigten spielen. Sie lügen. + +»Ich drehe dir den Hals um, wenn du dir von Romberg die Kur machen +läßt,« grollte Heinrich, als wir zu Hause waren, zwischen Scherz und +Ernst. Ich flog ihm in die Arme. »Hast du mich wirklich so lieb?« lachte +ich. Er zog mich stürmisch an sich: »Dich, dich hab' ich lieb,« +flüsterte er leidenschaftlich, »das süße Katzel, -- meinen Schatz; -- +die berühmte Frau kann mir gestohlen werden ...« + + * * * * * + +In der ersten Morgenfrühe weckte mich ein wilder Schrei. »Aus Minnas +Stube,« -- sagte ich mir und stürzte hinunter. Sie lag in ihrem Blut, +und als der Arzt kam, schwand mein letzter Zweifel: sie hatte gewaltsam +die Folgen ihres Liebesverhältnisses beseitigen wollen. + +An ihrem Krankenbett studierte ich die Dienstbotenfrage. Sie faßte +Vertrauen zu mir. Ich erfuhr von diesem armen Leben, das von Kindheit an +unter fremden Leuten in ständiger Unfreiheit, in ununterbrochener +Dienstbarkeit verflossen war. »Was muß unsereiner doch auch haben, -- +was fürs Herz. Und wenn ich nicht getan hätte, was er wollte, -- dann +wär' er fortgegangen, -- dann hätte er zehn für eine gefunden,« +schluchzte sie. + +»Warum heirateten Sie nicht?« wagte ich einmal einzuwenden. »Heiraten?! +Womit denn?! -- Arbeit hat mein Franz keine, -- meine paar Spargroschen +gab ich ihm, -- und vor so einer Jammerwirtschaft in einem Loch auf'n +Hof mit'n halb Dutzend Göhren graut's mich ...« Sie wurde von Tag zu Tag +elender. Ihr Franz fragte nur einmal nach ihr. Als er hörte, daß sie +krank sei, kam er nicht wieder. Ich mußte sie schließlich der schweren +Pflege wegen, die ihr Zustand nötig machte, ins Krankenhaus bringen. +Dort starb sie. + + * * * * * + +»Wir wollen die Harmonie zwischen Dienstboten und Herrschaften wieder +herstellen ...« -- »die Dienstboten allein können nichts erreichen, es +gehören auch die Herrschaften dazu ...« -- »den Arbeitern fehlt es heute +an tüchtigen Hausfrauen, weil die Mädchen lieber in die Fabrik als in +Stellung gehen, wo sie sich dazu vorbereiten könnten ...« Das waren die +Leitmotive, unter denen die Versammlungen tagten, die der Dienerverein +veranstaltete. Die wenigen weiblichen Dienstboten, die ihm schon +angehörten, schlugen zwar zuweilen eine schärfere Tonart an, wenn die +Erinnerung an all die erlittene Unbill sie überwältige, aber sie trugen +schwarzweiße Kokarden und verwahrten sich nachdrücklich dagegen, mit der +Arbeiterbewegung irgend etwas gemeinsam zu haben. + +Ich verhielt mich während der ersten Versammlungen nur als Zuhörerin +und erkannte bald, daß es dem Verein an Mitteln und Mitgliedern fehlte +und er offenbar nichts wollte, als durch Hinzuziehung weiblicher +Dienstboten diesem Übel abzuhelfen. Im Grunde fürchtete er schon, die +Geister, die er gerufen, nicht los zu werden, denn sobald ein Mädchen +ihre Erfahrungen gar zu rückhaltlos zum besten gab, trat irgendein +Beschwichtigungsapostel ihr entgegen. + +»Ich stelle den Antrag, daß wir uns der entstehenden Dienstbotenbewegung +mit allem Nachdruck annehmen,« sagte ich, als ich wieder einmal mit den +Genossinnen zusammenkam; »in jeder Versammlung müssen einige von uns +anwesend sein. Wir dürfen die Gelegenheit nicht vorübergehen lassen, um +diese rechtlosesten unter den Arbeiterinnen zum Bewußtsein ihrer Klasse +zu erziehen. Wir müssen so bald als möglich eine selbständige +Organisation gründen, damit sie dadurch dem Einfluß dieses +grundsatzlosen Vereins nicht unterworfen bleiben.« + +Aber je lebhafter ich sprach, desto kühler und zurückhaltender waren die +anderen. »Genossin Brandt scheint nicht zu wissen, daß die Dienstboten +kein Koalitionsrecht besitzen --,« meinte Martha Bartels naserümpfend. + +»Gerade weil ich das weiß, empfinde ich um so mehr unsere Verpflichtung, +ihnen zu helfen, ihnen das Rückgrat zu stärken,« entgegnete ich heftig. + +»Die Dienstmädchen sind noch längst nicht reif für unsere Bewegung, -- +überlassen wir sie ruhig sich selbst,« sagte eine andere. + +»Damit sie den Nationalsozialen in die Hände fallen, die ihre Netze +auslegen, wo immer sie einen Proletariermassenfang erwarten dürfen,« +antwortete ich, und unterdrückte noch rasch eine Bemerkung über die +Schädlichkeit dieses fatalistischen Glaubens an die Alleinseligmachung +der ökonomischen Entwicklung, der uns in geeigneten Momenten die Hände +in den Schoß legen läßt. + +»So werde ich denn allein mein Heil versuchen,« erklärte ich +schließlich, als mein Antrag abgelehnt wurde, und verließ die Sitzung. + +Von nun an fehlte ich in keiner Dienstbotenversammlung. Mit bunten +Sommerhüten und hellen Blusen füllten die während der Reisezeit der +»Herrschaften« dienstfreien Mädchen die glutheißen Säle. Zuerst kamen +nur die Gutgestellten, die Jungen, die Handschuhe trugen und zuweilen +vornehmer aussahen wie ihre »Gnädigen«. Sie betrachteten die Sache fast +wie eine Ferienlustbarkeit und kokettierten mit den Männern, die hier +auf Abenteuer ausgingen. Aber allmählich überwogen die älteren, die von +zehn und zwanzig und dreißig Dienstjahren erzählen konnten, und die +Armen, die Mädchen für Alles waren, auf deren schmale Schultern die gut +bürgerliche Hausfrau die Lasten des Lebens abzuwälzen sucht. Und ihre +Klagen wurden lauter, ihre Worte deutlicher; das Kichern und Lachen +verstummte vor den Bildern des Grams, die sich enthüllten. + +Es gab welche, die ihre Kolleginnen um den dunkeln Hängeboden über der +Küche beneideten, weil sie nichts hatten als ein Schrankbett auf dem +offenen Flur oder eine Matratze im Baderaum: »Dabei wird unsere gute +Stube nur zweimal im Jahre für die große Gesellschaft geöffnet ...« + +Ach, und die schmale Kost bei der harten Arbeit: »Eine Stulle mit +Schweineschmalz am Abend, -- während der Herr drinnen Rotwein trinkt zu +fünf Mark die Flasche ...« + +Vor allem aber: »Nie ein Stündchen freie Zeit ... Wir schrubbern und +kochen, während die Herrschaft spazieren geht, ... wir hüten die Kinder, +während sie tanzen ...« + +Dazwischen schüchterne Bitten der Ängstlichen und Gutmütigen: »Nur ein +wenig geregelte Arbeitszeit, -- und freundliche Worte statt des ewigen +Zanks, -- dann wollen wir gern dienen, wollen treu und fleißig sein.« + +Sie waren wie aufgescheuchte Vögel, die ohne Richtung hin- und +herflattern. Als ich zum erstenmal vor ihnen zu reden begann, hielten +sie mich für eine »Gnädige«. »Nu aber jeht's los!« rief kampflustig eine +rundliche Köchin. Alles lachte. Ich sprach von den Gesindeordnungen, den +Ausnahmegesetzen für die Dienstboten, die sie den Dienstgebern fast +rechtlos in die Hände liefern, von der erlaubten »leichten« körperlichen +Züchtigung, von den vielen Gründen zur Entlassung ohne Kündigung und +schließlich von einer jener Schöpfungen der preußischen Reaktion, die +den Streik der Dienstboten mit Gefängnis bestraft. Noch hörte man mir +ruhig zu, unsicher, was ich aus den Tatsachen folgern würde. Nur der +Vorsitzende, der stets aus eigener Machtvollkommenheit »das Hausrecht +übernahm«, sah beunruhigt zu mir auf. + +»Für Sie ist demnach die Zuchthausvorlage, die Deutschlands gesamte +Arbeiterschaft knebeln will, immer Gesetz gewesen,« rief ich laut. + +»Eine Sozialdemokratin!« kreischte neben mir eine Frau in hellem +Entsetzen. Ein unbeschreiblicher Lärm erhob sich; auf die Tische +sprangen die Mädchen in hysterischer Erregung, schrieen und winkten mit +den Taschentüchern; eine von ihnen drängte sich neben mich, ballte die +Fäuste und rief schluchzend: »Wir sind königstreu! Wir sind +gottesfürchtig!« Hilflos, mit angstgerötetem Gesicht schwang der +Vorsitzende unaufhörlich die Glocke. Aber in der nächsten Versammlung +erwarteten mich schon ein paar Mädchen an der Türe: »Sie werden +sprechen, nicht wahr? -- Wir werden Ihnen Ruhe verschaffen!« + +Und im überfüllten Saal waren außer den Dienstboten: Neugierige, +Hausfrauen, bürgerliche Frauenrechtlerinnen, Journalisten mit der frohen +Erwartung einer in möglichst vielen Zeilen zu beschreibenden Sensation. +Auch ein paar Genossinnen entdeckte ich: Ida Wiemer und Marie Wengs. +»Wir greifen ein, wenn's not tut,« sagten sie, »nur tapfer!« Bis um +Mitternacht ließ mich der Vorsitzende nicht zu Worte kommen. Ich ging im +Saal umher, von Tisch zu Tisch. »Das ist Recht und Freiheit im +Dienerverein,« sagte ich. Jemand rief: »Alix Brandt soll reden!« und der +Ruf pflanzte sich fort und dröhnte schließlich durch den Saal. Als ich +aber auf dem Podium stand, erstickte ihn ein zorniges Zischen; die Kraft +meiner Stimme kämpfte dagegen an, und wie ein Unwetter in der Ferne +verklang es. + +»Sie wollen eine Verbesserung der Gesindeordnung, als ob auf +verunkrautetes Feld frischer Samen gesät werden sollte. Es gibt nur eine +Forderung, die Sie stellen dürfen: ihre Abschaffung, damit Sie den +Arbeitern gleichgestellt werden --« + +»Wir sind keine Arbeiterinnen, -- wollen keine sein!« rief ein +zierliches Zöfchen mit gebrannten Stirnlocken entrüstet. + +»Sie predigen Harmonie zwischen Herrschaft und Dienstboten, und doch +gibt es zwischen ihnen ebensowenig eine Interessengemeinschaft wie +zwischen dem Arbeiter und dem Unternehmer --« + +»Unerhört!« -- Ein paar Damen mit hochrotem Gesicht drängten sich zur +Türe. Die Mädchen lachten hinter ihnen: »Sie können die Wahrheit nicht +vertragen!« + +»Je mehr Sie Maschinen sind, desto weniger Menschen sind Sie und desto +bessere Dienstboten im Sinne der Hausfrauen ... Sie wollen statt der +endlosen eine beschränkte Arbeitszeit, Sie tun recht daran. Aber die +Masse der Hausfrauen ist nicht in der Lage, statt eines, zwei und drei +Mädchen für dieselbe Arbeit anzustellen. Sie wollen statt einer +Schlafstelle ein Zimmer, das ihnen etwas wie ein Zuhause sein kann. Sie +tun recht daran. Aber bei der heutigen Einteilungsart der Wohnungen und +ihren hohen Preisen sind die meisten Frauen nicht imstande, sie Ihnen zu +geben. Sie wollen -- lassen Sie mich aussprechen, was Sie selbst noch +nicht ausgesprochen haben -- Sie wollen mit Ihren Freundinnen verkehren +können, Ihren Bräutigam sehen, ohne auf die Straße, auf die Tanzböden +gehen zu müssen --« + +»Unglaublich!« -- Und wieder leerte sich der Saal um zahlreiche elegante +Zuhörer. + +»Das ist Ihr gutes Recht. Und wer sich hier entrüstet gebärdet, den +frage ich: was empört sich in Ihnen? Ihre Sittlichkeit?! Ist es +sittlich, junge, lebensvolle Mädchen, die auf Freude dasselbe Recht +haben wie die höheren Töchter, denen die Natur dasselbe Verlangen nach +der Erfüllung ihrer Geschlechtsbestimmung verlieh wie diesen, auf +Hintertreppen, auf Schleichwege und zweifelhafte Balllokale anzuweisen, +statt ihnen den Schutz des Hauses zu verleihen ..?« + +Minutenlanger Beifall unterbrach mich. Dicht um das Podium scharten sich +junge Gestalten und leuchtende Augen hingen an meinen Lippen. + +»Es ist vielmehr der natürliche Egoismus, der Interessengegensatz der +Hausfrauen zu den Dienenden, der auch die Wohlwollenden unter ihnen +zwingt, fremden Gästen ihr Haus zu schließen ... Wir werden für die +Gegenwart eine Reihe von Forderungen an die Gesetzgebung im Interesse +der Dienenden zu stellen haben, deren Erfüllung viele Mißstände +beseitigen wird. Aber der Dienst des Hauses wird nur dann den Charakter +des Sklavendienstes verlieren und zur Würde selbständiger Arbeit sich +entwickeln, wenn das abhängige Dienstmädchen sich in die freie +Arbeiterin verwandelt hat, die ihre Arbeitskraft nur stundenweise +verkauft, die imstande ist, in Reih und Glied mit dem in der +Sozialdemokratie organisierten Proletariat für ihre letzten Ziele zu +kämpfen ..« + +Ich stieg in den Saal hinunter, umbraust von Beifallsrufen und +Schimpfworten. + +Von nun an hatte ich die Mehrheit auf meiner Seite. Die Versammlungen +wurden ruhiger, sachliche Beratungen der aufzustellenden Forderungen +wurden ermöglicht. + +Der Lärm tobte statt dessen außerhalb der Säle weiter. Die Presse schrie +nach der Polizei; Hausfrauenversammlungen nahmen geharnischte +Resolutionen an, durch die sich die Anwesenden verpflichteten, ihren +Dienstboten den Besuch unserer Zusammenkünfte zu verbieten. Alles war +von der Angst ergriffen, daß mit der Dienstbotenbewegung die Intimität +des Familienlebens der Sozialdemokratie ausgeliefert sei. Auf mich, die +ich diese Gefahr über die ruhigen Bürger heraufbeschworen hatte, +konzentrierte sich der persönliche Haß. In allen Tonarten wurde ich +beschimpft und verleumdet. Und selbst nahe Freunde, aufgeklärte, +freidenkende Menschen, sprachen mir mündlich und schriftlich ihre +Mißbilligung aus. Die ruhigsten Frauen gerieten dabei in +leidenschaftliche Erregung. + +»Der Kanal, in den Sie den Strom der Dienstbotenbewegung geleitet haben, +wird das 'traute Familienleben' überfluten. Was dann?!« schrieb mir +Romberg. + +Meine Mutter erfuhr durch die Zeitungen von den Vorgängen in Berlin. +»Immer wieder zerstörst Du durch die Maßlosigkeit Deiner Forderungen +ihren nützlichen Kern und machst Dir und Deiner Sache die +wohlwollendsten Menschen zu Feinden,« hieß es in einem Brief von ihr. +Tags darauf folgte ihm ein zweiter, dem ein Schreiben meiner augsburger +Tante beigelegt war. »Nach den unerhörten Vorgängen in Berlin bin ich +außerstande, an Alix persönlich zu schreiben. Ich habe sie bisher immer +verteidigt, habe ein Auge zugedrückt, wo ich konnte, aber ihre +unverantwortliche Aufhetzung der Dienstboten, -- denen es im Grunde nur +zu gut geht, -- werde ich weder verstehen, noch verzeihen können. Teile +ihr das in meinem Namen mit und sage ihr, was vielleicht nicht ohne +Eindruck auf sie bleiben wird, daß auch ihre alten Freunde, die +Grainauer Bauern, empört über sie sind ...« Ich lächelte unwillkürlich: +wenn ich von der Unfreiheit des Gesindes sprach, mußten sie sich +getroffen fühlen. + +Aber dann machte ich mir den Ernst der Sache klar: Ich hatte in Gedanken +an das reiche Erbe der Tante nie auch nur einen Bruchteil meiner +Überzeugungen preisgegeben, die Selbständigkeit meiner Entschließungen +war nie durch sie beeinflußt worden. Jetzt aber besaß ich einen Sohn, +dessen einzige Zukunftsaussicht vielleicht in Frage stand, -- seine +Eltern hatten nicht das Zeug dazu, Kapitalisten zu werden! -- und ich +wußte nur zu gut, was es heißt, unter dem Druck ständiger Sorgen zu +leben, ich ahnte, wie frei sich ein Mensch entfalten, wie ungehindert er +seine Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit stellen kann, der an das +Dach über dem Kopf, an den Rock auf dem Leib und das tägliche Brot +keinen seiner Gedanken zu verschwenden braucht. Ich schrieb an Tante +Klotilde und versuchte, ihr meine Stellung zur Dienstbotenfrage +auseinanderzusetzen. Ich bekam meinen Brief uneröffnet zurück. Meiner +Mutter teilte sie mit, daß sie das Geschehene vergessen wolle, wenn ich +nach dieser Richtung auf meine agitatorische Tätigkeit verzichten würde. + +In jenen Tagen erklärte Wanda Orbin in der 'Freiheit', daß die +Genossinnen verpflichtet seien, sich der Dienstbotenbewegung anzunehmen. +Wenn sie schon ohne besonderen Beschluß immer häufiger in den +Versammlungen erschienen, so war dies das Signal zur Änderung ihrer +Stellung der ganzen Sache gegenüber. Die Veranstaltung selbständiger +Versammlungen wurde beschlossen, und zur Rednerin wurde ich bestimmt. +Ich zögerte: verletzte ich nicht ein höheres Interesse, das meines +Sohnes, wenn ich zusagte? + +»Lege ihm die Frage vor, wenn er reif genug ist, sie zu verstehen,« +sagte mein Mann. »Wie er sie beantworten wird, kann ich dir jetzt schon +sagen: Meine Mutter darf niemandem, auch mir nicht, ihre Überzeugung +opfern.« + +Und ich sprach. Die Empörung in der Öffentlichkeit wuchs mit jeder +Versammlung. Mit einer gewissen Ostentation zogen sich die Menschen von +mir zurück. Aber die Bewegung war im Fluß und durch nichts mehr +aufzuhalten. Wäre ich weise genug gewesen, der fachliche Erfolg allein +hätte mich befriedigt. Aber noch war ich zu jung, war zu sehr Weib, um +den Menschen und den Ereignissen mit der kühlen Objektivität reifer +Politiker gegenüberstehen zu können. Im Grunde sehnte ich mich nach +einem warmen, aufmunternden Wort seitens meiner Kampfgefährten, nach ein +wenig freundlicher Anerkennung. Statt dessen begegneten sie mir stets +mit gleicher Kühle, mit gleicher Zurückhaltung. Zu keiner einzigen +entstand ein persönliches Verhältnis; je länger ich mit ihnen arbeitete, +desto fremder schien ich ihnen zu werden. + +»Ich bin aus Liebe zu euch gekommen, mit vollem Herzen und ganzer +Kraft,« hätte ich sagen mögen, »warum stoßt ihr mich zurück?« + +Ich kämpfte oft mit den Tränen, wenn ihr Mißtrauen mir immer wieder +begegnete. Und nachher hörte ich, daß man über meinen Hochmut, meine +Unnahbarkeit schalt. Im stillen hoffte ich, man würde mich diesmal zum +Parteitag delegieren, aber ich wurde nicht einmal dazu vorgeschlagen. +Martha Bartels sagte nicht ohne Betonung: »Wir bleiben natürlich dem +Grundsatz treu, nur bewährte Genossinnen mit einer Delegation zu +betrauen.« Darauf wurde die große, hagere Frau Resch gewählt; sie trug +schon seit Jahren unermüdlich Flugblätter aus, und ihr Mann war eine +Größe in der inneren Bewegung. + +»Was kümmerst du dich um die Weiber!« meinte mein Mann ärgerlich, als +ich ihm klagte. Und Ignaz Auer, der uns an einem schönen +Septembersonntag besuchte, wiederholte dasselbe. + +»Glauben Sie mir altem Knaster,« meinte er, und sein schönes blasses +Gesicht nahm jenen rätselhaften Ausdruck an, der aus Sarkasmus und +Melancholie zusammengesetzt war, »glauben Sie mir: solange ich denken +kann, war bei den Frauen stets derselbe Krakehl, und wenn ich schon +lange modere, wird's ebenso sein. Sie haben alle Untugenden der +Unterdrückten in konzentriertester Form, und schwingt man nicht, wie die +Wanda, ständig die Knute, so hat man verspielt. Seien Sie versichert: +schon Ihr Aussehen vergeben Ihnen die Weiber nie.« + +»Und doch sind Sie als Sozialdemokrat für die Gleichberechtigung der +Geschlechter?« wandte ich ein. Er wehrte ab, mit einer vollendet +geformten starken Männerhand, die aber durch ihre Blutleere an die eines +Toten gemahnte. »Ich werd's ja, gottlob, nicht erleben!« sagte er. »Nach +der Richtung hat die Wanda recht, wenn sie den Auer mit dem Bernstein, +den Schippel und den Heine in einen Topf wirft: ich bin mehr für die +Bewegung als für das Endziel.« So waren wir wieder bei dem Thema +angelangt, in das jede Unterhaltung zwischen Parteigenossen zu münden +pflegte. + +»Der Parteitag in Hannover wird eine Klärung bringen,« meinte ich im +Laufe der Unterhaltung. + +»Eine Klärung?!« Er lachte kurz auf. »Ich muß Genossin Bartels wirklich +recht geben: Sie sind noch nicht mandatsfähig! Glauben Sie wirklich, so +tiefgehende Meinungsverschiedenheiten, die auf Unterschieden des +Temperamentes, der Urteilskraft, der Bildung und der Lebenslage beruhen, +ließen sich durch bloßes Handaufheben entscheiden?! Wir werden sie auch +mit zehn Parteitagen nicht aus der Welt schaffen. Und wieder füge ich +hinzu: Gottlob nicht! Es wäre nur ein Zeichen von Altersschwäche, wenn +wir alle ja schrien. Die Hauptsache bleibt die Einigkeit im Handeln. Und +um die ist mir nicht bange, -- die zwingen uns unsere Gegner auf.« + +»Die Meinungsverschiedenheiten wären gewiß kein Unglück, wenn nicht die +Unduldsamkeit hinzukäme,« sagte mein Mann. + +»Auch die ist noch nicht das Schlimmste. Wenn wir die eigene Ansicht für +die richtige halten, so müssen wir doch konsequenterweise die falsche +des Gegners bekämpfen,« entgegnete Auer. »Nur daß der Andersdenkende +immer gleich als ein hundsgemeiner Kerl gebrandmarkt wird, -- das ist +bitter.« Er verabschiedete sich. Er fürchtete sichtlich, sich zu Klagen +und Anklagen hinreißen zu lassen. An der Gartentür blieb er stehen, ein +spöttisches Lächeln kräuselte seine Lippen: »Wenn Sie übrigens ein +Mandat haben wollen, Genossin Brandt, -- ich verschaff' es Ihnen. Die +liebe Wanda und ihre Leibgarde ein wenig zu ärgern, macht mir Spaß. Sie +müssen sich nur nachher zur Agitation in dem betreffenden Kreis +verpflichten.« Ich schüttelte den Kopf. Mir widerstrebte die Sache. + +»Nimm's an, Alix,« mahnte mein Mann, »so zeigst du am besten, daß du von +der Gnade der berliner Frauen nicht abhängig bist.« + +»Sie können's tun, -- ganz ohne Gewissensbisse. Sowas haben auch die +obersten Halbgötter nicht verschmäht.« Zögernd sagte ich zu. Es war mir +nicht wohl dabei, so sehr ich auch gewünscht hatte, einem Parteitag, und +vor allem diesem, beizuwohnen. + +Kurz ehe wir abreisten, kam meine Mutter zurück. Sie schien um ein +Jahrzehnt verjüngt. »Ich bleibe bei dem Kleinen, während ihr fort seid,« +sagte sie; »das wird mein bedrücktes Gewissen etwas erleichtern, -- nach +diesen selbstsüchtigen Monaten!« + +Wir mußten ihr nun auch von unserer Absicht, das Haus zu verkaufen, +erzählen. »Das ständige Hin- und Herfahren zerrüttet unsere Nerven,« +sagte ich leichthin, »ich müßte auf die öffentliche Tätigkeit +verzichten, wenn wir draußen bleiben wollten.« + +Sie sah von einem zum anderen in stummer sorgenvoller Frage. »Es ist +wirklich so, Mamachen --,« versicherte ich lächelnd. Sie schüttelte +fast unmerklich den Kopf und fragte nichts mehr. + + * * * * * + +Zwischen schmalen Gassen und engen Höfen, fern jenem modernen Teil der +Städte, der auch in Hannover ebenso elegant wie charakterlos ist, liegt +eine große dunkle Halle, der Ballhof genannt. Vor Zeiten warfen hier +Kurfürsten, Prinzessinnen und Könige einander im graziösen Spiel ihre +Bälle zu, bis mit schwerem Schritt und ernstem Gesicht einer kam, dem +Spielen fremd war: der Proletarier. Hellere Räume suchten die Fürsten +für ihre Freuden; er nahm für seine Arbeit, was sie übrig ließen: die +dunkle Halle. Mit frischem Grün waren ihre Pfeiler umwunden, hinter +purpurroten Fahnen verschwanden die alten schmucklosen Wände. Das +Parlament der Arbeiter tagte hier. Draußen lachte die Oktobersonne, +drinnen brannte über den langen Tafeln künstliches Licht, das auf alle +Gesichter scharfe Schatten zeichnete, sodaß sie finster und feindselig +erschienen. Dumpf hing die Luft im Raum; der Atem der Jahrhunderte war +hinter den winzigen Fenstern gefangen geblieben. Er beengte die Brust. + +Lange vor dem Beginn der Verhandlungen war der Saal schon gefüllt. +Anschwellendes Stimmengewirr, Stühlerücken, Rascheln von Papier, -- +jenem Papier, daß alle Süßigkeiten und alle Gifte der Welt auszuströmen +vermag, -- bildete die in ihren ungelösten Disharmonien aufreizende +Ouvertüre. Zeitungsblätter wurden hin- und hergezeigt: »Bernstein +Apostata« stand über dem einen Artikel, »Reinliche Scheidung« über +einem zweiten; »wir werden mit dem Revisionismus fertig werden, oder +wir sind fertig,« hieß es an einer rot angestrichenen Stelle, »die +Genossen im Reich erwarten eine klare Entscheidung,« an einer anderen. +Von der unausbleiblichen Spaltung der Partei sprachen frohlockend +bürgerliche Zeitungen; in linksliberalen Blättern begrüßten +Kathedersozialisten die Anhänger Bernsteins als die ihren. + +Bureauwahl. Es hörte kaum jemand zu. Paul Singer war anwesend, das +Präsidium also von vornherein in guten Händen. Die Begrüßungsreden der +Ausländer dämpften das Stimmengewirr im Saal. Frankreich, wo der +Dreyfus-Skandal noch im Mittelpunkt des Interesses stand, wo Millerand, +der Sozialdemokrat, mit Jaurès', des Sozialdemokraten, ausdrücklicher +Zustimmung das in den Augen der deutschen Radikalen unverzeihliche +Verbrechen begangen hatte, in das Ministerium einzutreten, -- Seite an +Seite mit Gallifet, dem Mörder der Kommune, -- war nicht vertreten. Des +alten Liebknecht heftige Angriffe auf die Genossen jenseits der Vogesen +mochte an dieser Zurückhaltung nicht ohne Schuld sein. + +Die Verhandlungen begannen. Mit ungeduldiger Hast wurde ein Punkt der +Tagesordnung nach dem anderen erledigt. Alles drängte dem Hauptthema des +Parteitages zu. Und selbst mitten in die nebensächlichsten Debatten +hinein blitzte schon das Wetter der kommenden Tage. + +»Sie stehen bereits mit der Brandfackel an unserem Scheiterhaufen --,« +sagte einer der Revisionisten neben uns. + +Am Abend, als wir Frauen zu einer internen Besprechung zusammenkamen, +fühlte ich: in Gedanken war die »reinliche Scheidung« schon vollzogen. +Wir berieten einen Antrag für den Arbeiterinnenschutz, der unserer +nächsten agitatorischen Tätigkeit Inhalt und Richtung geben, und dessen +Forderungen durch den Parteitag sanktioniert werden sollten. Im Grunde +waren es lauter Selbstverständlichkeiten. Nur der Schutz der Schwangeren +war neu. Ich hatte dafür gekämpft, obwohl ich wie vor einer Mauer redete +und sie hatten ihn nicht ablehnen können, ohne sich selbst ins Gesicht +zu schlagen. Dafür waren sie um so hartnäckiger, als ich die +Unterstellung der Dienstboten unter die Gewerbeordnung in den Antrag +aufzunehmen empfahl. Das steht bereits in unserem Programm, hieß es. +Aber viele unserer anderen Forderungen standen auch darin. Und gerade +jetzt wäre es wichtig gewesen, uns offiziell mit der Dienstbotenbewegung +solidarisch zu erklären. »Wir dürfen unsere Kräfte nicht verzetteln.« -- +Damit war die Sache abgetan. + +Die Frauen rückten nach der Besprechung freundschaftlich zueinander, +unterhielten sich mit wohltuender Herzlichkeit mit all den Genossinnen, +die aus Ost und West hierher gekommen waren; mich streifte zuweilen ein +scheuer Gruß, ein fremder Blick; -- ich ging hinaus. + +In unserem Gasthof fand ich die Führer in erregte Unterhaltung vertieft. +Ihre Augen glühten in jugendlichem Feuer, selbst die Ausbrüche ihrer +Leidenschaft bändigte der heilige Ernst, mit dem sie alle für ihre Sache +kämpften. Bebel war am stillsten; immer wieder strich er sich nervös die +widerspenstige Locke aus der Stirn; auf ihm lastete die Verantwortung +der kommenden Tage. + + * * * * * + +Kalt und grau brach der nächste Morgen an. Im Ballhof kämpften die +elektrischen Lampen umsonst gegen das Dunkel; es hockte um so deutlicher +hinter den Pfeilern und zwischen den Tischen, je heller in ihrem +direkten Strahlenkreis das Licht erschien. Nur langsam füllte sich heute +der Saal, und nur wenige Stimmen wurden laut. Ein gemessener Ernst lag +auf allen Gesichtern und eine zweifelvolle Erwartung. Singer betrat das +Podium: + +»... zur Verhandlung steht Punkt 4 der Tagesordnung: 'Die Angriffe auf +die Grundanschauungen der Partei'. Das Wort hat der Berichterstatter +Genosse Bebel.« Noch ein heftiges Stühlerücken, dann tiefe Stille. + +Bebels Stimme allein beherrschte den Raum. + +Im Gesprächston begann er, ruhig, fast gemütlich. Jeder Zuhörer fühlte +sich unwillkürlich persönlich angeredet. Selbst als er die unbeschränkte +Freiheit der Kritik an den eigenen Grundanschauungen als die Lebenslust +der Partei bezeichnete, warf er den Satz nicht wie einen Fehdehandschuh +in die Menge, sondern sprach im Tonfall der Konstatierung einer +Selbstverständlichkeit. Die Fragen der materialistischen +Geschichtsauffassung, der Dialektik, der Werttheorie schaltete er von +vornherein aus, -- »der Kongreß ist kein wissenschaftliches Konzil,« +sagte er, -- um zum Problem des Entwickelungsprozesses der +kapitalistischen Gesellschaft überzugehen, das Bernstein anders +darstellte als Marx und Engels. Eine Fülle statistischer Berechnungen +schüttete er vor uns aus, um Bernsteins Ansichten zu entkräften, um +festzustellen, daß das marxistische Dogma von der Zuspitzung der +wirtschaftlichen Gegensätze, von der relativen Verelendung des +Proletariats noch unerschüttert ist. + +Und angesichts der verwirrenden Masse des Materials, an der die große +Menge den Grad der Wissenschaftlichkeit mißt, wie sie an der Häufigkeit +der Zitate den Grad der Bildung zu messen pflegt, ging ein Flüstern +staunender Bewunderung durch die Reihen, das sich in einem »sehr +richtig«, einem »hört, hört« wieder und wieder Luft machte. + +Bebels Stimme schwoll an, seine Bewegungen wurden lebhafter, seine +kleine Gestalt reckte sich. Er malte die Not des Proletariats. Die +grollende Leidenschaft dessen, dem das Elend Auge in Auge +gegenübertritt, zitterte in seinen Worten, und klein und jämmerlich +erschien dagegen, was Bernsteins nüchterne Schreibstubenweisheit von der +gebesserten Lage des Arbeiters zu berichten gewußt hatte. + +Wie der peitschende Ostwind über die Baumwipfel, so wehte seine Rede +über die Köpfe. Und sie neigten sich gedankenschwer, sie wandten sich +einander zu; sie hoben sich wieder, von einem Wort, das sie traf, +emporgerissen. Da und dort stand einer auf, wie magnetisch angezogen von +dem, der sprach. Eine dunkle Gruppe Menschen umringte die Rednertribüne. + +Auf einmal aber war es der Wind nicht mehr, der in den Ästen rauscht, -- +es war der Sturm. Die jugendstarke Kraft des Revolutionärs, die +begeisterte Schwärmerei des Glaubenshelden donnerte und brauste in den +Worten des Agitators. All der zaghafte Pessimismus, all der unschlüssige +Zweifel, all die resignierte Bedenklichkeit, mit denen Bernstein die +Seelen belastet hatte, flog vor ihnen davon wie Spreu und Staub. Und wie +der Geisterbeschwörer aus dem Nebel Gestalten entstehen läßt, so +entwickelte sich unter dem Zauberstab des Redners die Erscheinung des +alten Marx. War er es wirklich? Seltsam, -- uns allen, die wir +aufmerksam zusahen, kam es vor, als habe Bernstein manche Farben zu +diesem Bilde gemischt. Was Bernstein wider ihn gesagt hatte, das nahm +Bebel für ihn in Anspruch: Die Elendstheorie hat an den Tatsachen +Schiffbruch gelitten, sagte Bernstein, -- nie hat Marx sie im Sinne des +absoluten Niederganges aufgefaßt, erklärte Bebel; der Hinweis auf die +Erlöserkraft der Revolution ist vom Übel, sagte Bernstein, -- auf die +Evolution hat Marx schon das größte Gewicht gelegt und niemals das Heil +im Straßenkampf gesehen, erklärte Bebel. Und während er sein +Feuerschwert gegen all die zückte, die vor lauter Wenn und Aber den +rücksichtslosen Kampfmut einzubüßen im Begriffe standen, traf es auch +die Inquisitoren, die ihn besaßen, aber auf die Ketzer im eigenen Lager +zielten. + +Die Menge, die sich zuerst auseinandergerissen wie Steine von einem +Felssturz vor ihm ausgebreitet hatte, -- jeder die scharfe Kante +feindselig wider den anderen gekehrt, -- schien wieder ein Marmorbruch, +aus dem er planvoll gewaltige Quadern schlug, die sich zu Grundmauern +zusammenschließen ließen. + +Fünf Stunden sprach er schon. Nun wich der Sturm seiner Rede wieder dem +ruhigen Gesprächston; sich selbst zurückgegeben, atmete die Menge tief +und gesättigt auf. Noch einmal, wie der letzte ferne Donner des +Gewitters, hob sich seine Stimme in ungeschwächter Kraft: »Unsere +Grundanschauungen sind nicht erschüttert, -- wir bleiben, was wir +waren --.« Tobender Beifall verschlang den Schluß. + +Minutenlang stand der nächste Redner, Eduard David, an Bebels Stelle, +ehe seine Stimme den Lärm durchdrang. »Ich habe den Mut, auch nach +Bebels Referat, Bernstein in seinen Anschauungen zuzustimmen,« sagte er. +Irgendwo zischte jemand, aber der Respekt vor dem ehrlichen Bekenntnis +unterdrückte rasch jeden Laut des Mißfallens. Kühl, fast nüchtern sprach +er; wer ihn auch nicht kannte, empfand: er kam mitten aus der Praxis des +politischen Gegenwartslebens, er stand nicht mehr im Bann der Tradition +der Sekte mit ihrer Geheimbündelei, ihrem Märtyrertum, ihrer +Glaubensseligkeit. Er ließ das grelle Licht des Tages auf die durch +Bebel beschworene Geistererscheinung von Marx fallen, und hinter ihr +stand der lebendige Bernstein. Wo Bebels Leidenschaft Gegensätze +verwischt oder sein Zorn die Ansichten des Gegners niedergetrampelt +hatte, da malte er sie groß und deutlich, wie der Lehrer die +Rechenaufgaben vor der Klasse auf die schwarze Tafel. Keiner, der nicht +blind war, konnte sich ihnen verschließen. Und er rief in die +Wirklichkeit zurück, wo Bebel uns auf den Flügeln seiner Phantasie in +die Zukunft getragen hatte. »Die höhere prinzipielle Bewertung der +Gegenwartsarbeit, -- das ist es, was Bernstein uns gibt, und das ist +mehr wert, als was er uns genommen hat,« erklärte er und verkündete +gegenüber der einseitigen Betonung des Kampfs um die politische Macht -- +als des einzigen Mittels, den Sozialismus zum Siege zu führen -- die +Dreieinigkeit der gewerkschaftlichen, der genossenschaftlichen, der +politischen Bewegung, die durch tägliche Arbeit dem Sozialismus einen +Fußbreit Erde nach dem anderen erobern. + +Nun erst war der Kampfplatz abgesteckt. Der Alltagsausdruck trat an +Stelle der Begeisterungsglut, die Bebels Rede angefacht hatte, auf die +Gesichter, und über die Geister herrschten wieder, an Stelle des großen +einigenden Gedankens, all die Streitpunkte der praktischen Politik. + +Durfte ich mich deshalb dem Gefühl des Bedauerns überlassen, das mich +momentan überwältigt hatte? Entsprang nicht jenes instinktive Festhalten +an den überkommenen Anschauungen jener Schwerkraft des menschlichen +Geistes, die sich von je im Dogmatismus, im Konservativismus, wie in +Denkfaulheit und Bequemlichkeit geäußert hat? Wir, die wir Vorkämpfer +sein wollten, waren verpflichtet, sie zu überwinden. + +Bewegte Tage kamen, ein Kampf, der nicht immer ein Kampf der Meinungen +blieb. Und das »Kreuzige!« tönte am lautesten vom Munde der Frauen. +Wanda Orbin kreischte es in den Saal hinein; Luise Zehringer, die +Hamburger Zigarrenarbeiterin, wiederholte es; eine kleine polnische +Jüdin, die eben erst in die deutsche Partei eingetreten war, kritisierte +mit der Sicherheit einer Parteiautorität die Ansichten und Handlungen +bewährter Führer. Und die Masse klatschte ihr Beifall. »Sehen Sie, -- +das ist eine Politikerin,« sagte ein Journalist, »je respektloser sie +die Auer und Vollmar und Bernstein abkanzelt, desto sicherer ist ihr +Erfolg.« + +Immer deutlicher sonderten die Parteien in der Partei sich voneinander +ab; über dem tiefer und tiefer wühlenden Streit vergaßen auch die +Leichtsinnigsten die Vergnügungen des Abends; Sitzungen wurden statt +ihrer abgehalten. Es gab dabei Augenblicke, in denen es schien, als +würden die Radikalen vor dem äußersten nicht zurückschrecken. Die +uneingeschränkte Anerkennung des Parteiprogramms wollten sie fordern, +wie der orthodoxe Priester den Schwur auf das Apostolikum. Und jeder +begann im stillen die große Abrechnung mit sich selbst. + +Zum ersten Mal kam mir zum Bewußtsein, was all die Jahre hindurch die +unbekannte Quelle meiner Kämpfe und Schmerzen gewesen war: die Sache +forderte den ganzen Menschen restlos, ich aber wollte im Kampfe für sie +ich selber bleiben. Und zu gleicher Zeit schien mir, als ob zuletzt kein +anderes als dies Problem all den Kämpfen, die wir führten, zugrunde lag. + +»Warum bist du so stumm?« fragte mein Mann, als wir in der Mittagspause +zusammensaßen. + +»Weil ich anfange zu fürchten, daß ich kein Recht habe, Genosse zu sein. +Ich bin ja auch kein Christ --.« Verständnislos, ein wenig erschrocken, +als zweifle er einen Augenblick an meinen gesunden Sinnen, sah Heinrich +mich an. Ich legte meinen Arm in den seinen. »Hab keine Angst, Liebster, +-- ich dachte niemals klarer als jetzt! Hingabe an den Willen Gottes bis +zur Selbstentäußerung fordert das Christentum, Hingabe an den Willen +der Massen der Sozialismus. Ob es zwischen dieser Forderung und dem +Persönlichkeitsrecht eine Brücke gibt, das weiß ich im Augenblick +ebensowenig, als wir es in der Partei wissen.« + +»Deine Formulierung ist falsch, ganz und gar falsch,« entgegnete +Heinrich erregt, »nicht an den Willen, sondern an das Wohl der Massen +wird die Hingabe verlangt.« + +»Und doch verlangt Ihr als etwas Selbstverständliches das Opfer der +Überzeugung,« unterbrach ich ihn. + +Wir traten in den Saal. Mit einer fiebrigen Nervosität, die alle +ergriffen hatte und manche jener robusten sehnigen Arbeitergestalten +tragikomisch erscheinen ließ, rissen die Delegierten den austeilenden +Ordnern die neuen Drucksachen aus der Hand. Es war Bebels Resolution in +neuer Fassung. Wir verglichen. + +»... Nach alle diesem liegt für die Partei kein Grund vor, ihr +Programm ...« las ich. »Jetzt heißt es: 'ihre Grundsätze und +Grundforderungen' zu ändern« las Heinrich, »damit können wir uns ohne +weiteres einverstanden erklären,« fügte er hinzu, und mit einem +lächelnden Blick auf mich: »Du siehst, die Klippe tragischer Konflikte +ist glücklich umschifft.« + +Auer kam an uns vorüber. In seinem Gesicht wetterleuchtete es. »Jetzt +werde ich ihnen einmal zum Tanz aufspielen,« sagte er in grimmigem +Scherz. Dabei sah ich, wie seine Finger sich zur Faust zusammenzogen. +Von allen Seiten, schriftlich und mündlich, direkt und indirekt war er +angegriffen worden. Er, der sich zur Bernsteinfrage in der +Öffentlichkeit überhaupt nicht geäußert hatte, galt als der eigentliche +und der gefährlichste Führer der Revisionisten, als der Abtrünnige. + +Die Luft im Saal war immer schwerer geworden. Oder war es nur die +gesteigerte Reizbarkeit der Nerven, die sie so empfand? Irgendeine +Entladung mußte kommen. Mit Naturnotwendigkeit schien jeder Redner die +Gegensätze ins Absurde steigern, den Gegner bis zur Lächerlichkeit +herabsetzen zu müssen. Die Zuhörer wurden unruhiger. Man ging ab und zu, +man unterhielt sich. + +Da betrat Auer die Tribüne. Mit dem leisen Spott der Überlegenheit um +die Lippen sah er über die Menge hinweg. Dann kam die Abrechnung. +Unwillkürlich senkten sich alle Köpfe vor diesem gewaltigen Ausbruch +eines feuerbergenden Kraters. Eine öffentliche Anklage war es, und am +Pranger standen alle, die den befreienden Streik der Gedanken in ein +lähmendes Gezänk um Personen verwandelt hatten. Und eine Verteidigung +war es, -- eine Verteidigung des Mannes, den dieselbe Partei, um +deretwillen er aus dem Vaterland verbannt worden war, des Verrats +bezichtigte; -- aber auch eine Verteidigung seiner selbst, des in der +jahrzehntelangen Parteiarbeit aufgeriebenen Kämpfers. Seine breiten +Hände, -- bestimmt, einen Hammer zu führen oder ein Schwert, -- +umklammerten, zuweilen krampfhaft zuckend, den Rand des Rednerpults. Sie +waren am Schreibtisch, in der eingeschlossenen Bureauluft weiß geworden. +Das stolze Germanenhaupt, dem ein Ritterhelm gebührte, sank leise nach +vorn. Die Sorgen der Partei lasteten schwer auf ihm. Das Antlitz, das +auf den Bergen seiner Heimat, der Sonne am nächsten, braun und rot sich +hätte färben müssen, war grau und fahl. Durchwachte Nächte sprachen aus +seinen Augen. + +Gereizte Zurufe unterbrachen ihn, -- zu wuchtig fielen seine Schläge. +Und seine Stimme, durch hunderte von Reden, hunderte von +Agitationsreisen abgenutzt, drohte zu versagen. Noch eine die Luft +durchschneidende Bewegung mit der Hand, als wolle er ausstreichen, was +sich doch unauslöschlich seiner Erinnerung eingeprägt hatte, noch ein +Witz, den er in die Masse warf, wie der Tierbändiger einen Knochen +zwischen die Tiger, und der Strom seiner Rede erreichte in ruhigem Fluß +sein Ziel. + +Die Resolution Bebel wurde angenommen, nur ein kleines Häuflein +Unentwegter, die noch immer ihr »Kreuzige!« schrieen, stimmte dagegen. + +»... Auch auf diesem Parteitag hat es sich gezeigt, daß die Partei über +ihre Grundsätze und ihre Taktik einheitlich denkt und auch fernerhin in +voller Einmütigkeit handeln wird ...,« sagte Singer zum Schluß. Die +Arbeitermarseillaise brauste durch den Ballhof. Hörte niemand die +Dissonanz? Es waren nicht die Geister der Vergangenheit, die +Prinzessinnen, die Kurfürsten und die Könige, die sie hervorriefen. Es +war der Geist der Zukunft. + + * * * * * + +Müde und erschöpft reisten wir heimwärts. Es dämmerte, als wir vom +Bahnhof zum Grunewald fuhren. Wie herrlich die Stille war in den breiten +Alleen! Wie erfrischend der Duft der Kiefern den heißen Kopf umstrich! +Statt der vielen Menschenstimmen nur ein abendlich-süßes +Vogelgezwitscher! Wer doch im Walde bleiben könnte! -- + +Mit jenem feinen Taktgefühl, das auf dem Baume alter Kultur eine der +köstlichsten Früchte ist, hatte meine Mutter, kurz ehe wir ankamen, das +Haus verlassen. So konnten wir uns ungeteilt am Wiedersehen mit unserem +Jungen freuen. Mir schien, als wären wir Wochen statt Tage weg gewesen: +war er nicht viel größer und viel klüger geworden? Und wie entzückend +ringelten sich die blonden Löckchen um den breiten Schädel! In +übersprudelndem Eifer mußte er alles erzählen, alles zeigen. Seinen +Bauernhof packte er vor mir aus, nahm die Bäume und rief: »Nu laufen sie +zu dem lieben, duten Mamachen!« »Aber Bäume laufen doch nicht!« meinte +ich. Darauf nickte er altklug mit dem Köpfchen und sagte: »Doch, Mama; +in der Elektrischen, da laufen die Bäume.« Und als er zur Feier des +Tages mit uns zu Abend gegessen hatte, rutschte er geschickt von seinem +hohen Stühlchen, stellte sich breitbeinig vor uns hin und rief: »Ich bin +satt!« Das erste »Ich«! -- Lachend schloß ich ihn in die Arme: Nun war +mein Kind ein Mensch geworden. Alle Probleme der Welt verschwanden mir +wieder angesichts dieses Wunders. + +Am nächsten Morgen saß ich am Schreibtisch und rechnete. Die Angst +trieb mir Schweißtropfen auf die Stirn: schon das nächste Vierteljahr +würden wir die Zinsen nicht zahlen können. Wie hatte ich als Mädchen +gezittert, wenn die Rechnungen kamen, die der Mutter Tränen erpreßten! +Es war das reine Kinderspiel gewesen im Vergleich mit meiner Situation. +»Mach dir doch keine Sorgen, ehe das Unglück da ist,« sagte mein Mann +ärgerlich, als er sah, wie verstört ich war. + +Ich wurde krank. Die alten unausbleiblichen Schmerzen, die jede Erregung +zur Folge hatte, stellten sich mit erschreckender Heftigkeit wieder ein. +Und abends, wenn ich todmüde in die Kissen sank, klopfte mir das Herz +bis zum Halse herauf. Ich war genötigt, ein paar Versammlungen +abzusagen. Ich war froh darüber: in einem Zustand geistiger und +körperlicher Erschlaffung verbrachte ich meine Tage. + +»Wir haben einen Käufer!« mit der Botschaft überraschte mich mein Mann +eines Morgens. Ich zweifelte noch. Aber bald darauf kam er selbst, und +in wenigen Tagen war der Kauf abgeschlossen. + +»Siehst du nun ein, wie töricht es war, sich zu fürchten?« sagte +Heinrich. Beschämt senkte ich den Kopf. »Ich will in Zukunft mutiger +sein,« versicherte ich. + +Schon im Januar sollten wir das Haus verlassen. Dann wollen wir von +vorne anfangen, dachte ich, und begann eifrig nach einer bescheidenen +Wohnung zu suchen. + +Bin ich erst in Ruhe, so werde ich auch gesund werden, sagte ich zu mir +selbst, wenn die Schmerzen nicht weichen wollten und das Herz mich nicht +schlafen ließ. + + * * * * * + +Eines Abends nahm ich wieder an einer Sitzung der Genossinnen teil. Wie +die Befreiung von den persönlichen Sorgen mich aus der Erstarrung +aufgerüttelt hatte, so elektrisierten mich jetzt die politischen +Vorgänge wieder. Das Zuchthausgesetz war endgültig begraben worden, aber +trotz aller gegenteiligen Versicherungen drohte eine neue gewaltige +Flottenvermehrung. + +»Unter den Waffen schweigen die Musen,« erklärte ich, als wir die +Aufgaben besprachen, die der kommende Winter uns stellte, und einige der +Frauen den Arbeiterinnen-Bildungsverein und seine Veranstaltungen in den +Vordergrund schieben wollten. »Wir müssen unsere Kräfte konzentrieren: +auf die beschlossene Agitation für den Arbeiterinnen-Schutz und auf den +Kampf gegen die neue Volksausbeutung.« + +»Wenn wir so sicher wie stets auf Genossin Brandts wertvolle +Unterstützung rechnen können, wird der Sieg uns nicht fehlen,« spottete +Martha Bartels und berichtete dann, wie ich durch die kürzlich +»angeblich« wegen Krankheit erfolgten Absagen die Sache geschädigt +hätte. + +»Unsichere Kantonisten können wir nicht brauchen,« sagte Frau Resch, die +seit ihrer Delegation nach Hannover sehr selbstbewußt geworden war. + +Während ich antwortete, drückte ich die Hand krampfhaft in die Seite, wo +die Schmerzen wühlten, und suchte, tiefatmend, die wilden Schläge +meines Herzens zu beruhigen. Aber trotz meiner Verteidigung, setzte der +Zank sich fort. Und plötzlich war mir, als drehe sich das Zimmer um +mich --, ohnmächtig brach ich zusammen. Als ich zu mir kam, übersah ich +mit einem einzigen Blick die Situation: Ida Wiemer hielt mich +umschlungen, auf ihren Zügen lag ein Schimmer aufrichtiger Teilnahme; +aber steif und unbeweglich saßen alle anderen um den Tisch, die Augen +auf mich gerichtet, voll Hohn und Spott, voll Kälte und Mißtrauen. Ein +eisiger Schauer lief mir über den Rücken. Ich preßte die Zähne zusammen +und erhob mich. In dem Augenblick kam mein Mann. Der Kellner hatte mich +fallen sehen und ihn, der im Restaurant auf mich wartete, +benachrichtigt. Auf seinen Arm gestützt, verließ ich das Zimmer. Niemand +erhob sich. Niemand sagte mir Lebewohl. + +Wir fuhren noch in der Nacht zum Arzt. Er machte ein bedenkliches +Gesicht. »Ein paar Monate im Süden, und Sie können genesen,« sagte er. +Ich empfand seinen Bescheid wie eine Erlösung. Fort, -- weit fort, wo +ich Ruhe finden, wo ich wieder zu mir selber kommen würde! + +Wir entschieden uns für Meran. Der Überschuß, der uns vom Kaufpreis des +Hauses bleiben würde, ermöglichte die Reise. Mein Kind nahm ich mit. Und +eine große Kiste mit Büchern und Manuskripten. »Nun werde ich ungestört +meine 'Frauenfrage' vollenden können,« sagte ich hoffnungsvoll. + +»Wenn der Arzt dir das Arbeiten erlaubt,« meinte mein Mann und sah dabei +traurig drein. »Ich werde ihn nicht erst fragen,« lachte ich; »Arbeit +ist für mich die beste Medizin.« + + * * * * * + +Silvester 1899 kamen Erdmanns mit der Mutter zu uns. Als es Mitternacht +schlug, rissen wir alle die Fenster auf und riefen ein schallendes +»Prost Jahrhundert!« in die sternhelle Nacht hinaus. Da war keiner, dem +das Vergangene nicht wie ein Alp von der Seele gefallen wäre. Und unsere +Hoffnungen waren riesenstark. Nur die Mutter sah sorgenvoll von einem +zum anderen: zu Erdmann, dessen eingesunkene Brust nach jedem lauten +Wort trockener Husten erschütterte, zu Ilse, deren Blicke halb +ängstlich, halb verschüchtert an ihrem Gatten hingen, zu uns, von deren +Kämpfen sie manches ahnen mochte. + +Schatten gingen um. Ich mußte sie bannen. Aus dem Bettchen droben, wo es +mit heißen Wangen schlief, nahm ich mein Kind und trug es hinunter. Im +Licht der Lampen schlug es die strahlenden Augen auf. Ich hatte es +jubelnd emporheben wollen, nun aber drückte ich es zärtlich ans Herz und +flüsterte leise, ganz leise, damit die anderen nichts hörten: »Dein ist +das Jahrhundert.« + +Wenige Tage später schloß sich die Pforte des grauen Hauses hinter uns. +Die Wipfel der Kiefern bewegten sich leise über dem Dach. Schwarz +standen ihre Stämme vor den blumenlosen Fenstern. In jubelnder Vorfreude +auf die Reise warf mein Junge keinen einzigen Blick zurück. So wollte +auch ich nur vorwärts sehen. + + + + +Zehntes Kapitel + + +Ein eisiger Wind pfiff aus dem Passeier Tal über Meran; die +Schneeflocken fielen so dicht, daß es aussah wie lauter weiße Schleier, +die der Winter, mißgünstig, einen nach dem anderen der Natur vor das +schöne Antlitz zog. Und ich war mit der ganzen Sonnensehnsucht des +Deutschen, der jenseits des Brenners zu jeder Jahreszeit blauen Himmel +und blühende Bäume erwartet, gen Süden gefahren! + +»Du hast mir das Sommerland versprochen, -- ich will ins Sommerland --,« +weinte mein Bübchen, als es am ersten Morgen aus dem Fenster unseres +kleinen Zimmers in die weiße Welt hinaussah. Während ich ihn durch +lauter Hoffnungen zu beruhigen suchte, fröstelte auch mich. + +Das Sanatorium »Iduna«, das westlich von Meran einsam zwischen Wiesen +und Obstbäumen lag, war uns empfohlen worden. »Es nimmt nur eine +beschränkte Anzahl von Patienten auf, bewahrt daher den Charakter eines +behaglichen Privathauses,« hieß es im Prospekt. In Wirklichkeit war's +ein altes Landhaus, das, wie so viele seinesgleichen im Süden, mit +dünnen Wänden und zugigen Fenstern den Winter zu ignorieren schien. Ein +paar eiserne Ofen strahlten stundenweise rotglühende Hitze aus, um dann +wieder kalt, schwarz und feindselig dazustehen, als freuten sie sich des +grausamen Spiels mit den armen Bewohnern. + +Ich hatte nicht schlafen können: der Wind rüttelte an den Fenstern, mein +Sohn warf sich unruhig in dem ungewohnten großen Bett hin und her, und +ein hohler Husten, nur von stöhnenden Seufzern unterbrochen, klang aus +dem Zimmer unter uns unaufhörlich zu mir empor. Müde und abgespannt ging +ich zum Frühstück in den Eßsaal, -- einer verglasten Veranda, durch +deren breite Fenster der Winter von allen Seiten hereinsah. In der Mitte +stand der lange schmale weißgedeckte Tisch, darauf in nüchterner +Regelmäßigkeit Reihen weißer Teller und Tassen. Eine Frau saß daran in +schwarzem Kleid mit vergrämten Zügen, neben ihr im Rollstuhl ihr blasser +Mann, finstere, gerade Falten auf der Stirne, -- einer jener Kranken, +die hoffnungsloses Leiden böse gemacht hat, -- ihm gegenüber am +äußersten Ende der Tafel ein schmalbrüstiger Jüngling, dessen Antlitz +nur noch mit der Haut bespannt schien, -- einer fahlen, graugelben --. +Ich zögerte an der Schwelle, mir grauste vor dem Bilde, in dem alle +Farben des Lebens erloschen waren. + +Da sprang mein Kind an mir vorbei, im feuerroten Kleidchen, mit frischen +Wangen und glänzenden Augen. Und der ganze Raum war erhellt. Ein +freundliches Lächeln spielte um die blutleeren Lippen des Jünglings; die +Falten auf der Stirn des Gelähmten glätteten sich, nur die Frau im +schwarzen Kleid wandte wie verletzt den Kopf zur Seite. + +Ich wäre am liebsten wieder fortgezogen. Aber ich war viel zu müde, +viel zu apathisch dazu. Der Arzt, ein gütiger alter Mann mit weichen +Frauenhänden, versprach mir ein anderes Zimmer mit einem Balkon nach +Süden. »Das unter Ihnen,« sagte er, »der Herr reist ab --,« dabei +verschleierten sich seine hellen Augen. Dann gab er mir +Verhaltungsmaßregeln. »Meine wichtigste Verordnung ist: ein +Kindermädchen. Sie müssen Ruhe haben, -- Tag und Nacht, der Bub dagegen +soll sich tüchtig Bewegung machen,« begann er. + +Ruhe, -- schon das Wort war wie einlullendes Streicheln. Am nächsten +Tage brachte er mir ein hübsches, brünettes Landmädchen, das mir gefiel; +sie zog mit dem Kleinen, der sich an die lustige Gefährtin rasch +gewöhnte, in das Zimmer nebenan. Nun erst fühlte ich, wie krank ich war: +den ganzen Tag lag ich still, und bewegungslos wie mein Körper waren +Gedanke und Gefühl. Auch meine Umgebung störte mich nicht mehr; -- wenn +ich nur mein Bett hatte und meinen Liegestuhl. + +»Nun wird er bald abreisen,« sagte der Arzt eines Tages und drückte mit +der Spitze des Zeigefingers in den Augenwinkel, als sei ihm ein +Staubkörnchen hineingeflogen. + +»Dann soll ich hinunter?« fragte ich und dachte entsetzt an die Mühe des +Umräumens. »Ja,« meinte er, »denn nun es täglich wärmer wird, müssen Sie +in der Sonne liegen.« »In der Sonne?!« Ich lächelte ungläubig. Seit +einer Woche hatte der Schnee sich in Regen verwandelt. + +Die Nacht darauf kam ich nicht zur Ruhe. Ich warf mich im Bett hin und +her, und plötzlich wußte ich, was mir fehlte: der regelmäßige Husten +unter mir war verstummt; die Stille lastete auf mir, die unheimliche +Stille. Bald danach war mir, als gingen Gespenster um: das huschte im +Haus auf leichten Sohlen, das wisperte und flüsterte, -- knarrend +öffnete sich unten eine Tür. Ich erhob mich und trat ans Fenster: ein +Leiterwagen stand im Garten; Männer waren darin, die sich durch Gebärden +mit denen im Hause zu verständigen schienen; und auf einmal schwebte +etwas in der Luft dicht unter mir, etwas Schwarzes, Großes, -- der Regen +klatschte darauf, -- eintönig. Schon wollt' ich schreien, -- da geriet +das Schwarze in den Lichtkreis der nächsten Laterne: es war ein Sarg. + +Ich schwankte ins Bett zurück und verkroch mich zitternd unter der +Decke. So war er »abgereist«! -- + +Ich sah wieder die Glasveranda vor mir im Schneelicht, mit den Menschen, +deren Körper im Sterben lagen, oder deren Seelen schon gestorben waren. +Und das Badhaus fiel mir ein mit den dunkeln Holzwannen, in denen das +Wasser aussah, als wäre es Schlamm. Willenlos war ich hineingestiegen, +hatte mir Gesundheit holen wollen, wo Krankheit in allen Ritzen und +Fugen lauernd saß. Und mein Kind hatte ich die Pestluft atmen lassen! + +Noch in der Nacht fing ich an zu packen. Früh fuhr ich nach Meran und +drüber hinaus nach Obermais, so hoch und so weit als möglich. Dort fand +ich neben alten efeuumsponnenen Schlössern ein freundliches Haus +zwischen Nußbäumen und Weinreben. + +Am selben Abend zogen wir ein. + +Es war, als ob der Winter uns nicht hätte folgen können. Die Berge +entschleierten sich. Der Schnee, der eben erst wie ein Leichentuch die +Erde verhüllt hatte, blitzte jetzt im Sonnenlicht wie eine +Hochzeitskrone auf ihren Häuptern. Errötend entfalteten sich an den +Mandelbäumchen die ersten Blüten. Ich lag auf der Veranda und ließ mich +wie sie von der Sonne durchglühen und fühlte, daß auch mir die +Lebensfarbe in die Wangen stieg. Täglich brachte mir mein Söhnchen +frische Wiesenblumen. + +»Ich werde dich führen, Mamachen, wenn du nicht mehr Auau hast,« +schwatzte er, »zu den so vielen Vergißmeinnicht, und zu den Musikmännern +auch, wo die Damen und Herren sind.« Ich lachte ihn an: wirklich, die +Sehnsucht nach dem Leben regte sich wieder in mir. Liegen sollt' ich, +immer liegen, sagte der Arzt, weil mein Herz noch nicht ruhig genug war. +»Dann müßt' ich liegen bis ich neunzig Jahr alt bin,« antwortete ich +ihm, »denn daß mein Herz so gegen alle Vorsicht klopft, ist nur ein +Beweis, daß ich lebe.« + +Einmal wachte ich auf nach erquickendem Schlaf, streckte und reckte mich +und blinzelte in die Sonne. Mir war so wohl, -- so wohl! Warum nur?! Und +in mir antwortete es ganz deutlich: weil du frei bist. Ich sah mich +erschrocken um, als könnte irgend jemand dies tiefe Geheimnis, daß ich +kaum mir selbst gestand, erkundet haben. Ich war frei -- wirklich frei; +ich konnte tun, was ich wollte, ohne vorher all jene bohrenden Fragen +erst beantworten zu müssen: stört es den Anderen? Verletzt es ihn? +Beeinträchtigt es seine Ruhe, seine Wünsche, seine Liebe? Jetzt, zum +Beispiel, konnte ich aus dem Bette steigen und lustig einen Walzer +trällern, -- läge Heinrich neben mir, ich würde mich aus Rücksicht auf +seinen Schlaf ganz, ganz still verhalten. Und dann konnt' ich gemächlich +im Wasser planschen, mich ankleiden, mir die Haare ordnen, ohne jene +quälende Scham des Häßlichen, des Unästethischen, -- die einzig +berechtigte zwischen zwei Menschen, die einander lieb haben, und die +einzig notwendige, wenn sie ihrer Liebe den Zauber des ersten Rausches +erhalten wollen. Die Ehe der meisten ist ein Erwachen aus ihm, mit einem +bitteren Geschmack auf der Zunge. Sie wissen nicht, daß die Liebe eine +zarte, kostbare Blume ist, die sorgsamer Pflege bedarf. Sie pflanzen sie +in den Küchengarten und wundern sich dann, wenn sie eingeht. + +Ich war frei -- wirklich frei. Und ich konnte hingehen, wohin ich +wollte! Ganz erstaunlich kam mir das vor, -- gerade, als ob die Welt mir +auf einmal ihre Tore aufschlösse. In den ersten Jahren meiner Ehe hatte +Heinrich mich auf jedem Weg begleitet, -- aus zärtlichster Liebe, nicht +etwa aus Mißtrauen oder aus Eifersucht. Und ich hatte keinen anderen Weg +machen können, als der ihm recht war. Zuweilen war ich heimlich die +Hintertreppe hinuntergestiegen, nicht, weil ich ein Geheimnis vor ihm +gehabt hätte, sondern nur um einmal ohne innere Hemmung in den Straßen +herumlaufen zu können. Allmählich hatte unsere verschiedenartige +Tätigkeit dem steten Zusammensein ein Ende gemacht; aber +selbstverständlich blieb, daß ich ihm erzählte, wo ich gewesen war, was +ich getan hatte. Und da ich ihn nicht unzufrieden machen, nicht ärgern +wollte, so stand ich doch stets in seinem Bann. Wenn ich einmal seiner +Empfindung zuwider gehandelt hatte, so kam es vor, daß ich -- log. + +Kaum, daß der Gedanke daran in mein Bewußtsein trat, als ich ihn auch +schon, dunkel errötend, zurückweisen wollte. Aber je mehr ich mich +mühte, desto klarer stand er vor mir. Ich mußte ihm Auge in Auge sehn: +»Es kam vor, daß ich meinen Mann belog.« Nicht, weil ich ihn +hintergehen, sondern weil ich ihn nicht ärgern, nicht erregen wollte. +Aus Liebe also! Oder aus Furcht?! So lernen die Frauen lügen, weil sie +des Mannes Besitztum sind, weil die Ehe ihre Persönlichkeit auslöscht +wie ihren Namen. Wie vielen, die gerade gewachsen waren, hat sie das +Rückgrat zerbrochen! Und sie verlieren nach ein paar Jahren der Ehe ihre +Physiognomie, -- sind farblos, zermürbt. + +Ein brennendes Verlangen nach Menschen überkam mich. Wie war ich doch +mein Leben lang an den bunten Schwarm um mich gewöhnt gewesen! In den +letzten Jahren hatte er sich mehr und mehr verflüchtigt. Den alten +Freunden war ich gestorben, seit ich Sozialdemokratin geworden war; neue +hatte ich unter den Genossen nicht gefunden, und von den Künstlern, von +den Gelehrten, die unsere Räume einmal betraten, kamen nur wenige +wieder. Romberg war im Grunde unser einziger Verkehr gewesen. Und der +wohnte nicht in Berlin. + +Woher kam das alles? War ich weniger anziehend als die Frauen, die »ein +Haus ausmachten«? Waren sie geistreicher als ich? Ich schürzte spöttisch +die Lippen. Stießen sich die Sittenstrengen noch immer an der Geschichte +meiner Eheschließung? Sie machten sich doch sonst nichts daraus, mit +Frauen zu verkehren, die »eine Vergangenheit« hatten, die Gegenwart +geblieben war! Nein, in alledem lag die Ursache nicht. Bei meinem +Manne, schien mir, war sie zu suchen. Er war ein Menschenschwärmer +gewesen, leicht geneigt, zu bewundern und zu verehren und sich den +anderen gegenüber gering zu achten. Um so schmerzhafter hatte jede, auch +die leiseste Enttäuschung ihn getroffen, und je häufiger sie sich +wiederholte, desto scheuer zog er sich zurück, desto mißtrauischer wurde +er. Und für jenen leichten Verkehr, der wie mit Libellenflügeln nur die +Oberfläche des Lebensstromes streift, war er zu schwerblütig. Er hatte +nie getanzt; -- seltsam, daß mir das erst heute einfiel. Er hatte nie +gelernt, eine Gesellschaftsmaske zu tragen. Darum fühlten sich immer nur +die Menschen, die er aufrichtig gern hatte, wohl bei uns. Die anderen +stieß er ab. + +Draußen lachte der Frühlingstag. Zwischen blühenden Bäumen und Beeten +von Hyazinthen spielte die Musik fröhliche Weisen, die Passer sprang +dazu in entfesselter Wildheit über Stock und Stein. Ich ging mit meinem +Buben an der Hand zwischen der Menschenmenge hin und her. Ich freute +mich, als wäre ich zwanzig Jahr, über die bewundernden Blicke, die uns +folgten. Täglich wollt' ich von nun an hinuntergehen, Sonnenschein +trinken und Lebenslust. Ich traf Bekannte und geriet durch sie in einen +Kreis fröhlicher Weltbummler. Wie gut das tat, einmal wieder +unterzutauchen in Glanz und Freude! Einmal wieder lachen zu können aus +Herzensgrund! Bewundernde Blicke zu fühlen! Man brachte mir täglich +Blumen, -- jene großen glühenden Rosen von Meran, deren Duft nicht an +Gärten erinnert, sondern an berauschende Essenzen des Morgenlandes. Ich +ließ mir gefallen, daß man mir huldigte; ich spielte mit heißen +Gedanken, wie ein Kind mit rotleuchtenden Giftblumen. Eines Abends, +während bunte Lichterkränze sich an den alten Bäumen vor dem Kurhaus von +Ast zu Ast schwangen und die Geigen der Zigeunerkapelle in die laue +Nacht hinein seufzten und lockten, ließ ich mich in den Kursaal führen, +um den Tanzenden zuzuschauen. Süße Walzermelodien umschmeichelten meine +Sinne. Der Rausch des Tanzes ergriff mich. Willenlos überließ ich mich +ihm. Erst als der letzte Ton verklagen war, kam ich zu mir und erschrak. +Leichtsinn und Genuß, die Zaubergeister, drohten mich in ihre Gewalt zu +bekommen. Das durfte nicht sein! + +»Meran fängt an, schwül zu werden,« schrieb ich am nächsten Morgen an +meinen Mann; »so sehr die weiche Luft meiner Gesundheit nützte, so sehr +schädigt sie meine Arbeitskraft. Und ich wünsche jetzt nichts mehr, als +mich Hals über Kopf in meine Arbeit zu stürzen. Darum möchte ich fort. +Der Arzt verordnet mir Höhenluft; ich selbst fühle, daß ich etwas +Starkes, Herbes atmen müßte. Wollen wir nicht miteinander irgend ein +stilles Plätzchen suchen? Wir waren lange genug getrennt..« + +Statt aller Antwort kam er selbst. »Ich habe gewartet, bis du mich rufen +würdest --, es ist mir schwer genug geworden,« flüsterte er zärtlich, +»nun aber wirst du mich nicht mehr los.« Dunkel errötend barg ich den +Kopf an seiner Brust. + + * * * * * + +An der Ampezzostraße, südlich von Cortina, liegt ein kleines Dorf, +Pezzié genannt. Zwischen seinen braunen, ärmlichen Hütten ragte ein +einzelnes Bauernhaus mit weißgetünchten Mauern und großen Altanen +stattlich hervor. Über ein Vierteljahr wohnten wir dort in tiefster +Stille und Zurückgezogenheit. Im Lärchenwald hinter dem Hause spielte +mein Junge mit den braunen Bauernkindern, auf der Altane, angesichts des +weiten blühenden Tals und des gewaltigen schneebedeckten Felsenmassives +der Tofana, fing ich wieder an zu arbeiten. Wenn mir in den vergangenen +Wochen die Aufgabe eingefallen war, die ich mir mit meinem Buch gestellt +hatte, so war sie mir wie ein unübersteigbarer Berg erschienen. Jetzt, +da ich sie aufs neue in Angriff nahm, war mir's, als habe all die Zeit +hindurch eine fremde Kraft unter der Schwelle meines Bewußtseins weiter +an ihr gearbeitet. + +Oder sollten Gedanken wie Samen sein, die einmal in den Boden des +Geistes gestreut, sich aus eigener Macht weiter entwickeln? Die vielen +Zahlen, die ich in meinen Büchern vor mir hatte -- Ergebnisse der Volks- +und Berufszählungen europäischer und außereuropäischer Länder, Lohn- und +Arbeitsstatistiken --, wurden merkwürdig lebendig, als zuckten in ihnen +die Leiden der Millionen. Immer deutlicher sah ich das Bild, das ich zu +malen hatte: den Zug der Frauen, wie er durch glutheiße Wüsten und rauhe +Steppen dahinschleicht, jede einzelne in ihm gebeugt unter den Lasten, +die sie zu tragen hat: der Hacke und dem Spaten, der Sichel und der +Spindel, dem einen Kinde auf dem Rücken, dem anderen unter dem qualvoll +klopfenden Herzen. Was mich zuerst nur wie ein Instinkt in die Reihen +der kämpfenden Arbeiterschaft geführt hatte, das wurde mir jetzt zur +bewußten Erkenntnis: die Berufsarbeit der Frau, die ihre Entstehung der +Umwandlung der Produktionsweise durch die Maschine zu verdanken hat, ist +immer mehr zu einem notwendigen Bestandteil dieser Produktionsweise +geworden. Aber indem sie sich ausdehnt, untergräbt sie zu gleicher Zeit +die alte Form der Familie, erschüttert die Begriffe der Sittlichkeit, +auf denen der Moralkodex der bürgerlichen Gesellschaft beruht, und +gefährdet die Existenz des Menschengeschlechtes, deren Bedingung gesunde +Mütter sind. Es bleibt der Menschheit schließlich nur die Wahl: entweder +sich selbst oder die kapitalistische Wirtschaftsordnung aufzugeben. +Diese Konsequenz zu scharfumrissenen Ausdruck zu bringen, sodaß niemand +ihr aus dem Wege zu gehen vermöchte, -- das war mein Wunsch. + +Das Fieber der Arbeit, das alle Pulse schneller schlagen läßt, das über +jede Müdigkeit hinwegtäuscht, das die Gedanken des Tages in den Traum +der Nacht verflicht, hatte mich ergriffen. Und zugleich jener gesunde +Egoismus des Schaffenden, der ihn für seine Umgebung blind und taub +macht, nur damit das Werk wachsen kann. Dankbar überließ ich der Berta, +dem meraner Kindermädchen, die sich mit solcher Klugheit in jede Lage zu +schicken schien, die Sorge um unseren kleinen Haushalt. Daß sie für uns +kochte und wusch und nähte und eifersüchtig jede andere Hilfe abwehrte, +war mir nur ein Beweis für ihre Tüchtigkeit; und daß der Kleine mit +solcher Liebe an ihr hing, machte sie mir vollends unentbehrlich. + +Wenn ich mit meinem Mann spazieren ging, so sprach ich von nichts +anderem als von meiner Arbeit, von all den Ideen, all den Plänen, die +sie in mir auslöste. Und er hörte mir nicht nur ruhig zu, er ging voller +Anteilnahme auf meine Interessen ein und half mir durch seine +Fachkenntnisse. + +Daß auch er ein selbständiges Leben hatte, daß auch in ihm vieles bohrte +und gärte, das nach Ausdruck verlangte, daß er um so einsamer wurde, je +mehr ich mich in die Arbeit verlor, -- von alledem wußte ich nichts. + +Zuweilen stiegen am Horizont drohend die Sorgenwolken empor: was das +Grunewaldhaus uns übrig gelassen hatte, war bald verzehrt, die Einnahmen +aus dem Archiv blieben unzulänglich, mein Buch, auf dessen Erfolg ich +rechnete, war noch lange nicht vollendet; wie würden wir auskommen?! Mit +aller Anstrengung vertrieb ich die bösen Gedanken, ich arbeitete noch +ununterbrochener, um mir selbst keine Zeit zu lassen, ihnen +nachzuhängen. + + * * * * * + +Eines Morgens bekam Heinrich einen Brief, den er mir stumm +herüberreichte: Ob er während der nächsten Monate für ein uns +nahestehendes Blatt die Pariser Korrespondenz übernehmen könne? Ihr +bisheriger Leiter sei erkrankt und habe einen längeren Urlaub +angetreten. + +Es überlief mich heiß und kalt. Wie der Name Rom auf die Deutschen des +Mittelalters, so wirkt der Name Paris auf die Menschen des zwanzigsten +Jahrhunderts. Aus ihren dunklen Wäldern, ihren finsteren Burgen und +engen Städten sehnten sich unsere Vorfahren nach dem lachenden Himmel +Italiens; und aus dem Ernst unseres strengen Alltagslebens verlangt +alles, was jung ist in uns, nach dem Glanz, nach dem Leichtsinn von +Paris. Aber ich bemühte mich, ruhig zu scheinen und meiner stürmisch +aufwogenden Freude Herr zu werden. + +»Was sagst du dazu?« fragte mein Mann. »Wir würden uns rasch +entschließen müssen. Mit dem internationalen Sozialistenkongreß, der in +zehn Tagen zusammentritt, müßte meine Tätigkeit anfangen.« + +»Und dein Archiv?!« warf ich ein. »Du kannst es doch nicht monatelang +von Frankreich aus redigieren!« + +»Ach, -- das Archiv..!« meinte er mit einem halb wegwerfenden, halb +ärgerlichen Ton, der mich erstaunt aufsehen ließ. Das Archiv war seine +Schöpfung, sein liebstes Geisteskind. + +»Das Archiv könnte ich von überall her leiten! In Paris aber scheint mir +jetzt der rechte Ort, um den Sozialismus in seiner neusten Phase zu +studieren, in Paris, wo ein Millerand Minister ist, wo die +Intellektuellen, -- unter ihnen ein Zola, ein France, ein Steinlen, -- +mit Jaurès Arm in Arm gehen!.. Wenn du also nichts dagegen hast, so +nehme ich den Antrag an.« + + * * * * * + +Paris! Die untergehende Septembersonne umgab die schwarz hingestreckte +Stadt mit rotglühender Glorie. Mir war, als klänge im Räderrollen +unseres Zugs ein rhythmisches Jauchzen, als könne die fauchende +Riesenschlange es nicht erwarten, sich in die lodernde Glut zu stürzen. + +Am Morgen nach unserer Ankunft wanderten wir durch die Straßen. Es war +die vollkommenste Überraschung, die mich mehr und mehr verstummen ließ. +Ich hatte etwas Lautes, Buntes erwartet, etwas, das übereinstimmt mit +dem Begriff »Paris«, den wir uns draußen gebildet haben. Und nun sah ich +Häuserzeilen in gleichmäßig feiner zurückhaltender Architektur, hohe +Fenster mit schmalen Gittern davor, sah Mauern, über die der Efeu kroch, +und Baumriesen, die aus alten verschwiegenen Höfen geheimnisvoll +herüberrauschten. + +Ich sah, wie sich die vielen Alleen plötzlich in weite, weite Gärten +verloren, unter deren Büschen graue Statuen träumten, und unter runden +Lorbeerbäumen stille Bassins goldig glitzernd von den vielen kleinen +Fischen darin. An altertümlichen Kirchen kamen wir vorbei mit runden und +viereckigen dicken Türmen, oder dem mystischen Maßwerk keuscher Gotik +über alten Portalen. + +Zur Madeleine schritten wir die breite Steintreppe empor und traten aus +der heidnischen Pracht ihrer Säulenhalle in das Dämmerdunkel ihres +Inneren. Eine wunderschöne Nonne kniete regungslos am Eingang, die +Sammelbüchse vorgestreckt in schmalen weißen Händen. Und als wir uns +wieder zum Gehen wandten, schweifte der Blick über die zu unseren Füßen +sich dehnende Straße und die majestätische Größe der Place de la +Concorde, wo Menschen und Wagen sich verloren wie Spielzeug, bis weithin +zur Kuppel des Invalidendoms. Er hütete, was sterblich war an dem +korsischen Riesen, der die Welt formte nach seinem Willen, und der, ein +Lebender, noch heute die Stadt Paris erfüllt. + +Durch Alleen breiter Kastanienbäume, deren dunkle große Blätter schwarze +Schatten auf die hellen Wege warfen, gingen wir langsam hinauf, wo der +Triumphbogen des Etoile sich, von weichen Morgennebeln umspielt, mit den +Wolken zu verschmelzen schien. Und in den Gärten der Tuilerien verloren +wir uns. Zarte Kinder mit künstlich geringelten Locken spielten auf +feinen Plätzen, alte Herren, mit dem roten Bändchen im Knopfloch, +fütterten die Vögel, von einer Schar Zuschauer umgeben, deren Interesse +fast wie Andacht war. Von den Bäumen tanzten leise die gelben Blätter; +eine träumerisch süße Luft, die Geräusche und Farben dämpfte, spielte +zärtlich um den grauen Königspalast des Louvre und streichelte sanft die +Gesichter der Vorübergehenden, als wollte sie sie trösten, weil es schon +Herbst geworden war. Und selbst die Bettler auf der Brücke, und die +schmutzigen Savoyardenknaben, die ihre Ware feil boten, und die alten +Buchhändler, die ihre stockfleckigen Schartäken auf den Quaimauern +aufbauten, lächelten leise. Der Fluß aber wälzte sich lautlos vorüber; +seine Wasser schimmerten in gebrochenen Farben wie müde Opale. + +»Eine vornehme Frau ist Paris,« sagte ich nachdenklich, als wir von +unserem ersten Ausgang zurückgekehrt waren, »eine vornehme Frau, deren +schöne Züge die Wehmut des Alterns umflort ...« + +Am Abend verließen wir wieder das Hotel. Jetzt brauste die Weltstadt: +rauschende Kleider, rollende Wagen, girrendes Lachen, wüstes +Geschrei --, zu einem einzigen Ton verschmolz das alles. Zwischen den +Bäumen der Boulevards strahlten die Laternen wie endlose Lichterketten, +breit quoll das Licht aus den Cafés über wippende Federhüte und +spiegelnde Zylinder. Nur auf dem riesigen Concordienplatz wirkten die +Bogenlampen wie Brillanten auf dem dunkelgrauen Samt der Nacht. + +Da plötzlich leuchtete jenseits zwischen den Bäumen ein Wunder auf: ein +schimmerndes Tor aus Juwelen erbaut, eine Märchenstadt dahinter, deren +Mauern Kristall, deren Türme Feuerbrände waren; die Weltausstellung. Wir +folgten dem wimmelnden Menschenstrom, dessen Rauschen sich aus allen +Sprachen der Welt zusammensetzte. Es war ein einziger Traum aus +Tausendundeine Nacht. Ein Turm, aus strahlenden Goldfäden gewoben, trug +auf seiner diamantenen Spitze die schwarze Kuppel des Himmels. In +tiefdunkle Teiche ergossen sich Kaskaden von Licht. Der stille Fluß +spiegelte Paläste wieder, die allen Glanz der Welt an seinen Ufern +vereinigt hatten. Die Brücken spannten sich über ihn wie lauter +glückverheißende Regenbogen. Und wer sie überschritt, den empfing +jenseits ein Lachen, ein Singen, ein Jubeln, -- als gäbe es nirgends +Tränen mehr. Ein Taumel erfaßte die Menschen: von den Terrassen +herunter, -- aus den weit geöffneten Türen bunter Häuser lockte die +Freude in sehnsüchtigen Geigentönen, in wilden Trompetenstößen. Dort +tanzte Loie Fuller, die lebendig gewordene Flamme: wenn sie sich +aufwärts schwang, züngelten die Schleier über ihrem Haupte, wenn sie +sich neigte, leuchtete sekundenlang ihr schneeweißer Busen. Drüben +trippelte auf Stöckelschuhen Sada Yacco, die Japanerin; aus ihren +geschlitzten Augen sprühten Blitze fanatisierter Kunst, auf ihren +Gewändern leuchteten Blumen der Hölle und Vögel des Paradieses. Und +unter dem bunten Zeltdach ringelten sich Schlangen um den halbnackten +Leib der Indierin, züngelten zärtlich um ihre braune Haut, während ihre +kleinen Füße, von goldenen Ringen umklirrt, sich im Takte bewegten und +ihre Arme sich ausstreckten -- eine einzige Gebärde verlangender +Lust ... + + * * * * * + +Mitten im Gewühl trafen wir Geier, der zum Sozialistenkongreß nach Paris +gekommen war. »Ein Riesenvarieté, -- nichts weiter,« brummte er, »im +Grunde widerwärtig.« Ich erwachte wie aus einem Traum: die Gesichter der +Tänzerinnen erschienen mir plötzlich fratzenhaft; wo die Schminke sich +verwischte, grinste hinter dem Lächeln der Freude die rohe Sucht nach +Gewinn. Und der lichtgewobene Turm, der den Himmel trug, war aus Eisen; +Menschlein kletterten selbstbewußt bis in seine Spitze, und hoheitsvoll +wich die Sternenkuppel weit, weit zurück vor ihnen. Kulissen aus Gips +und Leinwand waren die Paläste, Glas die Juwelen im Portal. + +»Man soll einen Mondsüchtigen nicht anreden,« sagte ich. »Schon glaubt +ich mich wirklich auf dem Wege zur Erfüllung einer Sehnsucht, die mit +mir geboren zu sein scheint --« + +»Und die wäre?« fragte Heinrich. Ich zögerte; ich wußte, wie falsch ich +verstanden werden könnte. + +»Bacchantische Lust zu sehen, überströmende, jauchzende Lebenswonne, -- +die dabei eines Gottes würdig wäre. Immer ist Freude so etwas +Armseliges, -- Mutloses.« + +»Dann sind Sie jedenfalls in Paris am rechten Ort. Übrigens hätte ich +Ihrer norddeutschen Prinzessinnenwürde nicht so exotische Phantasien +zugetraut,« spottete Geier. »Aber immerhin, -- ich, als alter Pariser, +kann Ihnen vielleicht heute noch dienen.« + +Wir verließen die Ausstellung, überquerten den Platz bis zur Rue Royal. + +»Maxim« stand in großen Buchstaben über der Tür des Restaurants, in das +wir eintraten. Auf den hohen Stühlen vor dem Schenktisch der Bar saßen +elegante Männer mit müden, gelangweilten Gesichtern. Aus dem Saal +dahinter klang gedämpfte Musik. Die Frauen unter seinen Spiegelwänden an +den kleinen, blumengeschmückten Tischen flüsterten nur hie und da +miteinander. Sie waren alle schön und jung. Hellblond und üppig die eine +im weißen Seidenkleid, Perlen in den rosigen Ohren, rieselnde Perlen um +den runden Hals und einen matten Perlenglanz in den großen hellen Augen. +Statuenhaft die andere neben ihr, die prachtvolle Gestalt eng in roten +Samt gehüllt, die schmalen Finger von Brillantringen bedeckt, die +nachtschwarzen Haare in glatten Scheiteln um die Schläfen. Und +rothaarige, hinter deren durchsichtiger Haut blaue Adern klopften, +brünette, mit dem bräunlich warmen Ton der Südländerin, reihten sich +ihnen an, eine schneeweiße dazwischen, mit rosigem Antlitz, als wäre die +Pompadour aus dem langweiligen Jenseits in ihr geliebtes Paris +zurückgekehrt. Zuweilen standen sie auf und schritten langsam auf und +nieder; ihre Kleider raschelten, als ob schillernde Salamander durch +dichtes Blattwerk schlüpften, das aufreizende gleichmäßige Klipp-klapp +der hohen Absätze ihrer Seidenschuhe tönte dazwischen, in ihren Juwelen +brachen sich hundertfarbig die Lichter, Wolken betäubenden Duftes zogen +hinter ihnen her. Sie waren wie exotische Blumen aus fremden Urwäldern. + +Die Musik ging in Walzermelodien über. Und durch die offenen Türen kamen +allmählich die Herren aus der Bar, -- alte und junge Greise. Nüchtern, +lustlos, wie der Trainer ein Rennpferd, musterten sie die Frauen. Sie +erwachten erst zum Leben, als der Sekt in den Gläsern vor ihnen perlte. +Ihre Blicke wurden zu lüsternem Greifen, ihr Lachen wurde gemein. Sie +erschienen wie rohe Barbaren gefangenen Königinnen gegenüber. Und jetzt +begannen die Geigen zu jauchzen, rascher und rascher füllten sich die +Gläser und leerten sich wieder, die Paare schwangen sich in rasendem +Tanz; -- dort senkte ein Graubart die zittrigen Kniee vor einer jungen +Schönen und trank aus ihrem weißseidenen Schuh. + +»Nun?!« fragend wandte sich Geier mir zu. Ich zuckte die Achseln: +»Nennen Sie das bacchantische Lust?! Wenn Männer sich erst betrinken +müssen, um für Frauenschönheit zu entflammen, und Frauen nur durch den +Rausch, der ihre Augen und ihre Sinne umnebelt, den Ekel vor diesen +Männern zu überwinden vermögen?!« + +Wir gingen. Über die Boulevards schob und drängte sich die Menge: +Fremde, mit gespannten Zügen, überall ungeheuerliche Enthüllungen der +Sünde erwartend, kleine bescheidene Provinzfrauen mit einem dirnenhaften +Funkeln in den Augen, Kinder, blaß und übernächtig, immer noch Blumen +verkaufend, den alten wissenden Blick halb neidisch auf die geschminkten +Kokotten gerichtet, die wie Götzenbilder sich durch die dunkeln Massen +bewegten. + +War Paris nicht doch ihresgleichen? + + * * * * * + +Als wir am nächsten Morgen den Sitzungssaal des Internationalen +Kongresses betraten, blieb ich schon an der Tür erschrocken stehen: das +tobte und schrie, pfiff und trampelte, als sollte ein Sensationsstück zu +Fall gebracht werden. Vandervelde, der belgische Volksführer, stand auf +der Rednertribüne, aber weder seine Autorität, noch der sonore Klang +seiner schönen Stimme, noch die beschwörenden Gesten seiner +aristokratischen Hände wurden Herr über die entfesselte Leidenschaft der +Menge. Drohende Fäuste reckten sich zu ihm empor: »À bas les +ministériels!« tönte es im Takt von der einen Seite, wo sich um Jules +Guesde, den französischen Liebknecht, die Anhänger scharten. Wer es +nicht vorher wußte, erfuhr es angesichts dieser Versammlung: nur um eine +Kardinalfrage des Sozialismus konnte ein so wüster Kampf entbrennen. Die +Vertreter des alten revolutionären Gedankens behaupteten standhaft ihre +Intransigenz: »Die Befreiung der Arbeiter kann _nur_ ein Werk der +Arbeiterklasse selbst sein, jedes Paktieren mit der bürgerlichen +Gesellschaft ist ein Verrat an der Sache des Proletariats.« Von diesen +lapidaren, jedem Arbeitergehirn leicht einzuprägenden Sätzen aus, +verurteilten sie notwendigerweise den Eintritt des Sozialisten Millerand +in das Ministerium und forderten vom Kongreß eine offizielle Anerkennung +ihres Standpunktes. Wider Vandervelde, der die Vermittlungsresolution +der Deutschen verteidigt hatte, erhob sich der Italiener Ferri; die +schönheitstrunkenen Romanen jubelten schon seiner bloßen Erscheinung zu, +und als er mit all den klassischen Worten der Revolution jonglierte, wie +ein geschickter Taschenspieler mit glänzenden Kristallkugeln, und den +Revisionismus von der Landtagswahlbeteiligung der Deutschen bis zum +Ministerialismus der Franzosen als einen Abfall brandmarkte, dankte +ihm brausender Beifall. Die graziösen Französinnen auf den +Zuschauertribünen, denen der Kongreß dieselben Nervenreize bot wie eine +Première, schlugen begeistert die weißbehandschuhten Händchen +aneinander, und des Redners dunkler Blick grüßte dankend die +seidenrauschenden Vertreterinnen des Kapitalismus, gegen den er eben zum +Kampf gerufen hatte. + +Dann kam Jaurès, der das moderne republikanische Frankreich in der +Dreyfusaffäre gegen Klerikalismus und Militarismus verteidigt hatte, -- +eine untersetzte Gestalt, mit dem breiten blonden Kopf eines Germanen. +Er wird es schwer haben, dachte ich angesichts dieser Versammlung, die +ihre Redner ästethisch zu werten scheint. Aber schon der erste Laut +seiner Stimme zog die Menge in seinen Bann: sie war wie das Meer; +selbst wenn sie ruhig schien, war Sturm in ihr, und wenn sie anschwoll, +schlug sie donnernd gegen die Mauern, wie die Wogen gegen den Fels. Ich +war nicht imstande auf die Worte zu achten, ich hörte nur den Klang, +jenen musikalischen Tonfall der Sprache, der die Wesensart des ganzen +Volkes enthüllt, eines Volkes, das durch logische Schlüsse +wissenschaftlicher Deduktionen niemals überzeugt zu werden vermag, wenn +nicht der Künstler in ihm durch die Schönheit der Form, durch das Pathos +des Ausdrucks gepackt wird, eines Volkes, von dem ich plötzlich begriff, +daß es die Bastille stürmen und Napoleon Bonaparte zu seinem Kaiser +krönen konnte. + +Ich war noch wie benommen, als wir abends den Saal verließen. An der Tür +begrüßten uns unsere Landsleute. »Eine unglaubliche Gesellschaft!« +schimpfte der eine. »Für nichts ist gesorgt: nicht mal Bleistift und +Papier gibt's auf den Tischen.« -- »Und keine Möglichkeit, die Anträge +rechtzeitig drucken zu lassen,« fügte ein zweiter hinzu, -- »man weiß +nich mal, wo man essen jehn soll,« brummte ein dritter. + +Jetzt fühlte ich mich wieder in Deutschland. + +Wir unterhielten uns, als wir zusammensaßen, über die deutsche +Resolution. »Sie ist aus Wenn und Aber zusammengesetzt, und einem Fall +Millerand ist zwar die Tür geschlossen, aber das Fenster geöffnet,« -- +räsonierten die Vertreter des sechsten berliner Wahlkreises, für die der +Eintritt eines Sozialisten in ein bürgerliches Ministerium keine +taktische, sondern eine prinzipielle Frage war. »'Die Eroberung der +Regierungsgewalt kann nicht stückweise erfolgen,'« las stirnrunzelnd +einer der Wortführer des Revisionismus; »das ist ein Satz, den wir +unmöglich unterschreiben können, denn in parlamentarisch regierten +Staaten kann und wird sie nicht anders als allmählich vor sich gehen.« + +Am Morgen darauf stimmten die Deutschen trotzdem geschlossen für die +Resolution, um die Einigkeit der Partei zu dokumentieren, und sicherten +ihr dadurch ihre Annahme. Ich war froh, daß ich kein Mandat besaß, denn +die vielgerühmte Disziplin unserer Genossen mißfiel mir, die die +persönliche Ansicht dem Willen der Mehrheit unterwarf; die +individualistische Haltung der Franzosen schien mir ein Beweis größerer +innerer Stärke zu sein. Ich äußerte meine Ansicht, als wir mit unseren +näheren Bekannten nachts vor einem Boulevardcafé zusammensaßen, und +stieß auf heftigen Widerspruch. »Unsere Disziplin hat uns groß gemacht,« +hieß es von allen Seiten. »Numerisch groß, -- gewiß,« antwortete ich, +»ob aber entsprechend einflußreich?! In England, wo die Partei so +zerrissen ist wie hier, durchdringt die sozialistische Idee alle Kreise, +gehören Sozialisten allen öffentlichen Körperschaften an, in Frankreich +stützt sich die Republik auf Sozialisten, und ein einziger +sozialistischer Minister ist imstande, in Monaten mehr Reformen auf dem +Gebiete des Arbeiterschutzes durchzuführen, als seine Vorgänger während +Jahrzehnten --« + +»Und in Deutschland übernahm unsere Reichstagsfraktion im Kampf gegen +die Lex Heinze die Führung und rettete Wissenschaft und Kunst vor +unerhörter Knebelung,« unterbrach mich einer der Anwesenden lebhaft; »es +geht langsam bei uns, aber es geht, und selbst die Resolution, deren +Annahme durch uns Sie so verurteilen, ist ein Zeichen des +Fortschrittes. Sie hat dem falschen Radikalismus eine seiner Spitzen +abgebrochen indem sie der politischen Taktik freie Hand ließ.« + +»Dazu, scheint mir, werden die Verhältnisse Radikale und Revisionisten +stets ohne weiteres zwingen. Die Preisgabe persönlicher Überzeugung war +überflüssig,« antwortete ich. + +»So halten Sie es für besser, wenn man um verschiedener Ansichten willen +wie verzankte Kinder nach rechts und links auseinander läuft?!« + +»Es scheint mir jedenfalls richtiger, als klaffende Gegensätze mit den +morschen Brettern gegenseitiger Konzessionen überbrücken zu wollen.« + +Eine augenblickliche Stille trat ein; man sah erwartungsvoll auf Geier, +der eben hinzugetreten war. + +»Politik besteht aus Konzessionen,« erklärte er und strich gleichmütig +die Asche von seiner Zigarre; »aber davon versteht ihr Weiber nichts. +Für das Geschäft seid ihr entweder zu gut oder zu schlecht, darum laßt +die Finger davon. Übrigens: -- Ich habe eine Nachricht in der Tasche, +die den Wünschen der Genossin Brandt entgegenkommt: Euer neuer Prophet, +Bernstein, wird Deutschland in persona beglücken dürfen.« + +Von allen Seiten mit Fragen nach dem Wie und Warum bestürmt, fuhr Geier +mit einem spöttischen Blick auf mich in seinem Berichte fort: »Die +deutsche Regierung hofft auf eine Spaltung der Partei. Es ist Bülows, +des neuen Reichskanzlers, erste Heldentat, wenn er das Ausweisungsdekret +gegen Bernstein nicht mehr wiederholt. Viel Glück zu diesem Zuwachs, Ihr +lieben Reichsdeutschen!« Damit erhob er sich, flüchtig grüßend. + +Wir gingen schweigsam nach Haus, mein Mann und ich, in unsere kleine +möblierte Wohnung, die wir nach langem Suchen endlich gefunden hatten. +Ich fühlte auf diesem Heimweg deutlicher als je, daß wir allmählich auch +innerlich nebeneinander und nicht miteinander gingen. In der Nacht hörte +ich, wie unruhig er sich hin und her warf, und sah im Laternenlicht, das +matt durch die Fensterscheiben drang, wie zerquält seine Züge waren. Er +litt, -- und ich wußte nicht warum; ich, die ich ihm am nächsten stand, +hatte ihn allein gelassen! Das Herz krampfte sich mir zusammen. Waren +nicht jene Frauen wirklich die besseren gewesen, die nichts hatten sein +wollen, als ein allzeit offenes Gefäß für die Schmerzen und die Kämpfe +des Gatten? Vielleicht waren sie die tiefste Bedingung seiner Kraft. + +»Heinz,« flüsterte ich zaghaft und griff nach seiner Hand, »warum +sprichst du nicht mit mir? -- Irgend etwas lastet auf dir --.« + +Er lächelte mich an. »Gutes Kind, -- beunruhige dich doch nicht! Du hast +mit dir selbst genug zu tun und mit deiner Arbeit.« + +»Du aber nimmst teil daran, -- du hilfst mir, und ich sollte dir nicht +helfen dürfen?! -- Hängt es am Ende damit zusammen, daß du dem Archiv +innerlich untreu geworden bist?« drängte ich. + +»Woher weißt du das?« fuhr er auf. + +»Ich habe doch Augen im Kopf, -- ich sehe, wie oft du die Korrekturen +ungeduldig zur Seite wirfst --« + +»Du hast recht,« antwortete er, »ich hätte dich nur gern mit meinen +Angelegenheiten verschont, so lange sie mir selbst so unklar sind. Als +ich das Archiv ins Leben rief, war die Sozialpolitik ein unbebautes +Ackerland. Jetzt, wo der Samen aufging, kann jeder Garben schneiden --« + +»Ich verstehe,« unterbrach ich ihn lebhaft, »wir beide gehören zu denen, +die Wege anlegen, aber nicht die Steine dafür karren können.« + +»Wege anlegen --,« wiederholte er, »ganz richtig! Und dafür ist in der +Partei jetzt die Zeit gekommen. Gräßlich, angesichts dieser Aufgabe die +Hände gebunden zu haben! Dem Revisionismus fehlt es an einem geistigen +Mittelpunkt, einem unabhängigen Organ, das an Stelle bloßer Verneinung +die Ideen praktischer Politik in die Köpfe der Massen hämmert, das die +geistigen Kräfte der Intellektuellen in den Dienst unserer Sache zieht. +Die Lex Heinze hat sie aus dem Schlaf geweckt, -- auch hier müßte das +Eisen geschmiedet werden, solange es warm ist.« + +»Und wieso sind dir dafür die Hände gebunden?!« rief ich aus, von den +Gedanken, die er aussprach, gepackt. »Der Plan muß ausgeführt werden!« + +»Bei all deiner Klugheit bist du doch ein ganz dummes Katzel!« sagte er. +»Oder wächst dir ein Kornfeld auf der flachen Hand?! Kein bürgerlicher +Verleger würde ihn verwirklichen helfen, ein Parteiverlag erst recht +nicht ...« + +Ich dachte an den Amerikaner Garrison, der seine der Idee der +Sklavenbefreiung gewidmete Zeitschrift selbst schrieb und druckte. Ob +wir nicht diesem Beispiel folgen könnten? Mein Mann lachte mich aus. +»Selbst wenn wir unsere ganze Arbeitskraft der Sache opfern würden, ohne +pekuniäre Mittel hülfe das nichts. Ich sehe nur eine Möglichkeit, um +zum Ziel zu gelangen --,« er brach ab, als habe er schon zuviel gesagt. + +»Die wäre?« + +»Der Verkauf des Archivs. Mit dem Erlös könnte man die Zeitung ins Leben +rufen --« + +»Warum versuchst du das nicht?!« Ich ärgerte mich, daß er nur einen +Moment hatte zögern können. Er sah mich forschend an. + +»Ist das Tapferkeit oder Leichtsinn, was aus dir spricht? -- Mit dem +Verkauf des Archivs ist die Sicherheit unserer Existenz preisgegeben. +Wir können bei dem neuen Unternehmen alles verlieren --« + +»Darüber bin ich keinen Augenblick im Zweifel,« antwortete ich ernst. +»Aber mir scheint, gegenüber der Größe der Aufgabe fallen persönliche +Bedenken nicht ins Gewicht.« + +Wir waren einig. Von nun an widmete mein Mann all seine freie Zeit der +Verwirklichung seines Gedankens. Er trat mit deutschen Verlegern in +Verkaufsverhandlungen, und wenn ich angesichts ihrer wiederholten +Resultatlosigkeit oft nahe daran war, den Mut zu verlieren, so schien +der seine mit jedem Mißlingen neu zu wachsen. Er wandte sich an die +bekannteren Revisionisten, und wenn ihre zögernden Antworten mich +deprimierten, so steigerten sie nur seine Energie. Und meine Liebe, die +unter der grauen Asche der Alltäglichkeit nur noch leise geglimmt hatte, +glühte auf, wie Waldfeuer im Sturm. Je stärker ich die Überlegenheit +seines Willens empfand, desto mehr liebte ich ihn. Und gewohnt, mein +eigenes Erleben zu betrachten wie der Forscher ein wissenschaftliches +Experiment, aus dem er bestimmte allgemeine Schlüsse zieht, sah ich, +daß eine der Theorien der modernen Frauenbewegung sich angesichts der +Erfahrung wieder einmal als leere Konstruktion erwies. + +»Das geistig entwickelte, seelisch differenzierte Weib ist die +Voraussetzung und Bedingung tieferer und dauernder Beziehungen zwischen +den Geschlechtern,« hatte meine alte Gegnerin, Helma Kurz, noch kürzlich +in dem ihr eigenen geschwollenen Stil den Lesern ihrer Zeitschrift +verkündet. Sie identifizierte Liebe und Freundschaft, weil sie -- das +einsame alte Mädchen -- wie der Blinde von der Farbe sprach. Weibesliebe +ist Hingabe an den Höherstehenden, gleichgültig ob das Herz, das sie +empfindet, unter dem groben Hemd der Dienstmagd oder dem Talar der +Doktorin beider Rechte schlägt. Darum wird die erotische Treue um so +seltener sein, je stärker das Weib sich geistig und seelisch +individualisiert. + + * * * * * + +Mit noch größerem Eifer als früher stürzte ich mich in meine Arbeit; +nicht nur, weil der Augenblick schreckhaft näher rückte, in dem ich das +Honorar dafür nicht mehr würde entbehren können, sondern mehr noch, weil +das Buch vollendet sein mußte, ehe die neue Aufgabe -- die Zeitschrift +meines Mannes -- an mich herantrat. + +Archive, Arbeitsämter und Bibliotheken öffneten sich mir ohne +Schwierigkeit. Vom Minister bis zum Portier verleugnet der Franzose die +Kultur des achtzehnten Jahrhunderts nicht, auch wenn die Dame, die ihm +begegnet, keine Marquise ist; jeder beeilt sich, ihr behilflich zu +sein, ihr entgegenzukommen, kein spöttisches Lächeln, keine +herunterhängenden Mundwinkel verraten der arbeitenden Frau, wie der Mann +sie im Grunde wertet. + +Je mehr ich mich aber in die Arbeit versenkte, desto höher türmten sich +die Probleme der Frauenfrage um mich auf, -- die sozialen, die +ethischen, die sexuellen entwickelten sich eines aus dem anderen, als +kröche ein Drache aus dunkler Höhle hervor, ein Glied um das andere +vorschiebend, langsam, endlos. Wenn ich mich morgens zum Fortgehen +rüstete und mein Kind die runden Ärmchen um meinen Hals schlang und bat +und schmeichelte: »Mamachen, bleib doch mal bei mir, -- Mamachen, bitte, +bitte, erzähl' mir nur eine einzigste schöne Geschichte --,« dann +erschien mir mein eigenes Leben wie jene unheimliche Höhle, und in mein +eigenes Herz bohrte der Drache seinen Giftzahn. Wie gläubig hatte ich +früher den alten Vorkämpferinnen der Frauenbewegung gelauscht, wenn sie +von jenen Amerikanerinnen erzählten, die ihre Pflichten als Mütter, +Hausfrauen und Berufsarbeiterinnen in so unvergleichliche Harmonie +zueinander zu setzen vermochten. Ich erinnerte mich vor allem jener +Advokatin, die neben ihrer großen Praxis sechs Kinder erzogen und einen +großen Haushalt allein geleitet haben sollte. + +»Infame Lügen alter Jungfern!« dachte ich grimmig. Und doch war ich +selbst noch eine Bevorzugte. Kam ich nach Haus, so fand ich mein Kind in +guter Obhut und unseren Tisch gedeckt. + +Der Berta, die mit so viel Tränen durchgesetzt hatte, bei mir zu +bleiben, verdankte ich die äußere Arbeitsmöglichkeit. Ich konnte ihr +nicht dankbar genug sein. + +Aber Millionen armer Frauen arbeiten in der Werkstatt und in der +Fabrik, während die Straße ihrer Kinder Hüterin ist und sie gezwungen +sind, nach der Hast der Arbeit noch die unzureichende Ernährung für sich +und die Ihren selbst zu bereiten. So unschätzbar die wirtschaftliche +Selbständigkeit des Weibes sein mag, sind die Opfer des Mutterherzens +und des Kinderglücks nicht ein zu hoher Preis für sie? Ich fand aus der +Wirrnis nicht heraus: auf der einen Seite diese Not, auf der anderen +Seite die liebezerstörende pekuniäre Abhängigkeit des Weibes vom Mann. + +Die deutschen Gewerbeaufsichtsbeamten hatten um jene Zeit eine +Untersuchung über die Arbeit verheirateter Frauen in der Industrie +angestellt. Die Ergebnisse lagen mir vor: überall war es die bittere +Notwendigkeit, die ihnen zwischen dem natürlichen Weibesberuf und dem +Erwerb außerhalb des Hauses keine Wahl ließ. Und alles deutete darauf +hin, daß ihre Zahl ständig zunehmen würde. Nichts schien mir im +Augenblick so wichtig, als die Lösung dieser brennenden Frage. Es galt +auf der einen Seite, dem Säugling die Mutter zurückzugeben, und auf der +anderen, das Weib von der Last doppelter Pflichten zu befreien. Ich +baute meinen alten Plan der Mutterschaftsversicherung aus, -- fest +überzeugt, daß über kurz oder lang die Regierungen gezwungen sein +würden, ihm näher zu treten. Aber selbst seine Verwirklichung würde die +notwendige Arbeitsteilung zwischen Hausfrau und Berufsarbeiterin nicht +herbeiführen. + +»Laß einmal heut deine Nachmittagsarbeit,« sagte Heinrich eines Tages, +als ich in meine Grübeleien versunken nach Hause kam. »Wir sind zur +Einweihung eines Arbeiter-Restaurants geladen, -- France und Jaurès +werden dort sein --« + +»Du weißt, ich darf mich nicht ablenken lassen,« antwortete ich +mißmutig. + +»Diesmal ist aber die Sache interessant genug, um eine Ausnahme von der +Regel zu entschuldigen,« meinte er. »Eine genossenschaftliche Gründung +der Art liegt auf dem Wege zu unseren Zielen.« Ich horchte auf: irgend +etwas, halb Unbewußtes, packte mich. + +In einer engen Seitenstraße des Boulevard Montparnasse lag ein altes +kleines Haus geduckt zwischen hohen Mietskasernen. In seinem neuen +Anstrich, mit den Girlanden um die Türe und den Fähnchen an den Fenstern +sah es lustig aus wie ein altes Männlein, das goldene Hochzeit feiert. +Drinnen um die festlich gedeckten Tafeln herrschte eitel Fröhlichkeit. + +»Daß wir es erreicht haben, -- endlich!« sagte glückstrahlend einer der +Leiter. »Seit Jahren sammeln wir Sou um Sou, um die armen Arbeiter +dieser Gegend von der Ausbeutung der Kneipenwirte zu befreien, und um +den zahllosen arbeitenden Familienmüttern ein gutes und billiges +Mittagsmahl zu verschaffen.« + +Ich reichte dem Manne die Hand und drückte sie herzhaft; er sah mich +verwundert an: er konnte nicht wissen, welch ein Geschenk er mir eben +gegeben hatte. + +Die breite Gestalt von Jaurès erschien in der Türe, hinter ihm die +elegante eines vornehmen Graubarts, dessen geistfunkelnde Augen über die +große schiefe Nase unter ihnen zu spotten schienen. »Anatole France,« +stellte Jaurès ihn uns vor. Wir waren sofort in lebhaftem Gespräch. + +»Ich mag nicht fehlen, wenn die sozialistische Arbeiterschaft irgendwo +einen Fuß breit Boden gewinnt,« sagte er; »je mehr die Bourgeoisie an +Idealismus verloren hat, desto unfruchtbarer ist sie für uns +Intellektuelle. Wir müssen uns stets zu den Hoffenden und Werdenden +halten, wenn wir nicht selbst absterben wollen.« + +»Unsere deutschen Intellektuellen halten sich lieber zu denen, die zwar +an Hoffnungen arm, aber an Gold und Juwelen um so reicher sind --,« +antwortete ich. + +Er lächelte ungläubig: »Wirklich?! In einem Lande, das sprichwörtlich +reich an hungernden Dichtern und arm an Männern ist?!« + +Dann wurde er zerstreut, zog ein Blatt Papier aus der Tasche, überflog +es wieder und wieder und reichte es Jaurès: »Ich bin kein Redner und +soll durchaus sprechen. Was meinen Sie, wenn ich das hier sage?« Dabei +stieg die Röte der Verlegenheit in das gebräunte Gesicht des berühmten +Mannes. + +Wir setzten uns zu Tisch. Ich konnte nicht glauben, daß die vielen +Menschen um uns herum mit den selbstverständlich guten Manieren, dem +freimütigen Ton, der ohne weiteres jeden Abstand der Bildung und des +Milieus ausglich, die Ärmsten der Armen waren. Ich sah es erst +allmählich an den hohlen Wangen und sorgfältig vernähten Flicken auf den +Kleidern. Und doch aßen und tranken sie, als ob sie alle Tage satt +würden. + +France sprach; stockend, schüchtern, aber mit einem so warmen Ton in der +Stimme, daß er alle gefangen nahm. Und dann wußten sie auch von ihm: +»Unser großer France,« flüsterte stolz einer dem anderen zu, und ein +paar kleine Nähmädchen mit harten zerstochenen Fingern brachten ihm die +Veilchensträußchen, die sie im Gürtel trugen. + +Als ich am nächsten Tage wieder bei der Arbeit saß, war mein neuer Plan +fix und fertig: »Haushaltungsgenossenschaften« nannte ich ihn. In den +Arbeitervierteln der großen Städte sollte jede Mietskaserne mit einer +Zentralküche versehen sein, die den Bewohnern ihre Mahlzeiten liefert. +In den Häusern der Arbeiter-Baugenossenschaften müßte der Anfang damit +gemacht werden; Kinderkrippen und Kinderhorte zum Tagesaufenthalt der +Mutterlosen sollten sich anschließen; die genossenschaftliche +Wirtschaft, der Einkauf im Großen müßte, so berechnete ich, die Kosten +für die anzustellenden Arbeitskräfte aufbringen. Einsichtige Kommunen +würden sich allmählich bereit finden, solche, für die physische und +moralische Gesundheit der Bevölkerung überaus wichtige Häuser selbst zu +bauen. Mit der Befreiung von der doppelten Arbeitslast der +Hauswirtschaft und der außerhäuslichen Erwerbsarbeit würde einer der +wichtigsten Teile der Frauenfrage ihrer Lösung entgegengeführt werden. +Und was für die Arbeiterin galt, das galt ebenso für die geistig tätige +Frau. Ich war so erfüllt von meiner Idee, daß ich vor freudigem +Herzklopfen nächtelang schlaflos blieb. Mit dieser Sache konnte ich bis +zum Erscheinen meines Buches nicht warten. Gerade jetzt, wo das Problem +der Erwerbsarbeit verheirateter Frauen auf der Tagesordnung stand, mußte +ich damit hervortreten. + +Ich schrieb an Wanda Orbin und teilte ihr mit, daß ich an der Hand der +neuesten Fabrikinspektorenberichte eine kurze Broschüre über die für die +Arbeiterinnenbewegung so wichtige Frage der Beschäftigung verheirateter +Frauen in der Industrie schreiben wolle und von ihr nur erfahren möchte, +ob nicht etwa von anderer Seite ähnliches geplant würde. Irgendwelche +Details gab ich ihr nicht. + +Sie antwortete mir umgehend, daß sie selbst seit längerer Zeit mit der +Bearbeitung der Frage beschäftigt sei. »Ich habe mich nunmehr +entschlossen,« fuhr sie fort, »die einzelnen Teile meiner Arbeit als +selbständige Broschüren erscheinen zu lassen, um sie weiteren Kreisen +leichter zugänglich zu machen. Die erste enthält die grundsätzliche +Auseinandersetzung der Frage der Fabrikarbeit verheirateter Frauen und +des gesetzlichen Arbeitterinnenschutzes, das Manuskript liegt im +wesentlichen bereits fertig vor... Sie werden mir kaum zumuten, auf die +Veröffentlichung zu verzichten, weil an anderer Stelle die Behandlung +derselben Frage beabsichtigt wird...« + +Nein: ich dachte nicht daran, um so weniger, als es mir nichts genutzt +haben würde. Ich wollte auch nicht mit Wanda Orbin in einen lächerlichen +Konkurrenzkampf eintreten. Mochte ihre Schrift zuerst erscheinen, -- mir +würde nachher genug zu sagen übrig bleiben. + +Während der Monate, die wir noch in Paris verlebten, erschien sie jedoch +nicht, und die verschiedenen Parteibuchhandlungen wußten nichts von ihr. + + * * * * * + +Schwer und grau hing der Winterhimmel über Paris. Zuweilen tanzten weiße +Flocken in der Luft, und dann schien's, als ob es hell werden wollte; +aber die schmutzige Straße verschlang sie. Die Obst- und Gemüseauslagen, +die im Sonnenschein sonst so bunt und lockend den Vorübergehenden +angelacht hatten, sahen welk und unappetitlich aus. Die kleinen Mädchen +mit den schönfrisierten Köpfchen, die vor kurzem noch lachend und +kokettierend mit spitzen Hacken klappernd über das Pflaster getrippelt +waren, liefen jetzt fröstelnd ihres Wegs mit verfrorenen, mißmutigen +Gesichtern. + +Wer jetzt dicht am Kaminfeuer sitzen und träumen könnte! Aber nach wie +vor ging ich dieselben Wege durch alte enge Gassen und saß mit eisigen +Füßen in dunkeln Bureaus. Wußte ich noch, daß es Paris war, in dem ich +lebte? Lebte?!! War das wirklich Leben?! Hatte nicht am Ende auch mich +die schmutzige Taglöhnerstraße verschlungen? Mich, die ich licht und +frei sein wollte? Wenn wir abends zuweilen aus unserem stillen +Stadtwinkel zum rechten Seineufer hinübergingen, wo die Bogenlampen +festlich zu strahlen beginnen, wo hinter glänzenden Spiegelscheiben +Juwelen und Spitzen und märchenhaft schimmernde Gewänder prahlend ihre +Schönheit entfalten und Equipagen und Automobile hin und wieder rollen, +aus denen schöne Frauenköpfe nicken und lächeln wie seltene +Treibhausblumen hinter ihrem Glashaus, -- nur zum Schmuck einer Nacht +gezüchtet, -- dann fühlte ich im verborgensten Winkel meines Herzens +einen stechenden Schmerz. + +Am Eingang zum Opernhaus standen dicht gedrängt arme junge Mädels; sie +warteten auf die eleganten Damen, die mit seidenbeschuhten Füßchen und +langen Schleppen den Wagen entstiegen. Sie ließen sich von den Rädern +mit Kot bespritzen, um vom Glanze des Lebens nur einen Schein zu +erhaschen. + +Wir hatten bei einigen Parteigenossen Besuch gemacht, -- auch bei +Millerand, -- und waren mit einer Liebenswürdigkeit empfangen worden, +als wären wir längst erwartete alte Freunde. Aber es blieb bei ein paar +förmlichen Einladungen mit oberflächlichen allgemeinen Gesprächen. +Während mein Mann einen unvereinbaren Gegensatz in dem Benehmen unserer +Gastgeber empfand, fühlte ich mich plötzlich in die Umgebung meiner +Jugend zurückversetzt und verstand sie. + +Der Franzose ist ein geborener Aristokrat, er hat jene Kultur des +Benehmens, jene Liebenswürdigkeit der Form, die zugleich eine +unübersteigliche Mauer ist, hinter der sich das persönlich Menschliche +verbirgt. + +Wir gerieten auch in einen literarischen Salon, dessen Herrin tout Paris +um sich zu versammeln verstand. Sie war von unverwüstlicher Schönheit, +und ihre Küche war berühmt. Als wir nach Hause gingen, war mein Mann +befriedigt und angeregt und ich schlechter Laune. »Hast du dich denn +nicht amüsiert?« fragte er mich schließlich. + +»Ganz und gar nicht,« antwortete ich, »und wenn ich nicht fürchten +müßte, daß meine Ehrlichkeit mich in deinen Augen herabsetzt, --« + +»Aber Alix,« lachte er und zog meinen Arm fester durch den seinen, »du +weißt, daß du mich immer entzückst, wenn du du selber bist.« + +»So will ich's drauf ankommen lassen und dir gestehen, daß ich die Rolle +des unbeteiligten Zuschauers in jeder Gesellschaft, -- und wäre es die +interessanteste, -- unerträglich finde. Es ist ja sicher lehrreich, zu +erfahren, daß der Wert der Frau in Paris mit dem Wert ihrer Kosmetik und +ihrer Toilette steigt und fällt, aber da ich auf dem Gebiet nicht +konkurrieren kann --« + +Heinrich lachte noch lauter. »Du liebe Eitelkeit, du,« war alles, was er +sagte, während die Röte der Beschämung mir noch auf den Wangen brannte. + +Ein andermal folgte ich der Einladung einer der führenden +Frauenrechtlerinnen in die Redaktion ihrer Zeitung. Ich bewunderte schon +lange die Energie, mit der sie die Frauen -- französische Frauen! -- +zwang, die politischen Tagesereignisse zu verfolgen, und an der Seite +der Zola und Jaurès an dem Kampf für Dreyfus teilgenommen hatte. Ich +erwartete unwillkürlich eine typische Feministin: harte Züge, eckige +Bewegungen, männliche Kleidung. Schon die Räume, die ich betrat, +überraschten mich; sie hatten alle das Aussehen und das Parfüm eines +eleganten Boudoirs. Ein paar Damen gingen vorüber, -- sie hätten ebenso +beim five o'clock im Grand Hotel erscheinen können. Dann kam die +Leiterin selbst. Wenn sie mir bei Maxim begegnet wäre, ich hätte mich +nicht gewundert. Ihre Schönheit hatte trotz aller statuenhaften Kühle, +-- oder vielleicht gerade deshalb, -- etwas Sieghaftes. + +»Je radikalere Feministen wir sind, desto stärker müssen wir unser +Weibsein betonen,« sagte sie im Lauf des Gesprächs. Ich stimmte ihr +lebhaft zu und dachte an ihre deutschen Gesinnungsgenossinnen, die den +Gegensatz zwischen der Weltdame und der Frauenrechtlerin nicht genug +glaubten zeigen zu müssen. + +»Sie vergessen nur eins,« fuhr ich fort. »Die Pflege der Schönheit +kostet Zeit und Geld. Und die eigentlichen Trägerinnen der +Frauenbewegung, die Frauen, die heute im Kampf ums Dasein stehen, haben +keins von beiden.« + +»Darum müssen wir es ihnen schaffen,« warf sie lebhaft ein und führte +mich, um ihre eigene Tätigkeit nach dieser Richtung zu illustrieren, in +den Setzersaal, wo lauter junge Mädchen beschäftigt waren. Unter den +großen Schürzen lugten zierliche Kleider hervor, die hübschen +Lockenköpfchen hätten höheren Töchtern gehören können. Ihre Augen +folgten mit schwärmerischer Bewunderung der stolzen Gestalt ihres +weiblichen Chefs, die sich, umgeben von Veilchenduft, mit einem leisen +Wiegen in den Hüften durch ihre Reihen bewegte. Ich hörte später, sie +sei eine grande amoureuse, eine von jenen, deren Herzen kalt bleiben, +wenn ihre Sinne glühen. »Ihre Mittel sind unerschöpflich,« sagte man mir +mit einem vielsagenden Lächeln. Mich interessierte dieser Typus, der mir +in Deutschland nicht würde begegnen können. Ich versuchte, ihr näher zu +treten. Doch auch sie blieb stets dieselbe: geistvoll, liebenswürdig, -- +aber unnahbar. + + * * * * * + +Unser Pariser Aufenthalt neigte sich seinem Ende zu. Mein Buch war fast +fertig. Es fing schon an, sich von mir loszulösen und vor mir zu stehen +wie etwas Fremdes, nicht mehr zu mir Gehöriges, mit dem ich auch +innerlich abgeschlossen hatte. Es war wie eine erstiegene Höhe, von der +aus ich nun weiter gehen mußte. Meine Gedanken kreisten immer enger um +die neue Aufgabe, die wir uns gestellt hatten. Meine Hoffnungen, genährt +von der Liebe zu meinem Mann, der seine Lebensbestimmung glaubte +gefunden zu haben, übertönten die leise warnenden Stimmen meines +Inneren. + +»Du kannst nur schaffen, wenn du dich selbst behauptest,« sagten sie. + +»Du wirst die Sache zum Siege führen, wenn du dich selbst hingibst,« +frohlockte die Hoffnung. + +Ich glaubte ihr. + +Heinrich fuhr voraus nach Berlin. Ich erinnerte mich während der letzten +acht Tage, daß ich in Paris war. Mein Junge jubelte, weil er nun jeden +Morgen mit »Mamachen« gehen durfte. Die Berta hatte auf ihren +Spaziergängen mit ihm viel mehr gesehen als ich; der kleine Bub wurde +mir zum Führer. Er kam sich dabei sehr wichtig vor. Zuerst zog er mich +in atemloser Eile durch die Tuilerien hindurch zu »der Frau, die ein +Soldat war«. Ich lächelte: war es doch meiner frühsten Kindheit Traum +gewesen, das Vaterland zu befreien wie sie! Stolz und siegessicher, +Frankreichs Fahne fest in der Hand, erhob sich ihr Standbild vor mir; +sie war den Stimmen in ihrer Brust gefolgt, -- unbeirrt; aus dem +Scheiterhaufen, der ihren Leib verzehrte, erhob sie sich nur noch +größer. + +»Die Jungfrau von Orleans, -- ist das ein Märchen?« fragte der Kleine, +als ich ihm die Geschichte erzählt hatte, und sah mit nassen Augen zu +der Reiterin empor. + +»Nein, es ist Wahrheit,« antwortete ich. + +»Warum verbrannten sie denn die bösen Menschen?« Auf seine glatte +Kinderstirn gruben sich tiefe Falten des Zornes. + +»Sie vertragen nur, was ihresgleichen ist,« sagte ich leise, wie zu mir +selbst. + +Unter der hohen Kuppel des Invalidendomes standen wir miteinander. Ein +breiter Strom bläulichen Lichtes entsprang ihr und wogte tief unten um +den roten Porphyr, der des großen Korsen Gebeine umschließt. Der Gang +ringsum, die Kapellen zur Seite schienen im Dämmer zurückzutreten. Mit +leiser Stimme erzählte ich von dem armen Knaben aus Ajaccio, der, seinem +Sterne getreu, die Welt eroberte, der das Testament der Revolution +vollzog, und der auf der Felseninsel im Weltmeer starb -- in Ketten. + +»Auch weil -- weil --« das Kind neben mir suchte nach den Worten, deren +Sinn er nicht verstanden hatte; »weil er zu groß war für die anderen,« +ergänzte ich. + +Am letzten Tage vor unserer Abreise kämpfte der erste +Frühlingssonnenschein mit den schwarzgrauen Regenwolken; grüne Spitzchen +lugten neugierig an Büschen und Bäumen aus braunen Hüllen hervor; die +Kinder mit den langen gedrehten Locken bevölkerten wieder die Gärten. + +Ich war stundenlang im Louvre gewesen. Ich hatte die Menschen, die +Welt, die Jahrhunderte durch die Augen der Größten aller Zeiten gesehen +und fühlte meinen Geist heller, mein Herz wärmer werden. In der Kunst +kommt es nicht darauf an, wie die Welt ist, sondern wie die Augen sind, +die sie betrachten. Nur der Künstler hat recht, dem sie immer Objekt +bleibt, der im Häßlichen noch das Schöne, im Bösen das Menschliche +findet. + +Und nun, zum Abschied, nahm ich noch einmal den Kleinen mit mir. + +»Zur Göttin der Griechen wollen wir,« sagte ich ihm, »die Odysseus und +Achilles anbeteten.« + +Die Leute drehten sich um, lächelnd, spottend, entrüstet, als sie mich +mit dem Kind an der Hand durch die Säle gehen sahen, bis dahin, von wo +der Venus von Milo weiße Gestalt uns entgegenleuchtete. + +»Warum beten die Menschen nicht?« flüsterte mein Sohn, der die Mütze vom +Köpfchen gezogen hatte. + +In einsamer Herrlichkeit stand sie vor uns, im Bewußtsein ihrer Macht +und Schöne, zeitlos, beziehungslos. Ihr Blick schweifte hinweg über die +Menge, gleichgültig, ob sie ihr Opfer zündete oder die Linien ihres +Körpers mit dem Zirkel maß. Sie herrschte, sie begeisterte und belebte, +nicht weil sie vom Sockel stieg in den Dienst der Massen, sondern weil +sie vollendet war in sich. + +Droben in den Sälen hingen die Bilder aller derer, die die Menschen, +denen sie dienten, gekreuzigt hatten: die Heiligen, die Madonnen, die +Christuskinder. Sollte der Zweck des Daseins nicht doch der Olymp der +Griechen und nicht der Himmel der Christen sein? + +Ich strich mit der Hand über die Stirn. Es war etwas wach geworden in +mir, das schlafen mußte. + +Ein weiches Händchen nestelte sich in das meine: »Warum hat die Göttin +keine Arme, Mamachen?« + +»Zur Strafe, weil sie die Menschen nicht festhielt, die ihrem Tempel +entliefen.« + + + + +Elftes Kapitel + + +Es war ein Sonntag, als wir Berlin wiedersahen. Mir schien, als wären +wir Fremde. Wie klein, wie armselig war das alles: die Linden mit ihren +kraftlosen Bäumen und stillosen Häusern, der Pariser Platz mit seiner +bedrückenden Engigkeit. Und die neuen Stadtteile: eine gute Bürgersfrau, +die sich herausgeputzt hat, und das bißchen echte Kultur, das sie besaß, +darüber vollends verlor. Dazwischen die Feiertagsbummler: Der Kontrast +zwischen ihrer kreischenden Lautheit in Tönen und Farben und dem matten +Grau des Märztages tat Augen und Ohren weh. + +»Ich möchte wissen, wo ich zu Hause bin,« seufzte ich und legte mich +abends mit jenem Gefühl innerer Leerheit schlafen, das uns zuweilen +überkommt, wenn wir eine Staatssoirée hinter uns haben. Mir träumte von +einem riesigen Wasserfall. Noch im Halbschlaf am Morgen hörte ich sein +Rollen und Rauschen, und je wacher ich wurde, desto stärker schwoll es +an. Vom Potsdamer Platz herauf klang es; Straßenbahnen, Omnibusse, +Lastwagen, eilende Menschenfüße waren die Instrumente dieses Konzertes; +Berlin ging auf Arbeit. Da war kein Winkel ohne Leben. + +Drüben in der Leipzigerstraße waren unter der Spitzhacke alte +Mauern zusammengebrochen, und sieghaft erhob sich jetzt, von +Riesengranitpfeilern getragen, ein mächtiges Warenhaus, wie selbst Paris +es nicht kannte, aus dem märkischen Sand. Kein Basar, dessen Bau Gotik, +Barock und Renaissance durcheinanderwirft, wie seine reklameschreienden +Schaufenster die Waren, -- ein Stück neuer Kultur vielmehr, die die +Schönheit der Zweckmäßigkeit erkannte und doch allen Zauber der Kunst +über sie ausgoß. Die Menschen strömten aus und ein. Sie trugen von all +jenen glänzenden Goldblumen und köstlichen Steinreliefs, die seine +inneren Räume schmückten, von den farbenleuchtenden Onyxplatten und +gemalten Holzdecken, von den Feuertropfen und Lichtgirlanden einen +Schimmer von Schönheit mit sich nach Haus. + +Jenseits des Platzes waren Baumriesen gestürzt, denn dem Verkehr mußte +die Straße sich weiten, und an der Peripherie der Stadt standen +reihenweise die Holzgerüste, wie gewaltige Pallisaden, -- Zeichen dafür, +daß das alte Kleid ihrem Riesenleibe zu eng wurde. + +Ein Emporkömmling ist sie, -- gewiß! Aber keiner, den das Glück aufwärts +trug. Vielmehr einer, der sich durch die Kraft seiner Fäuste den Weg +bahnte. + +Wie die Menschen liefen und hasteten! Sie kannten jenes gemächliche +Schlendern nicht, mit dem Lächeln der Behaglichkeit auf den Lippen und +kokettierenden Blicken hin und her. Aller Züge schienen gespannt von +nervöser Eile, von sorgender Angst, von lastenden Gedanken. + +Klingendes Spiel, feste Schritte im Takt kündeten das Nahen von +Soldaten. Der Verkehr stockte. Wo in Preußen die bewaffnete Macht +erscheint, gehört ihr die Straße. Und hypnotisiert durch den Marsch, +durch die Masse, durch wehende Federbüsche und blinkende Uniformen, +drängte jung und alt ihr nach, ihr voran. + +Die Alexander-Grenadiere bezogen heute ihre neue Kaserne: in nächster +Nähe des Schlosses war sie errichtet worden, eine Zwingburg mit Mauern +und Schießscharten; und vom Lustgarten aus führte der Kaiser selbst +seine Garde dem neuen Heime zu, während die Polizei in weitem Bogen das +gaffende Volk beiseitedrängte, damit der Herrscher allein blieb mit +seinen Truppen. »Ihr seid die Leibwache eures Königs,« sagte er, »und +wenn diese Stadt noch einmal wie Anno 48 sich wider ihn erheben wird, so +seid ihr berufen, die Frechen und Unbotmäßigen mit der Spitze eurer +Bajonette zu Paaren zu treiben.« + +Fürwahr, wenn ich mich bis jetzt wie in einem Traum befunden hatte, nun +wußte ich: wir waren in Berlin. + + * * * * * + +Wir gingen mittags zu Erdmanns. Sie waren erst kürzlich von einer langen +Seereise zurückgekehrt, die der Arzt ihnen verordnet hatte, und +schienen, nach den Briefen meiner Schwester zu schließen, befriedigt von +ihrem Erfolg. Und nun standen sie mir gegenüber, so anders als ich sie +verlassen hatte. Scharf und eckig traten die Backenknochen aus meines +Schwagers Gesicht hervor, sein Anzug hing um ihn, als wäre sein Körper +nichts als ein Knochengerüst. Nur sein Geist schien lebensvoller als je +und sprühte Funken. Das Schwesterchen dagegen war ebenso still, wie sie +blaß und schmal war. Wo war das runde Kindergesicht und die glänzenden +Augen? Seltsam: auch aus ihren Haaren war der Goldschimmer +verschwunden; es lag wie Asche auf ihnen. Die einstmals lauter Wärme +ausströmte, hatte eine Atmosphäre abweisender Kühle um sich. Ihre Lippen +glichen jetzt denen meiner Mutter: scharf, schmal, blutlos. Ich sah, daß +sie sich mir nicht öffnen würden, und forschte in ihren Zügen; aber auch +sie blieben verschlossen. Ob sie unglücklich war, weil sie kein Kind +hatte? Erdmann spielte stundenlang mit meinem Buben, während sie ihn +kaum mit einem Blick streifte. Wir sprachen von der Mutter, die den +Winter in Italien verlebt hatte und Briefe schrieb wie ein junges +Mädchen, das zum erstenmal in die Welt sieht. + +»Sie ist glücklich, seitdem sie allein ist,« sagte Ilse. Ein flehender, +gequälter Blick ihres Mannes traf sie. + +»Was spielst du jetzt?« fragte ich, zum Flügel deutend, um das Gespräch +abzulenken. + +»Ich habe die Musik aufgegeben, sie macht mich nervös,« antwortete sie. + +»Auch die Oper??« + +»Die erst recht! Die offenen Mäuler und gespreizten Arme all der dicken +Tenöre und Primadonnen zerstören jeden Rest von Illusion. Man kann sie +bestenfalls ertragen, wenn man geschlossenen Auges zuhört. Aber da man +immer den übrigen Pöbel um sich hat -- --« + +Sie unterbrach sich und schürzte ein wenig spöttisch die Lippen: »Ach +so, -- entschuldige! Ich vergaß, daß ich euer proletarisches Empfinden +kränken könnte.« + +Erdmann lachte. »Nun -- nun,« meinte er begütigend, »der Pöbel des +Parketts dürfte doch auch in euren Augen mit dem Proletariat nicht +identisch sein. Übrigens bin ich mit Ilse einer Meinung: der Zirkus und +das Überbrettl sind für unsereins allein noch erträglich. Hohe Kunst auf +der Bühne ist verletzend für Menschen von Kultur. Man sollte dafür +Marionettentheater schaffen, oder sechsfache Schleier vor die Darsteller +hängen, damit sie wie Schatten wirken.« + +»Unvergleichliche Wirkungen müßten sich dadurch erzielen lassen,« sagte +Ilse, etwas lebhafter werdend, »zum Beispiel mit herrlichen Sachen, wie +diesen hier.« Sie wies auf das neuste Heft der Blätter für die Kunst, +das dramatische Gedichte von Schülern Stefan Georges enthielt. + +»Ich lese sie noch immer nicht,« entgegnete ich lächelnd; »weniger denn +je kann ich heute die hochmütige Abkehr vom Leben vertragen, die das +Kennzeichen all dieser Menschen ist. Sie berauschen sich am Klang der +Sprache und bekommen, wenn es zu handeln gilt, zittrige Hände wie +Absinthtrinker.« + +Wir gerieten in eine Debatte, die sich immer schärfer zuspitzte. Ilse +bekam heiße Wangen und mitten im Gespräch einen heftigen Hustenanfall, +der mich angstvoll aufhorchen ließ. Erdmann sah in diesem Augenblick wie +verstört drein. Und wie um gewaltsam den Eindruck abzuschütteln, +beschloß er, uns durch den Tiergarten zum Hotel zurückzubegleiten. + +»Ich bin zu müde --,« sagte Ilse. + +»In der frischen Luft wirst du schon munter werden,« damit drängte er +sie hinaus. + +Wir begegneten vielen Menschen, die Erdmanns grüßten. Das stimmte ihn +fröhlich. »Lauter Leute, die ich einrichte,« sagte er. »Wenn ich erst +all den Berlin-W.-Protzen zu anständigem Wohnen verholfen haben werde, +kann ich den ganzen Kram an den Nagel hängen und Pinsel und Palette +wieder vorholen. Was, mein kleines Ilschen?!« Und zärtlich schob er +seinen Arm in den ihren. Aber sie senkte den Kopf nur noch tiefer. + + * * * * * + +Als die Mutter zurückkehrte, äußerlich und innerlich verwandelt, frisch +und strahlend, dabei mit gesteigertem Lebensdurst, der sich auf alles +stürzte, was sich ihr bot, lag Erdmann fiebernd zu Bett. + +»Er wird sich erholen, sobald es warm wird,« sagte sie zuerst, und +erzählte voll freudigem Eifer von ihren schweizer Sommerplänen. Ein paar +Tage später sah ich sie wieder: gerade, steif, mit zusammengekniffenen +Lippen, wie damals, als der Vater noch lebte. Die Ärzte hatten sie +aufgeklärt. Erdmann hatte die Schwindsucht, Ilse schien angesteckt. + +Wir nahmen Abschied von Erdmanns. Sie sollten in ein heidelberger +Sanatorium übersiedeln. Die seidene Decke, unter der er lag, bauschte +sich kaum sichtbar über dem Körper; die mageren Finger führten eifrig +den langen Bleistift über das Papier auf seinem Schoß. »Ich muß doch für +Prinzessin Ilse Geld verdienen,« und ein leidenschaftlicher Blick traf +die schöne junge Frau, die ihm mit gesenkten Lidern, ruhig und +pflichttreu, die Arznei zum Munde führte. + +Ich kämpfte mit den Tränen, als ich nach Hause kam. Nicht nur, weil +meine Schwester in einem Augenblick, wo ich sie unglücklich wußte, mir +fremd, fast feindselig gegenüberstand, sondern weil sie das Opfer einer +Ehe war, von der ich sie vielleicht hätte zurückhalten können. Ich +empfand ihre Kühle wie einen Vorwurf. + +»Vor Kinderschmerzen hast du mich einst gehütet,« schienen ihre Augen zu +klagen, »warum hast du mich vor dem schlimmsten nicht bewahrt?« Und wenn +sie meinen Buben geflissentlich übersah, so wußte ich, was sie damit +sagen wollte: »Du hast mich über ihm vergessen.« + + * * * * * + +Unser Einzug in die neue Wohnung, -- einem Gartenhaus der Uhlandstraße, +-- war kein fröhlicher. All die tausenderlei Dinge, die mit ihm +zusammenhingen, vom Auslösen der Möbel auf dem Speicher bis zu den +Löhnen der Handwerker, hatte unser letztes Geld verschlungen. + +»So mach dir doch nichts draus, -- quäle nicht dich und mich mit +unnützen Sorgen,« rief Heinrich heftig, als ich ihm unsere Lage +auseinandersetzte. Ich schwieg verletzt. Er war wie ein geistig +Weitsichtiger, der das Nächste nicht sieht, dem immer nur das Ferne +gegenwärtig ist. Der Plan seiner Zeitschrift beherrschte ihn völlig. So +mußte ich mir selber helfen. Ich bat den Verleger meines Buches um mein +Honorar. Er erfüllte meinen Wunsch ohne weiteres. Heinrich aber wunderte +sich nicht einmal, wieso ich plötzlich Geld hatte. Für ihn schienen die +pekuniären Seiten des Lebenskampfes nicht zu existieren, mir dagegen +nahmen sie alle Schwungkraft und machten mich bis zur Grausamkeit bitter +gegen ihn. Bat ihn jemand um ein Almosen oder um ein Darlehn, so gab er, +was er in der Tasche hatte. Wagte ich einen leisen Vorwurf, so gruben +sich seine Stirnfalten noch tiefer, und es kam immer häufiger vor, daß +er mir mit einem: »Sieh lieber, daß deine Berta dich nicht betrügt!« +antwortete. Dann erst war die Entzweiung eine vollkommene. Nichts schien +mir ungerechter, als dieses Mädchen zu verdächtigen, das sich für uns +aufopferte und nicht einmal eine Aufwärterin zu ihrer Hilfe zuließ. Daß +sie allmählich in ihrem Aussehen und Benehmen zu einem »Fräulein« +geworden war, schien mir im Interesse meines Jungen nur vorteilhaft, +während Heinrich es als Folge meiner Verwöhnung ansah und behauptete, +ich verdürbe nur das einst so schlichte Bauernmädchen. + +Lange freilich währten unsere gegenseitigen Verstimmungen nie. Vor den +klaren Augen unseres Kindes, denen nichts entging, schämten wir uns +ihrer. Seine Jugend sollte nicht durch den Unfrieden seiner Eltern +vergiftet werden, wie die meine. + +»Nu lach doch wieder ein ganz kleines bißchen!« Damit kletterte er +schmeichelnd auf seines Vaters Knie. »Nich wahr, Mamachen, du gibst dem +Heinzpapa gleich einen dicken, runden Kuß!« Damit lief er zu mir und +legte das weiche Bäckchen zärtlich an meine Wange. + +Waren wir so versöhnt, so fühlten wir den Stachel nicht, der sich +trotzdem immer tiefer in unsere Herzen bohrte. + + * * * * * + +Gleich nach unserer Ankunft hatte ich den Genossinnen meine Rückkehr +mitgeteilt. Auch das war der Anlaß zu einer kleinen Auseinandersetzung +zwischen uns gewesen. + +»Willst du dich wirklich wieder in die unfruchtbare Arbeit stürzen?!« +sagte mein Mann ärgerlich. + +»Gewiß,« entgegnete ich mit jener Gereiztheit, die mich immer überkam, +wenn ich meine persönliche Freiheit durch ihn gefährdet glaubte. »Ich +sehe die Frauenbewegung mehr denn je als das Gebiet an, auf dem ich +wirken muß.« + +»Du wirst in unserer Zeitschrift genug für sie tun können, -- mehr als +in eurem Kaffeekränzchen!« + +Ich zuckte spöttisch die Achseln und meinte gedehnt: »Wenn ich darauf +warten soll!« Im selben Moment aber bereute ich schon, ihn an seiner +empfindlichsten Stelle verletzt zu haben. Es lag wahrhaftig nicht an +ihm, wenn seine Idee noch nicht verwirklicht war. + +Unsere Gesinnungsgenossen, mit Einschluß von Bernstein, der sie noch von +London aus in Briefen an meinen Mann lebhaft begrüßt hatte, stimmten ihr +rückhaltlos zu, aber es fand sich niemand, der auch nur einen Pfennig +für sie gegeben oder sich sonst um ihre Ausführung bemüht hätte. Daß +auch dies nur ein Symptom für die Uneinigkeit und Unklarheit des +Revisionismus war, empfand jeder von uns. Eine Bewegung war vorhanden, +aber es fehlte ihr die starke Hand eines Führers, der sie +zusammenzufassen und ihr Richtung zu geben vermag. Wir erwarteten für +die Sache wie für unseren Plan, der ja nur in ihren Diensten stehen +sollte, von dem persönlichen Eingreifen Bernsteins nicht wenig. + +An einem Maienabend des Jahres 1901, dessen Luft vom Brodem +lebensschwangerer Erde so gesättigt war, daß er selbst mitten in der +steinernen Öde der Stadt fühlbar wurde, drängten sich die Menschenmassen +in einem engen Saal dicht zusammen; sie trugen in ihren Haaren und +Kleidern den Duft des Frühlings mit herein, und der ganze Raum schien +erfüllt von seinem Fieber. Es waren keine Arbeiter. Aber die +intellektuelle Jugend war es. Besann sie sich endlich auf sich selbst? +War sie im Begriff, Ideale aufzurichten, die einer großen Kraft und +eines großen Kampfes würdig waren? Die sozialwissenschaftliche +Studentenvereinigung Berlins hatte diese Versammlung einberufen und +Eduard Bernstein zum Redner gewählt. Ihre berühmtesten Lehrer saßen +unter ihnen, dazwischen die politischen Führer jener Linken, -- die +Barth, die Naumann, die Gerlach, -- die, abgestoßen von allen anderen +bürgerlichen Parteien, zwischen ihnen und der Sozialdemokratie die +unfruchtbare Rolle des Puffers spielte. Sie alle hofften, -- bewußt oder +unbewußt, -- daß dieser Abend irgendeine Quelle erschließen würde, an +der sie nicht nur ihren Durst stillen könnten, sondern deren Wasser sich +zum Strome weiten und alle ihre irrenden Schiffe zu tragen vermöchten. + +»Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?« lautete die Frage, auf +die Bernstein die Antwort geben wollte. Er trat an das Rednerpult. +Hinter den Brillengläsern sahen seine kurzsichtigen Augen mit einem +verlegen-erstaunten Blick auf die Menge der Zuhörer. Dann sprach er. +Mit einer Stimme, die brüchig klang. In abgehackten Sätzen. Ein Mann, +der an die Enge der Studierstube gewohnt war, nicht an die +Volksversammlung. Schon zog der Schatten der Enttäuschung über den +hoffnungsfrohen Glanz auf den Gesichtern. Schüchtern und leise tauchte +hie und da schon die Frage auf: »Was hat er eigentlich? -- Was will er?« + +Daß der Sozialismus von spekulativem Idealismus erfüllt und darum nicht +Wissenschaft sei, die im voraussetzungslosen Streben nach Erkenntnis +bestehe; daß die Arbeiterbewegung vom Wollen eines bestimmten Zieles, +vom Glauben an ein bestimmtes Zukunftsbild getragen sei und nicht vom +Wissen, -- es war kaum möglich, aus der langen Rede etwas anderes +herauszuhören, als diese wenigen, für den Ausgangspunkt einer neuen +Bewegung viel zu negativen Gedanken. + +Zuweilen schien es, als ob der Vortrag nichts wäre als das laut +gewordene Grübeln eines Menschen über Dinge, die ihn selbst noch als +Probleme quälen. Er war so mit sich beschäftigt, daß er nicht fühlte, +jener elektrische Strom, der ihn zuerst mit den Zuhörern verband, sich +mehr und mehr verflüchtigte, statt daß er ihn benutzt hätte, um die +unerschütterten, befreienden Gedanken des Sozialismus diesen offenen +Seelen einzuprägen, ihnen den Willen zur Tat zu vermitteln, nach dem +ihre junge Kraft sich sehnte. + +Wir hatten einen Künder neuer Wahrheit erwartet, und ein Zweifler war +gekommen, dem des Pontius Pilatus Frage Geist und Gewissen bewegte. + +Ein feiner durchdringender Regen rieselte hernieder, als wir den Saal +verließen. Mich fröstelte. Ich wäre am liebsten still nach Hause +gegangen. + +»Nun?! In diesem zweieinhalbstündigen Redefluß sind Ihnen wohl alle +Felle weggeschwommen?« sagte eine sarkastische Stimme neben mir. Ich sah +in Rombergs lächelndes Gesicht und machte eine abwehrende Bewegung; mir +war nicht zum Scherzen zumute. »Und nun rasch, kommen Sie beide mit, in +irgend einen gemütlichen Winkel. Wir haben uns eine Welt zu erzählen;« +damit versuchte er, einen Weg durch die Menge zu bahnen. Seine +aufrichtige Freude über unser Wiedersehen tat mir in diesem Augenblick, +in dem ich so viel verloren zu haben glaubte, doppelt wohl. + +»Lassen wir's heute,« meinte mein Mann mißmutig, »wir würden nur Ihre +gute Laune verderben.« + +»Oder ich Ihre schlechte, da meine die dauerhaftere ist,« lachte +Romberg. + +Wir gingen zusammen in eins der zunächst gelegenen Restaurants, aber der +»gemütliche Winkel«, den wir uns aussuchten, wurde rasch zum +Kriegsschauplatz, denn eine ganze Gesellschaft Versammlungsbesucher fand +sich allmählich ein, und jeder hatte das Bedürfnis seinem Herzen Luft zu +machen. Es zeigte sich nun erst recht, wie unklar Bernstein gesprochen +hatte: je nach der politischen oder philosophischen Richtung, der der +einzelne zugehörte, gab er seinen Worten eine andere Deutung. + +»Das Todesurteil des Marxismus!« triumphierte der Nationalsoziale. + +»Nein,« antwortete scharf einer unserer radikalen Parteigenossen, »ein +Todesurteil seiner selbst! Er hat als wissenschaftlicher Sozialist +abgedankt.« + +Und nun wurden aus seiner Rede einzelne Sätze herausgerissen, die der +und jener sich notiert hatte, und betrachtet und zerpflückt. Als eine +Rückkehr zum Utopismus wurde bezeichnet, daß er die »Wünschbarkeit einer +sozialistischen Gesellschaftsordnung« für den Hebel der Agitation und +die werbende Kraft der Partei erklärt hatte. + +»Nur alte wundergläubige Weiber lockt man damit hinter dem Ofen hervor,« +spottete einer; »auch das himmlische Jerusalem war 'wünschbar', und doch +haben wir die Fahrt dahin aufgegeben, weil seine Existenz unbeweisbar +blieb.« + +»Vollends lächerlich,« fügte ein anderer hinzu, »ist die Behauptung, daß +die Einsicht in die größere Gerechtigkeit sozialistischer Einrichtungen +uns zu Sozialisten gemacht hat. Mag sein, daß Mitleid mit den Armen, +Empörung gegen die Ungerechtigkeit manch einen zuerst in unsere Reihen +trieb. Aber bloße Empfindungen verflüchtigen sich, wenn die Erkenntnis +sie nicht auf realen Boden zwingt. Würde Bernstein wirklich die Frage +nach der Wissenschaftlichkeit des Sozialismus verneinen können, so wäre +er so viel wert, als das Christentum bisher gewesen ist.« + +Romberg hatte zuerst ruhig zugehört. + +»Jetzt zerzausen sie den armen Bernstein, weil er ihnen nicht die letzte +Wahrheit gab!« sagte er nun, während aller Augen sich auf ihn richteten. +»Die Wissenschaft ist doch nichts Fertiges, sondern ein ewiges Suchen! +Er sucht, und beweist dadurch, daß er denkt. Wissenschaftlich abgedankt +hat nicht er, sondern haben diejenigen seiner Gegner, die jeden Satz im +Lehrgebäude des Sozialismus für ein unersetzliches Glied in der Kette +der sozialistischen Beweisführung halten. Dieser Dogmatismus könnte die +Bewegung töten, nicht aber der Revisionismus, auch wenn er sich noch so +täppisch gebärdet.« + +»Bernsteins Kritik vernichtet doch aber geradezu grundlegende Ideen des +Marxismus?« wandte der Nationalsoziale ein. + +»Und wenn schon?!« antwortete Romberg. »Der Bau des marxistischen +Systems ist so genial, daß sich Mauern herausbrechen lassen, ohne ihn zu +gefährden. Die Tatsache des Klassenkampfes schaffen Sie nicht aus der +Welt, sie allein genügt, um die Naturnotwendigkeit des Sozialismus zu +beweisen.« Er trank sein Glas leer und erhob sich mit einem hochmütigen +Blick auf die verdutzten Gesichter der Tischgenossen. »Unser Schicksal +ist unentrinnbar, -- damit muß man sich abfinden,« sagte er, »aber +wünschbar -- weiß Gott! -- ist's für unsereinen nicht. Ich bin bloß +froh, daß die berühmte 'lutte finale' sich erst auf meinem Grabe +abspielen wird.« + +Wir gingen zusammen. + +»Ich danke Ihnen,« sagte ich, als wir draußen waren; der niederdrückende +Eindruck der Rede Bernsteins war verwischt. + +»Im Grunde habe ich ja auch nur für Sie gesprochen --,« es war der +teilnehmende Blick eines Freundes, mit dem er mir bei den Worten in die +Augen sah, -- »ich bin so gewohnt, Sie stark zu sehen, daß mir Ihr +Kummer förmlich weh tat.« + +Er begleitete uns bis nach Haus. Mein Mann weihte ihn in unsere Pläne +ein. + +»Und Sie sind einverstanden? Sie wollen am Ende gar mittun?!« wandte er +sich an mich. + +»Mit allen Kräften, -- gewiß!« antwortete ich. »Was können Sie dagegen +haben, nach all den Gedanken, die Sie heute über den Sozialismus +entwickelten.« + +»Ich mag Sie mir nicht vorstellen, -- auf dem Drehschemel vor dem +Redaktionspult, -- die Schmierereien anderer Leute korrigierend. Sie +gehören ins achtzehnte Jahrhundert --« + +»Gewiß! An die Seite der Madame Roland --!« unterbrach ich ihn rasch. + +Nach und nach erwärmte er sich für unseren Gedanken. »Mit all dem +Kleinbürgerlichen, Philiströsen in Ihrer Partei werden Sie gründlich +abrechnen müssen,« meinte er im Laufe des Gesprächs, »weite Horizonte +geben, die über den Misthaufen des Nachbarn hinausgehen.« Und er +verbreitete sich über die Stellung der Partei zur auswärtigen Politik. + +»Hier trennen sich unsere Wege, lieber Professor,« sagte mein Mann. »Sie +werden kaum erwarten, daß ich als Sozialdemokrat auf diesem Gebiet Ihre +Wandlungen mitmache.« + +»Wandlungen?! Wieso?!« ereiferte sich Romberg. »Es entspricht der +Konsequenz meiner Entwicklung, daß ich für den Kolonialbesitz +Deutschlands eintrete und demzufolge für die Flottenvorlage agitiert +habe. Traurig genug, daß ihr Sozialisten euch, scheint es, erst belehren +lassen werdet, wenn ihr die Macht im Staate habt! Das ist, -- verzeihen +Sie, liebe Freundin! -- der unglückselige feministisch-sentimentale +Einschlag in der Sozialdemokratie, der sie für die notwendigen, großen, +-- wenn Sie wollen -- grausamen Forderungen der Kultur blind und taub +macht. Der Kampf um die Macht ist die Bedingung unserer Entwicklung. +Die Frage, die uns die Weltgeschichte stellt, ist einfach die: soll uns +die Erde gehören oder den Negern und den Chinesen? Die Antwort scheint +mir nicht zweifelhaft.« + +Ich sah empört zu ihm auf: »So sind Sie für das Chinaabenteuer mit all +seinem Gefolge von Hunnentum und für die Kolonialkriege mit all ihrer +Unmenschlichkeit?! Das heißt doch nicht, Forderungen der Kultur +erfüllen, sondern die Kultur preisgeben, die wir haben!« + +»Ich bin für die Erschließung Chinas, die für unseren Handel eine +Notwendigkeit ist; ich bin für die Kolonialkriege, die den Boden +gewinnen für unsere Volksvermehrung, aber daraus folgt doch nicht, daß +ich die Greuel des Krieges verteidige. Ich nehme sie nur um der größeren +Werte willen in den Kauf, wenn sie unvermeidlich sind ... Wir würden +heute noch in Urwäldern wohnen, wenn wir mit den wilden Tieren Mitleid +gehabt hätten.« + +Eine lebhafte Debatte über die volkswirtschaftliche Bedeutung der +Kolonien und der »offenen Tür« Chinas entspann sich zwischen meinem Mann +und Romberg. Ich hörte kaum zu; der Gedanke an die Urwälder und die +wilden Tiere ließ mich nicht los und spann sich wie von selber weiter. +Ich horchte erst auf, als Romberg sagte: »Wenn die Sozialdemokratie sich +nicht entschließt, die Sache der Starken zu führen, so wird ihr Sieg +eine Niederlage der Menschheit sein.« + +Vor unserer Haustür nahmen wir Abschied voneinander. + +»Was wird denn aber mit dem Archiv?« wandte sich Romberg noch einmal an +Heinrich; »es wäre ein Jammer, wenn es zugrunde ginge!« + +Mein Mann zuckte die Achseln. »Wissen Sie einen Käufer dafür?« fragte +er statt einer Antwort. + +»Einen Käufer? -- Vielleicht!« meinte Romberg nachdenklich. + +Eine leise Hoffnung stieg in uns auf. + + * * * * * + +An einem der folgenden Tage kam ich zum erstenmal seit meiner Rückkehr +mit den Genossinnen zusammen. Man empfing mich kühl, -- fast als bedaure +man, mich überhaupt wieder zu sehen. Ich unterdrückte den aufsteigenden +Ärger. Bald würden sie mir ganz anders begegnen. Lag erst mein Buch in +ihren Händen, -- das Buch, das eine wissenschaftliche Leistung und ein +Bekenntnis war, -- so würden sie mich alle freudig willkommen heißen. + +In dem Jahr meiner Abwesenheit waren die Fortschritte der +Arbeiterinnenbewegung nicht erheblich gewesen. Man hatte versucht, durch +Einrichtung von Beschwerde- und Auskunftsstellen einen persönlichen +Zusammenhang mit den der Bewegung noch fremd gegenüberstehenden +Arbeiterinnen zu schaffen. Ich lächelte unwillkürlich, als ich davon +hörte. Vorschläge der Art hatte mein so leidenschaftlich bekämpfter Plan +eines Zentralausschusses für Frauenarbeit enthalten. + +Für den Arbeiterinnenschutz und gegen die Beschränkung der Fabrikarbeit +verheirateter Frauen war auf Grund eines Parteitagsbeschlusses eine +größere Agitation entfaltet worden. Die Erfolge waren minimal. + +»Es fehlt uns immer noch an packenden Schriften, die wir verbreiten +könnten,« meinte eine der Frauen. + +»Ist denn Genossin Orbins Broschüre noch nicht erschienen?« fragte ich +und begegnete erstaunten Gesichtern. + +»Genossin Orbins Broschüre?!« wiederholte Ida Wiemer. »Von der wissen +wir nichts!« + +»Ich habe doch darauf hin meine eigene Absicht, eine solche zu +schreiben, aufgegeben!« rief ich aus, -- noch immer wollte ich nicht +glauben, woran doch nicht mehr zu zweifeln war: sie hatte mich nur an +der Arbeit hindern wollen! Martha Bartels lächelte ironisch. Ich hörte, +wie sie ihrer Nachbarin zuflüsterte: »Sie will sich nur aufspielen, -- +uns glauben machen, daß sie auch mal was zu arbeiten die fromme Absicht +hatte --,« und ich sah wie ihre Worte von Mund zu Mund gingen und die +Mienen sich klärten. + +»Wenn Sie sich mit der Frage beschäftigt haben,« sagte sie dann laut und +hochmütig, »so können Sie ja ein paar Referate übernehmen.« + +Ich war bereit dazu. + +»Vielleicht sprechen Sie auch bei uns?« fragte die Vorsitzende des +Arbeiterinnenbildungsvereins; »es müßte freilich ein anderes Thema +sein.« + +»Gern!« antwortete ich und war entschlossen, die Frage der +Haushaltungsgenossenschaft bei der Gelegenheit zur Erörterung zu +bringen. + +»Frauenarbeit und Hauswirtschaft« nannte ich meinen Vortrag, der schon +eine Woche später stattfand. Der niedrige, enge Raum der Arminhallen war +überfüllt, als ich eintrat. Eine Anzahl bürgerlicher Frauenrechtlerinnen +suchten sich in den Winkeln des Saales zu verbergen. Sie hatten mein +Auftreten bei Gelegenheit des internationalen Frauenkongresses nicht +vergessen und zeigten nicht gern ihr Interesse für mich. + +Ich stellte in großen Zügen die Entwicklung der Frauenarbeit dar, von +ihrer ersten Beschränkung auf das Haus bis zu ihrer heutigen Ausdehnung +auf alle Berufe, und die parallel laufende Evolution der Hauswirtschaft +von jenen Zeiten an, wo innerhalb ihres Kreises alle Bedürfnisse der +Familie hergestellt wurden, bis zur Gegenwart, wo nichts von ihr übrig +geblieben war als der Herd. Ich schilderte die Lage der erwerbstätigen +Familienmütter, die physischen und seelischen Gefahren, denen ihre +Kinder ausgesetzt sind, und ich erörterte die Zunahme der Berufsarbeit +verheirateter Frauen nicht nur auf dem Gebiet der manuellen, sondern +auch auf dem der geistigen Arbeit. »Die unausbleiblichen Folgen dieser +Tatsachen liegen auf der Hand: entweder bricht der weibliche Körper +unter der doppelten Arbeitslast des Hauses und des Berufs vorzeitig +zusammen und der Geist büßt seine Leitungskraft ein, oder die +Häuslichkeit wird vernachlässigt, und die junge Generation wird durch +Mangel an Pflege und hygienisch einwandfreier Ernährung aufs äußerste +geschädigt ... Die Gefahr ist zu groß, zu dringend, als daß wir uns mit +dem Appell an die Hilfe des Staats genügen lassen dürften, wir müssen zu +gleicher Zeit zur Selbsthilfe greifen.« Und nun entwarf ich +meinen Plan. »Hungernde englische Weber waren die Schöpfer der +Konsumgenossenschaften, deren Kauffahrteischiffe heute die Meere +durchziehen; der Wohnungsnot armer Arbeiter entsprang die Idee +der Baugenossenschaften, deren Häuser überall aus der Erde +wachsen, -- sollte der Jammer der Frauen und der Kinder nicht die +Haushaltungsgenossenschaft ins Leben rufen können?« + +Ich fühlte die wachsende Erregung, die sich der Zuhörerschaft +bemächtigte. Es war das Zentrum der Interessensphäre der meisten, in das +ich getroffen hatte. Aber auf den Sturm, der sich erhob, war ich doch +nicht gefaßt gewesen. Alle jene Gründe, mit denen die Sozialdemokratie +vor Jahrzehnten der Selbsthilfe der Gewerkschaften entgegengetreten war, +mit denen sie heute noch vielfach den Genossenschaften entgegentritt, -- +als Ablenkungen vom Hauptziel, der Verwirklichung des Sozialismus, und +vom allein wichtigen Kampf: dem politischen; als Versöhnungen des +Proletariers mit dem Gegenwartsstaat, -- wurden mir wie ein Hagel von +Pfeilen entgegengeschleudert. Es fehlte nicht an scharfen Seitenhieben +auf meinen Revisionismus, der sich darin dokumentiere, daß ich innerhalb +der kapitalistischen Gesellschaftsordnung sozialistische Ideen +verwirklichen wolle, wie die alten, überwundenen Utopisten. + +Nur wenige unterstützten mich. Die Frauenrechtlerinnen schwiegen. + +Bereits am nächsten Morgen ging mein Vortrag durch die Presse, +entstellt, verspottet, beschimpft. + +»Der Zukunfts-Karnickelstall, wo sich das Familienleben auf das +Schlafzimmer beschränkt«, hieß es in der konservativen Presse; von der +»Kaserne als Idealzustand« sprach die liberale. Als die Spottlust +befriedigt war, kamen die pathetischen Artikel, die angesichts der +drohenden Zerstörung der Familie ihre Kassandrastimme erhoben. Und in +den »Sprechsälen« und »Frauenecken« zeterten die guten Hausfrauen, deren +einziges Zepter der Kochlöffel war. Hatte ich sie schon durch die +Dienstbotenbewegung gegen mich aufgebracht, -- jetzt standen sie mir als +ein Heer gerüsteter Feinde gegenüber. Der Kochherd war wirklich nicht +nur der Inhalt, sondern die Grundlage ihres Familienlebens. + +»Die Männer werden überhaupt nicht mehr heiraten, wenn sie keine +Hausfrau brauchen,« jammerte eine ehrliche Naive. + +Ich wartete vergebens auf die Unterstützung der Frauen, die mir ihre Not +oft selbst geklagt hatten: der Schriftstellerinnen, Ärztinnen, +Künstlerinnen. + +»Nur ein Jahr lang sollten unsere männlichen Kollegen Suppe kochen und +Strümpfe stopfen,« hatte einmal eine von ihnen ausgerufen, »und wir +würden an dem Fehlen großer Leistungen ihre geistige Minderwertigkeit +beweisen können!« + +In den Blättern der Frauenbewegung fand mein Plan keinen Widerhall. +Helma Kurz rief Ach und Wehe über mich, die ich »alle Frauen aus der +trauten Häuslichkeit in die Kaserne« treiben wolle. Keine der +Führerinnen der Frauenbewegung begriff, daß die Befreiung der +erwerbstätigen Frau von der Sklaverei der Küche eine ihrer +Programmforderungen sein müßte. Nur eine kleine Gruppe Menschen, die in +der Öffentlichkeit unbekannt waren, schloß sich mir allmählich an, und +ein paar Baumeister meldeten sich, die den Mut gehabt hätten, ein Haus +nach meinem Plan aufzuführen, -- mit abgeschlossenen kleinen Wohnungen +und Speiseaufzügen aus der Zentralküche. Wir waren überzeugt, nur ein +lebendiges Beispiel würde genügt haben, um die Bewegung in Fluß zu +bringen. Aber wir waren zu wenige, um das Bestehen des Hauses zu +sichern, und mein Name, -- der der Sozialdemokratin, -- schreckte viele +ab. Sie fürchteten den kommunistischen Zukunftsstaat im Kleinen. + +Inzwischen kam Wanda Orbin nach Berlin und bat mich, da sie krank sei, +»in wichtiger Angelegenheit« um meinen Besuch. Sie reichte mir nur die +Fingerspitzen, als ich eintrat. + +»Sie haben die Interessen der Partei auf das schwerste verletzt,« begann +sie im Ton eines Inquisitors, »und da es nicht das erste Mal geschieht, +so bin ich verpflichtet, Sie zu warnen.« + +Ich griff mir an die Stirn: was war es nur, was ich verbrochen hatte?! + +»Ihre Agitation für die Haushaltungsgenossenschaft --« ich lachte ihr +ins Gesicht; sollte sie mit so strenger Miene scherzen?! Aber sie +runzelte die Stirn, -- es war ihr Ernst, blutiger Ernst! -- »hat weitere +Kreise gezogen, als gut ist. Dergleichen verwirrt die Köpfe, stört die +Einheitlichkeit des Vorgehens --« + +Ich stand auf. »Möchten Sie mir wohl noch mitteilen, worin meine erste +Verletzung der Parteiinternen bestand?« fragte ich ruhig. + +»Sollten Sie Ihren Plan eines Zentralausschusses für Frauenarbeit schon +vergeben haben?« rief sie aus. + +»Und durch ihn habe ich die Partei geschädigt?! -- Sie sind ja jetzt +schon im Begriff, teilweise auszuführen, was ich wollte --!« + +Wanda Orbins Augen funkelten mich zornig an: »Wenn Sie die Unterschiede +nicht verstehen, so beweist das nur wieder Ihren Mangel an +proletarischem Bewußtsein --;« dabei kreischte ihre Stimme wie auf der +Rednertribüne. + +»Mag sein!« entgegnete ich scharf. »Mir fehlt das Demagogentalent, um +mich zur Proletarierin aufzuspielen.« Damit wandte ich mich zum Gehen, +auf das tiefste verwundet. + +Mein Vortrag erschien im Verlag des »Vorwärts« als Broschüre. Wanda +Orbin »vernichtete« ihn in vier Leitartikeln, und ihre Autorität war +viel zu gewichtig, als daß sich innerhalb der Partei irgendeine Stimme +für ihn erhoben hätte. Wie die Schnecke, wenn ihre Fühlhörner unsanft +berührt werden, sich in ihr Haus zurückzieht, so hatte ich das +Bedürfnis, mich zu verkriechen. + +»Laß deine Ideen erst Wurzel fassen, Liebste,« tröstete mich mein Mann; +»sind sie lebenskräftig, so fällt dir die Frucht von selbst in den +Schoß.« + +Ich lächelte wehmütig über den Irrtum, in dem er sich befand. Was mich +schmerzte, war nicht das momentane Scheitern eines Planes, sondern daß +ich Wanda Orbin so klein gesehen hatte, die mir, auch mit ihren Fehlern, +so groß erschienen war. Und daß sie die anderen beherrschte, zum Teil +mit Mitteln, gegen die ich mich waffenlos fühlte! + +Nun galt es, statt alle Kräfte auf den Kampf für die gemeinsame Sache zu +konzentrieren, sich für den eklen Streit im eigenen Lager stets +gewappnet zu halten. + +Wenn ich mich abseits stellen, einer jener Eigenbrödler werden könnte, +mit Scheuklappen vor den Augen, immer nur ein Teilchen des allgemeinen +Zieles verfolgend?! Daß ich unfähig dafür war, bewies mir die Erfahrung +mit meinem eigenen Plan. Hätte ich das Talent und die Zähigkeit des +Organisators gehabt, ich würde ihn in jahrelanger steter Arbeit, +unbekümmert um die Spötter, haben durchsetzen können. Und nun stand ich +da und sah erschrocken auf meine Hände, die so leer geworden waren und +so kraftlos. + + * * * * * + +Die Sonne brannte auf dem Asphalt, braun und verdorrt hingen die Blätter +an den armen Bäumen, zu ihren steingepanzerten Wurzeln drang keine Luft +und kein Tau. Grauer Staub deckte die Büsche wie mit Trauerschleiern. +Wer draußen im Wald den Sommer suchen ging, den empfingen die Kiefern +schwarz und ernst und die blumenlosen Felder. O, daß ich empor auf einen +Berg steigen könnte zu reiner Luft und klaren Quellen! Heimweh packte +mich, -- Heimweh nach den schmalen Pfaden zwischen duftenden, +buntblühenden Wiesen, nach dem stillen See im Buchenwald, wo zwischen +Moos und Gestein Märchenblumen ihre Kelche öffnen. Heimweh nach der +großen Einsamkeit! + +Ob nicht der Geist der Frauen verkümmert und ihr Gemüt verdorrt, weil +sie nicht einsam sein dürfen? + +»Geh, -- erhole dich, -- ruh' dich aus, und wenn es nur ein paar Tage +sind, -- es wird dir gut tun,« sagte mein Mann, dem meine +Schlaflosigkeit, meine Blässe anfiel; »ich und die Berta hüten den +Jungen.« + +Es bedurfte keiner Überredungskünste, meine Sehnsucht, allein zu sein, +ganz allein, war zu groß. Ich fuhr nach dem Harz. Aber schon unterwegs +packte mich die Unruhe: was konnte dem Kleinen inzwischen nicht alles +geschehen! Tausend Fragen und Sorgen schreckten mich am Tage, ängstliche +Träume verfolgten mich bei Nacht. Und die Berge hier, die mir fremd +waren, blieben mir stumm, und die rauschenden Quellen sprachen eine +fremde Sprache. + +Da erreichte mich ein Brief meiner Mutter aus Heidelberg. »Erdmann ist +aufgegeben,« hieß es darin, »und Ilse hat Lungenentzündung, deren +Ausgang unabsehbar ist. Sie spricht oft von Dir ...« + +Am selben Abend schrieb ich an meinen Mann: »Liebster! Ich halte es +nicht aus ohne Dich, ohne Otto. Aber ehe ich zurückkehre, muß ich Ilse +wiedersehen. Nach den Andeutungen meiner Mutter ist alles zu fürchten. +Du hast mich ausgelacht, als ich Dir einmal sagte, daß ich mich ihr +gegenüber schuldig fühle. Es kommt ja aber auch nicht darauf an, ob eine +Schuld im Sinne landläufiger Moral besteht, sondern darauf, ob ich sie +empfinde. Ich muß das gut machen, -- damit ich mich nicht quäle, wenn +das arme Kind sterben sollte, und damit sie mir wieder vertraut, wenn +sie lebt und meiner bedarf ...« + +Ich reiste am selben Abend noch ab. Meine Mutter empfing mich am +Bahnhof. + +»Es geht zu Ende,« sagte sie auf meinen fragenden Blick. »Und Ilse?« +»Sie fiebert noch immer! Meine Ahnung betrog mich nicht. Diese +unglückselige Ehe!« + +Die letzten drei Worte stieß sie zwischen den Zähnen hervor. Es war kein +zärtliches Mitleid, das sie empfand, sondern Empörung gegen das +Geschick. + +»Das ist lieb, daß du kommst, gute Schwester,« rief mir Ilse entgegen, +als ich an ihr Bett trat. Seit langem hörte ich wieder den alten warmen +Ton in ihrer Stimme, und ihr Gesichtchen hob sich rund und rosig von den +weißen Kissen ab, als wäre es wieder das des süßen kleinen Mädchens von +einst. Wußte sie nicht, daß ein paar Türen weiter ihr Mann im Sterben +lag? Der Arzt trat ins Zimmer mit den Tropfen und dem Fieberthermometer. +Ich sah, wie ihre Augen jeder seiner Bewegungen folgten, wie sie ihn +anlächelte, voll dankbaren Vertrauens. Und in der Sorgfalt, mit der er +ihr die Kissen rückte und den Vorhang am Fenster weit zurückschlug, +damit die Sonnenstrahlen ihre Haare umspielen konnten, lag tiefere +Empfindung, als die des Arztes. Blühte dem armen Kinde eine Herbstrose +auf dem Totenacker? + +»Du gehst zu ihm?« fragte sie und lehnte sich mit geschlossenen Augen +müde zurück. + +»Ja,« antwortete ich leise. Das Lächeln aus ihrem Antlitz verschwand, +die Lippen preßten sich zusammen. + +In Decken gehüllt, am weit offenen Fenster lag er. Die weißen Wände des +Zimmers, die Betten, das weiße Geschirr, von blinkenden Metall +unterbrochen, die weiße Schürze der Pflegerin strahlten über sein +eingefallenes gelbes Gesicht eine grausame Helle aus. Er war so +geistvoll, so lebendig wie je; das hätte täuschen können, wenn mein Auge +nicht eben auf die Morphiumspritze in der Hand der Diakonissin gefallen +wäre. + +»Sieh nur, wie wunderschön das ist!« sagte er und sein Blick umfaßte in +leidenschaftlicher Liebe das bunte Herbstlaub der Bäume draußen. Er +hatte den Schoß voll kleiner Skizzen und ließ den Pinsel nur aus der +Hand, wenn die Schwäche ihn übermannte. + +»Hast du Ilse gesehen?« fragte er schließlich. + +Ich nickte. + +»Sie ist noch viel, viel schöner als die Berge und der Wald,« flüsterte +er sehnsüchtig. + +Am nächsten Tage verließ ich Heidelberg wieder. Eine bleierne Müdigkeit +bemächtigte sich meiner. Ich hätte immerfort schlafen mögen. Dabei fand +ich lauter dringende Briefe vor: der Verleger wünschte eine raschere +Erledigung der Korrekturen, der Verein für Haushaltungsgenossenschaften +lud mich zur nächsten Sitzung, ein paar Parteigenossen erinnerten an die +ihnen bereits zugesagten Vorträge. + +Eine mir selbst Fremde stand ich auf der Rednertribüne. Jene Glut der +Leidenschaft, die allein fähig ist, den Eisenmantel zu schmelzen, den +Kummer und Not um die Herzen der Ärmsten schmiedete, jene Klarheit der +Überzeugung, die allein das Dunkel des Vorurteils und der Unwissenheit +zu durchleuchten vermag, fehlten mir und ließen sich nicht erzwingen. + +»Ich bin unfähig, zu sprechen, -- erlassen Sie es mir diesmal,« bat ich +einen der Genossen; »die Menschen kehren heim, ohne einen Gran Kraft und +Klugheit gewonnen zu haben.« + +Aber er bestand auf seinem Schein: »Ihr Name zieht, und wir brauchen +einen vollen Saal.« + +Eines Abends sollte ich bei den Textilarbeitern referieren. Als ich kam, +war der Saal leer, und der Wirt erzählte mir, daß die Versammlung schon +vor zwei Tagen stattgefunden und man mich vergebens erwartet habe. Ich +zog die Einladungskarte aus der Tasche: nur das Datum war angegeben, +nicht der Tag, und dieses stimmte. Der Vertrauensmann der Gewerkschaft, +zu dem ich ging, mußte mir bestätigen, daß der Irrtum nicht auf meiner +Seite lag. Wenige Tage später hörte ich, eine der Genossinnen habe +behauptet, ich hätte das Datum gefälscht, um mich der Aufgabe zu +entziehen, und habe hinzugefügt, sowas sei bei mir schon öfter +vorgekommen. Auf das äußerste empört, verlangte ich eine Untersuchung +der Angelegenheit. Ein Schiedsgericht trat zusammen. In endlosen +Sitzungen wurden Zeugen vernommen, die Einladungskarte geprüft, +verglichen. Ich ballte die Fäuste unter dem Tisch vor Erregung und +konnte mich doch dem Eindruck nicht entziehen, den die ruhige +Gründlichkeit all dieser Arbeiter auf mich machte. An Ernst und +Objektivität, an Takt und Würde standen sie turmhoch über ihren +weiblichen Klassengenossen, mit denen ich bisher zusammengekommen war. +Eine formelle Ehrenerklärung, die mir schriftlich zuging, war das +Resultat der Verhandlungen. Aber die Empfindung, besudelt zu sein, wurde +ich lange Zeit nicht los. + +Ich vertiefte mich in die Korrekturen meiner »Frauenfrage«. Und die +Genugtuung über meine Arbeit wirkte wie ein stärkendes und reinigendes +Bad. + +Mitten in der Arbeit an den letzten Druckbogen besuchte mich die +weibliche Vertrauensperson meines Wahlkreises. Für eine große +Volksversammlung, die in den allernächsten Tagen stattfinden und sich +mit den von der Regierung angekündigten Zollerhöhungen beschäftigen +sollte, hatte man mir den Vortrag zugedacht. Ich lehnte ab. Meine +Besucherin wurde immer dringender. + +»Sie müssen kommen,« erklärte sie schließlich. + +»Ich muß?! Warum?!« fragte ich verwundert. + +»Wir haben Ihren Namen schon auf die Plakate gedruckt!« + +»Das ist Ihre Schuld, -- nicht die meine,« entgegnete ich; »selbst wenn +ich Zeit hätte, mich binnen zwei Tagen auf ein schwieriges Thema, wie +den drohenden Zolltarif, vorzubereiten, würde ich bei meiner Ablehnung +bleiben und Sie die Folgen eines so unverantwortlichen Vorgehens tragen +lassen.« + +Sie warf mir noch einen rachsüchtigen Blick zu und ging. + + * * * * * + +Mein Buch erschien. Die Aufnahme, die ihm zuteil wurde, entschädigte +mich für viele Schmerzen und gab mir das Vertrauen in die eigene Kraft +zurück. + +»Sie haben mehr geleistet, als ich erwartet hatte, und das will viel +sagen,« schrieb mir Romberg. »Ihr Werk ist eine wissenschaftliche +Leistung, dem keine Kritik und keine Zeit den Charakter eines standard +work nehmen wird, und -- was für mich seinen größten Wert ausmacht -- +der Ausdruck einer starken Persönlichkeit. Die objektive Wissenschaft +ist zweifellos etwas sehr Großes, aber der Mensch bleibt immer das +Allergrößte ...« + +Nur zwei Zeitschriften rissen meine Arbeit herunter: die Monatsblätter +von Helma Kurz und -- die »Freiheit« von Wanda Orbin. + +»Alix Brandts Buch ist jeder Mütterlichkeit und jeder +Wissenschaftlichkeit bar,« hieß es in dem einen Blatt; »die Genossin +Brandt hätte in der Kleinarbeit der Agitation erst lernen und sich +bewähren müssen, ehe sie etwas für die Arbeiterinnenbewegung wirklich +Nützliches hätte schaffen können,« lautete das Endurteil in dem +anderen. + +Ich lachte zuerst und dachte daran, wie ich von einer meiner +bürgerlichen Gegnerinnen einmal pathetisch als ein »Tribünenweib« +bezeichnet worden war, »deren Lenden nie ein Kind getragen haben«, und +eine Genossin mir als schwere Unterlassungssünde die Tatsache +vorgehalten hatte, daß ich eine wichtige Parteipflicht -- die, +Flugblätter auszutragen -- noch nicht erfüllt hätte. + +Aber dann verging mir das Lachen. Mein ganzes Ich lag in dem Buch, all +mein Wissen, mein Glauben, mein Hoffen. »Meinem Mann und meinem Sohn« +stand als Widmung vor dem Titel. Das war keine bloße Form, es war ein +Bekenntnis: ich hätte es nicht schreiben können ohne das Doppelerlebnis +der Liebe und der Mutterschaft, das aus dem Kinde erst den Menschen +macht, das Schleier von den Augen reißt und eiserne Klammern von den +Herzen. Es sind Männer gewesen, die die Madonna zur Mutter Gottes +erhoben, denn nur der lebendig befruchtete Schoß vermag Lebendiges zu +gebären. Und arme Irre waren es, die die Jungfrauschaft mit dem +Heiligenschein krönten. Denn die Voranleuchtenden sind nur, die des +Lebens Tiefen erschöpften. + +An die Mütterlichkeit hatte ich appelliert mit jedem Satz, den ich +niederschrieb. Aus einem primitiven Empfinden, das über die Wiege des +eigenen Kindes kaum hinausging, sollte sie zu weltumspannender Kraft +sich entfalten. All die Tausende und Abertausende Hilfloser und +Entrechteter hatte ich aufgeboten, daß sie die Mütter suchen sollten. +Einst pochte ihr Murmelgebet: »Heilige Maria, bitte für uns!« umsonst an +das Tor des Himmels, -- sollte ihre stumme Not auf der Erde keine +Antwort finden? + +Waffen hatte ich geschmiedet für die Proletarierinnen, Waffen, -- ich +wußte es, -- die unzerbrechlich waren. Ich erwartete keinen Dank dafür, +denn daß ich sie schaffen konnte, war Dank genug. Nur nehmen, nur +gebrauchen sollten sie meine Klingen und Pfeile. + +»Warte die Zeit ab,« sagte mein Mann. Aber ich fieberte nach Tat, nach +Wirken, -- ich konnte nicht warten. + + * * * * * + +Dem Arbeiterinnen-Bildungsverein und einzelnen der führenden Genossinnen +hatte ich mein Buch zur Verfügung gestellt. Eines Morgens bekam ich +einen Brief von Martha Bartels. Schon freute ich mich, -- ich werde sie +wiedergewonnen haben, dachte ich, und erinnerte mich, wie sie mir, der +Fremden, einst entgegengekommen war, als ich noch Alix von Glyzcinski +hieß. + +Ich ließ ihren Brief in den Schoß fallen, als ich seine wenigen Zeilen +durchflogen hatte, und lehnte mich mit einem Gefühl von Schwindel in den +Stuhl zurück. + +»Nachdem Ihre Unzuverlässigkeit in der Ausführung übernommener +Parteipflichten wieder offenbar wurde,« schrieb sie, »haben die +Genossinnen einstimmig beschlossen, Sie zu unseren Sitzungen nicht mehr +einzuladen.« + +Ein formeller Ausschluß also, -- ohne Gründe anzugeben, -- ohne mich zu +hören! Und das in einer Partei, die die Ideale der Demokratie vertritt! +Ich verlangte, mir zu gewähren, was die Gesetzgeber des kapitalistischen +Staates den Mördern und Dieben zugestehen: mich vor meinen Richtern +verteidigen zu können. Man antwortete mir nicht. Ich erfuhr schließlich, +daß jene Genossin, die mich vergebens zu einem Vortrag hatte pressen +wollen, die Sache so dargestellt hatte, als ob ich mein gegebenes Wort +gebrochen hätte. Und ich hörte weiter, daß meine »Fälschung« jener +Einladungskarte zum Referat bei den Textilarbeitern noch immer in aller +Munde sei. Ich sandte die Ehrenerklärung der Gewerkschaft ein, ich zwang +die Lügnerin, ihre Behauptung zu widerrufen. Es nützte nichts. + +»Wir erkennen an, daß in diesen beiden Fällen ein Irrtum vorlag,« +schrieb Martha Bartels, »aber es stehen noch so viele andere fest, wo +Sie sich als unzuverlässig erwiesen haben, daß die Genossinnen an ihrem +einstimmigen Beschluß, Ihre Mitarbeit abzulehnen, festhalten.« + +Ich ging zum Parteivorstand, um die Einsetzung eines Schiedsgerichts zu +fordern. »Liebe Genossin,« sagte Auer, mir gutmütig die breite Hand auf +die Schulter legend, »tun Sie das nicht! Lehren Sie mich unsere Weiber +kennen! Jedes Schiedsgericht wird Ihnen recht geben, -- natürlich! Aber, +glauben Sie, daß damit geholfen ist?! Schon am nächsten Tag werden die +Klatschmäuler, denen Sie nun einmal ein Dorn im Auge sind, neue, noch +schlimmere Sünden über Sie zu verbreiten wissen, und das modernisierte +Gerichtsverfahren der heiligen Fehme wird alle demokratischen +Schiedssprüche umstoßen. Überlassen Sie der Wanda die Weiber! Für Ihren +Tätigkeitsdrang ist in der Partei noch Raum genug.« + +Ich fügte mich seiner Ansicht. Ob aus Einsicht, aus Müdigkeit, aus +Ekel? Ich weiß es nicht mehr. Auers Hand umspannte die meine schmerzhaft +fest. + +»Wollen Sie von mir alten Kerl noch einen Rat auf den Weg nehmen?« +fragte er. »Wer auf hoher Warte steht, dem sollten die leid tun, die +sich von unten im Schweiße ihres Angesichts abmühen, mit Steinen zu +werfen. Er sollte immer über sie hinwegsehen. Dann hören sie von selber +auf und besinnen sich, daß ein Weg da ist, auf dem auch sie +aufwärtssteigen könnten ... Wer die Distanz nicht wahren kann, ist kein +Politiker.« + +»Die Distanz, -- das bedeutet Fernsein, Kühle,« antwortete ich mit einem +leisen Seufzer, »-- ich liebe die Menschen; ich möchte von ihnen geliebt +sein.« + +»Sie lieben die Menschen, -- diese Menschen?! Sie scherzen!« Er reckte +sich zu seiner ganzen Größe. »Wir würden sie erhalten, wenn wir sie +lieben würden. Aber wir wollen sie überwinden -- mit dem gewaltigen +Erziehungsmittel einer neuen Gesellschaftsordnung --, also hassen wir +sie.« + +Ich schüttelte den Kopf. War das eine hohe Warte? Würde ich sie je +erreichen, -- erreichen wollen?! + + + + +Zwölftes Kapitel + + +Probleme werden nicht durch Resolutionen aus der Welt geschafft. Auch +der beste Wille der Streitenden, -- und es gab Augenblicke, wo selbst +Eduard Bernstein die Schwäche dieses »guten Willens« hatte und +Hervorragende unter seinen Anhängern den »Revisionismus« als eine neue +Richtung innerhalb der Partei abschworen, -- vermag das Streitobjekt +nicht aus der Welt zu schaffen. Einmal ausgesprochene Gedanken lösen +sich gleichsam von dem, der sie dachte, ab und haben ein selbständiges +Leben. + +Die Beschlüsse des Parteitags von Hannover hatten nichts zur Folge, als +einen Waffenstillstand. Bernsteins Rede im sozialwissenschaftlichen +Studentenverein eröffnete den Kampf von neuem. In Artikeln, Reden und +Broschüren wurde er mit steigender Erbitterung geführt. Und die +aufreizenden Zurufe der Zuschauer, die vom nächsten Tage die Spaltung +der Sozialdemokratie erwarteten und erhofften, erhitzte die Kämpfenden +noch mehr. Die wachsende Leidenschaft tötete jede Objektivität. Keiner +gestand dem anderen die Ehrlichkeit der Gesinnung zu. Hinter jeder +Äußerung eines Revisionisten entdeckte der orthodoxe Marxist +Parteiverrat, in jeder Verteidigung des radikalen Standpunktes sah der +Revisionist dogmatische Verbohrtheit und bewußtes Demagogentum. Er +überhörte geflissentlich die Lehren der Psychologie und der Geschichte, +aus denen er hätte folgern können, daß die Verteidigung der Tradition, +der grundlegenden Dogmen des Sozialismus notwendig zu demselben Haß, +derselben Verfolgung der Angreifer führen muß, wie einst die des +Heidentums gegen die Christen, der römischen Kirche gegen die +Reformation. + +Aber ein noch merkwürdigeres Zeichen dafür, wie wenig bloße Erkenntnisse +des Verstandes die ursprüngliche, nur auf die Einflüsse des Gefühls +reagierende Natur des Menschen zu ändern vermögen, war die Haltung der +Radikalen. Sie verleugneten in ihrem Zorn eine der Grundlagen ihrer +eigenen Anschauung: die materialistische Geschichtsauffassung. Es war +die befreiendste Lehre, die Marx hinterließ, zu der sich allmählich, +bewußt oder unbewußt, auch Nichtsozialisten bekannten: daß, da »alles +fließt«, auch die Theorien sich entwickeln müssen, entsprechend den +Wandlungen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. In diesem Sinne war +der Revisionismus marxistisch und der Radikalismus reaktionär. + +Die ernsten Kämpfe zwischen den beiden Richtungen spielten sich zwischen +den geistigen Führern ab, von denen die einen die Masse der +Arbeiterschaft hinter sich hatten, die anderen noch Offiziere waren ohne +Armee. In dem harten Schädel der Proletarier saß jeder Buchstabe des +sozialistischen Apostolikums noch fest; wurde der Kampf daher in die +Volksversammlungen getragen, so äußerte er sich in wüstem Geschimpfe +gegen die Neuerer, die dem Armen das Beste zu erschüttern drohten, was +ihnen der Sozialismus gegeben hatte: ihren Glauben. Es kam aber noch ein +anderes hinzu: der Respekt vor der Wissenschaft, zu dem der Sozialismus +sie verpflichtete, ging Hand in Hand mit einem glühenden Verlangen nach +Wissen. Bildungsschulen, wissenschaftliche Vorträge und Kurse kamen +diesem Verlangen entgegen und pfropften auf den lebensschwachen Baum der +Volksschule ein Reis, unter dessen Früchten Dilettantismus und +Bildungsdünkel am besten gediehen. Wozu ernste Denker Jahrzehnte +brauchen, das glaubte der Proletarier in ein paar Abendstunden erreichen +zu können. Daß er es glaubte, war nicht seine Schuld: die Naivität +seiner Jugend unterstützte die Partei, die ihm in Wort und Schrift +nichts mehr einprägte als die Überzeugung von der Dummheit seiner +Gegner. Als Gegner aber erschienen ihm auch die Revisionisten. Zu seinem +gefühlsmäßigen Haß gegen die Unruhstifter trat die hochmütige Verachtung +der Akademiker hinzu. + + * * * * * + +Einmal, -- ich war gerade von einer Agitationsreise zurückgekehrt, -- +beklagte ich mich darüber, als Reinhard gerade bei uns war. + +»Ich habe Sie sonst für so verständig gehalten,« sagte er; »daß Sie nun +auch so nervös, so empfindlich geworden sind! -- Ich kann Ihnen +versichern: mir selbst kommt der Krakehl zum Halse heraus! Er macht +unsere Leute kopfscheu; von jedem Gegner wird er uns aufs Butterbrot +geschmiert. Außerdem haben wir doch jetzt, ein Jahr vor den +Reichstagswahlen und angesichts der Zolltarif-Vorlage Besseres zu tun, +als uns über die Verelendungstheorie die Köpfe blutig zu schlagen.« + +»Sind wir etwa daran schuld?!« fuhr Heinrich auf. »Oder nicht viel mehr +die Großinquisitoren der 'Neuen Zeit', die seit Jahr und Tag ihre +Spürhunde auf uns hetzen?! Die jungen Leute, die noch nichts geleistet +haben, als ihnen nachzubeten, gestatten, gegen alte verdiente Genossen, +-- einen Jaurès, einen Auer, einen Vollmar, -- wie gegen Schwachköpfe +oder Verräter vom Leder zu ziehen?!« + +»Die Propheten aus dem Osten nicht zu vergessen, die desgleichen +tun --,« unterbrach ihn Reinhard mit einem sarkastischen Lächeln. + +»Die gehören in dieselbe Kategorie, nur daß ihre, -- na, sagen wir +parlamentarisch: Unbescheidenheit noch größer ist. Vom Kothurn ihrer +Unentwegtheit herab führen sie das große Wort, und ihr Ziel ist +offensichtlich der Bannfluch, d. h. der Ausschluß aller derer aus der +Partei, die eine selbständige Meinung haben.« + +»Wenn man Sie so schimpfen hört, lieber Brandt, könnte man die +Schicksalsfügung segnen, die Sie bisher verhinderte, Ihre Zeitschrift +ins Leben zu rufen,« sagte Reinhard. »Wenn Sie all Ihre Wut noch in +Druckerschwärze verwandeln würden!!« + +»Sie irren sehr, wenn Sie glauben, ich werde mein Blatt zum Kampfplatz +für Theoretiker machen,« entgegnete Heinrich ruhig. »Mir würde es in +erster Linie darauf ankommen, praktische Politik zu treiben. Daß das auf +allen Gebieten des öffentlichen Lebens notwendig ist, daß es endlich an +der Zeit wird, den ruhenden Koloß der Partei in Bewegung zu setzen und +Tagesarbeit verrichten zu lassen, -- das scheint mir das wichtigste +Ergebnis der gegenwärtigen Bewegung.« + +Reinhard stand auf, stampfte ärgerlich mit der Krücke auf den Boden und +sagte: »Als ob das alles eine blitzblanke neue Erfindung wäre! Was war +es denn, was wir lange vor Bernstein in den Parlamenten, in den +Kommunen, in den Gewerkschaften und Genossenschaften getrieben haben?! +Der ganze Unterschied zwischen den Revisionisten und den Radikalen ist, +daß die einen in der Arbeiterschutzgesetzgebung, in der Gewerkschafts- +und Genossenschaftsbewegung, in der allmählichen Demokratisierung des +Staats nichts als Erziehungsmittel für das Proletariat erblicken, und +die anderen Sozialisierungen der Gesellschaft, Voraussetzungen des +Sozialismus. Dem Arbeiter aber ist's wirklich einerlei, wie die Dinge +heißen, die er bekommt, wenn er sie nur überhaupt kriegen kann. Und +darum --« er ging erregt im Zimmer auf und nieder -- »begreife ich die +ganzen Skandale nicht und fühle es meinen Genossen nach, wenn sie euch +Akademiker mißtrauisch betrachten. Wir sind ja auf dem besten Wege, -- +was werft ihr Steine in unseren Teich?! Sehen Sie sich z. B. mal die +Tagesordnung unseres Stuttgarter Gewerkschaftskongresses an! Sie waren +ja dabei, als man sich wütend an die Gurgeln fuhr, weil der eine die +sozialpolitische Tätigkeit der Gewerkschaften forderte, der andere sie +für schädlich hielt. Und ich selbst, -- Sie besinnen sich! -- war der +radikalsten einer. An meiner eigenen Entwicklung mögen Sie die +Entwicklung der ganzen Bewegung messen. In aller Stille ist viel Wasser +die Spree hinuntergelaufen, und jetzt sind wir mitten drin in der +Sozialpolitik. Oder betrachten Sie unsere Haltung in der inneren +Politik: denken Sie an die Budgetbewilligung der Badener im vorigen +Jahr, -- Bebel hat sie freilich hinterher heruntergeputzt, -- oder an +die Zustimmung unserer bayrischen Landtagsfraktion zur Wahlreform, -- +Bebel wird sie natürlich darum auch noch unter die Lupe des Prinzips +nehmen --. Und, vor allem!, erinnern Sie sich, wie selbst die ärgsten +berliner Revolutionäre mit dem dreifachen R jetzt stramm und einig zur +Landtagswahl aufmarschieren. Von dem Augenblick an, wo der +Parlamentarismus den Charakter des Kräutchens Rührmichnichtan für uns +verloren hatte, sind wir folgerichtig weitergegangen.« + +Ich hatte ihm mit wachsendem Interesse zugehört. »Und was wollen Sie mit +alledem beweisen?« fragte ich. + +»Daß der ganze Stank und Zank überflüssig ist. -- Sowohl vom Standpunkt +eurer Angst um Versumpfung und Verknöcherung der Partei, wie vom +Standpunkt all der radikalen Kassandras männlichen und weiblichen +Geschlechts, die um unser sozialistisches Seelenheil zittern. +Wahrhaftig: wenn wir mit der Bourgeoisie paktieren, so doch nur, um für +uns das Schäfchen ins Trockne zu bringen!« + +»Ich folgere aus Ihren Beweisführungen etwas ganz anderes,« rief ich +aus. »Da die Praxis wieder einmal der Theorie vorausgeeilt ist, so muß +die Theorie sich ihr anpassen, sonst kommt der Moment, wo das Band +zwischen beiden zerreißt. Die Lehre von der planmäßigen Demokratisierung +und Sozialisierung der kapitalistischen Gesellschaft muß an Stelle des +Dogmas von der alleinseligmachenden Revolution treten --« + +»Aber das ist doch genau dasselbe!« polterte Reinhard. »Selbst der +dümmste Radikale denkt doch nicht im Schlaf daran, daß er die Hände nur +in den Schoß zu legen und auf die gebratene Taube der politischen Macht +zu warten braucht, die ihm ins Maul fliegen wird! Jeder Rekrut in +unserer Armee sieht alle Tage, wie sie sich jede Handbreit politischer +Macht schrittweise erobern muß. Ebenso wächst ihr Einfluß nur nach und +nach, und das berühmte Endziel kann nichts anderes sein als die letzte +Krönung des Gebäudes.« + +Mein Mann lächelte: »Ich sage ja: Sie sind Revisionist.« + +»Zum Donnerwetter, nein! -- Ich bin Sozialdemokrat!« -- Reinhards Augen +glänzten -- »Und ihr seid Rabulisten.« + +Beim Abschied nahm sein Gesicht wieder den alten, gutmütig-freundlichen +Ausdruck an. + +»Nichts für ungut, Genossen!« brummte er mit einem leichten Anflug von +Verlegenheit; dann reichte er meinem Mann die Hand. »Sie können auf mich +rechnen. Wenn Ihr Blatt praktische Politik treiben wird, -- in bewußtem +Gegensatz zu unseren Zeitschriften von rechts und links, die sich um des +Kaisers Bart raufen, -- so wird es befreiend wirken und seines Erfolges +bei unseren Genossen sicher sein.« + +Als er gegangen war, reichte mir mein Mann einen Brief von Romberg. + +»... Ihre Pläne sind mir immer wieder durch den Kopf gegangen,« schrieb +er, »und der Gedanke, das 'Archiv' selbst zu erwerben, ließ mich nicht +los. Trotzdem bin ich zu dem Entschluß gelangt, meine persönlichen +Wünsche nicht nur zu unterdrücken, sondern Ihnen überdies den dringenden +Rat zu geben, die Verkaufsidee überhaupt fallen zu lassen. Sie wissen +selbst, daß das neue Unternehmen, dem Sie Ihren Brotgeber, das Archiv, +opfern wollen, in bezug auf seinen materiellen Erfolg ein ganz +unsicheres ist. Stünden Sie allein, so könnten Sie meinetwegen den +Husarenritt unternehmen, aber Sie haben Familie, -- verübeln Sie es +meiner aufrichtigen Freundschaft nicht, wenn mich die Sorge um sie in +diesem Zusammenhang von ihr sprechen läßt. Ich weiß: Frau Alix zieht in +diesem Augenblick zürnend die Brauen zusammen; sie ist ja noch +fanatischer, noch leichtsinniger wie Sie. Seien Sie darum doppelt klug +für beide und erhalten Sie sich das Archiv. Es kann einmal die Rolle der +Planke spielen, die Sie vor dem Ertrinken rettet ...« + +Ich warf den Brief heftig auf den Tisch. »Daß Romberg solch bourgeoise +Anschauungen hat!« rief ich aus. »Als ob wir beide nicht im Notfall +schwimmen könnten!« Heinrich zog mich zärtlich in die Arme. + +»Daß du so denkst, weiß ich,« sagte er, »trotzdem werde ich handeln wie +ein Bourgeois!« Ich wollte auffahren. »So höre doch erst zu, ehe du +schimpfst!« meinte er lächelnd. »Besinnst du dich auf Lindner, den +jungen Dichter, den wir auf dem Pariser Kongreß getroffen haben?« Ich +nickte. »Er tauchte vor kurzem hier auf und besuchte mich, während du +weg warst: ein sympathischer Mensch, dessen Schüchternheit alle seine +guten Absichten im Keime erstickt. Er möchte in der Partei wirken; aber +auf der einen Seite fürchtet er als Akademiker das Mißtrauen der +Genossen, auf der an deren Seite stößt ihn die Pöbelgesinnung zurück, +die ihm vielfach schon begegnete. Er schüttete mir sein Herz aus; dabei +erfuhr ich, daß er der einzige Sohn reicher Leute ist. Ich sprach ihm +von unserem Plan, er war sofort Feuer und Flamme dafür.« + +»Und gibt die Mittel?!« unterbrach ich Heinrich erregt. + +»Wenn die Eltern, von denen er noch abhängig ist, sie ihm +bewilligen ...« + +Endlich dem Ziele nah! war der einzige Gedanke, der mich beherrschte; +winzig erschienen ihm gegenüber die noch vorhandenen Hindernisse. + +Einige Tage später kam Lindner zu uns: ein lang aufgeschossener blonder +Mensch, mit kurzsichtig zwinkernden blaßblauen Äuglein und schlaffen, +feuchten Händen. Er gefiel mir nicht. Aber ich unterdrückte rasch diese +erste instinktmäßige Empfindung. + +»Ich möchte den Arbeitern die Kunst nahe bringen,« sagte er im Verlauf +unseres schwerfällig sich hinschleppenden Gesprächs. + +»Die Freien Volksbühnen erfüllen, wie mir scheint, Ihren Wunsch. Sie +haben Tausende von Mitgliedern aus Arbeiterkreisen und leisten +Vorzügliches,« antwortete ich. + +»So meinte ich es nicht, nein --,« und die Stimme unseres Gastes, die +noch den Timbre der Knabenstimme hatte, obwohl er längst über die +Entwicklungsjahre hinaus war, wurde lebhafter; »ich dachte, es müßte +möglich sein, das Künstlertum im Proletariat zu erwecken, eine neue +Kunst -- die Kunst der Zukunft -- entstehen zu lassen. Ich würde das als +meine Aufgabe ansehen.« + +Ich musterte ihn genauer: er war gar nicht dumm, er hatte sogar einen +originellen Zug. + +»Ich glaube nicht recht daran,« sagte ich dann langsam. »Daß die Talente +sich durchsetzen, gehört zu den Fabeln der Menschheit. Der harte Kampf +ums Dasein erstickt die meisten ihrer Keime. Und die davon doch zur +Blüte gelangen, verkümmern schließlich im Dilettantismus. Vielleicht +würden die von Ihnen erhofften Talente statt freier Künstler Hörige des +Proletariats, wie die Talente, auf die wir vor zehn Jahren hofften, +Hörige des Kapitalismus geworden sind..« + +Mein Junge kam herein und erfüllte das Zimmer im Augenblick mit seiner +strahlenden Frische. Wie eine Pflanze, die im Dunkel gestanden hat mit +blassen saftlosen Trieben, wirkte Lindner jetzt auf mich. Er tat mir +leid, und ich wurde darum weicher. Er erzählte von seinen Eltern. Sie +hatten große Hoffnungen auf ihn gesetzt, und daß er sie immer wieder +enttäuschte, machte ihn selbst mutlos. Aber jetzt, -- jetzt würde er um +seine Überzeugung, -- um seine Zukunft mit ihnen kämpfen! + +Er gewann Vertrauen zu mir. Und wenn er meine instinktive Abneigung +immer wieder hervorrief, so überwand das Mitleid mit dieser armen +Greisenseele eines Jünglings sie eben so oft. Seine Besuche waren oft +recht unbequem. Wie die meisten Menschen, für die die Arbeit nur eine +Nebenbeschäftigung ist, hatte er keinen Respekt vor der Zeit. Er fühlte +nicht, daß er störte, und wenn man es ihm andeutete, so war er gekränkt. +Nur wenn er mit Ottochen spielen konnte, merkte er nicht, daß ich ihn +hatte los werden wollen. Er liebte die kleinen Kinder und ließ sich von +meinem fünfjährigen Wildfang mit einer Gutmütigkeit tyrannisieren, die +rührend war. Oft hörte ich durch die Türe die hellen Kommandotöne meines +Jungen. + +Mein Bub'! Daß ich nur heimlich, wie aus dem Hinterhalt, sein Geplauder +belauschen durfte! Daß ich mir die Stunden für ihn stehlen mußte! Ich +war abermals einem falschen feministischen Lehrsatz auf der Spur. Nicht +der Säugling bedarf der Mutter am meisten. All die vielen, mechanischen +Dienste, die der kleine Körper fordert, versteht eine geschulte +Pflegerin besser als sie. Erst der erwachende Geist braucht die Augen +der Mutter, die jede seiner Regungen sieht, und ihre Sorgfalt, die +allein weiß, welche seiner vielen Triebe beschnitten, welche gestützt, +welche der Sonne und dem Wetter ausgesetzt werden können. Und Millionen +Frauen dürfen es nicht! Nie erschien mir unsere Gesellschaftsordnung +widersinniger: sie zwingt den Staat, Gefängnisse zu bauen für die +Verbrecher und Fürsorgeerziehungsanstalten für die verwahrloste Jugend, +der sie die Mütter genommen hat. + +Sollten wir wirklich darauf warten müssen, bis sich in hundert und +aberhundert Jahren der Prozeß der Sozialisierung der Gesellschaft +abgespielt hat? War unsere wirtschaftliche und technische Entwicklung +nicht heute schon so weit vorgeschritten, um durch eine sozialistische +Organisation in Verbindung mit der allgemeinen Arbeitspflicht, die +Herabsetzung der Arbeitszeit auf das geringste Tagesmaß zu ermöglichen +und den Kindern nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater +zurückzugeben? In dem leidenschaftlichen Zorn, der mich gegen die Hüter +der bestehenden Ordnung erfüllte, konnte ich nicht anders, als sie für +Heuchler oder für Dummköpfe zu erklären. Die Frauen galt es, wider sie +zu empören! Mutterliebe ist das stärkste Gefühl in der Welt, stärker als +die Leidenschaft der Geschlechter, stärker als der Hunger. Einmal von +den Fesseln befreit, in die die Tradition sie zwängte, muß sie zum Motor +werden, der die Gesellschaft aus den Angeln hebt. + +Ich wandte mich in meinen Reden immer mehr an die Frauen. Ich peitschte +ihre Empfindung auf; ich erklärte sie für die Schuldigen, wenn ihre +Kinder hungerten an Leib und Geist, wenn sie verkamen, wenn die Maschine +ihre Jugend zerfraß, wenn sie im Zuchthaus endeten. Der Zolltarif mit +seiner Verteuerung aller Lebensmittel, der zu gleicher Zeit die +Reichstagsdebatten beherrschte, die Fleischteuerung, die eine Folge der +Schließung der Grenzen war, -- kurz, die ganze agrarische Reichspolitik, +in die die Regierung eingeschwenkt war, boten mir die Handhabe, um an +die nächsten Interessen der Frauen anzuknüpfen, an jene Frage, die je +nach der Bedeutung, die sie für die Glieder des Volkes hat, ein +Gradmesser der Menscheitskultur sein kann: wie sättige ich meine Kinder? + +Von einer meiner Versammlungen war ich fast stimmlos zurückgekehrt. + +»Sie dürfen weder in Rauch noch in Staub sprechen,« sagte der Arzt wie +schon einmal vor Jahren. + +Ich lachte ihm ins Gesicht, ließ mir den Hals ein paarmal einpinseln und +fuhr nach Schlesien. Mit äußerster Anstrengung gelang es mir, noch zwei +Reden zu halten. Dann versagte die Stimme ganz. + +Jetzt erklärte der Arzt, daß ich sobald als möglich fort müsse: »In +gute reine Luft, am besten ins Gebirge.« Ich schüttelte den Kopf. Wie +konnte ich an eine Sommerreise denken?! + +»Die Gesundheit geht allem anderen voraus,« sagte mein Mann, »heute noch +kannst du packen und morgen in den Alpen sein.« + +Die Frage, ob solch eine Reise möglich wäre, schien ihn keinen +Augenblick zu beunruhigen. + +»Ich kann den Kleinen nicht wochenlang allein lassen --,« wandte ich +ein. + +»Natürlich: Ottochen nimmst du mit,« antwortete Heinrich ohne Besinnen, +»auch diesem Stadtpflänzchen wird das Landleben gut tun.« + + * * * * * + +Um jene Zeit war mein Schwager Erdmann gestorben. Meine Mutter kam mit +Ilse nach Berlin zurück. Ich erschrak, als ich sie sah. Jetzt erst war +sie wirklich alt geworden, unauslöschlich hatten sich die Falten der +Verbitterung um ihre Mundwinkel eingegraben. Zwischen ihre fest +aufeinandergepreßten Lippen kam kein Laut der Klage. Aber wenn Ilse +neben ihr stand in all ihrer strahlenden Jugend, mit den Augen, die +sehnsüchtig die Sonne suchten nach all dem monatelangen Leid, dann +fühlte ich die ganze Qual dieses Zusammenlebens. + +Sie kamen häufig allein zu mir, und ich mußte immer wieder zwischen +ihnen vermitteln. Endlich faßte ich den Mut, der Mutter ehrlich meine +Meinung zu sagen: + +»Warum läßt du sie nicht frei? -- Viele in ihrem Alter stehen allein in +der Welt. Wozu quälst du dich selbst und sie?« + +Die Mutter wurde hochrot im Gesicht. »Da sieht man, wohin eure +religionslose Moral euch führt!« rief sie. »Nicht genug, daß du im Lande +umherziehst und die Frauen gegen Kirche und Staat aufhetzst, wie mir +mein Bruder erzählt, du respektierst nicht einmal mehr die +selbstverständlichsten Gebote der Mutter- und der Kindespflicht.« + +»Nein,« antwortete ich erregt. »Eine Pflicht, die kein Gebot des Herzens +ist, eine Pflicht, die sich wie ein antiker Schicksalsspruch durchsetzen +will, auch wenn die Menschen dabei zugrunde gehen, erkenne ich nie und +nimmer an. -- Was Onkel Walter erzählt, sollte dir übrigens nichts Neues +sein: du weißt, daß ich Sozialdemokratin bin. Daß meine Agitation ihm +jetzt, wo sie sich gegen seine speziellen agrarischen Interessen +richtet, besonders antipathisch ist, scheint mir auch nur +selbstverständlich.« + +»Und ich hatte gehofft, daß die Mutter in dir dich allmählich von diesen +Abwegen zurückführen würde --« + +»Die Mutter in mir treibt mich vorwärts!« unterbrach ich sie. + +»Lehrt sie dich auch jede Familienrücksicht über Bord werfen? Nicht +daran denken, wie du alle kompromittierst, die unseren Namen tragen? Wie +mein Bruder sich sogar gezwungen sieht, ein Mandat für den nächsten +Reichstag nicht mehr anzunehmen?!« Ihr Zorn fing an, mich zu entwaffnen. + +»Liebe Mutter, das alles wollen wir, denke ich, nicht wieder aufrühren,« +sagte ich ruhig. »Die Verwandten haben sich längst in aller Form von +mir losgesagt, und wenn es für mich Familienrücksicht gibt, so ist es +allein die auf mein Kind.« + +»Gerade an diesem Kind wirst du für all das Unglück, das du über uns +gebracht hast, büßen müssen!« rief die Mutter mit funkelnden Augen. + +Ich war von dem drohenden Ton ihrer Stimme betroffen. »Was meinst du +damit?!« frug ich. + +»Solltest du für Otto etwa nicht auf Klotildens Erbe hoffen?« entgegnete +sie. »Hat sie dich seit deiner Heirat jemals eingeladen?!« + +»Ich stehe dauernd in brieflichem Verkehr mit ihr. Sie hat mir erst +kürzlich über meine 'Frauenfrage' Worte wärmster Anerkennung +geschrieben. Und daß sie mich nicht bei sich sehen kann, begreife ich +vollkommen. Ich würde ihre Freunde vertreiben, an denen sie hängt,« +antwortete ich ausweichend. + +»Nun so laß dir von mir gesagt sein, daß die Berichte über deine +agitatorische Tätigkeit sie aufs äußerste empörten. Jenny Kleve kam eben +aus Augsburg zurück --« + +Ich biß mir heftig auf die Unterlippe. »Jenny Kleve! Allerdings eine +gute Quelle! Und eine geeignete Vertreterin meiner Interessen!« spottete +ich. »Bist du es nicht gewesen, die alles daran setzte, um zwischen ihr +und ihren Geschwistern und Tante Klotilde nähere Beziehungen +herzustellen?! Dein eigener Bruder warnte dich damals, dir kein +Kuckucksei ins Nest zu legen!« + +»Ich habe nur meine Pflicht getan,« erklärte die Mutter. + + * * * * * + +Tante Klotildens Erbschaft! Der Gedanke bohrte sich mir in Hirn und +Herz. Mit einer Sicherheit, die nie auch nur den geringsten Zweifel +aufkommen ließ, hatte ich stets auf sie gerechnet. Ich wußte: ihrem +geliebten ältesten Bruder, meinem Vater, hatte sie versprochen, für mich +sorgen zu wollen; er hatte mir noch kurz vor seinem Tode den Inhalt +ihres Testamentes vorgelesen, und hinzugefügt: »Daß ich Deine und Deines +Jungen Zukunft gesichert weiß, wird mir das Sterben erleichtern. Habe +ich doch selbst gar nicht für Euch sorgen können!« Über manche schwere +Stunde hatte die Erinnerung daran mir hinweggeholfen: Mag kommen, was +will, mein Kind wird einmal nicht darben! Sollte sie ihr Wort brechen +können?! Ein kalter Schauer erschütterte meinen Körper. Ich wußte, wie +es tat, an die jämmerliche Notdurft des Lebens ständig denken zu müssen. +Wie viele junge Menschen hatte ich aus der Flut des Lebens auftauchen +sehen, von einem starken Talent emporgetragen, und nach ein paar Jahren +hatte das Bleigewicht der Not sie niedergezwungen! + +Mein Sohn sollte sich frei entwickeln können. Ich mußte mich selbst +überzeugen, ob die Warnung meiner Mutter berechtigt war. + +Mein Mann war böse, als ich davon sprach. »Du wirst dich doch nicht mit +den Kleves auf eine Stufe stellen?!« rief er aus. »Unser Junge hat es +nicht nötig, daß seine Mutter sich erniedrigt. Er wird stark genug sein, +sich selbst durchzukämpfen.« + +Ich war so erregt, daß all die verschwiegenen Qualen hervorstürzten wie +ein entfesselter Wildbach: »Du freilich wirst nichts davon merken, wenn +er sich grämt, gerade so, wie du nicht merkst, nicht merken willst, wie +mich die Sorgen niederdrücken. Du schiltst, wenn ich nach deiner Ansicht +nicht genau genug auf jeden Wurstzipfel achte, der in die Küche kommt, +aber du fragst nicht danach, woher ich das Geld nehme, wenn du keins +mehr hast und wir leben wollen!« + +Und ich erzählte ihm, wie ich im vorigen Jahr den Verleger um Vorschuß +hatte bitten müssen, wie ich mein bißchen Schmuck heimlich aufs +Versatzamt getragen hatte. Er wurde ganz blaß, und sein Gesicht nahm +jenen harten, kalten Ausdruck an, vor dem ich mich immer fürchtete. +Tagelang gingen wir stumm nebeneinander her, während das gezwungene +Zusammensein uns stets aufs neue reizte. + +»Die Ehe ist doch eine gräßliche Einrichtung,« sagte Heinrich +schließlich und reichte mir in versöhnlicher Stimmung die Hand. + +Ich nickte eifrig und meinte lächelnd: »Wie stark muß die Liebe sein, um +sie auszuhalten!« + +»Die besten Freunde müssen einander unerträglich werden, wenn sie Tag +und Nacht in denselben Käfig gesperrt sind,« ergänzte er. + +»Ich glaube, es ist Zeit, daß wir für ein paar Wochen in Freiheit +gesetzt werden,« wagte ich zögernd auszusprechen; -- ich erwartete jeden +Tag die Antwort von Tante Klotilde auf meinen Brief, in dem ich sie +gefragt hatte, ob es ihr recht wäre, wenn ich mit dem Kleinen nach +Grainau käme. Ich würde mir eine eigene Wohnung nehmen, -- natürlich, -- +und sie nur besuchen, wenn sie uns sehen wollte. Mein Mann runzelte zwar +noch die Stirn, aber er meinte dann doch lachend: »Mach, daß du +wegkommst, damit ich die Gattin los werde und die Geliebte wiederfinde.« + +Die Antwort kam, -- eine kühle, glatte Ablehnung. »Die Welt ist groß,« +schrieb sie, »Du brauchst Deine Sommerferien nicht gerade in Grainau zu +verleben, wo die Situation für dich, -- ganz abgesehen von der meinen, +auf die Du ja keine Rücksicht zu nehmen scheinst --, eine wenig +gemütliche wäre. Die Bauern würden Dir fremd, wenn nicht feindlich +gegenüberstehen. Seit der Dienstbotenbewegung, die Du mit soviel Lärm in +Szene setztest, hast Du ihre Sympathie verloren. Deine ständigen +Angriffe auf unseren allverehrten Kaiser« -- hier hörte ich die Stimme +der Kleves, die nur in der Potsdamer Hofluft zu atmen vermochten -- +»haben den vielleicht noch vorhandenen Rest vollends zerstört ... Ich +bin eine alte, kranke Frau und brauche innere und äußere Ruhe. Im +übrigen wird meine Liebe zu Dir durch die räumliche Entfernung eher +erhalten, als beeinträchtigt werden ...« + +Was nun? Gab es nichts mehr, das mir den Weg zu ihr bahnen könnte? +»Gehen Sie ins Gebirge,« hatte der Arzt gesagt. Wenn ich nun doch reisen +würde, -- mit dem Kleinen, -- irgend wohin nicht allzuweit von Grainau, +wo der glückliche Zufall eine Begegnung ermöglichen könnte! Ich war +überzeugt: sah sie mein Kind, ihr ganzes Herz würde gewonnen werden! + + * * * * * + +In Mittenwald, dicht unterm Berg, fand ich bei einem Bauern ein +Giebelzimmerchen und die große, bunte Wiese, die ich meinem Liebling +versprochen hatte. Den ganzen Tag spielte er dort mit dem kleinen Sohn +des Hauses, dem Hansei, und seine weiße Stadthaut bräunte sich, und +seine Muskeln wurden straff. Ich saß indessen auf der Altane und schrieb +alle möglichen Artikel und freute mich, wenn das Honorar immer wieder +eine Woche längeren Aufenthalt möglich machte. Von fernher glänzte und +lockte die Zugspitze bis zu mir herüber. Ich sah sie bei Nacht im +Mondschein, wenn die Sterne am dunkeln Himmel sich bewundernd um sie +scharten. Ich sah sie bei Tage, wenn die Sonne sie inbrünstig küßte und +ihr doch nichts zu rauben vermochte von ihrer jungfräulichen Reinheit. +Ihr zu Füßen war das Stückchen Erde, das ich liebte, wie keins in der +Welt. Wo ich mein Jugendglück fand und -- begrub. Ich verstand, daß es +Menschen gibt, die vor Heimweh krank werden. + +Auf unseren Spaziergängen suchte ich immer die Wege, auf denen ich dem +weißen Berge näher kam, und erzählte dem aufhorchenden Kleinen von ihm +als der verzauberten Prinzessin und ihrem grauen finsteren Wächter, dem +Waxenstein. Dabei wurden mir wohl auch die Augen feucht. »Sei nich +traurig, Mamachen,« tröstete mich mein Kind. »Ein großer Held wird +kommen und die Prinzessin befreien!« + +Einmal, als wir wieder zu dem stillen See aufwärts gingen, plauderte er +lustig von den Kühen und den Blumen. Dann wurde er plötzlich still, ein +grübelnder Zug trat in sein rundes Kindergesichtchen, und seine Wangen +färbten sich dunkler. + +»Der Hansei will Kutscher auf'n Stellwagen werden,« begann er +unvermittelt; »ist das nicht dumm?!« + +Ich nickte zerstreut. Er schwieg wieder. + +Als wir uns aber im Walde lagerten, zog er meinen Kopf dicht an den +seinen und flüsterte aufgeregt: »Ich muß dir ein großes Geheimnis sagen, +-- dir ganz allein. Ich will ein Held werden und alle schlechten Leute +totschlagen!« + +Ich streichelte seinen Lockenkopf. »Das ist nicht leicht, mein Kind,« +sagte ich ernst. + +»Oh, ich weiß! Aber was man will, das kann man auch!« rief er mit einem +hellen Jauchzen in der Stimme. Ich zog ihn zärtlich an mich. Hatte ich +es nötig, um ihn zu bangen? Brauchte ich zu fürchten, daß seine Zukunft +von der Gunst der harten Frau dort drüben abhängig werden könnte? Ich +vergaß allmählich, weshalb ich hierher gekommen war. Ich sah nicht mehr +erwartungsvoll die weiße Straße hinauf, wo ich vor Zeiten so oft mit der +Tante gefahren war. + +Es fiel von meiner Seele wie lauter dunkle Schleier. Die Sonne und die +freie Bergluft berührten sie wieder. Zuweilen kam ich mir selbst wie +verzaubert vor: als sei all mein Träumen, mein Hoffen und Sehnen aus mir +herausgetreten und lebendig geworden in der Gestalt dieses Kindes. + +An den Wiesenwegen standen überall Kruzifixe, Wahrzeichen jener +Verneinung des Lebens, die uns gelehrt hat, Armut und Unglück nicht als +unsre ärgsten Feinde, sondern als gottgewollt anzusehen. + +»Ich kann einen angenagelten Gott nicht anbeten,« sagte mein Sohn. + +Unser Aufenthalt ging zu Ende. Ich mußte zum Parteitag nach München. +Aber ich konnte nicht fort, ohne drüben gewesen zu sein, wo auf dem +Hügel die kleine weiße Kirche steht und der grüne Badersee im Walde +träumt, mit dem Bilde der Zugspitze im Herzen. Wir fuhren nach Garmisch +und wanderten über die Wiesen, an den braunen Heuschobern vorbei, +dorthin, wo sich in leisen Wellenlinien das Tal erhebt, Hügel an Hügel +von alten Baumriesen bekrönt und blühenden Büschen. Glänzend wie ein +Silberstreifen schlängelt sich der Weg durch die Gründe, -- braune und +rote Dächer tauchen auf, -- schon plätschert der Bergbach, der ganz, +ganz oben in den Furchen und Spalten dem Felsen entspringt und vom +Schnee sich nährt und vom Eis: Das war Grainau --. »Und nun, Bubi, paß +auf: nun kommen die blauen und goldgelben Häuser mit den lustigen +Heiligenbildern daran und den vielen, vielen Nelken auf den Altanen.« + +»Wo denn, Mamachen?!« + +Ich sah mit großen Augen um mich. Wo waren sie nur? Die Erinnerung malte +mir wohl ihr Bild, aber die Zeit hatte ihre Farben verlöscht, und +überall standen neue Häuser mit kalkweißen Wänden, -- ohne den heiligen +Florian in den Nischen, -- blumenlos. Wie verschüchterte Bauernkinder +vor den Städtern verkrochen sich die alten scheu in den Winkeln. Ich +beschleunigte meine Schritte. Der Wald war derselbe geblieben, und +zwischen den Buchenstämmen leuchtete schon der See. Dort wollt' ich +stille Andacht halten! -- Mein Fuß stockte: ein großes Hotel erhob sich +an seinem Ufer. In seine kristallklare Flut hatte man eine Nixe aus +Bronze versenkt; auf den Kähnen drängten sich die Menschen um sie und +starrten hinunter. Aber den Badersee sahen sie nicht. Der lag ganz still +und sah zum Himmel empor in großer, großer Einsamkeit. Und hinter +dunkeln Wolken versteckten sich die Berge, als schämten sie sich der +Welt unter ihnen. + +Ich kämpfte mit den Tränen. Meine Jugend hatte ich gesucht, -- war ich +nicht statt dessen plötzlich uralt geworden? Ich mochte nichts mehr +sehen, auch das Rosenhaus nicht. Aber mein Junge gab nicht nach. + +Lange lagen wir auf dem Moose im Wald, den kleinen Rosensee uns zu +Füßen, am jenseitigen Ufer das traute grünumrankte Haus. Hier hatte sich +nichts verändert. Und all die Bilder von Glück und Leid, die dieser +Rahmen einst umschloß, zogen an mir vorüber. Die Jahre zwischen damals +und heut wären mir wie ein Traum erschienen, wenn nicht das Kind neben +mir mich an die lebendige Gegenwart erinnert hätte. Ich stand auf und +reckte den Körper. Der Abschied von diesem Haus, diesem See, diesem Wald +war der erste Schritt in das neue Leben gewesen. Ich bereute ihn nicht. +Dankbar sah ich noch einmal hinüber. Trotz alledem: dieser Erdenwinkel +blieb mein. + +Eine weißhaarige Frau, die den schweren Körper nur mühsam am Stock +vorwärts bewegte, trat aus der Tür in den Garten. Uns entgegen auf dem +schmalen Steg kam hastig ein hellgekleidetes Mädchen. Dicht vor mir +blieb sie sekundenlang mit weit aufgerissenen Augen stehen. Es war Jenny +Kleve. Dann sah ich noch, wie sie hinüberlief, mit erregten Gesten auf +die alte Frau einsprach, und wie diese dem herbeigerufenen Diener eine +Weisung erteilte. Ich lachte auf: jetzt hat sie Befehl gegeben, mich +nicht vorzulassen, dachte ich; -- Jenny Kleve, auf diesen Triumph freust +du dich umsonst! + + * * * * * + +In München erwartete uns Berta, mit der der Kleine nach Berlin +zurückreisen sollte. + +Hätte ich nur mit ihnen heimreisen können! All der Staub der Stadt, der +meine Lunge erfüllt, der grau und schwer die Glut meines Herzens fast +erstickt hatte, war vom Bergwind weggeweht worden. Mein Kind, -- mein +Geliebter, -- waren sie nicht der Inhalt meines Lebens? Mein Geliebter, +-- nicht mein Gatte, an dessen Seite nichts mich zwang als ein Stück +Papier. »Die geläuterte Moral der Zukunft wird die Roheit unserer +Gesittung nicht verstehen,« schrieb ich an Heinrich, »die die +Beziehungen der Geschlechter, wie die zwischen Unternehmer und Arbeiter, +zwischen Herrn und Diener, mittelst eines formulierten Vertrages regeln +wollte, die die Frau nötigte, als Symbol des Auslöschens ihrer +Persönlichkeit, den eigenen Namen mit dem des Mannes zu vertauschen. +Liebe sollte immer ein Geheimnis sein, eins, um das nur die +Allernächsten wissen. Die Ehe schreit es in alle Welt hinaus und erzählt +zynisch jedem Gassenbuben: sieh, dieses Weib gehört jenem Mann!.. Ich +sehne mich nach Dir. Mit tieferer, heißerer Sehnsucht, als da die Liebe +mir nur ein Traum war. Ich möchte untertauchen bis auf den Grund ihres +Ozeans, denn mir ist, ich wäre bisher nur auf der Oberfläche gefahren, +und in der Tiefe warteten Schätze auf mich von unermeßbarem Wert. Aber +wenn ich an unsere laute Straße denke, an die engen Zimmer, in die +unsere große Liebe sich sperren ließ, um Magddienste zu tun, -- dann +sinkt meine Sehnsucht in sich zurück, wie ein Springbrunnen, der eben in +Milliarden Wassertropfen der Sonne entgegenflog und nun, da der Gärtner +den Hahn abdreht, plötzlich verschwindet ...« -- + +»Du hast recht,« antwortete er, »tausendmal recht! Aber glauben kann ich +Dir erst, wenn Du Deine Empfindung nicht nur aussprichst, sondern ihr +folgst ... Komm, und wir wollen in irgend einem stillen Winkel, wo uns +niemand kennt, Hochzeit feiern, wie einst ... Der Parteitag braucht Dich +nicht. Dieser Augenblick jedoch ist vielleicht der einzige, der in uns +beiden die Erinnerung an die Ehe auslöscht ...« + +Aber ich ging nicht. Ich war unfrei. Nie hätte ich es mir eingestanden, +und doch war es so: ich stand, wie die Mutter, noch unter dem kalten +Gesetz der Pflicht. Ich durfte die Aufgabe nicht im Stiche lassen um +meiner Wünsche willen! Am wenigsten jetzt, wo ihre Erfüllung mir +widerstrebte. + + * * * * * + +Wie schön hatte ich es mir einst gedacht, wenn zu den Kongressen der +Partei die Gesinnungsgenossen von Ost und West, von Nord und Süd +zusammenkommen würden, ungleich nach Beruf und Alter und Geschlecht, und +doch ein einiges Heer, von derselben Kraft durchdrungen, von demselben +Willen beseelt, neue Kreuzfahrer, die auszogen, der Menschheit heiliges +Land zu suchen. Und jetzt? + +Schon im Hotel, wo die meisten Delegierten untergekommen waren, musterte +man sich mißtrauisch, begrüßte sich kühl. Und Gruppen bildeten sich, die +berieten, ob und wie man die Ansichten der anderen Gruppen überstimmen +könne. + +Dem Parteitag ging eine Frauenkonferenz voraus. Als ich in den Kreis der +fünfundzwanzig Genossinnen trat, fühlte ich die abweisende Kälte, die +mir entgegenströmte. Nur Ida Wiemer schüttelte mir herzhaft die Hand. +»Was sagen Sie nur zu dieser Tagesordnung?!« flüsterte sie erregt. + +Ich lachte spöttisch: »Sie wollen offenbar in anderthalb Tagen die ganze +Frauenfrage lösen. Arbeiterinnenschutz, Kinderschutz, gesetzliche +Regelung der Heimarbeit, politische Gleichberechtigung, -- ein +imponierendes Programm! Es ist ja aber auch eine hübsche Zahl von +Jasagern beisammen. Die schlucken die Resolutionen unbesehen.« + +»Aber Krach gibt's auch,« antwortete Frau Wiemer. »Ihnen müßten die +Ohren geklungen haben, so giftig ist die Bartels auf Sie.« + +»Auf mich?! Ich habe ja gar nichts getan!« meinte ich verwundert. + +»Aber die düsseldorfer Genossinnen haben einen Antrag auf Anstellung +einer Parteisekretärin eingebracht. Man meint, Sie müßten +dahinterstecken --« + +Darum also die bösen Gesichter! + +»Und dann: daß Sie als Einzige von uns morgen im Kindlkeller sprechen!« + +Darum also die gekränkten Mienen! + +Die arme Düsseldorferin wußte offenbar nicht, in was für ein Wespennest +sie mit ihrem Antrag gestochen hatte, und konnte die Erregung, die er +hervorrief, nicht begreifen. Ich kam ihr zu Hilfe und goß nur Öl ins +Feuer. Alles fiel über uns her. Martha Bartels sah in dem Antrag ein +Mißtrauensvotum gegen ihre Tätigkeit als Zentralvertrauensperson und +spielte die persönlich Gekränkte, Luise Zehringer gab der offenbar +allgemeinen Meinung, wonach ich mir auf diese hinterlistige Weise eine +fette Pfründe schaffen wollte, drastischen Ausdruck, indem sie mit einem +wütenden Blick auf mich erklärte: + +»Die Genossinnen, die nur ab und zu von sich hören lassen, sonst aber +praktisch gar nicht arbeiten, können wir für solche Stelle nicht +brauchen. Die haben unser Vertrauen nicht.« + +Dabei begann sie krampfhaft zu schluchzen und kreischte, wie ich es von +ihr noch nie gehört hatte. Aller Klang und alle Weichheit waren aus +ihrer Stimme verschwunden. Ob das das unausbleibliche Schicksal aller +Agitatorinnen war?! + +Die Bartels sekundierte ihr: »Uns können nur Frauen nützen, die Fleisch +von unserem Fleische sind ... Keine akademisch gebildeten Damen, die nur +mal, um sich zu zeigen, ab und zu in einer großen Versammlung einen +Vortrag halten --.« Ich stand dicht vor ihr und sah ihr gerade ins +Gesicht. »Solche Paradepferde können wir nicht brauchen,« schrie sie. + +Mein Nachbar, ein belgischer Genosse, schüttelte verwundert den Kopf: +»Es scheint, die ganze Konferenz richtet sich gegen Sie. Was haben Sie +nur getan?!« fragte er. + +»Ist's nicht Verbrechen genug, daß ich überhaupt da bin?!« antwortete +ich bitter. + +Als im weiteren Verlauf der Debatte die Frage des Arbeiterinnenschutzes +besprochen wurde, nahm ich die Gelegenheit wahr, abermals die +Forderungen einer umfassenden Mutterschaftsversicherung zu verteidigen. +Ein paar Beifallsrufe wurden laut, die meisten der Frauen jedoch, ihr +Leben lang gewohnt, sich unterjochen zu lassen, waren durch die +Anwesenheit so anerkannter Parteiautoritäten, wie Wanda Orbin und Martha +Bartels, viel zu verschüchtert, als daß sie ihnen hätten opponieren +können. Kaum hatte ich geendet, als Wanda Orbin sich zum Worte meldete. + +Sie sprach mit einer Leidenschaft, als gelte es, die höchsten Prinzipien +des Sozialismus zu verteidigen, und mit einer Stimme, als hätte sie eine +Riesenvolksversammlung vor sich: »Der Gedanke, welcher der +Mutterschaftsversicherung zugrunde liegt,« sagte sie, »ist der Gedanke +der menschlichen Solidarität in seiner weitesten Form. Die +Verwirklichung dieses Prinzips aber steht in so schreiendem Gegensatz zu +dem Wesen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, daß wir sie auf +ihrem Boden nicht erreichen werden ... Sie kann erst zur Verwirklichung +gelangen, wenn das Recht des lebenden Menschen über den toten Besitz zur +Geltung gebracht sein wird, -- in einer sozialistischen +Gesellschaft ...« Ihre Stimme überschlug sich, Schweißtropfen standen +auf ihrer Stirn. Von allen Seiten klatschte man enthusiastisch. + +»Bisher hat es nur als ein Kennzeichen der bürgerlichen Frauenbewegung +gegolten, aus Opportunitätsgründen möglichst wenig zu fordern, um +überhaupt etwas zu erreichen,« antwortete ich in ruhigem Gesprächston. +»Wir verlangen im Gegenteil Alles, und nehmen nur als Abschlagszahlung, +was davon stückweise errungen wird. Haben wir etwa jemals aufgehört, für +den Achtstundentag zu agitieren, weil der Gegenwartsstaat ihn nicht +gewähren wird? Mit noch größerem Recht können wir von ihm die +Mutterschaftsversicherung fordern, denn ein gut Teil ihrer Ziele muß er +im eigensten Interesse verwirklichen. Er braucht gesunde Mütter, +arbeitsstarke Männer, kriegstüchtige Rekruten.« + +Wanda Orbin erhob sich noch einmal. »Die Forderung der +Mutterschaftsversicherung ist durchaus nicht so radikal sozialistisch, +wie Frau Brandt meint ...,« rief sie. Ringsum klatschte man wieder. +Weder sie noch ihre Zuhörerinnen hatten bemerkt, daß sie, um mir zu +widersprechen, sich innerhalb weniger Minuten selbst widersprochen +hatte. + +Als ich ins Hotel zurückkam, müde und verärgert, trat mir überraschend +mein Mann entgegen. Ich errötete dunkel. Er küßte mir nur die Hand. + +»Ich wußte, daß du Kämpfe haben wirst,« sagte er, »und daß ein Freund +dir fehlen könnte.« Mit tiefer Dankbarkeit sah ich ihm in die Augen. + +Der Geist, der in der Frauenkonferenz umgegangen war, herrschte auf dem +Parteitag. + +»Wir brauchen die Akademiker nicht!« war die Parole, unter der er stand. +»Wenigstens die nicht, die sich erlauben, eine andere Meinung zu haben +als wir.« + +Ein Antrag besonders war von symptomatischer Bedeutung; er verlangte +nichts weniger, als daß die Mitglieder der Partei verpflichtet werden +sollten, Kritiken über schriftliche oder mündliche Äußerungen von +Parteigenossen nur in Parteiblättern, das heißt solchen Zeitungen und +Zeitschriften, die der Parteikontrolle unterstehen, zu veröffentlichen. +War es nicht ein grotesker Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien +der Partei, daß solch ein Antrag auch nur ernsthaft diskutiert werden +konnte? Daß es Sozialdemokraten gab, die die »Einheitlichkeit der +Partei« dazu mißbrauchten, um die Meinungsfreiheit niederzuknütteln? + +»Ich habe geglaubt, die Leute hätten sich in der Adresse geirrt,« sagte +Vollmar und reckte sich zu seiner ganzen Riesengröße auf, sodaß er +turmhoch und turmsicher über der brandenden Woge der Menge stand. »Das +ist ein Antrag für die Zentrumspartei, für die Kirchenorgane mit dem +Zensor obenan, wo nur eine Meinung gilt. Es genügt nicht, ihn zu +bekämpfen, ihn niederzustimmen. Bis auf seine Wurzeln, gilt es, ihn zu +verfolgen, sonst kehrt er in der und jener Form alljährlich wieder und +überwuchert unser Erdreich. Es ist der ewige Geist der Kontrolle, der +Geist der Kasernenhofdisziplin, dem er entspringt. Und gegen ihn müssen +wir uns wenden. Nicht die freie Meinung unterdrücken, was eine Schwäche +verraten würde, die nur dem Tode, das heißt der Versteinerung einer +Bewegung vorangehen kann, sondern sie fördern, ist unsere Aufgabe. +Sollte der Versuch unternommen werden, selbständige Menschen mundtot zu +machen, so wäre der kein echter Sozialdemokrat, der es fertig bekäme, +sich solcher Zensur zu unterwerfen. Es wäre wahrhaftig nicht der Mühe +wert, die Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft von sich zu werfen, um +sie nur mit neuen zu vertauschen!« + +Ich sah mich um im Saal. Es waren nur bestimmte Gruppen, die Beifall +klatschten. Reihenweise saßen die Genossen an den langen Tafeln mit +verschlossenen oder gleichgültigen Mienen. Unwillkürlich lief mir ein +Schauer über den Rücken. Die »Diktatur des Proletariats«, -- wird sie +die Freiheit sein? + +»Sie würde ein rasches Ende nehmen, wenn sie etwas anderes wäre,« sagte +einer unserer Genossen, als wir am Abend zusammen waren und ich die +Frage ausgesprochen hatte. + +Während der letzten Tage des Kongresses, deren Verhandlungen sich um die +praktischen Fragen der Arbeiterversicherung und der Kommunalpolitik +drehten, legten sich die Wogen der Erregung wieder. Und als August Bebel +von den kommenden Reichstagswahlen sprach und seine braunen +Jünglingsaugen unter dem grauen Haarschopf immer feuriger glänzten, je +drastischer seine Darstellung der inneren und äußeren politischen Lage +wurde, je weitgehendere Hoffnungen er für den Wahlkampf daran knüpfte, +da jubelte alles ihm einmütig zu; jener zündende Funke der Begeisterung +sprang von einem zum anderen, derselbe Funke, den eine Kriegserklärung +für alle waffenfähigen Männer bedeuten mag. Sie werfen ihr Werkzeug +beiseite, sie treten in Reih und Glied, und zum guten Kameraden wird der +Nachbar, mit dem sie eben noch in kleinlichem Hader lebten. + +Noch erging sich die bürgerliche Presse in langatmigen Betrachtungen +über den »Bruderzwist« in der Partei, um Hoffnungen für ihre Sache +daraus zu schöpfen, und schon standen wir in Reih und Glied dem +gemeinsamen Feind gegenüber. + + * * * * * + +Am Tage unserer Rückkehr nach Berlin ging ich zur Mutter. Drei Monate +hatte ich sie nicht gesehen. Ihre Briefe, die kurz und freudlos waren, +ließen mich nichts Gutes ahnen. Sie wohnte mit Ilse in einer Pension am +Lützow-Ufer. Als ich aus dem hellen Tageslicht in das dunkle Zimmer +trat, -- die Häuser hier traf nie ein Sonnenstrahl, -- löste sie sich +langsam, wie ein Schatten, aus dem tiefen Stuhl, in dem sie gesessen +hatte. Ihre Hände nur leuchteten weiß und überschlank aus dem schwarzen +Ärmel des Kleides. Sie war sehr verändert. + +Streifen weißen Haares zogen sich durch ihre blonden Scheitel. Auf ihrem +schmalen Gesicht wechselte fahle Blässe mit fliegender Röte. Die +Pupillen in ihren Augen standen keinen Augenblick still. Ein Gefühl von +Zärtlichkeit überkam mich. Ich küßte ihre beiden Hände. + +»Es ist nicht leicht --,« sagte sie. + +»Was denn, Mamachen?« fragte ich so sanft, als hätte ich eine Kranke vor +mir. + +»Weißt du noch, wie ich Ilse die Stiefel zuschnürte, als sie ein Kind +war? Vor ihr auf den Knieen, -- nur damit sie sich nicht bücken sollte?« +begann sie langsam, traumverloren. »Dann pflegte ich ihren Mann zu Tode, +-- und nun läßt mir die Angst keine Ruhe, daß sie wieder in ihr Unglück +rennt --« Sie ließ sich nicht beruhigen. Es war, als ob eine fixe Idee +sie beherrschte. + +Eines Abends schickte Ilse nach mir. + +»Um Gottes willen -- rasch --,« rief sie mir schon vor der Haustür +entgegen, »ich fürchte mich so!« Oben fand ich die Mutter im Bett +zusammengekauert, die Augen starr ins Wesenlose gerichtet. »Hans -- Hans +-- tu mir nichts!« wimmerte sie. »Du hast ja mein Versprechen --« Und +dann streckte sie wie lauschend den Kopf vor. »Hier meine Hand +darauf --« flüsterte sie ruhiger werdend, und ihre weißen Finger griffen +in die leere Luft, um etwas zu umschließen, das niemand sah als sie. + +Der Arzt erklärte ihren Zustand für Nervenüberreizung und verlangte die +Trennung von Mutter und Tochter. Aber erst nach Wochen voller innerer +und äußerer Qualen ließ sie sich überreden, ohne Ilse nach Montreux zu +gehen. Ich hatte ihr versprechen müssen, die Schwester zu mir zu nehmen, +und sie selbst überwachte noch ihre Übersiedlung in eine zufällig leere +Wohnung neben uns. + + * * * * * + +Es war um die Weihnachtszeit; jene Zeit voller Geheimnisse und voller +Freuden; jene Zeit, die ein Gott der Liebe wirklich geweiht zu haben +scheint. Ich hatte dann immer alle Hände voll zu tun. In den Laden gehen +und kaufen, das kann jeder, der einen vollen Beutel hat, auch im Alltag +des Jahres. Aber den Wünschen derer, die man liebt, nachspüren, und sie +mit eignen Händen zu erfüllen suchen, das kann nur, wer Festtagsstimmung +hat. + +Eine Götterburg baut' ich meinem Buben auf mit Wodan und Baldur, mit +Loki im roten Feuerkleid und den Walküren in Schwanengewändern. Stets +fehlte noch irgend was: ich mußte weit umherlaufen, um die Silberflügel +für die Helme der Schlachtjungfrauen oder den goldenen Eber für Freyrs +Wagen zu finden. Und ich war so müde, so schrecklich müde! Es war, als +ob mein Körper täglich schwerer auf den Füßen lastete. Endlich war alles +fertig. Ich lag erschöpft auf dem Sofa. + +Wie schwach mir war und wie glühend heiß dabei! Mit einer letzten +Kraftanstrengung schlich ich ins Schlafzimmer und legte mir den +Fieberthermometer unter den Arm: 39½ -- Ich rief nach Berta und schickte +zum Arzt. Dann wußte ich nichts mehr von mir. + +Erst allmählich sah ich schattenhaft Gestalten um mein Bett -- Heinrich +-- den Arzt -- die Pflegerin in der weißen Haube und -- die Mutter! Wie +hatte man sie nur rufen können, die arme, kranke Frau?! Oder, -- eiskalt +packte mich die Angst, -- sollte ich sterben müssen?! Ich durfte doch +gar nicht! Ich mußte den Weihnachtsbaum putzen für mein Kind! +Unaufhaltsam liefen mir die Tränen über die Wangen. + +Ich genas. Auf dem Sofa lag ich jetzt wieder, und über meine Decke ließ +Ottochen alle Götter und alle Walküren reiten. + +»Wie kam es nur,« wandte ich mich zur Mutter, die, noch schmaler +geworden, im Stuhl neben mir lehnte, »wie kam es nur, daß du so +plötzlich hier warst? Heinrich gab mir sein Wort, daß er dir nichts von +meiner Erkrankung geschrieben hat, -- und Ilse auch.« + +Ein stilles Lächeln glitt über ihre Züge. + +»Nein, niemand schrieb mir, -- aber ich sah, daß der Tod neben dir +stand. Ihr mögt noch so sehr zerren wie an einer Kette, das Band +zwischen Mutter und Kind ist stärker als Ihr.« + +Am nächsten Tage reiste sie ab. Sie hatte den alten schwarzen Mantel an, +den ich seit Jahren an ihr kannte, und auf ihrem dunkelgrauen Hut saß +ein kleiner grünschillernder Käfer, -- ich weiß noch alles ganz genau. +An der Tür zögerte sie und sah mich an, -- mit einem langen, langen +Blick. Ich wollte mich aufrichten und sie noch einmal umarmen. Aber ich +war viel zu schwach dazu. + +Acht Tage später war sie tot. + + + + +Dreizehntes Kapitel + + +»Genosse Weber aus Frankfurt a. O. -- meine Frau.« Ich war gerade zur +Türe eingetreten, als Heinrich mir seinen Gast vorstellte, einen kleinen +lebhaften Menschen mit blanken, braunen Augen und kahlem Schädel. +Verwundert sah ich von einem zum anderen: sie waren beide heiß und rot +vor Erregung. + +»Helfen Sie mir, Genossin Brandt,« sagte der Fremde und trommelte mit +den Fingern auf der Tischplatte. Komisch, was für einen breiten, nach +außen gebogenen Daumen er hat, wie bei der Spinnerin im Märchen, dachte +ich zerstreut, während meine Augen gewohnheitsmäßig an seinen Händen +hängen blieben. + +»Weber bietet mir die Kandidatur seines Wahlkreises an,« erklärte +Heinrich. Nun erst horchte ich auf. + +»Und er zögert, sie anzunehmen. Bringt lauter Wenn und Aber vor. Und +will Bedenkzeit. Als ob es jetzt noch was zu bedenken gäbe! Jeder von +uns muß ins Geschirr, -- so oder so,« rief unser Gast, und seine Worte +überstürzten sich vor Eifer. »Machen Sie kurzen Prozeß, -- schlagen Sie +ein!« + +»Schade, daß Sie mich nicht brauchen können, -- ich täte es +besinnungslos,« antwortete ich und legte meine Hand in die seine, die +er noch vergeblich meinem Mann entgegenstreckte. Weber hielt sie fest. + +»Ein Weib -- ein Wort,« lachte er. »Sie sollen sehen, wie wir Sie +brauchen können, -- zuerst müssen Sie uns den Kandidaten und dann den +Wahlkreis erobern helfen!« + +Aber mein Mann blieb fest, trotz allen Zuredens. + +»In vierundzwanzig Stunden werden Sie meine Antwort haben...« sagte er. + +Als Weber gegangen war, schalt er mich: »Du bist unüberlegt wie ein +Kind! Glaubst du, daß das Archiv nicht sehr geschädigt wird, +wenn ich für die Partei kandidiere, oder gar als Mitglied der +sozialdemokratischen Fraktion in den Reichstag komme?!« + +Ich machte eine wegwerfende Bewegung: »Ach, -- das Archiv und immer das +Archiv! Lindner wird sich über kurz oder lang entscheiden müssen, und +wenn du erst eine ausgesprochen sozialistische Zeitschrift leitest, so +wird das auf das Archiv nicht anders wirken, als wenn du Abgeordneter +bist...« + +Einen Augenblick lang schwieg ich und sah ihn erwartungsvoll an, aber er +blieb am Schreibtisch sitzen mit gesenkten Augen und zusammengekniffenen +Lippen, während seine Hand unruhig mit dem Bleistift spielte. + +»Heinz --,« fuhr ich mit weicherer Stimme fort, »Heinz, das bist nicht +du, den ich unschlüssig vor mir sehe! Alle Wetterzeichen deuten auf +einen großen Kampf, und du könntest abseits bleiben, wenn man dich zu +den Waffen ruft?! Du, den ich liebe um seiner Kühnheit willen, der all +die tausend jämmerlichen Rücksichten des Alltagsmenschen nicht kennt --« + + +»Ich sage dir, wie schon einmal, daß ich an euch zu denken habe, an dich +und das Kind,« unterbrach er mich, aber seine Stimme hatte keinen Ton +dabei. + +»Hat Romberg, der den Freien spielt und im Grunde nichts ist als ein +Philister, so viel Macht über dich?!« antwortete ich heftig. »Soll auch +für uns die Familie der Götze sein, dessen Unersättlichkeit wir das +Beste opfern: unsere Freiheit, unsere Überzeugung, unser Menschentum?! +Sie wäre wert, daß wir sie zerstörten, wie unsere Gegner es von uns +behaupten, wenn dem so wäre!« + +Heinrich erhob sich und reichte mir die Hand. Seine Augen glänzten +wieder. »Du bist mein tapferer Kamerad,« sagte er, -- nichts weiter. Und +ich stellte keine Frage mehr an ihn. + +Am nächsten Morgen gingen wir in den Reichstag. Seit Wochen tobte hier +der Kampf um den Zolltarif. Mit eiserner Konferenz hatte die +sozialdemokratische Fraktion es bisher durchgesetzt, daß über jeden +einzelnen Zollsatz beraten und namentlich abgestimmt wurde. Wenn sie die +schließliche Annahme der Vorlage auch nicht verhindern konnte, -- sie +hatte eine geschlossene Mehrheit gegen sich; von den bürgerlichen +Parteien wagte es nur die kleine freisinnige Vereinigung unter Führung +von Theodor Barth mit ihr zusammen gegen die drohende Verteuerung aller +Lebensmittel Front zu machen --, so wollte sie wenigstens nichts +versäumen, um ihre Folgen abzuschwächen, oder, -- das war die Hoffnung +der Optimisten in ihrer Mitte, -- die Entscheidung so lange +hinauszuschieben, bis die neu gewählten Volksvertreter sie zu fällen +haben würden. Sie wußten genau: wenn sie mit dem Zolltarif als +Agitationsmittel vor die Wählermassen treten könnten, so würde eine +verstärkte Opposition in den Reichstag zurückkehren. Aber ihre +politischen Gegner fürchteten diese Entwicklung der Dinge ebenso sehr, +als die Sozialdemokraten sie wünschten. Schon hatten sie versucht, durch +eine Umänderung der Geschäftsordnung die Verhandlungen zu beschleunigen, +-- umsonst. Die Sozialdemokraten begegneten ihnen mit vier- und +fünfstündigen Dauerreden, mit immer neuen Anträgen. Die Empörung stieg +bis zur Siedehitze. Und jetzt, -- darüber war kein Zweifel, -- hatten +die Vertreter der Rechten und des Zentrums nach langwierigen Beratungen +ein Mittel gefunden, das den Einfluß der Opposition endgültig lahmlegen +sollte. + +In der langen grauen Wandelhalle, die der dunkle Novembertag noch öder, +noch farbloser erscheinen ließ, warteten wir auf unsere Tribünenkarten. +Abgeordnete eilten an uns vorüber, in schwarzen Röcken oder in Soutanen, +schwere Mappen unter den Armen, mit müden, überwachten Gesichtern, oder +sie gingen flüsternd zu zweien und blieben in den Ecken stehen, die +Köpfe zueinandergeneigt, wie Verschwörer. Erhob sich ihre Stimme im +Eifer des Gesprächs, so hallten abgerissene Worte durch den hohen Raum +und schwebten wie verirrt in der Luft. Ein langsamer fester Schritt +näherte sich uns: Ignaz Auer. + +»Sie haben eine gute Nase, Genossin Brandt,« lachte er, indem er uns +kräftig die Hände schüttelte; »heute platzt hier irgend eine Bombe. Und +da müssen Sie dabei sein, was?!« Er führte uns in den Wandelgang, der +den Sitzungssaal umschließt, und mit seinem weichen Teppich und seiner +braunen Täfelung behaglich gewirkt hätte, wenn nicht ein unaufhörliches +hastiges Hin und Her die Luft in ständiger nervöser Schwingung erhalten +hätte. Wir setzten uns. + +»Mir ist die Kandidatur für Frankfurt-Lebus angeboten worden. Was halten +Sie davon?« wandte sich mein Mann an Auer. Der strich sich nachdenklich +mit der breiten Hand den Bart, während ein leiser Spott seine Lippen +kräuselte. + +»Also wieder ein Akademiker! Was werden unsere Berliner sagen?! -- +Übrigens,« fügte er lauter hinzu, »ich kenne den Wahlkreis: Äcker, +nichts als Äcker, und Bauern- und Rittergüter, wenig Industrie, -- kurz, +ein böser Winkel.« + +»Aussichtslos?« fragte Heinrich. + +»Aussichtslos? Nein!« antwortete Auer. »Nur erleben wir beide seine +Eroberung nicht.« Ich biß mir ärgerlich die Lippen, -- ich hatte +erwartet, daß er zureden würde. + +Ein heller Glockenton klang durch das Haus. Die Sitzung war eröffnet. +Wir stiegen zur Tribüne hinauf. Jeder Platz war besetzt. Gespannte +Erwartung lag auf allen Zügen. Man zeigte einander flüsternd die +Hauptführer im Kampf. Allmählich füllte sich unten der Saal. Das +gelbgraue Licht, das von den farblosen Wänden und der tiefen Glasdecke +ausstrahlte, ließ alle Gesichter gleichmäßig fahl erscheinen. + +»Ein vornehmer Raum!« sagte eine Dame neben mir. Daß man so oft für +vornehm hält, was nur kühl, nur leblos ist! Die Architekten öffentlicher +Gebäude sollten den psychologischen Einfluß der Farben auf die Menschen +studieren. Vielleicht würden dann manche Parlamentsverhandlungen und +Gerichtsbeschlüsse anders ausfallen. + +Hinter dem Rednerpult stand ein Abgeordneter, der mit einförmiger +Langsamkeit über die Petitionen zu den Vieh- und Fleischzöllen +berichtete. Niemand hörte auf ihn. In Gruppen standen die Mitglieder der +Rechten und des Zentrums beieinander. Hier und da eilte einer von ihnen +zur Tür, um bald darauf achselzuckend wiederzukommen. Irgend etwas +sehnlich Erwartetes fehlte. Die Linke nur saß scheinbar ruhig auf ihren +Plätzen, und auf dem Präsidentenstuhl lehnte Graf Ballestrem in +erzwungener Gelassenheit den weißen Kopf an die hohe Lehne. Der +Berichterstatter schloß. Graf Ballestrem erhob sich: »Wir treten nunmehr +in die Beratung des Zolltarifs ein ...« + +In diesem Augenblick stieg Herr von Kardorff, der greise Führer der +Rechten, mit jugendlicher Elastizität die Stufen zur Estrade empor. Ein +weißes Papier zitterte in seinen Händen. Die Stimme, mit der er scharf +und hell seine Worte in den Saal hinausstieß, vibrierte: + +»In wenigen Minuten wird dem Hause ein Antrag vorliegen, der dahin geht, +in Paragraph 1 der Gesetzesvorlage die Enbloc-Annahme des Zolltarifs +auszusprechen ...« + +Ein Hohngelächter übertönte jedes weitere Wort. Die Linke sprang auf und +umdrängte die Estrade. + +»Eine Guillotinierung!« klang es aus dem schwarzen Menschenknäuel. + +»Sie haben uns selbst auf diesen Weg gedrängt ...,« rief Kardorff. Er +ballte die Faust um das weiße Papier, reckte die überschlanke Gestalt +hoch auf und maß mit einem hochmütigen Blick die Gegner unter ihm. + +Man wartete auf die Verteilung des Antrages. Eine lange, atemlose Pause. +Endlich traten die Diener ein. Man riß ihnen die bedruckten Blätter aus +der Hand. Dicht unter der Rednertribüne, auf der Kardorff noch immer +aushielt -- gerade, starr, scheinbar gleichgültig --, warf einer der +Sozialdemokraten in fanatischem Zorn das zusammengeballte Blatt zu +Boden. Um den heftig gestikulierenden Bebel sammelte sich die Linke. + +»Zur Geschäftsordnung!« rief Singers tiefe Stimme immer wieder dem +Präsidenten zu. + +Und dann sprach er. Aber durch den frenetischen Beifall der Linken und +die empörten Zwischenrufe der Rechten und des Zentrums klangen nur +abgerissene Sätze zu den Tribünen empor. + +»... Dieser Antrag ist der Ausfluß des persönlichen Interesses, welches +die Herren Gesetzgeber an der Zolltarifvorlage haben ... Sie fördern den +Umsturz, Sie propagieren die Revolution, indem Sie die Interessen des +Volkes mit Füßen treten... Neunhundert Positionen, von denen jede +einzelne die wirtschaftliche Existenz Tausender bedroht, wollen Sie in +einer Abstimmung zur Entscheidung bringen ... Sie fürchten sich, die +Beute könnte Ihnen entgehen ... Sie sind die Schleppenträger der +Agrarier und die Regierung ist ...« + +»Ihr Zuhälter!« kreischte eine Stimme dazwischen. + +Der Präsident erhob sich und schwang die Glocke. Aber das Wort saß fest; +flüsternd ging es schon durch die Menschenreihen auf den Tribünen. + +Noch einmal übertönte Singers Rede den Sturm im Saal: »Mehr denn je +wird das Recht der Minorität, sich gegen Vergewaltigungen zu wehren, zur +heiligen Pflicht, wo es sich darum handelt, dem Volke ein Gesetz zu +ersparen, das es der Not ausliefert, während es Ihre Taschen füllt ...« + +Seine Fraktionskollegen umringten den Redner; einen Augenblick lang lag +die Hand Theodor Barths in der seinen. + +»Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete von Kardorff.« + +Schon hatte sich Singer seinem Platz wieder zugewandt. Wie er den Namen +hörte, drehte er sich um und blieb zwischen den Seinen stehen, groß, +schwer, breitschultrig. Über ihm auf einer der Stufen, die zur Estrade +führten, stand Bebel, die dunkelglühenden Augen fest auf den Redner +gerichtet, während seine Finger sich nervös bewegten, sich spreizten und +wieder zusammenzogen, als prüften sie ihre Kraft. + +Ruhig, mit der ganzen Selbstbeherrschung des alten Aristokraten, begann +Kardorff zu sprechen: »Wir sind der Überzeugung, daß der vorliegende +Antrag das einzige Mittel ist, um die Tarifvorlage, deren Erledigung wir +für ein großes vaterländisches Interesse halten ...« + +»Vaterländisch?!« fragte jemand ironisch; ein schallendes Gelächter +antwortete. + +Der Redner gab sich nicht die Mühe, den Lärm zu überschreien. +Gleichgültig sah er über die Menge hinweg und wartete, bis der Präsident +die Ruhe wieder hergestellt hatte. Dann sprach er weiter, ohne die +Stimme zu erheben, ohne Pathos. Er gab sich nicht die Mühe, überzeugen +zu wollen; in seiner ganzen Art lag eine souveräne Verachtung des +Gegners. + +»...Daß die Mehrheit wichtige Gesetzesvorlagen auch gegen den Willen der +Minorität durchsetzt, ist eine grundlegende Forderung unseres +konstitutionellen Lebens...« + +Tosender Lärm unterbrach ihn. Aus dem dichtgedrängten Haufen, der sich +allmählich immer näher zur Rednertribüne emporschob, erhoben sich +geballte Fäuste. »Räuber!« -- »Taschendieb!« -- »Volksverräter! --«, wie +Peitschenhiebe pfiff und sauste es durch die Luft. Die Mitglieder der +Rechten erhoben sich und besetzten wie zum Schutz die andere Seite der +Treppe. Kardorff sprach weiter. Sein Gesicht war um einen Schein blasser +geworden, und seine schmalen Hände umklammerten krampfhaft das Pult. +Hier stand nicht mehr der einzelne, der um einen momentanen Vorteil +kämpft, -- in diesem Mann erhob sich vielmehr die alte Welt wider die +neue und umgab seinen scharf geschnittenen Aristokratenkopf mit dem +dunklen Glanz tragischer Größe. + +Als wir gingen, stritt man sich noch immer in endlosen Reden über die +Zulässigkeit des Antrags. + +»Acht Tage läßt sich die Sache wohl noch hinziehen,« meinte einer +unserer Reichstagsabgeordneten, den wir in der Wandelhalle trafen, »dann +ist der Zolltarif angenommen. Ein Pyrrhussieg für die Rechte, -- der +Nagel zum Sarg für die Nationalliberalen!« + +»Und hundert Mandate für uns!« fügte ein anderer frohlockend hinzu; »das +wird ein Wahlkampf werden, der seinesgleichen nicht hatte!« + +In einem Kaffee der Potsdamerstraße erwartete uns Weber. Fragend sah er +von einem zum anderen. Mein Mann reichte ihm die Hand. + +»Hier haben Sie mich, wenn Sie noch mögen. Auer sagt, wir würden die +Eroberung von Frankfurt-Lebus nicht erleben, -- das gab den Ausschlag. +Die gebratenen Tauben, die in den Mund fliegen, schmecken mir nicht. Wir +wollen uns zusammen ein Wild erjagen.« + +Wir blieben noch lange beieinander. Weber erzählte von seinem eigenen +Leben: wie er als armer Schustergeselle in die Welt hinausgewandert war, +sich schließlich seßhaft gemacht hatte und anfing, sich emporzuarbeiten. + +»Eine verbissene Zähigkeit gehört dazu, wenn's gelingen soll,« meinte +er, »dieselbe Zähigkeit, die wir haben müssen, soll die Partei vom +Flecke kommen. Nur ein paar solcher Genossen haben wir in Frankfurt, die +seit Jahren den steinigen Boden beackern, unermüdlich, in täglicher +Kleinarbeit, gegen den Haß und die Verfolgungssucht des ganzen +bourgeoisen Klüngels, -- und doch sind wir ein gut Stück weitergekommen. +Seit zwanzig Jahren schau ich mir die alte rote Fahne an, die seit dem +ersten Lassalleschen Arbeiterverein eingerollt im Winkel steht. Der +schönste Tag meines Lebens wär's, wenn ich sie einmal flattern sehen +könnte!« Und mit dem breiten Schusterdaumen wischte er sich einen +feuchten Tropfen aus dem Augenwinkel. + + * * * * * + +Mit jedem neuen Tage wurde der Kampf im Reichstage brutaler; selbst die +politisch Gleichgültigen wurden aufgerüttelt und verfolgten ihn mit +gespannter Aufmerksamkeit. Durch Nachtsitzungen versuchte die Mehrheit +die Kraft der Minderheit zu erschöpfen, aber mit trotziger Ausdauer +hielt sie stand, und schob die Entscheidung durch endlose Reden immer +wieder auf Tage und Stunden hinaus. Der gegenseitige Haß zerriß in +zügelloser Leidenschaft alle Bande äußerer Gesittung. Konservative +Abgeordnete bezeichneten die Arbeiter Berlins, die in riesigen +Versammlungen gegen den Umsturz der Geschäftsordnung durch den Antrag +Kardorff protestierten, als »skrophulöses Gesindel«, und ihre Presse +forderte von der Regierung: »der Bestie den Zaum anzulegen«. Die +»Bestie« blieb ihre Antwort nicht schuldig. Die größten Säle der +Millionenstadt konnten die Menge nicht fassen, die nichts mehr war, als +ein Wille: nieder mit der Reaktion! und eine Hoffnung: der Rachefeldzug +der nächsten Wahlen. Und mehr und mehr tauchten Menschen in den +Versammlungen auf, die nicht zum Proletariat gehörten. Bewunderung für +die wilde Energie der kleinen Schar Belagerter riß so manchen aus dem +politischen Schlummer, und der Groll führte andere hierher; sie fühlten +ihre liberalen Interessen durch ihre eigenen Vertreter im Reichstag -- +die Bassermann, die Richter -- schmählich verraten. Zu früh vernarbte +Wunden brachen auf: die Erinnerung an die Lex Heinze erwachte, durch die +Kunst und Wissenschaft tödlich getroffen worden wären, wenn die Roten im +Reichstag sie nicht so wütend verteidigt hätten; und die Rede des +Kaisers klang lauter, als da sie gehalten wurde, in die Ohren derer, die +sich bisher vom Getümmel der Schlacht scheu vor ihre Staffelei und ihren +Schreibtisch zurückgezogen hatten. »Eine Kunst, die sich über die von +mir bezeichneten Gesetze und Schranken hinwegsetzt, ist keine Kunst +mehr,« hatte er angesichts der vollendeten Standbilder in der +Siegesallee erklärt, und die großen Eroberungen neuer künstlerischer +Möglichkeiten, wie sie denen um Manet und van Gogh, um Liebermann und +Klinger gelungen waren, als ein Niedersteigen in den Rinnstein +bezeichnet. Jetzt rötete das Schamgefühl manchem die Wangen, der den +Streich ruhig empfangen hatte. »Wahrlich, es gilt mehr als den +Zolltarif,« sagte mir einer aus dem Kreise der Sezession, »es gilt die +Verteidigung der ganzen modernen Entwicklung. Wenn es zu diesem Ende +nichts anderes gibt, als den Stimmzettel, so werden auch wir uns seiner +zu bedienen wissen.« Eine Revolte der Intellektuellen stand bevor, und +im stillen hoffte ich wieder, daß sie zu einer Revolutionierung der +Geister führen würde. + +Aber auch die Gegner außerhalb des Reichstages rüsteten sich schon für +die kommenden Wahlen. Was der Adel Preußens vor zwanzig Jahren noch für +unmöglich gehalten hatte, das geschah. Junker und Fabrikant vereinigten +sich, da der gemeinsame Feind drohte: die Sozialdemokratie. Und der +Kaiser selbst wurde in diesem Kampf der erste Agitator: »Zerreißt das +Tischtuch zwischen Euch und diesen Leuten, die Euch aufhetzen gegen +Thron und Altar, um Euch zugleich auf das rücksichtsloseste auszubeuten +und zu knechten --;« wie auf Windesflügeln durcheilten diese seine +Worte, die er an eine Deputation von Arbeitern gerichtet hatte, das +Reich, denn jeder Sozialdemokrat trug sie weiter. Und lauter, immer +lauter wurde der Groll: »Wer anders beutet uns aus als die Zollwucherer, +die uns das Fleisch vom Tisch nehmen und das Brot verteuern? Wer anders +knechtet uns als die Stützen von Thron und Altar, die das Joch der +Fronarbeit auf unsere Schultern laden?« + +Während die Folgen der schweren Krankheit mir die agitatorische +Tätigkeit noch unmöglich machten, stand mein Mann schon mitten im +Wahlkampf. Er kam jedesmal hoffnungsvoller wieder, denn an der neuen +Aufgabe wuchs seine Energie. Ich benutzte die Stunden der +Alleinherrschaft über unseren Schreibtisch zur Abfassung einer +Agitationsbroschüre, in der ich die politische Situation vom Standpunkt +der Frau aus beleuchtete. Für den kommenden Wahlkampf sollte sie die +Arbeiterinnen aufklären, anfeuern, mit Waffen versehen. Das Häuflein +ihrer offiziellen Vertreterinnen hatte mich zwar hinausgeworfen, aber +Hunderttausende gab es, zu denen ich sprechen konnte. + +»Jetzt mache ich auch mit Lindner kurzen Prozeß,« sagte Heinrich eines +Abends, als er eben von Frankfurt zurückkehrte. »Gehen wir aus dem +Wahlkampf in der Stärke hervor, wie wir es hoffen dürfen, so treten die +Aufgaben praktischer Politik mit zwingender Notwendigkeit an uns heran, +und meine Zeitschrift hat einen Wirkungskreis ohnegleichen ...« + +Lindner kam. Mit Wünschen und Hoffnungen und ohne Entschlossenheit, wie +immer. + +»Sie haben mich lange genug genarrt,« fuhr ihn Heinrich an; »im +Vertrauen auf Sie habe ich gewartet und immer wieder gewartet. Nun aber +verlange ich ein Ja oder Nein.« + +Lindners schmale Gestalt sank förmlich in sich selbst zusammen. Halb +verlegen, halb gekränkt versprach er eine rasche Entscheidung. + +»Wie kannst du nur!« rief ich, als die Türe sich hinter ihm schloß. »Nun +wird er ganz gewiß zurücktreten!« + +»Und wenn schon!« lachte Heinrich fröhlich, »glaubst du, die Zeitschrift +hinge von ihm allein ab?« + +Drei Tage später war der Vertrag abgeschlossen, die Zeitschrift +gesichert. Lindner schien umgewandelt; die Aufgabe, die er vor sich sah, +wirkte auf ihn wie Morphium auf Hysterische: sie gab ihm Kraft, +Tatendurst, Selbstbewußtsein. + +»Nun fehlt nur noch die notarielle Beglaubigung,« sagte er, nachdem er +seinen Namen unter das Schriftstück gesetzt hatte, »und morgen kann die +Arbeit losgehen!« + +Mein Mann legte ihm die Hand mit einer bevormundenden Bewegung auf den +Arm: »Arbeiten müssen wir tüchtig, alle drei, aber über den geeigneten +Zeitpunkt des Erscheinens wollen wir noch andere hören. Und eine +notarielle Beglaubigung?« -- Er lachte -- »Ich denke, solche Scherze +schenken wir uns. Unser Wort genügt, auch wenn wir es nicht schriftlich +gegeben hätten.« + +An einem der nächsten Abende folgten die Führer der Revisionisten +unserer Einladung. Wie zu einem Feste hatte ich unser Zimmer geschmückt +und unsere Tafel bereitet. Und festlich war mir zumute, -- wie den +Soldaten nach der Kriegserklärung. Die frankfurter Fahne fiel mir ein, +die eingerollt im Winkel stand, -- eine im Sturme immer voran flatternde +sollte unsere Zeitschrift werden! + +Unsere Gäste gratulierten uns, -- aber sie hatten doch viel Bedenken, ob +unser Plan durchführbar sei. Sie anerkannten die Wichtigkeit der +Aufgabe, die wir uns gestellt hatten, -- aber an der Stärke der Wirkung +zweifelten sie. Ihre rege Mitarbeit versprachen alle, -- aber ohne den +Enthusiasmus für die Sache, den ich erwartet hatte. Der Name der +Zeitschrift wurde bestimmt: Die Neue Gesellschaft; die Zeit ihres +Erscheinens wurde festgesetzt: nach den Wahlen, nach dem Parteitag. -- +Es war eine nützliche und verständige Besprechung, die wir hatten, aber +wir feierten kein Fest. Die vielen Blumen auf meinem Tisch taten mir +leid. + +Was ich schon oft empfunden hatte, das verstärkte sich jetzt: der +Revisionismus besaß den Verstand und die Einsicht des Alters, das Feuer +der Jugend war ihm jedoch darüber verloren gegangen. Wer aber die +Zukunft erobern will, der muß es erhalten, muß es mit seiner Liebe, +seinem Haß, seiner Hoffnung nähren, damit es weithin leuchtet und wärmt, +und die Fackeln derer, die ihm folgen, sich daran entzünden können. + + * * * * * + +An einem frühen Märzmorgen des Jahres 1903 war ich zu meiner ersten +Wahlagitation von Berlin weggefahren, das grau und grämlich, jenseits +aller Jahreszeit, den Schlaf noch in den Augen hatte. In Gusow verließ +ich den Zug. Auf dem Bahnsteig stand ein Mann, die Schirmmütze keck auf +ein Ohr gezogen, eine Nummer unserer märkischen Parteizeitung in der +Hand -- unser Erkennungszeichen. Er lachte mich fröhlich an. + +»Ich bin der Jenosse Merten,« sagte er. »So was war noch nich da in +Jusow und Platkow. Alles, aber auch alles lauert auf Ihnen --« + +Wir stiegen in ein klappriges Wägelchen und fuhren zwischen Weiden und +Erlen die Straße hinauf. Überrascht sah ich um mich. Ich hatte es gar +nicht gewußt, daß es schon Frühling geworden war! + +»Welch eine Luft!« sagte ich mit tiefen Atemzügen. + +»Nich war, jut ist sie!« antwortete mein Begleiter mit einem Stolz, als +wäre sie sein eigenstes Werk. »Wenn die nich wäre, wir gingen längst auf +und davon. Aber wenn wir -- meine Kollegen und ich -- Sonnabends von der +Arbeet aus Berlin nach Hause fahren und unsere Kinder kommen uns +entgegen, nich so blaß und dünn wie die berliner Jöhren, und wir können +im Jarten in der Laube sitzen, an unserem eigenen Jemüse rumpusseln und +an unseren Obstbäumen, -- dann vergessen wir gern die Plackerei der +ganzen Woche.« Wir begegneten vielen Fußgängern. Er grüßte nach rechts +und links. »Kommst du ooch nach Platkow?« redete er sie an. + +»Jawoll --« »Natierlich,« riefen sie. + +»Sind das alles Maurer? fragte ich. + +»Wo denken Sie hin,« antwortete er, »da sind Landarbeeter mang, sogar +Bauern. Heute kommt alles zu uns. Die haben ja nie in ihrem Leben 'ne +Frau reden jehört.« + +Mitten auf der Straße, wo die Aussicht am freiesten war, ließ er den +kräftigen Braunen halten. + +»Das ist das Oderbruch,« erklärte er und wies nach links, wo sich das +Land weit, endlos weit in der Ferne verlor, und darauf verstreut, wie +Spielzeug, zwischen knorrigen Bäumen, rotbedachte Häuschen und Kirchen +mit breiten Türmen hervorsahen. Blaßblau, wie von durchsichtigem +Kristall, wölbte sich die Himmelsglocke über der Ebene. Aus den dunkeln +Ackerfurchen stieg lebenverkündend ein würziger Geruch. Vergessene +Geschichten fielen mir ein: vom alten Fritz, der dies fruchtbare Land +dem Wasser abgetrotzt hatte, von all den märkischen Junkern, den +Itzenplitz, den Marwitz, den Finkenstein, die hier ringsum seit +Generationen die Herren waren. Mein Begleiter zeigte nach rechts, wo der +Boden sich hob und Wälder den Horizont begrenzten. + +»Hier oben sind die Rittergüter, da sitzen lauter Agrarier, -- unsere +ärgsten Feinde,« erzählte er. »Die sind schlau gewesen, von Anfang an. +Haben sich die guten Stellen gesichert, wo das Wasser sie nicht +erreichen konnte; während die Bauern unten alljährlich drauf gefaßt sein +mußten, daß es ihre arme Kate davontrug. Sie kennen doch die Jeschichte, +die unsere Kinder in der Schule lernen müssen: 'Hier habe ich in Frieden +eine Provinz erobert,' soll König Friedrich gesagt haben, als er mal +hier in die Jegend kam. So'n Mumpitz! Als ob es nich arme Luders wie wir +gewesen wären, die die Kanäle gruben und die Dämme aufwarfen!« + +»Aber den Gedanken hat doch der König gehabt,« meinte ich. + +Ein mißtrauischer Blick streifte mich. »Für'n König mag das freilich +ooch schon 'ne Anstrengung gewesen sein!« spottete er. + +Eine breite Kastanienallee führte in das Dorf Gusow. Einstöckige +Häuser, mit weißen Vorhängen an blanken Fenstern, umgaben in weitem +Bogen den Dorfteich, seitwärts öffnete sich der kiesbestreute Weg zum +Schloß, dem einstigen Besitztum des alten Derfflinger, und zur Kirche, +unter deren Altar seine Gebeine ruhten. Mein Begleiter sah nach der Uhr. + +»Was meinen Sie, wenn wir zu Fuß durch den Park gingen? Sie glauben +nich, wie schön der ist!« Dabei bekam sein breites Gesicht einen fast +schwärmerischen Ausdruck. + +An dem stillen Schloß vorbei betraten wir den Park. Weite Rasenflächen +dehnten sich vor der Terrasse, mit einem lichten Schimmer jungen Grüns +überzogen. Zu Füßen uralter Eichen, die schwarz gegen den hellen Himmel +standen, guckten Schneeglöckchen neugierig aus der Erde hervor und +Krokusblüten schlugen verwundert ihre blauen Augen auf. Ein schmaler +Pfad wand sich zwischen hohem Gebüsch, das plötzlich zur Seite wich, um +dem Wunder fremdartig märchenhafter Bäume Platz zu machen; grau +schimmerten ihre Stämme wie Granit, und graue Wurzeln krochen knorrig +über das dunkle Moos des Bodens. + +»Zedern sind es,« sagte mein Begleiter, »Zedern vom Libanon;« und +blickte bewundernd auf den Traum des Südens. Über uns in den Kronen der +Bäume brauste der Frühlingssturm. Nach seiner Melodie wiegten sich +schlanke Birken, und krachend splitterten von Eichen und Linden die +dürren Äste. + +Mein Begleiter kannte jeden Platz im Park und jede Pflanze, -- mit +scheuer Zärtlichkeit strichen seine rissigen Hände über die ersten +kleinen Knöspchen an den Sträuchern. + +»Daß Sie in der Stadt arbeiten, wo Sie das Land so lieben!« staunte ich. + +Er schüttelte sich: »Landarbeeter?! Nee! Das is nischt for unsereens!« + +Wir näherten uns Platkow, dem nahen Ziel unserer Fahrt. + +»Sehen Se mal hier die wackeligen Buden an,« sagte Merten, »Strohdächer, +-- Fenster, wie Mauselöcher, Türen, daß sich ein ordentlicher Mann +bücken muß, -- wahrscheinlich, damit man's nich verlernt! Nischt als +Leisetreter gab's hier, die die Mütze bis auf die Erde zogen, wenn die +herrschaftliche Kutsche sie mit Dreck bespritzte! Aber nu wird's anders, +sage ich Ihnen, janz anders --« dabei strahlte er förmlich -- »sehen Sie +dort, das Weiße, das ist unser Gewerkschaftshaus!« + +Mitten in diesem agrarischen Winkel, der der Agitation der Partei so gut +wie unzugänglich gewesen war, weil kein Lokal ihren Versammlungen zur +Verfügung stand, hatten die Bauarbeiter sich ihr eigenes Haus errichtet. +Die Ortspolizei verweigerte ihnen zwar die Schankkonzession, aber sie +hatten ein Dach über dem Kopf, einen freien Raum zu freier Rede. + +»Sie hätten die Bauern sehen sollen, wie unser Haus eins -- zwei -- +drei, haste nich jesehn! aus der Sandkule herauswuchs!« erzählte Merten. +»Wir hatten ja nur Sonntags Zeit zur Arbeet, aber die Steene flogen man +so. An eenem Sonntag in aller Frühe, als sie nach Jusow zur Kirche +fuhren, fingen wir zu buddeln an, und als sie nach dem letzten Amen +wieder vorbeikamen, sahen die Mauern schon aus der Erde!« + +Der Wagen hielt. Der ganze Platz stand voll Menschen. Sie schoben sich +hinter mir in den kleinen Saal; auf den Bänken an den Wänden saßen schon +die Frauen mit heißen Gesichtern. + +Ich sprach vom Sturm, der draußen den Staub von den Dächern fegte und +alles Morsche zu Boden riß. Und von dem Sturm des Sozialismus. Ich +schilderte die politische Lage Deutschlands und zählte die Sünden der +Regierung und der Reichstagsmehrheit auf vom Zuchthauskurs bis zum +Zollraub, ich erzählte von den Milliarden, die dem armen Mann in Gestalt +von indirekten Steuern, Zöllen und Liebesgaben aus dem schmalen Beutel +gezogen werden, während sein Weib daheim im kleinen Haushalt seufzend +mit jedem Pfennig rechnen muß. An der Hand der Untersuchungen +bürgerlicher Gelehrter wies ich nach, wie die Verteuerung der +Lebensmittel auf die Steigerung des Alkoholismus, der Kriminalität, der +Lungentuberkulose wirkt. Ich zog die ärztlichen Forschungen heran, um zu +zeigen, wie ganze Volkskreise entarten, wenn die Ernährung eine +unzureichende ist: »Schwächerer Wille, schneller versagende +Aufmerksamkeit, raschere Erschöpfung sind die Folgen einer Politik, die +das Wohl des Volks, die Liebe zum Vaterland ständig im Munde führt, in +der Tat aber die Leistungsfähigkeit der Arbeiter untergräbt, und unsere +Stellung auf dem Weltmarkt erschüttert. Die wirtschaftliche Krise, unter +der wir alle leiden, die Zunahme der Arbeitslosigkeit mit ihrem Gefolge +von Kinderjammer und Frauenausbeutung sind ein Beweis dafür. Keine +'gepanzerte Faust' kann uns davor retten ... Einmal im Laufe von fünf +Jahren ist es jedem Deutschen vergönnt, Urteil zu sprechen über die, die +sein Schicksal sind. Des Volkes Not und Unterdrückung liegt auf der +einen Schale der Wage, des Volkes Glück und Freiheit auf der anderen. +Wir, die 'Vaterlandslosen', wir, die 'Elenden', wir, die 'Rotte von +Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen', machen unser Urteil +davon abhängig, welche Seite der Wage schwerer wiegt ...« + +Man hatte mir bewegungslos zugehört, die Frauen, mit den Händen gefaltet +im Schoß, die Männer, ohne den Blick von mir zu wenden. Nur hie und da +sah ich ein zustimmendes Nicken. Das Volk dieser kargen Erde trug sein +Herz nicht auf den Lippen und wußte nichts von der Reaktion +empfindlicher Nerven, worin oft der ganze Beifall des Städters besteht. +Aber nachher, als ich nicht mehr über ihnen stand, ging ein Fragen und +Erzählen an, das mehr als jedes Händeklatschen bewies, wie jedes Wort +vom durstenden Boden ihres Innern aufgenommen worden war. Freilich: im +engsten Kreise eigenen Lebens drehten sich ihre Interessen, aber ein +jeder umschloß das große Leid der Welt. + +Ich wurde in Arbeiterhäuser geführt: so klein, so arm, so eng. »Und hier +is doch so ville Sand, auf dem jut noch zehn Häuser stehen könnten!« + +Sie zeigten mir das Armenhaus: in einem winzigen Raum hauste ein uraltes +Paar mit vier kleinen Enkelkindern. Das einzige Bett nahm fast die +Hälfte der Stube ein. + +»Immer, von kleen auf, haben wir hier uf'n Jut jearbeetet,« sagte der +Mann, eine zusammengeschrumpfte Gestalt mit einem kleinen braunen +Gesicht wie eine Wurzelknolle, »nu essen wir's Jnadenbrot --,« dabei +kicherte er halb verlegen, halb höhnisch. »Det Schloß aber, det hat woll +an die fufzich leere Zimmer ...« + +Wir gingen durch das nachtdunkle Dorf zum Bahnhof. Einer, der jüngste +der Schar, begann mit heller Stimme zu singen. Allmählich fielen die +anderen ein. Die Türen der Häuser, an denen wir vorüberkamen, öffneten +sich. Einige der Bewohner traten neugierig bis zur Schwelle. Andere +lockte das Lied und die feuchtwarme Märznacht, -- sie folgten uns. Und +so ging es im Takt auf die Straße hinaus und immer, immer länger wurde +der Zug singender Menschen. + + »Wir hämmern jung das alte morsche Ding, den Staat, + Die wir von Gottes Zorne sind, -- das Proletariat -- das Proletariat --« + +klang es schmetternd hin über das schlafende Bruch. + +Allmählich, je mehr ich dem Land und seinen Bewohnern nähertrat, gewann +ich es lieb, und die weite Ebene enthüllte mir all ihre verborgene +Schönheit, und die Menschen ihr weiches, trotziges Herz. Sie fühlten +noch nicht die Distanz zwischen sich und mir, darum begegnete mir +nirgends Neid oder Mißtrauen. Fingen sie doch kaum an, das +Allerhandgreiflichste zu empfinden: wie etwa den Gegensatz ihrer Hütte +zum Herrschaftsschloß. Und gerade an diesem Punkt ihres Wesens sah ich, +wo ich eingreifen mußte. + +»Wer andere Zustände schaffen soll, muß doch erst den Druck der eigenen +empfinden lernen,« sagte ich zu Romberg, der mir meine agitatorische +Tätigkeit durchaus verleiden wollte. + +»Ich kann Sie mir nun einmal nicht vorstellen, in einer Dorfkneipe +Unzufriedenheit predigend,« antwortete er ärgerlich. + +»So überzeugen Sie sich durch eignen Augenschein, daß ich es kann,« +meinte ich. Auf meiner nächsten Fahrt kam er mit. Diesmal war es ein +Leiterwagen, der uns in strömendem Regen über aufgeweichte Landwege nach +einem kleinen Dörfchen fuhr, Lehmannshöfel mit Namen. + +»Wie wird's mit unserer Versammlung bei dem Wetter?« fragte ich den +alten Genossen, der uns an der Bahn empfangen hatte. + +»Jut, -- sehr jut,« entgegnete er. »Was unser oller Pfarrer is, der hat +vorichte Woche die Weiber ufjehetzt. Sie sollten man bloß nich in die +Versammlung jehn, hat er jesagt, so wat jinge sie jar nischt an, am +wenichsten, wenn 'ne Frau reden tut, die lieber zu Haus det Mittagbrot +kochen und mit die Kinder beten sollte. Nu können Se sich denken, daß se +justament in die Versammlung jehn. Proppenvoll war's schonst heut +morjen.« + +Radfahrer begegneten uns, von oben bis unten bespritzt, Fußgänger mit +aufgeweichten Sohlen, denen das Wasser von der Mütze tropfte. Wir luden +auf, so viel der Wagen fassen konnte. Seit dem Morgengrauen hatten sie +Flugblätter ausgetragen. Voll guten Humors erzählten sie ihre Abenteuer. +Auf manchem Hof hatten sie über Zäune klettern müssen, weil das Tor vor +ihnen verschlossen wurde; der eine war als reisender Handwerksbursche +bis in die Gesindestuben der Rittergüter vorgedrungen, der andere hatte +mit demütigem Gesicht, als wär's ein Traktätchen, den Kirchgängern die +Zettel in die Hand gedrückt; im Vorübersausen hatte der Radler sie +geschickt durch offene Türen und Fenster geworfen. + +In der Wirtsstube von Lehmannshöfel glühte der eiserne Ofen. Nasse +Mäntel und Stiefel trockneten daran. Tabaksqualm zog in schweren +Schwaden an der niedrigen Decke. Mein Platz war mit Kiefernzweigen +umwunden. Vor mir auf dem Tisch standen rechts und links zwei +Blumensträuße in flachen weißen Papiermanschetten. + +»Von den Tagelöhnerinnen aufs Jut --,« erklärte dunkel errötend ein +junges Mädchen, das als letzten Rest der alten Tracht die strohblonden +Flechten unter dem schwarzseidenen Kopftuch verborgen hatte. Wie in der +Kirche saßen die Leute vor mir: rechts die Männer, links die Frauen, -- +lauter Gesichter, in die kein anderer Gedanke als der an die nächste Not +des Daseins seine Zeichen gegraben hatte. Noch nie war eine Versammlung +hier gewesen. Ob ich den Ton finden würde, der zu ihnen drang? Ich +erzählte von ihrem eigenen Dasein, wie es in ewigem Gleichmaß +dahinfließt, nach der alten eintönigen Melodie: Leben, um zu arbeiten, +arbeiten, um wieder leben zu können. Wie Freude für sie nur ein kurzer +Rausch ist mit bösem Erwachen -- ein Alkoholrausch, ein Liebesrausch -- +und die Sorgen allein sie nie verlassen. Wie die Welt voll Glanz und +Schönheit ist; wie das größte und schönste, was die Menschheit in +Jahrhunderten gedacht und empfunden, in Tausenden von Büchern und +Statuen und Bildern aufbewahrt wurde für ihre Nachkommen. »Aber eine +Mauer baute man ringsum, und nur wer den goldenen Zauberstab besitzt, +dem öffnet sich die Pforte ...« + +Ein junger Mann, der ein bißchen stumpfsinnig vor mir gesessen hatte, +sah plötzlich auf -- mit ein paar Augen, in deren Tiefe die Sehnsucht +flammte. + +»Das Kind der armen Tagelöhnerin hat vielleicht die Seele eines +Dichters, -- mit vierzehn Jahren schon muß es Kartoffeln buddeln und +Rüben ziehen, und die Arbeit tritt mit ihren eisenbeschlagenen Füßen +seine Seele tot ...« + +An der Tür drüben sah ich ein altes Mütterchen, das den weißen Kopf +schluchzend in den knochigen Händen vergrub. + +»Für diese Welt ist Armut ein Verbrechen, das mit lebenslänglicher +Zwangsarbeit bestraft wird ... Tränen darüber sind genug vergossen +worden. Vor lauter Jammern haben wir das Handeln vergessen. Von der +Kanzel herab haben sie gepredigt, daß die Ergebung in das Geschick eine +Tugend ist. Ich sage Euch, sie ist ein Laster. Denn an all dem Elend in +der Welt sind wir schuld, -- wir mit unserer Demut, unserer +Unterwürfigkeit, unserer Trägheit ... Jeder Blick in das bleiche +Gesichtchen ihres Lieblings, jede jammernde Bitte um Nahrung sollte der +Frau nicht Tränen fruchtlosen Leids erpressen, sondern sie anspornen, +ihrem Kind die Zukunft erobern zu helfen ... Wo die Mutter unfrei und +furchtsam ist, wächst ein Geschlecht von Knechten mit knechtischer +Gesinnung empor, und der Wert einer Mutter wird in Zukunft nicht blos +daran gemessen werden, ob sie ihre Kinder gewaschen, gekleidet und +genährt hat, sondern ob sie sie zu Kämpfern erzog und ihnen mit dem +Vorbild tatkräftiger Begeisterung voranging.« + +An Beispielen des täglichen Lebens suchte ich ihnen klar zu machen, wie +jeder Einzelne, auch der Bescheidenste, an dem großen Befreiungsfeldzug +des Sozialismus teilnehmen kann, wie er nie zum Ziele führen würde ohne +die Arbeit des einzelnen. Mir war, als hörte ich die Atemzüge der +Menschen vor mir und ihre Seufzer. O, daß ich sie doch ins Herz +getroffen hätte! + +Feuchte Nebel hingen wie lange Trauerschleier über den Feldern. Wir +fuhren stumm zurück. Frostgeschüttelt lehnte ich mich in die Kissen, als +wir endlich den Zug nach Berlin bestiegen hatten. + +»Wie Sie das verantworten können!« brach Romberg los, der bis dahin kein +Wort gesprochen und den armen Leuten, zwischen denen er gesessen hatte, +sein Unbehagen so deutlich fühlen ließ, daß ich schon bedauerte, ihn +mitgenommen zu haben. Jetzt fuhr ich aus dem Halbschlaf auf. + +»Ich verstehe Sie nicht!« sagte ich. + +»Um so schlimmer!« rief er. »Sie nehmen diesen Menschen das einzige, was +sie besitzen, was ihnen das Leben erträglich machte: ihre Unwissenheit, +ihren Stumpfsinn, -- ohne ihnen irgend etwas dafür geben zu können.« + +»Wie, das Erwachen aus der Lethargie wäre nichts?!« entgegnete ich +heftig. »Sich durch die Teilnahme an dem Befreiungswerk der +Klassengenossen über sich selbst und sein kleines Schicksal +hinauszuheben, -- das wäre nichts?! Von Ihnen hörte ich zuerst das Wort +von der Politik der Starken. Das ist mein Leitmotiv. Ohne die +Disharmonien des aufwühlenden Schmerzes, ohne die Grausamkeit der +Erkenntnis gibt es nicht den starken Akkord ihrer Lösung.« + +»Und wie steht's mit denen, die daran zugrunde gehen?!« + +»Sie wären auch am Leben zugrunde gegangen!« + +Mit einem fremden Blick, der mir zu meinem eigenen Erstaunen wehe tat, +streifte er mich. + +»Ist Weichheit und Schwäche auch für Sie noch ein Attribut der +Weiblichkeit?« fragte ich, und das Herz klopfte mir, als fürchtete ich +die Antwort. + +»Ich weiß selbst nicht recht --,« meinte er zögernd. »Aber daran soll +unsere Freundschaft nicht Schiffbruch leiden.« + +»Haben Sie gar keine Zeit mehr für mich?« fing er nach einer Pause +wieder zu sprechen an, als der Zug sich Berlin schon näherte. Ich sah +auf. »Ich möchte, daß Sie wenigstens zwischendurch wieder ein +Kulturmensch werden!« + +Ohne rechte Lust, nur um ihn nicht wieder zu verletzen, versprach ich +ihm, mich am nächsten Tag seiner Führung zur »Kultur« anzuvertrauen. Am +Bahnhof empfing uns Heinrich, der eine Stunde früher aus einer anderen +Gegend seines Wahlkreises zurückgekehrt war. Wir waren beide so erfüllt +von unseren Erlebnissen, daß wir im Eifer des Erzählens Romberg fast +vergaßen. Er verabschiedete sich steif und verstimmt. + +»Bildung und Politik sind für mich schwer vereinbare Begriffe --,« sagte +er am nächsten Morgen, als wir zusammen in die Stadt gingen. + +»Sie scheinen einem Wechsel der Stimmungen unterworfen, der bisher nur +einer Frau gestattet war,« entgegnete ich ärgerlich. »Es ist noch nicht +lange her, daß Sie mit einer Begeisterung, die ich nicht vergessen +habe, die Sozialdemokratie als die bedeutsamste Erscheinung der Zeit +feierten.« + +Er lächelte. »Frauenlogik! Es tut mir ordentlich wohl, diesen weiblichen +Zug bei Ihnen zu finden! Was hat mein Urteil über den Klassenkampf des +Proletariats mit meiner Meinung über die Beteiligung des Gebildeten an +der Politik zu tun?! Wir sollten um höhere Werte ringen --« + +»Gibt es höhere, als die Befreiung der Menschheit von all den Fesseln, +die sie an die Erde schmieden und ihren Höhenflug hemmen?!« unterbrach +ich ihn erregt. + +»Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, -- die alte Parole, unter der +schon die Bastille gestürmt wurde,« entgegnete er mit spöttischem +Lächeln; »fügen Sie noch das Ideal des Christentums, -- die +selbstentsagende Nächstenliebe hinzu, so beweist das alles, wie +unsäglich arm eine Zeit sein muß, die selbst einer so gewaltigen +Bewegung wie der des Proletariats keine neuen Ideale hat schaffen +können.« + +Seine Worte begegneten einem noch unklaren Empfinden, das ich um so +energischer zu unterdrücken gesucht hatte, als mir die Wege dunkel +erschienen waren, zu denen es hätte führen können. + +Wir traten in den modernsten Kunstsalon Berlins. Der Holzbogen der +Eingangshalle, der in seinen geschwungenen Linien alle Sprödigkeit des +Materials siegreich überwunden hatte, empfing mit weit ausgebreiteten +Armen die Besucher. In hellen Vitrinen, durch unsichtbare Lichtspender +von innen strahlend, lagen auf grauem Samt Gürtel, Schnallen, Armreifen +und Diademe; Vogelgefieder und Schmetterlingsflügel aus durchsichtigem +Email vereinten sich mit dunklem Gold, mattem Silber; Perlen in +phantastischen Formen standen neben Edelsteinen von unerhörter +Farbenpracht -- + +»Ein Schmuck für Märchenprinzessinnen, von einem Dichter geschaffen,« +sagte Romberg bewundernd und versenkte sich in den Anblick. Er mochte +weißer Arme gedenken und schimmernder Nacken und holder Frauenköpfe mit +lachenden Lippen und duftenden Locken. In meinen Augen aber hafteten +andere Bilder: rissige Hände, gebeugte Rücken, sorgendurchfurchte +Gesichter --, ich wandte mich ab, im Innersten verletzt. + +Der nächste Raum war voll sanften Lichtes und tiefer, weicher Sessel. + +»Wie wohltuend, wie ruhig!« meinte jemand. »Eine schöne alte Frau mit +sehr weißen stillen Händen müßte ihren Lebensabend hier verträumen.« +Aber die Armenstube von Platkow sah ich vor mir. + +Vor ein großes Bild traten wir dann: auf weichem, blumendurchwirktem +Rasenteppich, der sich im stillen Wald verlor und zärtlich eine Quelle +umgab, die diesen Frieden mit keinem Plätscherlaut stören mochte, kniete +ein Jüngling, den dunkeln Dantekopf andachtsvoll zu der Jungfrau +erhoben. Aus der Säulenhalle des Tempels tretend, krönte sie ihn; lange, +schmale, durchsichtig bleiche Finger hielten den Kranz. Mädchen, so +schlank und hoheitsvoll wie sie, standen zur Seite. Und das alles +leuchtete in mystischem Blau, in trunkenem Purpur, in sattem Grün, -- +weitab allen grauen Tönen der Wirklichkeit. Fast nahm die fremde +Wunderwelt mich schon gefangen. Da tauchte der sturmdurchpeitschte Park +vor mir auf und der rauhe Mann, der mit harten Arbeitshänden zärtlich +die kleinen Knospen streichelte. Ich war sehr einsilbig. + +Wir beschlossen den Tag im Theater, wo Maeterlincks Pelleas und +Melisande unter der Direktion eines jungen Revolutionärs der Bühne zur +Aufführung kam. Böcklins Landschaften schienen lebendig geworden: + +Der Zauberwald und die Felsen, die finsteren Schloßtürme und der weiße +Marmorbrunnen verschmolzen mit den schwebenden Gestalten, dem +Sonnenglanz und dem Mondlicht zum reinen Rhythmus bewegter Kunst. + +Die lärmende Straße draußen zerstörte den Traum. Mit schmerzhafter +Klarheit empfand ich die gähnende Kluft zwischen all der ästhetischen +Kultur, die um uns her zu blühen begann, und dem Leben, dem Denken und +Wünschen der Millionen, die erst anfingen, um die Befriedigung +ursprünglichster Triebe zu kämpfen. Rombergs Gedanken begegneten den +meinen. + +»Fühlen Sie nicht selbst, wie weltenfern Sie denen stehen, deren ganzes +Bedürfen in etwas mehr Zeit, etwas mehr Brot gipfelt?« sagte er. »Sie +müssen Ihre Sinne, Ihre Nerven, an deren subtiler Verfeinerung +Generationen arbeiteten, gewaltsam abstumpfen, um ihr Sprachrohr werden +zu können.« + +Meine ganze Freudigkeit kehrte mir wieder. + +»Wie eng Sie denken!« lachte ich. »Nicht abstumpfen, steigern muß ich +meine Empfänglichkeit, damit ich immer weiß, wie groß das Entbehren ist +und wie ungeheuer der Gewinn unseres Kampfes.« + +»Machen Sie sich denn gar nicht klar, daß, wenn die Masse erreichen +sollte, was Sie heute haben, Sie und Ihresgleichen ihr wieder um +tausend Jahre voran sind?!« sagte Romberg. »So wird die Kluft bleiben, +-- immer bleiben, und die Gleichheit ist eine Chimäre.« + +»Ich fordere auch nur die Gleichheit der Lebensbedingungen; wie der Baum +aus diesem Boden wächst, darüber entscheidet seine eigene Kraft,« +antwortete ich. + +Wir brachen ein Gespräch ab, das uns nur voneinander entfernen mußte. +Aber einen Gedanken hatte es wachgerufen, der sich von nun an nicht mehr +einschläfern ließ. Wenn er mich quälte und ich ihn abschütteln wollte, +so bohrte er sich nur noch tiefer in Hirn und Herz. Hörbarer, als da die +Völker wanderten, um sich neuen Heimatboden zu erobern, dröhnte die Erde +unter den Tritten der Millionen, die sich in Bewegung gesetzt hatten, um +dem Elend zu entfliehen. Aber ihrem Wollen fehlte die einheitliche +Formel. Im Dreigestirn der Revolutionsideale lag sie nicht. Und was Marx +ihnen gegeben hatte, das waren wissenschaftliche Erklärungen über die +Art, das Tempo und das Ziel der Bewegung gewesen, die nur so lange über +den Mangel hinwegtäuschen konnten, als sie unerschüttert waren. + +Ein Ereignis bestärkte mich in meiner Idee. Mitten im Wahlkampf, der all +unsere Kräfte auf ein Ziel, -- die Niederwerfung des Gegners, -- hätte +konzentrieren müssen, entspann sich ein wüster Krieg zwischen den +Parteigenossen selbst. Er wäre unmöglich gewesen, wenn nicht jenes +Fehlen der inneren Einheit gegenseitiges Mißtrauen zur Folge haben +mußte. Was der eine ruhigen Gewissens tat oder ließ, das erschien dem +anderen als ein Verstoß gegen die Partei. + +Ein halbes Dutzend Parteigenossen, -- ich gehörte zu ihnen, -- hatten +seit Jahr und Tag an einer bürgerlichen Wochenschrift mitgearbeitet, die +eine Tribüne war, auf der alle Richtungen ungehindert zu Worte kamen. +Die literarischen und künstlerischen Kritiken, die ich darin +veröffentlicht hatte, -- Augenblicksarbeiten, denen ich gar kein +längeres als ein Augenblicksinteresse beimaß, -- hatten oft weniger dem +Bedürfnis nach Aussprache, als dem Erwerbszwang ihr Entstehen zu +verdanken. Die Parteipresse stand mir nur selten zur Verfügung, und um +so seltener, je mehr ich des Revisionismus verdächtig war. In ähnlicher +Lage wie ich waren die meisten derer, die mit mir 'gesündigt' hatten. +Zwei von ihnen standen als Reichstagskandidaten im heftigsten Feuer der +Wahlkampagne. Aber das hinderte einige radikale Wortführer nicht, uns in +breitester Öffentlichkeit als Schleppenträger der gegnerischen Presse zu +verdächtigen. + +Kaum hatte ich den betreffenden Artikel gelesen, als ich schon am +Schreibtisch saß, um uns dagegen zu verteidigen. Die Ansicht, daß wir +jede Tribüne benützen müssen, von der aus wir gehört werden können, +hatte sich in mir seit der Zeit, wo ich sie, von Wanda Orbin beeinflußt, +angesichts des Frauenkongresses verleugnet hatte, nur befestigt. Unsere +Presse, unsere Versammlungsreden erreichten immer nur dieselben Kreise, +und abseits standen Hunderttausende, die uns nur aus den Darstellungen +der Gegner kennen lernten. Ich legte meine Erklärung den Mitbetroffenen +vor. Sie sollte in derselben Zeitung erscheinen, die uns angegriffen +hatte. Ich wurde daran verhindert; man wünschte die Ausdehnung des +Zwists zu vermeiden, indem man die öffentliche Antwort, wie ich sie +beabsichtigt hatte, in eine Zuschrift an den Parteivorstand verwandelte. +Dieser aber sah sich nicht mehr imstande, auf eine interne +Auseinandersetzung einzugehen, -- die ganze Presse hatte sich schon der +Sache bemächtigt, unsere politischen Gegner schlachteten sie gegen uns +aus --, er veröffentlichte seine Entscheidung: kein Parteigenosse darf +an einer Zeitschrift mitarbeiten, die die Sozialdemokratie in hämischer +oder gehässiger Weise kritisiert. Die ganze Provinzpresse druckte +natürlich die lapidaren Sätze des Vorstands ab. Wir waren gebrandmarkt +vor den Genossen, in deren Mitte wir wirken sollten; den Gegnern waren +die Waffen in die Hand geliefert, um uns vor ihnen zu diskreditieren. +Darüber verging uns das Lachen, das im Grunde die richtigste Antwort +gewesen wäre. Wir sahen in der Entscheidung, die es jedem Parteiführer +an die Hand gab, mißliebige Blätter auf den Index zu setzen, einen +weiteren Schritt zum Papismus, wir empörten uns, daß gerade diejenigen, +die in der Partei in Amt und Brot waren, den freien Schriftstellern, die +dem Verdienst nachgehen mußten, die Zugehörigkeit zur Partei unmöglich +zu machen suchten, und eine ihrer Grundlagen schien uns in dem Angriff +auf die Freiheit der Meinungsäußerung verletzt. Wir Überläufer aus der +Bourgeoisie, die im Kampf gegen alle Autoritäten, -- die der Familie, +der Bildung, der Religion, des Staats --, den Weg zur Sozialdemokratie +gefunden hatten, wären die letzten gewesen, eine neue Autorität, -- die +des Parteivorstands, -- anzuerkennen. Und mein Mann, der seine +Frondeurnatur am wenigsten verleugnen konnte, wurde unser Wortführer +gegen ihn: in einem geharnischten Artikel verteidigte er die Freiheit +der Meinungsäußerung. Nun erst entbrannte der Kampf, der seit dem +Münchener Parteitag schon im stillen die Geister erhitzt hatte, auf der +ganzen Linie, -- mit all jener Bitterkeit, die entsteht, wenn Freunde zu +Feinden werden. + +Im stillen fürchteten wir, was unsere politischen Gegner hofften: daß +die Wahlen dadurch zu unserem Nachteil beeinflußt werden könnten. + + * * * * * + +Am ersten Mai, dem Weltfeiertag der Arbeit, sollte ich in Frankfurt +a. O. die Festrede halten. Mir war im Augenblick wenig festlich zumute: +mit so viel Hoffnungsfreudigkeit hatte ich die Agitation begonnen, -- +sollte sie vergebens gewesen sein?! Sollte ich am Ende an ihrer +Erfolglosigkeit mitschuldig sein, weil ich -- es klang wie der dumme +Witz eines Possenreißers -- in einer bürgerliche Zeitschrift über Halbes +Theaterstücke und Laura Marholms Frauenbücher geschrieben hatte?! Aber +schon als der Zug die letzte berliner Bahnhofshalle verließ und statt +der hohen grauen Häuser sich draußen Laube an Laube reihte, von dem +ersten jungen Grün überhaucht, mit bunten Fähnchen lustig bewimpelt, und +Menschen in Festtagskleidern auf der Chaussee zwischen den jungen +Birken, die grüßend die grünen Schleier ihrer Äste bewegten, den +Versammlungen entgegeneilten, in denen ihres Frühlingsglaubens +Auferstehungsbotschaft gepredigt werden sollte, verschwanden all meine +törichten kleinlichen Ängste. Was hatten die dogmatischen Zänkereien +der Priester mit der Religion der Massen zu tun? + +Zwei kleine Mädchen empfingen mich am Bahnhof, mit blauen Bändern in den +Zöpfchen und frisch gewaschenen weißen Kleidern, die sich um sie +bauschten, so daß sie aussahen wie Riesenglockenblumen. Sie führten mich +hinunter in die Stadt über den Platz mit seinen geharkten Wegen, seinen +artigen Rasenfleckchen und den kleinen dürftigen Beeten darauf, an +Häusern vorüber mit nüchternen Fassaden und ablehnend verhangenen +Fensterscheiben. Die Glocke der Elektrischen wirkte hier wie +erschreckender Lärm. Als wir aber um die Ecke bogen, wo die Kastanien +über das holprige Pflaster schon breite Schatten warfen, da schien das +Leben der träumenden Stadt erwacht: in Trupps zu vieren und fünfen, mit +weißen und braunen und gelben Kinderwägelchen dazwischen, die Männer im +Sonntagsrock, die Frauen mit nickenden Blumen auf hellen Hüten, so zogen +sie durch die Straße. Und an jeder Gassenmündung gesellten sich andere +hinzu, und wo die Gärten größer und die Häuser kleiner wurden, kamen +Landleute mit Stulpenstiefeln, Mädchen mit Kopftüchern über die +Feldwege. Alles grüßte einander mit dem Blick frohen Erkennens. Weit +hinunter bis zu dem silbernen Band der Oder dehnten sich, von alten +Weiden umrahmt, üppige Wiesen; in goldgelben Flecken, wie auf die Erde +gebanntes Sonnenlicht, glänzten Butterblumen daraus hervor. Von der +anderen Seite des Wegs, wo der Boden sich hob, nickten über +Weißdornhecken rosig blühende Bäume; darüber klang der langgezogene +Sehnsuchtston der Stare, das Kwiwitt der Rotkehlchen, das vielstimmige +Zwitschern buntgefiederter Meisen. + +Nun hatten sich die Wandernden zu einem Zuge zusammengeschoben, und eins +war ich mit ihnen. Aus dem Garten, durch dessen laubumwundene Pforte wir +zogen, tönte Musik. Auf der Bühne der Festhalle, die wir betraten, +warteten schon die Sänger. Ich stieg die Stufen hinauf. »... Ein Sohn +des Volkes will ich sein und bleiben...« sang der Chor. Durch die hohen +weit geöffneten Fenster strömte die Sonne in breiten Wogen; ihre +Strahlen trugen den Duft des Frühlings mit herein und berührten all die +braunen und blonden Scheitel der andächtig lauschenden Menge. + +Dicht unter der Bühne hatten sich die Kinder zusammengeschart, die +kleinsten in ihren bunten Kleidchen, wie ein Beet farbenfroher +Sommerblumen, am weitesten nach vorn. Ein kecker kleiner Kerl war bis +auf die Rampe geklettert, ein strohblondes Mädchen schmiegte sich +schüchtern an sein Knie, und die beiden Augenpaare -- ein schwarzes und +ein blaues -- hingen an mir wie eine große verwunderte Frage. + +Sehr feierlich war mir zumute, als stünde ich, ein geweihter Priester, +zum erstenmal auf der Kanzel. Aber es war nicht die Religion der Liebe, +die ich predigte, -- jener Liebe, die den Haß der Welt in sich trägt, es +war nicht die ewige Seligkeit, die ich verkündigte, -- jene Seligkeit, +in die nur Eingang findet, wer zu kriechen und den Kopf zu bücken +gelernt hat. Was als unklare Empfindung in den Herzen unserer Väter +lebte, die die Sonne anbeteten, deren Feste Sonnwendfeiern waren, die +dem steigenden Licht im Lenz die Neugeborenen weihten, -- das ist die +Grundlage unserer Religion. Nicht wer am nachhaltigsten seine Sinne +abtötet, sondern wessen Augen am klarsten sind, wessen Ohr am +feinhörigsten ist, um alle Schönheit der Welt in sich aufzunehmen, der +ist der Heiligste unter uns. Und ein Anrecht auf unser Himmelreich +gewinnt nicht, wer leidet und duldet, sondern wer handelt und genießt. +Dulden und leiden kann jeder, aber nur der Sohn einer reifen Kultur +vermag zu genießen, nur der Wissende handelt. + +»Wenn sich die Arbeiter der ganzen Welt Jahr um Jahr in der Forderung +des Achtstundentages zu diesem Frühlingsfest vereinigen, so tun sie es, +weil sie wissen, daß sie damit ihre Menschwerdung fordern. Zeit ist die +Voraussetzung für Wissen und Genuß ...« + +Halb enttäuscht, halb erwartungsvoll sahen die Frageaugen der Kinder +noch immer zu mir empor. Mit demselben Ausdruck bettelte mein eigen Kind +um eine Geschichte, wenn wir im Walde gingen, wo die Bäume und die +Blumen ihm noch stumm waren. Auch diese Kleinen hier sollten nicht +vergebens warten: von den Bettelkindern erzählt' ich ihnen, die +auszogen, ihre verlorenen Königskronen wiederzufinden ... + +Draußen im Garten kamen sie dann alle und dankten mir. Die Kinder hatten +die Fäustchen voll Wiesenblumen und legten sie mir in den Schoß. Die +Alten luden mich an ihren Tisch. Sie wußten nicht, daß ich ihnen zu +danken hatte. Ich war wieder stark und froh, ich hatte in ihnen die Erde +berührt, die kraftspendende. + + * * * * * + +Der Tag der Entscheidung rückte näher. Immer leidenschaftlicher wurden +die Angriffe unserer Gegner in ihrer Presse, in ihren Flugblättern. Mit +dem alten Märchen vom gewaltsamen Teilen suchten sie den Bauern, der an +seiner Scholle hängt, den kleinen Handwerker, der sich an den kläglichen +Rest seiner Selbständigkeit klammert, in ihre Gefolgschaft zu fesseln. +Mit der Autorität des Kaisers stützten sie ihre Angriffe auf die +sozialistischen Agitatoren. + +»Zerreißt das Tischtuch zwischen Euch und jenen Leuten,« -- dieses +kaiserliche Wort machten sie zu ihrem Schlachtruf. Weite Kreise des +Volkes, denen der Thron noch so heilig war wie der Altar, scharte er +unter ihre Fahnen, aber größere noch, empört über die Stellungnahme des +Staatsoberhaupts im Kampf der Parteien, trieb er zu uns herüber. Hochauf +loderte der Zorn in unseren Reihen. Was sich in Jahren angesammelt hatte +an bitterer Enttäuschung und stillem Groll, das brach flammend hervor. +Zu Regimentern, die wider den Gegner aufmarschierten, wurden die +vielstelligen Zahlen, die Milliarden, die Armee und Flotte, China und +Afrika verschlungen hatten; als Raubritter und Ausbeuter wurde +gestempelt, wer je dazu ja gesagt hatte. Malten sie drüben mit blutigen +Farben das Bild der Revolution und rissen dadurch den Gleichgültigen aus +dem verschlafenen Winkel seines Daseins, so beschworen sie hüben alle +Gespenster der Not und des Hungers herauf und schreckten mit ihnen die +Stumpfen aus ihrem Arbeitsleben. Der ehrliche Kampf mit offenem Visier +auf freiem Felde wurde zum Guerillakrieg mit heimtückischen Listen und +nächtlichen Überfällen. Und durch die feindlichen Lager hin und her auf +leisen Sohlen schlich die Verleumdung; wen das Schwert nicht +niederstreckte, den vergiftete sie. + +Ich hatte dem Gegner gegenüber gerecht bleiben, mich als einzelne +behaupten wollen, gegenüber der Suggestion der Masse. Aber je länger ich +im Kampfe stand, desto schwerer wurde es, ihrer Gewalt zu widerstehen. +War ich nicht auch nur ein Soldat im Heere, dessen Füße von selbst im +Takt der anderen marschieren, der die gleichen Waffen trägt, und, vom +Rausch des Krieges überwältigt, einen persönlichen Feind in jedem Glied +des gegnerischen Heerbannes sieht? + + * * * * * + +Der Gegenkandidat meines Mannes war ein alter Reaktionär, den der Bund +der Landwirte auf seinen Schild erhoben hatte. Der Zolltarif galt ihm +als ein »gigantisches Werk«; die Arbeitslosenversicherung, die in diesem +Jahre wirtschaftlicher Depression für uns eine immer dringendere +Forderung geworden war, erklärte er für »unmoralisch«; dem gesetzlichen +Arbeiterschutz, dessen Ausbau auf dem Wege zu unseren Zielen lag, müsse, +so sagte er, ein »Stopp« entgegengerufen werden, und wider den +Großkapitalismus, dessen Entwicklung eine Voraussetzung des Sozialismus +war, galt es, den Mittelstand mobil zu machen. Als der typische +Konservative war er der willkommenste Gegner, weil sich hier, klar +voneinander geschieden, zwei Weltanschauungen gegenüberstanden. Zwischen +ihnen schwankten, als das Zünglein an der Wage, die Liberalen des +Kreises hin und her. Sie wollten nicht glauben, daß wir ein gut Stück +Weges zusammengehen konnten und es einer Verleugnung aller liberalen +Grundsätze gleichkam, wenn sie den Konservativen Gefolgschaft leisten +wollten. + +Meinen Mann sah ich immer seltener. Trafen wir uns zu Hause, so +schrieben wir zusammen Flugblätter und Artikel, wobei er mit der ruhigen +Sachlichkeit seiner Beweisführung die Gegner zu entwaffnen und ich mit +dem Feuer, das mich durchglühte, Anhänger zu werben versuchte. Hie und +da trafen wir uns in Versammlungen, dann hörte ich, daß er sprach, wie +er schrieb: er wandte sich an den Verstand, er suchte zu überzeugen, wo +ich an das Gefühl appellierte. Er hatte die Sprache des Dozenten, nicht +die des Agitators. Wen er dem Sozialismus gewann, der wurde zum +Bekenner. Was ich entzündete, mochte nur zu oft nichts als ein Feuerwerk +sein. + +In den letzten Tagen fuhren wir von Ort zu Ort. Schon blühten +Pfingstrosen in den Gärten, und von Flieder und Hollunder dufteten die +Lauben. Über den staubigen Chausseen brütete die Sommersonne. Die +Menschen in den engen Sälen atmeten rasch und schwer wie im Fieber. In +den Dörfern gab's Schlägereien. War einer als Genosse bekannt, so spieen +die Bauern vor ihm aus, und seinem Weibe gingen die Nachbarinnen aus dem +Wege. Die Kinder aber in der Schule ließ der Lehrer mit besonderer +Vorliebe patriotische Lieder singen. Säle, die uns zur Verfügung +gestanden hatten, wurden uns genommen; breitspurig, ein Herr der +Situation, stand der Gendarm vor der Türe, wenn wir den Eingang +erzwingen wollten. Kamen wir auf freiem Felde zusammen, der Sonne und +dem Regen trotzend, so löste er die Versammlung auf, hatten wir irgendwo +einen Raum für sie gefunden, so erklärte er ihn für feuergefährlich, kam +ich als Rednerin in irgend ein abgelegenes Nest, so hieß es: +»Frauenspersonen dürfen nicht sprechen.« Aber die Genossen waren immer +wieder erfinderischer als er. So fuhren wir einmal in ein kleines Dorf, +das weltverlassen zwischen zwei blauen Seen in der Niederung liegt. Nur +arme Schiffer wohnten hier und kleine Bauern, die elender lebten als der +Fabrikarbeiter in der Stadt. Einer von ihnen hatte seine ganze arme Kate +ausgeräumt, um die Versammlung zu ermöglichen. Das Hausgerät stand auf +dem Hof, die Sonne enthüllte unbarmherzig all seine Armseligkeit. Die +leeren Stuben faßten trotzdem die Menge nicht, das Gärtchen stand noch +voll von ihnen. Selbst auf den Gemüsebeeten trampelten schwere Stiefel, +aber als ich ein Wort des Bedauerns äußerte, sagte des Schiffers Frau +mit glänzenden Augen: »Wenn's auch mit Erbsen nischt is dies Jahr, +wenn's man mit die Stimmen für den Sozi wat sein wird!« + + * * * * * + +Am Vorabend der Entscheidung kamen wir in Frankfurt an. Im Hauptquartier +der Partei herrschte fieberhaftes Leben: hier meldeten sich Radfahrer, +um zum morgigen Dienst ihre Marschorder in Empfang zu nehmen, blutjunge +Leute unter ihnen, die sich mit um so größerem Enthusiasmus in den +Dienst der Sache gestellt hatten, als sie selbst noch nicht wählen +durften; dort stellten sich Frauen zur Verfügung, um die Säumigen an +die Urnen zu holen, und in später Nachtstunde kamen andere hungrig, heiß +und verstaubt von der letzten Verteilung der Wahlflugblätter zurück. Als +die Stadt schlief, huschten die Unermüdlichen noch durch die Straßen, +und am Morgen leuchtete in weißen und roten Lettern ein »Wählt Brandt!« +an den Zäunen und auf dem Trottoir. + +Wir gingen durch die Wahllokale. Vormittags stellten sich allmählich die +Bürger ein, ruhigen Schrittes, ohne sonderliche Erregung; mit dem +Zwölfuhrglockenschlag wurde es auf den Straßen lebendig, und durch die +Türen schoben sich die Arbeiter, beschmutzt, verstaubt, wie die Fabrik +und der Bau sie entlassen hatte. Die Bezirksleiter notierten jeden, der +sich meldete, strichen an, wer noch fehlte, gaben Weisung an die ihrer +Aufgabe wartenden Frauen. Und die suchten dann die Säumigen in den +Wohnungen, auf den Arbeitsstätten. Nachmittags lag wieder sommerliche +Stille über der Stadt. Dann aber, als der Himmel sich schon mit rosigen +Wolken überzog, hallte das Pflaster wider von raschen Tritten. Sie kamen +in Scharen: die jungen, rüstigen voran, und zuletzt, von Frauen, von +Kindern geführt, Alte, Kranke und Krüppel. Der Zettel in ihrer Hand, das +war ihr einziges, freies Mannesrecht, damit waren sie an diesem einen +Tage die Gestalter ihres Geschicks. + +Es dämmerte. In den Wahllokalen saßen unter spärlichen Gasflammen, vor +rauchenden Petroleumlampen die Zähler. Wenn wir eintraten, bedurfte es +keiner erklärenden Worte, die leersten Gesichter waren sprechend +geworden: Furcht und Hoffnung, Zorn und Siegeszuversicht drückte sich +in ihnen aus. + +Schon brannten die Laternen in den Straßen. Im Hause, wo die Partei ihr +Bureau aufgeschlagen hatte, waren alle Fenster erleuchtet. Im Saal oben +war es noch leer; nur der Vorstand des Wahlvereins harrte vor dem Tisch +mit dem großen Tintenfaß und den unbeschriebenen weißen Blättern der +kommenden Dinge. Sie grüßten uns kopfnickend, sie waren blaß und +schweigsam vor Erregung. Über Webers Stirn standen helle Schweißtropfen, +seine blanken Augen waren verschleiert. Wir setzten uns. Nach und nach +füllte sich der Raum. Lauter Schweigende. Die Minuten schlichen wie +ebenso viele Stunden. Endlich der erste Radler! Gleich darauf der +zweite, der dritte, der vierte -- die Wahlbezirke der Stadt. + +»Schlecht steht's!« knirschte der eine und warf den Zettel auf den +Tisch. + +»Der Westen Frankfurts --,« sagte Weber, »immerhin: zum erstenmal +Stimmen für den Sozi! -- Das Zentrum, -- na, besser hätt's sein dürfen! +-- Und die Vorstadt, pfui Teufel, das sind die Eisenbahner, die auf +Kommando wählten! -- Aber hier --,« sein Gesicht strahlte -- »das reißt +die ganze Stadt heraus!« + +»Hurra!« rief einer und schwenkte die alte Soldatenmütze zum offenen +Fenster hinaus. + +»Bravo!« antwortete es vielstimmig von unten. + +Wieder verrannen Viertelstunden. Schon waren alle Plätze an den langen +Tischen besetzt. + +»Warum dauert das nur so lang --,« seufzte ich. + +»Die Radler aus dem Oderbruch können noch nicht hier sein --,« sagte +Weber, der wieder und wieder nach der Uhr sah. + +»Telegramme!« schrie jemand. Der Postbote drängte sich durch die Reihen. + +Mit bebenden Fingern riß Weber sie auf: »Berlin erobert! -- Ganz Sachsen +unser --!« + +Ein Jubelruf, der sich wieder bis auf die Straße weiterpflanzte, aber +rasch verklang. Das Schweigen war eine einzige Frage. »Und wir?!« -- +Jetzt aber tönte von unten ein donnerndes »Hoch!« Wir stürzten zum +Fenster: über das Pflaster sprangen Lichter in langer Kette, Räder +blitzten auf --, die Treppen stürmte es empor: atemlos, blaurot, mit +zitternden Knien standen sie vor uns, die Männer aus dem Oderbruch. Sie +waren keines Wortes mächtig, aber die Tränen, die hellen Freudentränen +tropften ihnen über die Wangen. Mit einer fast feierlichen Gebärde +breitete Weber die Botschaften vor uns aus. Hunderte von Stimmen hatten +wir gewonnen. Dicht unter den Augen der Gegner, auf Gutshöfen, in +Dörfern hatten die Landleute für uns gestimmt. Stumm streckte ich dem +Maurer Merten die Hand entgegen. Er hielt sie lange zwischen seinen +harten Fingern. + +Jetzt standen die Menschen schon Kopf an Kopf. Noch fehlten die +entferntesten Bezirke, -- Buckow, Fürstenwalde. »Entschieden ist noch +nichts,« murmelte Weber angstvoll. + +Wieder ein Lärm auf der Straße. »Die Oderzeitung bringt ein Extrablatt!« +schrieen sie zu uns empor. In weitem Bogen flog es von der Tür über die +Köpfe hinweg auf unseren Tisch: »Depeschen aus Süddeutschland -- +München, Nürnberg, Bayreuth, Stuttgart, Darmstadt -- alles unser!« + +Und nun löste ein Depeschenbote den anderen ab; jede Siegesnachricht +steigerte die elektrische Spannung, selbst die Nachtluft draußen schien +erfüllt von ihr. + +Zu elf dumpfen Schlägen holte die Uhr auf der Marienkirche aus. + +»Im Haus der Oderzeitung löschen sie die Lampen,« -- rief ein junger +Bursche, und brach sich mit Ellbogenstößen freie Bahn in den Saal. Die +Gesichter ringsum erhellten sich. + +Eine Gärtnersfrau, der ausdauerndsten eine im Heranholen säumiger +Wähler, nahm aus ihrem bis dahin sorgfältig gehüteten Korb einen großen +Strauß roter Nelken und stellte ihn vor uns auf den Tisch. -- »Ist's +nicht zu früh?!« -- Ein Brausen lag in der Luft, -- war's nicht das +pochende Blut in meinen Schläfen? Oder waren's die vielen Stimmen vor +dem Haus? + +»Die ganze Straße steht schwarz voll Menschen,« flüsterte ein baumlanger +Arbeiter neben mir in scheuer Angst. Es war heiß, -- glühend heiß im +Saal, und doch schien mir, als müßten alle frieren wie ich. + +Da -- »Fürstenwalde!« und wie ein Echo: »Buckow!« Weber war weiß im +Gesicht, -- sekundenlang bohrten sich seine Augen in das Papier. Wir +hielten den Atem an, -- dann stieß er mit rauher Stimme ein einziges +Wort hervor: »Gesiegt!« + +Einen Augenblick war es noch still. Einem alten Mann, den ich nicht +kannte, und der bis zu mir vorgedrängt worden war, drückte ich +krampfhaft die Hand. Dann brach es los wie Gewittersturm. Das schrie, +das jauchzte, das schluchzte --, alte Männer fielen einander um den +Hals, Frauen verbargen die Gesichter an den Schultern der Nächsten. Und +draußen zerriß ein einziger Jubelruf die Stille der Nacht. Sie riefen +nach ihrem Gewählten. + +Auf die Fensterbrüstung trat er. »Nicht mir dieses Hoch, +Parteigenossen --,« und seine tiefe Stimme klang voll und warm und die +Luft selbst schien sie weiter und weiter zu tragen, »-- Euch vielmehr, +die ihr den Sieg erkämpftet, und unserer großen Sache vor allem, die die +Siegesgewißheit in sich trägt! Ein Hoch der Sozialdemokratie, ein +dreifaches Hoch!« Und wieder brauste es, als schlügen orkangepeitschte +Wellen an Felsenriffe. + +Inzwischen war Weber still beiseite gegangen. Nun kam er zurück. Er trug +die alte Fahne, von grauen Tüchern umwunden. Dicht vor dem Fenster nahm +er langsam die Hülle ab, hob die schwere Stange hinaus, und das rote +Tuch rollte auseinander und wehte, aufglühend, wo das Licht es traf, wie +entfachte Flammen über die stumme Menge. + +»Genossin Brandt! -- -- Alix Brandt!« -- Riefen sie mich?! -- Man schob +mich zum Fenster, -- man hob mich empor, -- ich sah keine Menschen, ich +sah nur ein wogendes Meer, -- ohne Anfang, ohne Ende. Und ich streckte +die Arme weit aus -- + + + + +Vierzehntes Kapitel + + +Alle Vorbereitungen für das Erscheinen der Gesellschaft waren getroffen. +Es sollte eine Zeitschrift großen Stiles werden. Hervorragende +Parteigenossen des In- und Auslandes hatten uns ihre Mitarbeit zugesagt. +Eine junge Künstlerin, von der Idee, die uns leitete, gepackt, hatte den +Umschlag gezeichnet: schwarze Fabriken, aus deren Essen die Feuerflammen +der kommenden Zeit emporschlagen. Es gab Leute, die angesichts der +schönen Ausstattung, des niedrigen Preises und der hohen Honorare, die +wir festgesetzt hatten, bedenklich die Köpfe schüttelten. Aber der +Dreimillionen-Sieg der Partei hatte den Glauben an unsere Sache, den wir +von jeher besessen hatten, nur noch gestärkt. Jetzt war wirklich die +Zeit gekommen, wo die Sozialdemokratie eine Macht im Staate zu werden +begann, wo sie vor der Aufgabe stand, selbständig praktische Politik zu +treiben. Breite Schichten der Arbeiterschaft, die erstarkten +Gewerkschaften an der Spitze, verlangten danach, und die Masse der +Mitläufer, die unseren Sieg hatte vergrößern helfen, war zweifellos +nicht durch die ferne Aussicht auf den Zukunftsstaat zu uns gekommen, +sondern durch die Hoffnung auf Reformen der Gegenwart. + +Eines Morgens kam Heinrich verärgert aus dem Bureau: »Der Lindner läuft +umher wie die Jungfrau von Orleans: 'und mich, die all dies Herrliche +vollendet, mich freut es nicht, das allgemeine Glück'. Sollten die +Schwarzseher ihn schon beeinflußt haben?! Das könnte mir passen!« + +Wir hörten eine Woche lang nichts von ihm. Dann kam ein Brief; -- +während mein Mann ihn überflog, veränderten sich seine Züge: »Hier hast +du den Wisch,« rief er wütend und warf die Türe hinter sich ins Schloß. + +»Da ich mich überzeugt habe, daß ein gedeihliches Zusammenarbeiten +zwischen uns nicht erreichbar sein wird, trete ich von unserem Vertrag +zurück --,« las ich. + +Das ist doch nicht möglich, -- das kann doch nicht sein, fuhr es mir +durch den Kopf; wie kann er sein Wort brechen, jetzt, in diesem +Augenblick, wo er weiß, das damit alles steht und fällt! + +Heinrich war beim Rechtsanwalt gewesen. »Nichts zu machen,« knirschte +er, als er nach Hause kam, »mein Anstand, oder sagen wir lieber meine +Dummheit, die mich hinderten, den Vertrag notariell zu machen, +ermöglichen diesen erbärmlichen Rückzug.« + +Was nun?! Heinrichs trotzige Energie hatte auf diese Frage nur eine +Antwort: »Erst recht!« + +Ich fühlte mich im ersten Augenblick wie gelähmt und war geneigt, im +Rücktritt Lindners etwas zu sehen, das einem Wink des Schicksals oder +einem Gottesurteil gleichkam. Aber die Ereignisse innerhalb der Partei +zerstreuten den Nebel, der meinen Blick vorübergehend verdunkeln wollte. + +Überall hatten nach den Wahlen Siegesfeiern stattgefunden. Hunderte von +Rednern hatten das »Unser die Welt!« in die überfüllten Säle +hinausgeschmettert und ein vieltausendstimmiges Echo gefunden. Dann aber +war der Rausch verflogen, und jenes erwartungsvolle Schweigen war +eingetreten, das jedem großen Ereignis zu folgen pflegt. Man konnte sich +nicht vorstellen, daß nun der Alltag wieder da ist, -- genau so wie +vorher; es mußte irgend etwas folgen, das dem Ungeheueren entsprach, das +wir erlebt hatten! Doch es geschah nichts. Nur der Sommer war gekommen +mit seiner Blumenpracht, -- wie immer. Ein unbestimmtes Gefühl der +Enttäuschung erkältete die eben noch glühenden Herzen. Die durch den +Kampf aufgepeitschten Nerven erschlafften plötzlich; eine nörgelnde +Empfindung der Unzufriedenheit entstand; kaum einer war, der sich ihr +entziehen konnte, und wer am leidenschaftlichsten um den Sieg gerungen +hatte, den packte sie mit doppelter Gewalt. + +Einige der führenden Geister in der Partei waren sich bewußt, daß die +nervöse ungeduldige Frage der Massen nach dem Preise des siegreichen +Kampfes Antwort heischte. Aber sie empfanden nicht, daß die Antworten, +die sie gaben, angesichts der Größe der Erwartungen wie eine Verhöhnung +wirken mußten. Kautsky, der Theoretiker des Radikalismus, versuchte ihr +als der Vorsichtigere aus dem Wege zu gehen, indem er sich nur mit den +Wahrscheinlichkeiten der künftigen Haltung unserer Gegner beschäftigte, +und im übrigen die Gemüter durch den Hinweis auf »die alte, bewährte +Taktik der Partei« zu beruhigen suchte. Eduard Bernstein dagegen, der +Revisionist, hatte in dem Bestreben, zu momentanen praktischen +Resultaten zu gelangen, acht Tage nach dem Siege auf die Frage: was +folgt aus dem Ergebnis der Reichstagswahlen? keine andere Antwort als +die: ein sozialdemokratischer Vizepräsident im Reichstag! Was in ruhigen +Zeiten vielleicht zu einer Erörterung innerhalb der Fraktion geführt +hätte, das wurde jetzt das Signal zum Aufruhr. + +Wie, darum haben wir monatelang unsere Haut zu Markte getragen, darum +haben drei Millionen Deutsche einundachtzig Sozialdemokraten in den +Reichstag geschickt, damit einem von ihnen die Gelegenheit geboten wird, +vor dem Kaiser zu katzbuckeln, -- dem Kaiser, dessen Faust wir von Essen +und Breslau her noch auf unserer Wange brennen fühlen?! So tönte es von +allen Seiten. + +Vergebens, daß Vollmar von München aus versuchte, der kühlen Vernunft zu +ihrem Rechte zu verhelfen, indem er die tatsächlichen Vorteile der +Vertretung der Partei im Präsidium hervorhob und die Haltlosigkeit der +prinzipiellen Gegnerschaft zu dem »Hofgang« dadurch illustrierte, daß +die Parteigenossen in den Einzelstaaten es mit ihrer republikanischen +Gesinnung vereinigen müssen, dem jeweiligen Landesherrn Treue zu +schwören, der Eid aber doch bedeutungsvoller sei, als ein offizieller +Besuch im Kaiserschloß, -- bis nach Norddeutschland drang seine Stimme +nicht. Zu tief empfanden Alle die unbewußte Verhöhnung ihrer Hoffnungen +und ihres Glaubens in Bernsteins Antwort auf die Frage, die sie bewegte. +Und auch ich konnte mich dem niederdrückenden Eindruck nicht entziehen. + +Die Empörung über Bernstein verdichtete sich zur allgemeinen Wut auf die +Revisionisten, die sie ihrerseits mit einem Ungeschick, das sich nur +aus ihrer Temperamentlosigkeit erklären ließ, schüren halfen. + +»Wir müssen die liberalen Parteien ersetzen --,« erklärte der eine; die +aufgeregten Massen lasen daraus: wir müssen unsere sozialdemokratischen +Grundsätze in die Tasche stecken. + +»Ein proletarischer Klassenkämpfer sein, das heißt nicht auf die +bürgerliche Gesellschaft unterschiedslos drauflos prügeln --,« sagte ein +anderer; die Arbeiter ergänzten: wir sollen mit ihr liebäugeln. + +Sie hatten unrecht -- zweifellos --, wie jeder unrecht hat, den die +Leidenschaft nicht nur dem Ziel entgegen vorwärts reißt, sondern blind +und taub macht für alles, was rechts und links geschieht. Aber weit +größer war das Unrecht derer, die imstande gewesen waren, an dem +Siegesfeuer, dessen himmelauflodernde Flammen die Begeisterung der +Kämpfer entfacht hatten, ihr armseliges Süppchen zu kochen und es den +Andächtigen, deren Glauben noch glühender brannte als das Feuer, als +sättigende Speise darzureichen. + +Ein mächtiger Helfer erwuchs ihrem Zorn, einer, der noch immer +wundergläubig gewesen war, wie sie; einer, den, wie sie, der Sieg +trunken gemacht hatte: August Bebel. In einer Erklärung, die dem +Pronunziamento des Nachfolgers Christi auf dem apostolischen Stuhle +gleichkam, verurteilte er Bernstein und die Seinen und drohte überdies +mit der Entscheidung des nächsten Parteitages. Nun erst, nachdem der +Führer gesprochen, entbrannte der Bruderkrieg in vollem Umfang. Was +Bebel nur hatte ahnen lassen, das sprachen andere aus: fort aus der +Partei, wer uns den Sieg verekelt. + +Ich fürchtete das Schlimmste. Meine persönlichen Besorgnisse +verschwanden wie Tautropfen im Meer. Jetzt galt es, den Bedrohten einen +Mittelpunkt schaffen, der zum Ausgang einer starken, jungen Bewegung +werden könnte. Aus tiefster Überzeugung wiederholte ich Heinrichs: »Erst +recht!« + + * * * * * + +Der Verkauf des Archivs war der erste Schritt zu unserem Ziel. Heinrich +wandte sich an einen der größten Verleger, der seine Bereitwilligkeit +aussprach, das Archiv zu übernehmen, wenn der alte Herausgeber ihm +erhalten bliebe. Er bot ein Redaktionshonorar dafür, das uns zeitlebens +der Sorgen enthoben hätte. Wir besannen uns keinen Augenblick, seine +Vorschläge zurückzuweisen. + +»Nun bliebe noch Romberg,« sagte ich zögernd; ich wußte, seit jener +ersten Anfrage war eine leise Entfremdung zwischen den beiden Männern +eingetreten. + +»Damit er mich wieder behandelt, wie der hochmögende Vormund,« brauste +Heinrich auf. + +Noch am selben Abend schrieb ich an Romberg. Wenige Tage später war er +in Berlin. Ich setzte ihm die Lage auseinander. + +»Ich appelliere lediglich an Ihr Interesse für die Zeitschrift,« sagte +ich, »die heute eine der angesehendsten ihrer Art ist. Es lag Ihnen +daran, sie in die Hand zu bekommen; -- Sie sprachen seinerzeit davon, +als von einem Ersatz der ordentlichen Professur.« + +Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Wenn ich nun aber statt meines +persönlichen Interesses, das sich nicht verändert hat, meine +Freundschaft entscheiden ließe?!« rief er aus. »Mir scheint, ich müßte +Sie vor einem Unglück bewahren!« + +»Das lassen Sie meine Sorge sein,« antwortete ich herb. Er schwieg +verletzt, und als gleich darauf mein Mann eintrat, stellte er sich auf +einen ausschließlich geschäftlichen Standpunkt und verhandelte nur mit +ihm. + +Kurze Zeit darnach war die Angelegenheit entschieden: Mit zwei anderen +Herren übernahm Romberg das Archiv. + +Ich hatte im Augenblick meine ganze Zuversicht wiedergewonnen und lud +ihn ein, den Abschluß fröhlich mit uns zu feiern. Aber er war schon +abgereist. + +»Dann geben wir uns allein ein Fest,« meinte mein Mann; »wir haben +Ursache genug dazu als selbständige Inhaber der Neuen Gesellschaft!« +Doch es schien, als sollte es nicht sein. Zuerst verschlang die Arbeit +unsere Zeit, und dann kam die Stimmung nicht wieder. + + * * * * * + +Der Hader in der Partei nahm immer bösartigere Dimensionen an. Was Bebel +an Erklärungen und Artikeln veröffentlichte, das klang so maßlos, daß +die Vizepräsidentenfrage und die Mitarbeit der Parteigenossen an +bürgerlichen Blättern unmöglich die einzige Ursache seines Vorgehens +sein konnte. Er mußte irgendwo Parteiverrat wittern, wenn er alle +politische Klugheit so völlig zu vergessen vermochte und den Gegnern die +bittere Pille der Wahlniederlage durch den Kampf in den eigenen Reihen +versüßte. + +»Die Zeit des Vertuschens und Komödienspiels ist vorbei --,« rief er; +»jetzt heißt es Farbe bekennen, jetzt gibt's kein Ausweichen mehr --,« +was hieß das anders, als daß Elemente in der Partei vorhanden waren, die +nicht hinein gehörten, die entfernt werden mußten? + +»Die Masse der Parteigenossen halte die Augen auf!« mahnte er; was +bedeutete das anders, als daß sich Verräter in ihrer Mitte befanden? +Aber während Bebels Zorn vom Feuer der Leidenschaft noch immer verklärt +erschien, sekundierten ihm die Zionswächter des Radikalismus mit der +Kälte systematischer Verfolgungssucht. Und nun erwachte im Proletariat, +auf dessen rohe Instinkte sie spekulierten, der Pöbel. Er warf sich +keifend auf alles, was nicht mit ihm lärmte. + +Wir, die wir dem Revisionismus eine selbständige Zeitschrift schaffen +wollten, standen, das zeigte sich bald, mit auf der ersten Seite der +Liste der Konskribierten. Noch ehe die erste Nummer unseres Blattes +erschienen war, wurde es als ein kapitalistisches Unternehmen +gebrandmarkt; von Mund zu Mund ging der Klatsch, daß wir einen reichen +Gönner gefunden hätten, der es wie einen Sprengstoff in die Partei +werfen wollte, und in einer der wild erregten Versammlungen, die dem +Parteitag vorangingen, fiel zum erstenmal das verächtliche Wort, das +wohlgefällig weitergetragen wurde: »Geschäftssozialisten.« + +Es traf mich wie ein Keulenschlag. Eben erst hatten wir eine gesicherte +Existenz von uns gewiesen, -- und nun dies Wort!! + +Ich brütete stumm vor mich hin. Ich ging nicht auf die Straße, denn ich +fühlte mich wie beschmutzt. + +Was ich erlebte, war nur ein Teil dessen, was allen begegnete, die unter +dem Namen Revisionisten zusammengefaßt wurden. Das zahnlose alte Weib, +der Klatsch, ging um mit den ewig beweglichen Lippen und den dürren +Fingern, die in jeder Gosse gierig wühlen. Als Mandatsjäger wurde der +eine verdächtigt, als lügnerischer Verleumder Bebels der andere. Und +wessen wir bisher fälschlich beschuldigt worden waren, -- eine +geschlossene Gruppe zu sein, -- das machte die Verfolgung aus uns. Den +Kopf umnebelt von den giftigen Dünsten, die rings um uns aufstiegen, +erschien uns der Haß der Personen, die uns bekämpften, als das Primäre; +kaum einer war, der noch wußte, daß es der Gegensatz der Anschauungen +war, der ihn zeugte, und niemand gab zu, daß Bebel recht hatte, wenn er +an kleinen Symptomen die ganze Richtung erkannte, -- die Richtung, die +seinen tiefgewurzelten Prophetenglauben, aus dem er die ganze +Schwungkraft seiner Lebensarbeit sog, erschüttern mußte, wenn sie zur +allgemeinen Anerkennung kam. + +Wie sich sein Zorn und derer um ihn auf die Einzelnen entlud, die im +Augenblick als die Sünder erschienen, so entlud sich der unsere auf +einen Mann, der seit Jahren das Feuer schürte, das uns verbrennen +sollte, der, ohne sich jemals in das Gewühl der Volksversammlung zu +wagen, von der Abgeschiedenheit seiner Studierstube aus Jeden verfolgte, +der kein Buchstabengläubiger des Marxismus war. Seine glänzende +journalistische Fähigkeit hatte ihm seine Stellung geschaffen; die +fanatische Rücksichtslosigkeit, mit der er seine Gegner verfolgte, hatte +sie erhalten helfen. Niemand wagte, sich ihm entgegenzustellen. Selbst +seine Gesinnungsfreunde fürchteten ihn, denn er haßte heute, was er +gestern noch liebte. + +»Er ist das böse Prinzip der Partei,« hieß es in unserem Kreise, während +tatsächlich nur der konservative Radikalismus mit all seiner +Unduldsamkeit, all seinem Dogmenglauben in ihm Fleisch geworden war. + +»Wenn wir die Partei von ihm befreien können, so haben wir sie +gerettet,« erklärten unsere Freunde. + +Meinen Mann packte der Gedanke wie keinen. Noch immer hatte seine +überschäumende Willenskraft sich an Aufgaben erproben wollen, die +niemand sonst übernahm. Er hörte um so weniger auf die warnenden +Stimmen, die sich erhoben, als ich ihn in seinem Vorhaben nur bestärkte. +Die Partei aus der inneren Zerrüttung erretten, in der sie sich befand, +sie einer neuen gesicherten Einheit entgegenführen, -- keine Aufgabe +wäre mir im Augenblick größer erschienen. + + * * * * * + +Es war am Abend vor unserer Abreise nach Dresden, wo der Parteitag +stattfand. + +»Es wird ein Kampf bis aufs Messer,« sagte Heinrich; »aber was auch +kommen mag, mich soll's nicht kränken, wenn ich nur deiner sicher bin!« + +Ich legte beide Arme um seinen Hals: »Du kannst es, Heinz! Noch niemals +liebte ich dich so wie heut!« Und zärtlich schmiegte ich meinen Kopf an +seine Schulter, während mein Auge in demütiger Liebe an dem seinen hing. + +»Ihr törichten Frauen wollt in den Männern immer nur Helden sehen,« +meinte er. Seine Lippen brannten auf meinem Mund. Wir vergaßen der Ehe, +wie in allen glücklichen Stunden unseres Lebens; -- der Ehe, die alle +Geheimnisse schamlos ihrer Schleier beraubt, so daß die Liebe, die nur +von Sehnsucht lebt, sterben muß. + +Gegen Morgen weckte mich ein Schrei. Ich fuhr entsetzt aus dem Schlaf. + +»So bleib doch, Liebste,« flüsterte Heinrich traumbefangen. Aber schon +war ich im Nebenzimmer am Bett meines Kindes. Seine Wangen glühten, +verständnislos irrten seine Augen an mir vorbei. Und wieder löste sich +ein Schmerzensruf von seinen trockenen Lippen. Ich wickelte den +zuckenden Körper in nasse Tücher und schickte die Berta zum Arzt. Jetzt +erst erwachte mein Mann und erschien an der Türe. + +»Papachen,« sagte der Kleine und verzog den Mund mühsam zu einem +Lächeln. + +»Was ist denn nur?!« rief Heinrich mit gerunzelter Stirn und +ungeduldiger Stimme; »komm doch ins Bett, -- du erkältest dich ja!« + +Ich lief ins Schlafzimmer zurück, um mir einen Mantel zu holen. + +»Du siehst doch, -- Ottochen ist krank,« flüsterte ich ihm im +Vorübergehen zu. + +»Krank!« wiederholte er laut und trat näher. »Nicht wahr, mein Junge, +dir fehlt nichts, -- du träumtest nur schlecht, -- du siehst ja rund und +rosig aus, wie's liebe Leben!« + +Mit einem ängstlich fragenden Blick sah der Kleine von einem zum +anderen. + +»Gewiß, Papa, gewiß,« sagte er dann mit stockender Stimme, »jetzt ist +schon alles wieder gut.« Aber seine tränenumflorten Augen, die flehend +zu mir aufsahen, sein heißes Händchen, das krampfhaft meine Finger +umschloß, strafte seine Worte Lügen. Ich drängte Heinrich hinaus. Wo +nur die Berta blieb? Warum der Arzt nicht kam? -- Im Wohnzimmer schlug +die Uhr sieben. + +»Es ist die höchste Zeit, daß du dich anziehst, Alix,« rief Heinrich. +Wir hatten uns mit unseren Freunden für den Achtuhrzug verabredet. Ich +wechselte rasch die Kompresse auf der brennenden Stirn meines Kindes und +ging ins Schlafzimmer. + +»Selbstverständlich bleibe ich hier,« sagte ich, die Stimme dämpfend. + +»Das wäre noch schöner!« antwortete er heftig. »Wegen eines Schnupfens, +den der Junge im schlimmsten Fall kriegen wird, willst du in diesem +Augenblick mich und die Sache im Stiche lassen!« + +Ich fühlte, wie das Blut mir siedendheiß in das Antlitz schoß: »So +sprich doch wenigstens leise --« + +Aber Heinrich wollte nicht hören: »Du weißt, was auf dem Spiele steht, +-- du kommst mit,« schrie er mich an, und seine Hand umkrallte meinen +Arm. + +»Und wenn die ganze Partei darüber zugrunde ginge, -- ich bleibe hier,« +zischte ich, außer mir vor Empörung. + +»Mama, -- Mama!« rief eine süße weinende Stimme. Der Kleine stand auf +der Schwelle, mit angstvoll aufgerissenen Augen, wie im Schwindel auf +den bloßen Füßchen hin und her schwankend. Auf meinen Armen trug ich ihn +ins Bett zurück und riegelte die Tür hinter uns zu. Nach kurzer Zeit +hörte ich Heinrich das Haus verlassen. Ich fühlte keinen Schmerz, -- nur +eine ungeheure Leere in meinem Herzen. Darüber nachzugrübeln, war ich +nicht imstande: in wilden Fieberphantasien wälzte sich mein Kind auf +seinem Lager. + +Kaum in Dresden angekommen, telegraphierte mir mein Mann: »Verzeih. Wie +geht es?« Mußte ich ihm nicht jetzt, wo er so schweren Stunden +entgegenging, die Wahrheit schonend verschweigen?! Aber warum diese +Rücksicht?! War er doch mehr als schonungslos, war grausam gewesen! Nie +würde ich ihm das verzeihen können! + +»Otto schwere Blinddarmentzündung,« antwortete ich kurz, dem Ergebnis +der ärztlichen Untersuchung entsprechend. + +Zwei Tage vergingen und zwei Nächte. Noch immer stieg das Fieber; der +kleine Körper krümmte sich vor Schmerzen. Die Schreie der Angst wurden +schwächer; an ihre Stelle trat ein Wimmern -- jammervoll, +ununterbrochen. Ich wich nicht von dem kleinen Bett. Wenn ich die Hand +auf das heiße Köpfchen des Kranken legte, schien er für Augenblicke +ruhiger, wenn ich mich ganz dicht an ihn schmiegte, verlor sein Blick +den Ausdruck tiefen Entsetzens. Einmal glaubte ich schon beglückt, er +schliefe. Da riß er sich ungestüm aus meinen Armen, richtete sich hoch +auf, starrte mich verständnislos an und schrie: »Mama, -- Mama, -- warum +bist du so weit, -- so weit weg, -- ich sehe dich gar nicht mehr --« und +in verzweifeltem Schluchzen bebten seine Schultern. Das Herz krampfte +sich mir zusammen, -- und doch hatte ich noch Kraft genug ihm beruhigend +zuzulächeln, während ich den kleinen Körper wieder in nasse Tücher +hüllte. Er wurde still, er schloß die Augen, er atmete regelmäßiger. +Aber in meinen Ohren dröhnten seine Worte: warum bist du so weit weg! Er +hatte mich angeklagt, -- und ich sprach mich schuldig: War ich nicht +Tage, Wochen, Monde lang von meinem Sohn »weit weg« gewesen?! War nicht +auf seinen Gedankenwegen mit ihm gegangen, -- hatte nicht mit seinem +Herzen gefühlt, -- mit seinen Augen gesehen? Wenn er nun mich verlassen +wollte?! Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende. An seinem Bette sank ich +in die Kniee; ich faltete die Hände auf seinen Kissen; -- ich betete. +Nicht zu den Schutzengeln, die mir ein Märchen waren, nicht zu dem +Christengott, den ich nicht kannte. Mein Gebet war voll Frömmigkeit, ob +es auch keine Worte hatte, mein Gebet war voll Glauben, ob es auch +glaubenslos war, mein Gebet war voll Kraft, denn es richtete sich nicht +gen Himmel, -- es brachte dem Heiligtum des Lebens mich selbst zum Opfer +dar ... + +Der grauende Tag kroch durch die Fenster. Mein Kind schlief mit einem +Lächeln um die blassen Lippen. Ich küßte es leise. Mir war, als wäre ich +erst in der letzten Nacht seine Mutter geworden. + +Draußen läutete es. Es war der Telegraphenbote: »Wie geht es? Rege dich +über Zeitungen nicht auf.« Ich mußte den zweiten Satz noch einmal lesen; +gab es noch irgend etwas in der Welt, über das ich mich nach dieser +Nacht hätte aufregen können?! Ja so! Der Parteitag, -- ich hatte nichts +gelesen. »Otto besser. Bin ruhig. Wünsche dir das Beste,« antwortete +ich. + +Während Berta mich bei dem Kranken vertrat, las ich die Berichte. Ich +erschrak, als ich sah, daß Heinrich entgegen seiner Absicht, durch den +Artikel eines sächsischen Parteiblattes herausgefordert, in der +Diskussion über die Mitarbeit von Genossen an der bürgerlichen Presse +als Erster gesprochen hatte. Die ganze Erregung über unser +Auseinandergehen, die wachsende Sorge um das kranke Kind mußte ihn +beherrscht, seine Stimmung beeinträchtigt haben. Und ich fühlte zwischen +jeder Zeile der Rede die Bitterkeit seines Herzens, die quälende Angst. +Über jenen Mann hatte er gesprochen, der sich herausnahm im Kampf gegen +uns den Ton anzugeben, der uns um einiger Artikel in einer bürgerlichen +Zeitschrift willen wie Verräter verfolgte; und er hatte ihn +gekennzeichnet, als das, was er war: ein doppelter Renegat, in der +Jugend Sozialdemokrat, gleich darauf der Verfasser einer der giftigsten +Schmähschriften gegen die Sozialdemokratie, nach wenigen Jahren wieder +Mitglied der Partei, und jetzt: ihr unfehlbarer Sittenrichter. Keiner, +so schien mir, würde sich dem Eindruck der Rede meines Mannes entzogen +haben, wenn nicht in jedem Ton die Aufregung gezittert hätte, deren +Ursache niemand kannte als ich. Immer wieder hatte ihn Bebel +unterbrochen, mit stets gesteigerter Heftigkeit, und jeder Zuruf mußte +meinen Mann, dessen ganze Seele wund war, doppelt schmerzhaft treffen. +Und dann waren sie alle über ihn und uns hergefallen, und am tollsten +hatten uns, die freien Schriftsteller -- »frei« wie der Lohnarbeiter, +der seinem Verdienst nachgehen muß --, die Genossen geschmäht, die in +sicheren Parteipfründen saßen. Ein Gefühl von Ekel stieg mir bis zum +Hals. Wie hatte doch Romberg einmal gesagt? »Durch eine bestimmte +Personengruppierung kann eine Sache rettungslos verloren gehen.« War +diese Gesellschaft wütender Proleten wirklich noch der würdige Träger +der menschheitbefreienden Gedanken des Sozialismus? + +In einem kurzen Brief, den ich von Heinrich erhielt, hieß es: »... Die +Lage der Dinge ist unbeschreiblich. Die eingeschlossene Luft in diesem +engen halbdunkeln Saal scheint gefüllt mit Sprengstoff. Das gezwungene +dicht Nebeneinandersitzen erhöht die Reizbarkeit ... Bebel ist selbst +für Freunde, die ihn beruhigen wollen, unnahbar. Er hat sich stundenlang +in sein Hotel zurückgezogen und hat den Ausdruck eines Rachegottes, wenn +er wieder erscheint. Warum? Niemand weiß es. Er soll sich während der +Wahlkämpfe überanstrengt haben, sagen die einen; die Erbschaft, die ein +bayerischer Offizier ihm hinterließ, und das, was an Prozessen mit den +Verwandten dieses Offiziers darum und daran hängt, soll ihn aufregen, +meinen die anderen. Jedenfalls kommt mehr denn je alles auf seine +Haltung an; und sein Benehmen mir gegenüber läßt wenig Gutes hoffen. +Übrigens scheint er auf uns beide ganz besonders wütend zu sein. Als +Wanda Orbin die Mitarbeit an bürgerlichen Blättern als todeswürdiges +Verbrechen kennzeichnete und dabei von den sündigen 'Genossen' sprach, +rief er wiederholt mit starker Betonung dazwischen: 'Und Genossinnen!' +Damit bist Du in erster Linie gemeint ... Man spricht von einer +Resolution, durch deren Unannehmbarkeit die Revisionisten hinausgedrängt +werden sollen ...« + +Seltsam, wie kühl, fast gleichgültig ich dieser Möglichkeit gegenüber +blieb. + +Gegen Abend fieberte mein Kind wieder. Es phantasierte von Riesen, die +das Zimmer füllten, und am Morgen war mir, als ob ich die ganze Nacht +mit ihnen hätte ringen müssen, um sie vom Bett meines Lieblings +fernzuhalten. Ich fühlte mich zu Tode erschöpft. + +»Wir sind noch nicht über den Berg,« sagte der Arzt mit einem ernsten +Gesicht, »aber Sie sollten sich trotzdem schonen --.« + +»Ich bin die Mutter,« unterbrach ich ihn. + +»Gerade darum,« antwortete er. + +Aber wie konnte ich von meinem Sohne weichen, solange seine Augen sich +trübten, wenn ich den Platz an seinem Bett verließ! + +Während er ein paar Bleisoldaten auf den weißen Berg seiner Kissen +klettern ließ, überflog ich zerstreut den neuen Parteitagsbericht. Erst +Bebels Rede fing an, mich zu fesseln. Er zählte die Sünden jener +Wochenschrift auf, für die wir fünf Angeklagten geschrieben hatten: Vor +genau zehn Jahren hatte deren Herausgeber ihn als »rote Primadonna« +verulkt. Ich staunte: sollte Bebel, der große Bebel, von so kleinlicher +Empfindlichkeit sein, daß er dergleichen Nebensächlichkeiten als +unauslöschliche Kränkungen empfand?! Und im vorigen Jahre während des +Zollkampfes hatte derselbe Redakteur sich gegen die Obstruktionspolitik +der Sozialdemokraten ausgesprochen. War das nicht sein gutes Recht? +Sollte er selbst mit seiner Überzeugung hinter dem Berge halten, wenn er +allen seinen Mitarbeitern die vollste Meinungsfreiheit gewährte? + +Ich las weiter. Ich rieb mir die Augen, -- vielleicht war ich es jetzt, +die fieberte, -- der Kopf fing an, mir zu brennen. Ich las noch einmal. +Aber ich irrte mich nicht. Hier stand es, ganz deutlich, und noch +unterstrichen durch den »stürmischen Beifall«, mit dem es begrüßt worden +war: »Es gibt unter uns Marodeure, die ein solches Blatt +unterstützen --«, »Elemente, die moralisch tief gesunken sind --«, +»ihnen gebührt nichts anderes, als ein kräftiges Pfui!« + +Griff mir nicht eine rohe Faust an die Kehle --, traten die Augen nicht +schon aus ihren Höhlen? Und der Boden unter mir, auf dem ich stand, +schwankte er nicht? -- -- Meine Familie, meine Freunde, meine Existenz, +-- alles hatte ich der Partei geopfert, -- und jetzt kam dieser Mann und +beschimpfte mich, weil ich ein paar literarische Kritiken in ein Blatt +geschrieben hatte, das ihm nicht paßte?! Er, dieser Ritter der Frauen, +hatte den traurigen Mut, mich vor der ganzen Welt für ehrlos zu +erklären?! Ich sprang vom Stuhl, -- vergaß mein krankes Kind, -- und +lief ins Nebenzimmer. Dort in der alten Truhe lag sie noch, -- meines +Vaters Pistole! Wenn ich ein Mann wäre --! Meine Hand krampfte sich um +ihren Griff, mein Finger suchte den Hahn. Wenn mein Vater noch lebte! +Vor ihre Mündung würde er den Räuber meiner Ehre fordern! + +»Mama!« rief es von nebenan. Ich strich mit der Hand über meine heiße +Stirn und warf mit einem spöttischen Achselzucken über die romantische +Anwandlung, die ich eben gehabt hatte, die alte Pistole in die Truhe +zurück. Ich stehe ja nicht allein, dachte ich; mein Mann, der auf die +kleinste Kränkung, die mir angetan wird, mit hellem Zorn reagiert, hat +mich in diesem Augenblick schon verteidigt, und die anderen alle, die +getroffen wurden, genau wie ich, werden zu flammendem Protest einmütig +zusammenstehen. + +Aber schon, daß die Diskussion ohne Unterbrechung ihren Fortgang +genommen hatte, machte mich stutzig. Freilich, der eine der +Angegriffenen, der eben einen Wahlkreis erobert hatte wie wir, +verteidigte sich in aufflammender Empörung. + +»Auch dem Parteiführer, der die Ehre eines Menschen beschmutzt, gebührt +ein Pfui,« rief er aus. Aber mitten in seiner Rede war er imstande +gewesen, mit sentimentaler Rührung von der Verehrung zu erzählen, die er +für den Beleidiger empfunden hatte! Ich schämte mich, auch nur mir +selbst solch ein Gefühl zuzugeben. Und als Bebel nachher ein paar +väterliche Worte der Anerkennung für ihn aussprach, bedankte er sich +dafür! + +Der andere stimmte seine Rede auf denselben Ton und sprach von der ganz +besonderen Verehrung, die er für den Veteranen der Partei stets +empfunden habe. Der Dritte endlich brauste zwar in jugendlichem Eifer +auf, hatte aber schon vorher reumütig abgebeten. Ich schüttelte mich. +Wer sich so behandeln ließ, war wert, daß er so behandelt wurde. Mein +Mann, dachte ich triumphierend, wird anders zu sprechen wissen! + +Jetzt endlich fand ich seinen Namen unter den Rednern. Unwillkürlich +suchte ich zuerst nach den Zwischenrufen, nach den wilderregten Szenen, +die sein Zorn hervorrufen mußte; -- und da stand es ja schon: +»stürmische Unterbrechungen« -- »große Unruhe« -- »Skandal«. Aber das +bezog sich gar nicht auf eine Zurückweisung der Beleidigungen Bebels. +Meine Hände, die das Blatt hielten, begannen zu zittern. + +Wie?! Auch was er sagte, klang wie eine halbe Entschuldigung?! + +»Wir sind entschlossen, an der fraglichen Wochenschrift nicht mehr +mitzuarbeiten, da das Interesse der Partei es fordert ...« Und dann: +»Ich erwarte von Bebel, daß er das schwere und bittere Unrecht, das er +begangen hat, einsieht und durch eine Erklärung gut zu machen sucht.« +War das alles? Wirklich alles?! Ich ballte die Hände und drückte die +Nägel ins Fleisch, ich preßte die Zähne aufeinander, daß sie knirschten. +Nur nicht weinen, nur jetzt nicht weinen, -- wiederholte ich immer +wieder. Die große Uhr über dem Schreibtisch tickte laut und vernehmlich, +-- meines Vaters Uhr, die ich vor fremden Händen gerade noch gerettet +hatte. + +»Er hat dich nicht verteidigt, -- nicht verteidigt --,« sagte sie +unaufhörlich; oder war es des Vaters Stimme? -- »Nicht verteidigt --« + +Ich schrieb an den Vorsitzenden des Parteitags und forderte ihn auf, +Bebel zu einer Rücknahme seiner Beleidigung zu veranlassen. Mein Wunsch +wurde abgelehnt. Ich verlangte ein Schiedsgericht, das über meine Ehre +entscheiden sollte. »Wegen der Meinungsäußerung eines Genossen über den +anderen kann ein solches nicht angerufen werden,« lautete die Antwort. +Jetzt also war ich vogelfrei; ausgestoßen aus meiner alten Welt, als +Ehrlose gebrandmarkt in der neuen! + +Ich wurde merkwürdig ruhig. Ich spielte lächelnd mit meinem Sohn, der +sich langsam erholte. Es gab Stunden, in denen ich dem Schicksal dankbar +war, das mich an diese Stelle zwang, das es mir deutlicher sagte, als +Worte es je vermocht hätten: dein Kind allein ist deine Welt. + +Fast mechanisch, interesselos, fing ich wieder an, die Berichte zu +lesen. + +Inzwischen war die Abstimmung über die Erklärung des Parteivorstandes +zur Frage der Mitarbeit von Genossen an bürgerlichen Preßunternehmungen +vor sich gegangen. Mit überwältigender Mehrheit war sie zur Annahme +gelangt. Ich lachte unwillkürlich laut auf. So orthodox war bisher nicht +einmal die Kirche gewesen! Sie war viel zu klug dazu; sie benutzte jede +Tribüne, wenn es galt, auch nur eine Seele zu gewinnen. + +»Nicht darauf kommt es an, _wo_ Parteigenossen schreiben, sondern _was_ +sie schreiben. Je mehr sie mit ihrer Überzeugung und ihrer Person in die +Reihen der uns noch feindlich Gesinnten eindringen, desto besser ist es +für unsere Sache, denn wir sind keine Sekte, die sich zu ihrem +Gottesdienst in ihrer Kapelle verschließt, sondern eine Bewegung, die +der ganzen Menschheit dienen und die Welt erobern will ...« + +Das wäre eine unserer sozialistischen Grundsätze würdige Erklärung +gewesen. Niemand beantragte sie. Nur vierundzwanzig -- unter ihnen mein +Mann, Göhre, Vollmar -- hatten den Vorstandsbeschluß abgelehnt. + +Und nun stand der zweite Streitpunkt: die Taktik der Partei, die +Vizepräsidenten-Frage, auf der Tagesordnung. + +Bebel referierte. Nach allem Vorhergegangenen erwartete ich eine wütende +Philippika. Aber das, was er sagte, übertraf jede Erwartung. War das +derselbe Bebel, der in Hannover so klug und so einsichtig gewesen war? + +»Nie und zu keiner Zeit waren wir in der Partei uneiniger als jetzt --;« +das erklärte er, nachdem wir eben einmütig den größten politischen Sieg +erfochten hatten! »So geht's nicht weiter, -- jetzt müssen wir endlich +reinen Tisch machen,« und: »Wer nicht pariert, der fliegt hinaus!« War +das noch die Sprache des Führers einer demokratischen Partei, oder nicht +vielmehr die eines Diktators? Er sprach von den Revisionisten als von +den Leuten, die mit der Bourgeoisie liebäugeln, und verlangte, daß man +sie öffentlich denunzieren müsse, damit die Genossen sich vor ihnen +hüten könnten. Er erklärte auf der einen Seite, um einen +Gewerkschaftsantrag zu Falle zu bringen, daß es für die Fraktion viel zu +schwierig sei, ganze Gesetzesvorlagen auszuarbeiten, und versicherte auf +der anderen, daß, wenn die Partei heute zur Herrschaft im Staate käme, +sie schon morgen wissen würde, was sie zu tun habe. Der heimliche Haß +gegen die Akademiker, durch den er die Masse des Proletariats +unzerreißbar mit sich verband, ohne zu fühlen, daß er dem ersten +Grundsatz des Sozialismus dadurch ins Gesicht schlug, durchglühte seine +Rede. + +»Seht Euch die Akademiker dreimal an, ehe Ihr ihnen Vertrauen schenkt!« +»Stürmischer Beifall« stand daneben. Und doch waren es Akademiker +gewesen, die dem Proletariat die Organisation, seiner Bewegung die +Grundlage und das Ziel gegeben hatten. Schließlich warnte er noch vor +»dem anderen Teil der Revisionisten, den Proletariern in gehobenen +Lebensstellungen«. Und niemand lachte ihm ins Gesicht, -- und niemand +wies mit Fingern auf die, die Beifall jauchzten: Gastwirte, Redakteure, +Parteibeamte, lauter ehemalige Proletarier in gehobenen +Lebensstellungen, -- und ihn selbst, der ein wohlhabender Mann geworden +war. Fielen denn heute lauter Schleier von meinen Augen, oder war ich +nur vorher blind gewesen? + +Nach ihm sprach Vollmar. Er zeigte, wie die Partei seit Jahren +angesichts der praktischen Forderungen des Tages ein Vorurteil nach dem +anderen habe fallen lassen, wie zum eisernen Bestand ihrer Taktik +geworden sei, was kurz vorher als hochverräterische Forderung +gebrandmarkt worden war. Dann aber wandte er sich persönlich gegen +Bebel, -- der erste und der einzige, der es mit der Autorität seines +Namens zu tun vermochte. + +»Ein ungezügeltes Temperament schadet nicht nur auf Fürstenthronen, +sondern auch auf denen der Partei,« rief er aus. »... In welchem Ton hat +Bebel sich an die ganze Partei gewandt? 'Ich werde nicht dulden ...', +'Ich werde den Kopf waschen ...', 'Ich werde Abrechnung halten'. Ich, +ich, ich -- so hat der Lordprotektor Cromwell zum langen Parlament +gesprochen ...« + +Ich atmete tief auf. Auch eine Verteidigung meiner Ehre war diese +Anklage gewesen. Nur eins verstand ich nicht: er betonte die innere +Einheit der Partei mit derselben Schärfe, wie Bebel sie geleugnet hatte. +Wie konnte er nur?! Wären all die Wutausbrüche dieses Parteitages +möglich gewesen, wenn eine innere Einheit bestanden hätte? Sie waren +doch nichts anderes als Symptome der Zerrissenheit. Aber die +Revisionisten schienen sich das Wort gegeben zu haben, Vollmars Ansicht +nicht nur zu teilen, sondern zu unterstreichen. Dieselben Männer, +die ständig und, wie mir schien, mit Recht diese und jene +Programmforderungen der Sozialdemokratie kritisierten und einer +Umänderung für bedürftig hielten, erklärten plötzlich, daß prinzipielle +Gegensätze nicht vorhanden seien. War das Feigheit oder nur Schwäche? -- +Schwäche, die in ihren Folgen viel gefährlicher ist als sie? Und ich +befand mich plötzlich in Übereinstimmung mit einem der schroffsten +Radikalen in der Partei: »Das ist ja der Jammer des deutschen +Revisionismus, daß er nie mit einem bestimmten Programm hervorkommt,« +sagte Kautsky, nachdem er versucht hatte, den auch seiner Ansicht nach +vorhandenen Gegensatz als den zwischen der Zusammenbruchs- und der +Evolutionstheorie zu kennzeichnen; »die einen erwarten die Befreiung von +der sozialen Revolution, die anderen von der allmählichen Entwicklung.« + +Mein Mann schrieb mir noch einmal: »Für die Partei wird diese traurige +Tagung mit ihren zahllosen Hintergründen von Gemeinheit, Klatsch und +Verhetzung schließlich noch zum guten Ende führen. Der Resolution des +Parteivorstandes zur Frage der Taktik sind ihre schärfsten Spitzen, auf +denen wir gespießt werden sollten, genommen worden, und ihre einmütige +Annahme scheint danach gesichert, was den Frieden in der Partei wieder +herstellen wird.« + +Ich antwortete umgehend: »Ich verstehe Dich und die anderen nicht. +Selbst wenn die Resolution ihrem Wortlaut nach annehmbar wäre, so ist +sie es ihrem Sinn nach nicht, und Euer Ja bedeutet keinen Frieden, +sondern Unterwerfung. Ich bedaure, bei der Abstimmung nicht zugegen zu +sein. Ich würde, -- und wenn ich die einzige bliebe, -- laut und +deutlich Nein sagen.« + +Als ich den Wortlaut der Resolution zu Gesicht bekam, wurde mir die +Haltung der Revisionisten vollends unverständlich. Wie viele unter ihnen +hatten dem Eintritt des Sozialdemokraten Millerand in das französische +Ministerium zugestimmt, hatten eine allmähliche Eroberung der +Regierungsgewalt überall für möglich, ja für wahrscheinlich erklärt, +und jetzt beugten sie sich einer Resolution, in der es hieß: Die +Sozialdemokratie kann einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der +bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben. Wie viele verurteilten laut +und leise die lediglich negierende Haltung der Partei gegenüber der +Kolonialpolitik, und jetzt verpflichteten sie sich selbst zum +»energischen Kampf« gegen sie. Aber daß dreihundert ja sagten, traf mich +immer noch nicht so tief, als daß Heinrich unter ihnen war. + + * * * * * + +Mein Kind lag noch immer. Den Genesenden zu beschäftigen, kostete fast +noch mehr Zeit als den Kranken zu pflegen. Herrisch verlangte der kleine +Tyrann immer wieder nach Mama, wenn Berta mich ablösen wollte. Aber +meine Gedanken waren doch wieder frei, und wenn er zur Ruhe gebracht +worden war, konnte ich, wenn auch mit mattem Blick und müden Händen, in +den Trümmern meines Lebens suchen, was zu neuem Aufbau noch stark genug +war. Und ich fand eine unerschütterte Grundmauer: meine politische +Überzeugung. Vor der Partei konnte ein Bebel mich diskreditieren, konnte +mir die Arbeit in ihren Reihen kraft seines Bannfluchs unmöglich machen. +Aber erschöpfte sich denn der Sozialismus in der Partei? + +Mein Verstand war befriedigt, und doch blieb es so kalt, so leer in mir. +Ich sah mich suchend um, -- war die Wärme und die Farbe aus meinem Leben +gewichen? Ach, im Garten meiner Liebe waren alle Blumen geknickt! Hatte +der eine rohe Griff meines Gatten so viel vernichten können? Oder war es +nur ein letzter Herbststurm gewesen, der die schon lange heimlich +welken endgültig von den Stielen riß? + +Eines Abends, ganz plötzlich, öffnete sich die Türe, und Heinrich stand +vor mir. Wie sah er aus! Aschfahl, die Augen tief in den Höhlen, dunkel +umschattet, die ganze Gestalt gebeugt. + +»Heinz!« schrie ich auf und schlang die Arme um ihn. + +»Wenn du mich nur noch liebst -- du,« flüsterte er und bedeckte mein +Antlitz mit Küssen. »Ich fürchtete mich vor der Heimkehr, weil ich +dachte, ich könnte auch dich verloren haben, -- aber nun ist alles gut, +-- nun mögen sie mich steinigen. Ich fühle nichts, nichts als Seligkeit, +weil deine Liebe mich unverwundbar macht!« + +Mir stürzten die Tränen aus den Augen, -- Tränen der Reue, des +Schmerzes. Er sollte nicht umsonst an meine Liebe geglaubt haben. War es +nicht Liebe, die wieder erwachte, da er so zerschlagen vor mir stand? + +Ich erfuhr allmählich, was geschehen war. Artikel, Erklärungen, Briefe +legte er mir vor, voll wütender Angriffe auf ihn, den »Urheber des +Dresdener Parteitages«, den »geistigen Vater eines nie dagewesenen +Parteiskandals«, voll niedriger persönlicher Verleumdungen. Selbst in +unserem Leben wühlten fremde Hände, und unter ihrem Griff wurde auch das +Reinste schmutzig. + +Es war ein grauer Herbstabend mit tiefhängenden Wolken und langen +Schatten in den Zimmern. Ich kauerte in der Ecke des Sofas, unfähig, +mich zu rühren, wie zerprügelt. Heinrich ging auf und nieder, rastlos, +-- hie und da griff er mit der Hand nach seinem Kopf, als ob er sich +vergewissern müsse, daß er noch lebe. + +»Nach meiner ersten Rede schon sagte mir Victor Geier: 'Das ist +politischer Selbstmord'. Als ich dann Bebel antworten wollte, wie es +nach seinem Angriff allein richtig gewesen wäre,« -- so hatte mich +Heinrich doch verteidigen wollen! -- »da haben sie mich alle bearbeitet, +haben im Namen des Parteiinteresses an mich appelliert, und ich war so +töricht, durch all die widerwärtigen Szenen so erschöpft, daß ich mich +wirklich unterwarf. Was nützte es?! Nichts! Der Skandal nahm seinen +Fortgang. Und auf der Strecke bleibe schließlich ich allein!« + +Einige Tage später kam Geier zu uns. Die erste Nummer der Neuen +Gesellschaft war eben in hunderttausend Exemplaren verbreitet worden. + +»Ich muß mit Ihnen reden, Genossin Brandt,« sagte er nach einer raschen +Begrüßung. »Sie haben sich, fern von Dresden, hoffentlich so viel kühle +Überlegung bewahrt, um eher Vernunft anzunehmen als Ihr Mann.« + +Und dann setzte er mir auseinander, was seiner Meinung nach geschehen +müsse. Zunächst habe sich Heinrich dem Schiedsspruch eines +Parteigerichts zu unterwerfen. + +»Vielleicht einem so objektiven Richter wie Bebel --,« warf ich bitter +ein. + +»Stehen Sie erst einmal am Ende der Laufbahn und müssen zusehen, wie +andere den ganzen Gewinn Ihrer Lebensarbeit in Frage ziehen!« rief Geier +heftig, um sich gleich darauf wieder zur Ruhe zu zwingen. »Ohne eine +Rüge wegen seiner Dresdener Rede wird es natürlich nicht abgehen,« fuhr +er fort, »im übrigen aber, dafür lege ich jetzt schon meine Hand ins +Feuer, werden sich alle Verleumdungen als solche erweisen, und Heinrich +wird nachher eine gesichertere Stellung haben als zuvor.« + +»Du weißt, daß ich die Einsetzung eines Schiedsgerichts in meinem +Wahlkreis bereits selbst veranlaßt habe,« unterbrach ihn mein Mann, +»wozu also das Gerede?! Komm lieber gleich zur Sache!« + +»Wie du willst,« antwortete Geier ruhig und wandte sich wieder mir zu. +»Er hat Sie, wie es scheint, von meiner anderen Forderung noch nicht +unterrichtet: das Erscheinen der Neuen Gesellschaft einzustellen.« + +Ich fuhr auf: »In diesem Augenblick sollen wir unsere einzige Waffe von +uns werfen?!« + +»Eine nette Waffe!« höhnte Geier. »Solange das Dresdener Spektakelstück +noch in aller Munde ist, werden vielleicht ein paar Dutzend Leute euer +Blatt kaufen. Aber über kurz oder lang bleibt euch von der Waffe nichts +mehr als eine zerbrochene Klinge.« + +»Wir haben schon ein kleines Vermögen in die Sache hineingesteckt --,« +murmelte ich mit gepreßter Stimme. + +»Kann mir's denken,« meinte Geier und kräuselte spöttisch die Lippen; +»vorsichtige Geschäftsleute seid Ihr offenbar nicht. Aber so rettet +wenigstens, was zu retten ist!« + +Heinrichs Gesicht hatte sich mehr und mehr gerötet. Jetzt blieb er dicht +vor Geier stehen. + +»Du benutzt unsere Notlage, um die Partei von einem revisionistischen +Blatt zu befreien,« zischte er ihn an. + +Mit einer heftigen Bewegung sprang Geier vom Stuhl und hieb mit der +Faust auf den Tisch: »Ich komme nach Berlin gereist, um euch einen +Freundschaftsdienst zu erweisen, und du begegnest mir so --. Stürze +dich denn meinetwegen kopfüber in dein Verderben --« Und hinaus war er. + +Wir gingen tagelang schweigsam nebeneinander her. Inzwischen fanden +überall Parteiversammlungen statt, die sich mit den Dresdener +Ereignissen und ihren Folgen beschäftigten. In den Angriffen auf die +Revisionisten, ganz besonders auf meinen Mann, übertrafen sie noch den +Parteitag. Und stets wurde vor der Zeitschrift gewarnt, mit der wir uns +»auf Kosten der Partei« bereichern wollten. Es gab keinen Ausweg mehr, +als sie zunächst aufzugeben. Wir hatten die Mittel nicht, um sie gegen +die herrschende Stimmung in der Partei durchzusetzen. + +»Alle freiheitlichen Elemente hatten sich am 16. Juni um Ihre Fahnen +geschart,« schrieb mir Romberg, »weil sie, von den bürgerlichen Parteien +im Stiche gelassen, bei der Sozialdemokratie den Schutz der +Geistesfreiheit, den Hort des Kulturfortschritts zu finden glaubten. +Dresden hat diesen Wahn zerstört, hat gezeigt, daß der Dogmatismus, die +Verfolgungssucht Andersdenkender, kurz die ganze Seelenverfassung der +Inquisitoren, nirgends in so krasser Form zu finden ist, als bei den +privilegierten Menschheitsbefreiern. Wir sind nun wieder vogelfrei. Und +Sie?!« + + * * * * * + +In der Nacht, nachdem unsere zweite und letzte Nummer erschienen war und +wir wieder schlaflos den huschenden Wolken draußen und der wachsenden +Mondsichel zusahen, sagte Heinrich zu mir: »Was meinst du, wenn ich +ginge?« + +Zuerst verstand ich ihn nicht, -- dann aber packte ich mit aller Kraft +seine beiden Hände und sah ihm mit stummem Entsetzen in das blasse +Gesicht. + +»Ich warnte dich schon einmal, -- vor Jahren,« fuhr er leise und langsam +fort. »Ich bringe Allen Unglück, -- dir, -- der Partei. Mir scheint, ich +habe hier nichts mehr zu tun.« + +Ich stammelte in heller Angst tausend Liebesworte, ich schmiegte mich an +ihn, als ob ihm aus meiner Lebenswärme Lebensmut zuströmen könnte. Aber +er blieb ernst und fest und wußte immer neue Gründe nicht nur für die +Berechtigung, sondern für die Notwendigkeit seiner Absicht vorzubringen. + +Nach alter Gewohnheit pochte morgens unser Bub an die Türe und sprang +herein, ohne unsere Aufforderung abzuwarten. Es war das erstemal nach +seiner Krankheit, daß er so früh schon aufstehen durfte. Er kletterte +eilig auf Heinrichs Bett und sah ihn an, halb überrascht, halb +erschrocken. Mit jenem rätselvollen Scharfblick des Kindes schien er das +Fremde, Dunkle erkannt zu haben, das von der Seele seines Vaters Besitz +ergriffen hatte. Er legte ihm das Händchen auf den Kopf; »so hat Mama +auch gemacht, wie ich krank war,« erzählte er wichtig, und dann küßte +und streichelte er »den lieben, guten Papa«, bis sich doch noch ein +Lächeln um dessen festgeschlossene Lippen stahl. + +»Hast du wirklich hier nichts mehr zu tun?!« fragte ich leise, als der +Kleine wieder davongelaufen war. »Soll dein Sohn einmal von dir glauben +müssen, daß du dich feige davonstahlst?!« + +Er drückte mir die Hand, fest und lang. Ich wußte: wenn die Gespenster +der Nacht auch nicht auf immer gebannt waren, so würden sie doch keine +Macht mehr gewinnen über ihn. + + * * * * * + +Die Schiedsgerichts-Verhandlungen zogen sich wochenlang hin. Es war eine +seelische Folter für meinen Mann, und wenn er nach Hause kam, gab ich +mir alle Mühe, ihn nicht merken zu lassen, wie ich selber litt. + +Draußen entwickelte sich wieder in der alten Weise der politische Kampf: +Radikale und Revisionisten arbeiteten scheinbar einmütig zusammen. Es +galt diesmal den Landtagswahlen. Mich rief niemand zu Hilfe. Zu keiner +der zahllosen Versammlungen forderte man mich auf. Ich war die +Gezeichnete. Und nirgends schien eine Lücke entstanden, weil ich fehlte. +Ich war wie die Welle, die im Meere aufsteigt und zurücksinkt, ohne eine +Spur zu hinterlassen. + +Zuweilen trafen wir mit unseren politischen Freunden zusammen, -- +zufällig nur, denn die Revisionisten schienen sich nach Dresden noch +mehr aus dem Wege zu gehen, als vorher. Einmal kamen wir in eine +ernstere Unterhaltung, und ich verurteilte unumwunden ihre Annahme der +Dresdener Resolution. + +»Mir ist es sogar fraglich,« sagte ich, »ob ihre Ablehnung nicht von +einem gemeinsamen Austritt aus der Partei hätte begleitet werden +müssen.« Aber ich stieß auf allgemeinen Widerspruch. + +»Damit hätten die Radikalen erreicht, was sie wollten,« rief der eine. + +»Wegen einiger Gegensätze in taktischen Fragen werden wir doch die +Partei nicht im Stiche lassen,« sagte der andere. + +»Es wäre nichts als Fahnenflucht,« erklärte einer der Gewerkschafter. + +»Und wir würden zurückbleiben, als Offiziere ohne Armee,« meinte mein +Mann. Ich ließ mich nicht überzeugen. + +»Sie haben trotz allem Bekenntnis zum historischen Materialismus aus der +Geschichte nicht allzu viel gelernt,« entgegnete ich. »Noch immer ist +die Entwicklung die gewesen, daß eine große Bewegung aus sich heraus +neue Bewegungen zeugt, deren Träger zunächst nichts sind als ein paar +Vorläufer, als Offiziere ohne Armee. Und was nun gar die Gegensätze +betrifft, so glauben Sie doch nicht ernsthaft an ihre Geringfügigkeit.« + +»Nein,« antwortete einer der anderen, »aber ich glaube, und habe nach +unserer bisherigen Entwicklung ein Recht dazu, daß unsere Ideen sich im +Proletariat von unten herauf durchsetzen. Wir schließen +Lohntarif-Verträge mit den Unternehmern, und niemand zeiht uns deshalb +eines Vertuschens der Klassengegensätze; wir arbeiten in den Gemeinden, +in den Landtagen, und keiner wagt uns deshalb wegen des Paktierens mit +der bürgerlichen Gesellschaft anzuklagen. Unsere Genossenschaften fangen +an, wie unsere Gewerkschaften zu einer wirtschaftlichen Macht zu werden, +und kein Radikalinski hat uns noch vorgehalten, daß das gegen die +Zusammenbruchstheorie verstößt und wir damit bis zum großen +Kladderadatsch warten müßten.« + +Ich schwieg. Der Mann der praktischen Arbeit mochte gegenüber meinen +unklaren Theorien doch wohl recht haben. + + * * * * * + +Kurz vor Weihnachten legte das Schiedsgericht von Frankfurt-Lebus dem +Parteitag des Kreises die Resultate seiner Untersuchungen vor, und die +Genossen erteilten ihren Abgeordneten daraufhin einstimmig das +Vertrauensvotum. + +»Und du freust dich gar nicht?!« sagte mein Mann, als er nachts aus +Platkow zurückkam, wo die Versammlung stattgefunden hatte. + +»Gewiß freue ich mich, -- aber im Grunde ist doch das alles +selbstverständlich und macht das Geschehene nicht ungeschehen,« +antwortete ich und dachte an die Zeitschrift, mit der wir unsere +Aufgabe, wie mir schien, geopfert hatten, an die ungesühnte Kränkung, +die noch immer wie eine schwärende Wunde an mir fraß, an das +verstümmelte, beschmutzte Bild der Partei, das einst in so leuchtenden +reinen Farben vor mir gestanden hatte, an die große Flamme meiner +Liebesleidenschaft, die über dem Aschenhaufen nur noch leise glimmte. + +Aus meines Mannes Wahlkreis wurde ich wieder zu Vorträgen aufgefordert. +Seltsam genug: es gab noch Genossen, die mir vertrauten, obwohl der +erste unter ihnen mich für ehrlos erklärt hatte! In diesen Kreisen +schien das Verständnis für eine Empfindung zu fehlen, die eine +Reminiszenz an meine aristokratische Herkunft sein mochte, und offenbar +zu jenen »Eierschalen der Vergangenheit« gehörte, über die in der Partei +so oft gespottet wurde. Aber wenn auch die anderen alle darüber +hinwegsehen konnten, ich konnte es nicht. Ich lehnte ab. Meine +Zurückhaltung wurde falsch gedeutet. Meine Bemerkung über den Austritt +aus der Partei mochte irgendwie durchgeackert sein. Ich sah, daß ich die +Stellung meines Mannes, die trotz des Vertrauensvotums eine schwierige +geblieben war, noch mehr erschwerte. Und ich hatte mir vorgenommen, ihm +nach wie vor ein treuer Kamerad zu bleiben. + +»Sie können wieder über mich verfügen,« schrieb ich nach Frankfurt und +stürzte mich in die Arbeit, von der ich hoffte, daß sie sich als +Morphium für die Schmerzen meiner Seele erweisen würde. Und so lange ich +am Schreibtisch über den Zeitungen und Broschüren saß, hielt sie, was +ich von ihr erwartet hatte. + + * * * * * + +Die Ereignisse schienen mit besonderem Eifer dafür zu sorgen, daß wir +nicht im Bruderzwist aufgehen konnten. Der Riesenstreik der +Textilarbeiter von Crimmitschau, die nun schon seit Wochen mit einer +Ausdauer ohnegleichen um den Zehnstundentag kämpften und dem lockenden +Gold der Unternehmer ebenso standhielten wie den Verfolgungen der +Polizei, ließ uns fühlen, daß wir gegen den Feind so einig waren wie +immer. Und die russische Revolution, die wie ein vom Sturm gepeitschter +Brand von einem Ende des Riesenreichs zum anderen übersprang, entzündete +in uns allen eine Hoffnung, als ginge der Stern der Menschheitserlösung +nun wirklich im Osten auf. Daß Preußen-Deutschland sich zum +Schleppenträger des Zarismus erniedrigte, daß russische Polizisten im +Verein mit den unseren die russischen Gäste der Hauptstadt verfolgen +konnten, daß ein Minister die Reichstagstribüne benutzte, um die +russischen Studenten der Berliner Universität samt und sonders als +Anarchisten zu verdächtigen und ihre weiblichen Kollegen der +Unsittlichkeit zu zeihen, daß der Reichskanzler von ihnen als von +»Schnorrern und Verschwörern« sprach, -- das löste einen Schrei der +Entrüstung aus. Die Partei stand wieder auf dem Posten als die einzige, +die leidenschaftlichen Protest erhob. Und wenn die politischen +Ereignisse nicht auszureichen schienen, um das Bewußtsein ihrer +Zusammengehörigkeit in den Genossen aufs neue zu festigen, so sorgten +unsere Gegner dafür. Sie schufen den Reichsverband zur Bekämpfung der +Sozialdemokratie, aber die Kette, die sie schmiedeten, um uns damit zu +fesseln, verband uns nur. + +Ich sah das alles. Ich schöpfte Hoffnung daraus nicht nur für den Kampf +nach außen, sondern auch für die innere Entwicklung, die um so kräftiger +zu sein pflegt, je unbeachteter sie ist. + +Aber als ich zum erstenmal wieder in Frankfurt auf die Rednertribüne +trat und all die vielen Augen sich auf mich richteten, da versagte meine +Kraft. Das Blut brannte mir in den Wangen; -- sahen die Menschen mir +den Schlag nicht an, den ich empfangen hatte?! Und ich fühlte +feindselige Blicke, spöttisches Lächeln, ich sprach wie gegen ein Tor +von Erz. Meine Zuhörer blieben kalt. + +»Was fehlte dir nur?« fragte Heinrich mich kopfschüttelnd. Ich gab eine +ausweichende Antwort. + +Noch ein paarmal machte ich ähnliche Versuche. Von nervöser Aufregung +geschüttelt, die mir sonst fremd gewesen war, trat ich schon vor die +Versammlung. Und dann sprach ich, daß ich mich selbst nicht wieder +erkannte. + + * * * * * + +»Laß mich eine Zeitlang irgendwo zur Ruhe kommen,« bat ich eines Tages, +mit den Tränen kämpfend, meinen Mann, der in mich drang, ihm die Ursache +meiner tiefen Verstimmung anzuvertrauen. »Das alles war ein wenig viel +für mich ...« + +Er stimmte mir ohne Besinnen zu. »Wenn es nichts weiter ist, als daß du +Ruhe brauchst!« sagte er aufatmend und entwarf mir die schönsten +Reisepläne. »Ich würde dir den Weg auf den Mond bahnen wollen, wenn ich +sicher wäre, daß meine Alix wieder gesund und froh würde.« Und in alter +Zärtlichkeit zog er mich an sich. + +Doch ich wollte weder auf den Mond, noch nach Italien, noch an die See. + +»Ich möchte nach Grainau --,« bat ich zaghaft, denn ich wußte, es regte +sich immer eine leise Eifersucht in ihm, wenn die Sehnsucht mich dorthin +trieb, wo so viele Erinnerungen geweckt wurden. »Ilse weiß von Tante +Klotilde, daß sie diesen Sommer in Augsburg bleibt, -- die Bahn ist also +frei, und ein Zimmer find' ich schon irgendwo für mich und den Kleinen.« + +»Der Bub soll mit?« fragte er mißbilligend. »Dann hast du ja keine +Stunde Ruhe!« + +»-- Ich hätte keine, wenn er nicht bei mir wäre,« antwortete ich. + +Eine Woche später fuhren wir den Bergen entgegen. Ich biß mir die Lippen +wund, um die Tränen zu unterdrücken, als ich im blauen Dunst der Ferne +die ersten weißen Spitzen aufsteigen sah. Wie hatte ich so lange leben +können ohne sie! + +Es war früh im Jahr. In Garmisch fingen sie gerade an, die Betten zu +lüften und die Fenster weit aufzureißen. Vier Wochen noch, dann kamen +erst die Fremden. Jetzt war's so still! Kein Radler, kein Wanderer +begegnete uns auf dem Wege nach Grainau. Die Wiesen standen voll bunter +Frühlingsblumen, voll goldgrüner Spitzen die Bäume, und aus dem Walde +kam der erste süße Maiblumenduft. + +Im Dorf, hinter dem Kirchlein, wo der Weg empor zum Eibsee führt, stand +ein neues blitzblankes Haus mit einer großen himmelblauen Madonna in der +Mauernische. Der Hof vom Bärenbauern sah daneben ganz alt und +griesgrämig aus. + +»Bä-cke-rei,« buchstabierte mein Junge, der auf seine Lesekünste sehr +stolz war; »hurra! -- da gibt's immerzu weiße Brötchen,« rief er und +machte einen Luftsprung -- Semmeln waren sein Leibgericht, »-- dahin +ziehen wir!« + +Und schon lief er am Gartenzaun entlang, mit dem großen schwarzen Hund +dahinter um die Wette. In der Tür erschien der Meister, dicht hinter +seinem breiten Rücken lugte neugierig der kleine Lehrling hervor, beide +mehlbestaubt, und an ihnen vorbei trat grüßend, den gewichtigen +Schlüsselbund über der weißen Schürze, die blonde Hausfrau. Eben erst +hatten sie das Haus gebaut, erzählte sie lebhaft, als wir die +blankgescheuerte Treppe hinaufstiegen, und schon hätten sie die +Kundschaft der ganzen Gegend. An der »feinen« Wohnung im ersten Stock +gingen wir vorüber, trotz der neuen städtischen Möbel, die sie uns +anpries. + +»Hier droben in den Stuben steht halt nur der alte Bauernkram,« meinte +sie entschuldigend und stieß die Türe auf. Ein blauer Schrank mit roten +Herzen darauf, eine alte Pendeluhr mit blumenbestreutem Zifferblatt und +einem kreuztragenden Christus darüber, eine breite gewichtige Truhe voll +bunter Heiligenbilder lachten uns an, wie die Wiesen draußen, so +farbenfroh. Einem Vogelnest ähnlich hing ein kleiner Balkon vor der +Glastür, und durch die Fenster guckte der Waxenstein mit seinem faltigen +Felsengesicht. + +»Da bleiben wir,« sagte ich, und mein Junge lief durchs Haus in den +Garten, und den Hügel hinauf zum Wald und wieder hinunter auf die Wiese, +als müsse er von allem ringsum Besitz ergreifen. + +Wie gut es war, wieder schlafen zu können und die müden Augen in lauter +Grün und Blau gesund zu baden! Von den Bauern im Dorf erkannte mich +keiner. Nur der Sepp, mein alter Spielkamerad, rückte mit einem +flüchtigen Aufblitzen des Erkennens in den Augen an seinem verblichenen +grünen Hut. Morgens, während mein Junge sich unten am See aus Moos und +Steinen einen kunstvollen Hafen baute, saß ich auf der alten Bank, dem +Rosenhaus gegenüber, das sich mit seinen geschlossenen Läden und +blumenlosen Altanen still und verzaubert im grünen Wasser spiegelte. +Alle Rosenbüsche vor der Terrasse waren fort. + +»Letzten Herbst hat die alte Frau Baronin sie ausgraben lassen,« +erzählte meine Hausfrau. »Sie wird wohl nimmer wiederkommen,« fügte sie +hinzu. + +»Warum nicht?!« fragte ich erstaunt. + +»Schon wie sie wegfuhr, war sie nicht zum Erkennen. Auch so arg brummig +und bös. Der alte Doktor von Garmisch meint, sie macht's nimmer lang.« + +Ich erschrak. Von ihrer Krankheit wußte ich, aber nicht, daß es so +schlimm um sie stand. + +»Das Fräulein von Kleve ist allweil um sie, Tag und Nacht,« berichtete +die kleine blonde Frau weiter, die froh war, wenn sie schwatzen konnte, +»aber die Theres', die alte Köchin, hat mir kurz vor der Abreis' noch +erzählt, daß die Frau Baronin Herzweh hat nach einer anderen,« -- dabei +traf mich ein neugierig-forschender Blick -- »einer, die sich grad so +schreibt, wie Sie --« + +Ich antwortete nicht ... Mit meiner Ruhe war es wieder vorbei. Alles +wurde lebendig, was unter diesen Buchen, an diesem See, angesichts +dieser Berge an Haß und Liebe, an Sehnsucht und Verzweiflung, an +Trennungsweh und Zukunftshoffnung geweint und gejauchzt, geseufzt und +gelächelt hatte. Ich war nie mehr allein, und es war nie mehr still um +mich. Wo ich ging und stand, -- meine ganze Vergangenheit umringte mich, +und wenn ich schlafen wollte, flüsterte es mir ins Ohr: anklagend, +höhnend, drohend. + +Eines Vormittags, -- ich saß wieder am alten Platz, mit dem Buch im +Schoß und sah zu dem toten Haus hinüber, -- kam der Bub vom Bärenbauern +mir nachgelaufen: + +»A Depeschen wär da für Sie --« Ich riß sie ihm aus der Hand, sie +bestätigte nur, was ich erwartet hatte: »Baronin Artern heute morgen +verschieden. Ihr sofortiges Kommen erwünscht.« + +Wir reisten noch am selben Tage nach Augsburg. Mich erfüllte nur ein +Gefühl: daß ich ihr viel zu verdanken hatte und sie im Kummer um mich +gestorben war. + +In voller Sommerpracht blühte der Garten um das schöne Haus. Weinend +empfing mich die Theres'. + +»Warum sind's bloß nit a Wochen früher gekommen --,« sagte sie immer +wieder. Ich vertraute meinen Sohn ihrem Schutz. »Du herzig's Buberl,« +schluchzte sie, »wenn die Frau Baronin nur dich gekannt hätt'!« Ich fing +an zu begreifen, und jetzt erst fiel mir ein, daß der Tod dieser Frau +meines Sohnes ganze Zukunft sichern sollte. + +Einen Augenblick lang fröstelte mich. Aber nein: wie konnt' ich nur +zweifeln, -- auch die alte Theres' sah in ihrer Liebe zu mir nur +Gespenster. Meinem Vater hatte die Tote ihr Wort verpfändet. Ich wandte +mich zur Treppe. + +»Gnä' Frau wollen doch nicht --,« rief die Theres' und griff nach meinem +Arm. + +»Selbstverständlich,« antwortete ich und nahm den Strauß frischer +Maiglöckchen vom Grainauer Wald aus ihrer Hülle. + +»Sie sind alle oben, -- die Herren Leutnants und das Fräulein,« +flüsterte sie ängstlich. + +Ich warf den Kopf zurück und richtete mich gerade auf. »Hier bin ich zu +Hause gewesen, nicht sie,« sagte ich laut und schritt die Stufen empor. +Hinter der Türe des Eßzimmers hörte ich Stimmengewirr. + +»Sie wird nicht kommen --,« sagte einer. Ich trat ein. Wie vor einer +Geistererscheinung sprangen sie von den Stühlen, meine Vettern und +Basen, die sich hier häuslich niedergelassen hatten. Ich ging ohne Gruß +an ihnen vorüber, durch die Flucht der Zimmer mit ihren kostbaren +Teppichen und seidenen Möbeln, die mir alle so lebendig schienen, so +vollgesogen von Vergangenheit. Im Musiksaal, vor der letzten Türe +zögerte ich. Mir klang in den Ohren, was die Tote vor Jahrzehnten aus +diesem Flügel hervorgezaubert hatte. Ich war ein Kind gewesen damals; +die Töne waren an mir vorbeigerauscht; jetzt erst verstand ich sie: +wieviel Leidenschaft, wieviel ungestillte Sehnsucht hatte das Herz der +Frau bewegt, die nun auf immer verstummt war. + +Sie lag aufgebahrt, vom betäubenden Duft unzähliger Blumen umgeben, auf +ihrem Lager. Ich stand wie erstarrt. Ich konnte nicht in die Kniee +sinken und nicht den Blick losreißen von ihr: das war sie doch gar +nicht, -- das war eine Fremde! Nie hatte ich um ihren Mund diesen +grausamen Zug gesehen und auf ihrer Stirn diese vielen finsteren Falten. +Die ich gekannt hatte, die mich liebte, war eine andere gewesen. Ich +hielt den Strauß Maiglöckchen noch in der Hand, als ich das Haus +verließ. + +Wir geleiteten sie zu Grabe. All jene alten augsburger Familien mit den +berühmten Namen und unberühmten Nachkommen folgten ihrem Sarge. Aber vor +der dunkeln Pforte des Erbbegräbnisses der Artern weinten von allen, die +es umgaben, nur zwei: die alte Theres' und ich. Und von denen, die mir +einst nahe gestanden hatten, grüßte mich nur einer: mein alter Lehrer, +der Pfarrer. + +Er besuchte mich am Nachmittag im Hotel, und erzählte mir von seinem +letzten Zusammensein mit der Verstorbenen. Vor kaum zwei Monaten war es +gewesen; sie hatte ihn zu sich bitten lassen, um von mir zu sprechen. + +»Sie hat Ihretwegen mehr gelitten, als sie sich merken ließ,« sagte er. + +»Meinen Sie?!« fragte ich zweifelnd und dachte an das fremde Gesicht, +das ich auf dem Totenbett gesehen hatte. + +»Ich bin dessen sicher,« antwortete er; »sie wird es Ihnen auch noch +beweisen,« fügte er bedeutungsvoll hinzu. + +Dann kam ihr Bankier, um mir über den Zeitpunkt der Testamentseröffnung +Mitteilung zu machen. »Frau Baronin hat mich ausdrücklich beauftragt, +Sie, als ihre Haupterbin, um Ihre Anwesenheit zu ersuchen,« erklärte er. + +Etwas wie Freude begann heimlich von meinem Herzen Besitz zu ergreifen, +und Dankbarkeit löschte alle Erinnerung an die grausamen Züge der Toten +aus. Sie hatte mir, da sie lebte, oft bitter weh getan, und nun nahm sie +die schwere Sorgenlast des Lebens auf einmal von mir! + +Es kränkte mich, daß die Theres' mich so mitleidig ansah. + +»Ich weiß, was ich weiß --,« sagte sie, »die da oben --« und sie ballte +die Faust nach dem Zimmer, wo die Kleves mit dem Testamentsvollstrecker +verhandelten, »-- waren immer bei ihr, -- ich hab' oft genug gehört, +wie sie von Alix Brandt erzählten --.« + +Acht Tage später versammelten sich die Erben zur Testamentseröffnung im +Gerichtsgebäude. Ein nüchterner Raum mit kahlen Wänden. Kastanienbäume +vor den Fenstern, durch die kein Sonnenstrahl drang. An den Pulten der +grauköpfige Richter, der krumme Schreiber. Auf den steifen Stühlen wir +alle in schwarzen Kleidern. Zwei Schriftstücke aus verschiedenen Zeiten +wurden verlesen. Das erste entsprach der Mitteilung ihres Bankiers. Das +zweite, -- sie hatte es sechs Wochen vor ihrem Tode auf dem Krankenbett +geschrieben, -- enthielt nur ein paar Zeilen: »Hiermit enterbe ich meine +Nichte, Frau Alix Brandt, geborene von Kleve, weil sie in Wort und +Schrift der Umsturzpartei dient.« + +Es wurde ganz still im Zimmer. Die Köpfe all derer, die neben mir saßen, +senkten sich; mich aber überkam ein Gefühl des Triumphes. Mit fester +Hand setzte ich als Erste meinen Namen unter das Protokoll und verließ +das Zimmer, an den anderen vorbeigehend, die scheu zur Seite wichen, +erhobenen Hauptes. + +Jetzt war meiner Überzeugung auch das letzte zum Opfer gefallen. Die +Schmach von Dresden war ausgewischt. Das Schicksal selbst zwang mich auf +meine eigenen Füße. Nun war ich stark genug, allein zu gehen. + + + + +Fünfzehntes Kapitel + + +Draußen auf dem Asphalt brannte die Sommersonne. Ein Geruch von Pech und +Staub erfüllte die gewitterschwere Luft. In dem dunkelsten Winkel einer +jener öden Straßen Berlins, die keine anderen Farben haben als die +grellbunten der Firmenschilder, die kein neugierig flanierendes Publikum +kennen, weil ihnen die Anziehungskraft glänzender Schaufenster fehlt, +hatte der Sommer sein ganzes Füllhorn ausgeschüttet: Ein enger Hof war +zum Blumenteppich geworden, eine graue Eingangshalle zum Laubengang. Und +öffnete sich die Doppeltür des hohen Gebäudes dahinter, so schlug +Sommerblumenduft dem Eintretenden entgegen. War er von der nüchternen +Straße in einen Palast geraten? Zwischen blühenden Büschen standen weiße +Bänke, auf den Tischchen davor rote Rosen in Gläsern von geschliffenem +Kristall. Eine Flucht fürstlicher Räume schloß sich daran, mit weichen +Teppichen auf dem Estrich und Gobelins an den Wänden und tiefen Sesseln +vor den Kaminen. Frauenbildnisse hingen in den langen Galerien daneben; +ein Rascheln und Knistern von Frauenkleidern, ein Wispern und Flüstern +von Frauenlippen war darin. In den großen Sälen saßen dicht gedrängt von +früh bis spät lauter Frauen und lauschten mit sehnsüchtigen Augen und +heißen Wangen den Rednerinnen, die ihnen vom Kampf und Sieg, vom +Wünschen und Hoffen ihres Geschlechts erzählten. + +Das Weltparlament der Frauen tagte hier. Während acht Tagen wurde in +vier Sektionen zugleich verhandelt. Kunst und Wissenschaft, Erziehung +und Unterricht, Recht und Sitte -- nicht ein Gebiet, das das Leben des +Weibes berührt, blieb unerörtert. Die Großen sprachen und die Kleinen, +die Vorsichtigen und die Draufgänger, die Weiten und die Engen. Es war +eine Revue der Frauenbestrebungen, ein neutraler Boden für alle +Richtungen, eine freie Bahn, um einander kennen zu lernen. Nur die +Sozialdemokratie Deutschlands hatte sich selbst ausgeschlossen, obwohl +die Leitung des Kongresses ihr alle Referate über die Arbeiterinnenfrage +hatte überlassen wollen und ihr damit die Gelegenheit geboten worden +wäre, das Elend der Massen zu schildern, das sonst in diese Säle keinen +Eingang fand, und die Lehren des Sozialismus zu verkünden, die die +Hunderte und Tausende, die hierher kamen, nur in den Zerrbildern seiner +Gegner gesehen hatten. + +Vor acht Jahren hatte ich mich diesem Beschluß gefügt: die christliche +Idee der notwendigen Einheit von Glaubensdienst und Selbstaufopferung, +die ich durch ein Leben der Selbstbehauptung glaubte überwunden zu +haben, hatte in dem Augenblick wieder von mir Besitz ergriffen, wo ich +mich der Sozialdemokratie anschloß. Die »Sache« war die mystische Macht +gewesen, die über mir gestanden hatte. Sie war bei mir, wie bei +Hunderttausenden meiner Genossen, -- als wolle Gott, der von uns +verlassene, sich an uns rächen, -- an seine Stelle getreten. Nun aber +war der Bann gebrochen. Daß ich den zur Hochburg der Frauen verwandelten +Musikpalast Berlins betrat, war ein erstes Zeichen innerer Befreiung. + +Ich sprach überall, wo die Interessen der Arbeiterinnen zur Debatte +standen. Und allmählich strömten die Frauen mir nach, wenn ich von einem +Saal zum anderen ging, und manche Diskussion, manche persönliche +Unterhaltung bewies mir besser als Beifallssalven, die oft nur der +Freude an der Sensation gelten mochten, daß der Samen des Sozialismus +auf guten Boden gefallen war. Gewiß, solche Wirkungen lassen sich nicht +messen, sie kommen nicht in den Zahlen der Partei- oder +Gewerkschaftsmitglieder zu sichtbarem Ausdruck, aber auch sie rufen in +Haus und Schule, in Gesellschaft und Staat jene Kräfte hervor, die von +innen heraus an der allmählichen Umwandlung der Geistesrichtung der +Menschen tätig sind. Während ich hin und herging und diese und jene +hörte, sah ich wie groß die Wandlung schon war, die die Frauenbewegung +im Laufe des letzten Jahrzehnts durchgemacht hatte. + +Damals hatten sie sich vor mir gefürchtet, als ich in ihrem Kreise der +Sozialdemokratie Erwähnung tat, heute stimmten die meisten von ihnen in +ihren wesentlichen Gegenwartsforderungen mit denen der Partei überein. +Damals war es innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung eine vereinzelte +Tat gewesen, als ich das Frauenstimmrecht in öffentlicher Versammlung +forderte, heute wurde in den Mauern Berlins der Bund für +Frauenstimmrecht gegründet So ging es doch vorwärts, auch da, wo meine +Parteigenossen nichts als Stillstand sahen, nichts anderes bemerken +wollten, weil sie meinten, den dunkeln Hintergrund einer einheitlichen +Reaktion nötig zu haben, um sich selbst in um so hellerem Licht zu +sehen, statt auch aus leisen Tönen den Siegesmarsch des Sozialismus +herauszuhören. Mein Mann hatte ein wenig spöttisch den Mund verzogen, -- +zu einem wirklichen Lächeln kam es bei ihm kaum mehr, -- als ich an dem +Kongreß teilnahm. + +»Du bist ein Trotzkopf,« hatte er gesagt; »du übersiehst in dem Eifer, +mit dem du dich dem Beschluß der Genossinnen entgegenstemmst, die +Folgen, die solch eine Handlungsweise für dich haben kann. Man wird dich +vollends boykottieren.« + +Ich zuckte die Achseln. + +»Solltest du wirklich schon so weit über den Dingen stehen?!« fragte er +zweifelnd. Ich wandte mich ab. Er sollte nicht sehen, daß ich schwächer +war, als ich mich zeigte. + +Als ich sichtlich erfrischt aus den Verhandlungen nach Hause kam, meinte +er unmutig: »Vor acht Jahren gefielst du mir besser als jetzt, wo du +dich freust, weil dieselben Leute dir Beifall klatschen, die damals +sittlich entrüstet waren --« + +Ich unterbrach ihn heftig: »Wie kannst du mich so mißverstehen! -- +Gewiß, ich bin nicht von Stein, ich freue mich, wenn ich höre, wie die +Ideen meiner 'Frauenfrage' Verbreitung gefunden haben, ich +freue mich, daß die Mutterschaftsversicherung, daß selbst die +Haushaltungs-Genossenschaft aus dem Stadium des Bewitzelns in das +ernster Erörterung getreten ist, und ich leugne auch gar nicht, daß +Anerkennung mir wohl tut, als tröpfle mir jemand ein schmerzstillendes +Mittel in eine unheilbare Wunde, -- aber das Alles ist doch nicht die +Ursache meiner Befriedigung. Mein Glaube an die Entwicklung im Sinne des +Sozialismus ist das einzig Feste, was mir noch nach all dem +Zusammenbruch geblieben ist. Wenn ich nur das Geringste entdecke, was +ihn zu stützen, zu kräftigen vermag, so macht mich das stärker.« + +»Du bist doch noch sehr jung und sehr bescheiden!« warf Heinrich ein. +Ich unterdrückte einen Seufzer. Seine morose Stimmung war imstande, jede +Spur erwachter Freudigkeit wieder zu zerstören, wie der Fluß, wenn er im +Frühjahr aus seinen Ufern tritt, mit öder weiter Wasserfläche die +blühenden Wiesen bedeckt. Ich fühlte, wie auch meine Arbeitskraft +darunter litt, wie Gedanke und Gefühl erstarrten, sobald sie in die +eisige Atmosphäre seiner Deprimiertheit gerieten. + +Leise, unmerklich zunächst und doch von Tag zu Tag mehr, löste ich mich +von ihm. Das Problem der Ehe wuchs, eine üppige Schlingpflanze, und +drohte zu überwuchern, was noch an Liebe zu blühen verlangte. + + * * * * * + +Für die Frauenbewegung war der Kongreß neuer Wind in die Segel gewesen. +Alle Fragen, die sie umfaßte, standen wieder im Mittelpunkt der +öffentlichen Diskussion. Das Für und Wider wurde leidenschaftlich +erörtert, und in der konservativen kirchlichen Presse erhoben sich +lauter als früher die Stimmen derer, die mit dem Feldgeschrei: Erhaltung +der Ehe und der Familie! den Emanzipationsbewegungen des weiblichen +Geschlechts gegenübertraten. In einer Versammlung, die von einem der +bürgerlichen Frauenvereine einberufen worden war, sollte diesen +Angriffen begegnet werden. Ich ging hin. Mehr aus Neugierde, und weil es +mich belustigte, daß lauter ehelose alte Mädchen sich für berufen +hielten, über diese Probleme zu urteilen, als in der Absicht selbst zu +sprechen. + +Die Referentin verteidigte zuerst die Frauenbewegung als die Begründerin +eines neuen, schöneren, festeren Ehe- und Familienlebens: + +»Gerade der Bund zwischen zwei gleichen, geistig und sittlich gereiften +Menschen ist der glücklichste, dauerndste,« sagte sie. »Der Mann wird in +der Frau nicht mehr nur die Geliebte, die Mutter seiner Kinder sehen, +sondern eine Kameradin, die seine Interessen teilt und fördert. Das +Familienleben wird sich dadurch erneuern, denn der Mann braucht nicht +mehr außerhalb seines Hauses geistiger Anregung, geistigem Austausch +nachzugehen...« + +Mich reizte der salbungsvolle Ton, mit dem sie sprach, und die Art, wie +sie die Wogen der Frauenbewegung durch das Öl unbeweisbarer +Prophezeiungen zu besänftigen suchte. Ich meldete mich zum Wort. + +»All Ihre schönen Argumente,« rief ich aus, »beruhen auf einem +Trugschluß: der Instinkt der Sinne ist doch nicht identisch mit dem +geistigen Verständnis! Nichts gibt die Gewähr dafür, daß zwei geistig +reiche Individualitäten, die einander in heißer Liebe begehren, nun auch +mit all den feinen Regungen ihres Seelen- und Geisteslebens +zusammenstimmen, Regungen, die um so differenzierter sind, je höher +entwickelt der Einzelne ist. Und wer vermag zu sagen, ob nicht trotz +geistiger Übereinstimmung die Liebe erkaltet oder sich auf einen anderen +Gegenstand richtet? Denn auch die Liebesgefühle und das Liebesbegehren +ist vielgestaltiger, differenzierter geworden und nicht mehr so leicht +und so unbedingt zu befriedigen ... Nein, meine Damen, lassen Sie sich +nicht einlullen durch falsche Prophezeiungen, sammeln Sie vielmehr Ihre +Kräfte durch die klare Erkenntnis neuer Probleme. Mit dem durch die +Angst um die Gefährdung alten geliebten Besitztums geschärften Spürsinn +des Feindes haben die Gegner bald empfunden, was ihnen droht: Je mehr +sich das Weib zur selbständigen Persönlichkeit entwickelt, mit eigenen +Ansichten, Urteilen und Lebenszielen, desto mehr ist die alte Form der +Ehe bedroht. Ihr Glück beruhte nicht auf Gleichheit, sondern auf +Unterordnung, nicht auf Arbeitsgemeinschaft, sondern auf Arbeitsteilung. +Für den Mann war die Ehe von einst, an der Seite einer von den Kämpfen +der Zeit unberührten, nur der Sorge des Hauses lebenden Gattin, der +Hafen der Ruhe. Heute findet er daheim neben der ihm geistig +ebenbürtigen Frau dieselbe Nervosität, dasselbe geistig angespannte +Leben wie draußen. Für die Frau war er das einzige Symbol alles äußeren +Lebens, allein von ihm empfing sie gläubig die Botschaften der Welt, die +Ansichten und Urteile über sie. Jetzt kennt sie das Leben aus eigener +Anschauung, sie denkt selbständig, sie übersteht ihn vielfach; sie +findet in ihm so wenig den Schöpfer ihres inneren Lebens, als er in ihr +die Quelle der Ruhe und des Behagens findet. Was früher einte: das +Zusammenleben, kann heute schärfer trennen, als jede äußere Trennung es +vermag ... Es kommt aber auch gar nicht darauf an, daß wir mit heißem +Bemühen die Ehe retten; mag sie an der Entwicklung zerschellen, wie +manche andere Lebensform, wenn nur der Kern erhalten bleibt: die Liebe.« + +Man hatte mir mit steigender Erregung zugehört. Ich sah, wie eine Frau +nach der anderen sich mit hochrotem Gesicht zum Worte meldete. Sie +überfielen mich förmlich. Als eine Vertreterin der freien Liebe, eine +mit deren Ideen ihre Begebungen nicht das mindeste zu tun hätten, +griffen sie mich an. + +»Ihre Verteidigung nützt Ihnen nichts,« antwortete ich nochmals. »Die +ersten Träger einer Entwicklung sind nur in seltenen Fällen zugleich die +Propheten ihrer letzten Konsequenzen gewesen. Als Luther seine 93 Thesen +an die Schloßkirche zu Wittenberg schlug, glaubte er, die Zyklopenmauer +der katholischen Kirche, die hier und da abzubröckeln begann, fester +aufzubauen. Als Montesquieu seinen 'Esprit des lois' und Rousseau seinen +'Emile' schrieb, glaubten sie einige dunkle Gebiete des Staats und der +Gesellschaft aufzuhellen. Keiner von ihnen wußte, daß sie die +Brandfackel in das ganze Gebäude warfen. Auch Sie propagieren Reformen +und werden zu Trägern der Revolution...« + +Als ich geendet hatte, kämpfte lautes Zischen mit vereinzeltem Beifall; +als ich aber den Saal verließ, leuchteten mir aus jungen Gesichtern +dankerfüllte Blicke entgegen; es war nicht nur mein eigenes Erleben +gewesen, das ich in Worte gefaßt hatte. + +An der Türe traf ich meinen Mann, der mir, ohne daß ich es wußte, +gefolgt war. Ich errötete unwillkürlich. + +»War das ein Bekenntnis?« fragte er. Ich nickte. »Wollen wir nicht auch +unsere Liebe retten?« fuhr er leise fort und zog meinen Arm durch den +seinen. Mir wurde warm ums Herz: wie gut er war! Ein tiefes +Schuldbewußtsein bemächtigte sich meiner: Waren es nicht im Grunde +lächerliche Kleinigkeiten, die uns voneinander entfernten, war es nicht +frevelhaft, aus selbstischen Motiven den großen Schatz der Liebe aufs +Spiel zu setzen? Ein böser Zauber hatte ihn in die Tiefe versenkt, war +er es nicht wert, daß ich ihn durch meine Hingabe erlöste? + +Ich wußte, was meinen Mann bedrückte, aber ich hatte es bisher nicht +sehen wollen. Je mehr er litt, desto schweigsamer wurde er; nur an den +gefurchten Zügen, an den finsteren Blicken, und hie und da an einem +hingeworfenen Wort erkannte ich, daß er sich in selbstquälerischen +Vorwürfen verzehrte. Die Schatten des Dresdener Kongresses fielen noch +breit über den Weg der Partei, -- er fühlte sich mitschuldig daran. Und +er hatte in einem Moment fortgeworfen, wodurch er der Partei wieder +hätte helfen können, die Schatten zu bannen: die Neue Gesellschaft. + +»Das Aufgeben der Zeitschrift war heller Wahnsinn,« sagte er zuweilen. +Aber war nicht der Verkauf des Archivs schon Wahnsinn gewesen? Und ich +hatte ihn darin bestärkt, ich war mitschuldig, wenn er Schiffbruch litt! +Und in diesem Augenblick hatte ich ihn im Stiche lassen wollen! Hatte +mich bitter gekränkt gefühlt, weil er seine Stimmung nicht beherrschte, +weil er es an Liebesbeweisen fehlen ließ! + +Ich wußte auch, was ihm helfen würde. Oft genug sprach er davon: die +Neue Gesellschaft wollte er wieder erscheinen lassen. Aber wenn er mich +dabei fragend ansah, so schwieg ich, und ein heftiges Wort schwebte mir +jedesmal auf der Zunge. Richtete er eine direkte Frage an mich, so +äußerte ich rücksichtslos meinen Widerspruch. + +»Nicht drei Monate würden wir mit dem bißchen, was wir aus dem +Zusammenbruch gerettet haben, die Zeitschrift halten können,« sagte ich, +»und ich habe schon zu viel an Sorgen ertragen, um sehenden Auges dem +vollständigen Ruin entgegenzugehen.« + + * * * * * + +Wenn Graf Bülow im Reichstag über den Dresdener »Jungbrunnen« höhnte, +wenn jedes ernste Wort unserer Fraktionsredner im Gelächter der +bürgerlichen Parteien erstickte und die Kraft unserer 81 Abgeordneten +lahmgelegt blieb seit Dresden, so waren das nicht vereinzelte +Erscheinungen, sondern Symptome der allgemeinen Stimmung der Partei +gegenüber. Und ein Wochenblatt sollte imstande sein, sie zu zerstreuen? +Immer deutlicher rückte alles ab von uns, was uns nahegestanden hatte. +Noch kam ich zuweilen in Künstler- und Literatenkreise, aber ich fühlte +sogar ein persönliches Sichzurückziehen. Das Interesse wandte sich +augenscheinlich ganz anderen Gebieten zu. Die l'art pour l'art-Stimmung +breitete sich aus. Mit dem Verschwinden der Arme-Leute-Bilder und Dramen +verschwand die oppositionelle Gesinnung. Dichter und Maler, die noch vor +kurzem wenigstens durch lange Haare, Samtjacken und fliegende Krawatten +den Bohemien markiert hatten, exzellierten jetzt in tadellos +weltmännischen Allüren und beurteilten den lieben Nächsten nach seinem +Schneider. Wie vor wenigen Jahren noch der Weg ins Volk die Parole der +künstlerisch-literarischen Jugend gewesen war, so wurde jetzt die +Vornehmheit Trumpf. Nicht jene echte der Bewegung und Gesinnung, die der +Gefahr des Kopiertwerdens nicht ausgesetzt ist, sondern die müde der +Dekadenz, die sich jeder aneignen kann, dessen Finger genügend lang, +dessen Gestalt genügend schmal und dessen Charakter genügend biegsam +ist. + +»Und von diesem dürren Boden glaubst du ernten zu können?!« fragte ich +meinen Mann. + +»Nein,« entgegnete er, »aber ich bin optimistisch genug, um auch ihn für +bearbeitungsfähig zu halten.« + +Wir widersprachen einander immer. Nur wenn die Ereignisse in der +Sozialdemokratie die feindliche Haltung gegen die Revisionisten gar zu +deutlich hervortreten ließen, kam es vor, daß er selber sagte: + +»Es ist doch vielleicht noch zu früh!« + +Jeder geringfügige Anlaß genügte, um in der Partei den heftigsten Streit +hervorzurufen. So war einem der in die Dresdener Skandale verwickelten +Revisionisten die Kandidatur eines sächsischen Wahlkreises angeboten +worden. Alle höheren Parteiinstanzen erklärten sich dagegen; die +Vernichtung der bisher geltenden Autonomie der Wahlkreise war die Folge, +und nun entspann sich eine leidenschaftlich erregte Diskussion in der +Presse, die auch in Volksversammlungen ihr Echo fand. + +»Die Minderheit hat sich der Mehrheit zu fügen,« hieß es kategorisch auf +Seite der Radikalen. + +»Die Sozialdemokratie hat jede Art von Machtentfaltung, die die +Minderheit in ihrer Existenz bedroht, zu bekämpfen, also zu allererst +die in den eigenen Reihen. Es ist Despotie und nicht Demokratie, wenn +die Rechte der Minderheit schutzlos sind,« lautete die Antwort auf Seite +der Revisionisten. + +In einem anderen Fall vertrat ein Parteigenosse in bezug auf die +Zollfragen theoretisch von den Ansichten der Partei abweichende +Meinungen. Er wurde einem hochnotpeinlichen Verhör unterzogen, und sein +Ausschluß aus der Partei war die Forderung vieler. Wortglaube, +nicht Geistesglaube war für die Dogmatiker Voraussetzung der +Parteizugehörigkeit. + +Ich hörte überall dieselbe Dissonanz heraus, die in mir tönte: +Selbstbehauptung gegen Selbsthingabe, -- Individualismus gegen +Sozialismus, -- dieselbe Dissonanz, die dem Dresdener Konzert +zugrundegelegen und keine Auflösung gefunden hatte. Ob mein Mann und mit +ihm seine politischen Freunde wohl im Rechte waren, wenn sie +behaupteten, daß die Einheit in der praktischen Tagespolitik über diese +inneren Gegensätze hinweghelfen würde? + +Wenn ich meine Zweifel äußerte, so war es Reinhard vor allem, der sie +auf Grund seiner Erfahrungen zu entkräften suchte. + +»Sie sollten bei uns in den Gewerkschaften lernen,« sagte er; »da +besteht diese Einheit tatsächlich und ist die Grundlage unseres +wachsenden Einflusses geworden.« + +Ich erinnerte mich dann der Zeiten, wo er unter den Politikern der +radikalsten einer gewesen war, und ich konnte mich der Empfindung des +Bedauerns nicht erwehren: damals durchglühten die Ideale des +Sozialismus seine Reden, heute schien nicht nur sein Handeln, sondern +auch sein Denken den Horizont des Auges nicht mehr zu überschreiten. +Arbeiterrechte und Freiheiten rang er mit eiserner Energie dem +Unternehmertum ab und richtete den Blick bei jedem Schritt vorwärts +konsequent nur auf den nächsten Schritt. Darin lag vielleicht seine +Kraft. Aber die Stimmung praktischer Nüchternheit, die ihn beherrschte, +war nicht die Atmosphäre, in der die umfassenden Ideen der +Menschheitsbefreiung sich entfalten. + +Mein Mann, der gerade in dieser Richtung auf die Forderungen des Tages +das Heilmittel für die inneren Schäden der Partei zu finden glaubte, +beschäftigte sich viel mit den Gewerkschaften. + +»Das sind die Kerntruppen,« meinte er, »ihre Wünsche und Bedürfnisse +müssen wir kennen, wenn wir einmal mit unserer Zeitschrift wirken +wollen.« + +Wir besuchten ihre Versammlungen. Ruhige Arbeit herrschte hier. Mit +tiefgründiger Kenntnis wurden sozialpolitische Fragen behandelt, +besonders die des Heimarbeiterschutzes, die damals im Mittelpunkt des +Interesses standen. Es war bezeichnend für den Geist der +Gewerkschaftsbewegung gewesen, daß fast zu gleicher Zeit, wo die +Einladung zum Frauenkongreß von den Sozialdemokratinnen abgelehnt +worden war, die Generalkommission der Gewerkschaften den +Heimarbeiterschutz-Kongreß einberufen und die Interessenten aus +bürgerlichen Kreisen zur Teilnahme aufgefordert hatte. + +Aber wenn die bewußte Beschränkung der Bewegung auf der einen Seite +einen erstaunlichen Grad von Wissen, von Energie, von Zielsicherheit +zeitigte, so entwickelte sich auf der anderen Seite eine gewisse +Engigkeit, ein Organisationsegoismus, der vom Standesdünkel alter Zeiten +nicht zu weit entfernt war. Ich agitierte selbst für die Gewerkschaften; +ich verfocht in Versammlungen die Forderungen zum Heimarbeiterschutz, +die wir im Kongreß aufgestellt hatten, ich wußte, wie notwendig das +alles war, aber ich hätte darin nicht aufzugehen vermocht, und es schien +mir nicht unbedenklich, daß so viele tüchtige Kräfte, von der +politischen Bewegung angewidert, mehr und mehr darin aufgingen. Tönte +nicht der starke Pulsschlag der Zeit nur gedämpft hierher, wo sich +Kräfte und Gedanken im engen Kreis der Organisationsarbeit, der +Sozialreform bewegten? Lagen hier nicht die Keime einer gefährlichen +Entwicklung von Egoismus gegen Sozialismus? + +Allmählich war's, als öffneten sich mir immer neue Tore mit weiten +Ausblicken auf unbekannte Gebiete der Arbeiterbewegung. Eine +Schulvorlage, die von der preußischen Regierung schon lange in Aussicht +gestellt war und auf Einführung konfessioneller Schulen hinauslief, rief +in der Presse und in Versammlungen eine lebhafte Kontroverse über +Erziehungsfragen hervor. Der bloße selbstverständliche Protest dagegen, +die bloße Forderung der Trennung von Schule und Kirche genügte nicht +mehr. Wer sich aus Arbeiterkreisen an den Debatten beteiligte, der hatte +sich auch mit den Details der Frage beschäftigt, und ein Verlangen nach +weiterer Aufklärung wurde laut. In einer kleinen Versammlung vor den +Toren Berlins hörte ich einen alten Arbeiter von Pestalozzi sprechen. Er +hatte ihn nicht nur gelesen, sondern in sich aufgenommen und schilderte +die Arbeitsschule der Zukunft, die an Stelle der »Paukschule« der +Gegenwart treten würde, mit demselben Enthusiasmus, wie ein anderer sich +über den Zukunftsstaat verbreitet haben würde. Auf solche und ähnliche +Erfahrungen hin wagte ich es, die »pädagogische Provinz«, Goethes +Erziehungsutopie, zum Gegenstand eines Vortrags zu machen. Ein +Riesenauditorium, das nur aus Arbeitern bestand, folgte mit gespannter +Aufmerksamkeit allem, was ich sagte, und in der Diskussion zeigte sich +nicht nur, daß ich verstanden worden war, sondern auch wie viele ihren +Goethe gelesen hatten. Jetzt fing ich an, mit erwachtem Interesse den +nicht politischen Versammlungen nachzugehen, und ich entdeckte mit +wachsendem Staunen suchende Menschen, nicht nur fordernde. Wo religiöse, +wo philosophische Fragen angeschnitten wurden, war das Interesse am +stärksten. Jener brutale philosophische Materialismus, der alles +leugnete, was sich nicht mit Händen greifen ließ, und für die Masse der +Sozialdemokraten um so mehr an die Stelle kirchlich-dogmatischen +Glaubens getreten war, als sie ihn in naheliegender Begriffsverwirrung +mit dem Grundprinzip des Marxismus, dem historischen Materialismus, +zusammengeworfen hatten, beherrschte nicht mehr so uneingeschränkt wie +früher die Gemüter. Der Unglaube, der geblieben war und neben alles +Unabweisbare sein Fragezeichen aufrichtete, schien erfüllt von Sehnsucht +und Heimweh. + +Junge und alte Männer begegneten mir, die in ihrer freien Zeit +verschlangen, was ihnen an philosophischen Schriften erreichbar war: +neben Kant und Schopenhauer das seichteste Gewäsch sogenannter +Popularphilosophie, neben Dietzgen, dem Parteiphilosophen, allerhand +theosophische, selbst spiritistische Schriften. In der Qual, mit der sie +immer wieder versuchten, die geistige Vernachlässigung ihrer Jugendjahre +zu überwinden, die Grundlagen des Denkens und Wissens, die ihnen +fehlten, nachzuholen, lag eine größere Tragik als in der leiblichen Not. + +»Wir sind alle gute Sozialdemokraten,« sagte mir einmal ein +älterer Mann, der es vom einfachen Arbeiter zum einflußreichen +Gewerkschaftsbeamten gebracht hatte, »und der Sozialismus ist das, was +uns zusammengeschweißt hat, uns im Kampf gegen die Feinde unüberwindbar +macht; aber nun will doch jeder auch etwas für sich sein.« + +Das war der Wunsch nach Persönlichkeit, der sich regte, die Reaktion +gegen die geistige Nivellierung, die die Stärke und die Schwäche des +Sozialismus war. + +Und alles Wünschen und Suchen ging in die Irre. Niemand antwortete +darauf, niemand sprang hinzu, um Taumelnde zu halten, Blinde zu führen. +Eintönig, wie die Zukunftsprophezeiungen der ersten Christen, klang +ihnen aus dem Munde ihrer Führer immer dieselbe Formel entgegen: + +»Die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung durch den +Klassenkampf bringt allen Erlösung.« + +Sie fühlten mehr, als daß es ihnen deutlich zum Bewußtsein kam: Über die +Befreiung von Not und Elend hinaus muß es ein persönliches Ziel geben, +für das die Erreichung dieses ersten, rohesten nichts als der +Ausgangspunkt ist. Würden sie im Suchen danach nicht auf Abwege geraten, +sich nicht entfernen vom Wege, der notwendig zuerst zu jener ersten +Etappe führen mußte? + + * * * * * + +In Rußland warf die Revolution ihre Brandfackel in Städte und Dörfer. +Die Blüte der Jugend, die geistige Elite des Landes trugen die Fahne +voraus, und die schwerfällige Masse des Riesenvolkes geriet in eine +ungeheure Bewegung. Selbst die Bauern in ihren einsamen Steppen grüßten +das Licht, das sie flammen sahen, als ihren Befreier. Hunderte fielen, +Hunderte verschwanden im grausigen Dunkel russischer Zitadellen, +Hunderte wurden in Ketten in die Bergwerke Sibiriens verschleppt, aber +Tausende füllten die Lücken wieder aus, die ihr Verschwinden gerissen +hatte. Die Zeit forderte Helden, und sie wuchsen empor; das Leben galt +ihnen nichts mehr, wo der Tod die Saat der Freiheit war. Das große +Reich, der Hort der europäischen Reaktion, schien in seinen Grundvesten +erschüttert. Vor Arbeitern und Bauern, vor Studenten und Frauen streckte +der Absolutismus die Waffen. Wir sahen, wie der Himmel über der Grenze +sich rötete. Und vielen, auf deren Seelen der häßliche Parteizank +lastete, die sich ernüchtert fühlten durch den langen staubigen Weg, den +sie an Stelle des Schlachtfeldes gefunden hatten, wurde der Glanz zu +einem Hoffnungsschimmer. + +Von der Weltenwende der russischen Revolution, von dem Zusammenbruch des +Zarismus sprachen prophetisch die Redner in unseren politischen +Versammlungen. + +»Wir leben in den Tagen der glorreichen russischen Revolution --,« +damit wurden die Nörgler und Zweifler niedergeschlagen. + +»Sehen Sie nicht, daß die Zeit gekommen ist, die Marx voraussah, wo die +Evolution in die Revolution umschlägt --?« + +Daran entflammte sich die Begeisterung der Massen. Meine Empfindung, +meine Phantasie war auf ihrer Seite, meine Hoffnung entzündete sich +daran. + + * * * * * + +Oft, wenn ich als Kind am Weihnachtsabend erwartungsvoll im dunkeln +Zimmer saß, hatte der Lichtstrahl, der aus dem Raum daneben, wo die +Mutter den Baum putzte, durch das Schlüsselloch drang, mir die ganze +Seele erhellt und alle Angst vor der Finsternis um mich vertrieben. So +war mir jetzt zumut: es drang ein Lichtstrahl in das Dunkel. Noch kannte +ich seine Quelle nicht; nur daß er da war, bannte die Furcht. + +Heinrich hatte recht: es gab für uns nur eine Aufgabe: die Neue +Gesellschaft wieder ins Leben zu rufen, durch sie zusammenzufassen, was +in der Arbeiterbewegung nach allen Richtungen auseinanderzufließen +drohte: den geistigen Hunger der Massen, die praktische Arbeit der +Gewerkschaften und Genossenschaften, die Schwungkraft der kämpfenden +Partei. Und wie sie auf dem Wege zu einer neuen tieferen Einheit +Richtung geben sollte, so sollte sie im Kreise der intellektuellen +Jugend dem Sozialismus Anhänger werben. Wir bedurften dieser Jugend, das +lehrte uns Rußland, das predigten uns die stummen Lippen all der +Suchenden, die der geistigen Führer entbehrten. »Die Wissenschaft und +die Arbeiter«, -- ein Kind dieses Bundes war der Sozialismus gewesen, +ihn zu zerstören und zu verleugnen war der eigentliche Parteiverrat. + +Nun war es nicht mein Mann, nun war ich es, die zuerst wieder von +unserer Zeitschrift sprach. Und was ich so lange entbehrt hatte, +geschah: Heinrichs verdüsterte Züge erleuchteten sich wie von innen +heraus. Jetzt endlich kamen die Stunden innerer Gemeinschaft zurück, und +im Überschwang der Freude glaubte ich das Mittel wieder gefunden, das +auch die klaffenden Wunden unserer Ehe schließen würde. In gemeinsamer +Arbeit, mit demselben großen Ziel vor Augen würden wir enger, +unauflöslicher zusammenwachsen. + +Ein Umstand half uns, mit etwas größerer Zuversicht an die Arbeit zu +gehen. Meine Schwester, eine der sechs Erben der verstorbenen Tante, +hatte, empört über die mir widerfahrene Ungerechtigkeit, versucht, die +Annullierung des letzten Testaments, das meine Enterbung aussprach, +durchzusetzen. Und als die Verwandten einmütig erklärt hatten, den +letzten Willen der Toten respektieren zu müssen, tat sie allein, was sie +von den anderen verlangt hatte, und verzichtete in Anerkennung meines +Anspruchs auf den sechsten Teil ihres Erbes zu meinen Gunsten. Es war +zunächst nur wenig, was ich bekam, -- der größte Teil des Vermögens lag +in Grundstücken fest, -- aber für uns, die wir von Anfang an mit einer +so geringen Summe rechnen mußten, daß kaum ein anderer daraufhin den Mut +gehabt hätte, eine Zeitschrift zu gründen, war es eine willkommene +Hilfe. Nur ganz flüchtig dachte ich daran, die paar tausend Mark für +meinen Jungen festlegen zu wollen, -- ich errötete dabei über mich +selbst. Drüben, im Osten, opferten sie ihr Leben ihrer Sache, und ich +könnte mit dem lumpigen Gelde knausern! + + * * * * * + +Es war ein frohes Arbeiten damals. Wir fanden Mitarbeiter im eigenen +Lager, die unsere Ideen teilten, wir fanden aber auch Künstler und +Schriftsteller, die nicht abgestempelte Genossen waren und mit Freuden +die Gelegenheit ergriffen, einmal zum Volk zu sprechen. Und zuerst +leuchteten uns überall die aus den schwarzen Schornsteinen glutrot +aufsteigenden Flammen der Neuen Gesellschaft entgegen. + +Daß innerhalb der Parteiorganisationen schon gegen uns gehetzt, vor +einem Abonnement unserer Zeitschrift gewarnt wurde, daß uns die Genossen +wieder als »Geschäftssozialisten« öffentlich an den Pranger stellten, -- +dafür hatten wir nur ein Achselzucken. Sie glaubten, wir wollten wühlen, +kritisieren; sie würden sich bald eines Besseren belehren lassen, denn +wir dachten nur daran, aufzubauen. Am Himmel der Zeit stiegen +Sturmwolken auf, und wer wetterkundig war, der sah dahinter erfrischte +Luft, zu neuem Segen durchtränkte Erde. + +Der Strom der russischen Revolution, der drüben alles mit sich riß, +schien zuerst an Deutschland vorüberzubrausen, als wäre die Grenze ein +Felsengebirge. Allmählich aber begannen seine Fluten Tunnel zu bohren, +und die deutsche Reaktion warf angstvoll Wälle auf. In den Einzelstaaten +kam es zu Wahlrechtsverschlechterungen, und die Angriffe auf das +allgemeine Reichstagswahlrecht wurden lauter. Unter dem Deckmantel der +scheinbar harmlosen Schulvorlage ging der preußische Landtag darauf aus, +mit den Seelen der Kinder die Zukunft dem Fortschritt zu entwinden. Doch +das Proletariat lernte von den russischen Freiheitskämpfern. Zum +erstenmal in Deutschland eroberten sich die Arbeiter die Straße zu +gewaltigen Massendemonstrationen. In Leipzig, in Dresden, in Chemnitz +durchzogen Tausende und Abertausende, dem Polizeiaufgebot trotzend, die +Stadt. Und wenn sie auch der Hartnäckigkeit der Regierung nichts +abzutrotzen vermochten, sie fühlten sich nicht geschlagen, denn die +Siege jenseits der Grenzen stärkten immer wieder ihren Mut: in dunkeln +Massen, dicht gedrängt, mit einem Schweigen, das mehr als drohende Rufe +von finsterer Entschlossenheit zeugte, war die wiener Partei vor dem +Parlament aufmarschiert, während in ganz Österreich die Arbeit ruhte, +und eroberte im gleichen Augenblick eine Wahlreform, die vor wenigen +Wochen noch von der Regierung abgelehnt worden war. Und angesichts der +blutgetränkten Straßen Petersburgs, der rauchenden Trümmer baltischer +Schlösser versprach der russische Zar dem Volke die Verfassung. + +Jetzt galt es auch in Preußen, gegen die Hochburg der Reaktion Sturm zu +laufen: gegen den Landtag. Wir schürten in unserer Zeitschrift mit allen +Mitteln den Brand. + +»Trotz aller Anerkennung des stark pulsierenden Lebens, das in den +Spalten der Neuen Gesellschaft herrscht,« schrieb mir Romberg damals, +»bleibt Ihre Schornsteinzeitung mir unsympathisch, -- jetzt vollends, wo +ich mit aufrichtiger Trauer sehe, daß Sie jene Vornehmheit preisgeben, +deren Aufrechterhaltung durch alle Fährnisse proletarischer Versuchung +mir bisher so bewundernswert erschien. Den ganzen giftigen Zorn der +Renegaten schütten Sie über Ihre eigenen Klassengenossen, die Junker, +aus.« + +»Über Ihren Geschmack streite ich nicht mit Ihnen,« antwortete ich, »er +führt uns, fürchte ich, weit voneinander. Aber mir die Preisgabe der +Vornehmheit vorzuwerfen, dazu haben Sie kein Recht. Gerade weil ich +Aristokratin war und blieb, weiß ich zu scheiden zwischen dem Adligen +und dem Junker. Die Hutten und Berlichingen, die Mirabeau und Lafayette, +die Struve und Krapotkin, -- das waren Aristokraten, das heißt freie +Herren, keine Fürstenknechte, keine Sklaven des Herkommens. Ich bin +stolz, zu ihnen zu gehören und werde, wie sie, bis zum letzten Atemzug +gegen die Junker, das heißt die Dienstmannen, kämpfen.« + +Im Abgeordnetenhause erklärte Graf Roon: »Wenn jemals die Regierung +daran denken sollte, uns in Preußen die geheime Wahl zuzumuten, so +würden wir zur schärfsten Opposition übergehen.« + +»Auf das nachdrücklichste lege ich dagegen Verwahrung ein, daß das +allgemeine geheime Wahlrecht als Wahlrecht der Zukunft hingestellt +wird,« sekundierte ihm Herr von Manteuffel. Hüben und drüben schlossen +sich die Reihen der Kämpfer. Sollte die Schlacht schon bevorstehen? + +In den Köpfen der Parteigenossen spukte diese Frage, der die andere auf +dem Fuße folgte: wie bereiten wir uns vor? Das Mittel immer wiederholter +Arbeitseinstellungen hatte sich in Rußland als das eindrucksvollste +erwiesen. Es wurde nun auch in der deutschen Partei erörtert. Es trennte +die Geister nach einem Schema, auf das die Bezeichnung Revisionisten und +Radikale nicht mehr passen wollte. Mein Temperament riß mich rückhaltlos +auf die Seite derer, die den Massenstreik verteidigten; mein Mann stand +im entgegengesetzten Lager, wo die Gewerkschafter sich vereinigt hatten. +Auch die Ansichten unserer Mitarbeiter gingen auseinander. + +»Glauben Sie, es läßt sich beschließen, übermorgen nachmittag um vier in +den Massenstreik einzutreten?« höhnte Reinhard. »Revolutionen sind keine +Paraden, die vorher einexerziert werden.« + +»Aber die Truppen müssen dafür vorbereitet sein wie für die Kriege,« +entgegnete einer unserer Mitarbeiter; »wir müssen den Gedanken in die +Köpfe hämmern, damit er zur rechten Zeit zur Tat reift.« + +»Von unseren drei Millionen Wählern sind nur viermalhunderttausend +politisch organisiert, und von zwölf Millionen Arbeitern nur anderthalb +Millionen gewerkschaftlich!« rief Reinhard aus. »Mir scheint, wir müssen +zuerst die Köpfe _haben_, ehe wir daran denken können, eine Idee in sie +hineinzuhämmern.« + +Das Feuer meiner Begeisterung verflog angesichts des neu entfachten +theoretischen Streites, der bei uns Deutschen so oft an Stelle des +Handelns tritt. Die Demonstrationen gegen den preußischen Landtag +beschränkten sich auf ein paar große Versammlungen, denen erst das +Aufgebot von Polizei und Militär Bedeutung verlieh. Die Schulvorlage +wurde angenommen. Graf Bülows Politik der Ablenkung des Volksinteresses +bewährte sich wieder einmal: die Blicke aller derer, die nicht zu +unseren Kerntruppen gehörten, richteten sich wie hypnotisiert auf die +internationalen Verwickelungen. Von der feindseligen Verstimmung sprach +der Reichskanzler, als die neue Flottenvorlage dem Reichstag zuging: +»Deutschland muß stark genug sein, sich im Notfall allein behaupten zu +können!« + +Von dem Ernst der Zeit, von der Notwendigkeit, eine stets schlagbereite +Armee zu haben, sprach der Kaiser. So wurde gegen die revolutionäre die +patriotische Stimmung ausgespielt. + + * * * * * + +Wir hatten gearbeitet, den Blick krampfhaft vorwärts gerichtet, +besinnungslos. Wir hatten unser Programm erfüllt, waren jeder tieferen +Volksregung nachgegangen; es hatte an aufrichtiger Anerkennung nicht +gefehlt, und trotz allen lauten und leisen Wühlens gegen uns war in +kurzer Zeit ein Stamm von Lesern gewonnen worden. Aber die Kosten der +Zeitschrift überstiegen bei weitem die Einnahmen. Wir konnten nicht +länger die Augen davor verschließen, daß unsere Mittel auf einen +winzigen Rest zusammengeschmolzen waren. + +»Drei Jahre müssen Sie aushalten können, dann haben Sie sich +durchgesetzt,« sagte uns ein treuer Genosse, der zugleich ein guter +Geschäftsmann war. + +»Drei Jahre!« wiederholte ich in Gedanken. »Wo wir kein Vierteljahr mehr +gesichert sind!« + +»Wir dürfen die Flinte nicht ins Korn werfen, heute weniger als je,« +erklärte mein Mann; »denn jetzt schädigen wir dadurch die Sache.« + +Die Furcht flüsterte mir zu: »Gib auf, solang es noch Zeit ist.« + +»Heinrich ertrüge es nicht,« antwortete die Stimme meines Herzens. + + * * * * * + +Um jene Zeit kam meine Schwester nach Berlin zurück. Sie war in einem +Sanatorium gewesen und hatte dann eine lange Seereise gemacht. + +»Nun bin ich heil und gesund,« damit trat sie wieder vor mich hin, »und +jetzt komme ich zu dir und will arbeiten.« Mit ungläubigem Lächeln sah +ich sie an. »Meinst du etwa, ich hielte auf die Dauer solch zweckloses +Leben aus?« schmollte sie, weil ich sie nicht ernst nehmen wollte. + +»Im Sanatorium war einer mein Tischnachbar, der ein heimlicher Genosse +ist,« fuhr sie zu plaudern fort. »Er holte nach, was du zu tun +versäumtest; gab mir Bücher und Zeitungen und klärte mich auf. Ich bin +überzeugte Sozialdemokratin.« + +»Aber Ilse!« lachte ich. »Du?! Die Ästhetin?! Du mit deinem Grauen vor +dem Pöbel?!« + +Nun wurde sie wirklich böse. »Ist es so unwahrscheinlich, daß man sich +entwickelt? -- Bist du vielleicht als Genossin auf die Welt gekommen?! +-- Ich bildete mir ein, dir mit dieser Nachricht eine besondere Freude +zu machen, und nun glaubst du mir nicht! Aber ich werde dir beweisen, +wie ernst ich es meine: noch heute will ich mich dem Vertrauensmann +meines Wahlkreises vorstellen, ich werde sogar Flugblätter austragen, +wenn er mich brauchen kann.« + +Ich war noch ganz benommen von der erstaunlichen Wandlung meiner +Schwester, als Heinrich sie begrüßte. Er fand sich rascher in die +veränderte Situation. + +»Da hätten wir ja eine neue Mitarbeiterin,« sagte er lebhaft. + +»Ja, -- ob ich aber schreiben kann?!« meinte sie zögernd. + +»Sind nicht alle ihre Briefe druckreifes Manuskript?« wandte er sich an +mich. »Und prädestiniert sie nicht ihre ganze Vergangenheit, gerade das +wichtige, noch so sehr vernachlässigte Gebiet der künstlerischen +Volkserziehung zu dem ihren zu machen?« + +Alles Fremde, das seit Jahren zwischen uns gestanden hatte, war jetzt +vergessen. Die kleine Ilse war wieder mein Kind, wie einst, da sie +nichts so gerne hörte wie meine Geschichten, mit nichts spielen mochte +als mit den Spielen, die ich erfand. Ich streckte ihr beide Hände +entgegen: + +»Du brauchst keine Flugblätter auszutragen, um zu beweisen, daß du zu +uns gehörst. In der Partei ist viel Raum für Kräfte wie die deinen.« + +Am Abend sah ich an Heinrichs grüblerischem Gesichtsausdruck, daß +irgendein Gedanke ihn beschäftigte. Er ging schweigsam im Zimmer auf und +nieder. Endlich blieb er vor mir stehen: »Was meinst du, wenn wir Ilse +aufforderten, sich an der Neuen Gesellschaft mit einem Kapital zu +beteiligen?« + +Ich hob die Hände, als gelte es einer Gefahr zu begegnen. + +»Um Gottes willen nicht!« rief ich aus. + +»Du scheinst deiner Schwester wenig zuzutrauen,« entgegnete er +stirnrunzelnd. »Daß wir alles aufs Spiel setzen, ist dir +selbstverständlich; daß Ilse einen Bruchteil ihres Vermögens opfern +soll, kommt dir unmöglich vor. Und doch könnte das ihr geben, was ihr +fehlt: einen ernsten Lebensinhalt, einen Antrieb zur Arbeit, die mehr +ist als Laune und Spielerei.« + +Ich widersprach auf das heftigste: »Was wir tun und lassen, ist unsere +Sache, aber die Verantwortung für Ilse dürfen wir nicht auf uns nehmen. +Niemals ertrüg' ich's, sie in unseren Ruin hineinzuziehen!« + +Heinrich brauste auf. »Wie kannst du von Ruin sprechen, wo uns nichts +fehlt als die Mittel, noch einige Zeit auszuhalten, -- wo wir in zwei, +drei Jahren über das schlimmste hinaus sein werden! Hast du so gar +keinen Glauben an die eigene Sache?« + +»Ich habe ihn, Heinz, ich hab ihn gewiß --,« meine Hände preßten sich +flehend ineinander, »-- aber lieber will ich mir die Finger blutig +schreiben, lieber will ich von Ort zu Ort gehen, um die Mittel für die +Neue Gesellschaft zusammenzubringen, als daß ich mich an Ilse wende.« + +Mit gerunzelten Brauen sah Heinrich mich an. »Ich finde deinen +Standpunkt kleinlich, -- deiner und deiner Schwester unwürdig. Sie wird +sich freuen, mit einem Teil ihres Überflusses etwas Nützliches leisten +zu können.« + +Aber ich ließ mich nicht überzeugen. »Laß uns wenigstens noch versuchen, +ob sich nicht auf anderem Wege Hilfe schaffen läßt,« bat ich. Heinrich +schwieg, sichtlich verletzt. + +Alle Schritte, die er in den nächsten Wochen unternahm, waren umsonst. +Immer näher rückte die Zeit, die uns vor die letzte Entscheidung +stellte. Mich schauderte im Gedanken daran. + +Als ich ihn eines Abends wieder von einer vergeblichen Reise +zurückkehren sah, -- so müde, so gebrochen, da hielt es mich nicht +länger: »Geh zu Ilse,« sagte ich. + + * * * * * + +War es der Leichtsinn der Jugend, war es die Überzeugungskraft der +Reife, die Ilse ohne einen Augenblick des Überlegens dem Vorschlag +Heinrichs entsprechend handeln ließ? Wie kam es nur, daß in dem +Augenblick, wo sie sich nicht nur im Denken, sondern auch im Handeln mit +mir vereinte, ein kalter Reif auf die kaum wieder entfaltete Blume +meiner Schwesterliebe fiel? Irgendeine Fessel, die die freie Bewegung +meiner Glieder hemmte, wurde schmerzhaft angezogen. + +Eine Unrast der Arbeit packte mich, die mich jede ruhige Stunde als +Unterlassungssünde empfanden ließ. Selbst in den Augenblicken, wo die +Sache, der ich diente, mich ganz zu packen schien, fiel mir ein, daß ich +arbeiten mußte, um das Geld meiner Schwester nicht zu verlieren. Daß die +Arbeitsgemeinschaft mit meinem Mann unsere Liebe zueinander festigen +sollte, -- daran dachte ich kaum mehr. Kam mir in heißen Nächten nach +gehetzten Tagen die Erinnerung daran, so grauste mich's. Ich saß meinem +Mann gegenüber, tagaus, tagein, über Manuskripte und Korrekturen +gebeugt. Ich hatte keine Gedanken mehr, mich für den Geliebten zu +schmücken, keine Zeit mehr für das süße Spiel der Liebe, für Suchen und +Finden, Zurückstoßen und Wiedererobern. Nur für mein Kind stahl ich mir +morgens und abends noch eine Stunde; aus der Frische seines Denkens und +Fühlens floß mir der Tropfen Lebensfreude, den ich brauchte, um weiter +schaffen zu können. + +Meinen kleinen Haushalt überließ ich nun schon lange der Berta. Zuweilen +wunderte ich mich wohl, daß er bei seiner Einfachheit so kostspielig +war. Aber jede Spur von Mißtrauen lag mir fern. Opferte die Berta uns +nicht ihre ganze Arbeitskraft? War sie es nicht, die unter Hinweis auf +die entstehenden Kosten jede fremde Hilfe ablehnte und alles allein +besorgte? + +Eines Tages sah ich ein goldenes Armband auf ihrem Nähtisch liegen. +»Mein Onkel hat es mir zum Geburtstag geschenkt,« sagte sie. + +Bald darauf brachte die Portierfrau, als sie abwesend war, ein Paket für +»Fräulein Berta«, die Uhrkette sei darin, die sie sich durch sie habe +besorgen lassen, fügte sie erklärend hinzu. Ich wurde stutzig und ließ +mich in ein Gespräch mit ihr ein. + +»Auch das Armband hat mein Mann besorgt,« schwatzte sie, »es kostete nur +sechzig Mark. Und Fräulein Berta kann sich wohl mal was selber gönnen, +nachdem sie immer das viele Geld nach Hause schickt.« + +Nach Hause?! dachte ich verblüfft, ihr Vater war doch, wie sie oft +genug erzählt hatte, in behäbiger Lage. Nun verfolgte ich erst +aufmerksam ihr Tun und Lassen. Im Lauf einer Woche hatte ich alle +Beweise in der Hand: seit Jahren war ich von ihr betrogen worden. Im +ersten Gefühl der Empörung wollte ich ihre Unterschlagungen zur Anzeige +bringen. Aber dann schämte ich mich. War ich nicht die Schuldige +gewesen? Ich, die ich dem einfachen Bauernmädchen eine Freiheit +gelassen, eine Selbständigkeit aufgebürdet hatte, der sie geistig und +moralisch nicht gewachsen war; ich, die ich sie aus Dankbarkeit mit +Geschenken überhäuft hatte, die ihre Eitelkeit, ihre Habsucht erwecken +mußten? Sie war für die Lebenssphäre, in die sie zurücktreten mußte, bei +mir und durch mich verdorben worden. + +Ich entließ sie; ich bekannte meinem Mann meine Schuld. Von nun an mußte +ich mich um die täglichen Sorgen des Haushalts kümmern, mußte vor allem +die Zeit erübrigen, um mit meinem Buben ins Freie zu gehen. Ich war viel +zu ängstlich, um ihn sich selbst zu überlassen. Wie müde fühlte ich +mich, wenn ich abends schlafen ging! Wie zerschlagen, wenn ich morgens +erwachte! Wie lange noch würde ich aushalten können?! + +Und mehr denn je verlangte unsere Arbeit die ganze Nervenkraft, die +volle Anspannung des Willens. Ein neuer Parteiskandal forderte +gebieterisch unsere Stellungnahme. Die Auseinandersetzungen über den +Massenstreik hatten in einem Teil unserer Tagespresse wieder die Formen +persönlichen Gezänks, gegenseitiger Verdächtigungen angenommen. Zur +Empörung der radikalen Berliner vertrat das Zentralorgan der Partei den +Standpunkt der Gewerkschaften, und obwohl der Jenaer Parteitag eine +wenigstens äußere Verständigung zwischen beiden Richtungen herbeiführte +und auch die Preßfehde zu schlichten schien, ließ sich Groll und +Mißtrauen nicht durch Resolutionen beseitigen. Trotz aller gegenseitigen +Versicherungen blieb die Mehrheit der Vorwärts-Redaktion, die ihre +Ansichten weder dem Votum der Masse unterwerfen, noch sich zu einem +Inquisitions-Tribunal hergeben wollte, des Revisionismus verdächtig. +Kaum war der Parteitag vorüber, als der Parteivorstand mit den Berlinern +in Verhandlungen eintrat, deren Resultat die Entlassung und der Ersatz +eines oder mehrerer Redakteure und die Neugestaltung der +Mitarbeiterschaft über den Kopf der Redaktion hinweg sein sollte. Hinter +verschlossenen Türen, mit strengstem Schweigegebot für die Teilnehmer +und -- unter Ausschluß der Angeklagten ging das alles vor sich. Ein +Fehmgericht nach demselben Prinzip wie das, dem ich einmal seitens der +Frauen unterworfen worden war. Wo war hier die Gleichheit, wo die +Brüderlichkeit?! Als die Redaktion trotz aller Vorsichtsmaßregeln von +den Vorgängen erfuhr und der Parteivorstand ihren Protest gegen ein +allen Grundsätzen der Demokratie hohnsprechendes Verhalten schroff +zurückwies, handelte sie, wie organisierte Arbeiter handeln, wenn der +Unternehmer ihre Kameraden ohne sie zu hören mit Aussperrung bedroht: +sie erklärte sich in ihrer Mehrheit solidarisch, reichte ihre Entlassung +ein und begründete ihre Handlungsweise vor der Öffentlichkeit. Mit +gezückten Schwertern standen einander nun wieder zwei Richtungen in der +Partei gegenüber. Aber die Masse vertrat nicht die Prinzipien der +Demokratie, sondern die der Despotie. + +»Wie können wir noch mit freier Stirn unsere Ideale gegenüber der +Willkürherrschaft monarchischen Absolutismus verteidigen,« schrieben wir +in der Neuen Gesellschaft, »wie können wir die Selbstherrlichkeit des +Unternehmertums, seinen rücksichtslosen Herrenstandpunkt gegenüber dem +Arbeiter angreifen, wenn der Gegner uns mit den eigenen Waffen zu +schlagen vermag? Wie können wir an den endlichen Sieg unserer Sache +glauben und uns unterfangen, andere davon überzeugen zu wollen, wenn die +Ansichten einzelner, -- hier des Parteivorstands, ganz besonders die +Bebels, -- zum Kredo erhoben werden und jeder Andersgläubige der +Ketzerei beschuldigt wird, -- ungehört, wie bei den Hexenprozessen? ... +Die Redakteure haben ihre Schuldigkeit getan, tun wir die unsere! ...« + +Wie der Stein, der in den Teich geworfen wird, nicht nur weite und immer +weitere Kreise zieht, sondern auch den Grund aufwühlt, sodaß dieser +plötzlich in das klare Wasser schwarz und schlammig emporsteigt, so war +es hier. Man hatte vergessen, den Grund zu säubern und auszumauern, ehe +der frische Quell des Sozialismus hineingeleitet wurde. Die Moral der +bürgerlichen Gesellschaft, die ihr das Christentum mit Feuer und Schwert +und Verfolgung eingeimpft hatte, beherrschte alles menschliche Denken +und Fühlen. + +»Besser unrecht leiden, als unrecht tun,« predigten salbungsvoll unsere +Parteiblätter; also sich beugen, sich der Macht unterwerfen, Demut und +Unterwürfigkeit für der Tugenden größte erklären, -- konnte, durfte das +die Ethik des Sozialismus bleiben? + +Ich empfand das alles nur dumpf, wie einen Traum; ich hatte keine Zeit, +Gedanken zu formen; ich hatte auch keine Kraft. + +Sonderbar, wie elend ich mich fühlte. Als stünde mir eine große +Krankheit bevor. Ich ballte die Hände, sodaß die Nägel mich in der +Handfläche schmerzten: ich durfte nicht krank werden. Oft wenn ich mit +meinem Sohn durch die Straßen ging, überfiel mich ein Schwindel. Dann +lehnte ich mich an irgend eine Mauer, und er blieb vor mir stehen, die +großen ernsten Augen ängstlich auf mich gerichtet. Und wenn ich abends +mit irgend einer notwendigen Näharbeit bei ihm war, und er mir mit all +dem überzeugten Pathos des Kindes vorlas, -- Märchen und Gedichte, die +feierlichsten am liebsten, -- dann brauste es mir vor den Ohren, sodaß +ich kaum seine Stimme noch hörte. Was war das nur? + +Meinem Mann verschwieg ich meinen Zustand. Mein Junge war mein +Vertrauter und mein Verbündeter zugleich. Er hatte mir versprechen +müssen, dem Vater nichts zu sagen. + +»Papachen hat soviel Ärger, er soll sich nicht auch noch um mich Sorge +machen!« -- Und dies erste Zeichen eines freundschaftlichen Vertrauens +seiner Mutter hatte ihn sichtlich reifer gemacht. + +Aber dann kam ein grauer Tag; der Regen klatschte unaufhörlich an die +Scheiben; um meinen Kopf lag es wie ein Band von Eisen. Plötzlich aber +mußte ich vom Stuhle springen, auf dem ich zusammengekauert gesessen +hatte; ein Gedanke traf mich, blendend wie ein Blitz. Wie hatte ich nur +so lange fragen können, was mir fehlte: ich war guter Hoffnung. »Guter« +Hoffnung?! Sehnsüchtig hatte ich mir oft noch ein Kind gewünscht, hatte, +wenn ich meinen Buben ansah, es fast als ein Naturgebot empfunden, mehr +seinesgleichen zu gebären. Und jetzt? Wie anders fühlte ich mich, als da +ich ihn unter dem Herzen trug: schwach, schwermütig, arbeitsunfähig. Und +ich mußte doch arbeiten! + +Seit wir in dem letzten Parteikampf so energisch die Rechte der +Minderheit vertreten hatten, regnete es Angriffe auf das +»parteischädigende Treiben der Neuen Gesellschaft«. Auf wessen Tisch die +rotleuchtende Flammenschrift unseres Blattes entdeckt wurde, der +erschien schon verdächtig. + +Wenn meine Schwester kam, wurde mir heiß und kalt. Etwas wie +Schuldbewußtsein machte mich ihr gegenüber immer scheuer. Wir mußten uns +durchsetzen, -- um jeden Preis! -- Und ich biß die Zähne zusammen und +trug schweigend meine Qual, bis ich nicht mehr konnte. + +Meine Ärztin machte ein ernstes Gesicht: »Sie müssen sich vollkommen +ruhig halten, sich vor jeder Aufregung hüten,« sagte sie mit scharfer +Betonung. + +Ich verzog den Mund zu einem Lächeln und ging heim, als schleppte ich +eine Zentnerlast mit mir. Und wenn ich mich in irgend einen Erdenwinkel +hätte verkriechen können, sie würde weiter drückend auf mir liegen. Wen +einmal die Sorge umstrickt, den hält sie fest. + +Eine krankhafte Angst bemächtigte sich meiner. Ich fürchtete mich vor +dem keimenden Leben in mir wie vor einem Mörder. Ich malte mir in +dunkeln Nachtstunden den Augenblick schreckhaft aus, wo der Ruin vor der +Türe stand. + +Und dann brach ich zusammen. Ehe das Kind in meinem Schoß Leben gewesen +war, starb es. Während der langen dunkeln Stunden, die ich nun +regungslos auf dem Rücken lag, richtete das Ungeborene zwei starre Augen +auf mich, anklagend, richtend. Und ich beweinte es, als hätte es schon +in meinen Armen gelegen. + +Als ich wieder aufstehen durfte, nahm ich aus meiner Großmutter +Zeichenmappe ein kleines, in zarten Farben gemaltes Bild: ein Köpfchen +mit weißen Rosen bekränzt, -- ihr jüngstes Kind, das gestorben war, ehe +seine Lippen das erste »Mutter« zu lallen vermochten. Ich stellte es auf +den Schreibtisch vor mich hin. Es sollte mich zu jeder Stunde daran +erinnern, daß mein Kind zum Opfer gefallen war. + +Ich erholte mich schwer. Mir fehlte der Wille zur Kraft. + +Eines Abends saß ich mit meinem Sohne zusammen unter der grünumschirmten +Lampe. Er war in das Buch vertieft, das aufgeschlagen vor ihm auf dem +Tische lag. + +»Das mußt du hören, Mama,« rief er aus; seine Augen glänzten vor +Entzücken. + + »Nun geht in grauer Frühe + Der scharfe Märzenwind, + Und meiner Qual und Mühe + Ein neuer Tag beginnt ...« + +las er. In den Stuhl zurückgelehnt, hörte ich ihm zu. + + »Kein Dräuen soll mir beugen + Den Hochgemuten Sinn; + Ausduldend will ich zeugen, + Von welchem Stamm ich bin..« + +Ich richtete mich auf. »Ausduldend will ich zeugen, von welchem Stamm +ich bin,« wiederholte ich leise, nahm meines Kindes Kopf zwischen beide +Hände und küßte ihn auf die Stirn. Es war ein Gelöbnis. + + + + +Sechzehntes Kapitel + + +»Wie die Hasen auf der Treibjagd werden die Revolutionäre von den +Soldaten zusammengeschossen,« -- »fünfzehntausend Gefallene bedecken +Straßen und Barrikaden --,« so meldete der Telegraph aus Moskau; »die +Regierung hat uns betrogen! Der Zar hat sein Versprechen gebrochen! Die +Knute der Kosaken herrscht wieder über uns,« -- so klangen die +Verzweiflungsschreie der Freiheitskämpfer über die Grenze. Und schwer +und dumpf grüßten die Glocken das Jahr 1906. + +Auf den eroberten Gebieten des Absolutismus halten unsere russischen +Brüder ihre Siegeszeichen aufgepflanzt, und an ihnen waren die üppigen +Ranken unserer Hoffnung wuchernd emporgewachsen. Jetzt lagen sie am +Boden. Die Soldaten der Reaktion traten darauf. + + * * * * * + +Und doch bedurften wir in dem Kampf, den wir führten, der +Siegeszuversicht. Ein rocher de bronce war Preußen noch immer, dem er +galt, denn als die Frage der Abänderung des Dreiklassenwahlrechts im +Landtag endlich zur Besprechung kam, da erklärte die Regierung: das +Reichstagswahlrecht ist unannehmbar, und fügte der Absage durch den +Mund des Ministers von Bethmann Hollweg die versteckte Drohung hinzu: +»das Gefühl der Unlust besteht ja auch im Reiche, wo wir noch dieses +angeblich ideale Wahlrecht besitzen.« Noch! -- Wir hatten achtzig +Abgeordnete im Parlament, und doch würde Preußens Reaktion sie mit einer +Handbewegung beiseite schieben. Es klang wie ein Hohn unserer Ohnmacht, +wenn der Kanzler die Machtmittel des Staats für ausreichend erklärte, um +»Pöbelexzesse zu verhindern.« Er hatte recht. Es kam zu keinen Exzessen. + + * * * * * + +Die Einführung des Zolltarifs stand vor der Türe. Mit neuen Steuern und +Abgaben drohte eine Reichsfinanzreform. Im Hintergrund lauerte das +Raubtier des Kriegs, und die Diplomaten, die mondelang in Algeciras +beisammensaßen, um es in Ketten zu legen, schienen es statt dessen groß +zu füttern. Für neue Kriegsschiffe agitierten die Regierungsparteien und +malten den Weltbrand glutrot auf die leere Leinwand der Zukunft. Aber +das Volk hörte gleichgültig zu, als ginge es das alles nichts an. Wo es +im Laufe der letzten Jahre bei Nachwahlen zum Reichstag um sein Verdikt +gefragt worden war, hatte es Junkern und Junkergenossen das Feld +überlassen. + +»Mir ist eine kleine Schar überzeugter Genossen lieber, als eine große +Menge unsicherer Mitläufer,« hatte Bebel wiederholt gesagt. Das sollte +ein Trost sein und war bei Licht besehen nur die Konstatierung einer +Tatsache, denn der Zuzug aus bürgerlichen Kreisen hatte sich verlaufen. +Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, -- das war der Trunk gewesen, an +dem sich deutsche Träumer von jeher berauscht hatten. Diesmal war er von +der Sozialdemokratie kredenzt worden. Als sie aber erwachten und die +Welt noch immer nicht ihren Dichteridealen entsprach, und die Genossen +die Ritter vom heiligen Gral nicht waren, die sie in ihnen gesehen +hatten, da versanken sie wieder in politische Gleichgültigkeit. + +In die Maienpracht junger Hoffnungen war der Reif der Enttäuschung +gefallen. Es schien fast, als ob alle Knospen daran sterben sollten. + +An jenem »roten Sonntag«, der in ganz Preußen der Demonstration gegen +das Dreiklassenwahlrecht gewidmet war, sprach ich in einem kleinen +Fabrikort Brandenburgs. Es war ein trüber Abend; der Saal lag abseits +zwischen hohen Mauern in einem feuchten Grunde. Mein Appell an die +Begeisterung, an die Widerstandskraft verhallte wirkungslos. Und es war +nicht nur meine Schuld, daß das Feuer nicht brennen wollte. Regenschauer +hatten das Holz naß gemacht, so daß es nur knisterte. Wir protestierten +gemeinsam gegen die preußische und gegen die russische Reaktion, aber +mir schien, als stünde hinter diesem Protest nicht der Wille zur Tat, +sondern ein resigniertes Gefühl der Ohnmacht. + + * * * * * + +Die Neue Gesellschaft führte die Sprache der Kraft. War sie nicht mehr +die der Massen, daß sie sie nicht hören wollten? + +Frühling und Sommer zogen an unseren Fenstern vorbei. Wir saßen gebückt +am Schreibtisch und wagten nicht, einander in das Antlitz zu schauen. +Zuweilen war mir wie einem, der in eine Hütte mit blinden Scheiben +gesperrt ist und nichts sieht als den Staub und die Dürftigkeit der +nächsten Nähe. Dann durstete ich so sehr nach Luft und Sonne, daß ich +jeden Hauch, der durch die Türe drang, jeden Strahl, der sich hinein +verirrte, wie einen Boten der Erlösung begrüßte. + +Meine Schwester hatte sich verlobt. + +»Jetzt erst weiß ich, was Liebe ist,« hatte sie mir mit glühenden Wangen +und heißen Augen zugeflüstert. Das Leben war ihr viel schuldig +geblieben, darum glaubte ich freudig daran, und ihr Glück ließ mich ihr +gegenüber freier atmen, darum unterdrückte ich jeden Zweifel. Sie führte +uns ihren Verlobten zu, einen jungen Arzt, hinter dessen auffallender +Schweigsamkeit ich den Menschen zu sehen mich zwang, den sie lieben +konnte. Sie heirateten bald. Auf den Höhen der Schwäbischen Alb übernahm +er die Leitung eines Sanatoriums. Sie schrieb Briefe, die ein einziger +Jubel waren, und sandte Bilder mit Bergen und Wäldern und weiten Blicken +über friedliche Täler. Aber es fiel auf meine Seele nur wie ein +Sonnenstrahl aus dem Gewölk, das sich danach nur noch dichter und +dunkler zusammenzog. + + * * * * * + +Um jene Zeit erging von einem aus den Anhängern der verschiedensten +Parteien bestehenden englischen Komitee, dem unter anderen auch eine +große Zahl englischer Parlamentsmitglieder angehörte, an die Zeitungen +aller deutschen Parteien die Einladung zu einem Besuch nach England. +Angesichts der gewissenlosen Hetze und der Kriegstreiberei +höfisch-militärischer Kreise und ihrer Werkzeuge in der Presse sollte +diese Veranstaltung dazu dienen, die wahre Gesinnung des englischen +Volkes kennen zu lernen und die freundschaftlichen Beziehungen der +beiden Länder wieder fördern zu helfen. Keir Hardie, der Führer der +englischen Arbeiterpartei, hatte die Einladung mit unterzeichnet. Auch +bei der Redaktion der Neuen Gesellschaft lief sie ein, von einem Brief +meines alten Freundes Stead begleitet, der die Hoffnung aussprach, wir +würden ihr Folge leisten. + +England! Wieviel Erinnerungen wurden in mir wach! Es war mir das +Sprungbrett des neuen Lebens gewesen. Vielleicht, daß es mich nun aus +seinem Labyrinth wieder ins Freie zu führen vermöchte! Meine Hoffnung +sah einen Weg aus der Not und der Enge heraus, -- und wenn's nur ein +flüchtiges Aufatmen wäre in freier Luft! Mein Mann legte die Einladung +beiseite wie etwas selbstverständlich Abgetanes. + +»Meinst du nicht, daß ich sie annehmen könnte, -- in unserem Namen,« +fragte ich zögernd. »Ich möchte fort, -- hinaus, ein einziges Mal nur!« +-- + +Er sah verwundert von der Arbeit auf. »Wenn dir soviel daran liegt, +bedarf es gar nicht der tragischen Gebärde!« antwortete er ruhig. + +Nun erschien mir mein Wunsch doch im Lichte sträflicher +Vergnügungssucht. Ich mußte mich und ihn beruhigen, der nicht anders +denken mochte: »Ich werde Berichte schreiben, -- neue Beziehungen +anknüpfen. Vielleicht verschaffe ich mir sogar bei der Gelegenheit die +Korrespondenz für ein englisches Blatt.« + +Der Gedanke besonders elektristerte mich: das wäre doch eine Sicherheit, +wenn die Neue Gesellschaft zusammenbräche. + +Kurz vor meiner Abreise besuchte uns Reinhard. »Ich lese Ihren Namen +unter denen der Journalisten, die nach England fahren,« begann er +erregt. + +»Gewiß,« entgegnete ich, »und was haben Sie dagegen? Keine der berühmten +bindenden Parteitagsresolutionen hindert mich daran!« + +»Aber Ihr Gefühl müßte es tun,« brach er los; wollen Sie sich denn +gewaltsam jeden Vertrauens berauben?! Kein Genosse wird es begreifen, +daß Sie mit einer Reihe unserer ärgsten Gegner gemeinsame Sache machen!« + +»Schlimm genug, wenn dem wirklich so sein sollte!« rief ich aus. »Haben +wir nicht auf dem Heimarbeiterschutzkongreß mit Gegnern zusammen +gearbeitet, tun wir es nicht dauernd im Parlament? Und mir sollte es +verdacht werden, wenn ich mich an einer Reise beteilige, deren Zweck +durchaus im Interesse der Partei liegt? Wir Mitreisenden sollen uns doch +nicht untereinander verbrüdern; uns wird nichts als die Gelegenheit +geboten, es mit aufrichtigen Friedensfreunden in England zu tun.« + +»Das mag alles so sein, wie Sie sagen,« antwortete er, »trotzdem dürfen +Sie -- gerade Sie, deren Stellung doch schon schwierig genug ist -- +nicht als einzelne der Empfindung der Massen entgegenhandeln.« + +Ich warf den Kopf zurück. Jetzt erst wußte ich, daß diese Reise nicht +nur meine persönliche Angelegenheit war. »Ich verstehe Ihre gute +Absicht,« sagte ich, »aber wenn etwas mich in meinem Vorhaben noch +bestärken könnte, so sind es die Gründe, durch die Sie mich davon +abbringen wollen. Nichts ist mir von jeher so verächtlich gewesen wie +Lakaiengesinnung, gleichgültig ob sie vor dem einzelnen oder vor der +Masse zum Ausdruck kommt --«. + +»Ich mute Ihnen doch nicht Lakaiengesinnung zu!« unterbrach er mich +heftig. + +»Was ist es anderes, wenn Sie verlangen, ich sollte mich der Empfindung +der Masse beugen, nicht weil sie die rechte, sondern weil sie die +herrschende ist?! Wir kommen nie vom Fleck, wenn wir unsere bessere +Einsicht nicht zur Geltung bringen; wir erziehen dadurch im Volk nur +einen noch beschränkteren, noch despotischeren Herrscher, als unsere +Fürsten es sind.« + +»Im Grunde bin ich ja Ihrer Meinung,« lenkte er ein; »es handelt sich +doch in diesem Fall nur um eine kleine Konzession, für die Sie größere +Werte eintauschen werden.« + +Ich lachte spöttisch auf: »Meinen Sie?! Man wird mir nicht mehr +vertrauen und mich nicht weniger verleumden, wenn ich auf die Reise +verzichte. Aber man wird wissen, daß ich kein Zeug zum Demagogen habe, +wenn ich auf meinen Entschluß beharre, -- auch jetzt, wo mir die Folgen +klar sind.« + +Reinhard verabschiedete sich kühl und fremd. Er war einer der Besten +und Selbständigsten unter den Genossen. »Ich fürchte, wir haben ihn +verloren,« sagte mein Mann. Ich unterdrückte einen schweren Seufzer. + + * * * * * + +Mitte Juni reisten wir ab. Schon im Zuge, der uns nach Bremerhaven +führte, freute ich mich der Gegenwart Theodor Barths; -- ein freier +Mensch und ein Gentleman, also einer der Seltenen, mit denen sich über +alle trennenden Schranken der Politik verkehren läßt. Auf dem Schiff +fanden sich die übrigen Reisegefährten ein: neunundvierzig Journalisten, +unter denen ich die einzige Frau war. Ich empfand, wie meine Anwesenheit +sie beunruhigte. Sollten sie mich als Dame oder als Sozialdemokratin +behandeln? Sie entschlossen sich in der Mehrzahl, ihrer politischen +Gesinnung auch auf dem neutralen Boden unseres Dampfers unverfälschten +Ausdruck zu geben. Offenbar störte es sie nur, daß ich ihnen durch mein +Benehmen keinen besseren Anlaß dazu bot. + +Ich kümmerte mich wenig um sie; mit durstigen Zügen atmete ich die +frische Salzluft ein, und mit jeder Meile, die wir uns von der Küste +entfernten, fiel mehr und mehr von mir ab, was lastend und quälend mein +Herz bedrückte. Ich stand lange am Zwischendeck, wo sie beieinander +hockten, all die Männer, Frauen und Kinder, die das Vaterland +ausgestoßen hatte. In dem Antlitz der meisten blitzte etwas wie +Zukunsfshoffnung auf. Fast dünkte es mich beneidenswert: das alte Leben +hinter sich zu lassen und nur mit dem leichten Bündel unter dem Arm +einem neuen entgegen zu gehen. + +In London hatte Beerbohm Tree in seinem Theater für die deutschen Gäste +den ersten Empfang bereitet. Ich ging nicht hin; unsere heimische +Bühnenkunst hat uns den Geschmack für ein Komödiantentum verdorben, das +vielleicht vor fünfzig Jahren auch bei uns noch das herrschende war. Ich +erwartete statt dessen Stratfords Besuch. + +»Wissen Sie noch, wie wir damals voneinander gingen?« fragte er nach der +ersten Begrüßung. + +Ich nickte lächelnd: »Ein Mann, wie Sie, gehört der Sache des +Sozialismus, sagte ich Ihnen.« + +»Wären nur nicht der Fesseln so viele, antwortete ich, und Sie riefen +mir zu: 'wir werden sie beide zerbrechen müssen' -- nun haben wir sie +zerbrochen!« + +Überrascht sah ich ihn an. + +»Ich kandidiere als Vertreter der Arbeiterpartei für das Parlament,« +fügte er mit einem Aufleuchten in den hellen Augen hinzu. + +Ich drückte ihm die Hand. + +Er schien einen Ausdruck größerer Freude erwartet zu haben. »Haben Sie +das Kettenbrechen bereut?!« fragte er zweifelnd. + +»Nein, lieber Freund,« antwortete ich mit starker Betonung, »nein! Ich +erinnerte mich nur der wunden Hände, die es kostet.« + +Am nächsten Morgen sprach ich John Burns auf der Themseterrasse des +Parlaments. Mir schien, als sei es gestern gewesen, daß er mir auf den +Marmortisch die Situation der deutschen Sozialdemokratie aufgezeichnet +hatte. + +»Habe ich nicht recht behalten?« fragte er im Laufe des Gesprächs. + +»Nicht ganz,« entgegnete ich; »der Druck von außen preßt uns zwar +zusammen, aber er hindert nicht nur die Wirkung über seinen Ring hinaus, +er trägt auch dazu bei, daß wir unsere Kräfte im gegenseitigen +Kleinkrieg verzetteln.« + +»Sie übertreiben,« meinte er leichthin. »Jeder Kampf ist Leben und weckt +Leben! Sie sind wie der Akteur auf der Bühne, der das Ganze nicht +übersehen kann, während wir, die Zuschauer, von fern mit unserem +Opernglas Handlung und Szenerien begreifen. Der deutsche Revisionismus +siegt nicht nur, -- er hat schon gesiegt.« + +Ich lächelte ein wenig von oben herab zu seinen apodiktischen Sätzen und +lenkte die Unterhaltung auf sein eigenes Wirken. + +»Ich bin nach wie vor Sozialist, gerade weil mich keine Arbeit schreckt, +wenn es gilt, meiner Überzeugung auch nur einen Fuß breit Boden zu +gewinnen,« sagte er, »ich scheue nichts, wenn der Preis dafür mehr Macht +ist. Wer immer nur zuschaut und schimpft und kritisiert und dazwischen +moralische Bomben wirft, ist in meinen Augen Anarchist.« + +Einer der deutschen Englandfahrer näherte sich in respektvoller Haltung. +Unser langes Gespräch setzte ihn offenbar in Erstaunen. Er wartete +darauf, vorgestellt zu werden. Und erst jetzt fiel mir ein: der John +Burns von heute war ja Minister! + +Der Gastfreundschaft, mit der uns die Engländer empfingen, entzog ich +mich von da an nur selten. Ich hatte meine leise Freude an den +verblüfften Gesichtern meiner Reisegefährten, die allmählich einsahen, +daß im Lande alter Kultur nur die Erziehung, nicht aber die politische +Stellung des Einzelnen gesellschaftliche Unterschiede herbeiführt, und +ich merkte erst jetzt, wo ich einmal wieder als Gleiche von Gleichen +behandelt wurde, wieviel ich entbehrt hatte. + +Eines Vormittags besichtigten wir den Tower. Schon als ich aus dem Hotel +trat, war mir aufgefallen, daß die photographischen Kameras der +englischen Reporter sich plötzlich auf mich richteten. + +Auf dem Wege kam Bernard Shaw mir entgegen und reichte mir mit einem +sarkastischen: »Da haben Sie wieder einmal ein unverfälschtes Zeugnis +der deutschen Sozialdemokratie,« ein englisches Morgenblatt. + +Es enthielt ein Telegramm aus Berlin: »Der 'Vorwärts' beschuldigt Frau +Alix Brandt, die einzige Vertreterin der sozialdemokratischen Presse bei +der Englandreise deutscher Journalisten, des Parteiverrats und kündigt +ihr an, daß sie ihres unbotmäßigen Verhaltens wegen zur Rechenschaft +gezogen werden würde.« + +Ich ballte das Blatt Papier heftig zusammen und schleuderte es zu Boden. +»Das glaube ich nicht,« stieß ich zornig hervor. + +Shaw lachte: »Und doch ist nichts gewisser, weil nichts folgerichtiger +ist! Die deutsche Partei ist von nichts freier als von -- Freiheit. Sie +ist die konservativste, die respektabelste, die moralischste und die +bürgerlichste Partei Europas. Sie ist keine rohe Partei der Tat, sondern +eine Kanzel, von der herab Männer mit alten Ideen eindrucksvolle +Moralpredigten halten. Mit Millionen von Stimmen zu ihrer Verfügung, +widersteht sie den Lockungen des Ehrgeizes und denen realer Vorteile, +die ein öffentliches Amt mit sich bringt, und bezeichnet denjenigen, der +sich von den Freuden tugendhafter Entrüstung zu den Arbeiten praktischer +Verwaltung wendet oder auch nur an einer allgemeinen Veranstaltung in +öffentlichem Interesse teilnimmt, als einen Abtrünnigen und Verräter. +Freiheit vom Dogmenglauben ist eines der Grundprinzipien des echten +Sozialismus, -- die Deutschen sind dogmatischer als die Kirchenväter. +Der Wille zur Macht ist ein anderes, -- die Deutschen machen den Willen +zur Phrase daraus. Die Herrschaft des Geistes ist ein letztes, im +Gegensatz zur Herrschaft des Kapitals, -- die Deutschen stellen das auf +den Kopf und verlangen die Unterwerfung unter die Herrschaft der Masse.« + +Ich hatte seinen raschen Redefluß, den der Zorn diktierte, nicht +unterbrochen. Ich hörte den gleichen Ton heraus wie bei den Worten von +Burns, und in mir begann eine Saite, die schon lange leise tönte, +lebhaft mitzuschwingen. + +Noch am selben Abend bekam ich einen Brief von Keir Hardie. + +»... Ich bin ganz außerstande, zu begreifen, welches der Grund sein +konnte, Ihre Teilnahme an der Englandreise zu verurteilen,« hieß es +darin. »Es ist für uns Sozialisten in England eine selbstverständliche +Gewohnheit, gelegentlich mit Nichtsozialisten zusammenzugehen, wenn es +im Interesse der Förderung einer großen und guten Sache gelegen ist. +Unsere Erfahrung hat uns bewiesen, daß der Sozialismus dadurch nur +gestärkt werden kann. Ich will damit nicht behaupten, daß unsere +deutschen Genossen unserem Beispiel unbedingt folgen müßten, aber im +vorliegenden Fall bleibt ihre Haltung Ihnen gegenüber mir vollständig +unverständlich ...« + +Ich stand nun plötzlich im Mittelpunkt des Interesses und wurde von +Interviewern belagert, die von der ganzen Sache keine andere Auffassung +hatten, als daß die große deutsche Arbeiterpartei sich dadurch dem +Gelächter der Welt ausgesetzt habe. Und ich gab ihnen stets die gleiche +Antwort: »Die Sozialdemokratie, der ich stolz bin anzugehören, hat mit +den Quertreibereien einzelner von preußischem Polizeigeist durchseuchter +Genossen nichts zu tun.« Als aber mein Mann mir die Zeitungen schickte, +-- nicht nur den 'Vorwärts', sondern eine ganze Anzahl anderer +Parteiblätter, -- da schämte ich mich und ging den Interviewern so weit +als möglich aus dem Wege, um nicht reden zu müssen. Und doch war es +weniger die beleidigende Form der Angriffe, die mich verletzte, als die +Gehässigkeit, die dabei zum Ausdruck kam. Wie stark mußte sie sein, um +alle Klugheit, alle Rücksicht auf das Ansehen der Partei beiseite zu +schieben? Oder gab es etwas Lächerlicheres, als meine Reise, -- +gleichgültig, ob man sie verurteilte oder nicht, -- zu einem +Parteiskandal aufzubauschen? Nur eine tiefe, innere Krankheit konnte +solche Symptome zeitigen. Ich kämpfte noch mit mir, ob es nicht meiner +unwürdig wäre, mich gegen Ausbrüche der Pöbelgesinnung zu verteidigen, +als ich die Antwort erhielt, die mein Mann der Parteipresse hatte +zugehen lassen. Das waren Rutenstreiche, -- es blieb mir nichts zu +sagen übrig. Seltsam nur, daß die Ritterlichkeit, mit der er für mich +eintrat, eine alte Wunde aufs neue bluten machte, statt sie zu +schließen. + +Der Schatten, der sich mir über Englands schöne Sommertage breitete, +wich nicht mehr. + + * * * * * + +Ich hatte immer gegen Massen-Museumsführungen, gegen Gesellschaftsreisen +und dergleichen eine ausgesprochene Abneigung gehabt. Wem Kunst und +Natur mehr sein soll als ein Gesprächsthema, der muß ihnen Auge in Auge +still und allein gegenüberstehen. Und wer vor den Heiligtümern der +Menschheit seine Andacht verrichten will, der kann es nur in Gegenwart +derer, die seine Nächsten sind. + +Wir traten zusammen an Shakespeares Grab, -- es war wie ein Sakrileg. +Wir kamen in sein Geburtshaus und in die blumenumrankte, strohgedeckte +Hütte seiner Liebsten, -- aber Shakespeares Geist floh vor uns. + +Wir kamen nach Cambridge, jener alten Universität, die sich den Typus +der mittelalterlichen Klosterstadt noch erhalten hat. Wer ihre +Säulenhallen um alte Gärten allein betreten könnte, dem müßten die Bäume +in den Weisen derer rauschen und flüstern, die hier dichteten: eines +Marlowe, Milton, Byron. Und wer sich still an einen alten Pfeiler lehnen +und in die dämmernden Bogengänge blicken dürfte, dem würde aus dunkel +geschnitzten Pforten Erasmus von Rotterdam entgegentreten, und Cromwell, +und Newton. + +Wir sahen nur freundliche Professoren und Photographen und hörten Reden +und Tellergeklapper. + + * * * * * + +Als die Mehrzahl der Geladenen England wieder verlassen hatte, sprach +ich meinen Freund Stead, der als Reisemarschall der Gäste unaufhörlich +in Anspruch genommen gewesen war, zum erstenmal allein. + +»Ihnen geht es gut,« sagte er, als wir einander in seinem Heim gegenüber +saßen. + +»Woher wissen Sie das?« fragte ich mit einem bitteren Gefühl im Herzen. + +»Sollten Sie etwa noch den alten Glücksbegriffen huldigen?« fragte er +dagegen. + +»Jeder hat seine persönlichen,« antwortete ich ausweichend. + +»Und sollte nur einen haben, aus dem sich alle anderen entwickeln: +leistungsfähig zu sein,« ergänzte er. War ich schon so alt, daß er mir +solch einen Glücksbegriff zumutete, der mir nur mit äußerster +Selbstverleugnung Hand in Hand zu gehen schien? + +»Sie mißverstehen mich,« meinte er. »Ich begreife darunter die stärkste +Selbstbehauptung: die Entwicklung aller Fähigkeiten zum äußersten Maß +ihrer Leistungskraft ...« Wir wurden unterbrochen; es war gut so, denn +um so stärker prägten sich mir seine Worte ein. + +Nun blieb mir noch übrig, ehe ich heimfuhr, zu erreichen, was ich mir +vorgenommen hatte. Ich verhandelte mit verschiedenen Redaktionen wegen +der Übernahme einer deutschen Korrespondenz. In den Briefen meines +Mannes spürte ich immer deutlicher den schweren Atem der Sorgen. Um +irgend eine ihrer Lasten erleichtert, mußte ich nach Hause kommen. Aber +so oft ich auch durch die glutheißen Straßen Londons von einem Bureau +zum anderen ging, meine Abreise immer wieder aufschiebend, weil eine +neue leise Hoffnung mich festhielt, das Ergebnis blieb ein negatives. +Inzwischen war auch die bürgerliche Presse Deutschlands meiner Reise +wegen über mich hergefallen, -- die vereinzelten Stimmen der +Verteidigung waren im Chor der Schreier verhallt, -- das mochte die +höflich ablehnende Haltung mit verursachen. Ich mußte mich entschließen, +mit leeren Händen zurückzukehren. Nur einer Einladung wollte ich noch +Folge leisten. + +In Warwick, einem Städtchen am Avon, das von den dicken Türmen einer +uralten Burg überragt wird, fand eines jener historischen Festspiele +statt, an denen sich alljährlich in den verschiedenen Gegenden Englands +die ganze Bevölkerung beteiligt. Ich fuhr hin und sah im Park des +Schlosses die Darstellung jenes glanzumflossenen Teiles der englischen +Geschichte, von der seine Mauern noch erzählen. Auf der weiten, von +mächtigen Bäumen zu beiden Seiten abgeschlossenen Rasenfläche, mit dem +Fluß in der Mitte, der zwischen blühenden Rosenbüschen und hängenden +Weiden lautlos vorüberzieht, und dem Hintergrund einer sanft +verschwimmenden Hügellandschaft zogen Jahrhunderte vorüber. Und zuletzt +vereinigten sich noch einmal zweitausend Menschen zu Fuß und zu Pferde +in den Rüstungen und Gewändern aller Zeiten. Nun kommt die +Schlußapotheose, dachte ich, mit der Büste des Königs und einem »Rule +Britannia« aus allen Kehlen. Ich erhob mich, um zu gehen. + +Aber da sah ich, wie die Ritter und Edeldamen, die Fürsten und Könige +langsam und leise hinter Bäumen und Büschen verschwanden. Nur einer +blieb zurück, allein, weltbeherrschend, als wäre die jahrhundertelange +Entwicklung nur notwendig gewesen, um diesen einen hervorzubringen, der +größer ist als alle: William Shakespeare. + + * * * * * + +Der Wille zur Macht, -- die höchstmögliche Entwicklung der +Persönlichkeit als Ziel des einzelnen, -- der Übermensch als Ziel der +Menschheit --: zu einem einzigen vollen Akkord vereinigten sich +plötzlich die Klänge, die mir diesmal in England entgegengetönt hatten. +Mein Herz schlug zum Zerspringen wie das eines Gefangenen, dem die +Ketten vom Fuße gelöst werden und die Pforten sich öffnen zur freien +Wanderschaft. Er sieht nichts wieder als die alte vertraute Welt seiner +Jugend, und doch erscheint sie ihm wie ein Wunder so neu. Ein halbes +Kind war ich gewesen, als ich aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft den +ersten Ruf persönlicher Befreiung vernahm: »Das Leben sagt: Folge mir +nicht nach; sondern dir! sondern dir!« -- Galt nicht derselbe Ruf heute +der Menschheit? + + * * * * * + +Am letzten Tage meines londoner Aufenthalts traf ich auf der Straße eine +Kapitänin der Heilsarmee, die mich herzlich begrüßte. + +»Sie kennen mich wohl nicht mehr?« fragte sie lächelnd; »aber der Nacht +in Whitechapel vor elf Jahren erinnern Sie sich gewiß.« + +Im Augenblick sah ich das Weib wieder vor mir, die, von den Gefährten +ihres Jammers umringt, im Schmutz der Gasse geboren hatte. Ich streckte +meiner einstigen Führerin erschüttert die Hand entgegen. + +»Sie würden mir heute, nach all den Reformen des Grafschaftsrats, nichts +Ähnliches zeigen können,« sagte ich. + +»Man hat aufgeräumt, -- gewiß,« antwortete sie ruhig, »und an Stelle +mancher elenden Häuser neue gebaut, aber das Elend ist immer dasselbe. +Die einen sterben, andere wandern zu ...« + +»Entsetzlich!« rief ich aus. »Wie können Sie das nur ertragen?! +Erscheint Ihnen nicht Ihre ganze Arbeit hoffnungslos?!« + +Sie lächelte freundlich: »Ich habe viele Seelen gewonnen, denen für +allen Erdenjammer der Himmel offen steht.« + +Noch nie war mir der Christenglaube so grausam erschienen als in diesem +Augenblick. Wie eine Zyklopenmauer richtete er sich auf zwischen den +Menschen und ihrer Erlösung. Ich verabschiedete mich rasch. Den vollen +Akkord, den ich eben noch vernommen hatte, durchtönte eine schrille +Dissonanz. Ich war der schaffende Künstler nicht, der die einheitliche +Lösung hätte finden können. Als ich aber dann heimwärts fuhr, +beherrschte mich nicht mehr jene niederdrückende Empfindung, mit leeren +Händen zu kommen. + + * * * * * + +Mein Mann empfing mich mit wehmütiger Zärtlichkeit, sodaß ich ihm +angstvoll forschend ins Auge sah. »Es ist nichts, Kind, nichts!« wehrte +er in nervöser Erregung ab. »Ich bin nur abgespannt, -- nur müde.« Aber +allmählich erfuhr ich doch, was geschehen war: eine Gruppe von +Parteigenossen seines Wahlkreises forderte von ihm die Niederlegung +seines Mandats, weil -- ich mich an der Englandreise beteiligt hatte, +und ein außerordentlicher Kreistag sollte darüber entscheiden. + +Glühende Sommerhitze brütete über der Mark; an den Bäumen in den Straßen +hingen die Blätter schon gelb und tot; kein Lüftchen rührte sich, und +doch umgaben dichte Staubwolken den Wagen, der uns von Gusow nach +Platkow führte. In dem kleinen Saal herrschte unerträgliche Schwüle. Er +war schon gefüllt, als wir kamen: von lauter schweigenden Menschen mit +harten Zügen und finsteren Blicken. Unsere alten Kampfgefährten rührten +kaum an die Mütze bei unserem Eintritt. Einen Augenblick lang +umklammerte ich den Arm meines Mannes, -- außer ihm hatte ich hier +keinen Freund mehr. Die Anklage wurde verlesen. Es war die Sprache des +»Vorwärts«, den sie führte. »Das hat Berlin diktiert!« rief Heinrich. +Die Falten auf der Stirn unserer Richter vertieften sich. + +Mein Mann antwortete zuerst. Er erinnerte daran, wie häufig schon +hervorragende Parteigenossen sich mit politischen Gegnern zu gemeinsamer +Arbeit vereinigt hätten, wie es auch an Beispielen für das harmlosere +Zusammensein zu geselligen Zwecken nicht gefehlt habe. Und als einer +wütend dazwischen schrie: »Die Monarchentoaste!« erklärte er, daß die +Teilnahme an dieser Form internationaler Höflichkeit um so weniger als +eine Verleugnung der republikanischen Gesinnung angesehen werden könne, +nachdem wir uns den viel ernsteren Treueiden der Landtagsabgeordneten +unterwerfen müßten. Als er geendet hatte, hoben sich ein paar Hände zu +schüchternem Applaus; die Mehrzahl der Genossen aber verharrte weiter in +finsterem Schweigen. Die nach ihm sprachen, hatten ihre Reden alle auf +einen Ton gestimmt: daß die Partei durch uns geschädigt worden sei. + +»Für uns jibt's nur ein rechts und links,« rief der Maurer Merten; »die +Akademiker, die nich Fleisch sind von unserem Fleisch, die zieht's eben +immer wieder zu den Bourgeois. Ich aber sage Euch, Jenossen« -- dabei +hieb er mit der breiten Faust auf den Tisch -- »sowas dürfen wir uns +nich länger gefallen lassen, am wenigsten von unserem Abgeordneten. Was +wäre verloren, wenn die Jenossin Brandt nich nach England jefahren +wäre?! Es wäre ooch noch so! Nu aber, wo sie hinfuhr, sehen wir, daß sie +kein proletarisches Bewußtsein hat; daß sie den Klassenkampf in +Harmonieduselei verwandeln möchte und statt gegen die Gegner neben uns +zu stehen mit ihnen bei Schampagner un Braten techtelmechtelt ...« + +»Bravo, Bravo« -- klang es von allen Seiten, während mein Mann wütend +vom Stuhl sprang und ein »Unverschämt!« zwischen den Zähnen hervorstieß. +Mich packte ein jäher Schreck, als habe sich plötzlich vor mir die Erde +gespalten: standen wir allein auf der einen Seite und jenseits die +selbsterwählten Gefährten?! + +»Die Genossin Brandt hat das Wort,« hörte ich wie von weit her sagen. +Ich sammelte mich rasch. Aller Augen sah ich auf mich gerichtet. + +»Mein Vorredner,« begann ich, »hat einen konsequenten Standpunkt +vertreten, er hätte nur hinzufügen müssen, warum bei uns zum Verbrechen +gestempelt wird, was anderen kein Härchen krümmte: wir sind des +Revisionismus verdächtig. Das Schauspiel, das Sie hier aufführen, wäre +noch kläglicher, als es so wie so schon ist, wenn nicht im Hintergrund +tiefere Differenzen schliefen. Sie stehen auf dem Boden des +Klassenkampfes, -- wir auch; Sie hassen die kapitalistische +Wirtschaftsordnung, -- wir auch. Aber ihrer selbst unbewußt, führen Sie +den Klassenkampf im Sinne des Krieges; Sie wollen den Gegner +niederzwingen, Sie wollen sein Land erobern. Sie, die Sie seit +Jahrtausenden die Lastträger der Menschheit sind, würden es schon als +gerecht empfinden, wenn nur die Rollen der Unterdrücker und +Unterdrückten vertauscht würden. Sie sehen in jedem Vertreter der +herrschenden Gesellschaft einen Feind, weil Sie ihm als die Abhängigen, +Unfreien gegenüberstehen, weil Sie ihm schon das bloße Sattsein neiden +müssen. Wir können Ihren von der Bitterkeit des eigenen Herzens +genährten Haß nicht mitfühlen, denn nicht persönliches Leiden machte uns +zu Ihren Genossen. Uns ist das Ziel des Kampfes nicht die veränderte +Herrschaft von Menschen über Menschen, sondern die uneingeschränkte +Herrschaft der Menschheit über die Natur. Die Erde wollen wir erobern, +um gleiche Entwicklungsbedingungen für alle zu schaffen, nicht +Feindesland, das Unterworfene beackern sollen ...« + +Ein unwilliges Gemurmel erhob sich. Im Saal fing es an zu dämmern. Ich +unterschied nur noch die Zunächstsitzenden. Sonst war alles eine +schwarze Masse, aus der nur hie und da ein kahler, breiter Schädel, ein +weißer Bart, der glühende Punkt einer Zigarre herausleuchtete. + +»Die Diktatur des Proletariats!« klang es mit tiefer Stimme drohend aus +dem dunkelsten Winkel. + +Die Jakobiner! antwortete es in meinem Innern. Ich fühlte, die Luft war +geladen mit Sprengstoff gegen mich. + +Den Faden meiner Rede hatte ich verloren, und unsicher und leise fuhr +ich fort: »Ich habe Schulter an Schulter mit Ihnen gekämpft, -- was +bedeutet das gegenüber der Tatsache, daß ich mit politischen Gegnern auf +demselben Schiff nach England fuhr! Wir haben zusammen diesen Wahlkreis +erobert, und in jener Nacht, da die alte rote Fahne als Zeichen des +Sieges über uns flatterte, hat uns ein starkes Gefühl, wie ich glaubte, +auf immer verbunden, -- aber was bedeutet das gegenüber dem Verbrechen +der Kaisertoaste! Der Zweck der Reise war nichts anderes, als was im +Interesse des Sozialismus gelegen ist, -- was bedeutet das gegenüber der +Sünde, mit Nichtsozialisten an einem Tische gesessen zu haben! Dafür +ist's nicht genug, daß unsere Presse mich beschimpfte, wie kein +bürgerliches Blatt jemals zuvor, -- nein, es muß auch noch ein Exempel +statuiert werden: der Genosse Brandt muß fallen! ... Nicht um +unsertwillen, denn nicht wir sind die Unterlegenen, wenn Sie den +vorliegenden Antrag annehmen, sondern im Interesse der Partei erwarte +ich von Ihnen seine Ablehnung. Leisten Sie ihm Folge, so enthüllen Sie +eine schwärende Wunde, und das in einem Augenblick, wo die bürgerliche +Welt gierig darauf wartet, uns bei einer Schwäche ertappen zu +können ...« + +Keine Hand rührte sich. Die Petroleumlampe, die von einem roten +Papierschirm umgeben, von der Decke herabhing, flammte auf und warf ein +unsicher flackerndes Licht über heiße Gesichter. + +Mein Mann sprach noch einmal, -- kalt, zornig. »Ich verlange nicht nur, +daß Sie den Antrag ablehnen, sondern daß Sie ihn zurückziehen,« sagte +er. + +Der Geruch der qualmenden Lampe machte mich schwindeln. Während der +Pause, die die Genossen zur internen Beratung anberaumt hatten, +verließen wir den Saal. Draußen empfing uns die stille, mondhelle Nacht. +Das Armenhaus gegenüber warf einen breiten, schwarzen Schatten auf den +Sand. + +»Der Antrag, den Genossen Brandt zur Niederlegung seines Mandats zu +veranlassen, ist zurückgezogen,« erklärte der Vorsitzende, als wir +wieder eintraten. + +Die Versammlung ging ruhig auseinander. Wir verabschiedeten uns mit +einem förmlichen Gruß. Auf unserem Wege nach der Station geleitete uns +niemand. + +Kaum waren wir ein paar Tage lang in unsere Arbeit wieder vertieft, als +ich erfuhr, daß die Berliner Parteileitung mich aus der offiziellen +Rednerliste der Partei gestrichen habe. Ich legte Protest ein und +verlangte, gehört zu werden. + +Man lud mich vor. Rings um den Saal saßen die Männer, in der Mitte an +einer langen Tafel die Frauen, Wanda Orbin an ihrer Spitze. Sie waren +meine Ankläger gewesen. Martha Bartels war der Staatsanwalt. Sie zählte +alle meine Sünden auf, von einer Agitationsreise an, die ich vor vier +Jahren hatte absagen müssen, bis zur Englandfahrt. Aber auch meine +Verteidigung war eine Anklage: ich verschwieg nichts. Mitten in meiner +Rede erhob sich Wanda Orbin ungestüm von ihrem Platz; ich sah, wie ein +Zittern ihren Körper durchlief, wie der Zorn ihre Züge verzerrte. Im +nächsten Augenblick stand sie vor mir und erhob die Faust, -- einer der +zunächst sitzenden Genossen sprang dazwischen. + +»So diskutieren wir nicht!« rief er empört. + +Der Beschluß, meinen Namen von der Rednerliste zu entfernen, wurde +aufgehoben. Das Verhalten Wanda Orbins mochte die Genossen stutzig +gemacht haben. Trotzdem war mein Sieg nur ein scheinbarer; in seinen +Folgen blieb der Beschluß bestehen. + +Eine tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich meiner. Jeder Kampf um +Ideen wirkt erfrischend, selbst wenn er mit den schärfsten Waffen +geführt wird. Aber was ich erlebte, war so eng, so klein, hinterließ +einen so arm, mit einem so bitteren Geschmack auf der Zunge. Nicht +Gewitterschwüle war's, die lastend auf mir ruhte und die Hoffnung auf +Blitz und Wolkenbruch weckt, sondern feuchtwarmer Nebel, ganz dichter, +undurchdringlicher. Und er umschlang mit seinen langen Armen, die sich +nicht greifen, noch weniger zurückstoßen lassen, die ganze Partei. + + * * * * * + +Unter dem Zeichen der siegreichen russischen Revolution hatte der Jenaer +Parteitag gestanden, eine tiefe Erregung, die nach Taten schrie, hatte +sich aller bemächtigt; die Resolution zum Massenstreik hatte angesichts +dieser Stimmung, so vorsichtig sie gefaßt war, wie eine Fanfare +geklungen. Und nun war der Rausch vorüber; die Ernüchterung allein +blieb. In kleinlichem Hader, in gegenseitigen Vorwürfen machte sie sich +Luft. + +Mit steigendem Mißbehagen empfanden die Nur-Politiker den leisen Hohn, +mit dem die Gewerkschafter ihnen begegneten. Sie hatten von jeher dem +Theoretisieren über den Massenstreik skeptisch gegenübergestanden, und +auf ihrem Kongreß in Köln sprachen sie sich rückhaltlos aus; von der +Unfruchtbarkeit der Partei, von dem stagnierenden Sumpf der +gegenwärtigen Situation, von der kläglichen Lage, in die wir durch die +wirkungslos verpuffte Landtagswahldemonstration gekommen seien, von dem +Mißverhältnis zwischen Worten und Taten war viel die Rede. Nicht ohne +berechtigten Stolz wiesen sie darauf hin, daß die anderthalb Millionen +gewerkschaftlich Organisierter eine stärkere Macht repräsentierten als +die viermalhunderttausend Mitglieder der sozialdemokratischen +Wahlvereine. + +»Ich habe die Möglichkeit einer Spaltung der Partei immer weit von mir +gewiesen,« sagte einer der gewerkschaftlichen Führer; »aber wenn die +Dinge sich weiter entwickeln wie jetzt, dann reißt uns, weiß Gott, die +Geduld! Die Radikalen, die, wenn man den Firnis abkratzt, nichts sind +als gewöhnliche Spießer, bilden sich ein, wir tanzen nach ihrer Pfeife, +bloß weil sie so laut ist. Sie sollen sich wundern!« + +Auf dem Parteitag zu Mannheim kam es zu einem Duell zwischen Bebel und +Legien. Keiner war unbestrittener Sieger, Wunden trugen beide davon, die +sogenannte Einigungsresolution war nichts als ein Pflaster. Und die +schweren Nebelschwaden senkten sich tiefer. + +Plötzlich aber erhob sich ein Sturm, den kein Wetterkundiger +vorausgesehen hatte: die Regierung forderte einen Nachtragsetat für den +Krieg gegen die Hereros, der im Verhältnis zu den Millionen, die die +Reichstagsmehrheit bisher für die Kolonien bewilligt hatte, eine +Lappalie war. Von den Rednern des Zentrums und der Sozialdemokratie +wurde dabei die ganze Kolonialpolitik mit ihren Gewaltmaßregeln, ihren +Grausamkeiten aufgerollt, und zu allgemeiner Überraschung wurde der +Kredit für Südwest-Afrika abgelehnt. Das erschien der Regierung als der +geeignete Moment, dem Volke durch die Tat zu beweisen, daß der +Konstitutionalismus in Deutschland nur auf dem Papiere steht: nicht der +Kanzler und die Minister danken ab, wenn die Volksvertreter sie +desavouieren, sondern die Volksvertreter werden mit einem Fußtritt +hinausgeworfen, wenn sie das persönliche Regiment nicht jasagend +anerkennen. + +Wir erfuhren die Nachricht der Reichstagsauflösung, als wir mit Romberg +im Kaffee des Kaiserhofs saßen. Und hier, wo eine Anzahl der politischen +Berichterstatter größerer Zeitungen zu verkehren pflegten, rief sie +einen Aufruhr hervor, wie ihn Berlin sonst nicht kannte. + +»Eine unglaubliche Dummheit der Regierung!« rief der eine stirnrunzelnd, +der andere frohlockend. + +»Nun geht's in den Kampf --« Ich mußte an mich halten, um es nicht +jubelnd herauszustoßen. Ich sah wieder entwölkten Himmel, weiten +Horizont. + +»Wenn die Partei sich selbst zerfleischt, so ist noch immer die +Regierung zugesprungen, um die Wunden zu heilen,« sagte mein Mann. +Romberg zuckte die Achseln: + +»Die Kolonialfrage als Wahlparole?! Ich fürchte, Sie täuschen sich über +ihre Bedeutung.« + + * * * * * + +Der Winter war ungewöhnlich hart damals. Gerade die Not, die ihn zum +Gefolge hat, macht ihn zu unserem Agitator, dachte ich. Alle unsere +Gegner, an ihrer Spitze der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie und +der Flottenverein, rüsteten sich bis an die Zähne wider uns. Ich war +überzeugt: das steigere nur unsere Kampflust und festige unsere +Einigkeit wieder. Fürst Bülow selbst trat auf das Schlachtfeld und rief +die staatserhaltenden Kräfte gegen die Sozialdemokratie auf. Dieses +Eingreifen des höchsten Staatsbeamten wird selbst unsere lauen Anhänger +zu hellem Zorn entflammen, -- dessen war ich gewiß. + +Und der Kampf begann. Über knirschenden Schnee flog der Schlitten, der +mich von einem Dorf zum anderen trug. Oft bestieg ich ihn, glühheiß von +der eben gehaltenen Rede, und die Luft, die mir den Atem am Munde +gefrieren ließ, schien mir eine Wohltat. In den niedrigen Sälen fanden +sich die Menschen ein wie sonst, aber der Sturm, der in den +Schornsteinen heulte, der Schnee, der in dichten Flocken gegen die +Fenster flog, trieb ihnen kühle Schauer über den Rücken. + +Je näher der Tag der Entscheidung rückte, desto fieberhafter arbeiteten +wir. Den Husten, der mir des Nachts den Körper erschütterte, suchte ich +zu ersticken, meine Stimme, die versagen wollte, zwang ich unter meinen +Willen. Wir glaubten an den Sieg. Und in Augenblicken selbstvergessener +Hoffnung, wo die bösen Geister der Sorge vor unserer Zuversicht die +Flucht ergriffen, wo alle Furcht sich verkroch wie Schakale vor der +aufgehenden Sonne, da fühlte ich, wie mein Herz heiß wurde und der +Aberglaube Gewalt über mich bekam: von der Entscheidung hängt auch +unsere Zukunft ab. + + * * * * * + +Wieder, wie vor vier Jahren, saßen wir am Abend der Wahl im +Gewerkschaftshaus zu Frankfurt. Und wieder hatte die Gärtnersfrau den +Korb voll roter Nelken neben sich, und die Fahne lehnte eingerollt an +der Wand. Aber die Genossen, die sich allmählich hereindrängten, machten +ernste Gesichter, und die Boten, die kamen, brachten lauter Hiobsposten. +Kein Ort, ohne einen Rückgang unserer Stimmen! Dazwischen die Depeschen +aus anderen Kreisen: Verlust um Verlust. Noch ehe die letzten +Nachrichten gekommen waren, leerte sich die Straße unter unseren +Fenstern, und aus dem Saal schlich sich leise einer nach dem anderen. Es +schlug Mitternacht, -- die Nelken welkten schon im Korbe. Wir waren nur +noch ein Häuflein in dem großen öden Raum, -- wir wollten uns nichts +ersparen: die Schlacht war endgültig verloren. + +Wenige Tage später -- in der Nacht nach den Stichwahlen -- gingen wir +durch die Straßen Berlins: da kamen sie in langen Zügen, unsere +Überwinder -- kein Polizeisäbel, kein Schutzmannskordon hielt sie auf. +Vor dem Königsschloß sammelten sie sich in schwarzen Massen. »Heil dir +im Siegerkranz --« brausend stiegen die Töne durch die klare Winterluft +zu dem hellen Fenster empor, an dem der sich zeigte, der heute in +Wahrheit der Sieger war: der Kaiser. + + + + +Siebzehntes Kapitel + + +Vor einem halben Menschenalter war's. Ich stand allein auf Bergesspitze +im Gewittersturm. Dicht über mir hingen die Wolken, aus denen das Wasser +brausend in die Tiefe schoß, unter mir ballten sie sich zusammen und +verdeckten jeden Ausblick auf stille Dörfer und freundliche Heimstätten. +Der Donner rollte; die Berge antworteten ihm, -- ein Gelächter der +Riesen über das kleine Menschengeschlecht. Jeder Blitz öffnete die +Wolkenwand; das Himmelsgewölbe dahinter stand in Flammen. + +Ich aber konnte nicht vor, -- nicht zurück. Ich mußte mich dem Wetter +preisgeben, -- und ich fürchtete mich -- -- + + * * * * * + +Wir lagen nächtelang wach. Jeder tat, als schliefe er, aus Schonung für +den anderen. Unsere Arbeit lähmte Hoffnungslosigkeit. Wir lächelten, als +wären wir froh, um dem anderen nicht wehe zu tun. + +»Ilse meldet sich an --,« sagte Heinrich, als er eines Morgens die Post +durchsah. + +»Jetzt?!« rief ich erschrocken. Sie kam schon am nächsten Tage, hatte +einen seltsam verängstigten Zug im Gesicht und ein erzwungen +leichtsinniges Lächeln um die Lippen. + +»Ich muß einmal wieder Großstadtluft atmen,« meinte sie; »die Stille bei +uns ist oft schaurig.« + +Mir schien, als zittere sie dabei. Von nun an war der Telegraphenbote +unser häufigster Gast. Zuerst glaubte ich, ihres Mannes besorgte, +sehnsüchtige Liebe käme in diesem Depeschenwechsel zum Ausdruck. Warum +hatte sie denn nur jedesmal rote Augen, wenn ein Telegramm gekommen war? + +Da, eines Morgens, stürmte einer in unser Zimmer, die Haare zerzaust, +die Augen rot unterlaufen, -- der Gatte meiner Schwester. Vor seinen +Verfolgern sollten wir ihn schützen, schrie er verzweifelt und barg den +dunkeln Kopf in Ilsens Schoß, die mit erloschenem Blick auf ihn +niedersah, die kleinen schwachen Hände auf seinem Haar. Noch am selben +Tage kam er ins Irrenhaus. Er war tobsüchtig. Dann brach auch Ilse +zusammen; aber sie weinte nicht, sie sprach nicht über ihr Schicksal, +sie war nur wie erstarrt. Auch als sich herausstellte, daß ein großer +Teil ihres Vermögens am Sanatorium ihres Mannes verloren gegangen war, +zuckte sie nur die Achseln. + +Um so furchtbarer traf es uns. Bisher wäre der Verlust des Geldes, mit +dem sie sich an der Neuen Gesellschaft beteiligt hatte, keine ernste +Frage für sie gewesen. Jetzt war sie es. Hatte ich vor ihrem Kommen +geglaubt, zusammenzubrechen, jetzt kam mir die Kraft zurück, eine des +Fiebers. + +»Wir müssen aushalten, Heinz, wir müssen!« sagte ich, und wenn eine +seiner vielen Bemühungen, Hilfe zu schaffen, wieder vergeblich gewesen +war, so trieb ich ihn zu immer neuen Versuchen an. Und hie und da +glückten sie. Für ein paar Monate konnten wir weiter schaffen, konnten +leben. Aber jedesmal, wenn wir Hoffnung schöpften, erschien sicherlich +irgendein Hetzartikel in der Parteipresse gegen uns, oder in den +Wahlvereinen wurden wir von radikalen Genossen einer neuen Ketzerei +beschuldigt, oder der alte Vorwurf des Geschäftssozialismus wurde laut. +Wir spürten das alles an der Abnahme der Abonnenten. + +Wie kann ich Geld schaffen, -- wie?! Die Frage beherrschte meine +Gedanken immer mehr. Ein »freier« Schriftsteller war ich, -- einer von +den Tausenden, die ausziehen, ihre Feder zu führen wie ein Schwert. Aber +die Not heftet sich an ihre Füße, zuerst ein Zwerg, und dann ein Riese, +der sie in seine Dienste zwingt. + +»Lieber sterben!« stöhnte ich. + +Doch dann sah ich mein Kind, -- wie es blaß war, welch forschende Augen +es auf mich richtete! Ich riß es in meine Arme: + +»Unter jedes Joch beuge ich meinen Nacken für dich,« dachte ich +verzweifelt. + +Ich beschloß, Vorträge zu halten gegen Entree. Das war nichts +Erniedrigendes. Jeder Dozent an der Universität bekommt ein Honorar für +die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die er den Hörern vermittelt. +Trotzdem widerstrebte es mir. Ein Gefühl grenzenloser Scham trieb mir +den Angstschweiß jedesmal auf die Stirn, wenn ich die Rednertribüne +betrat. Ich hatte immer einen vollen Saal. Ich »zog«, -- ich war eine +Sensation. Wie ein gezähmter Löwe im Zirkus. Gegen ein paar Mark +Eintritt konnte sich nun die beste Gesellschaft, ohne sich etwas zu +vergeben, die berüchtigte Sozialdemokratin ansehen, -- mit dem Opernglas +sogar. Meine Zuhörer trugen rauschende Kleider und viele Brillanten an +den weißen Händen, mit denen sie Beifall klatschten, um zu erzwingen, +daß ich mich vor ihnen verbeugte. + +»Unglaublich von einer Genossin, in diesem goldstrotzenden Saal zu reden +und sich von diesem Publikum bezahlen zu lassen --,« sagte eine +Besucherin, als ich gerade an ihr vorüber ins Freie trat. Ich preßte die +Lippen zusammen, um nicht heftig aufzufahren --. + +Sobald ich sprach, erschrak ich vor der Stimme, die nicht mehr die meine +war. Im letzten Wahlkampf hatte sie ihren Klang verloren, war heiser und +rauh geworden. Und ich hatte sie geliebt, weil sie meine Worte so leicht +und willig bis in jeden Winkel trug. Doch: -- was bedeutete das jetzt?! +Es war mehr verloren gegangen als der helle Ton meiner Stimme. + +Ich fing an zu reisen; von einer Stadt in die andere. Zuweilen auf die +Einladung irgendeines literarischen Vereines hin. In Hannover sagte mir +der Vorsitzende: + +»Nicht wahr, Sie richten sich darauf ein, daß Offiziere unter unseren +Mitgliedern sind.« + +In Köln hieß es: »Wir rechnen darauf, daß Sie auf unsere jungen Mädchen +Rücksicht nehmen.« + +Hätte ich ihnen doch den Rücken kehren können! + +Wenn ich nach Hause kam, umklammerte mich mein Sohn mit überströmender +Zärtlichkeit. Wie ich ihm fehlte! Niemand hatte Zeit für ihn! Und doch +bedurfte er immer mehr der Freundschaft der Eltern! Über hundert +Rätselfragen des Daseins begann er in seinen vielen einsamen Stunden +nachzugrübeln. Und seine Phantasie, deren üppige Ranken ohne Stütze +blieben, ohne die Hand des Gärtners, der sie zur rechten Zeit zu +beschneiden versteht, überwucherten sein Gefühl. Er fürchtete sich oft +vor seinen eigenen Träumen, so daß ich ihn des Nachts zu mir betten +mußte. + +»Du verzärtelst den Jungen --,« sagte Heinrich dann ärgerlich. Und für +übertriebene Sentimentalität hielt er es, wenn ich von der Atmosphäre +des Unglücks sprach, die sichtlich auf des Kindes Seele lastete. So +lernte ich schweigen, auch über das, was mir am tiefsten das Herz +bewegte. Und in sehr dunkeln Stunden bemächtigte sich meiner ein +fremdes, böses Gefühl. Dann häufte ich auf meinen Mann alle Schuld. + +In solch einer Stimmung traf mich Romberg. Er war voll aufrichtiger +Teilnahme. + +»Lange halte ich es nicht mehr aus,« sagte ich, den Kopf in den Händen +vergraben. Er sollte nicht sehen, daß meine Kraft nicht einmal mehr +ausreichte, um die Tränen zurückzuhalten. + +»Ich wüßte eine Hilfe,« begann er dann langsam, »eine, durch die Sie +frei würden und sorgenlos.« + +Ich hob den Kopf; alles Blut strömte mir zum Herzen. Eine Hilfe! Er +zögerte. Dann sah er mich an mit einem festen warmen Blick, der die +Freundschaft langer Jahre in sich schloß und sagte, jedes Wort betonend: + +»Trennen Sie sich von Ihrem Mann.« + +Als Minuten vergingen, ohne daß ich antwortete, erhob er sich. + +»Zürnen Sie mir?« fragte er. + +»Nein,« antwortete ich, ihm die Hand entgegenstreckend. Dann überliefs +mich kalt. Auch jetzt lag die seine schlaff und kraftlos zwischen meinen +Fingern. + +Ich überlegte seinen Rat und erschrak nicht einmal vor der kühlen Ruhe, +mit der ich es zu tun vermochte. Er hatte recht: allein mit meinem Sohn, +der Last der Zeitschrift ledig, die das meiste verschlang, was ich +verdiente, würde ich, wenn auch noch so bescheiden, von meiner Arbeit +leben können. Und ich wäre frei, -- frei! Unwillkürlich streckte ich die +Arme weit aus, als gelte es, die Welt zu umfassen. Aber dann sah ich +ihn: meinen Mann, meinen Kampfgefährten, meinen Leidensgenossen, -- den +Vater meines Kindes! Ich fing an, ihn zu beobachten. Wie er leiden +mußte. Und wie er mich liebte! + +Er brachte mir täglich ein paar Blumen mit, und wenn es nur wenige +Veilchen waren. Das schlimmste suchte er mir aus dem Wege zu räumen, so +lange es ging. Er hatte eine ritterliche, zurückhaltende Zärtlichkeit +für mich. Und mein Junge hing an dem Vater. + +»Ich kann nicht, lieber Freund,« sagte ich mit einem wehen Lächeln, als +Romberg wiederkam. Er runzelte die Stirn und wandte sich ab. Ich legte +ihm die Hand auf den Arm. + +»Sie müssen versuchen, mich zu verstehen, Sie vor allem!« bat ich. +»Haben Sie mich nicht selbst verspottet, als ich einmal die freie Liebe +predigte, weil ich überzeugt war, das Eheproblem dadurch lösen zu +können? Heute weiß ich, daß der Zettel auf dem Standesamt nicht die +stärkste Fessel ist, die sie unfrei macht. Ich habe Frauen gesehen, die +sich voll Idealismus dem Mann ihrer Wahl vermählten, ohne ihren Bund +nach außen sanktionieren zu lassen. Nach kurzer Zeit sind sie +bedauernswertere Sklavinnen geworden als die staatlich abgestempelten +Ehefrauen. Ihre und ihres Kindes Existenz war von ihrem Manne abhängig, +und jeden Tag konnte er sie verlassen. Darum klammerten sie sich an ihn, +unterwarfen sich ihm, ertrugen seine Brutalität, seine Launen, seine +Treulosigkeiten. Ich erkannte, daß die wirtschaftliche Selbständigkeit +der Frau die Voraussetzung des freien Liebesbundes sein muß..« + +»Nun -- und sind Sie etwa wirtschaftlich abhängig?! Sie, mit Ihrer +Begabung, Ihrer Arbeitskraft?« unterbrach er mich heftig. + +»Nein, gewiß nicht,« entgegnete ich; »diese Fessel trag' ich nicht mehr, +und keine Frau brauchte ihre Menschenwürde von ihr erdrosseln zu lassen, +wenn sie arbeiten gelernt hat. Aber es gibt andere Fesseln, -- zart und +weich wie Seide, -- die unzerreißbar sind. Mein Sohn liebt seinen Vater. +Wie kann ich sein Kinderherz verwunden, solch einen Zwiespalt in seine +Seele tragen?« + +»Ein Kind überwindet rasch,« antwortete Romberg mit einer wegwerfenden +Handbewegung. + +Ich verstummte. Er, der mir so nahe gewesen war, rückte plötzlich weit, +weit von mir ab. Ihm von Heinrichs Liebe, von seinem Unglück und den +anderen für mich unzerreißbaren Fesseln zu reden, wäre mir wie eine +Preisgabe vorgekommen. + +Und doch: irgend etwas mußte geschehen. + +»Bald, -- bald reise ich nicht mehr fort ohne dich,« hatte ich immer +wieder beim Abschiednehmen mein Kind getröstet. + +»Wann bleibst du wieder bei mir, Mamachen?« fragte es, und jedesmal +wurde der Ausdruck seines Gesichtchens quälender. + + * * * * * + +Meine nächste Vortragsreise führte mich nach Leipzig. Dort wohnte einer +jener stillen Genossen, der für den Revisionismus eine offene Hand zu +haben pflegte. Als mein Mann sich im Interesse der Neuen Gesellschaft +einmal schriftlich an ihn gewandt hatte, war seine Antwort ein +unfreundliches glattes Nein gewesen. Trotzdem hoffte ich noch auf die +Wirkung einer persönlichen Unterredung. Es galt einen letzten +verzweifelten Versuch. + +Ich werde die Reise nie vergessen, nie den Augenblick, wo ich, zitternd +vor Scham und Angst, in des reichen Mannes Zimmer trat. Er mochte ahnen, +daß ich als Bittende kam. Es dauerte Sekunden, ehe er mich zum Sitzen +nötigte. Vielleicht würde er es gar nicht getan haben, wenn er nicht +gesehen hätte, daß mir die Kniee bebten. Ich hatte einen Mantel an. +Während der Zeit, die ich bei ihm war, nahm er ihn mir nicht ab. Er ließ +mich reden, ohne eine Miene zu verziehen. Und dann sprach er -- langsam, +jedes Wort betonend, sodaß es mir weh tat, wie lauter Schläge: »Ihr +Mann ist ein guter Redakteur; das hat er am Archiv bewiesen. Aber er ist +ein schlechter Geschäftsmann, sonst hätte er das prosperierende Archiv, +das ihm eine sichere und angesehene Stellung bot, nicht hingegeben, um +ein aussichtsloses Unternehmen zu beginnen. Ich mag nicht Wasser in ein +hohles Faß schöpfen.« + +»Und doch erkannten Sie, wie ich hörte, selber an, daß die neue Aufgabe, +die er sich stellte, wichtig, ja notwendig war,« wandte ich ein. + +»Ja. Für einen Mann, der ausreichende Mittel hat, um die Sache +durchzuführen.« Damit erhob er sich. + +Ich war entlassen. Mir klebte die Zunge am Gaumen. Nun war der Moment, +der einzige, der mir noch blieb. Ich war ja nicht gekommen, um einen +Rechtsanspruch durchzusetzen, -- ich mußte bitten -- bitten. Ich fühlte +die Tränen der Aufregung mir heiß die Augen füllen. Nur nicht weinen, -- +jetzt nicht weinen, dachte ich und biß die Zähne aufeinander. Da aber +sah ich plötzlich mein Kind vor mir -- ganz deutlich: mit dem ernsten +Blick und der sehnsüchtigen Frage auf den Lippen. Mein Kind! Glühende +Schweißtropfen bedeckten meine Stirn, der Atem stockte. Mit einer +raschen Bewegung warf ich den schweren Mantel von mir und riß das +Fenster rücksichtslos weit auf. Ein konvulsivisches Schluchzen, dessen +ich nicht Herr werden konnte, erschütterte meinen Körper. Dann wandte +ich mich um und hob den Mantel von der Erde auf. + +»So will ich gehen --,« kam es tonlos über meine Lippen, -- ich konnte +nicht bitten, ich konnte nicht! + +»Setzen Sie sich!« -- Es war wie ein Kommando. Die Erschöpfung, nicht +der Gehorsam zwang mich, ihm zu folgen. + +»Ich werde Ihnen helfen, -- Ihnen persönlich, -- dieses eine Mal --« + +Ich kehrte zum Hotel zurück. Plötzlich fiel mir ein, daß ich die kühle +Hand mit meinen Fingern dankend umschlossen hatte. Die Hand des Mannes, +vor dem ich mich so erniedrigt hatte! + + * * * * * + +Und nun ging es zu Ende. Unweigerlich. Trotzdem ich noch hergab, was ich +eben empfangen hatte. Ein einziges Mal noch stieg unsere Hoffnung hoch +auf, wie eine Leuchtkugel. Heinrich erhielt von einem, der helfen +konnte, ein festes Versprechen. Er schloß darauf hin aufs neue mit dem +Drucker ab und mit dem Papierlieferanten. -- Aber die Leuchtkugel +zerplatzte, und es wurde ganz, ganz dunkel. + +Ich verlangte Klarheit von meinem Mann, -- rückhaltlose. Er gab sie mir +mit einer Ruhe, von der ich glaubte, daß sie eine erzwungene sei: Alles +war verloren. Da wir den Konkurs vermeiden wollten, blieb uns eine +Schuldenlast, an der wir Jahre zu tragen haben würden. Um die +allernächsten Zahlungen leisten und selbst leben zu können, gab es nur +einen Ausweg. + +»Wir verpfänden unsere Möbel --,« sagte Heinrich, mit einem Ton, als +spräche er von dem Gleichgültigsten von der Welt. + +Bisher hatte ich zusammengekauert auf dem großen Stuhl gesessen, der mir +immer wie etwas Lebendiges gewesen war, weil seine Lehne den müden Kopf +stützte, seine Arme sich schützend an mich schmiegten. + +Jetzt fuhr ich auf. »Das Letzte soll ich hergeben?! Und du meinst, ich +täte das so kaltblütig wie du es aussprichst?!« rief ich, vor Entrüstung +am ganzen Körper zitternd. »Das hier ist der Rest Heimat, den ich habe. +Fast jedes Stück erinnert mich an den Vater, -- die Großmutter, -- an +Georg, an meine Jugend --« Tränen erstickten meine Stimme. + +Mein Mann maß mich mit einem kühl-erstaunten Blick. »Stellung, Vermögen, +Familie, -- alles hast du geopfert ohne ein Wort der Klage, und nun +jammerst du um diesen Trödel,« sagte er kopfschüttelnd. Mein Verstand +gab ihm recht, aber mein Herz blutete, als wäre ihm die schwerste Wunde +geschlagen worden. + +In der Nacht darauf öffnete sich die Tür zu meines Sohnes Zimmer, er +stürzte auf mich zu, umschlang meinen Hals und schluchzte verzweifelt: +»Warum weinst du nur so? Warum weinst du nur so?!« + +In diesem Augenblick wußte ich, daß ich ein Opfer bringen mußte wie +keines zuvor. Ich weinte nicht mehr. Ich war ganz still und ganz +entschlossen. »Otto darf den Zusammenbruch nicht mit erleben,« sagte ich +zu meinem Mann. »Schon jetzt ist er wie vergiftet, -- gar kein Kind +mehr --« + +Ich erwartete eine heftige Szene. + +Statt dessen erhellten sich Heinrichs Züge. »Nun bist du wieder meine +tapfere Alix« -- damit drückte er mir die Hand, so herzlich wie seit +Monden nicht -- »natürlich ist das für alle Teile das Beste. Wir beide +bauen ungehindert ein neues Leben auf, und er wird irgendwo auf dem Land +wieder ein starker, froher Junge ...« + +Ich hörte seine Stimme nur noch wie ein fernes Brausen. So nahm er auf, +wovon ich nie gesunden würde: -- fast froh! Ich starrte ihn an; die +schreckliche Erregung verzerrte mir sein Bild, als hätte ich ihn noch +nie gesehen. Mit diesem Mann hatte ich mein Leben verknüpft, -- und eben +noch den Gedanken an eine Trennung weit, weit von mir gewiesen?! Mir +schien, als wäre die Trennung vollzogen, lange schon, sonst hätte er in +dieser Stunde, da mein ganzes Leben zusammenbrach, so nicht zu mir +sprechen können, -- so nicht! + + * * * * * + +Ich schrieb an einen Freund Egidys, den ich seit der Zeit, da ich ihn in +dessen Hause traf, hie und da wiedergesehen hatte. So selten das gewesen +war, mit einem Gefühl warmer gegenseitiger Anteilnahme waren wir uns +immer begegnet. Jetzt leitete er eine Schule hoch oben im Thüringer +Wald. Ich sprach ihm rückhaltlos von der Lage, in der wir uns befanden. +»Mein Sohn leidet darunter, halb unbewußt, und ich will ihm das +Schlimmste ersparen, will seine Jugend nicht hineinreißen in den Strudel +unseres künftigen Lebens. Sie sehen, es ist ein Freundschaftsopfer das +ich von Ihnen erwarte --,« hier zitterte mir die Hand und versagte den +Dienst. + +Er antwortete umgehend, mit einem zarten Takt, der mir wohltat: »Ihr +Sohn soll uns von Herzen willkommen sein. Und kein drückendes Gefühl +darf Ihnen daraus entspringen. Überlassen Sie ruhig der Zukunft die +materielle Seite der Sache. Da er Ihr Kind ist, wird er unserer Schule +mehr geben, als er erhält und sich durch Gold aufwiegen läßt..« + +Zu Ostern wollte ich ihn hinbringen, aber ich verschob es von Tag zu +Tag, mit ihm davon zu sprechen; er war so glücklich, daß ich auf einmal +immer bei ihm war, mit ihm spielte, mit ihm spazieren ging, ihm +Geschichten erzählte wie in der schönen alten Zeit. + + * * * * * + +Indessen erschien die letzte Nummer der Neuen Gesellschaft, mit einem +kurzen Abschiedswort an die Leser. Keiner von unseren Gesinnungsgenossen +hatte ein Wort des Bedauerns dafür, niemand von denen, für deren +Überzeugung sie gekämpft hatte, ohne sich durch gehässige Angriffe und +gemeine Verleumdungen vom Wege ablenken zu lassen, der ihr als der +rechte erschien, kümmerte sich um uns. Keinem konnte es ein Geheimnis +sein, daß wir alles verloren hatten, aber kaum ein einziger hatte auch +nur eine teilnehmende Frage danach. Wir waren abgetan, -- fertig. Die +Genossen gingen über uns hinweg wie die Soldaten im Krieg über die +gefallenen Kameraden auf dem Schlachtfeld. + +Damals hatte ich dafür nur eine verächtliche Gebärde. Große Schmerzen +sind ein Palliativmittel gegen die kleinen. + +Nur eins erfüllte mich mit tiefer Bitterkeit: daß auch Romberg nicht +wiederkam. Er hatte eine Auseinandersetzung mit meinem Mann gehabt, bei +der seine lange im stillen herrschende Feindschaft gegen ihn zu offenem +Ausbruch gekommen war. Ich erfuhr nicht viel davon. Aber um mich mochte +sich's gehandelt haben und darum, daß Romberg meinem Mann vorwarf, unser +Unglück verschuldet zu haben, und dieser sich jede Einmischung in unser +Tun und Lassen verbat. War das Grund genug, um mich gerade jetzt im +Stich zu lassen? Und an seine aufrichtige Freundschaft hatte ich +geglaubt! + + * * * * * + +Ein Ostermorgen war es, hell und leuchtend. Ein Auferstehungsfest, das +die geflügelten Musikanten der Natur mit hundertstimmigem Gesang +begrüßten. Mit lauter lustigen goldgelben Flecken bedeckte die Sonne den +Erdboden unter den Kieferstämmen. Wir gingen durch den Grunewald nach +Schildhorn, mein Sohn und ich. Wie er sich freute! Jedes armselige +Blümlein, das der karge Sand hervorsprießen ließ, bewunderte er. Und die +Luft, die ein Odem erwachenden Lebens war, sog er ein mit tiefen +durstigen Zügen. + +»Ich hasse die Stadt,« sagte er mit der ganzen Energie seiner zehn +Jahre. »Warum können wir nicht auf dem Lande leben?« + +Das war der rechte Augenblick, um ihm von Waltershof zu sprechen, der +Schule im Thüringer Wald. Mit stockender Stimme begann ich, und erzählte +von dem freien Leben dort und den vielen Kindern. + +Seine Augen glänzten. »Das denke ich mir riesig fein!« rief er. + +»Möchtest du am Ende gar selber hingehen?« fragte ich zögernd. + +Er machte einen Luftsprung. »Natürlich! Aus der scheußlichen Stadt +heraus auf die Berge, -- was gibt es Schöneres!« + +Ich hätte mich freuen müssen, -- aber die Tränen traten mir in die +Augen. So würde ihm der Abschied nicht allzu schwer werden! + + * * * * * + +Ein paar Tage später reisten wir ab. Er war wie umgewandelt; in +leuchtenden Farben malte er sich das Leben aus, das seiner wartete. +Zuweilen schien er zu stutzen, wenn er mich ansah. + +»Und du besuchst mich oft, sehr oft, nicht wahr, Mamachen? Und zu den +Ferien komme ich immer nach Haus?« sagte er dann, im Gefühl, mich +trösten zu müssen. + +Von der Station fuhren wir mit dem Wagen bergauf durch dichte +Tannenwälder. Mein Sohn verstummte und schmiegte sich an mich. Ob ihn +nun der Abschiedsschmerz packen würde? Das Herz klopfte mir +erwartungsvoll. »Ein bißchen geniere ich mich doch vor den fremden +Jungens,« meinte er. + +Oben auf der Hochebene, wo der Wind über freie Felder strich und mit den +kleinen runden Frühlingswölkchen spielte wie ein Kind mit dem Fangball, +verlor er seine scheue Stimmung wieder. + +»Wie wunder -- wunderschön das ist,« sagte er mit einem Blick in die +Ferne. + +In stiller großer Einsamkeit reihte sich Berg an Berg; die kleinen +grauen Menschenwohnungen verschwanden in den tiefen Tälern. + +Der Direktor begrüßte uns wie vertraute Freunde. Die Schüler +betrachteten aus gemessener Entfernung den Ankömmling. Er umfaßte wie +schutzsuchend meine Hand. Jetzt, -- jetzt wird er bei mir zu bleiben +verlangen! -- Da trat ein brauner Bursche aus der Schar. + +»Sieh mal die Wiese dort,« sagte er zu meinem Jungen und wies auf den +gelbblühenden Abhang, der sich hinter dem Hause in die Tiefe senkte; +»willst du da hinunter mit mir um die Wette laufen?« + +Und im selben Augenblick, -- kaum daß er Zeit gefunden hatte, mir Mantel +und Mütze zuzuwerfen, -- flog er mit ihm davon. Wie heller Sonnenschein +tanzten ihm die blonden Locken um den Kopf. Ich starrte ihnen nach. Mir +gingen dabei die Augen über. Hinter den Fichtenstämmen, -- weit, weit im +Tal, erloschen sie. + +»Er wird sich rasch zu Hause fühlen,« sagte der Direktor. + +Er wird sich rasch zu Hause fühlen --! + +Ich verließ Waltershof schon am nächsten Morgen. Jede Stunde, die ich +blieb, kam wie ein verschlagener Räuber und stahl mir stückweise mein +Liebstes. + +Ehe ich in den Wagen stieg, umarmte mich mein Sohn mit stürmischer +Heftigkeit. Nun endlich wird es ihn übermannen --! Ich preßte ihn an +mich, ich hielt ihn fest. Dieser Schoß hat dich geboren, an diesem +Herzen wuchsest du empor, -- schrie es in mir, -- nur ein Wort der Liebe +sag mir, ein Wort der Sehnsucht, und ich verteidige deinen Besitz gegen +Hölle und Himmel! Aber er schwieg. Seine Augen blieben hell. Ringsum +standen die Lehrer und die Schüler --. Ich nahm seinen Kopf zwischen +meine Hände und küßte ihn. Ich grüßte noch einmal lächelnd nach rechts +und links. Dann zogen die Pferde an -- + + * * * * * + +Damals, vor einem halben Menschenalter, als ich im Gewittersturm auf dem +Berge stand, dem Wetter preisgegeben, fürchtete ich den Tod. Was hätte +ich jetzt noch fürchten können? + + + + +Achtzehntes Kapitel + + +In Schleier aus durchsichtigem Silber gewoben hüllte sich der blaue +Frühlingshimmel. Milde lächelnd glänzte sein großes Sonnenauge. Und die +kleinen weißen Wolken standen ganz still wie erwartungsvoll staunende +Kinder, ehe der Vorhang vor dem Märchenspiel aufgeht. Die Luft +streichelte mit weichen Händen die Erde, als wäre sie sehr, sehr krank. + +Jetzt trugen sie den letzten Hausrat aus der alten Wohnung. Der große +gelbe Wagen vor der Tür wartete darauf, ihn in die neue hinüberzufahren. + +Ich sah mich um in den leeren Räumen: auf dem Boden lag Papier und Stroh +und Scherben, in den Winkeln Staub in großen grauen Flocken. Zögernd, +als hielte eine unsichtbare Hand mich zurück, öffnete ich die Tür zu +meines Sohnes Zimmer. Von seinen unruhigen Füßchen war die Diele +zertreten. Dunkel zeichnete sich der Platz am Boden ab, wo sein Bett +gestanden hatte; -- wie oft, seitdem er fort war, hatte ich den Kopf in +die leeren Kissen vergraben -- + +Eine Hand berührte meine Schulter. + +»Komm, Alix,« sagte Heinrichs weiche, tiefe Stimme hinter mir. Auf +seinen Arm gestützt, mit tief gebeugtem Nacken ging ich die Treppen +hinab. Auf der Straße versagte mir der Atem; mein Begleiter hatte einen +so raschen, elastischen Schritt, daß ich ihm nicht zu folgen vermochte. +Er trug auch den Kopf ganz hoch, wie einer, der noch als Eroberer ins +Leben tritt. Und waren wir nicht Geschlagene?! Ich hatte meinen Gedanken +laut werden lassen. Heinrich blieb stehen. + +»Hast du die Waffen gestreckt?!« fragte er stirnrunzelnd mit scharfer +Betonung. »Ich nicht! Was uns nicht umbringt, das macht uns stärker.« + +Ich senkte den Kopf noch tiefer; eine jähe Röte schoß mir in die +Schläfen. + +Er hatte die Türe zu unserer neuen Wohnung mit Blumen bekränzen lassen. +Daß ich sie nicht abriß, geschah nur, um ihm nicht wehe zu tun. Drinnen +empfingen uns schon die stummen vertrauten Gefährten unseres Lebens. +Aber an dem großen Schreibtisch stand jetzt nur noch ein Stuhl. Ich +hatte ein eigenes kleines Zimmer. + +»Das ist der erste Schritt zur Ehetrennung,« lächelte mein Mann, mit +einem Blick auf mich, in dem eine ernste Frage lag. Ich blieb ihm die +Antwort schuldig. + +»Freust du dich denn gar nicht, daß all der Kram dir nun doch erhalten +blieb?!« sagte er nach einer Pause in einem erzwungen leichten Ton. »Wie +hast du darum gezittert, du armer Angsthase du!« Und wieder stieg mir +das Blut ins Gesicht. Ich schämte mich, daß ich so hatte empfinden +können. + +»Dem, der mir dazu verhalf, werde ich immer dankbar sein,« sagte ich +leise, -- es war keiner der alten Freunde, keiner der offiziellen +Vertreter der »Brüderlichkeit« gewesen! -- »Aber mehr darum, weil ich +doch noch einen Menschen mit warmem Herzen gefunden habe, als um der +Stühle und Schränke und Kisten und Kasten willen ...« + +Heinrich drückte mir die Hand. Dann nahm er eine der letzten Nummern der +Neuen Gesellschaft aus dem Bücherschrank. + +»'Solchen Menschen, welche mich etwas angehen, wünsche ich Leiden, +Verlassenheit, Mißhandlung, Entwürdigung, -- ich wünsche, daß ihnen das +Elend der Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein Mitleid mit +ihnen, weil ich ihnen das einzige wünsche, was heute beweisen kann, ob +Einer Wert hat, oder nicht, -- daß er standhält ...'« las er. »Diese +Worte Nietzsches habe ich abgedruckt, weil sie meine eigene tiefe +Überzeugung aussprechen.« + +Seine Kraft verletzte mich fast. Ich wollte nicht überwinden. Es kam mir +wie ein Verrat an meinem Kinde vor, wenn auch mich ein Gefühl ergriff, +als ginge ich gestärkt einem neuen Leben entgegen. Ich pflegte mein Leid +mit selbstquälerischer Wollust. Ich liebte es. + +Aber -- seltsam --: Je länger es neben mir herging, desto mehr wandelte +sich sein gräßliches Medusenhaupt in das stille, ernste Antlitz eines +Freundes. Es nahm mich bei der Hand und führte mich langsam, Schritt vor +Schritt, -- mein Herz ertrug es nicht anders, -- einen hohen Berg +hinauf. Und von da oben sah ich in das Tal meines Lebens. Ich erkannte +seine großen Umrisse und geraden Linien, aber all die Hindernisse auf +den Wegen -- den Unrat auf den Straßen -- sah ich nicht mehr. + + * * * * * + +Eines Tages trat mein Mann mit einem großen Strauß duftender Rosen in +mein Zimmer. + +»Zum Zeichen, daß ich dir wieder Blumen bringen kann,« sagte er +lächelnd. Nun erfuhr ich erst von seiner Arbeit, von den Plänen, die +ihrer Verwirklichung entgegengingen, -- rein geschäftlichen +Unternehmungen, denen er neben seiner literarischen Tätigkeit all seine +Kräfte widmete, ohne sich eine Stunde der Ruhe, eine Pause der Erholung +zu gönnen, -- nur das eine Ziel im Auge: die drückenden Schulden zu +zahlen, uns eine Existenz zu gründen und -- er sprach es so leise aus, +als ob er sich scheue, daran zu rühren -- »dir dein Kind zurückzugeben.« + +»Heinz!« rief ich, -- die Tränen stürzten mir aus den Augen, -- ich +griff nach seinen beiden Händen und drückte sie zwischen den meinen. + +»Was meinst du, wenn du den Buben holen gingst?!« Und vorsichtig, als +wäre ich etwas sehr Zerbrechliches, zog sein Arm mich an sich. + +Ich fuhr schon am nächsten Morgen nach Waltershof. Wie langsam schlich +der Zug durch die blühende Sommerpracht, wie endlos hielt er sich an all +den vielen Stationen auf! Endlich, endlich kam ich an. Droben auf der +Höhe, wo jetzt das Korn in hohen Garben stand und alle Ähren grüßten und +nickten, als wüßten sie um mein Glück, kam mir mein Junge +entgegengelaufen -- -- + +Wie groß und wie braun, und wie stark und wie froh er war! Sonderbar, +daß irgend etwas dabei mich schmerzte. Er küßte und herzte mich immer +wieder, -- aber nicht mit dem Bedürfnis nach Schutz, nach Anlehnung, +wie die kleinen Kinder, wenn sie sich an die Mutter schmiegen. Ich sah +ihn dann im Kreise der Kameraden auf der grünen Wiese, im Tannenwald: +wie er seine Kräfte an den ihren maß. Ich dachte an unsere Straße, +unsere enge Wohnung; -- ich wagte noch nicht, ihm zu sagen, warum ich +gekommen war. Und als ich am nächsten Vormittag dem Unterricht +beiwohnte, in Klassen, wo kaum mehr als zehn Kinder beieinandersaßen und +der Lehrer imstande war, sich mit jedem einzelnen zu beschäftigen, auf +seine Interessen und Fähigkeiten einzugehen, -- da dachte ich an die +überfüllten städtischen Gymnasien mit all ihrem Gefolge von Krankheit +und Laster und Stumpfsinn; ihre unglückseligen Opfer fielen mir ein, die +den Martern des Geistes und Körpers den Tod vorzogen. Mich schauderte: +hatte ich ein Recht, über mein Kind zu verfügen nach meinem Gefallen? +Kein Zweifel: sein Instinkt hatte für Freiheit und Natur entschieden. + +»Ich komme morgen nach Haus, und komme -- allein,« schrieb ich an meinen +Mann. »Otto ist ein selbständiger Mensch geworden, und ich habe hier +gelernt, was keine pädagogische Buchweisheit mir hätte beibringen +können: daß auch die Kinder sich selbst gehören, nicht uns; daß die +Kindheit einen Wert an sich hat. Es mußte so sein, wie es ist. Wenn +unser Sohn stark genug ist, um auch neben uns ein Eigener zu bleiben, +wird er vielleicht freiwillig zurückkehren ... Ich schreibe das Alles so +hin, und die Worte sehen aus, als kosteten sie mich nichts. Ich glaube, +ich brauche Dir nicht erst zu sagen, was ich überwinden mußte. Es wird +noch lange dauern, bis ich von meiner Mutterliebe abgestreift haben +werde, was jeder Liebe eigentümlich ist: den Willen zum Besitz. Seitdem +Du mich fühlen ließest, daß auch Du unser Kind entbehrst, weiß ich: Du +wirst Geduld mit mir haben.« + +Jetzt erst wurde ich mir der ganzen Leere meines Lebens bewußt: war ich +schon so alt, um nur noch in philosophischer Ruhe seine Resultate zu +ziehen? Um abseits zu stehen wie Zuschauer am Schlachtfeld? + + * * * * * + +Als mir von seiten der Gewerkschaften die Aufforderung zuging, einige +ausschließlich Bildungszwecken dienende Vorträge im internen Kreise +organisierter Arbeiter zu übernehmen, ergriff ich die Gelegenheit, von +der ich glaubte, daß sie mir wenigstens eine befriedigende Tätigkeit +eröffnen würde. Seit dem Jahre 1906 hatten die Partei und die +Gewerkschaften, einem Beschluß des Mannheimer Parteitags folgend, den +Bildungsbestrebungen tatkräftigeres Interesse zugewandt. Außer der +Partei- und Gewerkschaftsschule in Berlin und ähnlichen Einrichtungen in +den größeren Provinzstädten, wo eine beschränkte Zahl ausgewählter +Schüler systematischen historischen und nationalökonomischen Kursen +regelmäßig folgte, wurden Referate gehalten, die Allen zugänglich waren, +die ihre Mitgliedschaft zu einer Arbeiterorganisation nachweisen +konnten. Die Lehrer der Parteischule waren Radikale strengster +Observanz. Sie sprachen von »bürgerlicher« Wissenschaft, »bürgerlicher« +Kunst, zu der die vom Zukunftsstaat zu erwartende in scharfem Gegensatz +stünden. Sie waren Geist vom Geist des preußischen Kultusministers, der +einen Privatdozenten abgesetzt hatte, weil er Sozialdemokrat war. In +ihrem Kreise waren die kühnen Sätze gefallen, daß die Philosophie eine +ideologische Begleiterscheinung der Klassenkämpfe und ihre Geschichte +eine Geschichte bürgerlichen Denkens sei. + +Die Gewerkschaften standen zu ihnen in einem leisen aber darum nicht +weniger starken Gegensatz, der auch in der Wahl ihrer Referenten zum +Ausdruck kam. Schon als ich zum erstenmal sprach, -- vor einer +Zuhörerschaft von ein paar hundert Arbeiterinnen, -- wurde mir erzählt, +wie empört die führenden Genossinnen seien, daß man mich dazu +aufgefordert habe. + +Durch Fragen, durch Bitten um Ratschläge für ihre selbständige +Fortbildung, durch Bücher, die ich auslieh, und die mir persönlich +zurückgebracht wurden, kam ich in Berührung mit Männern und Frauen, die +noch nicht zu den »gehobenen Existenzen« gehörten. In der Nüchternheit +des Alltagslebens, fern der Begeisterung, die Feste und Kämpfe +entzünden, lernte ich ihr Leben, ihr Denken und Fühlen kennen. Es stand +fast ausnahmslos unter dem Zeichen der Unzufriedenheit, des Mangels an +einem Inhalt, der über die Misere des Daseins hinaus stark und +hoffnungsfroh macht. Eine gewisse seelische Leere kam vielen zum +Bewußtsein, etwa wie ein Gefühl dauernden Frierens. Die Ideale des +Sozialismus hatten, da ihre Verwirklichung so fern gerückt war, für das +persönliche Leben viel von ihrem Feuer verloren. + +Aber gerade in der zum Ausdruck kommenden Unzufriedenheit mit den +äußeren Erfolgen und den inneren Werten der Partei lag eine starke +latente Kraft, die bereit war, jeden Augenblick alles Lastende, +Hindernde fortzuschieben, wenn nur irgendwo der Weg ins Freie sich +zeigte. + +Nach einer meiner Versammlungen begrüßte mich Reinhard. Er war zuerst +ein wenig verlegen, als ich aber harmlos und freundlich blieb, taute er +auf. Ich erzählte ihm von meinen Beobachtungen. »Ich bilde mir natürlich +nicht ein, daß sie maßgebend sind, aber ich halte sie doch für +Symptome.« + +Er gab mir recht. »Wir befinden uns zweifellos in einer inneren Krisis,« +sagte er, »die sich immer wieder nach außen bemerkbar macht. Jetzt +beginnt der Zank schon wieder. Diesmal um die Frage der +Budgetbewilligung. Sobald wir versuchen durch eine Politik, die immer +mehr oder weniger auf Konzessionen beruht, Schritte nach vorwärts zu +tun, Vorteile oder Einfluß zu gewinnen, kommen die anderen und schwenken +mit Geschrei die angeblich von uns verratene Fahne des Prinzips. Ich +möchte wissen, was geschehen soll, wenn wir einmal in den Parlamenten +eine Vertretung haben, mit der gerechnet werden muß? Ob wir dann das +prinzipienfeste Neinsagen unseren Wählern gegenüber verantworten können? +-- Ich sehe schwarz in die Zukunft, Genossin Brandt, sehr schwarz! Ich +fürchte, wenn erst einmal unsere Alten tot sind, dann fällt die Partei +auseinander.« + +»Und wäre das wirklich so fürchterlich?« wandte ich ein. Er fuhr auf. +Seine Augen blitzten mich an wie früher. + +»Genossin Brandt!« rief er entrüstet. »Sollten die Leute recht haben, +die von Ihnen behaupten, daß Sie nicht mehr die unsere sind?!« + +»So --,« sagte ich gedehnt, »das also erzählt man von mir?! Und Ihnen +erscheint es möglich, weil ich eine Spaltung der Partei nicht für den +schrecklichsten der Schrecken halte?! Es zeugt für ein sehr geringes +Vertrauen in die Notwendigkeit der Entwicklung zum Sozialismus, wenn wir +annehmen wollten, daß solch ein Ereignis einen mehr als vorübergehenden +Nachteil nach sich zöge. Unser Ziel bleibt doch unverändert dasselbe, in +wie viel Heerscharen wir ihm auch entgegenmarschieren!« + +Reinhards Gesicht färbte sich dunkelrot. »Sie scheinen ja ein solches +Unglück fast zu wünschen!« sagte er mit verbissenem Grimm. + +»Davon bin ich ebensoweit entfernt wie Sie,« antwortete ich. »Ich suche +nur, Sie und mich von der Angst davor zu befreien. Dabei frage ich mich, +ob es nicht viel korrumpierender für den einzelnen und lähmender für die +Aktion der Masse ist, wenn immer wieder um der äußeren Einheit willen +Resolutionen angenommen werden, die für sehr viele nur auf dem Papiere +stehen, und das Erfurter Programm krampfhaft aufrecht erhalten wird, +obwohl immer weitere Kreise von Genossen ganze Sätze daraus für +unrichtig halten. Die Radikalen, die in der Form des Ausschlusses aus +der Partei eigentlich nichts anderes wollen als eine Spaltung, gehen +dabei von einer ganz richtigen Empfindung aus: daß die innere Einheit +die Voraussetzung der äußeren sein muß. Nur daß sie wie Kurpfuscher an +den Symptomen herumkurieren.« + +»Und Sie wüßten ein Mittel, die Krankheit zu heilen?« Dabei sah Reinhard +mich an, als erwartete er eine Offenbarung von mir. + +Ich lachte. »Wenn ich ein Mittel wüßte, glauben Sie, ich hätte es nicht +schon längst auf allen Gassen ausgeschrien?! Nur einen Weg dahin glaube +ich zu wissen. Die Übel, unter denen wir leiden, lassen sich alle auf +eine Ursache zurückführen: die fehlende richtige Grundlage unserer +Bewegung. Was bisher als solche galt, hat sich zu einem Teil als falsch +oder nicht ausreichend erwiesen.« + +Er machte ein enttäuschtes Gesicht: »Also ein neues Programm! Wenn es +weiter nichts ist!« + +»Ich las gestern in einem Brief von Hegel einen Satz, der sich mir ins +Gedächtnis geprägt hat,« fuhr ich fort, »'die theoretische Arbeit bringt +mehr in der Welt zustande als die praktische; ist das Reich der +Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht stand'. +Gerade wir Revisionisten haben diese tiefe Wahrheit fast vergessen. Sie +auch, wie ich sehe. Und doch glaube ich, hätten wir ein Programm, das +alle inzwischen zweifelhaft gewordenen Theorien beiseite ließe, alle +praktischen Forderungen den Entscheidungen des Tages anheimgäbe und nur +den Ausgangspunkt feststellte, -- den Klassenkampf, -- und das Ziel, -- +die Aufhebung des Privateigentums an Produktionsmitteln; wir würden +weniger zerrüttende Kämpfe in unseren Reihen haben, und Millionen +Außenstehender würden nicht Mitläufer, sondern Parteigenossen werden.« + +»Ich wundere mich, daß Sie bei Ihrem gründlichen Aufräumen den +Klassenkampf nicht auch zum Fenster hinauswerfen,« spottete Reinhard mit +einem Anflug von Ärger. + +»Sie sind hellsehend, lieber Genosse,« entgegnete ich, »denn die Form, +in die er vor einem halben Jahrhundert gezwängt wurde, ist freilich +unbrauchbar geworden. Leute wie ich zum Beispiel haben keinen Platz in +ihr. Man redet uns ein, und wir glaubten es, daß wir aus reinem +selbstlosen Edelmut in die Partei eintraten; wir blieben infolgedessen, +als nicht recht dazu gehörig, unsichere Kantonisten in den Augen der +geborenen Klassenkämpfer. Ich bin inzwischen schon für mich allein von +dem Kothurn dieses Edelmuts herabgestiegen und habe gefunden, daß ich +mit demselben Recht wie der Arbeiter im Klassenkampf stehe. War ich +nicht, mittellos, auf meine Arbeit angewiesen? War ich nicht abhängig +von meiner Familie, also unfrei? Der hungernde Arbeiter sucht freilich +in erster Linie Brot; aber das könnte ihm auch eine vernünftige +bürgerliche Sozialreform sicherstellen. Er ist Sozialdemokrat, weil er +mehr will: Freiheit. Genau dasselbe, wonach ich verlangte, als es mich +in die Partei trieb; genau dasselbe, wonach Hunderttausende sich sehnen, +-- lauter Abhängige, -- lauter geborene Klassenkämpfer, die die Partei +mit ihrem engen: 'die Befreiung der Arbeiter kann nur das Werk der +Arbeiter selbst sein', mit der 'Diktatur des Proletariats' als +notwendiges Befreiungsmittel zurückstößt, im besten Falle nur +duldet ...« + +Wir waren vor der Tür meiner Wohnung angekommen. + +»Selbst wenn Sie recht hätten, -- was ich nicht weiß --,« sagte +Reinhard; »die radikale Tradition ist viel zu stark innerhalb der +Arbeiterschaft, als daß solch eine Programmänderung möglich wäre. Mir +scheint auch, es würde immer noch etwas fehlen --« + +Ich nickte. »Es fehlt noch immer etwas, -- ja --,« meinte ich +nachdenklich. Dann trennten wir uns. + + * * * * * + +Als mein Vortragskursus zu Ende war, bekam ich keine Aufforderungen +mehr. An meinen Zuhörern lag das nicht; ihr regelmäßiges Erscheinen, ihr +wachsendes Interesse zeugte dafür. Aber der Einfluß der Zionswächter des +Radikalismus war stärker als sie. + +»Nun haben sie dich wieder an der Arbeit verhindert,« sagte mein Mann +ärgerlich. + +»Es ist vielleicht für mich das beste,« meinte ich. »Zuviel +Zweifelfragen sind in mir wach geworden. Jahrelang hat das Fieber der +Tagesforderungen sie immer wieder unterdrückt. Jeder denkende Mensch +sollte eigentlich die Möglichkeit haben, sich hie und da von der Welt +zurückziehen zu können, um zu sich selbst zu kommen. Trappistenklöster +für Ungläubige, -- das wäre eine erlösende Einrichtung.« + +»Möchtest du den Schleier nehmen?!« fragte er, -- etwas wie Besorgnis +sprach sich in seiner Frage aus. + +»Für ein paar Monate, ja!« entgegnete ich. »Um als ein starkes und +frohes Weltkind zurückzukehren.« + +Aber wenn ich ihn ansah, schämte ich mich, solche Wünsche zu haben. Er +war abgespannt und müde. Er bedurfte mehr als ich einer Zeit der Ruhe. +So wenig er von sich selber sprach, ich erfuhr doch, daß das Mißlingen +sich mit grausamer Hartnäckigkeit an seine Fersen heftete. + +Die Sorgen, die er hatte von unserer Türe fernhalten wollen, krochen +durch die Fenster herein; aber wenn ich sah, wie er ruhig blieb, wie +neue Hindernisse nur immer neue Widerstände in ihm entwickelten, dann +überkam mich das Bedürfnis, mich an ihn zu schmiegen, ganz dicht, +geschlossenen Auges, voll tiefen Vertrauens ... + +Im Herbst begann ich meine Vortragsreisen wieder. Ich mußte Geld +verdienen. Und was dies Publikum verlangte: ein wenig Anregung, ein +wenig Sensation, war ich fähig zu geben. Es wurde mir diesmal leichter +als sonst. Viele Menschen kreuzten meinen Weg, und was mir bei den +Proletariern begegnet war, das fand ich in anderer Form wieder: wer +nicht im Genußleben ertrank oder im Kampf ums Dasein zerrieben wurde, +den beherrschte ein Gefühl brennender Unzufriedenheit, ein unbestimmtes +Suchen. + +Es war die Zeit, wo Fürst Bülow, in der Hoffnung auf diese Weise die +Steuerforderungen der Regierung durchzusetzen, die unnatürliche +Verbindung zwischen Liberalen und Konservativen herbeigeführt hatte. Wer +noch vom echten Liberalismus einen Blutstropfen in sich fühlte, mußte +sich dieser Paarung schämen. + +Die besten Elemente des Bürgertums waren politisch obdachlos. Ihr +steuerloses Schiff näherte sich unwillkürlich wieder der Flut des +Sozialismus. + +»Den Kulturwert der Arbeiterbewegung erkennt wohl jeder von uns an,« +sagte mir ein junger Gelehrter in einer kleinen Universitätsstadt. »Und +daß ihr ökonomisches Streben zugleich ein sittliches ist, wird kein +objektiv Denkender bestreiten. Sie ist im Kampf gegen die Reaktion auch +die Hoffnung derer, die nur zusehen müssen.« + +Der Kreis der modernen Snobisten, die aus der Erkenntnis der +Notwendigkeit sauberer Wäsche und reiner Nägel eine Weltanschauung +konstruiert und Rombergs Ausspruch, daß Bildung und Politik unvereinbare +Begriffe wären, zu dem ihren gemacht hatten, schrumpfte sichtlich +zusammen. + +Und auch auf anderen Gebieten geistiger Interessen wuchs die +Innerlichkeit, der Ernst. Aus einer Spielerei müßiger Stunden wurde die +Kunst zu einer Angelegenheit persönlichen Lebens, -- eine Kunst, die von +den Göttern und Madonnen zur Erde herabgestiegen war, die den +charakteristischen Stempel innerer Notwendigkeit allem aufprägte, -- vom +geringfügigen Gebrauchsgegenstand bis zum hamburger Bismarckdenkmal. Aus +einer Tradition, der man sich nur an jedem Feiertag erinnerte, wurde die +Religion zu einer die Gemüter erregenden Bewegung; daneben drängten +pädagogische und sexuelle Probleme sich mehr und mehr in den +Vordergrund, und neben den alten Werten der Schule, der Ehe, der +Familie, erschienen wie aus Flammen gebildet riesengroße Fragezeichen. + +Als eine reaktionäre Masse wurde die Bourgeoisie nach altem Rezept von +der Partei bezeichnet. Die Wirklichkeit strafte sie Lügen. Was ich sah, +war wie ein Strom, dessen Wassermassen der alten Dämme zu spotten +schienen und sich nun wahllos, ziellos ausbreiteten. Es fehlte nur das +neue Bett, um ihre große Kraft zu vereinen und nutzbar zu machen. + +Ich fühlte, wie ich froh wurde angesichts der neuen Erkenntnis, wie +meine Hoffnung ihre Flügel regte und Überzeugungen, die im Sturm der +Zweifel geschwankt hatten, nur noch tiefere Wurzeln schlugen. + +Aber es war, als stünde unser Leben unter einem bösen Zauber: Sahen +junge Triebe der Freude mit einem hellen Frühlingslächeln aus dem +Erdboden hervor, so prasselten Hagelkörner vom Himmel und schlugen sie +grausam nieder. + +Mitten in einer Vortragsreise versagte meine Stimme völlig. Was die +Ärzte schon lange vorausgesagt hatten, geschah: von einer Tätigkeit wie +der bisherigen konnte keine Rede sein. + + * * * * * + +Was nun? Ich saß vor meinem Schreibtisch, -- einem ganz alten aus hellem +Birnbaumholz mit schwarzen Säulchen, der früher irgendwo in einem Winkel +gestanden hatte, -- und lehnte mich müde in den tiefen Stuhl zurück. +Großmutters Stuhl! Mir war, als sähe ich sie vor mir: das schmale, +dunkle Gesicht mit den großen Augen, und einem Lächeln um die feinen +Lippen, das über alles Erdenleid zu triumphieren schien. Viel, viel zu +früh hatte ich sie verloren! Plötzlich fielen mir die Papiere ein, die +ich von ihr besaß: Briefe, Tagebuchnotizen, Stammbücher. Sie hatte sie +mir hinterlassen, mir allein. Als ob sie mir sich selbst habe schenken +wollen. Ich suchte sie hervor und las und las. Aus den vergilbten +Blättern duftete der Frühling berauschend, und die Sonne schien bis tief +hinein in das winterstarre Herz, und aus schweren dunkeln Wolken strömte +warmer Regen, segenspendender. Und eine weiche Hand streichelte mich, +als wäre auch ich krank, sehr krank. + +Ihr Leben war voll stiller Kämpfe gewesen, und aus einem jeden war sie +stärker hervorgegangen. Es hatte ihr den Geliebten ihrer Jugend, hatte +ihr Freunde und Kinder geraubt, und ihr Herz war bei jedem Verlust nur +reicher geworden an Kraft und Liebe. Dann war sie einsam +zurückgeblieben, zwischen lauter Fremden, und war doch nicht bitter +geworden, und verstand auch den Fernsten und den Ärmsten. Nur eins +überwand sie nie: das unverschuldete Elend in der Welt --. + +Ich ging jeder Regung ihrer Seele, jeder Spur ihres Daseins nach. Dabei +entdeckte ich ein Gewebe feiner Fäden, das sich von ihr bis zu mir +herüberspann, eine ununterbrochene Folge von Ursache und Wirkung, eine +eherne Gesetzmäßigkeit. + +Nun schrieb ich das Buch von ihr, weil ich es schreiben mußte. Von früh +bis spät arbeitete ich. Es war dabei sehr still um mich und in mir. Nur +wenn ein Brief von meinem Kinde kam, -- einer jener kurzen, frohen, +lebensprühenden Zeichen seiner Jugendkraft, -- nahmen meine Gedanken +eine andere Richtung an. Aber sie trieben mir nicht mehr die Tränen in +die Augen: denn mein Sohn lebte, mein Sohn blieb mir nah, auch wenn er +fern war. Meiner Großmutter Kinder waren ihr fern gewesen, wenn sie sie +mit Händen hatte greifen, mit Augen hatte sehen können. Und auch daran +war sie nicht zugrunde gegangen. Sie hatte standgehalten. + +Ich schrieb wie im Fieber. Die Arbeit war wie eine Wünschelrute. Sie +schloß in meinem Innern lauter verschüttete Quellen auf. + +Von dem glühenden Abendhimmel der klassischen Periode Weimars war der +Großmutter Jugend umstrahlt gewesen; die geistigen Heroen des +neunzehnten Jahrhunderts hatten auf ihren Lebensweg breite Schatten +geworfen. Je deutlicher mir der geistige Werdegang der Vergangenheit +entgegentrat, zu desto klareren Bildern schoben sich die scheinbar wirr +durcheinanderlaufenden Zeichen der Gegenwart zusammen. Unter dem Gesetz +dieses großen Entwicklungsprozesses stand auch ihr Leben; das gab ihm +seine Bedeutung, so eng, so still es an sich auch gewesen war. + +Mein Buch erschien. Und plötzlich schien die Großmutter nicht nur für +mich lebendig geworden. Sie stand da, mitten in der Welt und redete mit +den Menschen. Selbst aus den verstimmten Instrumenten der Seelen lockte +sie wie einst Melodien hervor. Viele kamen und dankten mir, als ob ich +sie geschaffen hätte! + +Nur in der Parteipresse gab es Leute, die mich beschimpften; es war in +dem Buch auch von Fürsten und Aristokraten die Rede, die keine Schufte +waren. Als ich es las und mein Herz dabei nicht einmal schneller +klopfte, erschrak ich: Sollte ich so stumpf geworden sein? Oder stand +ich den alten Genossen so fern? Erst allmählich fing ich an, mich selbst +zu verstehen. + +»Geht es dir so nahe, daß du nicht darüber zu sprechen vermagst?« fragte +mich mein Mann. + +»Es ärgert mich nicht einmal,« antwortete ich. + +Sein Gesicht leuchtete auf: »So stehst du endlich über den Dingen und +wertest die Menschen, wie sie es verdienen.« + +»Du verstehst mich nicht ganz,« wandte ich ein. »Nicht nur weil ich +weiß, daß sie mir in Wahrheit nichts anhaben können, gräme ich mich +nicht mehr über Urteile wie diese, sondern weil ich sie verstehe --« + +Er sah mich ungläubig lächelnd an. + +»Ja, ich verstehe sie,« wiederholte ich. »Uns trennt ein +unüberbrückbarer Abgrund: der der inneren Kultur. Wie die Genossinnen +sich ständig über mein Äußeres ärgerten, -- weil ich eben anders war als +sie, -- so muß der Durchschnitt der Genossen an meinem Wesen Anstoß +nehmen.« + +»Hm --,« machte mein Mann, »das klingt --« + +»Sehr hochmütig,« vollendete ich. »Ganz gewiß! Und doch ist es weit von +jedem Hochmut entfernt. Was ich wurde, bin ich anderen schuldig: Nicht +nur meinen Vorfahren, sondern auch den vielen Tausenden, die deren +gesicherte Existenz, deren geistige Entwicklung durch ihr sklavisches +Arbeitsleben erst möglich machten.« + +»Folgerst du nun aus deiner Behauptung, daß Menschen wie du sich von der +Partei fern halten müßten? Daß also der Satz: 'Die Befreiung der +Arbeiterklasse kann nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein' im +Sinne der radikalen Genossen, die heute jeden Überläufer zurückweisen +möchten, aufgefaßt werden darf?« fragte Heinrich interessiert. + +»Damit würde ich mich selbst negieren,« rief ich lebhaft. »Ich folgere +zunächst etwas rein Persönliches: daß ich den Genossen unrecht tat, wenn +ich ihnen ihre Feindseligkeit zum Vorwurf machte; daß es himmelblauer, +allen realen Erfahrungen spottender Idealismus war, wenn ich von ihnen +Anerkennung, Verständnis, Anteilnahme erwartete. Sind sie uns denn in +ihrer Masse persönlich anziehend? Stören uns nicht schon eine Menge +bloßer Äußerlichkeiten? Verstehen wir sie denn so gut?« + +»Du vergißt, wie mir scheint,« warf Heinrich ein, »daß eine Reihe +Akademiker ganz im Proletariat aufging --« + +»Ich glaube es nicht, so demagogisch sie sich auch gebärden mögen, um +den Anschein zu erwecken, es wäre so,« entgegnete ich. »Wenn ihre Kultur +nicht nur Tünche ist, so rächt sich ihre Heuchelei in stillen Stunden +bitter an ihnen. Weißt du --,« fügte ich langsam hinzu, »sobald ich mir +Wanda Orbins früh gealterte, durchfurchte Züge vergegenwärtige, bin ich +gewiß, daß sie empfindlich darunter leidet --« + +Heinrich runzelte die Stirn: »Du gehst denn doch ein wenig weit in +deinem Mitgefühl. Willst du vielleicht auch ihr Verhalten gegen dich +beschönigen?« + +»Beschönigen -- nein; erklären -- ja! Sie muß herrschen, um die +Preisgabe der inneren Freiheit ertragen zu können. Infolgedessen +beseitigt sie jeden, der ihr im Wege steht, -- ganz abgesehen davon, daß +ich ihrem fanatischen Radikalismus als Schädling erscheinen mußte!« + +»Das Endresultat deiner Erwägungen,« sagte mein Mann mit einem leisen +Spott im Ton der Stimme, »ist demnach ein erhaben christliches: Liebet +eure Feinde, segnet, die euch fluchen --« + +Ich hob abwehrend beide Hände. »Nein, nein, nein!« rief ich aus und +stand auf, um mit raschen Schritten im Takt meines Herzschlages auf und +ab zu gehen. »Vom Christentum bin ich weiter entfernt denn je. Die tief +eingewurzelte christliche Auffassungsweise ist es ja, die uns zu so +falscher Stellungnahme getrieben hat. Da ist zunächst die christliche +Idee der Selbstaufopferung. Keiner von uns Überläufern, mich selbst +eingeschlossen, hat sich nicht zuweilen mit einer Art pfäffischer +Selbstzufriedenheit an seinem eigenen Opfermut berauscht, hat sich nicht +innerlich vorgerechnet, was er alles um der Sache willen aufgab, hat +sich nicht das Leben in dem Gefühl verbittert, daß die Genossen dieses +Opfer nicht zu würdigen verstehn. Wenn ich schon als Kind außerstande +war, den Opfertod Christi als solchen zu empfinden, -- nicht nur, weil +er als Gottessohn die Gewißheit ewigen Lebens besaß, sondern weil es mir +nicht so heldenhaft erschien, in der Ekstase des Glaubens für die +Erlösung der ganzen Menschheit zu sterben, -- so weiß ich jetzt, daß +unser Opfer gar kein Opfer ist, sondern im Gegenteil Selbstbehauptung. +Es wäre ein Opfer gewesen, -- und eine Sünde wider den Geist wie jedes +'Opfer', -- wenn ich mich nicht zum Sozialismus bekannt hätte. Seiner +Überzeugung nicht folgen, die Stimmen seines Innern nicht hören wollen, +-- das allein sind Opferungen; die sie bringen, sind arme +Lebensschwache. Auch ich habe mich solcher Sünden schuldig gemacht: als +ich mich einmal Wanda Orbin unterwarf, als ich Forderungen meines +Geistes und Herzens zum Schweigen brachte.« + +»Auch des Herzens?« unterbrach mich mein Mann. + +»Weißt du nicht mehr, -- damals, -- als meine Sehnsucht nach dir rief -- +und ich sie unterdrückte!« + +Er nickte mit gesenktem Kopf. »Ich habe mir schweren Schaden getan,« +bekannte ich, als spräche ich jetzt nur mit mir selber, »die Liebe ist +eine Quelle der Kraft. Daß so viele Frauen so klein sind und so +armselig, liegt wohl nur daran, daß sie sich selbst verurteilen, daneben +zu stehn, während die anderen die freien Glieder in ihrem brausenden +Strome baden.« + +Heinrich sah auf. Sein Blick forschte in meinen Zügen. »Hast du -- noch +andere Opfer gebracht? Herzensopfer -- meine ich,« fragte er langsam. +Ich preßte die Handflächen krampfhaft aneinander. + +»Mein Kind --,« kam es mühsam über meine Lippen. + +Wir schwiegen beide. Ich mußte mir ein paarmal mit der Hand über die +Stirne streichen; mit schweren, grauen Schwingen strichen die Vögel +meiner Schmerzen mir um das Haupt. + +»Ich habe dich aus deinem Gedankengang gerissen, -- verzeih!« knüpfte +Heinrich das Gespräch nach einer langen Pause wieder an. »Von der +christlichen Idee der Selbstaufopferung gingst du aus --« + +»Mit ihr haben wir nur immer uns selbst irre geführt,« fuhr ich fort, +»aber mit den anderen führen wir die Massen irre: mit der Gleichheit +aller im Sinne gleichen Wertes und gleicher Entwicklungsfähigkeit, mit +der Brüderlichkeit im Sinne gegenseitigen Verständnisses. Als ob die +Natur, die jeden Grashalm vom anderen unterschied, den Menschen nicht +eine noch reichere Mannigfaltigkeit ermöglichen sollte; -- als ob wahre +Brüderlichkeit nicht immer seltener, dafür aber immer tiefer würde, je +mehr wir uns entwickeln! Natürliche Schranken respektieren, statt sie +niederzureißen, -- Distanzen anerkennen, statt sie mit Phrasen zu +überbrücken, -- kurz, im Sinne der Entwicklung handeln, die stets vom +Einförmigen zum Vielfachen schreitet, -- das wäre unsere Aufgabe! Statt +dessen ziehen wir unter der Maske der Brüderlichkeit den Dünkel groß, +rotten die Ehrfurcht vor den Heroen des Geistes aus, so daß schließlich +jeder Hans Narr einen Goethe Bruder nennt. Von dem Dreigestirn der +Forderungen, das die Revolution vom Christentum übernahm und der +Sozialismus von beiden, wird nur eins übrig bleiben: die Freiheit!« + +Es wurde wieder sekundenlang still zwischen uns. »Vielleicht begegnen +wir einander allmählich in unseren Gedankengängen und könnten dann +wenigstens noch zu jener seltenen Brüderlichkeit gelangen --,« sagte +Heinrich schließlich. + +Mit einer raschen Bewegung näherte ich mich ihm und legte den Arm um +seinen Hals. Der Klang seiner Stimme tat mir zu weh. Er löste sich sanft +aus der Umschlingung. »Nicht so, Alix --,« sagte er leise; »weißt du +noch, wie du einmal zu mir sagtest: der Stunde sollten wir warten, der +wir gehorchen müssen?! -- Ich fürchte, sie ist noch fern --!« Und in +ruhigem Gesprächston fuhr er fort: »Du wirst dich darüber in keiner +Täuschung befinden: Alles, was du sagtest, ist für die heutige +Sozialdemokratie Ketzerei.« Ich nickte. + +»Noch kennt sie niemand als du. Aber sollten die losen Gedanken sich zur +Kette zusammenschieben, so werde ich den Schatz nicht in meine Truhe +legen.« + +»Auch wenn sie dich bezichtigen, falsches Gold zu fabrizieren?!« + +Ich warf den Kopf zurück. Ein heißes Gefühl der Kampflust strömte mir +durch die Adern und bewies mir, daß ich lebte. »Auch dann!« + + * * * * * + +Das Erbe meiner Großmutter befreite mich von einem gut Teil äußerer +Sorgen. Und jetzt erst, da die Not, dieser Sklavenhalter, nicht mehr +hinter mir stand, fühlte ich alle Striemen, mit denen ihre +Peitschenschläge meinen Körper gezeichnet hatten. Ich sah die Blässe +meiner Wangen, die Falten um meinen Mund, die müden Augen. Und doch +wollte ich nicht alt sein, denn noch lag ein Leben vor mir, und ich +wollte nicht häßlich sein, denn eine tiefe, tiefe Sehnsucht trieb mir +heißes Blut durch die Adern. + +Ich ging in ein Sanatorium in die Nähe von Dresden, um gesund zu werden. +Unter dem Menschenschwarm aus der alten und neuen Welt, der sich dort +ein Stelldichein zu geben schien, traf ich auch einen Bekannten: +Hessenstein. Meinen alten Tänzer, einen der glänzendsten Kavaliere der +Westfälischen Gesellschaft, hätte ich in dem grauhaarigen Mann mit dem +gebeugten Rücken kaum wiedererkannt. + +»Merkwürdig,« sagte er nach der ersten Begrüßung, »Sie sind immer noch +Alix von Kleve! -- Eben las ich Ihr Buch. Daraus erfuhr ich, daß Sie +auch innerlich noch Alix von Kleve sind, oder -- besser gesagt -- daß +Sie heimkehrten.« + +»Wie meinen Sie das?« fragte ich lächelnd. »Ich brauchte nicht +heimzukehren, denn ich war immer bei mir!« + +»Auch als Sie noch zu den Singer, Stadthagen, Luxemburg, und wie die +Zierden der Partei alle heißen mögen, gehörten?!« + +»Ich war und bin Sozialdemokratin, -- damit gehöre ich meiner +Überzeugung, nicht den Menschen,« antwortete ich merklich kühler +werdend. + +»Wie, Sie sind nicht aus der Partei ausgetreten und konnten dies +schreiben --,« er zog das Buch von der Großmutter aus der Tasche, +»-- das Werk eines vollendeten Aristokraten --« + +»Sie haben einmal andere Ansichten gehabt, Herr von Hessenstein,« +unterbrach ich ihn. + +»Wer von uns hätte nicht törichten Träumen nachgehangen?!« meinte er. + +Wir sahen einander oft, und es tat mir wohl, einem teilnehmenden +Menschen von meinem Leben zu erzählen. + +An einem kühlen Herbsttag, -- dem letzten vor meiner Abreise, wanderten +wir auf die Heide hinaus. »Ich liebe sie,« sagte Hessenstein, »sie geht +mit so stiller Würde dem Winter entgegen, ohne sich durch überflüssige +Stürme über die Hoffnungslosigkeit der Situation aufzuregen.« + +»Nun weiß ich endlich, warum ich sie nicht liebe,« antwortete ich; +»diese Ergebung in das Schicksal wird mir immer fremd sein. Ich würde +mich an den Sommer klammern, wenn es Winter werden wollte.« + +Er sah mich kopfschüttelnd an: »Nach all Ihren Erfahrungen diese +Lebenskraft?! Nachdem all Ihre Opfer nutzlos waren?!« + +Ich schwieg betroffen still. Die Frage, ob ich genutzt hatte oder nicht, +hatte ich mir selbst nie gestellt. Ich überlegte: all die Reformen, für +die ich in hartem Kampf gegen die Genossen eingetreten war, kamen mir +jetzt, aus der Vogelperspektive, nicht mehr so welterschütternd vor. +Aber immerhin; sie hatten sich durchgesetzt. Die Dienstbotenbewegung +war im Gang, die Mutterschaftsversicherung war zur Forderung der Partei +geworden; die Haushaltungsgenossenschaft stand wenigstens +auf dem Diskussionsprogramm; selbst jene Zentralstelle der +Arbeiterinnenbewegung, deren Forderung mir fast den Hals gekostet hatte, +war vor ein paar Jahren geschaffen worden und funktionierte +vortrefflich. Und wie viele mochte ich dem Sozialismus gewonnen haben? +Ich sah wieder glänzende Augen auf mich gerichtet, fühlte den Druck +schwieliger Hände, hörte den Siegesjubel mich umbrausen --. + +»Nein,« sagte ich hell und laut, »meine Arbeit ist nicht nutzlos +gewesen! Es gibt kein Wort, das nicht die Luft in Schwingung versetzt, +keinen Gedanken, der sich nicht weiterpflanzt! -- Und daß ich in der +Partei aushalte?! Meinen Sie denn, es würde an meiner Überzeugung irgend +etwas geändert werden, wenn ich ihr nicht offiziell angehörte, oder wenn +sie, -- was ich nicht für unmöglich halte, -- mich noch einmal gehen +heißt? Gewiß, ich zweifle an der Richtigkeit mancher ihrer +Programmforderungen, ich halte ihre Taktik sehr oft für falsch, ich +sehe, daß sie von hundert Schönheitsfehlern behaftet ist, -- aber all +das vermag die Hauptsache nicht zu erschüttern. Der Sozialismus ist das +einzige Mittel, um die Menschheit aus dem Zustand der Barbarei auf die +erste Stufe der Kultur zu erheben --« + +Er legte beschwichtigend seine schmale, blaugeäderte Hand auf die meine. +»Sie sind in keiner Volksversammlung,« sagte er; »sie brauchen nicht so +starke Farben aufzutragen --« + +»Ich trage sie nicht auf. Ich spreche in ruhigster Überlegung,« fuhr ich +fort. »Oder ist es etwa keine Barbarei, daß die überwiegende Masse der +Menschheit, daß Millionen, viele Millionen, von Kindheit an bis zum +Greisenalter zu härtestem Frondienst verurteilt sind, daß sie von dem +einzigen Sinn des Lebens, der Entfaltung der Persönlichkeit zur höchsten +Potenz ihrer Leistungs- und Genußkraft, durch den Zufall der Geburt und +des Besitzes ausgeschlossen sind?! Die Befreiung des Menschen von den +blinden Gesetzen des Schicksals, die vollkommene Unterjochung der +Materie unter den Geist, -- das ist uns das Ziel; einer fernen Zukunft +aber wird es zweifellos erst als der Anfang der Menschheitsentwicklung +erscheinen.« + +Mein Begleiter blieb stumm. Erst als wir droben von der Heide in den +herbstbunten Wald schritten, sprach er wieder. »Ich bewundere Ihren +Glauben. Sollte wirklich die Vergesellschaftung der Produktionsmittel +solchem Ziel entgegenführen?! Dann wäre es allerdings sträflich, sich +ihrer Durchsetzung entgegenzustemmen!« + +»Ich sehe zunächst kein anderes,« antwortete ich. »Freilich: ein +aktuelles Problem ist sie nicht. Aber so etwas wie eine regulative Idee. +Im übrigen: ich schwöre ja nicht darauf. Ich kann mir vorstellen, daß +sie einmal durch andere Forderungen ergänzt werden müßte. Aber das Ziel +ist für mich unverrückbar.« + +Wir näherten uns wieder dem Sanatorium. »Sie gehen nach Java zurück?« +fragte ich, ehe wir uns trennten. »Nein,« entgegnete er. »Dreizehn Jahre +habe ich da unten gelebt, -- eine böse Zahl! -- Ich bin dabei ein +reicher Mann geworden. Aber kein glücklicher. Jetzt will ich --,« er +schürzte in bitterer Selbstverhöhnung die Lippen, »-- mein Leben als +Europäer genießen. Sie sehen: Ihre ersehnte Beherrschung der Materie ist +keine zuverlässige Grundlage des Glücks.« + +»Glücklichsein -- im Sinne der Befriedigung unserer Triebe ist doch auch +nur ein Herdenideal. Wessen Leben es ausfüllt, der ist entweder ein +Schwächling oder ein Greis --« + +Er drückte mir die Hand. »Sie sind eine merkwürdige Frau. Vielleicht +komme ich nach Berlin und lerne auf meine alten Tage noch leben. Nur +eins geben Sie mir bitte jetzt schon auf den Weg: Sind Sie so kalt, daß +Sie das Glück ganz auszuschalten vermögen, und -- wenn nicht -- was +verstehen Sie darunter?« + +Ich atmete tief auf. Ich sah mich an einem Tage wie diesem mit dem +Geliebten im Wald, -- die Sehnsucht packte mich, so heiß, so stark, daß +ich erschauerte. Aber dem fremden Mann, der erwartungsvoll vor mir +stand, hätte ich nicht sagen können, was mich bewegte. »Kampf, -- +Kraftentfaltung, -- Widerstände beseitigen, -- sie aufsuchen, wenn sie +sich nicht von selbst ergeben, -- darin kulminiert das Lebensgefühl der +Starken,« sagte ich. + +Er verabschiedete sich. Ich sah ihn im Hause verschwinden, mit gebeugtem +Rücken, sehr müde. + + * * * * * + +Auf der Heimfahrt klopfte mir das Herz unruhiger als sonst. Ich dachte +an Heinrich. Seine Lebensauffassung war's, der ich Worte geliehen, an +der ich mich selbst zuerst aufgerichtet hatte, und die nun wie +ein Fluidum in meine Seele geströmt war. Ein Gefühl tiefer +Zusammengehörigkeit überkam mich, das ich noch nie empfunden hatte, -- +am wenigsten dann, als wir, an den gleichen Pflug gespannt, +unzertrennlich waren. Vielleicht, daß Freunde so miteinander leben und +arbeiten können; -- Liebende nicht, sicher nicht! Aber sind es nicht die +besten Ehen, die zur Freundschaft werden? Oder ist das nicht auch eine +jener alle Natürlichkeit knechtenden Anschauungen, die wir armen +Menschen uns von der Moral des Christentums einpauken ließen, einer +Moral, für die die Sinne und die Sünde identisch waren, der ihre +Überwindung als der Tugend Krone erschien?! Ehe ist der Bund zweier +Liebenden; wo sie zur bloßen Freundschaft wurde, sind die Sinne tot oder +äugen sehnsüchtig nach anderer Befriedigung. + +Die Ehe von einst beruhte auf der Autorität des Mannes gegenüber der +Frau, der Autorität der Eltern gegenüber den Kindern, -- ein Staat im +kleinen mit Herren und Knechten. Jetzt aber stehen Individualitäten +einander gegenüber. Das Leben von einst läßt sich ihnen wohl noch +aufzwingen, aber sie zerbrechen daran. Zur Herdflamme wird die Liebe +nicht mehr. Aber zum lodernden Opferbrand an den hohen Festen des +Lebens! + +Für die Liebe ist der sicherste Tod die Unfreiheit. Sie wächst mit dem +Pathos der Distanz. + +Wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Male liebt, wagte ich kaum mir +selbst zu gestehen, was ich fühlte. Als mein Mann mich am Bahnhofe +empfing und mir die Hand küßte, errötete ich. Und abends ertappte ich +mich dabei, wie ich im Spiegel forschend meine Züge musterte und die +Haare anders zu stecken versuchte. -- Er war jetzt immer so förmlich, +so ritterlich zu mir! Ob ich am Ende zu alt war: -- Zweiundvierzig +Jahre! In Paris hatte ich Frauen gesehen, die älter waren als ich und +doch noch schön. Freilich: das Leben hatte mich gezeichnet! -- Ganz +heimlich -- ich hätte mich sonst vor ihm zu sehr geschämt! -- fing ich +an, mich mehr zu pflegen als sonst, die Farbe meiner Kleider, die Form +meiner Hüte sorgfältiger auszuwählen. Ich verschwendete fast. Ganz, ganz +in der Ferne sah ich einen neuen Sommer voll Glanz und Glut. Noch lag er +im Zauberschlaf, tief unten in der winterstarren Erde. Aber meine +Sehnsucht trog mich nicht: er mußte kommen. + + + + +Neunzehntes Kapitel + + +In Eis gepanzert, einen langen Mantel von Schnee um die Schultern, trat +das neue Jahr seine Herrschaft an. Gleichgültig sahen seine kalten Augen +über die Menge hinweg, die jammernd die Arme zu seinem Thron erhob. + +Die Not war groß. Brot und Fleisch waren teuer, und für die +Menschenkraft, die sich billig anbot, gab es keine Arbeit. Der Winter +trieb die Arbeitslosen in Scharen in die Wärmehallen; vom frühen +Nachmittag an drängten sich die Obdachsuchenden vor den Asylen. Wer in +ihre Nähe kam, den trafen Blicke, in denen der Haß gegen die +Herrschenden, der Groll mit dem Schicksal flammte. Das waren keine +Almosen heischenden Bettler mehr, keine in ein gottgewolltes Geschick +Ergebenen. + +Das Proletariat füllte den ganzen Winter über die Säle, um gegen eine +Politik zu protestieren, die zwar mit den Insignien des +Konstitutionalismus prunkte, aber nur ein Werkzeug des Absolutismus war. +Es wußte von den Millionen neuer Steuern, die drohten, es hatte +erfahren, daß es gegen die geeinte Reaktion machtlos war, daß die +eiserne Hand Preußens auf ihm ruhte, wenn es sich aufrichten wollte. Es +erkannte, daß es Mauern und Gräben zu bewältigen galt, ehe die feste +Burg, der Staat, ihm zufiele. Junker und Pfaffen hielten sie besetzt, +bereit, nur über ihre Leichen den Weg frei zu geben. + +Der erste Akt des Dramas begann. + + * * * * * + +Vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin eine dichtgedrängte Menschenmasse. +Polizisten zu Fuß und zu Pferd, den Revolver im gelben Gürtel, halten +die Zufahrt frei. Und hinter ihnen stehen Tausende, Männer, Frauen, +Kinder. Sie warten. Sie besetzen die Auffahrt des gegenüberliegenden +Kunstgewerbemuseums. Sie halten Umschau von oben. Und plötzlich biegt in +scharfem Trabe eine Karosse um die Ecke der Prinz Albrechtstraße. »Der +Reichskanzler!« gellt es laut. Die Menge flutet ihm entgegen, ihm nach, +eine einzige dunkle Welle. Und brausend tönt es um ihn: »Hoch das freie +Wahlrecht!« Dann wieder Stille. Sie wartet weiter. + +Und auf der Rednertribüne des Abgeordnetenhauses erscheint Fürst Bülow +zur Beantwortung des freisinnigen Antrags: Einführung des allgemeinen, +gleichen und direkten Wahlrechts mit geheimer Stimmabgabe für den +preußischen Landtag. Mit unterschlagenen Armen, ruhig und selbstbewußt, +den harten Ausdruck geborener Herrscher auf den Zügen, sitzt die +Mehrheit vor ihm. Sie weiß, was sie zu erwarten hat; dieser Mann ist ein +Erwählter des Kaisers, nicht des Volkes, und der Kaiser ist der Ihre. + +»... Für die Königliche Staatsregierung steht es nach wie vor fest, daß +die Übertragung des Reichstagswahlrechts auf Preußen dem Staatswohl +nicht entspricht und daher abzulehnen ist. Auch kann die Königliche +Staatsregierung die Ersetzung der öffentlichen Stimmabgabe durch die +geheime nicht in Ansicht stellen.« + +Scharf, ohne die liebenswürdigen Floskeln des Weltmannes, ohne das +verbindliche Lächeln des Diplomaten, klingt die Erklärung durch den +Saal. + +Das Volk draußen wartet. Da nahen neue Schutzmannspatrouillen; hart +schlägt ihr Tritt auf den Asphaltboden auf, Pferdehufe klappern +dazwischen, -- die Begleitung zum Text des Kanzlerliedes. + +Das Volk zieht sich zurück. + + * * * * * + +Zwei Tage später. Ein heller Wintersonntag. Mittags Unter den Linden das +gleiche Bild wie immer: flanierende Damen und Herren, Offiziere und +Studenten, hinter den Spiegelscheiben der Kaffees neugierige +Sonntagsbummler. + +Wir gehen langsam dem Schloßplatz entgegen. Schutzleute erscheinen. Aus +allen Nebenstraßen blitzen ihre Helmspitzen auf. Im Zeughaus, vor dem +Museum, am Dom und rings um das Schloß -- lauter Pickelhauben. Mit +klingendem Spiel zieht die Wache auf, bunt und glänzend, eine Augenweide +für alle Farbenfrohen. An der Kreuzung der Friedrichstraße stockt der +Zug der Soldaten, ein anderer überschreitet seinen Weg, ein einförmig +dunkler: Arbeiter, die aus dem Innern der Stadt kommen, wo heute die +Wahlrechtsversammlungen tagen. Schweigend zieht er vorüber. Es ist, als +ob er auf alle Gesichter seinen Schatten geworfen habe. + +Da -- Signaltöne aus der Hupe. Die Spaziergänger stutzen; drei gelbe +Automobile rasen vorbei, dem Schlosse zu. Der Kaiser. Kein Hurra, kein +Gruß, alles bleibt still, -- wie benommen. + +Und plötzlich, als hätte die Erde sie ausgespieen, wimmelt es auf der +breiten Straße von Menschen; im selben Augenblick bildet sich vor dem +Schloß eine Mauer von Polizistenleibern. Die Menge mißt ihre Gegner mit +dem spöttischen Blick der Überlegenheit: Wenn wir wollten --! Aber sie +wollen nicht. Sie haben stärkere Mauern zu stürmen. + +Aus der Ferne klingen Töne, wie Donnerrollen. Sie schwellen an. Sie +begleiten den gleichmäßigen Tritt Tausender: -- soweit das Auge die +Friedrichstraße hinunter gen Süden reicht -- ein Meer von Menschen. Es +überflutet die Linden. Rechts und links weichen die Spaziergänger +zurück. Noch nie hat die Allee der Fürstentriumphe solch einen Aufzug +gesehen! Eine Schwadron Berittener sprengt den Demonstranten entgegen, +mitten in ihren Zug hinein. Ein Aufkreischen ängstlicher Weiberstimmen, +-- dann gewitterschwangere Stille. + +Einsam liegt das Königsschloß. Leer gefegt ist der weite Raum ringsum. +Schwer hängt die Kaiserstandarte in der unbewegten Luft. Hier hält das +Leben seinen Atem an. + +Aber ringsum, von Norden und Osten, von Süden und Westen, strömen sie +jetzt herbei in hellen Scharen. Sie singen. Niemand hat den Taktstock +geschwungen, sie sehen einander nicht einmal, und doch ist es dasselbe +Lied, das aus den Kehlen aller dringt, das die Bastille gestürmt hat und +die Barrikaden: die Marseillaise. Es schlägt gegen die Mauern der +Kirchen und der Paläste, -- und ihr Echo muß es wiedergeben. Es braust +sieghaft hinweg über die Ketten der Hüter der Ordnung. Hoch über dem +Königsschloß fluten seine Töne zusammen, -- es klingt wie das Klirren +scharfer Klingen, -- wie Wotans gespenstisches Heer. + +Und nun hüllt der Abend die Stadt in seinen dunkeln Mantel. Der Gesang +verstummt. Das Pferdegetrappel der Polizisten, das Geschrei der +Verfolgten tönt nur noch von weit her. + +Mir aber ist, als sähe ich in einen unermeßlichen Saal. An seinen Wänden +prangen die Bilder verflossener Jahrhunderte: die Geschichten von den +Königen und den Kriegen; Marmorstatuen stehen ringsum: Feldherrn und +Fürsten, Priester und Propheten. In der Mitte aber auf goldenem Stuhl +thront Er. Um das Haupt den Krönungsreif wie einen Heiligenschein; die +Finger der Linken um den Reichsapfel gespannt, -- die Weltenkugel; in +der rechten das Zepter, -- eine Peitsche, um Nacken zu beugen, +Widerspenstige zu zähmen; auf der Brust ein großes leuchtendes Kreuz. +Ich staune ihn an: Alles Vergangene lebt in ihm. Alles, was uns tot ist, +umgibt ihn. Gegen die Nacht, die nur sein Glanz erhellt, erscheint das +Licht des Tages grau und kalt. + +Er ist kein einzelner. Er ist die Welt, die wir überwinden müssen. + + * * * * * + +Eine kleine Gruppe von Parteigenossen fand sich in einem Restaurant der +Friedrichstadt in der Nacht nach den Wahldemonstrationen zufällig +zusammen. Die Erregung, die in allen noch nachzitterte, verscheuchte +jede Müdigkeit. Große Ereignisse lösen die Lippen. Auch die Kühlen waren +warm geworden. Man diskutierte lebhaft: über die heutige Eroberung der +Straße, über die künftige Entwickelung der Bewegung, über die +Möglichkeit, in diesem Augenblick, wo es sich nicht um die Aufrichtung +des Zukunftsstaates, sondern um die Niederwerfung der Junkerherrschaft +handelte, das liberale Bürgertum und alle Schmollenden, die unsicher +abseits standen, mobil zu machen. »Ein Riesenkampf gegen die Reaktion, +-- das ist's, was die stagnierenden Gewässer in Fluß bringen würde!« +sagte einer. + +»Er würde die Geister scheiden, wie nichts zuvor --,« ergänzte +enthusiastisch ein anderer. + +»Sie glauben wirklich, daß das Ziel des allgemeinen Wahlrechts für den +preußischen Landtag solch weltbewegende Kräfte entfesseln könnte?« +fragte ich. Mein Spott rötete die Gesichter der Begeisterten noch mehr. + +»Und gerade Sie waren vor einer Stunde bis zur Stummheit ergriffen!« +meinte vorwurfsvoll mein Nachbar. + +»Ich bin es noch,« antwortete ich; »mir war, als hätte ich wirklich den +Flügelschlag der neuen Zeit gefühlt. Ich fürchte nur, sie rauscht an uns +vorüber.« + +»Das aber liegt doch an uns!« rief über den Tisch herüber ein jungem +Literat, der darauf brannte, sich die politischen Sporen zu verdienen. +»Wir müssen sie festhalten, wir müssen das Eisen schmieden, solange es +warm ist.« + +»Womit, wenn ich fragen darf?« -- + +Die Antworten schwirrten von allen Seiten durcheinander: »Durch die +Aussicht auf eine wahrhaft liberaldemokratische Ära,« -- »auf +wirtschaftliche Reformen großen Stils,« -- »Verminderung der Steuern,« +-- »der Militärlasten,« -- »Trennung von Kirche und Staat --« + +»Lauter Einzelforderungen, die große, heute noch indifferente Massen +kaum begeistern, die heterogene Elemente nicht zusammenschweißen werden, +die, vor allen Dingen, kein sicher wirkendes Scheidewasser sind,« sagte +ich ruhig. + +»So nennen Sie es, wenn Sie es wissen!« + +Ich sah mich scheu im Kreise um. Sobald ein Gespräch Fragen berührte, +die mir sehr nahe gingen, überkam mich oft eine gewisse verlegene +Unbeholfenheit. »Stünde ich vor einer Volksversammlung, so würde es mir +leichter werden als vor all Ihren forschenden, erwartungsvollen und -- +lächelnden Mienen,« meinte ich. + +»So wollen wir streng parlamentarisch verfahren,« sagte mein Nachbar +sichtlich belustigt; »wir sind die letzten Gäste, beherrschen also im +Moment die Situation. Silentium, meine Herren! Frau Alix Brandt hat das +Wort.« + +Ich sah zu meinem Mann hinüber. Er nickte mir zu. Ich klammerte meinen +Blick an den seinen und erhob mich. Was mir diese Nacht zum erstenmal +klar vor Augen gestanden hatte, das sollte ich in Worte fassen. -- Mir +war die Kehle wie zugeschnürt. Und doch fühlte ich, es mußte sein. +Nicht um dieser Tafelrunde willen, -- sondern meinetwegen. Der Gedanke +zerflattert, wenn er nicht in die Form der Sprache gepreßt wird. + +»Mir scheint,« begann ich zögernd, »daß es nicht so sehr darauf ankommt, +einzelne praktische Ziele zu setzen. Das haben die Parteien schon längst +getan und sind über die Verschiedenheit ihrer Einzelforderungen in +Gruppen und Grüppchen auseinander gefallen. Alle großen entscheidenden +Weltbewegungen sind von _einem_ Geist getragen worden --« »Und die +materialistische Geschichtsauffassung?!« unterbrach mich ein Genosse. + +»Von _einem_ Geist --,« fuhr ich unbeirrt fort, »der sich +selbstverständlich erst aus den allgemeinen wirtschaftlichen und +sozialen Verhältnissen heraus entwickeln konnte und immer erst dann +entstand, wenn der Widerspruch der Gegenwart zur Vergangenheit überall +schmerzhaft fühlbar geworden war. Das gilt für das Christentum, -- den +Muhamedanismus --« »die Revolution,« rief einer dazwischen. + +»Nein,« antwortete ich. »Es gibt Zeiten, in denen der Geist der +Verneinung, wie ich ihn einmal nennen will, nicht zu reinem, vollem +Ausdruck kommt, wo er nur beschränkte Schichten des Volkes ergreift, -- +wie zur Zeit der Renaissance, der Revolution, -- und wo er darum +schließlich gezwungen wird, mit dem Geist der Vergangenheit zu +paktieren. So baute die Renaissance christliche Kirchen, und die +Revolution übernahm die Phraseologie des Christentums. Auch wir +versuchen mit jener Geistesfaulheit, die sich scheut, zu Ende zu denken, +neuen Wein in alte Schläuche zu gießen. Ich erinnere an die Bemühungen, +die Kirche zu modernisieren, an das Bestreben, in der Partei die Ethik +Kants für den Sozialismus in Anspruch zu nehmen.« + +Hier unterbrach mich mein Nachbar, ein begeisterter Kantianer, und +vergaß im Eifer des Widerspruches die von ihm selbst gewollte +parlamentarische Ordnung. + +»Der kategorische Imperativ, von seiner transzendentalen Herkunft +losgelöst, ist tatsächlich der dirigierende Geist, auf den Sie offenbar +hinauswollen,« rief er. + +»Das bestreite ich. Schon weil er sich von dieser transzendentalen +Herkunft nicht loslösen läßt, weil er Geist vom Geist des Christentums +ist, weil wir auf Grund unserer Kenntnis der historischen Entwicklung +und Umwandlung sittlicher Ideale wissen, daß es ein allgemein gleiches, +verpflichtendes Sittengesetz nicht gibt, weil nicht einmal zwischen +Einzelindividualitäten eine Äquivalenz der Handlungen besteht --« + +»Ich höre Alix Brandt, und es ist Friedrich Nietzsche!« spottete jemand. +Die anderen lächelten vielsagend. + +»Sie haben mir vorgegriffen,« entgegnete ich ruhig. »Ich hätte den Namen +des Mannes genannt, der zwar nicht der Erlöser, wohl aber sein Prophet +sein kann.« + +»Aber, Genossin Brandt, Sie verirren sich,« hörte ich entrüstet rufen; +»wie vermögen Sie Ihre sozialdemokratische Gesinnung mit dem Nachbeten +Nietzschescher Lehren zu vereinigen?! Denken Sie doch an seine +Vergötterung der 'Herrenmenschen', an seine Verhöhnung jedes +'Sklavenaufstands'!« + +»Diesen Einwand mußte ich erwarten. Ich erinnere Sie demgegenüber +zunächst nur daran, daß es derselbe Nietzsche war, der anerkannte, daß +die einzelne starke Individualität am leichtesten in einer +demokratischen Gesellschaft sich erhalten und entwickeln könne. Aber +diese Idee ist zwischen uns, wie ich glaube, schon so sehr zum +unbestreitbaren Gemeinplatz geworden, daß ich nicht weiter darauf +einzugehen brauche. Natürlich gebe ich _den_ Nietzsche preis, der unsere +große soziale Bewegung weder kannte, noch kennen wollte. Und ich kann +das um so leichter, weil er unbewußt selbst im Flusse dieser Bewegung +schwamm, weil er dem Sozialismus das gab, was wir brauchen: eine +ethische Grundlage.« + +Von allen Seiten wurde mir heftig widersprochen, aber jetzt, da ich mir +selbst immer klarer wurde, störte mich das nicht mehr. + +»Alle seine großen Ideen leben in uns: der Trieb zur Persönlichkeit, die +Umwertung aller Werte, das Jasagen zum Leben, der Wille zur Macht. Wir +brauchen die blitzenden Waffen aus seiner Rüstkammer nur zu nehmen, -- +und wir sollten es tun. Mit dem Ziel des größten Glücks der größten +Anzahl, -- an das ich glaubte, wie Sie alle, -- schaffen wir eine +Gesellschaft behäbiger Kleinbürger.... Und spüren Sie den Geist der +Verneinung nicht in allem, was heute lebenskräftig ist und vorwärts +will? Kunst und Literatur, Wissenschaft und Politik setzen ihr Nein der +Vergangenheit entgegen, die noch Gegenwart sein will. Was ihr Tugend +war, -- Unterwürfigkeit, Demut, Ergebung in das Schicksal, Ungehorsam +gegen sich selbst, wenn der Gehorsam gegen Obere es fordert, -- +erscheint uns mindestens als Schwäche, wenn nicht als Unrecht. Der +Glaube an die gottgewollten Zustände von Armut und Reichtum, von +Herrschaft und Dienstbarkeit ist weit über die Kreise der Partei hinaus +zerstört. Und mit alledem, das wir unbewußt und bewußt von uns geworfen +haben, panzert sich der Riese der Reaktion. Vor neunzehnhundert Jahren +unterwarf die Moral des Christentums die heidnische Welt. Vergebens hat +die Renaissance und die Revolution sich gegen sie empört, -- die Zeit +war noch nicht reif. Heute aber ist sie es; der Sozialismus hat ihr den +Boden bereitet. Wäre ihre Fahne voll entfaltet, so würden sich vor ihr +die Feigen von den Mutigen, die Schwachen von den Starken sondern, und +alles würde ihr zuströmen, was jungen Geistes ist, was Zukunft in sich +hat. Den Weg zu unserem Ziel finden wir nur, wenn die Idee der ethischen +Revolution der Idee der ökonomischen Umwälzung Flügel verleiht....« + +Die Türe ging auf. Ein verschlafener Kellner musterte mißmutig die +seßhaften Gäste. Ich erwachte wie aus einem Traum. Die anderen blieben +stumm. Ob aus Überraschung, aus Empörung, aus Müdigkeit? »Ich möchte +heim,« sagte ich leise zu meinem Mann. Wir gingen allein und schweigsam +nach Hause. + +Ich hörte danach, daß man mich verspottete: Die Sozialdemokratin und +Verkünderin der »Herrenmoral«! Mir schien, als gingen mir die Genossen +noch mehr als sonst aus dem Wege. Aber es kränkte mich nicht. + + * * * * * + +Ein feuchter Märzwind strich durch die Straßen. Die Bäume und Büsche +zitterten in seiner Umarmung, denn er flüsterte ihnen vom Frühling die +frohe Botschaft zu. Auch um meine Stirne wehte sein weicher Atem. Hatte +ich nicht geglaubt, daß ich den Lenz wie alte Leute grüßen würde: +versunken in Erinnerungen? -- + +Ich saß am Fenster und las meines Sohnes Briefe. Seit einiger Zeit +schrieb er mir oft: Seiten und Seiten voller Fragen und erregter +Geständnisse. Zum erstenmal stand sein junger Geist in offenem Kampf mit +der Wahrheit und den Autoritäten. Und er unterwarf sich nicht. Er war +mein Kind. + +Noch immer hatte ich mich gescheut, Heinrich zu zeigen, was er schrieb. +Wir waren früher heftig aneinander geraten, weil ich schon des kleinen +Kindes Selbständigkeit respektierte. Und jetzt hatte ich mehr zu +fürchten als nur den väterlichen Zorn. Ein Prüfstein würde es sein auch +für unsere Beziehungen. Ich liebte meinen Mann. Viel mehr, viel tiefer +als zu jener Zeit, da ich mich ihm zuerst verband. Denn damals kannte +ich ihn nicht. Aber meine Liebe war zu groß, um Unterwerfung ertragen zu +können. Wenn er das Kind nicht verstand, so würde er auch mich nicht +verstehen. Wieder aneinander gebunden sein, so daß jeder selbständige +Schritt des einen den anderen ins Fleisch schneiden muß; die Blume der +Liebe, die nichts als der Persönlichkeit reichste Entfaltung ist, +abpflücken, nur damit sie die Brust des anderen schmückt, zu frühem +Welken verurteilt, -- das vermochte ich nicht mehr -- + +Es läutete draußen, lang und heftig. Ich sprang auf, beide Hände auf das +wild klopfende Herz gepreßt. Wer lärmte zu früher Morgenstunde so +ungeduldig an der Türe? Wer?! Schon sprang sie auf, und ins Zimmer flog +es herein wie ein Wirbelwind, und zwei Arme umschlangen mich, und ein +glühendes Gesicht mit zwei glänzenden Augen hob sich zu mir empor. »Mein +Kind! Mein Kind!« -- + +Der Rucksack flog im Bogen von den Schultern. »Davongelaufen bin ich -- +bei Nacht und Nebel, -- ich hielt's nicht länger aus,« sprudelte es +hervor, atemlos, triumphierend. + +Ich hörte kaum, was er sprach, ich sah nur, daß er da war, wirklich da +war! + +Ein fester Tritt auf dem Flur weckte mich aus meiner Versunkenheit. »Der +Vater!« rief ich angstvoll und legte wie schützend den Arm um meinen +Sohn. Der aber riß sich los, lachte mich an und lief mit einem: »Ich +fürchte mich nicht!« dem Kommenden entgegen. + +Ich stand wie angewurzelt. Ich hörte einen Wortwechsel, dann ein langes, +ernstes Gespräch. Frage und Antwort. Hand in Hand kamen sie zu mir ins +Zimmer. »Nun werden wir den Schlingel doch wohl behalten müssen,« +lächelte mein Mann, »und heute soll für uns drei ein Feiertag sein.« + +Wir gingen durch den Wald nach Paulsborn. Die Kiefern standen schwarz +gegen den hellen Himmel, und lichtgrün schmiegten sich die Büsche ihnen +zu Füßen. Auf dem See tanzten die Sonnenstrahlen. Und weit voraus sprang +unser Sohn. + +»Weißt du noch?!« sagte Heinrich. + +»Ich weiß! Damals schüttelte der Sturm die Bäume. Mich fror, und du +schlugst deinen Mantel um mich --« + +»Und habe dich doch nicht schützen können --« + +»Ich danke es dir, denn dadurch wurde ich stark.« + +»So stark, daß du allein zu gehen vermagst --,« seine Stimme schwankte +dabei. Mich traf's wie blendendes Licht, -- ich sah auf dem Wasser +nichts mehr als die goldene, schimmernde Sonnenstraße. + +»Damals warnte ich dich vor mir,« fuhr er fort. + +»Ich aber ließ dich nicht --« + +»Und heute?! --« + +»Du siehst: ich gehe auf eigenen Füßen, aber neben dir --« + +Wo die dunkle Allee sich der weiten, sonnenbeglänzten Wiese öffnet, +tauchte die schlanke Gestalt unseres Sohnes auf. Er hielt einen Zweig +jungen Grüns in der hochgehobenen Hand. Der wehte über ihm wie eine +Fahne. + + * * * * * + +Und dann kam das Leben wieder und der Alltag, und sein Pfad blieb rauh. +Aber ich hatte ihn freiwillig gewählt, und meines Herzens Glut schützte +mich vor dem Frost. Er blieb einsam. Aber ich wußte vorher: wer eigene +Wege sucht, findet wenig Gefährten. Und über das Donnern der Sturzbäche +hinweg flog siegreich hin und her der Gruß der Liebe. + +Einmal, als der Föhn mich umheulte und die Steine meine Füße +verwundeten, sah ich forschend zurück. Und ich erkannte, daß ich nicht +irre gegangen war. + + + + + +End of Project Gutenberg's Memoiren einer Sozialistin, by Lily Braun + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MEMOIREN EINER SOZIALISTIN *** + +***** This file should be named 16302-8.txt or 16302-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + https://www.gutenberg.org/1/6/3/0/16302/ + +Produced by richyfourtytwo and the Online Distributed +Proofreading Team at https://www.pgdp.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at https://www.pglaf.org. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact +information can be found at the Foundation's web site and official +page at https://pglaf.org + +For additional contact information: + Dr. Gregory B. Newby + Chief Executive and Director + gbnewby@pglaf.org + + +Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation + +Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide +spread public support and donations to carry out its mission of +increasing the number of public domain and licensed works that can be +freely distributed in machine readable form accessible by the widest +array of equipment including outdated equipment. Many small donations +($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt +status with the IRS. + +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United +States. 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Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + https://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. diff --git a/16302-8.zip b/16302-8.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..1106edb --- /dev/null +++ b/16302-8.zip diff --git a/16302-h.zip b/16302-h.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..8848c55 --- /dev/null +++ b/16302-h.zip diff --git a/16302-h/16302-h.htm b/16302-h/16302-h.htm new file mode 100644 index 0000000..d5e35eb --- /dev/null +++ b/16302-h/16302-h.htm @@ -0,0 +1,22772 @@ +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> + <head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=iso-8859-1" /> + <title> + The Project Gutenberg eBook of Memoiren Einer Sozialistin, by Lily Braun. + </title> + <style type="text/css"> +/*<![CDATA[ XML blockout */ +<!-- + p { margin-top: .75em; + text-align: justify; + margin-bottom: .75em; + } + h1,h2,h3,h4,h5,h6 { + text-align: center; /* all headings centered */ + clear: both; + } + hr { width: 33%; + margin-top: 2em; + margin-bottom: 2em; + margin-left: auto; + margin-right: auto; + clear: both; + } + + table {margin-left: auto; margin-right: auto;} + + body{margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + } + ins.correction { + text-decoration:none; + border-bottom: thin dotted gray;} + + .spaced { letter-spacing: 0.75ex; font-style: normal; } + .antiqua { font-family: Arial, sans-serif; } + .blockquot{margin-left: 5%; margin-right: 10%;} + + .poem {margin-left:10%; margin-right:10%; text-align: left;} + .poem br {display: none;} + .poem .stanza {margin: 1em 0em 1em 0em;} + .poem span.i0 {display: block; margin-left: 0em;} + .poem span.i2 {display: block; margin-left: 2em;} + .poem span.i4 {display: block; margin-left: 4em;} + // --> + /* XML end ]]>*/ + </style> + </head> +<body> + + +<pre> + +The Project Gutenberg EBook of Memoiren einer Sozialistin, by Lily Braun + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Memoiren einer Sozialistin + Kampfjahre + +Author: Lily Braun + +Release Date: July 15, 2005 [EBook #16302] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MEMOIREN EINER SOZIALISTIN *** + + + + +Produced by richyfourtytwo and the Online Distributed +Proofreading Team at https://www.pgdp.net + + + + + + +</pre> + + +<h1>Memoiren einer Sozialistin</h1><p><a name="Page_-1" id="Page_-1"></a></p> + +<h2>Kampfjahre</h2> + + +<h2>Roman</h2> + +<h2>von</h2> + +<h2>Lily Braun</h2> + +<h2>Albert Langen, München</h2> + +<h2>1911</h2><p><a name="Page_0" id="Page_0"></a></p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_1" id="Page_1"></a></p> +<h2><a name="Erstes_Kapitel" id="Erstes_Kapitel"></a>Erstes Kapitel</h2> + + +<p>Eine gewitterschwüle Juninacht. In der Kabine +unten hatte ich es nicht ausgehalten. Die eingeschlossene +Luft legte sich zentnerschwer auf +Kopf und Brust, und das melancholisch eintönige Anschlagen +der Wellen an die Fenster preßte mir das Herz +zusammen, als ob das Unglück selbst es in seinen harten +Händen hielte.</p> + +<p>»Ich bin seefest,« hatte ich der warnenden Stewardeß +zugerufen, als ich die schwankende Treppe hinaufgestiegen +war. Zwei-, dreimal atmete ich auf, tief +und schwer, wie nach überstandener Anstrengung, ehe ich +mich in den Korbstuhl fallen ließ. Am Himmel jagte, +vom Wind gepeitscht, ein schwarzes Wolkenheer. Dunkel +und drohend rollten die Wellen dem Schiff entgegen. +Kein Mondstrahl spiegelte sich in ihnen, kein Stern +erleuchtete das finstere Firmament. Langsam verschwanden +am Horizont die Küste von Holland und mit ihr die +letzten freundlichen Lichter.</p> + +<p>Ich war allein — ganz allein. Ich sammelte meine +Gedanken, die das Fieber der letzten Tage durcheinandergewirbelt +hatte wie der Sturm die Schaumperlen auf +dem Wasser. War das Gebäude meines neuen Lebens, +das ich mir droben auf den Bergen mit eigenen Händen +stolz und selbstsicher errichtet hatte, nichts als ein Kartenhaus<a name="Page_2" id="Page_2"></a> +gewesen, das ein Stoß mit der Hand umzuwerfen +vermochte? Ich griff suchend in die Tasche meines +Mantels, es war kein Traum, sondern grausame Wirklichkeit: +meiner Mutter Brief knisterte noch darin. Ich +konnte ihn auswendig. Schon auf der Fahrt von Grainau +nach Berlin hatte ich ihn gewiß zehnmal gelesen.</p> + +<p>»Es ist mir, Gott sei Dank, möglich gewesen, Deinen +Brief ohne Wissen Deines Vaters in die Hand zu bekommen,« +hieß es darin, »und ich schreibe Dir in +größter Hast, Gott anflehend, daß es meinen Worten +gelingen möchte, das Schrecklichste von uns allen abzuwenden. +Was ich immer schon fürchtete, als ich mit +anhören mußte, wie Dein verstorbener Mann und Du +unseren Herrn und Heiland verleugnetet, und in Euren +›Ethischen Blättern‹ las, wie Ihr immer wieder für die +Umsturzpartei eintratet, das ist jetzt geschehen. Der +Samen, den Georg in Deine Seele streute, ist aufgegangen: +kühl und geschäftsmäßig, als handle es sich +um den Plan eines Spaziergangs, teilst Du uns mit, +daß Du Deine Redaktionsstellungen aufgegeben hast, um +Dich ganz und gar der Sozialdemokratie in die Arme +zu werfen. Deine große Verirrung, Dein Unglaube +haben Dich, wie es scheint, für alles, was Pflicht, Gehorsam, +Liebe und Rücksicht heißt, blind und taub gemacht, +sonst müßtest Du wissen, daß Du mit einem +solchen Schritt Deinem ganzen bisherigen Verhalten +Deinen Eltern, Deiner Familie gegenüber die Krone +aufsetzest. Dieser Partei, die alles besudelt und mit +Füßen tritt, was uns heilig ist: Gott und Christentum, +Familie, Ehe, Monarchie und Militär, sollen wir unser<a name="Page_3" id="Page_3"></a> +Kind überlassen? Es wäre in dem Augenblick für uns +gestorben! Aber freilich, das ist Dir einerlei, Du wirfst +leichten Herzens alles über Bord, was Deinem Eigensinn, +Deinem Ehrgeiz, Deiner Eitelkeit hindernd in den +Weg tritt. Wenn Du aber damit Deinen armen Vater +mordest — von mir will ich gar nicht reden, eine +Mutter scheint dazu da zu sein, daß die Kinder sie mit +Füßen treten —, wirst Du auch dann noch Deiner Selbstherrlichkeit +froh werden können?! Du weißt, daß es ihm +in letzter Zeit gar nicht gut geht. Vor ein paar Tagen +fiel er vom Pferd; er sagt, er sei gestürzt, Bruder +Walter aber, der dabei war, ist überzeugt, daß es ein +leichter Schlaganfall gewesen ist. Die kleine Braune, +deren Ruhe du kennst, machte keinerlei Bewegung, er +glitt eben einfach aus dem Sattel. Seitdem leidet er +an Schwindel und Kopfschmerz und ist schwerer zu behandeln +denn je. Jede Aufregung kann einen neuen +Anfall hervorrufen, der ihn tötet. Ich wollte nur, ich +könnte dann mit ihm sterben, ehe ich so etwas mit Dir +erleben müßte ...!«</p> + +<p>Als ich diesen Brief erhalten hatte, waren meine +Austrittserklärungen aus den Redaktionen der »Ethischen +Blätter« und der »Frauenfrage« schon versandt worden. +Kaum in Berlin angekommen, fand ich die Mitteilung +davon in der Presse und die nötigen Kommentare dazu: +»Frau von Glyzcinski hat den längst erwarteten Schritt +getan, und die Sozialdemokratie kann sich ob dieser +ebenso interessanten wie pikanten Aquisition ins Fäustchen +lachen« ... so und ähnlich lauteten sie.</p> + +<p>Am nächsten Morgen in aller Frühe war meine +Schwester blaß und verängstigt zu mir gelaufen:</p> +<p><a name="Page_4" id="Page_4"></a></p> +<p>»Wir sind mit dem Arzt im Komplott,« hatte sie mit +stockender Stimme gesagt, während die Tränen ihr unaufhaltsam +über die Wangen liefen, »er verbietet Papa, +auszugehen. So liest er wenigstens im Kasino die Zeitungen +nicht. Und die Post wird dem Briefboten an +der Hintertreppe abgenommen ... Ach, Alix, — du +weißt nicht, wie gräßlich es zu Hause ist .. Ich muß +Papa immer was vormachen, damit er nichts merkt und +Mama nicht zu sehr quält .. Am liebsten liefe ich +selber davon ...«</p> + +<p>Zu Tisch war ich dann mit ihr zu den Eltern gegangen.</p> + +<p>Meines Vaters Anblick hatte mich erschüttert.</p> + +<p>»Kommst du wirklich noch zu einer halben Leiche?!« +hatte er bitter lachend gesagt. »Ihr könnt's ja wohl +gar nicht erwarten, daß eine ganze draus wird. Herr +Gott, — wie hübsch könntet ihr dann eurem Vergnügen +leben!«</p> + +<p>Mama begleitete mich nach Hause: »Habe den Mut, +ihm deinen Entschluß ins Gesicht zu sagen! — So einen +Brief schreiben und alle Folgen auf Mutter und +Schwester abwälzen, — das ist freilich eine Heldentat, +die dir ähnlich steht!«</p> + +<p>Abends war Frau Vanselow noch gekommen, — tief +bekümmert. »Ich verstehe Ihren Entschluß, — wenn +ich so jung wäre wie Sie, ich täte dasselbe —, aber +das hindert mich nicht, ihn schmerzlich zu bedauern. +Unsere ›Frauenfrage‹ ist nichts ohne Sie. Und darum +bitte ich Sie recht herzlich: wenn ich schon die Mitredakteurin +verlieren soll, so doch wenigstens nicht die +Mitarbeiterin. Mehr als je können Sie jetzt für die<a name="Page_5" id="Page_5"></a> +Einheit der ganzen Frauenbewegung wirken.« Und +dann hatte sie mir die Einladung zum Internationalen +Frauenkongreß nach London vorgelesen, die auf unser +beider Namen lautete. »Wie viel könnten gerade Sie, +meine liebe, junge Freundin, dort lernen und leisten — England, +das klassische Land der Frauenemanzipation ...!«</p> + +<p>In der Nacht kämpfte ich einen schweren Kampf. +Meine Überzeugungen, meine Zukunftsträume, meine +Hoffnungen standen alle bis an die Zähne gewappnet +auf wider mich.</p> + +<p>Sehr langsam, sehr müde schlich ich am Tage darauf +zu den Eltern. Noch nie war mir der Flur, in +dem auch heute, an einem strahlenden Frühsommertage, +das kleine Lämpchen brannte, so eng, so dunkel vorgekommen +und die Zimmer mit ihren schweren Vorhängen +so kalt.</p> + +<p>Rasch, wie ein Schulmädchen, das den eingelernten +Vers herunterhaspelt, um nur nicht stecken zu bleiben, +erzählte ich von der Einladung nach England.</p> + +<p>»Wenn ihr nichts dagegen habt, möchte ich mit Frau +Vanselow hinüberreisen. Ich kann dabei viel gewinnen. +Die englische Frauenbewegung ist uns weit +voraus, die ganze soziale Hilfstätigkeit ist glänzend organisiert, — ich +werde mir für meine eigene Arbeit +ein Muster nehmen können. In schlechte Gesellschaft +komme ich auch nicht,« hatte ich mit erzwungenem +Lächeln hinzugefügt, »denn Gräfinnen und Herzoginnen +sind unsere Gastgeber ...«</p> + +<p>Mama verstand. Sie strahlte. Klein-Ilschen, die +sich bei meiner Ankunft verschüchtert in eine Ecke ge<a name="Page_6" id="Page_6"></a>flüchtet +hatte, sprang auf und wirbelte lustig im Zimmer +umher, der Vater schien förmlich elektrisiert von all den +Aussichten, die sich mir boten. Er studierte das Kursbuch, +das Konversationslexikon und schickte die Minna +zum nächsten Buchhändler, um den neuesten Bädecker +von London zu holen.</p> + +<p>Immer wieder griff er verstohlen nach meinen Händen +und streichelte sie so sanft, so leise, daß ich den Kampf +der Nacht vergaß und nichts fühlte als seine Liebe.</p> + +<p>Die Reisevorbereitungen, der Abschied, — der Vater +hatte sich's nicht nehmen lassen, mich frühmorgens zur +Bahn zu bringen und mir, wie ein feuriger Liebhaber, +einen Strauß blühender Rosen in die Hand zu drücken, — die +Eisenbahnfahrt in Begleitung von Frau Vanselow +und Frau Schwabach, die unaufhörlich von ihrer +Vereinsarbeit sprachen, hatten mich bis zu diesem Augenblick +nicht zu Atem kommen lassen.</p> + +<p>Ach, und warum schlief ich nicht jetzt, statt heraufzubeschwören, +was vergangen war, und in schmerzhafter +Sehnsucht an den zu denken, den ich nicht erwecken +konnte? Ich sah die Nacht um mich her und +die große Einsamkeit — war Georg nicht erst jetzt für +mich gestorben? Mich fröstelte; feucht und kalt klebten +mir die Kleider am Leibe.</p> + +<p>»Ich will schlafen gehen,« murmelte ich ... und die +Augen fielen mir zu .....</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_7" id="Page_7"></a></p> + +<p>Im Morgengrauen lag die Küste Englands vor +mir, unfreundlich und nüchtern. Mit jener unwirschen +Rücksichtslosigkeit aller Unausgeschlafenen +hasteten und stießen sich die Schiffspassagiere. Ich +ließ mich schieben, — es war ja alles so schrecklich +gleichgültig.</p> + +<p>»Frau von Glyzcinski?!« — Überrascht sah ich auf. +»Mister Stratford?« — Der rotblonde Hüne, der +mich eben begrüßt hatte, nickte erfreut. Wie einen +Gruß von Georg, so empfand ich seinen Händedruck; +er war sein bester Freund gewesen, seine Schriften, +seine Briefe hatten ihn mir wie ein Echo Georgs erscheinen +lassen. Und mit leisem Lächeln mußte ich der +Stunde gedenken, in der mir der Verstorbene gestanden +hatte, daß er zwischen uns den Heiratsvermittler habe +spielen wollen, ehe er daran zu denken wagte, ich +könne ihn — den armen Gelähmten — jedem anderen +vorziehen.</p> + +<p>Stratford war überzeugter Sozialist, wie Georg, nur +daß er noch mit aller Energie an dem Standpunkt +der Ethischen Gesellschaft festhielt: sich offiziell keiner +Partei anzuschließen. Wir gerieten während der Eisenbahnfahrt +nach London in eine eifrige Debatte.</p> + +<p>»Grade Menschen wie wir können für die Verbreitung +der Ideen des Sozialismus außerhalb der politischen +Organisation weit mehr und nachhaltiger wirken, als +wenn wir ihre eingetriebenen Mitglieder wären,« sagte +er. »Wir verzetteln und verzehren unsere Kräfte nicht +im Kleinkram des Parteilebens, wir finden Gehör, wo +wir sonst von vornherein auf Mißtrauen stoßen würden.«</p> +<p><a name="Page_8" id="Page_8"></a></p> +<p>»Und Sie als Ethiker können es verteidigen, daß wir +mit geschlossenem Visier kämpfen und unsere Überzeugungen +durch Hintertüren in die Häuser tragen?« +rief ich. »Ich komme mir dabei vor wie ein Feigling +und ein Betrüger!«</p> + +<p>Er lenkte ein: »Sie mögen in Deutschland, wo der +ganze Sozialismus sich in der Partei konzentriert, zu +dieser Empfindung ein Recht haben, bei uns gibt es +nichts, das der deutschen Sozialdemokratie auch nur annähernd +ähnlich wäre. Wir sind viel zu individualistisch, +um uns herdenweise zusammenscharen zu lassen; Sie +werden daher unseren Sozialismus und seine Ausbreitung +nicht nach dem Dutzend kleiner Vereine beurteilen müssen, +sondern nach den Scharen freier Sozialisten, die in allen +Gesellschaftsschichten zu finden sind.«</p> + +<p>Meine Unwissenheit in bezug auf englische Verhältnisse +fiel mir plötzlich schwer aufs Gewissen. Ich ließ +meinen Begleiter erzählen, der sich, wie es schien, gern +reden hörte, und warf nur hie und da eine Frage dazwischen, +um seinen Redefluß auf die von mir gewünschten +Bahnen zu lenken. Ein Kaleidoskop bunter Bilder +reihte sich vor mir auf: von der Ethischen Gesellschaft +an, deren Sprecher er war, bis zu den politischen +Kämpfen zwischen der konservativ-unionistischen Koalition +gegen das liberale Ministerium Rosebery-Harcourt. +Ich war ganz benommen, als wir uns London näherten.</p> + +<p>Einzelne Häuser tauchten auf, grau, nüchtern, mit +trüben Fensterscheiben und dünnen schwarzen Schornsteinen; +sie schoben sich rechts und links zusammen, enger +und enger, sie verdrängten schließlich das letzte Streifchen +grünen Rasens; schmal, feuchtglänzend wie Riesen<a name="Page_9" id="Page_9"></a>würmer, +wanden sich unten die Straßen zwischen den +Mauern. Ein schmutzig-grauer Nebel umhüllte alles, +nicht wie ein Schleier, der phantastische Vorstellungen +von dahinter verborgener Schönheit zu wecken vermag, — wie +ein nasses Tuch vielmehr, das die Häßlichkeit +der Formen betont und jede Farbe verwischt, die sie +mildern könnte. In der Bahnhofshalle brannten die +Bogenlampen, sie wirkten wie flackernde Öllämpchen im +Dunkel eines Kohlenbergwerks. Wir fuhren durch die +Stadt: leichte Wagen und schwerfällige Omnibusse, Reiter +und Radler schoben und drängten sich hin und her, kein +Fußbreit Weges blieb frei zwischen ihnen. Auf den +Bürgersteigen daneben hasteten die Fußgänger; gleichgültig, +nur auf das eigene Vorwärtskommen bedacht, +ohne einen Blick nach rechts und links. Selbst die +Kinder liefen ernsthaft, gradausschauend weiter. Da +war keiner, der Zeit hatte —, unsichtbar schienen in der +Menge die Fronvögte der grausamen Herrin Arbeit ihre +Geißeln zu schwingen.</p> + +<p>Hier sollte ich Frieden finden und eine sichere Richtschnur +für das kommende Leben?!</p> + +<p>»Westminster! — das Parlament,« hörte ich meinen +Begleiter sagen. Ich blickte auf. An einem Palast mit +gotischen Türmen und Fenstern fuhr der Wagen langsam +vorbei. In vornehmer Abgeschlossenheit, hinter +hohen Gittern lag er gestreckt am breit dahinflutenden +Strom. Schüchterne Sonnenstrahlen brachen durch den +Nebel, leuchteten durch das feine gotische Maßwerk, +blitzten auf den Turmknäufen, sprangen hinüber zu der +altehrwürdigen Kirche und ließen ihre bunten Fenster +aufglühen, als stünde sie im Feuer.</p> + +<p><a name="Page_10" id="Page_10"></a>Ein schmaler Weg am Ufer der Themse, hinter dem +Parlament, einfach und still wie eine Dorfstraße, nahm +uns auf. Wir waren am Ziel.</p> + +<p>Meine Wirte, zwei alte Leute, hatten fast ihr ganzes +Haus den Besuchern des Frauenkongresses zur Verfügung +gestellt. Sie empfingen mich so herzlich, als +wären wir alte Freunde. Man versammelte sich grade +zum Frühstück. Warum waren die Leute nur alle so +feierlich? Selbst Stratford legte das Gesicht in würdevolle +Falten, — fünf himmelblau gekleidete Dienstmädchen +traten ein, — ein Harmonium ertönte, — helle +Stimmen sangen einen Choral. Dann las der Hausherr +mit dem Tonfall katholischer Priester einen Bibelabschnitt, — ein +Gebet folgte. Alles kniete nieder, den +Kopf in den Händen vergraben, — auch Stratford, +Georgs Freund, der Atheist. Ich fühlte, wie ich rot +wurde vor innerem Zorn; ich allein blieb stehen.</p> + +<p>»Wie können Sie nur?!« frug ich ihn empört, als +er sich verabschiedete.</p> + +<p>»Es ist ja nur eine Form!«</p> + +<p>»Durch all unsere Rücksicht auf die Form helfen wir +die Sache erhalten!«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Am Abend wurde der Kongreß durch einen feierlichen +Empfang der ausländischen Delegierten +eröffnet. Eine Schar weißgekleideter Mädchen, +mit breiten Schärpen in den Landesfarben über der +Brust, bildete Spalier auf der Treppe von Queenshall; +in ein Meer von Licht war der Riesenraum getaucht, +und alle Blumen des Sommers leuchteten und dufteten +<a name="Page_11" id="Page_11"></a>rings umher. In großer Toilette erschienen die Delegiertinnen, +bei jeder Eintretenden ging ihr Name flüsternd +von Mund zu Mund. Und wie sie bekannt waren, so +kannten sie sich untereinander und begrüßten sich wie +alte Kriegskameraden. Ich kam allein in meinem schwarzen +Trauerkleid, über das der Witwenschleier schwer herunterfiel. +Es war ein leerer Raum um mich, als ob meine +dunkle Erscheinung alles Bunte, Helle von sich stieße. +Mich kannte niemand. Ein scheu-verwundertes »Wer +ist das?« schlug an mein Ohr.</p> + +<p>Auf der Estrade versammelten sich die Delegiertinnen, +und jede von ihnen begrüßte im Namen ihres Heimatlandes +die wogende Menschenmasse unter uns. Da +waren sie alle, die alten Vorkämpferinnen, die Frauen +Amerikas und Australiens, die ihrem Geschlecht die Hörsäle +der Universitäten und die Pforten zum Parlament +eröffnet hatten. Ein neuer Weibestypus: statt der +weichen Madonnengesichter, die die Stille und Enge +häuslichen Lebens formt, schmale, scharf geschnittene +Züge, wie sie die Welt ihren Bürgern meißelt; statt +des treuen, warmen Blicks, der über Kinderstube und +Küchengarten nicht hinauszuschauen braucht, die wissenden, +ernsten, leidenschaftdurchfunkelten Augen jener, +denen des Lebens dunkle Abgründe sich offenbaren. +Neben ihnen, den Siegerinnen, standen die noch immer +Besiegten: die dunkeläugige Türkin im schimmernden +Märchengewande der Scheherezade, die Abgesandte Indiens, +den schlanken braunen Leib in weiche Schleier +gehüllt. Stolz erzählten die einen von ihren Triumphen, +klagend die anderen von ihren Leiden, — Triumphen auf +dem Gebiete des wissenschaftlichen, des sozialen, des +<a name="Page_12" id="Page_12"></a>politischen Lebens, — Leiden, hervorgerufen durch sexuelle, +soziale und rechtliche Unterdrückung, als ob Befreiung +und Not ihres Geschlechtes damit erschöpft wären. +Immer heftiger schlug mir das Herz: ich sah wie im +Traum vor den Türen dieses glänzenden Saales Scharen +blasser Frauen im farblosen Kleide der Arbeit, wie Werkstätten +und Fabriken sie allabendlich zu Tausenden in +ihr elendes Heim entlassen. Und als mein Name gerufen +wurde, und die weiße brillantengeschmückte Hand +der Präsidentin sich mit einer leise bevormundenden Bewegung +auf meine Schultern legte, während sie von +Deutschlands rechtlosen Frauen, von meinem ersten Auftreten +für ihre politische Gleichstellung sprach, da wußte +ich, was ich zu sagen hatte.</p> + +<p>»Die Millionen Frauen, die unsere Hemden weben +und unsere Kleider nähen, haben mich nicht delegiert, +aber ich fühle mich als ihre Abgesandte und nur als +die ihre.«</p> + +<p>Sekundenlanger Beifall unterbrach mich, — galt er +nicht mehr meinem gebrochenen Englisch und meiner +Trauerkleidung als meinen Worten? Mit einem Blick +voll Geringschätzung streifte ich die elegante Zuhörerschaft. +Ich werde euch schon verstummen machen —, dachte +ich.</p> + +<p>»Ihre Vorsitzende rühmte mich als die erste deutsche +Frau, die in öffentlicher Versammlung das Stimmrecht +für ihr Geschlecht gefordert habe. Ich muß dieses +Lob ablehnen. Seit Jahren tragen deutsche Arbeiterinnen +von Ort zu Ort die Fahne der politischen +Gleichberechtigung, und an der Spitze der Arbeiterpartei, +der Sozialdemokratie, steht ein Mann, dem die<a name="Page_13" id="Page_13"></a> +Frauen der ganzen Welt zu Dank verpflichtet sind: August +Bebel.«</p> + +<p>Ich hielt unwillkürlich inne, ich erwartete einen Tumult, +statt dessen erhoben sich alle Hände zu einmütigem +Applaus, und selbst die Damen des Präsidiums, unter +denen sich die vornehmsten Frauen Englands befanden, +lächelten mir freundlich zu.</p> + +<p>Am Ausgang des Saals trat mir eine starkknochige +ältere Frau entgegen. In dem Druck ihrer harten, unbehandschuhten +Hand erkannte ich die Arbeiterin. »Ich +bin Sozialdemokratin,« sagte sie, »und möchte Sie als +Genossin begrüßen.« Auf dem Heimweg begleitete sie +mich, und ich gab meiner Verwunderung und meiner Freude +Ausdruck über das Erlebte. Sie lachte geringschätzig. +»Was wollen Sie?! Wir sind in England! Wenn ein +Prinz Anarchist und eine Aristokratin Sozialistin ist, so +gilt das als ganz besonders interessant. Passen Sie +auf: man wird sich um Sie reißen. Für unsere Sache +aber hat das gar keine Bedeutung.« Sie nannte mir +ihren Namen — Amie Hicks — und ihre Wohnung, +fern im äußersten Norden Londons. »Besuchen Sie +mich einmal; ich werde Sie in Arbeiterkreise führen.«</p> + +<p>Im Trubel der nächsten Zeit war daran nicht zu +denken. Der Kongreß und seine Veranstaltungen nahmen +mich ganz in Anspruch. Ich fehlte zwar oft; nicht nur, +um den Morgen- und Abendandachten aus dem Wege +zu gehen, mit denen die Sitzungen regelmäßig eingeleitet +und geschlossen wurden, sondern auch, um Zeit zum +Schreiben zu gewinnen.</p> + +<p>In Gedanken an meine zusammenschmelzende Barschaft +stieg mir das Blut oft siedendheiß in die<a name="Page_14" id="Page_14"></a> +Schläfen. Das sogenannte Gnadenquartal war mir als +Witwe eines Universitätsprofessors freilich bewilligt +worden, aber schon vom nächsten Monat ab hatte ich +nichts Sicheres zu erwarten als meine kleine Pension +von hundert Mark monatlich. Ich hatte kaum an den +pekuniären Ausfall gedacht, als ich meine Redaktionsstellungen +aufgab. Nun hieß es: arbeiten, zusammenschreiben, +was ich zum Leben nötig hatte. Ich wußte +nicht einmal, wie viel das war. Ich hatte nie mit dem +Pfennig gerechnet. Wie gut, daß mein Trauerkleid mir +wenigstens ersparte, den Luxus der anderen mitzumachen.</p> + +<p>Mit Einladungen wurden wir überschüttet: vom Lord-Major +an, der uns mit dem ganzen Pomp seiner unnachahmlich +würdevollen Stellung empfing, wetteiferte +alles in schier grenzenloser Gastfreundschaft. Hinaus +aufs Land führten uns Extrazüge, — jenes Land voll +rührender, weicher Schönheit, mit seinen grünen, sanft +geschwungenen Hügeln, seinen dunklen Buchengruppen +und stillen, rosenumsponnenen Häusern. Fast unmerklich +für Auge und Sinn geht die freie Natur in den +Blumengarten, in den Schloßpark über, nicht wie bei +uns, wo die ihr mit allen Mitteln mühsam aufgezwungene +Kultur oft so verletzend wirkt wie protziger +Reichtum neben dürrer Armut. Und in die Häuser Londons +waren wir geladen, die, wie Menschen von alter Kultur, +nach außen die gleichförmige, oft langweilig wirkende +Maske guter Erziehung tragen und erst dem Gast, dem +sich die Pforten öffnen, den ganzen inneren Reichtum +individuellen Lebens zeigen. Berlin und die Berliner +fielen mir dabei ein, wo Fassaden und Kleider, um +Originalität vorzutäuschen, einander an Buntheit zu +<a name="Page_15" id="Page_15"></a>übertreffen suchen, während im Inneren Tapeziergeschmack +und Konvention uneingeschränkt herrschen.</p> + +<p>In Wohltätigkeits- und Bildungsanstalten aller Art +wurden wir eingeführt, und wie in der Frauenbewegung, +so imponierte mir hier die Einheitlichkeit ihrer Organisation, +deren gewaltige Räderwerke so selbstverständlich +ineinander griffen wie die jener Dampfturbinen, bei +deren Anblick wir nicht wissen, ob wir die praktische +Kunst ihrer Schöpfer oder die fremdartig-neue Schönheit +ihres Baus mehr bewundern sollen.</p> + +<p>Der Kongreß selbst war eine Parade, wie fast alle Kongresse. +Die Reden, die gehalten, die Berichte, die gegeben +wurden, waren den Eingeweihten ihrem Inhalt +nach aus Büchern und Broschüren bekannt. Der Austausch +von Meinungen, der das wichtigste gewesen wäre, +wurde an zweite Stelle gerückt, er hätte die Ordnung +und den Glanz der Heerschau am Ende trüben können. +So wäre als Gewinn allein die Anknüpfung persönlicher +Beziehungen übrig geblieben, aber auch er war bei +näherem Zusehen für mich nur gering: diese Frauen +hatten mir nichts Neues zu sagen. Ihr A und O, das +Frauenstimmrecht, war für mich in dem Augenblick erledigt +gewesen, als ich die Selbstverständlichkeit seiner +Forderung erkannt hatte.</p> + +<p>Bei einer internen Sitzung der Delegationen wurde +ich zur Präsidentin für Frauenstimmrecht in Deutschland +gewählt. Meine ablehnende Haltung wurde unter allgemeinem +Erstaunen als eine Aufgabe des Prinzips betrachtet.</p> + +<p>»Sie alle haben ihre ganze Kraft auf die Lösung +dieser einen Frage konzentriert,« sagte ich in dem Ver<a name="Page_16" id="Page_16"></a>such, +mich verständlich zu machen, »ich bewundere Sie, +aber ich kann Ihnen nicht folgen. Das Frauenstimmrecht +ist heute für mich nicht mehr das Ziel, für das +ich mein Leben einsetze, es ist nur ein Ziel, nur eine +Etappe ...«</p> + +<p>Man verstand mich nicht, von irgend einer Seite fiel +sogar das scharfe Wort: »... unbrauchbar für praktische +Arbeit.«</p> + +<p>Gleich nach der Schlußsitzung des Kongresses wechselte +ich mein Domizil. Freunde von Stratford — ein liberaler +Parlamentarier und seine schöne elegante Frau — hatten +mich in ihr Haus am Hydepark eingeladen. +Alles trug dort den Anstrich ausgesuchtester Vornehmheit: +vom Zeremoniell der Lebensweise, dem deutschen +Hauslehrer und der französischen Gouvernante bis zu +dem würdevollen, glattrasierten Bedienten und dem niedlichen +Kammermädchen. Hausherr und Hausfrau verstießen +mit keiner Miene und keiner Bewegung gegen +die Regeln der guten Gesellschaft, und doch wurde ich +den Eindruck nicht los, der uns gegenüber guten Kopien +großer Meisterwerke oft befällt: wir erstaunen über die +Technik und vermissen um so schmerzhafter den Geist. +Daß Stratford sich hier heimisch fühlte, mit allen Fibern +die parfümierte Luft dieser von tausend Nichtigkeiten +überladenen Salons einatmete, machte ihn mir noch +fremder. Und als ich ihn in der Ethischen Gesellschaft +reden hörte inmitten einer Korona von lauter typischen +Vertretern der Geldaristokratie, denen seine Sittenpredigten +dieselbe angenehme Emotion boten wie die Moral +der biblischen Geschichten den Frommen in der Kirche, +da mußte ich mir seine Briefe, seine Schriften ins Ge<a name="Page_17" id="Page_17"></a>dächtnis +rufen, um noch Georgs Freund in ihm zu erkennen.</p> + +<p>Er ging den Weg, den ich nach dem Wunsche meiner +Familie gehen sollte, — wie würde ich jemals imstande +dazu sein?!</p> + +<p>»Sie sind sehr ungerecht,« sagte er eines Tages, als +ich ihm in meiner heftigen Art, die der Unruhe meines +eigenen Innern entsprang, über seine Tätigkeit als +»Modeprediger« Vorwürfe machte. »Sie kennen mich +nur von der einen Seite.« Noch am selben Abend +sollte ich die andere kennen lernen.</p> + +<p>An der Ecke von zwei engen Straßen, beim Scheine +einer trübe flackernden Laterne sprach er über die +Ethik des Sozialismus. Zuerst blieben nur ein paar +neugierige Bummler stehen, aber je stärker seine +Stimme von den Mauern widerhallte, desto mehr +Menschen sammelten sich um ihn. Müde, zerlumpte +Gestalten krochen wie Nachtgespenster aus den Kellern +hervor, Hoftüren öffneten sich, und umwogt von einer +Wolke ekler Gerüche erschienen Frauen mit zerwühlten +Zügen, halbwüchsige Mädchen, deren freches Grinsen +allmählich zuckendem Schluchzen wich. Mit wüstem Geschrei +stießen sich trunkene Burschen aus der nächsten +Kneipe heraus, und nach und nach entzündeten sich +Lichter des Verstehens in ihren eben noch blöd glotzenden +Augen. Die Straße wurde schwarz vor Menschen. +Stratford sprach mit steigender Begeisterung. Um seinen +roten Bart tanzten die Lichter der Laternen, seine Augen +strahlten vom eigenen Feuer. Ich hörte kaum, was er +sagte, ich sah nur die Wirkung seiner Worte. Aus den +vertiertesten Gesichtern brach ein Schein von Menschen<a name="Page_18" id="Page_18"></a>tum +hervor, ein froher Zug von Hoffnung verwischte +tiefe Kummerfalten.</p> + +<p>Wir gingen schweigsam durch die Nacht nach Hause. +Vor der Türe reichte ich ihm die Hand.</p> + +<p>»Ich würde Sie nach dem, was ich eben erlebte, +um Verzeihung bitten, meiner Vorwürfe wegen, wenn +ich nicht grade dadurch wüßte, daß Sie doppelt schuldig +sind. Ein Mann wie Sie gehört der Sache des Sozialismus, +und keiner anderen ...«</p> + +<p>»Vielleicht haben Sie recht,« antwortete er leise, +»wären nur nicht der Fesseln so viele, die uns an das +andere Leben schmiedeten — —«</p> + +<p>»Wir werden sie beide zerbrechen müssen —«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Im Hause meiner Gastfreunde drehte sich das +Interesse fast ausschließlich um Fragen der +Politik. Was für andere Frauen der Gesellschaft +der Flirt, die Kunst, die Toilette, das Theater +war: Reizmittel für ihr Nervensystem, — das war die +Politik für Mrs. Dew. Fast täglich war ich mit ihr +im Parlament; sei es, daß wir den Kommissionsberatungen +des neuen Fabrikgesetzes beiwohnten — das +Publikum hatte ohne weiteres Zutritt — oder in den +Wandelgängen und auf der Themseterrasse zwischen Tee +und Eis mit den Abgeordneten debattierten. Seltsam: +man nahm uns ernst; vergebens erwartete ich auf den +Zügen der Männer jenes gönnerhaft mitleidige Lächeln, +mit dem meine Landsleute die politisierende Frau zu +betrachten pflegten. Eine gewisse Zurückhaltung mir +gegenüber entsprang weniger der Tatsache, daß ich ein<a name="Page_19" id="Page_19"></a> +Weib, als daß ich eine Deutsche war, die offenbar nur +im Bilde der »guten Hausfrau« im Bewußtsein der +Engländer lebte.</p> + +<p>Schon war es gewitterschwül in den feierlich-hohen +Hallen des Parlaments, bei jeder Gelegenheit drohte ein +Wetterstrahl die Regierung zu stürzen, und die von +Elektrizität geladene Luft drang bis hinter die engen +Gitterstäbe der Damengalerie. Unruhiger als sonst +raschelten die seidenen Kleider, unterdrückte Erregung +durchzitterte die Flüstergespräche. Man achtete kaum +der Redner im Saal, man erwartete nur die Katastrophe. +Da plötzlich klang eine Stimme von unten empor, rollend +wie ferner Donner, — dann wieder tief und schwer wie +der Ton riesiger alter Kirchenglocken, — die Damen verstummten, — drängten +sich enger an das Gitter, — und +aus ihrer bequemen Stellung auf den weichen Polstersitzen +reckten sich die Abgeordneten auf. Ich hörte nur +die Stimme, den Redner sah ich nicht, aber ich empfand +ihn als einen, der zum Herrschen bestimmt war. »Wer +ist das?« — »John Burns!« — John Burns — der +Verräter?! So war er in der deutschen sozialistischen +Presse von dem Augenblick an bezeichnet worden, wo er +sich grollend von der englischen Partei losgesagt hatte. +Noch am selben Abend stellte Mr. Dew ihn mir vor. +Ich war zuerst enttäuscht: Alles überragend hatte ich +den Träger dieser Stimme mir gedacht, nun trug er +auf dem untersetzten kräftigen Körper nur den Kopf +eines Riesen: Dunkle Haare erhoben sich widerspenstig +über der breiten, scharf durchfurchten Stirn; hinter +buschigen Brauen glänzte ein Augenpaar, das in +seiner mächtigen Färbung und fieberhaften Lebendig<a name="Page_20" id="Page_20"></a>keit +der Herkunft aus diesem helläugigen Volke Hohn +sprach.</p> + +<p>Er schüttelte mir kräftig die Hand. Die seinige war +breit und schwer, sie zeugte von dem Hammer, den sie +geführt hatte; — wie war es möglich gewesen, daß ihr +die rote Fahne entglitt, die sie einst an der Spitze des +Heers der Arbeitslosen durch das entsetzte London getragen +hatte? War dieser Mann nicht der geborene +Schöpfer und Führer einer großen, einigen sozialistischen +Partei Englands? Ich unterdrückte keine der Fragen, +die sich mir aufdrängten.</p> + +<p>»Ich weiß, daß die Sozialdemokraten, besonders die +deutschen, mich für einen Verräter halten,« sagte er, +»aber sie verstehen die Situation nicht. In Deutschland +würde ich nicht anders handeln als Bebel und +Liebknecht, aber hier ...« mit einer raschen Bewegung +schob er die Teetasse beiseite und zeichnete auf die weiße +Marmorplatte des Tischs einen Punkt mit einem großen +Kreis rings herum. »Sehen Sie,« fuhr er fort, »dieser +Punkt ist der Sozialismus, um den Kreis herum steht +die deutsche Regierung, Ihr Militär, Ihre Polizei, und +diese treiben naturgemäß alle freidenkenden Elemente +dem Mittelpunkt zu, mit dem sie sich, infolge des +äußeren Drucks, fest vereinigen. Bei uns besteht der +Mittelpunkt, aber der Kreis fehlt, und so strömen die +Strahlen dieser sozialistischen Sonne ungehindert nach +allen Richtungen aus.« Ich lächelte ein wenig ungläubig. +»Ich werde Ihnen beweisen, was ich sage,« +fügte er rasch hinzu. »Sie kommen morgen mit mir —,« +er ließ mir gar keine Zeit zu Einwendungen, sondern +bestimmte Ort und Stunde für unsere Zusammenkunft.</p> + +<p><a name="Page_21" id="Page_21"></a>Von da an trafen wir uns oft, im Parlament wie +im Londoner Grafschaftsrat. Ich sah erstaunt, mit +welchem Respekt Mitglieder aller Parteien diesem Manne +begegneten, der noch vor wenigen Jahren im unterirdischen +London Gasleitungen gelegt hatte; aber noch +mehr erstaunte ich über den freudigen Stolz, mit dem +er mir städtische Einrichtungen als »Strahlen der sozialistischen +Sonne« erklärte, in denen ich nichts anderes +sehen konnte als bürgerlich-soziale Reformen.</p> + +<p>»Der deutsche Marxismus hat Sie blind und taub +gemacht,« sagte er eines Tages ungeduldig, als ich mich +für die Kommunalisierung der Verkehrsmittel durchaus +nicht begeistern konnte. »Lassen Sie sich von den Fabiern +in die Schule nehmen.«</p> + +<p>»Den Fabiern?!«</p> + +<p>»Eine Gesellschaft von ›Salonsozialisten‹, würde man +bei Ihnen in Deutschland sagen. Tüchtige Leute darunter ...«</p> + +<p>Mit einem ihrer Begründer und Leiter, Sydney +Webb, machte er mich im Teezimmer des Grafschaftsrats +bekannt. Ich wußte von seiner Frau, die als +junges Ding ihr reiches Elternhaus verlassen hatte, +um der Sache der Arbeiter zu dienen, und nun, gemeinsam +mit ihrem Mann, durch Wort und Schrift +für Genossenschaften und Gewerkschaften tätig war. Ich +wußte auch, daß sie der Frauenbewegung fern, ja ihren +Forderungen sogar vielfach feindlich gegenüberstand. Gelesen +hatte ich keines ihrer Bücher, nur mit einer gewissen +Scheu ging ich darum zu ihr. Eine blühend +schöne Frau fand ich, mit dem ganzen Reiz starken +geistigen Lebens in den Zügen und einer Güte und<a name="Page_22" id="Page_22"></a> +Anmut des Wesens, der meine Steifheit nicht lange +standhielt. Durch sie erfuhr ich von der Macht und +Größe der englischen Gewerkschaftsbewegung und fand +den Weg in die Häuser jener Arbeiter, die sich durch +die Kraft ihrer Organisation aus physischer und geistiger +Versklavung befreit hatten. Wie ein Stück verwirklichter +Zukunftsstaat kam es mir vor, wenn ich sie +draußen, vor Londons Toren, in ihren Gärten traf +oder vor dem Kamin ihres Wohnzimmers oder am gut +besetzten Tisch. Wahrhaftig: hier hatten die Strahlen +der sozialistischen Sonne aus ödem Land neues Leben +hervorgerufen.</p> + +<p>In den Versammlungen der Fabier, die ich von da +an regelmäßig besuchte, wurden theoretische und praktische +Fragen des Sozialismus von allen Seiten beleuchtet +und erörtert. Jene Scheu, zu sagen, was man +denkt, die die Menschen überall schwach und klein macht, +wo religiöser, sittlicher oder politischer Fanatismus die +Wahrheit an sich zu besitzen vorgibt, schien hier verschwunden, +und mir war, als fiele Licht auf den Weg, +den ich zu gehen hatte.</p> + +<p>»Es ist nicht wahr, daß die Befreiung der Arbeiterklasse +nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein kann, — es +ist nicht wahr, daß der Klassenkampf das Grundelement +der sozialistischen Bewegung ist, — es ist nicht +wahr, daß die Entwicklung des Sozialismus mit der +Sicherheit eines Naturgesetzes notwendig zur Expropriation +der Expropriateure führen wird ...« Eine +überschlanke Gestalt stand auf der Rednertribüne, mit +schmalem, gelblich blassem Gesicht, in das weiche blonde +Haare wirr hineinfielen. »Es waren und sind die +<a name="Page_23" id="Page_23"></a>revoltierenden Söhne der Bourgeoisie selbst — Lassalle, +Marx, Liebknecht, Morris, Hyndman, Bax — alle, wie +ich, Bourgeois mit Mischung von Kavaliersblut, die die +rote Fahne entfalteten. Der Hunger der Armen treibt +zur Revolte, der Geist allein zur Revolution ...« +Wie Hochverrat an den grundlegenden Dogmen des +Sozialismus klang mir, was dieser Mann hart und +scharf in den Saal hinausschleuderte. Aber ein Ton +blieb mir hartnäckig im Ohr und weckte etwas in mir, +das stark und stolz war. In selbstentsagender Askese +hatte ich mich, ein schlichter Soldat, als mein Lebensglück +zusammenbrach, in den Dienst der Partei stellen +wollen. Kraft und Jugend kehrten mir wieder: sollte +ich nicht fähig sein und berufen, dem Sozialismus den +Urwald erobern zu helfen, den alle Giftpflanzen des +Vorurteils und des Stumpfsinns noch üppig durchwucherten?</p> + +<p>Ich suchte des Redners Bekanntschaft. Es war Bernard +Shaw, der Theaterkritiker der Saturday Review, +der Entdecker Ibsens und Richard Wagners nicht nur +für England, sondern für den Sozialismus, der bissige +Spötter, von dessen Witzen die englische Gesellschaft nie +recht wußte, ob sie über sie lachen, oder sich vor ihnen +fürchten sollte. Mich verlangte nach einer Erklärung +dessen, was er in lapidaren Sätzen eben vor mich hingestellt +hatte.</p> + +<p>»Sie waren draußen in Letshfield?« frug er mich +statt aller Antwort. »Und haben die Bewohner in ihren +Heimen gesehen? ... Natürlich auch bewundert?!« +Ich nickte. »Und nicht bemerkt, wie drastisch solch eine +Miniatur-Zufriedenheitsexistenz lehrt, daß der Arbeiter +<a name="Page_24" id="Page_24"></a>in seiner Masse nichts mehr verlangt, als ein Bourgeois +zu werden!«</p> + +<p>»Ist es nicht auch das wünschenswerteste Ziel, ihn +zunächst wenigstens satt zu machen?« warf ich ein.</p> + +<p>»Sicherlich, denn Armut ist ein Laster —, wenn nur +die satt gewordenen nicht am raschesten derer vergessen +würden, die noch immer hungern. Im Grunde sind die +Arbeiter das konservativste Element im Staat, und wir +Freigelassenen der Bourgeoisie sind dazu da, sie aufzurütteln.«</p> + +<p>Der Kreis der Fabier war von nun an derjenige, +der mich am meisten anzog, aber die politischen Ereignisse +auf der einen, und jenes Gefühl der Unfreiheit +auf der anderen Seite, das mit der Annahme auch der +weitherzigen Gastfreundschaft untrennbar verbunden ist, +rissen mich wieder nach anderen Richtungen fort. Die +Abstimmung über eine an sich unbedeutende Militärfrage +führte zu einer Niederlage der Regierung und +damit zum Rücktritt des Ministeriums. Eine Erregung, +die sich vom Parlament aus mit Windeseile auf alle +Straßen fortpflanzte, die Gesichter der überall in Gruppen +Zusammenstehenden höher färbte und alle Augen blitzen +ließ, bemächtigte sich der Londoner. Sie steigerte sich +zur Fieberhitze an jenem Abend in Albert-Hall, wo sich +die Menschenmassen vom Parterre dieses Riesenzirkus +bis hoch unter die Kuppel zusammendrängten und die +gestürzten Minister Rosebery und Harcourt in die vom +Atem Tausender und der zitternden Glut des Julitages +lebendigen Luft gegen die neue Regierung leidenschaftliche +Anklagen erhoben. Selbst die Nachmittagstees +des londoner Westens gestalteten sich zu Agitationsver<a name="Page_25" id="Page_25"></a>sammlungen. +Die Leidenschaft des Hasardspielers schien +alle ergriffen zu haben, und gespannt, als gelte es dem +Einsatz der ganzen Existenz, hingen die Blicke an der +rollenden Roulettekugel des Wahlkampfes.</p> + +<p>Eines Morgens atmete ich wie erlöst aus einem +Banne auf, als ich nicht mehr in dem eleganten Zimmer +von Princes Gardens erwachte, wo dichte gelbseidene +Vorhänge mir stets die Sonne vorgetäuscht hatten und +das blitzende Messinggestell meines Betts mich oft selbst +unter der Daunendecke frösteln machte. Hinter weißen +Mullgardinen sah ich jetzt grüne Zweige schaukeln, und +in einem Bett aus warm getönten hellem Holz hatte +ich traumlos geschlafen. Es waren Deutsche von Geburt, +Engländer aus freier Wahl, die mich für die +letzte Zeit meines londoner Aufenthaltes zu sich in ihr +Künstlerheim geladen hatten. Jedes Möbelstück, jeder +Teppich und jede Vase standen in den schönen lichten +Räumen des Hauses in feiner Harmonie zueinander, +nur die Gemälde an den Wänden schienen sie mißtönig +zu zerstören, und in dem großen Atelier schrieen sie förmlich. +Bilder des Elends waren es, des Hungers und +der Verzweiflung, Bilder des Krieges, auf denen von +Wunden grauenvoll Zerrissene die Hände krampfhaft +gespreizt oder wütend geballt gen Himmel streckten. +Der Hausherr malte sie und nichts als sie, — ein milder, +gütiger Mann mit grauem Patriarchenbart und den +Augen eines Jünglings. Wo immer das Leid der +Kreatur zum Ausdruck kam, war sein Herz und sein +Interesse, von der Friedensbewegung an bis zur Tierschutzbewegung. +Er gehörte zu den Menschen, die überall +im einzelnen helfen und wirken wollen, wie der un<a name="Page_26" id="Page_26"></a>gelernte +Gärtner, der da und dort einem armen Pflänzlein +durch künstliche Nahrung oder durch den stützenden +Stab aufhelfen will, aber bei all seinem aufreibenden +Eifer nicht steht, daß der ganze Boden schlecht ist. Sein +weißblondes zartes Frauchen lächelte oft ganz heimlich, +wie eine kleine Mutter zu den Spielen ihres Kindes, +die sie mit der Weisheit der Erwachsenen nicht stören will.</p> + +<p>Ihr Haus übte eine magnetische Anziehungskraft auf +Alles aus, was abseits der großen Heerstraße ging. +Shaw traf ich hier wieder als häufigen Gast; Peter +Krapotkin gehörte zu den Intimen des Hauses, — der +große Revolutionär, der doch ein Kind war: gut und +vertrauensselig und voll phantastischer Träume wie ein +solches. William Stead, dessen rücksichtsloser Kampf +gegen die sittliche Fäulnis der londoner Gesellschaft ihm +einen europäischen Ruf verschafft hatte, begegnete mir +hier zum erstenmal und zog mich in den Bannkreis +seiner starken Persönlichkeit. Seine Augen, deren opalisierende +Lichter wie durch geheimnisvoll darüber gebreitete +Schleier schienen, übten eine faszinierende Wirkung +aus, und wenn er von seinem Verkehr mit den +Geistern Abgeschiedener erzählte, wenn er von den Kräften +der Seele sprach, die unerweckt auch in mir schlummern +müßten, so bedurfte ich der ganzen Nüchternheit meines +Verstandes, der ganzen Stärke meiner fanatisch materialistischen +Weltanschauung, um mich seinem Einfluß +zu entziehen.</p> + +<p>»Ich will mich nicht mit Problemen beschäftigen, die +mich von dem Problem ablenken könnten, dessen Lösung +meine einzige Aufgabe ist: dem des Elends in der Welt ...« +antwortete ich ihm eines Tages, als er mich mit Annie<a name="Page_27" id="Page_27"></a> +Besant bekannt machen wollte, die sich eben vom Sozialismus +abgewandt hatte und zur begeisterten Verkünderin +theosophischer Ideen geworden war. »Mögen andere +heute, wo die Zeit drängt, es vor sich selbst verantworten, +wenn sie ihren Träumen nachhängen...«</p> + +<p>»Sie werden nie mehr träumen?!« Mit einem Blick +und einem Lächeln begleitete Stead seine Frage, die +mir das Blut in die Wangen trieben. Er nahm meine +beiden Hände zwischen die seinen — Hände, die in ihrer +Kraft und ihrer Weiche zum Schützen wie zum Streicheln +gleich geschaffen waren —, und seine Augen bohrten sich +in meine Züge.</p> + +<p>»Ich liebe Ihre Tapferkeit und Ihre Klugheit, aber +was mich Ihre Freundschaft suchen ließ, das ist Ihr +unbewußtes Ich, das sind Ihre Träume, die Sie +vergessen, wenn Sie wachen, von denen mir aber noch +Ihre Augen erzählen, — das ist die tiefe Sehnsucht, +die Ihr Wesen über sich selbst hinauszieht.«</p> + +<p>Ich fuhr an jenem Tage mit ihm hinaus nach Wimbledon, +wo sich zwischen hohen Hecken und alten Bäumen +sein kleines, stilles Haus versteckte. Und im verwilderten +Garten unter dem schattenden Laubdach duftender +Linden lag ich in der Hängematte und ließ mir von +ihm die Kissen unter den Kopf schieben.</p> + +<p>»Sie sind müde?«</p> + +<p>»Sehr!«</p> + +<p>»Ihr Leben ist Seelen-Selbstmord.«</p> + +<p>Seine Hand glitt sanft über meine Stirn. Viele +bunte Schmetterlinge gaukelten über ein Meer gelber +Blumen, und zwei Libellen tanzten über dem kleinen +stillen Teich zärtlich miteinander. Vom Herzen aus +<a name="Page_28" id="Page_28"></a>zuckte ein schneidendes Weh mir durch den Körper, die +Augen füllten sich mit Tränen. Was war es nur, das +mich überwältigte?!</p> + +<p>»Wie Ihre Jugend um ihr Leben weint!« sagte leise +der Mann neben mir. Meine Jugend?! Kaum wußte +ich noch, ob ich alt war oder jung. Ich stand wohl +schon lange jenseits jeden Alters!</p> + +<p>Schweigsam fuhren wir beide nach London zurück. +Ich fühlte die Hand meines Begleiters auf der meinen — streichelnd, +schützend. Nachts schluchzte ich verzweifelt +in die Kissen, und morgens, als ich mich zur gewohnten +Arbeit am Fenster niedersetzte, schweiften meine Gedanken +weit hinaus über die Baumwipfel — in den glühenden +Sommertag — in das Leben. Ich ging umher, mir +selbst fremd geworden, mit anderen Augen. Ich entdeckte +im Spiegel mein Gesicht wie das einer Fremden. +Mechanisch löste ich die Witwenhaube aus den Haaren. +»Georg — Georg —« schrie es in mir, »nie bin ich +deine Frau gewesen — wie kann ich deine Witwe sein?!«</p> + +<p>Die Menschen um mich kamen mir verändert vor: +ich fühlte Männerblicke, die das Weib in mir suchten +und nicht die Gesinnungsgenossin, und Händedrücke, die +andere Empfindungen verrieten als die bloßer Freundschaft. +Und wenn ich auf den grünen Wiesen im Hydepark +blonde rosige Kinder sah, kam ich mir vor wie +eine Ausgestoßene. Drangen aber gar durch die Nacht +aus den Gärten rings umher sehnsüchtig-süße Lieder an +mein Ohr, so war mir, als hätte ich jetzt schon Georgs +Vermächtnis die Treue gebrochen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_29" id="Page_29"></a></p> + +<p>Eines Nachmittags — mein Aufenthalt neigte +sich seinem Ende zu — trat eine einfache, starkknochige +Frau, die weißen Haare straff aus der +Stirn gezogen, an unseren Teetisch und streckte mir eine +harte, unbehandschuhte Hand entgegen: »Sie kennen mich +wohl nicht mehr?« Ich sprang auf, fast hätte ich sie +in die Arme gezogen: »Amie Hicks?! Sie haben mir +Londons Elend zeigen wollen! Wollen Sie es noch +tun, — gleich jetzt?« Sie lachte verwundert über +meinen plötzlichen Eifer, aber ich ließ sie nicht los und +wir verabredeten zunächst einen gemeinsamen Besuch im +Bureau des Zentralkomitees für Frauenarbeit.</p> + +<p>Was ich dort kennen lernte, erregte mein höchstes Interesse: +Man hatte sich zur Aufgabe gestellt, die Lage +der erwerbstätigen Frauen zu untersuchen und die Resultate +zu veröffentlichen, gewerkschaftliche Organisationen +zu schaffen und zu unterstützen, die Arbeiterinnenschutz-Gesetzgebung +zu studieren und ihre Weiterentwicklung +durch mündliche und schriftliche Propaganda zu fördern. +»Wir sind gewissermaßen ein Arsenal und liefern der +Arbeiterbewegung die Waffen,« sagte mir eine der Leiterinnen; +»und wir schaffen zugleich die Möglichkeit, +daß die Frau der begüterten Kreise die Lage der Arbeiterin +kennen lernt, und die Arbeiterin andererseits sich +der Kenntnisse der bürgerlichen Frau bedienen kann,« +fügte eine andere hinzu. Der Plan, etwas Ähnliches +in Berlin zu gründen, reifte in mir: der Arbeiterbewegung +Waffen liefern, war mindestens so nützlich, als +selbst die Waffen tragen. Es war praktisch im Grunde +dasselbe, was die Fabier theoretisch leisteten, es würde +<a name="Page_30" id="Page_30"></a>wertvolle Kräfte in den Dienst des Sozialismus zwingen, — ihrer +selbst fast unbewußt. Es ermöglichte mir, außerhalb +der Partei für die Partei zu wirken. Mit krampfhafter +Anstrengung zuerst und dann mit wachsender Anteilnahme +vertiefte ich mich in das Studium meiner +Aufgabe. Ich flüchtete aus den blühenden Gärten in +die engen Straßen zwischen die geschwärzten Mauern, +wo kein Baum und kein Vogel den Sommer verrät +und seine Glut, die draußen vor den Toren die Knospen +wach küßt, nichts hervorruft, als ekle Dünste und giftige +Miasmen. Je mehr ich ihm entfloh, desto grauer und +stiller wurde es auch wieder in mir. Eilig, wie die +andern, ohne rechts oder links zu sehen, lief ich durch +die Stadt, über klebrige Höfe, steile Treppen hinauf in +die Bureaus der Fabrikinspektionen und der Gewerkschaften, +zu Besuchen, Sitzungen und Versammlungen. +Zahlen, nichts als Zahlen hörte ich — neben den Lohntabellen, +die Arbeitsstunden und die Wochen der Arbeitslosigkeit —, +sie verfolgten mich bis in meine Träume, +verschwammen ineinander und schoben sich vor meinen +Augen dichter und dichter zusammen, bis sie nichts waren +als ein einziges schwarzes Trauergewand, das Himmel +und Erde verhüllte.</p> + +<p>»Nun bleibt mir nur noch übrig, die Illustration zu +Ihren Tabellen zu sehen,« sagte ich eines Abends zu +Amie Hicks, die die Arbeiterinnen der Zündholzfabrikation — ihre +Kolleginnen — organisiert hatte. Sie +wandte sich an eine junge Soldatin der Heilsarmee, die +bescheiden im Hintergrund stand. »Wollen Sie unsere +deutsche Freundin heute nacht nach Whitechapel mitnehmen?«</p> + +<p><a name="Page_31" id="Page_31"></a>Das Mädchen sah mich zweifelnd an: »Wenn die +Dame sich nicht fürchtet — und sich entschließt, unsere +Kleidung anzuziehen.« Ich war natürlich zu allem bereit. +Ehe wir uns am späten Nachmittag auf den Weg +machten, steckte ich mir die Taschen voll kleiner Kupfermünzen. +»Das hat keinen Zweck,« lächelte meine Begleiterin, +»es sind ihrer viel zu viele!« Unterwegs erzählte +sie mir von ihrer Arbeit: einem unaufhörlichen +Kampf mit Laster und Not, einer stündlichen Aufopferung +der eigenen Person, und ihr schmales Gesichtchen +strahlte dabei wie das ihrer Altersgenossinnen, wenn +sie von Karnevalstriumphen zu berichten haben. »Was +führte Sie zu Ihrem Beruf?« frug ich. »Jesus rief +mich!« antwortete sie einfach.</p> + +<p>Es fing an zu dämmern. Die Straßen schrumpften +zusammen, während die Menschenmassen unheimlich anschwollen. +In ihrer Kleidung schienen die Farben mehr +und mehr zu erlöschen, und die Unterschiede zwischen +Alter und Jugend verwischte ein gleichmäßiger Ausdruck, +zwischen Leid, Stumpfsinn und Gemeinheit schwankend. +Kinder keuchten mit Säcken beladen über die Gassen — »Heimarbeiter«, +bemerkte meine Begleiterin lakonisch —, +an den Rinnsteinen hockten andere in langen Reihen, +und wühlten mit schmutzstarrenden, mageren Fingerchen +im Straßenkehricht. Ein kleiner Bub mit krummen +Beinen wollte sich eben heimlich mit dem gefundenen +Rest einer Banane aus dem Kreis der Gefährten davon +schleichen. Ein triumphierendes Grinsen verzerrte sein +Gesichtchen. Aber schon fielen die anderen wutheulend +über ihn her und rissen ihm die fadenscheinigen Lumpen +von dem armen rhachitischen Körper. Er weinte nicht, +<a name="Page_32" id="Page_32"></a>er duckte sich nur ein wenig und versuchte die zertretene +Banane vom Pflaster abzukratzen, aus seinen +verschwollenen Augen traf mich dabei ein Blick voll +grenzenloser Verzweiflung.</p> + +<p>Wir bogen in eine langgestreckte schmale Sackgasse +ein. »Nehmen Sie sich in acht,« warnte meine Begleiterin, +als wir in eines der offenen Häuser traten, +»die Treppen haben keine Geländer.« Ich tastete mich +hinter ihr vorwärts, während ein pestilenzialischer Geruch +mir den Atem benahm. Wir stießen eine Türe +auf, die weder Griff noch Schlüssel hatte. Ein schwerer +grauer Dunst von Staub und Schweiß schlug uns entgegen, +gespensterhaft bewegten sich die Gestalten der +Bewohner dahinter, während das Rattern und Quietschen +schlecht geölter Nähmaschinen jeden anderen Ton verschlang. +Dicht aneinandergedrängt saßen Männer und +Frauen um den Tisch, auf dem ein kleines Lämpchen +vergebens versuchte, spärliches Licht zu verbreiten; an +dem einzigen Fenster standen die Maschinen, von zwei +Kindern in Bewegung gesetzt. Keines der dunkeln Köpfe +hob sich bei unserem Eintritt. Nur als mein Kleid +eine der Frauen streifte, sahen ein paar schwarze Augensterne +mich prüfend an. »Russische Juden,« sagte meine +Begleiterin und wandte sich dem finstersten Winkel des +Zimmers zu. Eine durchsichtig weiße Hand streckte sich +ihr entgegen. »Er ist schwindsüchtig,« flüsterte sie. +Zögernd trat ich näher. In einem armseligen Bett, +mit Haufen bunter Stoffreste statt mit Kissen gefüllt, +lag ein Mann, das blasse durchgeistigte Antlitz von +schwarzen, langen Haaren umrahmt; strahlend richteten +sich seine fieberglänzenden Augen auf das junge Mädchen, +<a name="Page_33" id="Page_33"></a>aber die Milch, die sie aus ihrem Körbchen nahm, enttäuschte +ihn; erst als sie ein kleines Buch in seine +schlanken Finger legte, lächelte er sie dankbar an. »Ich +habe auch wieder ein Gedicht geschrieben —,« sagte er +und zog einen Fetzen Zeitungspapier aus den Lumpen +hervor, am Rande dicht bekritzelt.</p> + +<p>»Nicht einmal Knöpfe kann er mehr annähen,« tönte +eine rohe Stimme neben uns. »Wenn es doch bald zu +Ende wäre, — gestern spuckte er Blut auf ein fertiges +Hemd —«</p> + +<p>Ich mußte mich einen Augenblick schwindelnd an den +Pfosten des Torweges lehnen, als wir hinunterkamen. +Es war inzwischen ganz dunkel geworden. Unter der +nächsten Türe stand ein Mädchen mit entblößter Brust +und sprühenden Augen. »Marianne!« — Vorwurfsvoll +tönte die Stimme meiner Begleiterin. Ein rauhes +Lachen antwortete ihr. »Ich will leben!« stieß das +Mädchen zwischen den Zähnen hervor. — »Leben!« — wiederholte +sie noch einmal mit einem langgezogenen +Nachtigallenton. Wir gingen an ihr vorbei in die niedrige +Stube; eine verrostete Eisenbettstelle, ein paar +Kisten bildeten die ganze Einrichtung. Am Herd in +der Ecke stand ein altes Weib mit den gedunsenen Zügen +der Trinkerin, auf dem feuchtglänzenden Lehmboden kroch +eine Schar kleiner Kinder. Meine Begleiterin hatte +gerade begonnen, einem der kleinsten die wunden Füßchen +zu verbinden, da sprang unter wüstem Gekreisch die +Türe auf: — das Mädchen von draußen stolperte, von +ein paar braunen Fäusten gestoßen, ins Zimmer, zwei +Schwerbetrunkene hinter ihr. Sie warf sich aufs Bett, — ich +floh, von Entsetzen gepackt, aus dem Hause.</p> + +<p><a name="Page_34" id="Page_34"></a>In den Straßen brütete gewitterschwangere Julinacht. +Junge und alte Weiber, von Elend, Laster und Krankheit +gräßlich gezeichnet, Männer, deren Kleidung +einen Fuselgeruch ausströmte, Kinder, die eine Kindheit +nie gekannt hatten, strichen an uns vorbei. »Gibt es +in der Welt noch einmal solche Hölle,« stöhnte ich und +wischte mir die Schweißtropfen von der Stirn. »O, — in +Glasgow, in Liverpool, in Manchester ist es ebenso —,« +sagte meine Begleiterin ruhig.</p> + +<p>An der nächsten Straßenecke ballten sich die Menschen +zu einem schwarzen Knäuel. Qualvolle Schmerzensrufe +drangen daraus hervor. Wir liefen vorwärts, — alles +machte uns Platz, — die Uniform der Heilsarmee war +wie ein Freibrief, den selbst die Rohesten respektierten. +Auf dem Pflaster lag ein Weib und wand sich in Mutterschmerzen. +»Er hat sie hinausgeprügelt,« schrie ein +Mädchen, das neben ihr kniete und ballte wütend die +Fäuste. Meine Begleiterin war im Augenblick bei +ihr. Es war keine Zeit mehr zu verlieren. In die +Menschen um uns her kam ein seltsames Leben, +sie liefen in die nächsten Häuser, atemlos, — sie +kehrten zurück, — auch der Elendeste mit vollen Händen. +Tücher, Kissen, Decken breiteten sich um die Kreißende +aus; ein weißhaariges Mütterchen mit gekrümmtem +Rücken schleppte stöhnend Eimer voll Wasser herbei, +ein alter Mann humpelte hastig auf seiner Krücke näher +und legte mit zitternden Händen seine zerschlissene Jacke +über die Jammernde. Ein Sekunde lang war es ganz +still, — das Leben schien den Atem anzuhalten, da — ein +gellender Schrei, der die Nacht zerriß, — das Kind +war geboren, das unselige Kind der Straße. Zurückgelehnt<a name="Page_35" id="Page_35"></a> +in dem Schoß der Nächsten lag das Weib. +Laternenlicht fiel grell auf ihre eingesunkenen Wangen, +die weitaufgerissenen Augen drehten sich in den Höhlen, +suchend griffen die Finger in die leere Luft, dann noch +ein Zucken, ein rauhes Röcheln, — es war vorüber. +Und um die tote Mutter knieten ringsum im Schmutz +der Straße die Genossen ihres Jammers ...</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Der Sonnenzauber hatte keine Macht mehr +über mich.</p> + +<p>Ich hatte nur noch ein Achselzucken, wenn +ich die Macht der Gewerkschaften preisen hörte — »die +Sattgewordenen vergaßen zuerst der Hungernden« —, und +ein verächtliches Lächeln für die Größe und Einheitlichkeit +sozialer Hilfsarbeit, die sich von Rechts wegen +bankerott erklären müßte. Hier galt es nicht mehr, +Einzelne vor dem Ertrinken zu retten, und Wunden zu +verbinden, hier galt nur eins: die alte Welt, die ihre +eigenen Kinder mordete, zu zerstören, um der neuen +Platz zu schaffen.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_36" id="Page_36"></a></p> +<h2><a name="Zweites_Kapitel" id="Zweites_Kapitel"></a>Zweites Kapitel</h2> + + +<p>»Sie wollen wirklich alle Bücher verkaufen?!«</p> + +<p>Der junge Student, der vor mir stand, +blickte mich vorwurfsvoll an. Er war gekommen, +mir beim Ordnen der philosophischen Bibliothek +meines verstorbenen Mannes behilflich zu sein.</p> + +<p>»Mit wenigen Ausnahmen, — ja!« antwortete ich +mit erzwungener Ruhe. »Sie sehen selbst: in der +neuen Wohnung fehlt es an Platz für sie, — und außerdem +werde ich sie kaum je benutzen. Ich werde mit +Überlegung einseitig!« Dabei wies ich lächelnd auf +die dickleibigen Fabrikinspektorenberichte, die vor mir +lagen. Er begab sich stumm, gesenkten Kopfes an die +Arbeit. Wie herzlos, daß ich Georgs geliebte Bücher +verkaufte, dachte er jetzt gewiß. Durfte ich ihm sagen, +daß ich sie verkaufen mußte? Daß ich gestern mit dem +letzten, was ich besaß, Georgs Grabdenkmal bezahlt +hatte, — einen schönen hohen Marmorblock, auf dem in +großen goldenen Lettern sein Wahlspruch stand, der nun +auch der meine war: »Wir leben durch die Menschen, +laßt uns für die Menschen leben.«</p> + +<p>Mama hatte mir eben aus Pirgallen entrüstet über +meine Verschwendung geschrieben: »Ein schlichter Stein +mit Georgs Namen wäre ausreichend gewesen.« Ich +lächelte unwillkürlich. Arm sind doch nur die Menschen, +<a name="Page_37" id="Page_37"></a>die niemals verschwenden können! Ich war ja sonst so +schrecklich vernünftig. Treppauf, treppab war ich seit +meiner Rückkehr aus England gelaufen, um eine Wohnung +zu finden, die meinen Mitteln entsprach. In +einem Hof der Kleiststraße, drei Treppen hoch, hatte ich +sie endlich gefunden: zwei Zimmer mit dem Blick auf +eine Mauer, die eine riesige gemalte Schweizer Landschaft +schmückte. Zu allerhand öder journalistischer Tagesarbeit +hatte ich mich verpflichtet, um in der übrigbleibenden +Zeit meiner Aufgabe leben zu können. In vier +Wochen zog ich um, bis dahin mußte auch sie festere +Gestalt gewinnen.</p> + +<p>Ich hatte mich zunächst schriftlich an eine Anzahl hervorragender +Politiker und Sozialpolitiker gewandt, bei +denen ich ein Interesse für die Sache voraussetzen +konnte, und ihnen meinen Plan eines Zentralausschusses +für Frauenarbeit auseinandergesetzt. Sehr höflich, sehr +zuvorkommend hatten sie mir geantwortet. »Ihr Plan +hat meine volle Sympathie,« schrieb mir eben Theodor +Barth. »Ich habe nur Bedenken, ob er sich in seinem +vollen Umfang in absehbarer Zeit durchführen läßt. +Nach meinen Erfahrungen scheitern sehr viele an sich +vortreffliche Reformbestrebungen gerade daran, daß das +Ziel von vorn herein zu weit gesteckt ist. Meines Erachtens +sollte man zunächst einmal an eine Sammlung +und Sichtung von Material, die Bedingungen der +Frauenarbeit betreffend, herangehen, wie das <em class="antiqua">sub</em> 1 +Ihres Programms ja auch in Aussicht genommen ist. +Unternehmer und Arbeiter müßten allerdings zusammenwirken +und Vorurteile — speziell auch gegen die Sozialdemokratie — dürften +keine Rolle spielen ... Leider +<a name="Page_38" id="Page_38"></a>ist meine Arbeitskraft schon anderweitig so stark in +Anspruch genommen, daß ich wohl mitraten, aber nicht +mittaten kann ...«</p> + +<p>Diesen Satz enthielt noch jeder Brief, den ich erhalten +hatte. Warnungen vor der Gefahr sozialpolitischer +Dilettantenarbeit, Besorgnisse, Wasser auf die Mühlen +der Sozialdemokratie zu treiben, bedenkliche Fragen nach +der finanziellen Fundierung des Unternehmens wiederholten +sich oft. »Auf alle Fälle ist der Zeitpunkt schlecht +gewählt,« hieß es in einem Schreiben, das <em class="antiqua">Dr.</em> Jacob, +mein alter Gegner aus der Ethischen Gesellschaft, an +mich richtete, »jetzt, im Jubiläumsjahr, wo das unverantwortliche, +antipatriotische Verhalten der Sozialdemokratie +selbst solche Kreise erbittern muß, die vielen ihrer +Forderungen sympathisch gegenüberstanden, ist nicht der +Augenblick, um zu gemeinsamer Arbeit aufzurufen. Ich +bezweifle auch, daß Sie Kapitalien finden, die Ihnen +zu solchem Zweck die immerhin recht erheblichen Mittel +zur Verfügung stellen werden.« Und Frau Schwabach, +die einzige unter den Frauenrechtlerinnen, der ich ein +ernsteres Verständnis der Sache zutraute, war gleichfalls +voller Bedenken gewesen. »Wir müssen zuerst die +Peinlichkeiten ausbilden, die zu solcher Arbeit fähig +sein sollen,« hatte sie gesagt. Das alte Lied, das die +Gewissen einlullt, das Selbstvertrauen betäubt und die +Schuld trägt, wenn vor lauter Vorbereitung zur Tat +die Tat selbst von einem Tage zum andern verschoben wird.</p> + +<p>Heute nun erwartete ich Martha Bartels mit zwei +ihrer Freundinnen — Arbeiterinnen wie sie —, um +ihr Urteil zu hören und ihren Rat, der mir der weitaus +wichtigste erschien, zu erbitten.</p> +<p><a name="Page_39" id="Page_39"></a></p> +<p>»Sie müssen für heute aufhören, mein lieber Schmidt,« +wandte ich mich an den Studenten, der vor den letztem +Regalen des Bücherschranks hoch oben auf der Leiter +stand, »es ist unverantwortlich von mir, daß ich Ihre +Kraft und Zeit schon so lange in Anspruch nehme.«</p> + +<p>Er fuhr, wie aus einem Traum erwachend, zusammen +und strich sich die dichten schwarzen Haare aus der +heißen Stirn.</p> + +<p>»Muß ich wirklich schon fort?« Hastig wandte er sich +um und rieb die roten, knochigen Hände wie fröstelnd +aneinander. Ich nickte, denn schon hörte ich draußen +die Klingel. Langsam stieg er die Leiter hinab.</p> + +<p>»Ach, — wenn ich doch wirklich etwas für Sie tun +könnte —,« damit senkte er den Kopf tief auf meine +Hand.</p> + +<p>In dem Augenblick öffnete sich die Türe, und die +drei Frauen traten ein. Sie sahen uns, wechselten +sekundenlang einen vielsagenden Blick, ein leises spöttisches +Lächeln kräuselte die Lippen der einen, der +großen, hageren; — ein Gefühl, als hätte mich jemand +mit Schmutz beworfen, beschlich mich. Flüchtig erinnerte +ich mich, daß meine Mutter die Anwesenheit eines +jungen Herrn bei mir, der Witwe, für unpassend erklärt +hatte, — aber waren nicht diese Frauen Vorkämpferinnen +einer freien Weltanschauung?! Ich richtete +mich gerade auf, zog meine Hand aus der sie noch +immer umklammernden; mit einer ungeschickt eckigen +Verbeugung drückte sich der junge Student an den neuen +Gästen vorbei zur Türe hinaus.</p> + +<p>Bei Kaffee und Kuchen überwanden meine Besucherinnen +die erste Verlegenheit. Sie hatten sich in den +<a name="Page_40" id="Page_40"></a>besten Sonntagsstaat geworfen und saßen kerzengerade +auf den weichen Lehnstühlen; bei jeder Bewegung +krachten die engen Taillen ihrer schwarzen Kleider, und +die vielen bunten Blumen auf ihren Hüten schwankten +hin und her. Nur Martha Bartels, die nicht zum +ersten Male hier war, gab sich ungezwungener.</p> + +<p>Irgend etwas in dem Gesicht der kleinen Näherin +hatte sich seit unserem letzten Zusammensein verändert.</p> + +<p>»Nun, Genossin Glyzcinski, was haben Sie uns Gutes +mitzuteilen,« sagte sie mit einem leisen gönnerischen Ton +in der Stimme, den sie damals noch nicht gehabt hatte, +als sie mich »Frau von Glyzcinski« nannte. Freilich, +sie hatte ja im Grunde ein Recht dazu, ich war ja jetzt +nur eine Novize in ihren Reihen —, dachte ich und +bezwang die gereizte Stimmung, die sich meiner zu bemächtigen +drohte.</p> + +<p>Mit steigendem Eifer, an der eigenen Sache mich erwärmend, +setzte ich ihnen meine Pläne auseinander. +»Ich brauche dabei Ihre Mitarbeit,« schloß ich; »wir +können für die Arbeiterinnen nichts tun, was nicht mit +ihnen geschieht —«</p> + +<p>Tiefe Stille. Die drei löffelten in ihren Kaffeetassen, +stießen einander unter dem Tische an und wollten nicht +mit der Sprache heraus. »Ja —,« meinte Martha +Bartels schließlich gedehnt, »das ist ja alles ganz +schön und gut, aber was uns das eigentlich angeht —! +Wir wissen doch längst, wie's bei uns aussieht, und um +die Neugierde der Bourgeoisdamen und -herren zu befriedigen, +oder sie gar in unseren Organisationen herumstänkern +zu lassen, — dazu sind wir nicht da.«</p> + +<p>Frau Resch, die Hagere, nickte eifrig und warf mir einen +<a name="Page_41" id="Page_41"></a>giftigen Blick zu. Frau Wiemer, ein rundliches Frauchen +mit gutmütigen braunen Augen, drehte sich hastig auf dem +Stuhle um, so daß die Sprungfedern knackten. »Da bin +ich nun ganz und gar anderer Meinung,« rief sie, »wir +wären schön dumm, wenn wir so eine Unterstützung von +der Hand weisen wollten. Wir haben, weiß Gott, keinen +Überfluß an Kräften, und wenn wir sie noch dazu nach +unserem Gutdünken benutzen können —«</p> + +<p>Martha Bartels trommelte mit den zerstochenen Fingern +auf dem Tisch. »In meinem Kreis, Genossin Wiemer, +kann ich dafür keine Stimmung machen,« sagte sie scharf.</p> + +<p>»Na, was das schon ist: Ihr Kreis. Ein halb Dutzend +Frauen haben Sie neulich in der Versammlung zur Vertrauensperson +gewählt, — das macht den Kohl nicht +fett!« spöttelte die Angeredete. »Die Männer haben, gottlob, +auch noch ein Wörtchen mitzureden!«</p> + +<p>Frau Resch kicherte: »Sie freilich meinen immer, Sie +haben die Männer am Bändel —!«</p> + +<p>Stumm, in wachsender Verblüffung hörte ich der Debatte +zu, die sich mehr und mehr ins Persönliche verlor.</p> + +<p>»Im übrigen: was ereifern wir uns,« sagte Martha +Bartels endlich, während sie sich mit hochrotem Gesicht +in den Stuhl zurücklehnte. »Zu allererst werden wir +doch Genossin Orbins Urteil hören müssen.«</p> + +<p>Die Frauen verstummten. Wanda Orbin: das war +die anerkannte Führerin der Arbeiterinnen-Bewegung, +eine Frau, die ich aus der Ferne schon längst zu bewundern +gelernt hatte. Mit der aufreizenden Leidenschaftlichkeit +ihrer Rednergabe vermochte sie alles mit sich +fortzureißen.</p> + +<p>Meine Gäste verabschiedeten sich, kühl und verlegen.<a name="Page_42" id="Page_42"></a> +Nur Frau Wiemer schüttelte mir kräftig die Hand und +zögerte beim Hinausgehen. »Wir reden noch mal miteinander — unter +vier Augen,« flüsterte sie.</p> + +<p>Enttäuscht — mutlos blieb ich zurück. Tiefes Verständnis, +freudige Zustimmung, warme Kameradschaftlichkeit +hatte ich erwartet —!</p> + +<p>Am nächsten Morgen kam ein Brief von Martha +Bartels: »Seit gestern weiß ich nicht, ob Sie wirklich +unsere Genossin sind. Was Sie da vorschlagen, das +kann jede Frauenrechtlerin auch. Es zeigt, daß Sie +mit der bürgerlichen Gesellschaft noch nicht gebrochen +haben, und deshalb können wir kein rechtes Vertrauen +gewinnen. Ich sehe nun, daß man immer unrecht tut, +wenn man den schönen Gefühlen der Bourgeoisdamen +Glauben schenkt.« Hatte sie zu ihrer Enttäuschung nicht +ein größeres Recht als ich zu der meinen? War mein +ganzes Verhalten nicht wirklich ein Rückzug? Versuchte +ich nicht, nach links und rechts Konzessionen zu machen, +damit ich nur selbst fein säuberlich auf dem normalen +Mittelweg mich erhalten konnte?</p> + +<p>In meinen Hoffnungen und Wünschen sehr herabgestimmt, +machte ich mich in den nächsten Tagen auf den +Weg, um die Führer der sozialdemokratischen Partei +aufzusuchen, bei denen ich mich schon angekündigt hatte.</p> + +<p>Ich ging zuerst zu Liebknecht. Er wohnte draußen +in der Kantstraße, wo inzwischen das neue Berlin +aus der Erde schoß wie eine wildwuchernde Urwaldpflanze. +In der Tauentzienstraße, die vor fünf Jahren +nicht viel mehr als ein breiter Feldweg gewesen +war, reihte sich ein Neubau an den andern, — hohe +vier- und fünfstöckige Häuser, mit lauter Wohnungen +<a name="Page_43" id="Page_43"></a>zu neun bis zwölf Zimmern. Wo kam der Reichtum +nur her, der so üppig zu wohnen vermochte? dachte ich. +Und weiter nach dem Westen zogen sich Straßen und +Straßen hinaus, — lange Spinnenarme, die über die +Felder griffen bis fernhin, wo der Grunewald, eine +schwarze schmale Linie, am Horizont auftauchte. Ratternd +und fauchend bewegte sich die Dampfstraßenbahn den +Kurfürstendamm hinauf ihm entgegen. Wie viel kleine +gemütliche einstöckige Häuschen zwischen Birkenwäldchen +und Kartoffelfeldern waren der Spitzhacke hier zum +Opfer gefallen! Und der Riesenbaum, der an der Straßenkreuzung +ein Wahrzeichen der Gegend gewesen war +hatte einer Kirche weichen müssen. Gut, daß er fiel, +dachte ich; wie hätten die Mauern den alten Recken beengt, +wie hätte seine trotzige, rauhe Schönheit ihre +Fassadenpracht Lügen gestraft. Die Kirche hatte sich +noch immer ihrer Umgebung angepaßt, auch hier hatte +sie sich zu ihr nicht in Widerspruch gesetzt.</p> + +<p>In die Kantstraße bog ich ein. Dicht an der Stadtbahnbrücke, +im dritten Stock, wohnte Liebknecht. Er +empfing mich vor einem alten Schreibpult in seinem +winzigen Arbeitszimmer, das vollgestopft mit Papieren +und Zeitungen war, so daß dazwischen kaum ein freier +Raum zum Treten übrig blieb. Sein hartgeschnittenes +Gesicht mit den tiefen Furchen, dem Blick, der unter +buschigen Brauen wie abwesend über einen hinwegsah, +den wirren dunkeln Haaren über der hohen geraden +Stirn, dem grauen ungepflegten Bart um das breite +Kinn und den seltsam schiefstehenden großen Mund, +dazu der Rock, der an den Ellbogen und auf dem Rücken +speckig glänzte, das Hemd darunter mit dem weichen +<a name="Page_44" id="Page_44"></a>halboffenen Umlegekragen, die ausgetretenen Pantoffeln +an den graubestrumpften Füßen, — das alles wirkte zunächst +wenig anziehend. Dann gab er mir flüchtig die +Hand, die weich und zart war, — ich mußte ihn wirklich +noch einmal betrachten, um zu glauben, daß sie diesem +Manne gehörte. Sie gab mir Mut zu reden, ich wäre +ohne sie am liebsten wieder umgedreht. Ich erzählte +ihm auch von meinen Erfahrungen mit den Frauen. Er +lächelte mit einem gutmütigen Spott in den Augen. +»Soll ich Ihnen einen wirklich freundschaftlichen Rat +geben?« sagte er. »Kümmern Sie sich nicht um sie, wenn +Sie was erreichen wollen. Die sind noch rückständiger +als die Männer, können gar nicht anders sein. Wo +sollen sie auch die Erkenntnis hernehmen, die armen +Weiber?! Schon alles mögliche, wenn sie rein aus ihrem +proletarischen Instinkt heraus gute Parteigenossinnen sind.«</p> + +<p>Vergebens suchte ich ihn bei meinem Thema festzuhalten, +es interessierte ihn offenbar nicht; dagegen rief +der Name England eine Flut von Gedankenverbindungen +in ihm wach. Er glaubte meinen rettungslos bourgeoisen +Standpunkt daran zu erkennen, daß ich zwar mit Burns +und den Fabiern, nicht aber mit Hyndman und der sozialdemokratischen +Föderation, die allein den Marxismus +in England repräsentierten, verkehrt habe. Mit den +sprunghaften Übergängen eines glänzenden Geistes, der +weder die Fähigkeit hat, auf die Interessen des anderen +einzugehen, noch die Fähigkeit, sich in eine Frage zu vertiefen, +kam er von da auf unsere auswärtige Politik zu +sprechen, auf das berechtigte Mißtrauen Englands den +offenbaren Weltmachtgelüsten unseres Kaisers gegenüber, +auf Rußland, an das wir um so näher uns anschließen +<a name="Page_45" id="Page_45"></a>würden, je weiter wir von England abrückten, auf den +künstlich ausgepeitschten Hurrapatriotismus der Kriegserinnerungsfeiern +der Gegenwart, der letzten Endes nur +dazu da sei, gegen die Sozialdemokratie mobil zu machen +und die gescheiterte Umsturzvorlage in anderer Form +wieder aufleben zu lassen.</p> + +<p>Mir war diese Gesprächswendung unbehaglich. Gut, +daß ich, ohne aufzufallen, schweigen konnte. Hafteten +die Eierschalen der Vergangenheit noch so fest an mir, +daß die Artikel des »Vorwärts« über die Gedenkfeiern +an den »brudermörderischen Krieg« mir das Blut in +Wallung brachten? Sie vertraten doch zweifellos Menschlichkeit +und Gerechtigkeit in weit höherem Maße, als all +die mit Orden und Bändern behängten Kriegervereinler, +die sich wie die Wilden an der blutigen Unterdrückung +eines Nachbarvolkes noch in der Erinnerung berauschten. +Liebknecht war in seiner Gegnerschaft gegen jede Art +von Chauvinismus ein Fanatiker. »National gesinnt +ist meines Erachtens nur, wer das Recht und das Wohl +anderer Nationen ebenso zu achten weiß, wie das der +eigenen,« sagte er. Und mir wurde bewußt: er fühlte +international, während ich nur die Idee der Internationalität +kühl verstandesmäßig anerkannte. Ich sprach +das aus, und er nickte eifrig: »Natürlich, — das ist der +Unterschied, — und der kommt zum großen Teil daher, +daß das Jahr 48 und das Sozialistengesetz mir das +Vaterland nahmen und die Welt zur Heimat machten. +Auch der Proletarier, der nichts besitzt, und der Arbeit +über alle Grenzen hinweg nachrennen muß, ist von Herzen +international, und die Hammerstein und Konsorten,« — er +lachte boshaft —, »die sich vom Vaterland den Schmer<a name="Page_46" id="Page_46"></a>bauch +mästen lassen, predigen uns Verruchten Patriotismus!« +Er unterbrach sich und stand auf. Ich wollte +gehen »Daraus wird nichts, — nun müssen Sie noch +bei meiner Frau Kaffee trinken.«</p> + +<p>Ich wurde ins Wohnzimmer geführt. Bei Frau +Major X. in Bromberg und bei Frau Hauptmann Z. +in Brandenburg war es nicht viel anders gewesen —, +nur daß hier statt der Familienbilder die von Marx, +Engels und Lassalle an den Wänden prangten, statt des +Stichs der Sixtina Walter Cranes Maifestzug, und ich +damals noch nicht in die rechte Sofaecke genötigt wurde. +Frau Liebknecht war die typische Gouvernante aus vornehmen +Häusern, der Bildung und Lebensform nicht +die Haut war, sondern das Kleid. Ihm war ich irgendwer +gewesen, ihr: »Frau von Glyzcinski.«</p> + +<p>Es dämmerte schon, als ich mit ihm das Haus verließ. +Er ging in seine Redaktion, ich in die Ansbacherstraße, +wo ich die Eltern aus Pirgallen zurückerwarten +sollte. »Und für meinen Plan kann ich auf Ihre +Unterstützung nicht rechnen?« fragte ich nun doch noch +einmal. Er blieb stehen. »Meine Unterstützung?! Das +würde keinem von uns nützen. Überlegen Sie sich's +selbst noch mal, ob er Ihrer eigenen Unterstützung +wert ist!«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Die Stimmung war keine rosige, in der ich Eltern +und Schwester empfing, und auch sie schienen +erregt und niedergeschlagen: Mama hatte die +Lippen fest zusammengekniffen, so daß sie nur noch wie +ein schmaler, blasser Strich erschienen, der Vater war +<a name="Page_47" id="Page_47"></a>feuerrot im Gesicht und räusperte sich ununterbrochen, +Ilschen hatte verweinte Augen. »Alles ging so gut,« +flüsterte sie mir hastig zu, als die Eltern ins Zimmer +getreten waren, und hielt mich im Flur zurück, »da +kam es gestern abend wegen der dummen Hammerstein-Geschichte +zu einer Auseinandersetzung zwischen Onkel +Walter und Papa. Das Vertuschungssystem sei unanständig, +sagte er, während Onkel es für notwendig +erklärte im Interesse der Partei. Schließlich schimpfte +Papa — du kannst dir denken, wie —, und Onkel +sagte, Papa habe sich wohl bei seiner Tochter, der +›Genossin‹, angesteckt, — ein Wort gab das andere, +Onkel zeigte Papa schließlich die Kreuz-Zeitung mit der +Notiz über dich — —«</p> + +<p>»So, — nun haben wir miteinander zu reden —,« +unterbrach meines Vaters vor Erregung rauhe Stimme +die Schwester. Es war ein förmliches Verhör ...</p> + +<p>»Mitglied der sozialdemokratischen Partei bin ich noch +nicht —,« sagte ich. Er lehnte sich tief aufatmend mit +geschlossenen Augen in den Stuhl zurück. Ich wollte +fortfahren. Er wehrte mit beiden Händen ab: »Genug — genug! +Mehr will ich nicht hören — mehr nicht!« +Dann erhob er sich schwerfällig, ging zum Schreibtisch +und setzte ein Telegramm auf: »Baron Walter von +Golzow, Pirgallen. Ich habe Alix' Wort. Verlange +nunmehr von dir Ehrenerklärung. Hans.« Ich wollte +widersprechen, — des Vaters rotunterlaufene Augen +blitzten mich herrisch an, Ilse faltete hinter ihm mit +bittender Gebärde die Hände —, ich schwieg. War es +Feigheit? War es Rücksicht? Oder nichts als schlaffe +Ermüdung?</p> + +<p><a name="Page_48" id="Page_48"></a>Beim Abendessen wurde mir mitgeteilt, daß die +Gartenwohnung auf derselben Etage frei geworden sei. +»Wir hätten andernfalls umziehen müssen, nun ersparen +wir das, und du ziehst einfach hierher,« sagte der Vater; +»dann haben wir Alten wieder unsere beiden Töchter,« +fügte er mit einem Anflug liebevoller Heiterkeit hinzu +und streckte mir über den Tisch die Hand entgegen. +Nur zögernd legte ich die meine hinein.</p> + +<p>»Sehr gütig, Papa, daß du an mich dachtest, aber +ich habe schon eine Wohnung.« Er brauste wütend +auf. Schweigend ließ ich den Wortschwall über mich +ergehen.</p> + +<p>»Ich habe euch meine Überzeugung geopfert,« sagte +ich dann fest, »meine Freiheit opfere ich euch nicht ...«</p> + +<p>Durch die sternenlose Augustnacht ging ich nach Hause. +Über die menschenleere Straße schwankten ein paar Betrunkene. +Wie fürchtete ich mich sonst vor ihnen, — gleichgültig +schritt ich heute vorbei, — meinetwegen +hätten sie mit mir tun können, was sie wollten. Ich +war ja gar nicht ich, nur ein Schatten dessen, das +einst lebendig war. In meiner einsamen dunkeln Wohnung +warf ich mich angekleidet aufs Bett und grübelte +stumpfsinnig dem einen Gedanken nach: Warum ich +eigentlich den Morgen erwarten müßte — und den Tag — und +wieder einen Tag, und so in endloser Reihe +die ganze Leere des Lebens?!</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_49" id="Page_49"></a></p> + +<p>In meinen stillen Zimmern lastete die Luft auf +mir. Die Sonne strahlte durch die grünumsponnenen +Fenster, über die lachenden Gärten, — wäre +ich nur erst in meinem neuen Heim, wo ich +nichts sah, als eine gemalte Landschaft! Von innerer +Unruhe getrieben, lief ich in der Stadt umher, blieb +vor den Schaufenstern stehen und ertappte mich auf +einem halb unbewußten Verlangen nach hellen Kleidern. +Ich saß allein vor dem alten verräucherten Kaffee Josty +und sah über den Potsdamer Platz hinweg den Menschen +nach, die schwatzten und lachten und kokettierten, und +unter die ich mich nicht mischen durfte. Ein Gefühl +von wohliger Wärme überkam mich, wenn bewundernde +Blicke mich trafen, — ach, und Sehnsucht packte mich, +unbändige Sehnsucht nach Lebensfreude.</p> + +<p>Damals begegnete mir Graf Oer, einer meiner +alten Tänzer; er hatte den schlechtesten Ruf und war +doch einer der verwöhntesten Männer der berliner Gesellschaft. +Eine aufreizende, schwüle Atmosphäre verfeinerter +Sinnenlust umgab ihn; schon sein forschender +Blick aus halbgeschlossenen Augen, sein weicher, langsamer +Händedruck ließ die Frauen erröten, denen er sich +näherte. Mir gegenüber war er ganz teilnehmender +Freund. »Ihre Blässe erhöht zwar nur Ihren Reiz, +schönste Frau,« sagte er, »aber im Verein mit Ihrer +sylphidenhaften Gestalt« — seine Blicke wanderten +förmlich über meinen Körper — »finde ich sie beängstigend. +Sie brauchen Sonnenweide wie ein Rassepferd. +Was meinen Sie, wenn ich Ihnen täglich ein paar +Stunden lang meinen Wagen schicke und Sie in den<a name="Page_50" id="Page_50"></a> +Grunewald fahre oder nach Wannsee?« Trotz meiner +Ablehnung, die nicht sehr energisch gewesen sein mochte, +hielt sein elegantes Juckergespann am nächsten Morgen +vor meiner Türe. War das wonnig, so in den jungen +Tag hineinzurollen; mit geschlossenen Augen vorbei an +den öden Feldern des Kurfürstendamms, in den Grunewald +hinein, dessen vereinzelte Villen sich rasch verloren, +bis zu dem kleinen Försterhaus am stillen See, in dem +die Sonne sich, ihrer Schönheit froh, eitel bespiegelte. +»Wie Sie genießen können!« sagte Graf Oer, als +wir beim Frühstück im Gärtchen saßen. »Und Sie wollen +lebendigen Leibes ins Kloster gehen! Die Welt ist so +schön und wartet nur darauf, Sie zu empfangen, — lassen +Sie mich Ihr Führer sein —« Ich fühlte seine +feuchten, kühlen Lippen auf meiner Hand, sein Knie +dicht an dem meinen, — ein unbezwinglicher Ekel +schnürte mir die Kehle zusammen. Ich sprang auf, +raffte mein Kleid und verließ ohne ein Wort, ohne +einen Blick den Garten. Waren Genuß und Gemeinheit +Zwillingsgeschwister, so wollt' ich wahrlich ins +Kloster gehen!</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Zu Hause erinnerte mich ein Brief an den letzten +und wichtigsten Besuch, den ich im Interesse des +Zentralausschusses machen wollte: bei Bebel. Er +lud mich zum Mittagessen ein, »dabei läßt sich am besten +besprechen, was Ihnen am Herzen liegt und mich lebhaft +interessiert.«</p> + +<p>In der Großgörschenstraße wohnte er, einer jener +neuen Straßen, die jede Fassadenpracht verschmähte und +<a name="Page_51" id="Page_51"></a>deren üppiger Blumenschmuck verriet, daß die vielen +kleinen Balkons die Sommerfrische ihrer Bewohner waren.</p> + +<p>Ein lächelndes Dienstmädchen in blendend weißer +Schürze öffnete mir auf mein Läuten an der blank geputzten +Klingel. Ein leichter Geruch nach frischer Seife +drang mir entgegen, und in dem hellen Zimmer, das +ich betrat, blinkte die Politur der Möbel, daß sich die +Bilder an den Wänden darin spiegelten. Die vollkommenste +Einfachheit herrschte hier, jede Spur künstlerischer +Kultur fehlte, aber es fehlte auch jeder Versuch, +Nichtvorhandenes vortäuschen zu wollen. Die +kleine, runde Frau, die mich herzlich willkommen hieß, +mit der schwarzen Schürze über dem schlichten Kleid, +den von Güte strahlenden Zügen unter den glatten +Scheiteln, war wie ein Teil dieses Raumes. Sie +nötigte mich in den Lehnstuhl neben dem Nähtischchen +am Fenster, meine Hand fest in der ihren haltend.</p> + +<p>»So eine arme, junge Frau,« sagte sie mitleidig; +»ich mußte oft an Sie denken und an Ihre Einsamkeit, — ich +wäre längst bei Ihnen gewesen, wenn ich +nicht gefürchtet hätte, zudringlich zu erscheinen.« Mir +wurden die Augen feucht, — meiner Einsamkeit hatten +sich auch die Nächsten nicht erinnert. Mit jener Kunst +verständnisvollen Zuhörens, die selbst die beste Erziehung +nicht zu geben vermag, wenn die Teilnahme des Herzens +fehlt, ließ sie sich von meinen kleinen Wohnungs- und +Wirtschaftskümmernissen erzählen. »Was, im Wirtshaus +essen Sie —?!« Sie schlug die Hände erstaunt zusammen. — »Kein +Wunder, daß Sie so blaß und schmal werden; +ordentlich herausfuttern müßte man Sie —«</p> + +<p>Bebel trat ein, mit einem raschen, elastischen Schritt, +<a name="Page_52" id="Page_52"></a>die glänzenden Augen gerade auf mich gerichtet, während +ein Büschel Haare ihm keck, wie bei einem +Knaben, in die Stirne fiel. Von einer breiten Hand — zu +schwer fast für den schmächtigen Körper — fühlte +ich meine Finger umschlossen. »Ich freue mich Ihres +Besuchs —,« seine Stimme klang im Zimmer viel +weicher und voller als auf der Rednertribüne, »— nicht +mehr allein, weil Sie Glyzcinskis Witwe sind. Nach +dem Schriftstück hier —,« er hielt das Programm des +Zentralausschusses in der Hand, »— haben wir von +Ihnen viel Gutes zu erwarten.«</p> + +<p>Er nötigte mich in sein Arbeitszimmer, einen kleinen +Raum mit wenigen gestrichenen Holzmöbeln, blank gescheuerter +Diele und musterhafter Ordnung. Wir erörterten +alle Einzelheiten meines Plans.</p> + +<p>»Sie können mit Ihrer Arbeit da einspringen, wo +die Regierung nicht eine, sondern hundert Lücken gelassen +hat. Unsere Beteiligung freilich wird sich wohl +nur auf Ratschläge beschränken.«</p> + +<p>»Damit ist mir nicht gedient!« rief ich. »Wie können +wir in die Arbeits- und Lebensverhältnisse der Arbeiter +Einblick gewinnen, wenn Sie uns nicht die verschlossenen +Türen öffnen.«</p> + +<p>»Ja, glauben Sie, ich wäre der liebe Gott?!« lachte +er. »Ich könnte etwa den Gewerkschaften befehlen, Ihren +Bestrebungen Vertrauen entgegenzubringen, oder gar +unseren Frauen!!«</p> + +<p>Wir wurden zu Tisch gerufen. Kein Diner hatte mir +je so gut gemundet wie dieses einfache Mittagsmahl. +Die besten Stücke wurden mir auf den Teller gehäuft.</p> + +<p>»Sehen Sie, wie's schmeckt, wenn man nicht trüb<a name="Page_53" id="Page_53"></a>selig +allein an einer schmuddeligen Wirtstafel sitzt!« +sagte Frau Bebel, befriedigt über meinen Appetit. Sie +schwieg sonst meist. Nur wenn der lebhafte Gatte gar +zu heftig irgendeinen Gegner angriff, warf sie ein +paar besänftigende oder entschuldigende Worte ein, und +als er gegen die Junker wetterte, sah sie zuerst ihn, +dann mich vielsagend an.</p> + +<p>»Ach soo —,« er unterbrach sich ein wenig verlegen, +»— Sie gehören ja am Ende auch zu ihnen! — Aber +mein Schimpfen ist wahrscheinlich ein sanftes Flötenspiel +gegen die Töne, die angesichts der Kreuzzeitungsaffäre +in Ihren eigenen Kreisen angeschlagen werden. +Der Fall Hammerstein, diese Dekouvrierung eines der +Edelsten und Besten, kommt den privilegierten Beschützern +von Religion und Sittlichkeit gerade jetzt gewaltig +in die Quere. Und die Sache ist noch lange +nicht zu Ende, — die ganze Kreuzzeitungspartei, die den +jungen Kaiser vor ein paar Jahren als Zugpferd vor +ihren eignen Wagen spannen wollte, wird daran glauben +müssen.« Er verbreitete sich, immer lebendiger werdend, +über die politische Lage und die nächsten Zukunftsaussichten. +Er sah überall Symptome für den Zusammenbruch +der bürgerlichen Gesellschaft, und auf der +anderen Seite Etappen zum Siege des Sozialismus. +»Die Weltmachtpolitik, die, einmal begonnen, nicht mehr +aufzuhalten sein wird, ist der Anfang vom Ende. Sie +appelliert zwar an die stärksten, an die brutalen Instinkte, +aber sie führt schließlich mit Notwendigkeit zur +Auspowerung der Massen und treibt sie uns damit in +die Arme, — gewisser, als alle Agitation von unserer +Seite es vermöchte. Selbst ein möglicher Weltkrieg +<a name="Page_54" id="Page_54"></a>zwischen den Kolonialmächten wäre nur der Auftakt +der Revolution.«</p> + +<p>Ich dachte an Shaw und seine unbedingte Gegnerschaft +zu dieser ans Fatalistische streifenden Auffassung +von der Entwicklung zum Sozialismus und warf in +diesem Sinn eine bescheidene Frage in die Unterhaltung: +»Stehen wir nicht in Gefahr, als bloße Zuschauer +die Hände in den Schoß zu legen, wenn uns +die Naturgesetzlichkeit des Sozialismus so zweifellos +fest steht?«</p> + +<p>»Ein Einwurf, der nach dem Katheder schmeckt! +Müssen wir nicht die Menschen für diese Entwicklung +vorbereiten?«</p> + +<p>»Also ist alle Gegenwartspolitik der Partei nie Selbstzweck —?«</p> + +<p>»Sondern nur Mittel zum Ziel,« rief er lebhaft, +»und ihr Wert ist nur von diesem Gesichtspunkt aus +zu bemessen!«</p> + +<p>»Wie habe ich danach Ihr Interesse für meinen +Plan einzuschätzen?« frug ich lächelnd. »Als bloße Höflichkeit +etwa?!«</p> + +<p>»Treiben wir Sozialpolitik aus Höflichkeit?! Doch +nur, weil eine gesunde, kräftige Arbeiterschaft, die Zeit +hat zum Denken und zum Wirken, die Armee ist, die +wir haben müssen.«</p> + +<p>Ich streifte mechanisch die Handschuhe über die Finger. +Mein Herz schlug in dem raschen Takt der Melodie, +die dieser Mann angeschlagen hatte. Der Glaube an +die Sache —, das war das Unüberwindliche in ihr. +An der Tür hielt mich Bebel noch einmal auf: »Ich +rate Ihnen, wenn Sie irgend etwas im Kreise unserer<a name="Page_55" id="Page_55"></a> +Genossinnen erreichen wollen, — setzen Sie sich mit +Wanda Orbin in Verbindung. Am besten, fahren Sie +zu ihr. Ist sie gegen Ihren Plan, so haben Sie alle +miteinander gegen sich!«</p> + +<p>Noch am selben Abend schrieb ich an Frau Orbin, +um ihr meinen Besuch anzukündigen; zugleich bat ich +sie, in ihrer Zeitschrift, der »Freiheit«, meine Idee zur +Diskussion stellen zu dürfen. Sie antwortete umgehend, +aber was sie schrieb, klang wenig ermutigend: Wenn +mein Weg mich über Stuttgart führe, so würde ihr +mein Besuch willkommen sein; zu einer Reise, eigens +ihretwegen, könne sie mir jedoch nicht raten, da sie +zwecklos sein würde; von einer Veröffentlichung meines +Plans in ihrer Zeitschrift könne auch keine Rede sein: +»... die ›Freiheit‹ ist ein rein sozialdemokratisches Blatt, +an dem ich grundsätzlich nur solche Mitarbeiter zulasse, +die auf dem Boden des Klassenkampfes stehen.« Trotzdem +beschloß ich, zu ihr zu fahren, und wäre es nur, +um die Bekanntschaft dieser Frau zu machen, deren +Leben und deren Persönlichkeit ein wahrhaft vorbildliches +zu sein schien. Bebel, den ich in dieser Zeit +öfter sah, erzählte mir viel von ihr: wie sie sich mit +Peter Orbin, einem russischen Sozialisten, in freier Ehe +verbunden habe, ihm nach Paris in Elend und Verbannung +gefolgt sei und das schwere Siechtum, das +über ihn hereinbrach, jahrelang vor ihren Freunden zu +verstecken verstand, indem sie in seinem Namen korrespondierte, +in seinem Namen Artikel schrieb und mit +zwei kleinen Kindern und dem kranken, ständiger Pflege +bedürftigen Mann nicht nur das tägliche Brot für alle +schaffte, sondern auch imstande war, für die Partei un<a name="Page_56" id="Page_56"></a>ermüdlich +zu agitieren. Mir schwindelte vor dieser +Leistungskraft; meine Schmerzen, meine Kämpfe schrumpften +davor kläglich zusammen.</p> + +<p>»Ihre Nerven freilich hat sie dabei ruiniert,« fügte +Bebel schließlich hinzu.</p> + +<p>An einem Abend hatte ich Liebknechts und Bebels +zu mir geladen. Längst erloschene Gesellschaftsvorfreuden +empfand ich wieder in der Erwartung dieser +Gäste. Zum erstenmal vermißte ich schmerzlich all die +vielen graziösen Geräte, mit denen ich als Haustochter +die Festtafel zu schmücken verstand, — ich hatte nicht +einmal genug Messer und Gabeln! Schweren Herzens +entschloß ich mich, bei den Eltern zu borgen, was am +notwendigen fehlte.</p> + +<p>»Du gibst Gesellschaften?« frug Mama erstaunt. »Kaum +ein halbes Jahr nach dem Tode deines Mannes?!«</p> + +<p>»Nur ein paar Interessenten meines Zentralausschusses —,« +antwortete ich ausweichend, während die +Scham über diese verlogene Geheimniskrämerei mich erröten +machte. War es Zufall oder Absicht, daß mein +Vater, kurz ehe ich meine Gäste erwartete, zu mir kam +und Anstalten machte zu bleiben? In quälender Angst +saß ich vor ihm, alle erdenklichen Gründe ersinnend, um +ihn, ohne ihn zu verletzen, zum Gehen zu nötigen. Endlich +stand er auf. »Meine eigene Tochter wirft mich +hinaus,« sagte er mit einem müden, wehen Ton in der +Stimme. »Lieber — lieber Papa! —« ich schlang die +Arme um seinen Hals und küßte ihn. In diesem Augenblick +kam ich mir vor wie ein Verräter. Der Abend, +auf den ich mich so gefreut hatte, war für mich eine +Qual.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_57" id="Page_57"></a></p> + +<p>Am nächsten Morgen fuhr ich nach Stuttgart. +Ein unbestimmtes Hoffen, das wie durchleuchtet +war von froher Ahnung, erfüllte mich: +irgend etwas ganz Ungewöhnliches würde geschehen. +Auf dem Bahnhof empfing mich Frau Orbin. Ihre +Erscheinung war nicht die imponierende, die ich mir vorgestellt +hatte. Ich sah zunächst nichts als eine breite +untersetzte Gestalt und einen großen Hut mit zerzausten +Federn, der windschief auf ihrem Kopfe saß und ihre Züge +beschattete. Fast hätte ich sie nicht wiedererkannt, als sie ihn +abgenommen hatte und sich im Speisezimmer des Hotels zu +mir setzte. Rotblonde Haare bauschten sich wellig um +Stirn und Schläfen, helle Augen, in allen Lichtern des +Regenbogens spielend, sahen mir gerade ins Gesicht, auf +der Stirn, um Nase und Mund gruben sich kleine senkrechte +Falten, die zu der noch jugendlich-weichen Rundung der +Wangen in peinlichem Mißverhältnis standen. Ohne alle +Höflichkeitspräliminarien begann sie sofort meinen Plan +rücksichtslos zu zerzausen. Sie sprach mit nervöser Überstürzung, +die Worte jagten einander, als wollte eins das +andere verschlucken. »An eine Zusammenarbeit von uns +und Ihnen ist natürlich gar nicht zu denken. Sollte von +anderer Seite etwas der Art für möglich erklärt worden +sein —,« ein mißtrauisch-fragender Blick traf mich, — »so +würde ich jede solche Absicht auf das Schärfste bekämpfen. +Der politische Kampf ist für uns das A und +O. Darum ist jede Harmonieduselei mit bürgerlichen +Elementen vom Übel und kann nur verwirrend wirken, +den Klassenkampfcharakter unserer Bewegung verwischen. +Nicht die Gegensätze überbrücken, wie bürgerliche Idea<a name="Page_58" id="Page_58"></a>listen +und Ethiker wünschen, sondern sie auf das Schärfste +betonen, ist für uns die Hauptsache. Reinliche Scheidung, — ohne +Konzessionen.«</p> + +<p>Ich seufzte tief auf. Sie verstand mich falsch und +ein feines ironisches Lächeln kräuselte flüchtig ihre +Lippen. »Das ist freilich nicht immer ganz bequem, aber +für Menschen wie Parteien die einzig mögliche Grundlage +ihrer Existenz.«</p> + +<p>Sie lud mich für den folgenden Tag zu sich ein. +Hätte mich die Frau nicht gereizt, der Sache wegen +schien der Besuch keinen Zweck mehr zu haben.</p> + +<p>In einer Wohnung von puritanischer Schlichtheit empfing +sie mich, aber ein unbestimmtes Etwas, sei es die +Wahl der Bilder, der Fall der Vorhänge oder nur die +ganze Farbenstimmung des Raumes, verriet das +künstlerische Empfinden der Bewohnerin. Und als ihre +beiden frischen Buben hereinstürmten, rotwangig und +glänzenden Auges, sah ich hinter der Rüstung der +Kämpferin den Menschen, die Mutter. Wie reich war +sie! — Wir gingen nachmittags hinaus vor die Stadt, +die bewaldeten Hügel hinan, die sie so zärtlich umschließen. +Die Kinder und die Natur schienen Wanda +Orbin zu verwandeln. Sie war viel milder heute. Sie +sprach über Kunst und Literatur mit dem Verständnis +eines selbständigen Geistes und der Wehmut unglücklich +Liebender. »Das alles ist eingeschlafen, hat einschlafen +müssen gegenüber der großen, umfassenden Aufgabe,« +sagte sie schließlich, und ihre Augen bekamen wieder den +fiebrigen Glanz des Fanatismus.</p> + +<p>Kaum waren wir in ihrer Wohnung, als ein Mann +zu ihr hereinstürzte, atemlos eine Depesche hin- und +<a name="Page_59" id="Page_59"></a>herschwenkend, während ihm hinter den Augengläsern +die dicken Tränen über die bärtigen Wangen liefen. +»Engels — Engels ist tot —,« stieß er mühsam hervor. +Mit einer abwehrenden Bewegung der Hände — breiter +kurzfingeriger Hände, die aussahen, als hätte der Bildhauer +Natur sie nur in rohen Umrissen skizziert und +vergessen, sie auszuführen — starrte Wanda Orbin dem +Unglücksboten sekundenlang ins Gesicht. Dann warf +sie die Arme empor und brach in ein konvulsivisches +Schluchzen aus, unter dem ihr Körper immer heftiger +zu zittern begann. Ihre Füße würden die Schwankende +nicht mehr tragen, dachte ich, und schob ihr vorsichtig +einen Sessel zu, in dem sie haltlos versank. Inzwischen +hatte sich das Zimmer gefüllt: die Eintretenden tauschten +miteinander warme Händedrücke. Alles sammelte sich +um die weinende Frau, leise Flüstergespräche, als läge +der Tote mitten unter ihnen, flogen nach langer beängstigender +Stille hin und her. Eine Familie war +dies, die Stärkeres zusammengeschweißt hatte als das +Blut: aus gemeinsamen Empfindungen, Gedanken und +Idealen entsprang die Tiefe gemeinsamer Trauer um +den, der ihr Führer gewesen war. Auf Zehenspitzen +schlich ich hinaus und fühlte doch mit überwältigender +Gewißheit, daß ich dazu gehörte.</p> + +<p>Spät am Abend kam Wanda Orbin noch einmal zu +mir, — sehr weich, sehr liebevoll. »Sie hätten bleiben +dürfen, Sie sind uns doch keine Fremde,« sagte sie. +Da gewann ich Vertrauen und erzählte ihr von den +Zweifeln und Kämpfen der letzten Wochen. Ich +sah, wie sie lächelte, — nachsichtig wie eine Mutter +über Kinderleiden, aber es verletzte mich nicht. »Im<a name="Page_60" id="Page_60"></a> +Zwiespalt der Empfindungen kann niemand dem anderen +helfen,« meinte sie dann. »Ich weiß nur eins gewiß: +ist Ihre Überzeugung erst vollkommen klar und unerschütterlich, +so verschwindet vor ihr das bloße Gefühl, +wie Sommerschwüle vor dem Gewitter. Zu dieser Überzeugung +zu gelangen, das ist freilich das schwerste. +Die Logik der Tatsachen, die Lebensverhältnisse pauken +dem Proletariat eine Auffassungsweise ein, die sich der +bürgerliche Idealist mit großer Mühe aneignen muß, +wenn es ihm überhaupt trotz aller Ehrlichkeit gelingt, +den alten Adam der bürgerlichen Ideen abzulegen. Es +ist so furchtbar schwer, aus seiner Haut zu fahren, sich +von dem zu befreien, was Vererbung und Milieu aus +uns gemacht haben.« Ihre Augen schauten wie nach +innen.</p> + +<p>Wir sprachen noch lange miteinander. Sie riet mir +jetzt zur Ausführung meines Planes; ich würde durch +ihn vielleicht am besten zur Klarheit kommen, und an +Rat und — inoffizieller — Hilfe von ihr sollte es nicht +fehlen. »Setzen Sie sich in Berlin mit den Gewerkschaften +in Verbindung, und zwar speziell mit den Konfektionsarbeitern, +die infolge der Bewegung, in der sie +augenblicklich stehen, Ihre Sache als eine Unterstützung +betrachten dürften. Und dann, vor allen Dingen, suchen +Sie unseren Genossen <em class="antiqua">Dr.</em> Heinrich Brandt für sich +zu interessieren. Gewinnen Sie ihn, so ist Ihnen geholfen: +er setzt alles durch, was er will.«</p> + +<p><em class="antiqua">Dr.</em> Brandt! — Ich schloß unwillkürlich die Lider, +verloren in Erinnerung. »Alle Ströme fließen in unser +Meer,« hörte ich eine dunkle klingende Stimme sagen, +und flüchtig — ein Traumbild — tauchte ein Mann +<a name="Page_61" id="Page_61"></a>vor mir auf, blond und schlank, und tiefe graue Augen +versanken sekundenlang in den meinen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Nach meiner Rückkehr schrieb ich sofort an Johannes +Reinhard, den Führer der Konfektionsarbeiter-Bewegung, +und an Heinrich +Brandt. Reinhard kündigte mir umgehend seinen Besuch +an; kurz darnach bestimmte Brandt dafür dieselbe +Stunde. Im ersten Gefühl starker Freude, +über deren Ursache ich mir nicht so recht klar war, +wollte ich Reinhard abschreiben, um den anderen bald +und zuerst zu sehen. Über mich selbst errötend, zerriß +ich die Karte wieder, die ich zu schreiben begonnen +hatte, und bat statt dessen Brandt, seinen Besuch zu +verschieben. »Schade,« antwortete er mir, »ich wäre +gern gleich gekommen. Vorgestern las ich in der wiener +›Zeit‹ einen Artikel von Ihnen, der mich so entzückte, +daß der Wunsch, die Verfasserin kennen zu lernen, in +mir rege wurde. Diesem Wunsch begegnete noch am +selben Morgen Ihr Brief.«</p> + +<p>Und nun stand Reinhard vor mir, unter der linken +Schulter die Krücke, das Gesicht noch gelber, als da +ich ihn zum letztenmal in der Egidyversammlung gesehen +hatte, die schwarzen, dünnen Haarsträhnen wie festgeklebt +um den breiten Schädel und die tief eingefallenen +Schläfen.</p> + +<p>»Hielte ich Ihren Plan nicht für gut, für notwendig +sogar in diesem Augenblick, wo der Reichskanzler den +Stillstand der Sozialreform nicht nur zugab, sondern +verteidigte, ich würde nicht so rasch hier sein,« be<a name="Page_62" id="Page_62"></a>gann +er die Unterhaltung, indem er sich mühsam, das +linke Bein gerade ausgestreckt, auf dem Stuhl niederließ. +»Wir stehen in der Konfektion seit Beginn des Jahres +in einer Bewegung, die mir Tag und Nacht keine Ruhe +läßt — —«</p> + +<p>»Ich weiß: um die Durchsetzung von Betriebswerkstätten +handelt es sich,« unterbrach ich ihn. »Der Zentralausschuß +könnte nichts Besseres beginnen, als Sie +darin unterstützen.«</p> + +<p>Er sah erfreut auf. »Ich sehe, Sie sind orientiert, +und so brauche ich nur hinzuzufügen, daß Ihr Zentralausschuß +auch nirgends reicheres Material zur Frage +der Frauenarbeit finden könnte als bei uns. Ihren +londoner Eindrücken, von denen ich in den Zeitungen +gelesen habe, würden die berliner nicht nachstehen.«</p> + +<p>Ich zweifelte an der Möglichkeit ähnlichen Elends +bei uns. Nicht einmal in der Nacht, wenn ich aus +Versammlungen gekommen war, hatte ich so bittere Not +gesehen, wie sie mir in London bei hellem Tage begegnet war.</p> + +<p>»Unsere Ärmsten schämen sich, — das ist vielleicht der +letzte Rest Menschlichkeit in ihnen,« meinte er; »seit +Wochen mache ich fast nichts anderes als Besuche bei +den Heimarbeitern. Eben erst war ich bei einem alten +gelähmten Weibe, das hier im Westen, fünf Treppen +hoch, ein einfenstriges Zimmer und eine fensterlose, winzige +Küche mit ihrer Tochter und deren vier kleinen +Kindern bewohnt. Von früh fünf bis nachts um elf +trampelt die Tochter die Nähmaschine, um bestenfalls +neun Mark in der Woche zu verdienen. Vor wenigen +Tagen war ich in einem engen Kellerloch, wo eine Witwe +mit zwei Kindern wohnt; auf den schimmeligen<a name="Page_63" id="Page_63"></a> +Möbeln, auf dem einzigen wackeligen Bett, liegen elegante +Damenblusen, für die sie ganze fünf Mark wöchentlich +einnimmt.« Reinhard erhob sich, rote Flecken +brannten auf seinen Backenknochen, und während er +weitersprach, humpelte er im Zimmer aufgeregt hin +und her. »In einem anderen Keller, wo die Dielen +faulen und die Fenster tief unter der Erde liegen, arbeiten +zwei Schwestern, — junge, bleichsüchtige Dinger, — für +die, die oben in Luft und Sonne lachend vorübergehen. +Ist die Ehre, die ihr bewahrt habt, das +elende Leben wert, — hätte ich ihnen am liebsten zugerufen. +Dicht unter dem Dach, in zwei kleinen Löchern, +sah ich ein Ehepaar mit fünf Kindern und einem Schlafmädchen; +den Mann zerfrißt auf dem Lager voll Lumpen +der Kehlkopfkrebs, die Frau näht Knopflöcher für ganze +vier Mark in der Woche,« — klipp — klapp — klipp — klapp, — rascher +und rascher schlug Reinhards Krücke +den Takt zu der grausen Melodie —; »eine arme Mutter +fand ich in einem sonnenlosen Winkel im Norden, sie +nähte Hemden, halbfertig lagen sie auf dem Bett, +wo zwei diphtheritiskranke Kinder mit dem Tode rangen. +Und, denken Sie nur«, — er blieb stehen und lachte grell +auf, »— einen schneeweißen Mantel, bestimmt für nackte +Schultern schöner Frauen, sah ich einmal in den Händen +einer Syphilitischen —«</p> + +<p>»Um Gottes willen — hören Sie auf!« Auch ich +erhob mich. »Warum schreien Sie diese Tatsachen nicht +auf öffentlichem Markte aus? Warum kleben Sie Ihre +Berichte nicht an alle Straßenecken? — Kein Reichskanzler +würde mehr wagen, den Stillstand der Sozialreform +zu verteidigen.«</p> +<p><a name="Page_64" id="Page_64"></a></p> +<p>»Wir sind dabei, es zu tun,« antwortete er, und seine +Sprechweise nahm wieder den Ton der alten sachlichen +Ruhe an. »Eine Broschüre, an der ich arbeite, wird +allen maßgebenden Persönlichkeiten zugeschickt und unserem +diesjährigen Parteitag vorgelegt werden; wir haben außerdem, +wie Sie wissen, die Unternehmer vor die Alternative +gestellt, Betriebswerkstätten einzurichten, oder einer +allgemeinen Arbeitseinstellung gewärtig zu sein. Kommt +es dazu, so wird die Öffentlichkeit sich mit uns beschäftigen +müssen. Übrigens: —,« er dachte einen Augenblick +nach, »wie wär's, wenn Sie die Tätigkeit Ihres Zentralausschusses +auf eigene Faust beginnen und mich bei +meinen Recherchen zuweilen begleiten würden?«</p> + +<p>Dankbar nahm ich sein Anerbieten an. In der +nächsten Zeit brachte ich fast täglich ein paar Stunden +mit ihm zu. Wir kamen in Stadtteile, die ich noch +nie gesehen hatte, lange, nüchterne Straßenzeilen, die +Häuser regelmäßig aufgereiht, gleichmäßig grau getüncht; +die Öde des Anblickes nur noch erhöht durch die äußere +Ordnung und Reinlichkeit. Wir schritten durch enge +Höfe in dunkle Hinterhäuser, die das Licht der Straße +nicht mehr fürchteten und ohne Scham die Blößen +ihrer Not enthüllten. Nach Osten, nach Süden führte uns +der Weg, wo mitten im kahlen, der Stadt schon preisgegebenen +Boden hohe Mietskasernen an zerwühlten, +werdenden Straßen standen. Hier, zwischen den feuchten +Wänden, hauste das Elend und starrte uns an mit den +glanzlosen Blicken erloschenen Lebens, die grausamer in +die Seele schneiden als die wildesten Schreie der Verzweiflung.</p> + +<p>Oft, wenn wir aus dem Dunkel sparsam verteilter<a name="Page_65" id="Page_65"></a> +Laternen kamen und das Licht der Friedrichstadt uns +blendend empfing, haftete mein Auge staunend an den +glänzenden Spiegelscheiben der Läden und der Restaurants. +Prahlend breiteten sich hinter den einen all die +Herrlichkeiten aus, die den Gaumen laben, den Körper +schmücken, das Leben bereichern; lachend, scherzend, mit +vollen Taschen und glänzenden Augen saßen hinter den +anderen die reizenden Frauen, deren einziger Daseinszweck +ihre Schönheit zu sein schien, und die Männer, +die ihnen huldigen. Wie war es nur möglich, daß die +von draußen, aus den grauen Häuserzeilen und den +werdenden Straßen, nicht dicht gedrängt, auf leisen +Sohlen, wie Nachtgespenster, hierher sich schoben, um +all die Pracht zu zertrümmern, das Lachen erstarren +zu machen?!</p> + +<p>Und in meinem Herzen nistete der Haß sich ein für +alle die, die nicht mehr hassen konnten.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Am frühen Morgen des 18. August war es. Eine +arme Frau hatte ich besucht, die ich auf einem +unserer Wege gefunden hatte. Sie war sterbenskrank, — ach, +und wie gern wollte sie sterben, wenn nur +die Kinder nicht gewesen wären, die sie fester als alle +Arzeneien der Welt ans Leben ketteten. Die durchsichtigen +Finger durften sich nicht zum Schlafen friedlich +ineinanderfalten, sie hielten krampfhaft die weiße Leinwand +fest, um zierliche Namenszüge, stolze Freiherrn- und +Grafenkronen hineinzusticken. Ein wenig Hoffnung +hatte ich ihr gebracht, — Hoffnung, daß sie bald ruhig +werde sterben dürfen. Nun ging ich nach Hause, den<a name="Page_66" id="Page_66"></a> +Kopf gesenkt; die Sonne tat mir weh. An der Königsstraße +geriet ich in einen Menschenschwarm, der mich +mit sich riß: geputzte Frauen mit jenem aus Neugierde, +Aufregung und Nervenspannung gemischten Ausdruck in +den Zügen, der gewöhnliche Menschen bei allen großen +Ereignissen, — seien es Feuersbrünste oder Hochzeitsfeiern, — charakterisiert, +Männer im Sonntagsstaat, +irgend eine Medaille oder ein Kreuz auf der Brust, +das in diesen Tagen der Freibrief für alles war: Betrunkenheit — man +nannte sie Begeisterung —, Roheit +gegen Nichtdekorierte, — man nannte sie Vaterlandsliebe. +Ich sah um mich: Fahnen flatterten von den +Häusern, Straßenverkäufer boten mit krähender Stimme +Kaisermedaillen aus, von ferne klang Trommelwirbel, +Pferdegetrappel. Richtig: die Grundsteinlegung des +Nationaldenkmals war heute.</p> + +<p>Mit liebevoller Wehmut, wie die Greisin vergilbte +Liebesbriefe, hatte der Vater gestern die Generalsuniform +aus ihren Seidenpapierhüllen herausgeholt, +hatte die Stickerei, die Knöpfe und die vielen Orden +selbst mit einem Lederläppchen abgestaubt und war +gewiß heute früh, voll Erregung, zum Schloß gefahren.</p> + +<p>Jetzt waren wir selbst bis dicht hinter die Schutzmannsketten +vorgedrungen. Ein Vorwärts gab's nicht +mehr, ein Zurück noch weniger. Es galt, auszuhalten. +Die Galawagen der deutschen Fürsten rollten vorüber +in ihrer altertümlich schwerfälligen Pracht, dröhnenden +Schrittes rückte die Garde auf den Schloßplatz, hinter +ihr mit wehenden Fahnen Ulanen, Dragoner und im +blitzenden Küraß die Gardedukorps.</p> + +<p><a name="Page_67" id="Page_67"></a>Von hinten hauchte mir ein heißer Atem in den Nacken, +der nach klebrigem Biere roch; aus dem Halsausschnitt +der dicken, kleinen Frau neben mir stieg ein süßlicher +Schweißgeruch. Mich ekelte vor der Erregung der +Menge; eindruckslos rauschte sogar die mich sonst +elektrisierende Musik an meinem Ohre vorüber; wie ein +schlechtes Ausstattungsstück empfand ich das bunte Schauspiel +vor mir. Unwillkürlich fiel mir das Modell des +Nationaldenkmals ein: wie gut paßte es hierher mit +seinen unruhigen Tier- und Menschengestalten, seinen +Fahnen, Kanonen, Gewehren und Säbeln und dem +theatralisch daherschreitenden Engel, der des alten Kaisers +vierschrötiges Schlachtroß führt. Von seinem künftigen +Standort, dem Winkel vor dem Schloß, den man noch +dazu dem Wasser hatte abringen müssen, tönten Hammerschläge, +Kanonendonner fiel ein, die Luft erschütternd, +von tiefen Glockenklängen untermischt.</p> + +<p>Glocken und Kanonen, — die führenden Instrumente +im Orchester der bürgerlichen Gesellschaft, mit denen +sie das Weinen und Klagen der Millionen zu übertönen +glaubt! Ich aber hörte es, und ich wußte: der +Tag wird kommen, wo die Glocken vor ihm schweigen +und die Kanonen vor ihm verstummen werden.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Vor dem Spiegel stand ich in meinem Schlafzimmer. +Wie lange war es her, daß ich +nichts als flüchtige Blicke hineingeworfen +hatte, die nur der Ordnung meiner Haare, meiner +Kleidung galten. Heute sah ich mich wieder: schärfer +<a name="Page_68" id="Page_68"></a>waren meine Züge geworden und schmaler mein Gesicht, +meine Gestalt aber war noch immer die eines +jungen Mädchens. Ich lächelte: ›Frau‹ von Glyzcinski — und +ein Mädchen, ein altes Mädchen sogar von +dreißig Jahren! Aber ich wollte nicht alt sein, — heute +nicht. Ich fühlte wieder, wie ich rot wurde. +Daß das Weib in mir sich nicht töten ließ! Wo doch +so vieles schon gestorben war!</p> + +<p>Es klingelte. Kurz und scharf. Die Aufwärterin +hatte ich früh schon nach Hause geschickt, sie war so alt +und so häßlich. Dem Besuch, den ich erwartete, wollte +ich selber öffnen.</p> + +<p>»Gnädige Frau?!« — Eine überraschte, fragende +Stimme. Ich unterschied im Dämmerlicht der Treppe +und des Flurs die Silhouette eines Mannes, mit dem +weiten Mantel über den Schultern, dem breiten Schlapphut +auf dem Kopf. Ich selbst in meinem schwarzen +Kleid mußte ihm nur wie ein Schatten erscheinen. Ich +ging ihm voran ins Zimmer, das flutendes Sonnenlicht +durchstrahlte, wie einst, da ich zum erstenmal über die +Schwelle trat. Ich wendete mich um, — meine Hand +blieb vergessen in der Heinrich Brandts. »Wir sind +uns — keine Fremden —,« stotterte ich verlegen. »Nein, — nein —,« +antwortete er und sah mich noch immer +an. Die Uhr auf dem Schreibtisch holte zum Schlagen +aus. Ich zuckte zusammen, setzte mich hastig, und steif +und förmlich lud ich auch ihn zum Sitzen ein.</p> + +<p>»Nein,« wiederholte er, und seine Augen ließen +mich noch immer nicht los, während sein Gesicht +heller zu werden schien, »— Sie sind mir keine +Fremde. Kennen Sie das?« Er zog das graue Heft +<a name="Page_69" id="Page_69"></a>der Wiener »Zeit« aus seiner Rocktasche. »Im Grunde +ein ganz dummer, kleiner Artikel, den Sie da geschrieben +haben, und doch so wundervoll! Ein ganzer Mensch +steckt dahinter!«</p> + +<p>Mir wurde warm ums Herz. Seine Worte streichelten +mir die Wangen, seine Stimme erfüllte die Luft +um mich mit einem einzigen Wohllaut.</p> + +<p>»Und Ihr Plan interessiert mich sehr. Ich habe +auch gar nicht abgewartet, bis Sie endlich die Gnade +hatten, mich herzubefehlen«, — er lächelte ein wenig +malitiös, »Sie haben, wie ich höre, Freund Reinhard +den Vortritt gelassen, — ich habe indessen, ohne zu +fragen, den Schritt getan, von dessen Erfolg Ihre ganze +Sache abhängt.« Ich sah fast erschrocken auf. »Oder +sollten Sie wirklich nicht daran gedacht haben, daß +Geld, viel Geld dazu gehört?« Ich nickte lächelnd. +»Ich schrieb an einen unserer ernsthaftesten und reichsten +Sozialreformer und schickte ihm Ihr Programm. Ich +zweifle nicht, daß er die Sache in angemessener Weise +finanzieren wird.«</p> + +<p>Ich versuchte, ihm zu danken; es kam vor tiefer +innerer Erregung ungeschickt und hölzern heraus.</p> + +<p>»Lassen Sie doch diese Formalitäten!« sagte er. +»Wenn jemand Dank verdient, so sind Sie es, die den +Gedanken hatten. Ich bin bestenfalls nichts als sein +untergeordnetes Werkzeug.«</p> + +<p>Wir sprachen noch lange miteinander. Ich erzählte +von allem, was mir seit den letzten Wochen das Herz +bewegte, und Leidenschaft und Haß und Liebe brachen +durch die Dämme, die Einsamkeit und Zurückhaltung +um sie aufgeschichtet hatten.</p> +<p><a name="Page_70" id="Page_70"></a></p> +<p>»Sie sind wie eine Flamme, die lodernd gen Himmel +strebt,« flüsterte er wie zu sich selbst.</p> + +<p>Als er gegangen war, blieb ich regungslos, die Hände +fest ineinandergekrampft, mitten im Zimmer stehen. War +das ein Traum gewesen, oder hatte er wirklich hier vor +mir gestanden?! In diesem selben Zimmer, wo ich Georg, +meinen einzigen Freund, gefunden und verloren hatte?!</p> + +<p>Am nächsten Tag gegen Abend kam er wieder.</p> + +<p>»Ich bin zudringlich, nicht wahr?« lachte er mir entgegen. +»Aber Sie kommen mir vor, wie ein verflogenes +Vögelchen, das sich an Scheiben und Wänden den Kopf +stößt und einer Hand bedarf, die es fängt und ins +Freie läßt.«</p> + +<p>»Sie mögen recht haben. Ich bilde mir wohl nur +ein, daß ich in Freiheit flöge, und die anderen Leute +waren bisher kurzsichtig genug, mich darin zu bestärken, +wohl gar zu bewundern —«</p> + +<p>Es dämmerte. »Entschuldigen Sie einen Augenblick,« +sagte ich und ging hinaus, um die Lampe zu holen. +Als ich wiederkam, fand ich ihn über das Manuskript +eines Artikels gebeugt, den ich eben vollendet hatte. +Ärgerlich wollte ich ihn vom Schreibtisch weg an mich +reißen. »Verzeihen Sie —«, fest drückte er die Hand +darauf, — »das gehört zu meinem Vogelfang. Wie +kommen Sie dazu, dergleichen zu schreiben?!« Ich erschrak +vor dem finsteren Gesicht, das er mir plötzlich +zuwandte. »'Londoner Gefälligkeit'! Haben Sie nichts +Besseres zu tun?!« Sein Blick blieb an der Lampe +haften, die ich zitternd auf den Tisch stellte. Seine Stirn +glättete sich, forschend sahen die großen grauen Augen +mir ins Gesicht.</p> +<p><a name="Page_71" id="Page_71"></a></p> +<p>»Sie müssen sich selbst bedienen? — Sie öffnen mir +immer selbst?! —«</p> + +<p>Ich senkte einen Augenblick lang den Kopf.</p> + +<p>»Wie Sie sehen: ja!« Meine Stimme, die zuerst +ein wenig verschleiert klang, wurde klar und fest. »Ich +kann mir ein Dienstmädchen nicht halten, und ich muß +solche Artikel schreiben, weil ich von meiner Pension +nicht leben kann.«</p> + +<p>»Verzeihen Sie, — aber wie konnte ich ahnen —« +Er sah mir tief in die Augen.</p> + +<p>Wir waren von da an täglich zusammen, sei es, daß +er mich zu einem Spaziergang abholte, sei es, daß wir +uns in der Stadt trafen. Mit tiefer Beglückung empfand +ich die zarte Sorgfalt, mit der er mich umgab. +Wenn ich jetzt zu den Eltern kam und der Vater in +heller Aufregung über die Sozialdemokraten schimpfte, — »lauter +Hochverräter, die man hängen sollte«, — so +hörte ich nur mit halbem Ohre hin, es verletzte +mich nicht; um mich lag es wie ein warmer, kugelfester +Mantel, den die Freundschaft um mich geschlungen +hatte.</p> + +<p>Die Freundschaft! — Ich glaubte an sie, — ich +wollte an sie glauben, auch wenn die heißen Wellen +meines Herzens mich zu überfluten drohten. »Sie +müssen bald einmal mit mir hinauskommen zu meiner +Frau und meinen Buben. Sie ist anders wie Sie, — ganz +anders, aber klug und gut, — Sie werden einander +verstehen,« hatte er mir einmal gesagt. Es kam +aber noch immer nicht dazu, und ich drängte nicht +danach.</p> + +<p>Eines Nachmittags saßen wir zusammen auf dem +<a name="Page_72" id="Page_72"></a>schmalen Balkon des Kaffee Klose. In weichem, silbernen +Sonnenlicht fluteten unter uns auf der Leipziger Straße +die Menschen auf und nieder. Ein früher Herbstnebel, +zart und duftig wie Feenschleier, spielte um die endlosen +Häuserreihen, und es schien, als dämpfte er selbst +das Rasseln der Wagen.</p> + +<p>»Sehen Sie nur, was ich heute bekam,« damit hielt +ich ihm einen Brief entgegen. »Die Wiener Fabier +fordern mich zu einem Vortrag auf« — Er nickte +erfreut, ich sah ihn von der Seite an. »Ich habe +keine Beziehungen in Wien,« fuhr ich nachdenklich +fort, »— sollten Sie auch hier meine Vorsehung gewesen +sein?!«</p> + +<p>»Und wenn dem so wäre?!«</p> + +<p>Ich reichte ihm still die Hand. Ganz sanft, als ob +sie sehr zerbrechlich wäre, nahm er sie in die seine, — eine +zarte Hand mit dichtem Geäder und nervösen +Fingern.</p> + +<p>»Glauben Sie,« fragte er langsam, nach einem Schweigen, +das die Nähe zweier Menschen zueinander verrät, »glauben +Sie, daß ein Tag kommen könnte, an dem unsere Freundschaft +uns zwingt, einander ›du‹ zu sagen?«</p> + +<p>Ein Zittern durchlief meinen Körper. Ich antwortete +nicht. Stumm standen wir auf, stumm fuhren +wir zu mir nach Hause. Drinnen im Zimmer sahen +wir uns an, das Herz schlug mir zum Zerspringen, +die Finger erstarrten mir zu Eis.</p> + +<p>»Alix —,« wie ein Hauch kam mein Name über seine +Lippen.</p> + +<p>»Du —,« mehr vermochte ich nicht zu sagen. Es +dunkelte mir vor den Augen. Einen Herzschlag lang +<a name="Page_73" id="Page_73"></a>fühlte ich seinen Mund auf dem meinen, — dann schlug +die Türe, — ich war allein.</p> + +<p>Und die Wände schienen um mich zu kreisen, und +der Glanz der Abendsonne wurde zu glühenden Flammen. +Wie Gesang lag es in der Luft von lauter Harfen, — meines +Herzens Jubel hatte sie zum Klingen gebracht. +In allen Weisen der Welt, im Ton süßer Wiegenlieder +und stolzer Siegeshymnen sang und jauchzte es: +ich liebe.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Wir verkehrten wie früher miteinander. Nur +die Augen wagten es hier und da, eine +andere Sprache zu sprechen als der Mund. +Ich war mitten im Packen; schon starrten die lieben +Räume mich fremd und öde an, als sein Weib kam, +mich zu besuchen. Entgeistert sah ich sie an, als sie +vor mir stand: sie war hochschwanger.</p> + +<p>Rasch warf ich die Kleider vom Sofa und nötigte +sie hinein, ihr vorsichtig die Kissen in den Rücken +legend. Seine Frau! Sein Kind!! — Der Gedanke +bohrte sich mir ins Gehirn, daß es mir den Kopf zu +sprengen drohte. Nie, — nie hatte er mir von Liebe +gesprochen, dachte ich, während ich gleichgültig freundliche +Phrasen mit ihr wechselte, nur immer von Freundschaft. +Und dieser Frau vor mir mit den großen, +breiten Händen und den stechenden dunklen Augen hatte +ich nichts genommen — nichts, was ich nicht nehmen +durfte. Denn daß ich ihn liebte, was schadete das +ihr?! Und war nicht mein eigenes, großes, wundervolles +Gefühl und seine Freundschaft Glückes genug +<a name="Page_74" id="Page_74"></a>für mich, die ich gelernt hatte, auf alles Glück zu verzichten?</p> + +<p>»Wir ziehen im Winter auch in die Stadt,« sagte sie +ruhig, »sonst bekomme ich meinen Mann nicht mehr zu +sehen —.« War das eine Anspielung? Ihr Gesicht blieb +unbewegt. »Übrigens sah ich eben im Hause, wo Sie +mieteten, eine Wohnung, die gut für uns passen würde. +Das wäre für alle Teile das beste —, und ich hätte +doch auch etwas von Ihnen. Könnte auch von Ihnen +lernen, was mir leider noch an Verständnis für die +Interessen meines Mannes fehlt.« Ich begriff sie nicht; +war das echt, was sie sagte, oder lauerte Bosheit dahinter +und Mißtrauen? Feuchtkalt lag ihre Hand beim +Abschied in der meinen. Die Schleppe ihres seidenen +Kleides raschelte hinter ihr her wie eine Schlange. +Ich mußte mich ans Fenster in die Sonne stellen, um +wieder warm zu werden, nachdem sie mich verlassen +hatte.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>»Gute Botschaft bringe ich!« Am frühen Morgen, +ich saß noch beim Frühstück, trat Heinrich +Brandt in mein Zimmer, freudestrahlend. +»Die Sache ist entschieden.« Ich griff hastig nach dem +Brief, den er brachte und las. »Nach reiflicher Überlegung +habe ich mich dahin entschieden, das mir vorgelegte +Projekt eines Zentralausschusses für Frauenarbeit +insoweit zu unterstützen, als ich zunächst eine +Summe von achttausend Mark jährlich dafür aussetze, +die, wenn der Umfang der Arbeiten es später notwendig +macht, entsprechend gesteigert werden kann. Ich hoffe,<a name="Page_75" id="Page_75"></a> +Ihnen, sehr geehrter Herr Doktor, der Sie ja ausdrücklich +erklärten, nur die Rolle eines unbeteiligten Vermittlers +zu spielen, nicht zu nahe zu treten, wenn ich Sie bitte, +Frau von Glyzcinski mitzuteilen, daß die Voraussetzung +meiner Unterstützung, von der ich unter keinen Umständen +abweiche, die ist, daß die Leitung der Sache nicht in den +Händen von Sozialdemokraten ruht. Diese meine Forderung +entspringt keinerlei persönlicher Animosität, sondern +nur der Erkenntnis, der sich gegenwärtig kaum +jemand verschließen kann, daß die Sozialdemokratie zu +ruhiger Reformarbeit unfähig ist und die maßgebenden +Kreise einer von ihr ausgehenden Bewegung mit Recht +ablehnend gegenüberstehen würden.«</p> + +<p>Ich hatte zuerst laut und freudig, dann immer langsamer +und leiser gelesen. »Das nennen Sie eine gute +Botschaft?« frug ich kopfschüttelnd. »Gerade heute sah +ich in der Presse, wie alles von rechts und links nach +einer neuen Auflage der Umsturzvorlage schreit. Und +gestern erzählte mein Vater, daß man im Kasino schon +die Maßregeln erörtert, durch die die Sozialdemokraten +mundtot gemacht werden sollen —«</p> + +<p>Brandt unterbrach mich: »Nun — und? Wird Ihre +Aufgabe dadurch etwa überflüssig?«</p> + +<p>»Gewiß nicht. Aber für mein Gewissen kann es eine +größere Aufgabe geben: mich in dem Augenblick der +Verfolgung an die Seite derer zu stellen, die verfolgt +werden. Die eigene Überzeugung in die Tasche zu +stecken, läßt sich nur so lange entschuldigen, als es keine +Feigheit ist.«</p> + +<p>»Sie haben recht — wie immer, wenn Ihre erste +Empfindung spricht,« er drückte mir die Hand, fest und +<a name="Page_76" id="Page_76"></a>kameradschaftlich, »und doch möchte ich Sie bitten: überlegen +Sie ruhig, ehe Sie antworten. Die Ausnahmegesetze +sind bisher nichts als Wünsche und Drohungen, +und das klägliche Ende der Umsturzvorlage dürfte kaum +zu einer Wiederholung reizen.« — —</p> + +<p>»... Hängt am Tage von St. Sedan Trauerfahnen +aus, erhebt feierlichen Protest gegen den Massenmord +und ehrt diejenigen, die zum Kriege hetzen, wie es ihnen +gebührt: steckt sie als Verbrecher ins Zuchthaus.« Mein +Vater hatte mir einen Zeitungsausschnitt geschickt, der +diesen Satz aus der sozialdemokratischen Breslauer ›Volkswacht‹ +zitierte. Roh und häßlich, unwürdig vor allem +war er. Die geistigen Waffen, die wir führen, sollten +blanker und damit auch schärfer sein, dachte ich.</p> + +<p>Wenige Tage später veröffentlichten die bürgerlichen +Zeitungen in Riesenlettern den Trinkspruch, den der +Kaiser am Sedantag ausgebracht hatte:</p> + +<p>»... In die große hohe Festesfreude schlägt ein Ton +hinein, der wahrlich nicht dazu gehört; eine Rotte von +Menschen, nicht wert, den Namen Deutsche zu tragen, +wagt es, das deutsche Volk zu schmähen; wagt es, die +uns geheiligte Person des allverehrten verewigten Kaisers +in den Staub zu ziehen. Möge das gesamte Volk in +sich die Kraft finden, diese unerhörten Angriffe zurückzuweisen. +Geschieht es nicht, nun, dann rufe ich Sie, +um der hochverräterischen Schar zu wehren, um einen +Kampf zu führen, der uns von solchen Elementen befreit.«</p> + +<p>Wortlos reichte ich Brandt das Blatt, als er kam. +»Was haben Sie beschlossen?«</p> + +<p>»Die Rotte von Menschen sind meine Brüder und +Schwestern. — Ich lehne ab.«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_77" id="Page_77"></a></p> +<h2><a name="Drittes_Kapitel" id="Drittes_Kapitel"></a>Drittes Kapitel</h2> + + +<p>Ich stand in Wien auf der Rednertribüne des +Ronachersaals und verneigte mich noch einmal +vor dem applaudierenden Publikum. Ich wußte: +ich hatte nicht gesprochen wie sonst. Schon als der Vorsitzende +mich an den dichtgedrängten Reihen vorbeigeführt +hatte, an den eleganten, graziösen Frauen, deren Toiletten +nicht wie die der Berlinerin dazu da zu sein +schienen, die Trägerin unter der Last des Glanzes vergessen +zu machen, sondern ihre Individualität betonten, +ihre Reize unterstrichen, an den jungen und alten +Herren im Frack und Smoking mit den geschmeidigen +Gestalten und dem süffisanten Lächeln des Weltmanns, +war mir der Kontrast zwischen dem kühlen Ernst meines +Vortrags und dieser Umgebung zum Bewußtsein gekommen. +Dann war ein Wogen von bunten Hüten, +ein Knistern von seidenen Kleidern, ein Funkeln von +Brillanten unter mir gewesen. Operngläser aus Silber +und Perlmutter hatten sich auf mich gerichtet, und um +das mattschimmernde Rokokoornament an den Decken +und Wänden des reizenden Konzertsaales hatte ein +feiner, zarter Nebel geschwebt, gewoben aus Zigarettenrauch +und Parfüm.</p> + +<p>Ich stieg die Stufen hinab. Man klatschte noch +immer. Ich mußte wohl so etwas wie eine neue Sen<a name="Page_78" id="Page_78"></a>sation +gewesen sein, wie sie in Gestalt von Sängern, +Taschenspielern und Diseusen auf dieser Tribüne gewöhnlich +zu erscheinen pflegte.</p> + +<p>»Ich gratuliere Ihnen —,« sagte eine dunkle Stimme +neben mir. Nur ein Mann in der Welt hatte solche +Stimme! Es war Brandt. Und als meine Hand +in der seinen lag, war mir, als stünde ich allein mit +ihm hoch auf einer Felseninsel und in der Ferne nur +brandete das Meer der Welt.</p> + +<p>»Sie in Wien, — meinem geliebten Wien, und ich +nicht neben Ihnen, — es kam mir absurd vor,« hörte +ich ihn leise sagen. Aber schon sah ich den Kreis, der +sich um uns gebildet hatte: Menschen, die warteten, +mich begrüßen zu können, mir vorgestellt zu werden, +der Vorstand der Fabier, der mich zum Essen geladen +hatte. Ich gewann meine Fassung wieder, und während +mein Herz hoch aufschlug vor Freude, hatte ich das Bedürfnis, +gegen alle, die sich mir näherten, doppelt und +dreifach freundlich zu sein.</p> + +<p>In einem halbdunkeln verräucherten Kaffee spät am +Abend trafen wir uns wieder. Brandt erwartete mich +mit <em class="antiqua">Dr.</em> Geier, seinem Schwager, dem Führer der österreichischen +Sozialdemokratie, und einem Kreis von Parteigenossen, +die mitten in einer Debatte jäh verstummten, +als ich eintrat. Sie hatten sich offenbar gezankt, was +ich mit der ganzen Empfindlichkeit der Frohgelaunten sofort +empfand. Man stand auf, man begrüßte mich, aber +meine Anwesenheit wirkte sichtlich störend. Eine kleine +brünette Frau mit glänzenden braunen Augen fühlte +das Peinliche der Situation und zog mich auf einen +Stuhl neben sich.</p> +<p><a name="Page_79" id="Page_79"></a></p> +<p>»Ich bin Adelheid Popp,« sagte sie einfach, »ich +habe mich so an Ihrem Vortrag gefreut und wünschte +nur, unsere Arbeiterinnen hätten ihn hören können.« +»Das hätte ich auch gewünscht, — er wäre dann +besser gewesen,« antwortete ich. Ihre Augen lachten +mich an. »Wissen Sie was?!« rief sie lebhaft. +»Wiederholen Sie ihn in einer Volksversammlung!« +Mit freudiger Zustimmung schlug ich in die dargebotene +kleine, warme Hand. »Aber garantieren kann ich nicht, +daß es derselbe Vortrag wird!« Wir vertieften uns in +ein Gespräch, und ich erfuhr, daß diese zierliche Frau +eine arme Arbeiterin gewesen war, von dem Augenblick +an aber, wo sie der Sozialismus gewonnen hatte, zu +einer begeisterten Vorkämpferin der Arbeiterbewegung +sich entwickelt habe. Ganz anders war sie wie unsere +deutschen Frauen: heiter und gutmütig, ohne eine Spur +jener steifen Zurückhaltung, die daheim all meinem Entgegenkommen +zu spotten schien. »Sie sollen mal schauen, +was in Wien eine Volksversammlung heißt!«</p> + +<p>Das Gespräch der anderen hatte indessen da wieder +angeknüpft, wo ich den Faden zerrissen hatte. Ich +hörte zu.</p> + +<p>»Ist es nicht unerhört für einen praktischen Politiker, +sich auf Seite der breslauer Hundertachtundfünfzig zu +stellen und einen blutleeren Theoretiker wie Kautsky +zu verteidigen?!« rief Brandt, während die dunkeln +Brauen sich ihm eng zusammenzogen und die Augen +dem Gegner zornig entgegenblitzten.</p> + +<p>»Bist du vielleicht in deiner gegenteiligen Stellung +zur Agrarfrage weniger Theoretiker als er?!« spöttelte +Geier. »Die Güter, auf denen du dir die Sporen des<a name="Page_80" id="Page_80"></a> +Praktikus verdient hast, liegen doch auf dem Monde!« +Mit einer entschuldigenden Gebärde wandte er sich mir +zu. »Verzeihen Sie, wenn wir uns auch in Ihrer +Gegenwart noch mit so uninteressanten Dingen beschäftigen —«</p> + +<p>»Sie brauchen sich vor mir nicht zu entschuldigen,« +antwortete ich, »mich haben die Verhandlungen des +breslauer Parteitags lebhaft interessiert, und da ich leider +bis heute noch nicht weiß, auf welcher Seite ich stehe, +so höre ich Debatten wie den Ihren besonders gerne zu.«</p> + +<p>Und nun wogte der Streit wieder hin und her. +Brandt verteidigte die von der Mehrheit des breslauer +Parteitages abgelehnten Vorschläge der Agrarkommission, +als »notwendige Forderungen der Gegenwartspolitik«, +als ein erfreuliches Zeichen für die wachsende Erkenntnis, +daß eine Partei von der Größe der deutschen Sozialdemokratie +die Interessen weiterer Volkskreise vertreten +müsse, als nur die der Industriearbeiter. »Übrigens, +was zanken wir uns, lieber Viktor?« meinte er schließlich +und warf mit einer hochmütigen Geste den Kopf +zurück. »Du wärst der Erste, die Vorschläge nicht nur zu +akzeptieren, sondern selbst zu machen und gegen alle +Welt zu verteidigen, oder — wie Schönlank treffend +sagte — eine Revision der Vorstellungsweise in der +Partei herbeizuführen, wenn du in die Lage versetzt +würdest, Landagitation treiben zu müssen.«</p> + +<p>Geier hieb wütend auf den Tisch, daß die Tassen +klirrten und der Kellner, der verschlafen an einer Säule +lehnte, erschrocken die Augen aufriß und dienstfertig +die Serviette schwenkte. »Da liegt doch gerade der +Hase im Pfeffer: ich bin eben nicht in der Lage und<a name="Page_81" id="Page_81"></a> +Ihr, trotz Eurer anderthalb Millionen Stimmen auch +nicht! Konzentriert doch Eure Werbekraft auf die Millionen +Lohnarbeiter, die Euch noch fehlen, und laßt +Eure Enkel sich über die höhere Bauernfängerei den +Kopf zerbrechen! Was du praktisch nennst, ist eben unpraktisch +im höchsten Grade. Das Aufrollen dieser +schwierigen und gänzlich unaufgeklärten Fragen, — ob +die Konzentration des Kapitals in der Landwirtschaft +sich nach denselben Gesetzen vollzieht wie in Industrie +und Handel oder nicht, ob wir daher mit der Proletarisierung +der Bauern oder mit der Vermehrung der +ländlichen Kleinbetriebe zu rechnen haben werden, — all +das noch dazu auf einem seiner ganzen Zusammensetzung +nach inkompetenten Parteitag, ist nur geeignet, +die Parteigenossen zu verwirren. Über theoretischem +Gezänk, das Ihr Reichsdeutsche so liebt, wird ein gut +Teil praktischer Arbeit zum Teufel gehen —«</p> + +<p>»Und glaubst du etwa, die Annahme der lendenlahmen +Resolution Kautsky, die die Agrarfrage doch +nicht aus der Welt schafft, sondern ihre Lösung nur +auf die lange Bank schiebt, wird dies Gezänk verhindern? +Im Gegenteil! Die Bebel und Schönlank +und David werden sich nicht mundtot machen lassen,« +entgegnete Brandt.</p> + +<p>Geier schüttelte ärgerlich den großen Kopf mit den +wirren blonden Haaren. »Bebel wird sich dem Beschluß +des Parteitages fügen; — die anderen freilich, +geborene Krakehler, getrieben durch den eigentlichen geheimen +Generalstabschef des ganzen Feldzuges, Vollmar, +werden die Parteidisziplin ihrer Rechthaberei +opfern.«</p> + +<p><a name="Page_82" id="Page_82"></a>Die Diskussion der leidenschaftlichen Männer fing +an, mich zu beunruhigen, — nicht ihrem Inhalt, wohl +aber ihrer Form nach. Ich hatte Brandt noch nie so +erregt gesehen, und etwas wie Furcht befiel mich. Kurz +entschlossen erhob ich mich.</p> + +<p>»Verzeihen Sie, wenn mein Weggehen Sie stört wie +mein Kommen, aber ich bin sehr müde.« Alles brach +auf, sichtlich erleichtert. Kalter Regen, mit kleinen +spitzen Schneeflocken gemischt, schlug uns ins Gesicht, +als wir heraustraten. Menschenleer war's in den engen +Gassen. Ist das wirklich Wien, die Kaiserstadt? dachte +ich fröstelnd. Geier und Brandt begleiteten mich; wir +verabredeten allerhand für den nächsten Tag. Ich erzählte +von den verschiedenen Einladungen, die ich bekommen +hatte.</p> + +<p>»Zu den Protzen werden Sie doch nicht gehen, die +nur Staat mit Ihnen machen wollen?!« Brandts Stimme +klang grollend, wie ferner Donner, und sein Blick ruhte +beinahe drohend auf mir. Und doch erschrak ich nicht; +es lag im Ton etwas, das mir das Blut in Wallung +brachte, etwas, das klang, wie ein Besitzergreifen. »Bist +du Frau von Glyzinskis Vormund?« brummte Geier.</p> + +<p>»Verzeihen Sie mir meine Heftigkeit —,« flüsterte +Brandt, und im raschen Wechsel seines Mienenspiels +hatte seine Stirn sich wieder geglättet, war sein Auge +wieder klar geworden. Ich senkte stumm den Kopf.</p> + +<p>Zögernd, als fesselten sie magnetische Kräfte, glitten +unsere Hände auseinander. Er betrat mit mir das +Hotel. »Du — wohnst auch hier?!« sagte Geier überrascht.</p> + +<p>Ich schlief nicht in dieser Nacht. Es lag schwer<a name="Page_83" id="Page_83"></a> +und dumpf auf mir, und ich wollte — wollte nicht +denken.</p> + +<p>Wir fuhren am nächsten Morgen zusammen nach +Schönbrunn.</p> + +<p>Alle Einladungen hatte ich abgelehnt.</p> + +<p>Graue Spätherbststimmung beherrschte die Natur. Die +letzten Blätter rieselten von den Bäumen, ohne daß ein +Windhauch sich regte.</p> + +<p>Im freien Walde sind selbst die dunkeln Tage schön: +des Laubes beraubt, reckt sich nackt und kraftvoll das +starke schwarze Geäst gen Himmel, ein wundervoller +Teppich vom hellsten Gelb bis zum tiefsten Rot in halb +verblichenen weichen Farben spielend, breitet sich unter +ihm aus. Aber die Gärten, die des Menschen Kunst +gestaltet, starren uns an wie der Tod. Sie leben nur, +wenn im Rasenteppich die bunten Beete blühen, wenn +das Laub der geschnittenen Hecken und der Kugelbäume +die armen krummen, um ihr natürliches Wachstum betrogenen +Ästchen dicht umkleidet, wenn von den Terrassen +herunter, aus den Tritonenbecken empor das +Wasser rauscht und springt, und die Sonne sich lachend +in den Scheiben der Schloßfenster spiegelt. Dann spielen, +wie große Schmetterlinge, Kinder in hellen Kleidern +auf den breiten gelben Kieswegen, sodaß der Garten +voll Freude sogar der schönen Damen in Reifrock und +Puderperücke vergißt, die einst mit dem graziösen Geschwätz +ihrer roten Lippen und dem lustigen Klappern +ihrer Stöckelschuhe seine Gänge belebten.</p> + +<p>Heute waren wir allein, zwei graue Gestalten, zwischen +blätterlosen Laubengängen und schlafenden Fontänen.</p> + +<p>»Sie sind so blaß,« sagte Brandt, »der Heimweg +<a name="Page_84" id="Page_84"></a>gestern im Schnee hat Ihnen geschadet —.« Ich schüttelte +den Kopf. »Meine Roheit hat Sie verletzt?« Ich sah zu +ihm auf, aber das Lächeln, das ich ihm zeigen wollte, +erstarb mir auf den Lippen. So müde, so traurig war +sein Blick. In dem meinen blieb er hangen. Es war +wie ein Abschiednehmen.</p> + +<p>»Ich habe es mir überlegt, stunden-, nächtelang,« +kam es tonlos über seine Lippen, »ich muß fort von +Berlin — mit meiner Fr ... —,« er stockte, »mit Rosalie —,« +verbesserte er sich hastig, »bis — bis die Entbindung +vorüber ist. Es ist besser, — besser für uns +alle.«</p> + +<p>»Ja,« sagte ich, die Kehle schnürte sich mir zusammen.</p> + +<p>Dann gingen wir. Wo waren wir doch nur noch +an diesem Tage? Ich entsinne mich nicht. Meine Augen +nahmen Bilder auf, von denen meine Seele nichts wußte.</p> + +<p>Später trafen wir wieder irgendwo in einem Kaffee +mit Geier zusammen. Es kamen noch allerlei Menschen, +die ich an meinem Vortragsabend gesehen hatte, sie +gingen mit kühlem Gruß und vieldeutigem Lächeln an +uns vorüber.</p> + +<p>»Du siehst,« hörte ich Geier leise sagen, während er +mich in die Zeitung vertieft glaubte, »zum mindesten +hättest du nicht im selben Hotel mit ihr wohnen dürfen.« +Brandt fuhr auf. Flehend sah ich zu ihm hinüber. +Er schwieg. Die Kellner brachten die Abendblätter. +»Na, da haben wir's ja,« rief Geier, nachdem er sie +rasch überflogen hatte, und stürzte mit einem kurzen +Gruß davon in seine Redaktion.</p> + +<p>Ich las. »Aus Berlin wird uns soeben mitgeteilt: +Nachdem seit einiger Zeit die politische Polizei eine +<a name="Page_85" id="Page_85"></a>fieberhafte Tätigkeit entwickelte und Haussuchungen umfassender +Art bei fast allen bekannten Mitgliedern der +sozialdemokratischen Partei stattfanden, bringt der Reichs- und +Staatsanzeiger heute folgende Bekanntmachung: +›Es wird hiermit zur öffentlichen Kenntnis gebracht, +daß nachstehende Vereine: die sechs sozialdemokratischen +Wahlvereine, die Preßkommission, die Agitationskommission, +die Lokalkommission, der Verein öffentlicher +Vertrauensmänner, der Parteivorstand der sozialdemokratischen +Partei Deutschlands auf Grund des §8 des +Versammlungs- und Vereinsrechts vorläufig geschlossen +sind.‹«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Kurz vor der Volksversammlung, in der ich sprechen +sollte, besuchte ich Geier in seiner Redaktion, +engen, halbdunklen Räumen im Souterrain eines +alten Hauses. Von fast undurchdringlichem Tabaksqualm +war sein Zimmer gefüllt, das den merkwürdigen +Mann, der grundhäßlich war und hinreißend schön sein +konnte, der stotterte und doch der glänzendste Redner +war, phantastisch umwogte. »Ich habe nur eine kurze +Frage an Sie,« sagte ich, — nichts war ihm widerwärtiger, +wie überflüssiges Weibergeschwätz, — »ich +möchte in die Partei eintreten, — was halten Sie davon?«</p> + +<p>Er sah mich prüfend an, von oben bis unten, strich +sich mit der feinen Hand den wirren rotblonden Schnurrbart +und zuckte die Achseln. »Bleiben Sie draußen,« +antwortete er schroff, »eine Krokodilshaut gehört dazu, — ich +zweifle, daß Sie die haben —«</p> + +<p>»Und wenn ich Sie hätte?!«</p> +<p><a name="Page_86" id="Page_86"></a></p> +<p>»Dann, — ja dann tragen Sie wie wir Ihre Knochen +auf den Markt der Partei —.« Er reichte mir mit +kurzem Kopfnicken die Hand, — ich war entlassen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Und wieder stand ich auf der Rednertribüne, +vor mir ein großer Saal, nüchtern wie eine +Scheune, von flackernden Gasflammen erhellt. +Von rechts und links strömten die Menschen +herein: junge und alte Frauen in Kopftüchern und +Schürzen, die verfrorenen roten Hände andächtig gefaltet, +Männer in Arbeitsblusen, tiefen Ernst auf +den durchfurchten Gesichtern. Sie richteten alle die +Augen auf mich, staunend, fragend, erwartungsvoll. +Kopf an Kopf drängten sie sich um die schmale, niedrige +Stufe, die mich über sie emporhob. Sie kauerten zu +meinen Füßen, eng aneinandergeschmiegt: ein kleines +Fabrikmädchen mit zerzaustem Blondhaar, ein junger +Mann mit den klassischen Römerzügen des Südtirolers, +ein altes Mütterchen, die welke Hand horchend hinter +das Ohr gelegt. Und mir war, als wölbe sich der +niedrige Saal zum Dom; als träten die Abgesandten +der Menschheit durch seine hohen weitgeöffneten Pforten. +Tiefe, demütige Andacht erfüllte mich. Die Welt, die +draußen war, versank. Denen, die mich umringten, gehörte +von dieser Minute an meine Kraft und meine +Hoffnung. Daß ich mich ihnen gab: meinen Arm den +Schwachen, meine Beredsamkeit den Stummen, meinen +an Gipfelwanderungen gewohnten Fuß den Lahmen, und +den Blinden mein Auge, das die Befreiung sah, — das +war dieser Stunde stilles Gelöbnis.</p> +<p><a name="Page_87" id="Page_87"></a></p> +<p>»Genossen und Genossinnen —« Hell und scharf, +wie ein Schlachtruf, klang meine eigene Stimme mir +ins Ohr. Der Jubel der Menge umbrauste mich, während +ich weiter sprach. Das blasse Gesicht des kleinen +Fabrikmädchens vor mir fing an zu glühen, dem alten +Mütterchen rollten die Tränen über die welke Wange +und die klassischen Römerzüge des Tirolers strafften sich +in eiserner Energie.</p> + +<p>Als ich geendet hatte, war es sekundenlang still, — dann +eine Beifallssalve, zahllose Händedrücke von schwieligen +Fäusten, und lauter und lauter anschwellend der +Kriegsgesang der Arbeitermarseillaise. In ihrem Takt +schob sich die Menge hinaus, auf der Straße klang sie +fort, zog mit den Wandernden rechts und links in die +nachtstillen Gassen, und auf dem ganzen Heimweg verfolgte +mich ihre Melodie: aufreizend, siegesbewußt.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Einen Tag später als Brandt kam ich nach +Berlin zurück. Er empfing mich am Bahnhof, +bleicher, übernächtiger als je. Wir fuhren zusammen +nach der Kleiststraße, wo wir nun schon zwei +Monate wohnten, er mit seiner Familie im Vorderhaus, +ich im Gartenhaus, in den zwei kleinen Stübchen. +Wir konnten einander an der Mauer mit der Schweizer +Landschaft vorbei in die Fenster sehen. Oft, wenn er +bei mir gewesen war, tauchte hinter den weißen Vorhängen +drüben ein Schatten auf, der mit gespenstischer +Schnelle sein Gesicht zu verdunkeln schien. Dann erhob +er sich, sah mich kaum an und verließ das Zimmer.</p> + +<p>»Rosalie will nicht reisen, mit mir nicht,« erzählte +<a name="Page_88" id="Page_88"></a>er während der Fahrt. »Sie behauptet, meine Nähe +steigere nur ihr Übelbefinden, deshalb habe sie sich +entschlossen, allein zu gehen und zwar — nach England.«</p> + +<p>»Nach England?« fragte ich erstaunt. »In dieser Jahreszeit?! +Hat sie Freunde dort?«</p> + +<p>»Niemanden! — Die fixe Idee einer Schwangeren, +sagt der Arzt.«</p> + +<p>Ich schwieg, auf das tiefste betroffen. Mir, dem +Weibe, schien sonnenklar, was ihre Beweggründe waren. +Das Recht der Abwesenden wollte sie zur Geltung +bringen, und ein instinktives Gefühl trieb sie nach England —, +woher ich gekommen war, wo ich, wie sie +meinte, mir an Kenntnissen und Interessen erworben +hatte, was ihren Mann an mich fesselte.</p> + +<p>Der Wagen hielt. »Ich komme gegen Abend hinüber,« +sagte ich und verabschiedete mich hastig vor der +Haustür. Ich mußte allein sein. Meine Zimmer fand +ich mit Blumen geschmückt, wie zu einem Fest. »Der +Herr Doktor —,« sagte die Aufwärterin mit süßlichem +Lächeln und einem vertraulichen Blick.</p> + +<p>»Schon gut —,« unterbrach ich sie hastig und warf +die Türe hinter mir ins Schloß.</p> + +<p>Was nun?! Sie durfte nicht fort. Wirklich nicht?! +Ein kalter Schauer lief mir über den Rücken. War es +Furcht? Oder nicht vielmehr Freude — Freude, die wie +ein orkangepeitschtes Meer alle Dämme überflutete, alles +Denken begrub?! Allein — allein mit ihm — tage-, +wochen-, monatelang! Ein ganzes Leben der Entsagung +war kein zu teurer Preis dafür! Wenn sie wiederkam, +würde ich gehen, — aus seinem Gesichtskreis still ver<a name="Page_89" id="Page_89"></a>schwinden, — und +zu ihr würde er zurückkehren, — zu +ihr — und dem Kinde ...</p> + +<p>Es klopfte. »Frau <em class="antiqua">Dr.</em> Brandt läßt gnädige Frau +zum Abendbrot bitten —« »Ich komme —«</p> + +<p>Wir saßen um den gedeckten Tisch: Brandt schweigsam, +mit gerunzelten Brauen, die beiden kleinen Knaben — seine +Söhne aus seiner ersten Ehe — verschüchtert +und ängstlich von einem zum anderen blickend, ich, eine +Unterhaltung mühsam aufrecht erhaltend; sie allein schien +lustig, fast übermütig, ihre Augen flimmerten, ihre +großen weißen Hände, die mir immer vorkamen, als +hätten sie ein eigenes Leben, als wären sie junge +Raubtiere, — bewegten sich ruhelos, streichend, klopfend, +sich dehnend, um sich gleich wieder zur Faust zu ballen, +auf dem Tisch. Das Mädchen kam und brachte einen +Eiskübel mit einer Flasche Champagner. Brandt sah +mißbilligend auf seine Frau. »Wie kannst du, Rosalie, — in +deinem Zustand!«</p> + +<p>Sie lachte.</p> + +<p>»Nur heute, — wo wir ein Fest miteinander feiern +und ihr dasitzt wie Ölgötzen und nicht lustig seid, — lustig +wie ich! — Trinkt, Kinder, trinkt, so ein Abend +kommt nicht so leicht wieder!« Sie stürzte das erste +Glas in einem Zug hinunter. Und dann sprach sie unaufhörlich, +fieberhaft. Von der Reise, die sie machen +werde, von den Herrlichkeiten, die sie dafür schon eingekauft +habe — »drei seidene Kleider und Hüte dazu, +und einen Rohrplattenkoffer für zweihundert Mark, — mach' +keine entsetzten Augen, Heinrich; ich weiß ja, du +bezahlst es gern, — so gern!« —, von ihren Träumen. +»Ich sehe immer denselben Mann, der mir winkt, zu +<a name="Page_90" id="Page_90"></a>dem ich hin muß,« — ihre Stimme sank und ihre +Augen weiteten sich, daß das Weiße unheimlich groß +um die dunklen Pupillen stand — »und der mir helfen +wird.«</p> + +<p>»Trinken Sie nicht mehr —,« bat ich erschüttert und +legte meine Hand auf die ihre, die eiskalt war. Sie +schüttelte sie ab wie eine lästige Fliege.</p> + +<p>»Sie glauben, ich spräche im Rausch?!« sagte sie. +»Sie irren. Ich bin nüchtern, ganz nüchtern, — ich +weiß nur mehr als Sie, viel mehr, und — und ich +glaube an Träume!«</p> + +<p>»Bist du denn nicht eifersüchtig auf deinen Rivalen, +zu dem ich reise?« Damit wandte sie sich mit einem +lauernden Blick aus halb geschlossenen Augen an ihren +Mann.</p> + +<p>»Rosalie!« stöhnte er gequält. Rasch stand ich auf. +Ich konnte die Blicke der Kinder nicht mehr ertragen.</p> + +<p>»Es ist schon zu spät für euch,« redete ich sie an und +griff nach ihren Händen, »kommt, — ich bring' euch zu +Bett.« Sie lachten dankbar.</p> + +<p>»Ach, Tante, bring uns doch immer zu Bett!« flüsterte +der Älteste, als er in den Kissen lag, und seine melancholischen +Zigeuneraugen sahen mich flehend an. »Und +morgen, bitte, bitte, erzähl uns eine Geschichte,« fügte +der Jüngste hinzu und richtete sich im Bett noch einmal +auf.</p> + +<p>Indessen war es im Wohnzimmer zu einer heftigen +Szene gekommen. Rosalie lag schluchzend auf dem +Diwan. »Er will mich nicht reisen lassen, er will mich +umbringen, — mich und das Kind,« schrie sie. »So +mäßige dich doch, um Gottes willen!« beschwor sie Brandt +<a name="Page_91" id="Page_91"></a>mit einem Blick auf die Glastür, hinter der sich der +Schatten des Mädchens hin und her bewegte. Sie +achtete nicht auf ihn, ihre Stimme wurde nur noch +lauter und heftiger. »Ich halte es nicht mehr aus, — ich +mag deine Bevormundung nicht, und deine schlechte +Laune. Ich laufe davon —« Und ihr Schluchzen wurde +zum Weinkrampf.</p> + +<p>Der Arzt wurde geholt. »Sie müssen ihrem Willen +nachgeben, wenn Sie nicht das schlimmste riskieren +wollen,« entschied er schließlich. »Natürlich darf sie +nicht ohne Pflegerin reisen, — ich kann Ihnen eine +empfehlen, auch eine gute deutsche Pension in London.«</p> + +<p>Schon am nächsten Morgen kam Rosalie zu mir, um +Abschied zu nehmen. Sie war völlig verwandelt, weich, +freundlich, ruhig. Es war fast ein strahlendes Lächeln, +mit dem sie mir im Weggehen sagte: »Nun weiß ich +gewiß: Alles — Alles wird gut werden.«</p> + +<p>Wie unter dem Zwang einer stillschweigenden Verabredung +sahen Brandt und ich uns in der nächsten +Zeit selten und nie allein. Ich aß drüben bei ihm mit +den Kindern, nahm sie mit bei meinen Ausgängen und +sorgte für sie, soviel mir an Zeit dafür übrig blieb. +Mit wehmütiger Freude sah ich, wie sie täglich mehr +an mir hingen und mit all ihren kleinen Wünschen +und Kümmernissen zu mir kamen. Weihnachten stand +vor der Tür. »Einen richtigen Weihnachtsbaum machst +du uns, Tante, nicht wahr?« bettelte Wölfchen, der +Jüngste. »Im vorigen Jahr war er man soo klein.« +»Ich möchte am liebsten zur Mutter fahren, — wie +ganz früher,« meinte Hans, der Älteste, und seine Augen +schimmerten feucht. »Zur Mutter —?!« staunte ich.</p> +<p><a name="Page_92" id="Page_92"></a></p> +<p>»Nun ja, du weißt doch, unsere richtige Mutter +wohnt weit, weit weg in Wien,« plauderte Wolf; »sie +ist immer krank. Aber im Sommer, da dürfen wir sie +besuchen, wenn sie in Schruns ist oder in Klobenstein —« +»Die Rosalie ist gar nicht mit uns verwandt, +aber auch gar nicht,« unterbrach ihn Hans eifrig, +und mit einem fragenden Blick auf mich fuhr er zögernd +fort: »Unsere Marie sagt, sie kommt nicht wieder und — und +du bleibst bei uns?!«</p> + +<p>Ich blieb ihm die Antwort schuldig. Jäher Schreck +lähmte mir die Zunge. Ich hatte Brandt nach seiner +ersten Frau nie gefragt, hatte geglaubt, sie sei früh +gestorben. Welche Schicksale lasteten auf dem Mann, +den ich liebte — täglich verzehrender, sehnsüchtiger —, +und rissen die jungen Seelen dieser Kinder in ihren +Wirbeltanz?!</p> + +<p>Zärtlich zog ich die Knaben in meine Arme: »Seid +brav, recht brav, daß der Vater sich an euch freut, dann +sollt ihr einen Weihnachtsbaum haben wie noch nie!«</p> + +<p>Mit glühendem Eifer, der mich alles andere vergeben +ließ, bereitete ich das schönste Fest des Jahres vor. +Freude wollte ich um mich verbreiten, lauter überschwengliche +Freude. Mit dem Geld, das ich mir von +Brandt für seine Kinder erbat, und das er mir verwundert +gab — er hatte an Weihnachten gar nicht +gedacht —, und den Goldstücken, die mir ein paar Artikel +eben eingetragen hatten, kaufte ich einen ganzen Jahrmarkt +voll Spielzeug; und Pfefferkuchen und Marzipan +und Schokolade, dazu Schürzen, Bänder, und ein +himmelblaues Kleid für das Dienstmädchen, das mich +mit ihren kleinen blanken Augen immer so lustig an<a name="Page_93" id="Page_93"></a>lachte. +Am Morgen des Weihnachtstages schloß ich +mich im Eßzimmer ein und putzte die große duftende +Edeltanne mit lauter blitzendem Kram, mit roten Rosen +und bunten Lichtern. Leuchten sollte sie wie das lebendig +gewordene Glück. Vielleicht wird sie ihm ein einziges +frohes Lächeln entlocken! dachte ich.</p> + +<p>Nachmittags mußte ich zuerst zu den Eltern. Es +wurde früh beschert, weil alle Familienmitglieder bei +Onkel Walters geladen waren. Im Salon stand wie +immer der Baum: farblos, schneeweiß, sehr kühl, sehr +vornehm. Und davor unsere Tische, beladen mit Geschenken. +Der Vater hatte sich einmal wieder nicht genug +tun können. Er war in letzter Zeit für mich von +einer Güte, die mir wehe tat, weil ich wußte, daß sie +nur einer Täuschung ihr Dasein verdankte. Meine +wiener Volksversammlungsrede hatte die deutsche Presse +ignoriert, auch sonst mußte es ihm scheinen, als zöge +ich mich mehr und mehr zurück. Was ich für die +Tagespresse schrieb, — ich fing damals an, auch am +»Vorwärts« gelegentlich mitzuarbeiten —, erschien ohne +meine Unterschrift; die wesentlich literarisch-kritischen +Artikel in den Wochenblättern hatten meist seinen Beifall. +»Ich wollte dir handgreiflich zeigen, wie zufrieden +ich mit dir bin«, — damit entschuldigte er gleichsam die +Fülle der Gaben. Daß ich das weiße Kleid und den +Spitzenschal und die seidenen Strümpfe und zierlichen +Schuhe mit solcher Freude empfing, weil ich allein dessen +gedachte, für den sie mich schmücken sollten, — er ahnte +es nicht! Nur die Mutter hatte schon hie und +da mißtrauisch nach Brandts Gattin gefragt, wenn sie +ihn allein bei mir traf, und zuweilen war uns die<a name="Page_94" id="Page_94"></a> +Schwester begegnet und hatte uns mit vielsagendem +Lächeln begrüßt.</p> + +<p>Der Vater wollte mich durchaus nicht heimgehen +lassen, wollte bei Onkel Walters absagen: »Wenn sie +meine Tochter nicht haben wollen, so mögen sie auch +auf mich verzichten.« Es kostete Mühe, ihn umzustimmen.</p> + +<p>»Ich bin ja nicht allein«, sagte ich schließlich — sehnsüchtig +dachte ich an die erwartungsvollen Knabengesichter, +an den stillen Abend mit ihm —, »ich muß +noch zur Bescherung im Kinderheim«, dabei wandte ich +den Kopf dunkel erglühend zur Seite.</p> + +<p>Endlich konnt' ich gehen. Und mein bunter, lustiger +Weihnachtsbaum funkelte und sprühte, ein Fanal der +Freude, ein Sonnwendfeuer, ein Gruß an das steigende +Licht. Der Jubel der Kinder klang durch die Räume. +»Du — du Zauberin,« flüsterte eine tiefe Stimme mir +ins Ohr.</p> + +<p>Still und feierlich, in ihr weiches glitzerndes Schneekleid +gehüllt, erwachte die Erde am nächsten Morgen. +Der Arbeitslärm des Alltags war verstummt, und Räderrollen +und Menschenschritte klangen gedämpft auf dem +Winterteppich. Es war Feiertag.</p> + +<p>Und im Festgewand stand ich und wartete dessen, der +kommen mußte.</p> + +<p>Mein Herzblut, das ich bereit war, restlos für ihn zu +vergießen, hatte es mit roten Rubinen bestickt, Schnüre, +an denen die Tränen meiner Sehnsucht schimmernd gereiht +waren, schmückten mir den Nacken, mit Smaragden +der Hoffnung waren die seidenen Schuhe besetzt an +meinen Füßen, die ihm entgegengingen, und auf meinen +Armen, die ihn umfassen wollten, funkelten, alle Farben +<a name="Page_95" id="Page_95"></a>und allen Glanz der Welt in sich vereinend, die Diamanten +meiner Leidenschaft. Und er kam, er sah mich, — und +die armen kleinen Liebesworte schämten sich +ihrer millionenfachen Entweihung und verstummten.</p> + +<p>Nicht wie die Tage, die wie Kugeln am Zählbrett +gleichgültig rechnend weiter geschoben werden, waren +die jenes sonnendurchleuchteten Winters. Die Nacht +gebar einen jeden als Wesen göttlicher Art, ewigen +Lebens voll. Hoch über die Erde trugen sie uns auf +starken Flügeln, und mochte drunten riesenhaft die +schwarze Gestalt der Schuld die Arme drohend gegen +uns recken, — wir sahen sie nicht. — Bis einer kam, +der häßlich war und neidisch, und mit Faustschlägen an +der Türe uns weckte aus unserem erdenfernen Liebestraum.</p> + +<p>Wir kehrten vom Wannsee zurück, wo wir unter blauem +Himmel auf spiegelglattem Eis gemeinsam unsere Kreise +gezogen hatten. Mit ängstlichem Gesicht hielt die gute +Marie uns einen Brief entgegen. »Rohrpost — und +Rosaliens Schrift —« Heinrichs Gesicht entfärbte sich. +»Ich bin in Berlin und ersuche dich, mich vom Hotel +aus abzuholen. Unser Kind soll im Vaterhause geboren +werden,« schrieb sie. Noch am Abend traf sie ein. Ich +sah ihren dunklen Schatten hinter den Vorhängen. Ich +wußte, was er mir bedeutete: kein Verzichten nach kurzem +gestohlenem Glück, wie ich es einst geglaubt hatte, sondern +Kampf um den Einsatz des ganzen Lebens. Mit +dem Recht der Liebe gehörte Heinrich mir. Alles andere +»Recht« ist nur verschleiertes Unrecht.</p> + +<p>Sie verlangte meinen Besuch. Ich fand sie im Bett +liegend, vollkommen ruhig, während die Pflegerin damit +<a name="Page_96" id="Page_96"></a>beschäftigt war, das Zimmer umzuräumen. »In vierzehn +Tagen etwa erwarte ich,« sagte sie nach gemessener +Begrüßung, »Heinrich ist natürlich sehr unglücklich, daß +ich ihn jetzt schon ausquartiere,« mit spöttischem Lächeln +sah sie zwischen uns hin und her. Ich verabschiedete +mich so rasch als möglich und nahm mir vor, diese +Komödie freundschaftlicher Besuche nicht weiter zu spielen.</p> + +<p>Daß es jetzt für mich an der Zeit gewesen wäre, zu +gehen, fern von Berlin in aller Stille die Entwicklung +der Dinge abzuwarten, — das fühlte ich instinktiv. Aber +die Leidenschaft, die mich beherrschte, machte mich taub +für die leisen Stimmen meines Inneren. Ich konnte +ja gar nicht fort, beruhigte ich mein Gewissen, ich hatte +kaum die Mittel, um zu leben, wie viel weniger, um +zu reisen, — ich war gerade jetzt unentbehrlich in +Berlin, wo der Konfektionsarbeiterstreik täglich ausbrechen +konnte.</p> + +<p>Es kamen auch viele einsame Stunden, wo meine +Phantasie böse Träume spann: Ich sah ein winziges +Kinderhändchen von unheimlicher Kraft, das mir +den Geliebten entreißen wollte. Nein: ich konnte +nicht fort!</p> + +<p>Er besuchte mich seit Rosaliens Rückkehr nur selten. +Sie hatte ihr Bett und ihren Stuhl am Fenster so gestellt, +daß sie zu mir herübersehen konnte. Auch einen +kleinen Spiegel hatte sie anbringen lassen, durch den +ihr niemand entging, der den Hof betrat. Oft, wenn +ich das Haus verließ, um ihn zu treffen, war mir, als +verfolge mich dies glänzende runde Ding mit dem +bohrenden Auge darin durch alle Straßen. Zuweilen +bemerkte ich auch, wie die Pflegerin, eine Johanniter<a name="Page_97" id="Page_97"></a>schwester +mit einem ausgemergelten fanatischen Asketengesicht +mir von ferne nachschlich. Im Traum sah ich +sie dann auf meinem Bette sitzen und mit hungrigen +Augen die Schrift glutheißer Liebe lesen, die mir im +Herzen geschrieben stand.</p> + +<p>Wir wählten immer andere Orte für unsere Zusammenkunft: +kleine Weinstuben, stille Konditoreien, wo +es nach saurem Wein und altem Kuchen roch und die +Kellner die Wissenden spielten. Es war so widerwärtig, +daß wir es schließlich vorzogen, in Wind und Wetter +draußen im Wald zu sein, wo reine Luft unsere +Stirnen kühlte. Einmal führte uns der Weg durch +den Wald nach Paulsborn. Dicht lag der Nebel über +dem See, ein feiner Regen stäubte vom Himmel. Er +hatte mit seinem Arm seinen Mantel auch um mich +geschlungen.</p> + +<p>»Vergiß mich, Alix, wenn du kannst,« sagte er, »laß +den armen Kerl laufen, der allen Unglück bringt, die +ihm zu nahe kommen.«</p> + +<p>Ängstlich forschte ich in seinen verschlossenen Zügen. +»Willst du, daß ich gehe?« frug ich mit Betonung.</p> + +<p>Er zog mich fester an sich. »Ich müßte es wollen, +um deinetwillen! Und doch, wenn ich mir vorstelle, du +tätest es — lieber brächt' ich dich um!« +Zärtlich drückte ich meine Wange an seine Schulter. +»Wenn das der Tod ist, den ich allein zu fürchten +habe, so werd' ich ewig leben.«</p> + +<p>»Weißt du denn auch, was dir bevorsteht —?« »Ja,« +lächelte ich, »dein Weib werde ich sein, dein glückseliges +Weib!«</p> + +<p>»Glaubst du so sicher, daß sie in die Scheidung +<a name="Page_98" id="Page_98"></a>willigt, daß sie nicht vielmehr alles tun wird, um dich, +um uns zu verderben?«</p> + +<p>Ich dachte schaudernd ihrer lauernden Blicke und +ihrer Raubtierhände. Aber ich verscheuchte das Angstgefühl, +das mich zu unterjochen drohte.</p> + +<p>»Nur die Trennung von dir wäre mein Verderben, +und die erzwingt sie nicht. Dir werd' ich gehören, auch +wenn ich's vor der Welt nicht darf!«</p> + +<p>»Sie werden alle mit Steinen nach dir werfen —«</p> + +<p>»Hast du mich lieb, bin ich unverwundbar —«</p> + +<p>Stärker strömte der Regen, dicht über den schwarzen +Kiefern schienen die Wolken zu lagern. Am warmen +Ofen im Wirtshaus trockneten unsere Mäntel. An +Heimkehr war zunächst nicht zu denken. O, daß eine +Sintflut uns umschlösse wie eine Insel und kein Schiff +den Weg zurückfände in die Welt!</p> + +<p>»Kaum ein Jahr ist es her, daß ich Rosalie heiratete,« +begann er nachdenklich, »wie heller Wahnsinn erscheint +mir heute, was ich tat. In zarter Rücksicht hast du, +Gute, nie gefragt und hast doch ein Recht, mehr von +mir zu wissen, als daß ich dich liebe. Nach sechsjähriger +Ehe, — Jahren steigender Qualen, in denen wir uns +immer weiter voneinander entwickelten, — verließ mich +meine erste Frau. Ich hätte es ihr längst verziehen — sie +litt ja wie ich! —, aber daß sie die beiden kleinen +Kinder im Stiche ließ, das begriff ich nicht, werde es +nie begreifen. Im Scheidungsprozeß wurden sie mir +zugesprochen. Und nun begann ein Leben dauernder +Aufregung. Wohl zehnmal am Tage, wenn ich im +Redaktionsbureau saß, packte mich die Angst um die +Kleinen. Ich sah sie von den unzuverlässigen Wärte<a name="Page_99" id="Page_99"></a>rinnen +unbeaufsichtigt gelassen, von der Mutter heimlich +entführt, und fuhr gehetzt zwischen der Wohnung und +dem Bureau hin und her. Ständig war ich auf der +Suche nach jemandem, dem ich die Kinder anvertrauen +konnte. Ich klagte meine Not einem Freunde. ›Ich +wüßte eine Dame, mit der Sie das große Los ziehen +würden,‹ sagte der, ›aber sie wird eine Stellung kaum +annehmen wollen. Sie ist reicher Leute einziges Kind, +ist aus Liebe zur leidenden Menschheit Krankenpflegerin +geworden, und dabei die schönste Frau der Welt.‹ Ich +war wie elektrisiert. Er mußte mir Namen und Adresse +nennen, und in der nächsten Stunde schon war ich bei +ihr. Wie ein Geschenk des Himmels schien es mir, +daß sie ohne viel Überlegung ja sagte. Sie war gut +zu meinen Kindern. Ich konnte ruhig arbeiten. Ich +fand ein behagliches Zuhause, wenn ich heimkam. Daß +sie weder die schönste Frau der Welt, noch reicher Leute +Kind war, sondern irgendwo im Osten in einer Tagelöhnerkate +das Licht der Welt erblickt hatte, war mir +eher willkommen, als daß es mich enttäuscht hätte. +Ihre Vorliebe für seidene Kleider, auf die sie all ihren +Verdienst verwandte, mochte das Märchen um sie gesponnen +haben. Ich ließ es geschehen, daß — daß sie +mich liebte. Ich hatte Jahre und Jahre jede Liebe +entbehrt und hielt nun meine Dankbarkeit für Liebe. +Nur daran, mich zu fesseln, dachte ich nicht. Zu schwer +lastete die Erinnerung an die Ehe auf mir. Da warf +mich ein heftiges Nervenfieber aufs Krankenlager. Und +während ich noch matt und elend zu Bette lag, erklärte +mir Rosalie, mich noch am selben Tage verlassen zu +wollen, wenn ich ihr nicht die Heirat verspräche. Ich +<a name="Page_100" id="Page_100"></a>war empört, aber viel zu schwach zu energischem Widerstand. +Ich dachte an meine Kinder. Sie ging schon +am nächsten Tage mit unseren Papieren aufs Standesamt, +um das Aufgebot anzumelden. So wurden wir +Mann und Frau —«. Er schwieg. »Und trotz alledem +wirst du mich lieb behalten?« fragte er dann leise.</p> + +<p>»Wenn du mich lieb behältst nach meiner Beichte,« +antwortete ich und erzählte ihm von meiner Jugendliebe. +»Weißt du —« sagte ich zum Schluß träumerisch, während +seine Hand leise die meine streichelte, »mein Herz +ist wie die Erde: ohne den Frühling wäre der Sommer +mit seiner glühenden Sonne und seinen voll erblühten +Rosen nicht gekommen. Und darum werde ich noch im +Winter an ihn denken müssen.«</p> + +<p>Spät kamen wir nach Hause. Vor dem Tore stand +die Johanniterschwester. Wie Fledermäuse flatterten +ihre schwarzen Haubentücher im Wind.</p> + +<p>An meiner Tür empfing mich die Aufwärterin mit +grinsender Untertänigkeit. »Herr Reinhard ist da,« +sagte sie, »ich wußte nicht, daß gnädige Frau so lange +fort bleiben würden — bei dem Wetter.« Ich hörte +seine Krücke hart und heftig aufschlagen.</p> + +<p>»Fast wäre ich wieder gegangen,« grollte er, »ich —« +er legte starken Nachdruck auf dies ›ich‹ — »ich habe +keine Zeit, um Ausflüge zu machen.«</p> + +<p>»Verzeihen Sie, daß Sie warten mußten. Hätten +Sie mir Ihren Besuch mit einem Worte angekündigt —«</p> + +<p>Er lachte besänftigt. »Schon gut — schon gut! Wir +wollen uns bei Präliminarien nicht aufhalten. Die +Entscheidung steht vor der Tür —, an eine friedliche +<a name="Page_101" id="Page_101"></a>denke ich, nach der allgemeinen Stimmung zu urteilen, +nicht mehr. Werden wir auf Sie rechnen können?«</p> + +<p>»Selbstverständlich. Aber daß Sie gerade jetzt, wo +die öffentliche Meinung sich mehr und mehr auf Seite +der Arbeiter stellt, wo einflußreiche Kreise der Bourgeoisie +öffentlich für sie eintreten, an einer befriedigenden Lösung +verzweifeln, begreife ich nicht.«</p> + +<p>»Welch ein Neuling Sie doch sind!« Er schüttelte +verwundert den breiten Kopf. »Weil einigen bürgerlichen +Idealisten all das aufgedeckte Elend an die +Tränendrüsen geht, darum, meinen Sie, werden die +Unternehmer nachgeben?! Wo der eigene Geldbeutel +in Frage kommt, hört die Sentimentalität auf. Immerhin: +wir werden bis zum äußersten warten, und —« +seine Lippen kräuselten sich höhnisch — »hoffen. Bei +der miserablen Organisation, trotz der Hundearbeit der +ganzen letzten Monate, ist es kein Kinderspiel, die Verantwortung +für den Streik auf sich zu nehmen.«</p> + +<p>Er erzählte mir noch von den intimen Verhandlungen +mit den Meistern der Damenmäntelkonfektion, von der +mühseligen Ausarbeitung eines detaillierten Lohntarifs, +von den Plänen für die nächste Zukunft, und empfahl +sich, nachdem ich ihm nochmals versprochen hatte, als +Rednerin überall zur Stelle zu sein, wo er mich würde +brauchen können. Mein Gewissen schlug. Über dem +eigenen Schicksal war ich nahe daran gewesen, das Geschick +der Hunderttausende zu vergessen. Schon waren +Schriften aller Art erschienen, die das Leben der Konfektionsarbeiter +malten, wie ich es oft genug gesehen +hatte. Warum war keine von mir? Und in den Versammlungen +der bürgerlichen Frauenvereine wurde plötz<a name="Page_102" id="Page_102"></a>lich +entdeckt, daß die Not der Arbeiterin größer war +als die höherer Töchter, in der Ethischen Gesellschaft +wurden die Mittel zu ihrer Abhilfe lebhaft debattiert. +Und ich allein schwieg!</p> + +<p>Von nun an fehlte ich nirgends mehr. Und ich +fühlte: je weiter ich mich von mir selbst entfernte, desto +stärker wurde ich. In einer Reihe großer Versammlungen +wurden die Forderungen der Konfektionsarbeiter +noch einmal klargelegt, ihre Lage beleuchtet, der sie Abhilfe +schaffen sollten. Ich war in den Feensaal gegangen, +wo Martha Bartels sprach. Kaum, daß ich noch Einlaß +fand, denn auf der Straße schon stauten sich die +Menschen. So viel Armut war wohl noch nie aus +ihren dunklen Höhlen hervorgekrochen. Und noch nie +hatten sich so viel elegante Frauen in ihrer nächsten +Nähe befunden.</p> + +<p>In dem tief eingewurzelten Gefühl, das noch immer +hinter dem schönsten Kleid die größte Respektsperson +vermutet, drängten sich die Armen schüchtern an den +Wänden entlang. Alte Frauen mit müden, rot geränderten +Augen standen auf, um seidenrauschenden +Damen Platz zu machen. Keinen Blick des Neides +sah ich, keinen des Hasses. Als Martha Bartels +sprach, schlicht, fast nüchtern, und ihnen die Geschichte +ihres eigenen Leides erzählte, da weinten viele. Aber +es waren nicht die fruchtbaren Tränen der Erkenntnis, +unter deren heißer Flut die Kraft des Widerstandes gedeiht, +es waren die Tränen der Verzweiflung, die armseligen +Tropfen, die in den Kirchen fließen, wenn der +Pfarrer von der Kanzel die Ergebenheit in Gottes +Willen predigt. Zorn und Leid stritten in mir: Zorn, — <a name="Page_103" id="Page_103"></a>daß +Armut und Religion die Menschheit so um ihre +Würde hatten betrügen können, Leid, — daß von dieser +Menschen Kampfeslust und Ausdauer Sieg oder Niederlage +abhängen würde.</p> + +<p>Beim Ausgang traf ich meine Mutter. Mit einer +Anzahl bekannter Damen hatte sie der Versammlung +beigewohnt. Sie waren alle erfüllt von dem Gehörten. +Die Ruhe der Rednerin und der Zuhörer hatte den +Eindruck nur verstärkt.</p> + +<p>In weitesten Kreisen, von den Nationalsozialen bis +in die Reihen der Konservativen hinein, schien das +Interesse für die Heimarbeiter rege zu sein. Meine +Mutter war voll Eifer; ich hatte sie um einer solchen +Sache willen nie so erregt, so lebhaft gesehen. Sie +zwang mich förmlich, an einer Zusammenkunft teilzunehmen, +die am nächsten Tage bei einem bekannten berliner +Geistlichen stattfinden sollte.</p> + +<p>Ich holte sie ab, um mit ihr hinzugehen, und fand +selbst meinen Vater voller Teilnahme. »Da ist dein +Platz, da kannst du was leisten,« sagte er, mir die Hand +schüttelnd, »da findest du uns alle an deiner Seite, +wenn es gilt, den jüdischen Konfektionären, diesen +Menschenschindern und Ausbeutern, das Handwerk zu +legen.« Eine ähnliche Stimmung beherrschte die Sitzung, +wenn auch der Wunsch nach einer friedlichen Lösung +des Konflikts und die bestimmte Hoffnung auf seine +Erfüllung von dem Einberufer sehr betont wurde.</p> + +<p>Er berichtete von dem Komitee, das sich kürzlich auf +Anregung der Ethischen Gesellschaft gebildet hatte, um +zwischen den Arbeitern und den Unternehmern eine Verständigung +anzubahnen. Männer und Frauen der ver<a name="Page_104" id="Page_104"></a>schiedensten +Parteirichtungen, deren Namen in der Öffentlichkeit +einen guten Klang hatten, gehörten ihm an. +Man beschloß, sich ihm gleichfalls anzuschließen. »Kommt +es trotz alledem zum Streik, so schaffen wir eine Hilfskasse,« +rief eine lebhafte kleine Dame, deren Energie +beim Durchsetzen ihrer Pläne sie bekannt gemacht hatte. +Man stimmte ihr ohne weiteres zu. »Wir müssen alle +Geschäfte boykottieren, die die Forderungen der Arbeiter +nicht bewilligen,« erklärte eine andere, und man überbot +sich in steigender Erhitzung in Vorschlägen zugunsten +der Sache. Ich erinnerte mich im stillen des Streiks +der westphälischen Bergarbeiter. Auch damals sprach +sich die öffentliche Meinung, soweit sie mir zu Ohren +kam, zugunsten der Kämpfenden aus, aber sie tatkräftig +zu unterstützen, daran wagte noch niemand zu denken. +Also doch ein Fortschritt?! Mein Optimismus regte +sich wieder.</p> + +<p>Ich berichtete Reinhard von dem Erlebten. »Halten +Sie die Leute vor allen Dingen bei ihrem Unterstützungsversprechen +fest. Alles andere ist Mumpitz,« sagte er. +Und ich lief von einem zum anderen, und ließ mir, wo +es irgend anging, schriftliche Zusicherungen geben. Inzwischen +arbeiteten im stillen auch die Vermittler, und +zu gleicher Zeit sah ich Martha Bartels und ihre Gefährtinnen, +wie sie unermüdlich nach ihrer eigenen Arbeit +treppauf, treppab stiegen, um die Begeisterung für +den Kampf anzufachen, der ihnen nicht nur unausbleiblich, +sondern erwünscht war. Sie schimpften laut +und leise über das Zögern und Warten der Fünferkommission: +»Wir pfeifen auf alle Versöhnungsduselei, +bei der wir doch nur den kürzeren ziehen. Wir wollen +<a name="Page_105" id="Page_105"></a>eine ehrliche Entscheidung auf dem Schlachtfeld.« Die +Ereignisse schienen ihnen recht zu geben.</p> + +<p>Am Abend des Kaisergeburtstages kam ich durch die +menschenwimmelnde Friedrichsstadt. Nüchtern wie +immer glänzten die Tausende elektrischer Birnen an +den Geschäftshäusern, verschlangen sich zur Kaiserkrone, +zum W. II, und nirgends zeigten sich Spuren einer von +Liebe befruchteten Phantasie, die neue persönlichere Huldigungen +hätte schaffen können. Irrte ich mich, oder +waren die Fassaden der großen Konfektionshäuser sogar +um einen Schein dunkler als sonst? Das Kaisertelegramm +an den Burenpräsidenten Krüger schien, so hieß es, den +Absatz deutscher Waren nach England lahmzulegen. Und +während Alldeutsche und Antisemiten jubelten, ballten +die Unternehmer die Fäuste im Sack.</p> + +<p>Die Versammlung, in die ich kam, bot ein anderes +Bild als die letzte: es war vor allem eine der Männer. +Und die Arbeiterinnen, die erschienen waren, gehörten +zu den besser Bezahlten, zu den Aufgeklärteren, den +Selbstbewußten. Etwas wie Siegeszuversicht schien sie +zu beherrschen. Sie wiesen mit Fingern auf die Herren +im Gehrock und Zylinder, sie tuschelten einander die +Namen der Chefs und Zwischenmeister zu, die der Einladung +der Arbeiterkommission heute gefolgt waren, sie +warfen hochmütig den Kopf zurück, wenn einer von +ihnen eine vertrauliche Begrüßung zu wagen versuchte. +Reinhard sprach. Er erläuterte die Forderungen der +Arbeiter. Seinem Temperament tat er sichtlich Gewalt +an. Eisige Ruhe begleitete während der ersten Viertelstunde +seine Rede. Dann unterbrach ihn eine gröhlende +Stimme: »Bezahlter Agitator —«, das war das Signal +<a name="Page_106" id="Page_106"></a>für die anderen. Kein Satz blieb ohne Zwischenruf. Je +dunkler die Flecken auf Reinhards Backenknochen sich +röteten, je mehr die straffen Haarsträhnen ihm an den +feuchten Schläfen klebten, und je heftiger die knochigen +Hände ihm zitterten, desto lauter, roher, unflätiger +wurde das Gebrüll der Zuhörer. Er sprach ruhig +weiter — von den elenden Löhnen der Frauen, von +ihrer sittlichen Gefährdung. »Sei man stille, Quasselkopp,« +schrie dicht neben mir ein dicker Kerl, mit Brillantringen +auf den roten Wurstfingern, »die Mächens wissen +schon, wofür wir jut zahlen.« Alles lachte. »Frag mal, +von wo die Kleene da ihren süßen, roten Lockenkopp +hat,« rief ein anderer. »Von de sittliche Jefährdung,« +brüllte aus dem Hintergrund eine ölige Stimme. Es +war kein Halten mehr. Man überbot sich in zynischen +Witzen. Und die Frauen, die vorhin so kampfbereit, so +unnahbar schienen? Sie kicherten in ihre Taschentücher, +einige lachten kokett die ärgsten Zotenreißer an. Reinhard +schwieg erschöpft. Die Diskussion war von der +allgemeinen Ulkstimmung beherrscht. Nur zuletzt, als +es zur Abstimmung gehen sollte, erhob sich einer der +Meister, um eine Programmrede zu halten. Er sprach +vom Mittelstand, »dem sittlich gesunden Kern des Volkes, +der wahre Religion und echtes deutsches Familienleben +pflegt und hochhält,« und den »die Sozialdemokratie in +ihrer Respektlosigkeit angesichts der heiligsten Güter der +Nation« vernichten wolle. »Auch dieser uns angedrohte +Kampf ist nichts anderes als ein Vorstoß der Umsturzpartei +gegen die Staatsordnung, und zum Kanonenfutter +lassen die Dummen unter den Arbeitern sich gebrauchen. +Wir aber stehen wie ein Fels im Meer;« — unter +<a name="Page_107" id="Page_107"></a>dem Bravogeschrei der Zuhörer warf er sich stolz +in die Brust und bewegte pathetisch die Arme. »Wir +sagen nein und abermals nein und wissen, daß wir +trotz dem Geschrei der Gegner, trotz Streikdrohung, +immer noch so viel Arbeiter kriegen, als wir brauchen, — und +wenn wir sie von den Hottentotten nehmen +sollten.«</p> + +<p>Am Ausgang erwartete ich Reinhard. Ich sah, wie +Martha Bartels, von einer Schar lebhaft gestikulierender +Frauen umgeben, erregt auf ihn einsprach. »Es ist +kein Halten mehr,« sagte er im Nähertreten. »Nun +ist's aber auch höchste Zeit,« rief ich, noch heiß vor +Entrüstung. »Wir müssen das Eisen schmieden, solange +es warm ist, — in allen Kreisen findet der Streik +Unterstützung.« »Sachte, sachte, liebe Genossin,« wehrte +er ab. »Im Augenblick sind uns stärkere Knüppel +zwischen die Beine geworfen worden, als Ihre hilfsbereiten +Damen aufheben können. Wenn England die +deutsche Konfektion boykottiert, so können wir einpacken.«</p> + +<p>Der Termin für die Antwort der Unternehmer wurde +abermals herausgeschoben. In den Arbeiterkreisen begann +es bedenklich zu gären; es gab Leute, die schon +von Intrigen, Schmiergeldern und offenem Verrat +munkelten. In Hamburg, in Erfurt, in Stettin, in +Breslau brach der Streik aus, — in Berlin zögerte +man noch immer, scheinbar um dem Vermittelungskomitee +Zeit für seine Verhandlungen zu gewähren, in Wirklichkeit +aber, um die Entwickelung der Dinge in England +abzuwarten. Man glaubte an einen Krieg, zum +mindesten an einen wirtschaftlichen. Endlich liefen, so +zahlreich wie sonst, bei den großen Konfektionären die<a name="Page_108" id="Page_108"></a> +Bestellungen ein; und in einer Versammlung der Ethischen +Gesellschaft wurde, zugleich mit einer rückhaltlosen Sympathieerklärung +an die kämpfende Arbeiterschaft, das +völlige Scheitern der Einigungsversuche mitgeteilt.</p> + +<p>Im Bureau der Schneider-Gewerkschaft trat die Arbeiterkommission +zusammen. Es war wie im Hauptquartier +eines Krieges. Wir empfingen die Streikerklärung als +unsere Parole und unseren Marschbefehl. In riesigen +Plakaten wurde die Bevölkerung am nächsten Morgen +zu den Versammlungen eingeladen, mein Name stand +unter denen der vierzehn Referenten.</p> + +<p>Ich saß mit meiner Rede beschäftigt am Schreibtisch, +als es draußen zweimal heftig klingelte. Der Vater! — »Dein +Name steht auf den Litfaßsäulen unter lauter +Sozialdemokraten,« brauste er mich an.</p> + +<p>»Du bist auf der Seite der Streikenden, wie ich +weiß, du selbst hast mich ermuntert.« Er ließ mich nicht +ausreden. »Nicht um ein ungesetzliches Vorgehen zu +unterstützen, — du mußt deinen Namen augenblicklich +zurückziehen —«. Er stierte mich an mit dem wilden +Blick, den ich so fürchtete. Ich lehnte mich zitternd an +den Schreibtisch. »Fahnenflüchtig?! Nein! Wär' ich's, +du würdest dich bei ruhiger Überlegung meiner schämen +müssen.« Er umklammerte mein Handgelenk. »Soll ich +mein Kind verlieren?« stieß er hervor, sein Atem keuchte, +die Augen traten aus den Höhlen.</p> + +<p>»Ich kann mein Wort nicht brechen, — auch mir +selbst gegenüber nicht,« flüsterte ich. Ein Ruck ging +durch seinen Körper, meine Hand stieß er von sich, faßte +sich ein paarmal mit den Fingern an den Kragen, als +würde er ihm zu eng, und schritt festen Schrittes, wort<a name="Page_109" id="Page_109"></a>los, +der Türe zu. Ich hörte sie zufallen, — eine zweite +knarrend sich öffnen, — heftig ins Schloß zurückschlagen; +ich lief ans Fenster: ein alter Mann ging über den Hof, +sehr langsam, tief gebückt, schwer auf den Stock sich +stützend. O, daß er nur ein einziges Mal den Kopf noch +wenden möchte, — aber der starre Nacken bewegte sich +nicht. Schluchzend brach ich zusammen.</p> + +<p>»Alix!« Heinrichs entsetzter Ruf brachte mich wieder +zu mir. Er hatte den Vater fortgehen sehen und war, +alle Vorsicht vergessend, zu mir geeilt. »Wirst du heut +abend sprechen können?!« »Gewiß, — nun bin ich ja +ganz — ganz frei!« Die Tränen waren versiegt, mir +war, als läge mein Herz zu Eis erstarrt in meiner +Brust. Selbst der Geliebte kam mir plötzlich fern und +fremd vor.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Für die Kriegserklärung, die ich heute abzugeben +hatte, war es die rechte Vorbereitung: kein +weiches Gefühl konnte mich überwältigen, eiserne +Entschlossenheit beherrschte mich. Zu<em class="spaced"> einer</em> Riesenkraft +wollte ich die schwarze Menschenmasse vor mir zusammenschweißen, +von<em class="spaced"> einem</em> unbeugsamen Willen beseelt. +Und ich richtete die Paläste der Unternehmer vor ihren +Augen auf, die ihre Arbeit gebaut hatte, und wies auf +ihre üppigen Tafeln, die ihr Hunger deckte. Ich zeigte +ihnen die seidenen Kleider ihrer Frauen und ihrer Mätressen, +an denen der Schweiß der Arbeiterinnen klebte, +und ihre Edelsteine, in denen das Augenlicht derer gefangen +war, die es in nächtlicher Arbeit verloren hatten. +Ich fühlte: schon war die Luft erfüllt vor unsichtbarem<a name="Page_110" id="Page_110"></a> +Sprengstoff. Und nun sprach ich von der kommenden +Schlacht, die nichts sei als ein Teil des großen Krieges +zwischen unverschuldeter Armut und schuldbeladenem +Reichtum; sprach von alledem, was der Preis ihres +Mutes, ihrer Ausdauer sein würde, und doch nur darum +von unschätzbarem Werte sei, weil es sie geistig +und körperlich fähig mache, den Menschheitsfeldzug bis +zu Ende zu führen. »Eure Sache ist die Sache der +ganzen Arbeiterschaft. Jede Schwäche von euch ist ein +Verrat an ihr ...«</p> + +<p>»Eine demagogische Hetzrede,« sagte jemand, als ich die +Tribüne verließ. »Prachtvoll« — versicherte mir ein sozialdemokratischer +Reichstagsabgeordneter händeschüttelnd. +Ich sah fragend um mich: erstaunte, bewundernde, auch +tränenfeuchte Blicke begegneten den meinen, aber vom +Fieberfanatismus der Kriegslust bemerkte ich nichts. +Verständnislose Verlegenheit lag zum Teil auf den abgehärmten +Zügen der Frauen. »Was hat sie gemeint?« +hörte ich flüstern. »Was sollen wir tun?« »Und wie +gerade die Damenmäntel dann bezahlt werden, sagte sie +nicht« — »ob wir gleich in die Betriebswerkstätten +kommen?« — Mir sank der Mut. Heinrichs Lob — er +hatte sich's nicht nehmen lassen, mich zu begleiten — schien +mir von Mitleid diktiert.</p> + +<p>Zu Hause fiel ich sofort in den Schlaf der Erschöpfung. +Mitten in der Nacht fuhr ich entsetzt aus +dem Traum; irgendein langgezogener Ton weckte mich. +Ich sprang aus dem Bett. Aus den Fenstern drüben +drang helles Licht. Die Schatten vieler Menschen bewegten +sich hastig hin und her. Gellende Schreie klangen +über den Hof.</p> + +<p><a name="Page_111" id="Page_111"></a>Jetzt — jetzt wand sich das unglückselige Weib, das +ich betrogen hatte, in gräßlichen Schmerzen, — und das +Kind — meines Geliebten Kind! — kam zur Welt. Kalter +Schweiß trat auf meine Stirne. Das flackernde Licht +von drüben malte gespenstische Gestalten in mein Zimmer. +Ein großes Ungeheures beugte sich über mich, die +zusammengekauert, frostgeschüttelt am Fenster hockte. Es +griff mir in den Nacken mit spitzen Krallen, es wuchs — wuchs, +erfüllte den ganzen Raum — die Wohnung — das Haus — die Welt. +»Ich bin die Schuld — deine +Schuld!« gellte es in meinen Ohren mit dem letzten +Schrei des Weibes drüben ...</p> + +<p>»Es steht gut — Mutter und Kind sind wohl —« +Heinrich stand vor mir, leichenblaß; »aber +du —« er sah mich erschrocken an, wie eine +schwere Krankheit lag die Nacht hinter mir, — »wenn +du jetzt schon zusammenbrichst, wo das Schwerste bevorsteht!«</p> + +<p>»Nachdem ich das überstanden, gibt es nichts Schwereres —«</p> + +<p>Ich war in der nächsten Zeit fast nie zu Hause. +Wenn ich früh erwachte, müde, als hätte ich +kein Auge zugetan, so schien mir's, als stünde +jenes große Ungeheure hinter mir, vor dem ich unaufhörlich +die Flucht ergreifen mußte. Nur wenn ich draußen +war, fern dem Bannkreis dieses Hauses, wenn die Not +der anderen, die der Streik aufdeckte und gebar, sich +zwischen mich schob und meine Schuld, atmete ich freier.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_112" id="Page_112"></a></p> + +<p>Ich saß auf der Reichstagstribüne, als die nationalliberale +Interpellation, die Lage der Konfektionsarbeiterinnen +betreffend, zur Verhandlung +kam und alle bürgerlichen Parteien ihr arbeiterfreundliches +Herz entdeckt zu haben schienen. Was noch +kein preußischer Minister zu denken gewagt hatte — daß +eine Arbeitseinstellung berechtigt sein kann —, das +erklärte Herr von Berlepsch vor der deutschen Volksvertretung +angesichts dieses Streiks. Kein Zweifel: der +Riesenkampf, den die Ärmsten der Armen kämpften, wird +kein vergeblicher sein, eine neue Ära sozialer Reformen +bricht an. Und dem Verdikt des Reichstags werden die +Unternehmer sich beugen müssen. Ich verstand nicht, +warum der Redner der sozialdemokratischen Fraktion sich +angesichts dieser Kundgebungen so skeptisch äußern konnte. +Im ganzen Reich wurde für die Streikenden gesammelt. +Neben den Bureaus der Streikkommission, +in denen Streikkarten ausgestellt und Unterstützungsgelder +gezahlt wurden, richteten bürgerliche Vereine +Hilfsstellen ein, wo Nahrungsmittel und Kleidungsstücke +zur Verteilung kamen.</p> + +<p>Stolz, oft übermütig in ihrer Hoffnungsfreudigkeit +stellten sich in den ersten Tagen die Streikenden ein. +Von Unterstützung wollten sie nichts wissen, nur ihre +Karten ließen sie sich geben.</p> + +<p>»Wir halten aus,« sagte ein junges, bleichsüchtiges +Mädel, und ihre Augen blitzten dabei. »Die Unternehmer +haben uns für sich hungern lassen, nun hungern +wir mal für uns selber —« und, ein Liedchen trällernd, +war sie wieder draußen. Selbst auf den Ge<a name="Page_113" id="Page_113"></a>sichtern +alter müder Frauen lag ein stilles Leuchten. +Ein halbwüchsiger Bengel, der in Begleitung seiner +Mutter kam, verkündete triumphierend: »Wir arbeeten +jetzt for drei, damit Muttern feiern kann,« und lächelnd +streichelten ihre zerstochenen Finger seine Wange: »Nu +kommen ooch janz andere Zeiten!«</p> + +<p>Oft standen die engen Bureauräume gedrängt voll +Wartender. Dann flogen Witze hin und her; vom +»Meester« erzählten sie einander, der mit der »Ollen« +händeringend in der leeren Bude stand. »Noch janz +anders soll die Gesellschaft winseln! Laßt man erst acht +Tage ins Land jehen, denn werden sie zu uns bitten +kommen,« rief ein krummbeiniges Schneiderlein. »Wir +werden ihr Mores lehren, der Rasselbande!« fügte +zähneknirschend ein anderer hinzu.</p> + +<p>Allmählich änderte sich das Bild: Blasse Frauen, die +unsicher und ängstlich blickten, mit Kindern auf den +Armen und an der Schürze, drängten sich um die Zahlstellen; +das morgens angehäufte Geld, das mir unerschöpflich +schien, war jeden Abend wieder ausgegeben. +Auch Männer kamen, Familienväter, mit zusammengepreßten +Lippen. Die Witze verstummten. Finstere Entschlossenheit +lag in dem Schweigen der Wartenden. +Aber immer noch traten welche an den Tisch, die nichts +verlangten, als die Ausfüllung ihrer Streikkarten. Auch +Frauen waren unter ihnen. Eingesunkene Wangen, +trockene Lippen, fiebrige Augen sprachen vom Heldenmut +der Hungernden. Verlegen schob sich wohl auch ein +junges Mädel durch die Türe und streckte die Hand +nach dem Gelde aus. »Schämst du dir nicht!« schrie +einer einmal eine hübsche Brünette an, mit Rosen +<a name="Page_114" id="Page_114"></a>auf dem kecken Filzhut, und riß sie unsanft zurück, »hat +noch so'n Deckel auf'n Kopp und Glacénene an die +Finger und will den ollen Weibern das Brot nehmen?!« +Kam aber gar ein kräftiger Mann, so hagelte es empörte +Schimpfworte: ein Verräter, wer in seinem Opfermut +nicht bis zum Äußersten ging.</p> + +<p>Und dann kamen die Tage, wo sie in dichtgedrängten +Scharen bis auf die Straße hinunterstanden, und keiner +mehr war, den der Hunger nicht bezwungen hätte. Viele +schämten sich, daß sie unterlegen waren; sie wagten kaum +den Kopf zu heben, wenn sie vor den Zahltisch traten. +Zusammengesunken erschienen andere vor Mutlosigkeit. +»Erreichen wir's?« flüsterte fragend der eine, »geben sie +endlich nach?!« der andere. Tränenumflorte Augen +richteten die Frauen auf uns, scheue Blicke voll Zweifel +und Mißtrauen die Männer. Und nichts als Schweigen, +als Achselzucken konnte die Antwort sein. Die Kassen +füllten sich langsamer; der aus rührseliger Sentimentalität +entstandene Enthusiasmus bürgerlicher Kreise verpuffte +wie ein Feuerwerk. Die Unternehmer hielten aus; +sie hatten noch immer genug zu essen. Und die Opferwilligkeit +der deutschen Arbeiterschaft für die kämpfenden +Brüder hatte ihre äußerste Grenze erreicht.</p> + +<p>Ich sah Reinhard nur flüchtig. Die hektische Röte +wich nicht mehr von seinen Backenknochen. Er hatte +keine ruhige Minute.</p> + +<p>»Wir sind am Ende,« sagte er mir mit rauher +Stimme, als wir uns in einem der Streikbureaus +wieder begegneten. Es traf mich wie ein Peitschenschlag. +Was hatte ich damals denen, die ich zum +Streik aufrief, als sicheren Lohn ihres Ausharrens in<a name="Page_115" id="Page_115"></a> +Aussicht gestellt! Würden sie mir jemals wieder vertrauen +können?! »Die Forderung der Betriebswerkstätten +werden wir fallen lassen müssen —.« »Gerade +das?! Die Hauptsache!« rief ich. »Das einzige Mittel +vielleicht, um dem Elend der Heimarbeit, um der Ausbeutung +der Zwischenmeister ein Ende zu machen!« — »Gerade +das. Wir wollen froh sein, wenn sich der +Lohntarif durchsetzen läßt und der Reichstag sein Versprechen +einer durchgreifenden Gesetzgebung einlöst.«</p> + +<p>Schweren Herzens kam ich an jenem Tag in das +Bureau. Es war überfüllt, und lautes Stimmengewirr +drang mir entgegen. »Die Führer verraten uns!« rief +einer. »Wir können hungern, und sie stopfen sich die +Taschen —,« brüllte ein anderer. Ein paar keifende +Weiber hieben mit Fäusten auf den Zahltisch: »Betrüger +seid Ihr, — Ausbeuter, — schlimmer als die +Meister,« schrien sie den Dahinterstehenden ins Gesicht, +die das Geld abzählten. »Wir haben nichts mehr —,« +flüsterte einer der Gewerkschaftsbeamten mir hastig zu, +»— es war ein Ansturm ohnegleichen.« Ich lief die +Treppe wieder hinab, sprang in die nächste vorüberfahrende +Droschke und fuhr zur Zentralstelle der Ethischen +Gesellschaft. Heute, so hatte man mir mitgeteilt, sei +eine beträchtliche Summe eingelaufen. Ich ließ mir +geben, was zur Verfügung stand, — es war auch nur +ein Tautropfen, der im Augenblick in der durstenden +Erde verschwinden würde, — und fuhr zurück, so rasch +der arme Schimmel laufen konnte. Vor dem Bureau +stauten sich die Menschen. Ein paar Polizisten hielten +mühsam die Straße frei. Ich sprang aus dem Wagen +und versuchte mich vorzudrängen. »Wat, so eene biste, +<a name="Page_116" id="Page_116"></a>daß de erster Jüte fährst?« schrie mich eine rohe Stimme +an, und eine Faust stieß mich in den Rücken. Ein paar +Burschen, die nach Fusel rochen und mit den Konfektionsarbeitern +sichtlich nicht das Geringste zu tun hatten, +überschütteten mich mit unflätigen Redensarten. Ich +versuchte, mir mit ein paar Ellbogenstößen freie Bahn +zu schaffen, während meine Hände die Geldtasche angstvoll +umklammerten. »So loof doch, loof — wir werden +dir Beene machen,« gröhlten sie und ich fühlte ihre +Fäuste wieder auf meinem Rücken. Ich schrie laut auf. +Im Augenblick war ich von bekannten Gesichtern umgeben, +ich hörte noch ein paar Ohrfeigen rechts und +links und war halb getragen, halb geschoben im Zimmer.</p> + +<p>Am Abend war auch das letzte Geld verteilt.</p> + +<p>In diesem Augenblick der Not kam es zu einer überraschenden +Wendung: ein Teil der Zwischenmeister, empört +darüber, daß die Unternehmer ihnen alle Schuld +an den schlechten Löhnen zuzuschieben suchten, machten +gemeinsame Sache mit den Arbeitern, und die Fabrikanten, +die nunmehr ernstlich in Gefahr standen, die +Einnahmen der Saison zu verlieren, die aber andererseits +auch genug von der Lage der Dinge unterrichtet +waren, um zu wissen, daß die Streikenden das Ende +ihrer Widerstandskraft erreicht hatten, riefen offiziell die +Vermittlung des Gewerbegerichts an. Die Fünferkommission +der Arbeiter, davon in Kenntnis gesetzt, zögerte +nicht, auch ihrerseits mit dem Einigungsamt in Verbindung +zu treten. Im Bürgersaal des berliner Rathauses, +vor einem vielhundertköpfigen Publikum, kam +es zur Verhandlung und zur endlichen Unterzeichnung +eines Vertrags, dessen wichtigste Bedingungen die Er<a name="Page_117" id="Page_117"></a>höhung +der Löhne und die Gegenseitigkeitsverpflichtungen +in bezug auf die Durchführung der Lohntarife waren. +Von den Betriebswerkstätten war gar keine Rede mehr.</p> + +<p>Die Streikleitung berief die Referenten zu einer neuen +Sitzung. In öffentlichen Versammlungen sollten wir +das Ende des Streiks verkünden. Ich versuchte, mich +frei zu machen. »Wir haben Ihr Wort, Genossin Glyzcinski,« +sagte einer der Führer mit scharfer Betonung. +»Wie kann ich diesen Ausgang als einen Sieg verteidigen,« +wandte ich ein. »Darüber mögen Sie denken, +was Sie wollen,« entgegnete Martha Bartels heftig, +»hier haben Sie einfach Ihre Pflicht zu tun, wie wir +alle.« Flüchtig fuhr mir durch den Kopf, daß ich aus +meiner Welt dem Zwang der Pflicht entflohen war, um +meiner Überzeugung zu folgen, aber ich fühlte mich viel +zu müde, um jetzt darüber nachzudenken. Ich fügte mich +stillschweigend. Als eine Wohltat sah ich es an, daß +ich wenigstens nicht in demselben Saal, vor denselben +Menschen sprechen mußte. Weit in den Osten, in die +Andreasstraße, schickte man mich. »Sie werden keinen +leichten Stand haben,« sagte Reinhard beim Weggehen, +»es ist das Hauptquartier der Anarchisten.«</p> + +<p>Heinrich Brandt begleitete mich auf dem Wege zur +Versammlung. Wir hatten uns in der Zwischenzeit nur +immer auf Minuten gesehen. Erst jetzt, wo Rosalie +schon seit einigen Tagen aufgestanden war, schwand +unsere Angst um sie. Das Wochenbett war normal +verlaufen; sie nährte den Kleinen und schien seelenruhig. +Trotzdem war Heinrich heute wortkarg, und sein ausdrucksvolles +Gesicht, das jede Stimmung verriet, erschreckte +mich. Aber soviel ich auch in ihn drang, er +<a name="Page_118" id="Page_118"></a>meinte, es sei nichts, gar nichts geschehen, ich solle +lieber an meinen Vortrag denken, als über die Ursache +seiner schlechten Laune nachgrübeln.</p> + +<p>Der kleine Saal war schon voll, als ich kam. In +allen Händen sah ich weiße Zettel, mein Auge fiel auf +lauter erregt gerötete Gesichter. Bei der Wahl des +Bureaus siegte der Führer der Anarchisten mit riesiger +Mehrheit über unseren Kandidaten. Ich empfand es +fast wie eine Erleichterung —, »nun werden sie mich +gar nicht reden lassen,« flüsterte ich Heinrich zu. Aber +schon stand der junge blonde Mann mit den zarten +Mädchenzügen auf der Tribüne: »Ich erteile der Referentin +Frau von Glyzcinski das Wort«, und mit einer +höflichen Handbewegung machte er mir neben sich Platz.</p> + +<p>Ich sprach schlecht. Keinen Augenblick konnte ich +meiner eigenen Empfindung, meinen innersten Gedanken +folgen. Ich war nur ein Sprachrohr. Trotz der musterhaften +Leitung des jungen Anarchisten, der die Ruhe +immer wieder herzustellen suchte, unterbrachen mich Zurufe +aller Art: sarkastische, gemeine, wütende. Dazu +Heinrichs Gesicht, auf dem meine Blicke immer wieder +haften blieben —, ich verlor den Faden, verwirrte mich, +wurde ängstlich. Man rief höhnisch »Bravo«, als ich +geendet hatte. Und dann sprach der Vorsitzende. Seine +ganze Rede war ein feuriger Appell an das Proletariat, +eine glühende Anklage der Streikleitung. Im Moment, +wo aus England Millionen an Unterstützung zu erwarten +seien, habe sie sich feige den Kapitalisten unterworfen +und die Sache des Volks verraten. An ihm sei es nun, +zu zeigen, daß es sich von keiner Seite knebeln lasse, +daß es den Kampf nicht nur fortsetze, sondern ausdehne, +<a name="Page_119" id="Page_119"></a>bis ein Generalstreik dem Volk die Macht verleihe, +dem Unternehmertum seine Gesetze zu diktieren. In +jedem Wort, das er aussprach, brannte das Feuer seiner +Überzeugung, und alles jauchzte ihm zu. Meine Resolution +wurde abgelehnt, die seine, die die Fortsetzung +des Streiks erklärte, angenommen. Durch einen Nebeneingang +ließ man mich hinaus. Man hätte mich sonst +vor den Insulten der fanatisierten Menge nicht schützen +können.</p> + +<p>Der Streik war trotzdem zu Ende. Die englischen +Millionen waren nichts als ein Märchen. Ein paar +Tollkühne hungerten noch eine Woche länger —, das +war alles.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Wir gingen durch den Tiergarten heimwärts, +Heinrich und ich. Die Kälte tat mir +wohl. »Am liebsten zöge ich selbst solch +Schneekleid an, um ganz, ganz kalt zu werden,« murmelte +ich. Eine große Hoffnungslosigkeit hatte sich +meiner bemächtigt.</p> + +<p>»Nun sollst du auch wissen, was mir fehlt,« sagte +Heinrich, auf dessen Arm ich mich müde stützte. »Ich +hatte heute eine böse Szene mit Rosalie. Sie will in +den Süden — auf Monate — mit mir. Um unsere +Ehe wieder herzustellen, wie sie sagt. Ich weigere +mich, brauchte lahme Ausreden, die sie durchschaute. +Sie bekam einen Weinkrampf, dann warf sie mir vor, +daß ich das Kind töten wolle, indem ich sie, die nährende +Mutter, nicht schone.«</p> + +<p>Er blieb aufatmend stehen.</p> +<p><a name="Page_120" id="Page_120"></a></p> +<p>»Und du?!«</p> + +<p>»Ich versprach ihr jede Rücksicht, — nur mit ihr +reisen könne ich nicht. Jetzt fordert sie eine Auseinandersetzung, +auch mit dir. Zwei Tage hat sie mir Zeit gegeben.«</p> + +<p>»Sie hat recht,« sagte ich, »auch sie zieht ein Ende +mit Schrecken dem Schrecken ohne Ende vor.«</p> + +<p>Ich zwang mich zur Ruhe, — seinetwegen.</p> + +<p>Die beiden Tage schleppten sich hin wie ebenso viele +Jahre, jede Stunde beladen mit Qualen, mit Selbstvorwürfen, +mit Zweifelfragen. Hatte ich nicht das +Leben dieser Menschen zerstört, hatte den, der mir auf +der Welt der liebste war, in einen Kampf gerissen, der +für ihn vielleicht des Einsatzes nicht wert sein würde, +hatte dem Kinde schon im Mutterleibe den Vater gestohlen!</p> + +<p>Und dann kam der Tag und die Stunde. Ich wartete +von mittags bis abends. Jeder Schritt auf dem +Hof ließ mich auffahren, vor jedem Laut, der von +drüben klang, zitterte ich. Minuten gab es, in denen +ich die Hände faltete, wie ein kleines Kind, wenn sinnlose +Angst es den schützenden Vater im Himmel suchen +ließ. Aber durfte ich beten — ich! —, selbst wenn ich +noch glauben könnte?! Die Bilder auf meinem Schreibtisch +starrten mich an und sahen mir nach, wohin ich +auch im ruhelosen Auf- und Abwandern mich wandte: +der Vater, der einst einen braven Offizier seines Regiments +für unwürdig erklärt hatte, weiter des Königs +Rock zu tragen, weil er das Weib eines andern liebte; +die Mutter, deren ganzes Leben unter dem einen Gesetz +der Pflichterfüllung stand; — aber lugte nicht neben ihr +<a name="Page_121" id="Page_121"></a>aus dem Rahmen ein stilles, edles Antlitz hervor mit +gütigen dunkeln Augen? »Großmama,« schluchzte ich +leise. O, daß ich den Kopf in ihrem Schoß vergraben, +ihr beichten und aus ihrem Munde mein +<em class="antiqua">Absolve te</em> hören dürfte!</p> + +<p>War das nicht sein Schritt? Ich riß das Fenster +auf. Klang nicht ein Ruf zärtlich aus dem Dunkel? +Mit angehaltenem Atem horchte ich. Klopfte es nicht +an der Pforte? Oder war es mein eigenes Herz, das +ich hörte? Ich blieb auf dem engen, kleinen Flur, an +die Mauer gelehnt, mit krampfhaft aufgerissenen Augen +und pochenden Schläfen. Die Treppe draußen knarrte, +ich griff an die Klinke, die Türe sprang auf —</p> + +<p>»Alix!« Welch ein Ton war in seiner Stimme! +Halb bewußtlos sank ich in seine weitgeöffneten Arme.</p> + +<p>»Sie willigt in die Scheidung.«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_122" id="Page_122"></a></p> +<h2><a name="Viertes_Kapitel" id="Viertes_Kapitel"></a>Viertes Kapitel</h2> + + +<p>An einem jener norddeutschen Apriltage, wo +Frühling und Winter einander wie Feinde vor +dem Ausbruch des Kampfes lauernd umschleichen, +die Sonne auf hellen Plätzen Sommergrüße +vom Himmel sendet und daneben der feuchtkalte Wind +triumphierend durch schattige Straßen fegt, ging ich +zum Abschiednehmen zu den Eltern.</p> + +<p>Seit jenem Tage, wo mein Vater mich im Zorn +verlassen hatte, war ich nicht mehr bei ihnen gewesen. +Selbst die notwendigen geschäftlichen Auseinandersetzungen, +die sich an den Tod einer Verwandten und der mir und +meiner Schwester zugefallenen kleinen Erbschaft knüpften, +hatte mein Vater schriftlich erledigt. Jetzt aber hatte er +mich vor meiner Abreise noch einmal sehen wollen.</p> + +<p>Er empfing mich ernst und gemessen. »Du siehst +schlecht aus,« sagte er dann und ein liebevoll besorgter +Blick strafte seine äußere Strenge Lügen. Ich wußte +es: die letzten Monate hatten meine Nervenkraft erschöpft; +ich bedurfte der Erholung, aber mehr noch des +Fernseins von Berlin während des bevorstehenden Scheidungsprozesses. +»Die Erbschaft kommt dir wirklich zustatten,« +fuhr er fort. Er ahnte nicht, in welchem Umfang +er recht hatte!</p> + +<p><a name="Page_123" id="Page_123"></a>Eine konventionelle Unterhaltung entspann sich. Und +doch war mir das Herz so voll: ich allein wußte von +uns allen, wie weit ich mich mit diesem Abschied von +ihnen entfernte, — vielleicht auf Nimmerwiedersehen. +Ein Wort der Dankbarkeit, der Liebe hätte ich gern +gesagt; — in der Temperatur, die zwischen uns herrschte, +erfror es, noch ehe es über die Lippen kam.</p> + +<p>»Es ist mir nicht recht, daß du allein in die Welt +hineinreist,« sagte mein Vater, als ich schon an der Türe +stand, »Ihr Jungen denkt anders darüber, — Einfluß +habe ich keinen mehr, — ich kann nur hoffen, daß du +dich stets erinnerst, was du deinem Namen schuldig bist.« +Seine Augen ruhten forschend auf mir. Ich reichte +ihm stumm die Hand: »Lebewohl, Papa —« Ich zwang +meine Stimme, nicht zu zittern. »Lebwohl,« antwortete +er mit einem Seufzer. Einen Kuß gab er mir nicht +mehr.</p> + +<p>Die Mutter begleitete mich auf den Flur.</p> + +<p>»Hast du etwas besonderes zu schreiben,« sagte sie +mit Betonung, »so lege stets einen besonderen Zettel +dem Brief an mich bei, damit ich ihn Hans ohne Schaden +zeigen kann.« Ich hatte die Empfindung, daß mein +Weggehen sie erleichtere. Ilse kam noch bis auf die +Straße mit mir.</p> + +<p>»Du, Schwester, ist es wahr, daß <em class="antiqua">Dr.</em> Brandt sich +deinetwegen scheiden läßt?!« flüsterte sie hastig mit glänzenden +Augen. Aufs peinlichste überrascht starrte ich sie +an. Sie preßte mir stürmisch die Hand: »Du, — das +ist furchtbar interessant! Freilich —« und nachdenklich +kaute sie an der Unterlippe — »mit Papa werden wir +wieder aushalten müssen!«</p> + +<p><a name="Page_124" id="Page_124"></a>Ein Regenschauer trieb sie ins Haus zurück. Fröstelnd +zog ich den Mantel fester, der Wind zerrte daran und +warf mir eiskalte Tropfen ins Gesicht.</p> + +<p>Am Abend fuhr ich nach München, wo Heinrich den +Zug bestieg. Er hatte seine Söhne in Pension, Rosalie +und den Kleinen mit der Pflegerin aufs Land gebracht.</p> + +<p>»Es gab wieder eine Szene,« erzählte er, »ihre innere +Stimme, an die sie nun einmal glaubt, hat ihr gesagt, +daß du mich unglücklich machen würdest. Aus Mitleid +wollte sie darum alles verzeihen und mich in Gnaden +wieder aufnehmen. Als ich darauf verzichtete, prophezeite +sie mir mit dem Pathos einer Kassandra, ich würde +noch einmal kniefällig um ihre Liebe betteln. Und als +auch das ohne Eindruck blieb, machte sie allerlei dunkle +Andeutungen über Zeugenaussagen im Prozeß, und die +Pflegerin lachte mich dabei so impertinent an, daß ich +grob wurde.«</p> + +<p>»Nicht umsonst habe ich mich immer vor ihr gefürchtet,« +sagte ich trübsinnig.</p> + +<p>»Mein armer, kleiner Angsthase!« lächelte er, halb +ungeduldig, halb belustigt. Im Lexikon seiner Gefühle +hatte das Wort »Furcht« keinen Platz gefunden. »Du +bist so tapfer und kannst so feige sein! Haben wir +nicht bisher schon über alles Erwarten Glück gehabt, +und du willst verzagen — gerade jetzt, wo wir dem +Frühling entgegenfahren?«</p> + +<p>Voll tiefen Vertrauens lehnte ich mich in den Arm +zurück, der mich umschlang, und sah still den weißen +Flocken zu, die vor den Fenstern tanzten, und den in +dunkeln Schleiern schwer herabhängenden Wolken, die +der Zug durchschnitt. Es tat so gut, sich in der Obhut +<a name="Page_125" id="Page_125"></a>des Geliebten zu wissen, seinen starken Schultern aufzubürden, +was ich allein nicht hätte tragen können.</p> + +<p>Auf dem Brenner glänzte die Sonne über frisch gefallenem +Schnee, aber von den Bergen stürzten schon +frühlingsfroh die entfesselten Wasser. In Gossensaß, +wo die Bergwände sich noch einmal finster zusammenschoben, +braute wieder der Nebel um dunkle Fichten +und winterstarres Gebüsch, hinter Franzensfeste jedoch +stand das breite Tal in blühendem Lenzkleid und öffnete +die Arme weit, um all die frierenden Wanderer an +seine warme Brust zu ziehen. Frohlockend wiesen von +allen Höhen weiße Kirchlein mit spitzen Fingern hinauf +zur Sonne, die behaglich lachend am blauen Himmel +stand. Auf den knorrigen Ästen alter Obstbäume saßen +junge lustige rote und weiße Blüten. Ohne Ehrfurcht +vor dem grauen Alter der Ruinen, der nüchternen Heiligkeit +der Klöster, fluteten in blauen Kaskaden die +süß-sehnsüchtigen Blumendolden der Glyzinien über die +Mauern, vom Liebesspiel buntschillernder Käfer umtanzt.</p> + +<p>Im brixener Gasthof zum Elefanten machten wir +Rast. Nur das riesige Bild des Rüsseltiers, dem er +seinen Namen verdankt, erinnerte noch an die Zeit, wo +Kaiser und Könige auf der Romfahrt hier Einkehr +hielten. Jetzt saßen nur wenige unscheinbare Leute in +dem niedrigen, dunkel getäfelten Gastzimmer. Sicher: +hier kannte uns niemand. Aber kaum saßen wir vor +der Schüssel, die verheißungsvoll nach gut österreichischer +Mahlzeit duftete, als ein Herr an unseren Tisch trat, +Heinrich freudig begrüßend. Umsonst, daß dieser die abweisendste +Miene machte, den Fremden weder nötigte, +Platz zu nehmen, noch ihn mir vorstellte. In seiner<a name="Page_126" id="Page_126"></a> +Freude, einen Bekannten zu treffen, besorgte er das +ohne weiteres selbst; er hielt mich für Heinrichs Frau +und kündigte uns mit vielem Geräusch die Bekanntschaft +seiner Familie an. »Wir werden nicht bleiben können,« +sagte Heinrich langsam, als er sich endlich empfahl, »es +sind Berliner.« Ich zuckte die Achseln. »Diesmal bin +ich die Mutigere von uns beiden. Mir ist nichts so +gleichgültig als der Klatsch.«</p> + +<p>»Aber ich dulde nicht, daß man dich verdächtigt,« +brauste er auf.</p> + +<p>In aller Frühe am nächsten Morgen fuhren wir +weiter bis nach Trient. »Hierher kommt keiner unsrer +Landsleute,« hatte Heinrich gesagt. Und in der +Tat: in den großen Palasträumen des Hotel Trento +sprachen selbst die Kellner nur ein gebrochenes Deutsch. +Ob wir uns hier ein paar Wochen würden ausruhen +können? Wir hatten sehr das Bedürfnis danach.</p> + +<p>Vor dem Balkon meines Zimmers lag der weite Platz +mit dem ehernen Denkmale Dantes. Mächtig zeichnete sich +seine schwarze Silhouette gegen den blauen Himmel ab, +zu beiden Seiten von den starren Felskulissen der Berge +eingerahmt. Aber der Platz zu seinen Füßen mit ein +wenig Rasen und ein paar kleinen immergrünen Büschen +sah im gelben Licht der Sonne öde aus.</p> + +<p>Wir gingen durch die Straßen: lauter graue Häuser mit +verwaschenen Farben und trüben Fenstern, Paläste dazwischen +mit verblichenen Fresken, Höfe mit alten ausgetrockneten +Brunnen und Säulengängen, unter denen +zerlumpte Wäsche hing, stolze wappengekrönte Tore mit +Firmenschildern aus Blech und Anzeigen aus Papier +benagelt und beklebt; ein Dom, geschmückt mit den zier<a name="Page_127" id="Page_127"></a>lichsten +romanischen Galerien, die hohen Portale von +säulentragenden Löwen bewacht, und darin auf dem +ausgetretenen Estrich, zwischen den Grabmälern edler +Geschlechter, ein paar alte Weiber, die kniend den +Rosenkranz durch schmutzige Finger zogen und mit zahnlosem +Munde Gebete plärrten. Und über der Stadt, +sie beherrschend, der prächtige Renaissancebau des alten +fürstbischöflichen Schlosses, ein unvergleichlicher Rahmen +üppiger Hofhaltungen, — eine Kaserne heute. In der +dämmernden Loggia auf dem Brunnenhof, wo die +Würdenträger des fürstbischöflichen Stuhls in roten +und violetten Gewändern beim Gesang des leise plätschernden +Wasserstrahls die kunstvollen Lettern pergamentgebundener +Bücher zu lesen pflegten, saßen Soldaten +und putzten Gewehre; in den hohen Sälen, von deren +gemalten Decken die Götter des Olymps auf die tafelnden +Priester des Gekreuzigten einst lächelnd herniedersahen, +standen Eisenbetten mit rauher Leinwand gedeckt, +an den Wänden, hinter deren kalkweißer Tünche prächtige +Bilder schlummern, hingen in Reih und Glied +Käppis und Tornister.</p> + +<p>Wir gingen schweigsam zurück. In den Gassen +lärmten ein paar Kinder: Mädchen mit seidenen Schleifen +im Haar und zerschlissenen Röckchen über den bloßen +Beinen, Knaben, die gierig um ein paar Kreuzer +rauften. Vor den Wirtshäusern auf dem schmalen +Trottoir saßen in schäbiger Eleganz junge Leute, die +lange Virginiazigarre zwischen den schwarzen Zähnen. +Die Sonne schien, aber ihre Strahlen trafen auf keinen +Lebenssamen, den sie hätten wecken können; die kahlen +Mauern, die baumlosen Straßen warfen nur sengende<a name="Page_128" id="Page_128"></a> +Glut zurück. Fürsten erbauten diese Stadt, und Bettler +haben sie daraus vertrieben.</p> + +<p>Wir aber suchten den Frühling. Ein Postwagen mit +vier Pferden davor entführte uns aus Trient. Je weiter +wir uns von der Stadt entfernten, die wie ein steinerner +Sarkophag in der Tiefe schlief, desto lachender wurde +die Natur. Auf den Wiesen blühten Lilien und +Glockenblumen, um die elendesten Hütten leuchteten +in rosiger Pracht die Mandelbäume. In Caldonazzo, +einem stillen Nest am Ende des Sees, der den klaren +Himmel auf die Erde zu zaubern schien, blieben wir. +Unter der Laube im Obstgarten der Trattoria, die von +gelben Rosen überwuchert war, wurde uns gedeckt. +Vino santo funkelte goldfarbig in den Gläsern, ein +kleines Mädchen mit großen runden Augen, wie geschliffene +Kohlen, setzte noch eine blaue Vase mit weißen +Lilien mitten auf den Tisch. Dann war es ganz, ganz +still um uns, ein heiliges Abendschweigen, das wir mit +keinem lauten Wort zu stören wagten. Unsere Hände +schlangen sich ineinander, fester zog mich sein Arm an +seine Brust, und sehnsüchtiger wurden unsere Küsse.</p> + +<p>Schlüsselklirrend ging der Wirt durch den Garten. +Wir standen auf. Vor der Tür meines Zimmers blieben +wir stehen, stumm, mit herabhängenden Armen, unsere +Augen versanken ineinander, und die ganze verzehrende +Qual unserer Liebe lag in unserem Blick. »Gute +Nacht!« — er berührte mit den heißen Lippen nur +meine Fingerspitzen.</p> + +<p>Ich schlief nicht. Durch das offene Fenster strich die +laue Luft und trug die süßen Gerüche der Wiesen auf +ihren Flügeln. Ich preßte die Zähne zusammen, um +<a name="Page_129" id="Page_129"></a>nicht den zu rufen, nach dem mein Herz verbrannte, +ich drückte die spitzen Nägel meiner Finger mir ins +Fleisch, um mit dem Schmerz die Qual zu betäuben, +die mein Blut durch die Adern peitschte.</p> + +<p>Draußen im Garten knirschte der Kies, — das Weinlaub +am Fenster bewegte sich, — schlich nicht ein Schatten +leise vorüber? — O, warum kommst du nicht, — sind meine +Arme nicht weich, lockt nicht mein Busen wie Perlmutter +glänzend in der Stille der hellen Mondnacht? Was +geht mich die Welt an?! Die sanften Höhen dieses blühenden +Tales umschließen die meine! Und die Menschen? +Da doch niemand ist, als ich und du! Und die Vergangenheit? +Sie gehört uns nicht mehr! Und die Zukunft? +Nichts ist unser als dieser Frühlingsnacht +zauberische Gegenwart! — —</p> + +<p>Aus kurzem, schwerem Morgenschlaf erwachte ich müde +und einsam. Wir trafen uns in der Rosenlaube, und die +Spuren nächtlicher Kämpfe lagen auch auf seinen Zügen.</p> + +<p>Der Telegraphenbote riß uns aus der Versunkenheit +unserer trüben Stimmung. Eine Depesche von Heinrichs +Rechtsanwalt: »Frau Brandt verlangt Schlüssel Ihrer +Wohnung, kehrt nach Berlin zurück. Stimmung nach +Mitteilung ihres Anwalts wesentlich verändert.« Das +Telegramm war uns von Bozen nachgesandt worden +und trug das Datum von vorgestern. »Ich muß nach +Berlin — sofort —. Sie kann alles zerstören,« knirschte +Heinrich, »und du — du Arme?!« »Zunächst begleite +ich dich, — alles weitere besprechen wir unterwegs.«</p> + +<p>In sausender Fahrt ging es bergab. Die Peitsche +des Kutschers pfiff über die schweißtriefenden Pferde. +Wir mußten den Schnellzug erreichen. Unterwegs be<a name="Page_130" id="Page_130"></a>kam +ich einen Herzkrampf. Als ich wieder zu mir kam, +ratterte der Wagen über das Pflaster Trients, und +Heinrichs angstentstelltes Gesicht beugte sich über mich. +»Wirst du weiter können?« Ich nickte. Man hob mich +in den Zug. Ich erholte mich soweit, um ruhig denken +zu können. Dicht bei Brixen lag unter großen Nußbäumen +ein kleines Dorf, Vahrn genannt; dort wollte +ich bleiben, bis —. »Bis alles gut ist, mein armer +Liebling,« flüsterte er; »wenn ich nur sicher wäre, daß +du deiner Angst, deiner Aufregung Herr wirst, — für +mich ist der Kampf ein Kinderspiel —« Der Triumph +des Sieges blitzte schon aus seinen Augen. In Brixen +blieben uns noch ein paar Stunden bis zum Abschied. +Auf der Post fand sich ein Brief an mich von der +Mutter mit einer Beilage in verstellter Schrift: »Diesen +anonymen Wisch bekam ich soeben. Ich habe ihn, Gott +Lob, vor Hans verstecken können. Da aber Wiederholungen, +womöglich direkt an ihn gerichtete, wahrscheinlich +sind, und ich von deinem Anstandsgefühl doch +noch so viel erwarte, daß der Inhalt dieses Schriftstückes +eine Verleumdung ist und <em class="antiqua">Dr.</em> Brandt nicht mit +dir reist, so ersuche ich dich, zu veranlassen, daß er +uns seine Anwesenheit in Berlin auf irgendeine Weise +dokumentiert ...«</p> + +<p>»Bereits morgen wird das geschehen,« sagte Heinrich, +»du stehst, wie notwendig es ist, daß wir das Opfer +dieser Trennung bringen. Es wird die letzte sein!«</p> + +<p>Mit einem leisen Vorwurf sah ich ihn an: »Fast +scheint's, als freutest du dich, daß du fort mußt!«</p> + +<p>»Ich freue mich der Hindernisse, die sich uns in den +Weg legen. Mir wäre bange geworden vor der Größe +<a name="Page_131" id="Page_131"></a>meines Glückes, wenn sein Besitz keine Opfer kosten +würde.« Ich schämte mich meiner Trauer, und wir +nahmen Abschied voneinander, fast als wäre es ein Willkommen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Im Turmzimmer des Gasthofes zu Vahrn zog +ich am selben Abend noch ein. Von meinem +Fenster sah ich ins Schalderer Tal mit seinen +dunkeln Fichten am klaren Bach. Stundenlang saß ich +hier in wachen Träumen. Zuweilen folgte ich dem +stillen Waldweg bis hinauf nach Schalders. Aber es +mußte ein heller Tag sein, sonst fürchtete ich mich und +sah, wie einst als Kind, hinter jedem Baum Gespenster +lauern. Abends stieg ich nach Salern hinauf und saß +zwischen dem alten Gemäuer der Ruine bis breite Bergschatten +das Tal von Brixen verhüllten und die Spitzen +der Dolomiten fern am Horizont aufglühten wie +verlöschende Fackeln.</p> + +<p>Des Nachts aber kamen die finsteren Gedanken. Dann +las ich wieder und wieder seine Briefe und suchte +zwischen den Zeilen, was er aus Schonung verschweigen +mochte: »Rosalie macht Besuche bei allen Bekannten, +und ich sehe an den Mienen der Leute, was sie erzählt —«, +sie suchte Zeugen gegen mich; der Preis der +Scheidung würde die Verhinderung unserer Heirat sein! +»Sie hat neuerdings Freunde im Egidyschen Kreis« —, +sie suchte eine Verbindung mit den Eltern, sie wird zum +Vater gehen, ihm erzählen, — und er ertrüge es nicht, +so nicht, — er würde Heinrich vor die Pistole fordern!</p> + +<p>Noch geschah nichts dergleichen. Meines Vaters<a name="Page_132" id="Page_132"></a> +Briefe waren erregt, aber nur über die Ereignisse des +Tages: die Verurteilung Hammersteins wegen Urkundenfälschung +zum Zuchthaus, »ein Menetekel für den Adel, +dessen junger Nachwuchs das goldene Kalb umtanzt +und dabei unabweisbar dem Schwindel verfällt,« den +Austritt Stöckers aus der konservativen Partei, »dieses +tüchtigen Mannes, den die Sozialdemokraten mit ihrer +verdammten Manier der Veröffentlichung von gestohlenen +Privatbriefen auf dem Gewissen haben,« über die in +seinen Jubiläumsreden stets deutlicher zutage tretenden +Weltmachtgelüste des Kaisers, »die uns vom erprobten +geraden Wege altpreußischer Sparsamkeit und +dem bewußten Sichbescheiden auf den angestammten +Boden und seine Bearbeitung in die Politik abenteuernder +Seefahrer hineinreißt.« Ich mußte mein Erinnerungsvermögen +immer erst mühsam auf die Welt außer +mir einstellen, wenn seine Briefe Antwort heischten.</p> + +<p>Eines Morgens kam ein Expreßbrief von Heinrich, +den ich in Erwartung erfüllter böser Träume zitternd +öffnete. »Deine Liebe soll noch eine harte Probe bestehen,« +schrieb er. »Rosalie will sich nur unter der +Bedingung scheiden lassen, daß ich ihr mein ganzes +Vermögen gebe. Es ist an sich nur klein, wie Du +weißt, aber es ist alles. Wirst Du stark genug sein, +einen Mann zu heiraten, der nichts besitzt? Der Dir +nur seine Liebe in die Ehe mitbringt und seinen festen +Willen, Dir trotz alledem ein glückliches Leben zu +erkämpfen?... Antworte mir nach reiflicher Überlegung. +Aus Deiner Hand würde ich jedes Geschick ohne Murren +empfangen. Fürchte nichts von mir, wenn Du nein +sagen mußt. Das Glück, das Deine Liebe mir schenkte, +<a name="Page_133" id="Page_133"></a>war schon so groß, daß ich Dir auch dann noch dankbar +bleibe...« Ich lächelte, von einem Alpdruck befreit; +so viele Worte um solch eine Kleinigkeit! Nicht +einen Augenblick des Besinnens gab es für mich. »Gib, +was sie fordert,« telegraphierte ich. Aber noch immer +schien sie nicht genug zu haben. Ein paar Tage später +verlangte sie eine Summe, die Heinrichs Vermögen übertraf. +Und als der Anwalt ihr vorhielt, daß Heinrich +Wucherschulden machen müsse, wenn er ihren Wunsch +erfüllen solle, sagte sie ruhig: »Mag sein, — aber sonst +lasse ich die Scheidung nicht zu.« Sie war unersättlich. +In meinen nächtlichen Träumen sah ich sie: groß, +dunkel, mit der Schleppe, die wie eine Schlange hinter +ihr her raschelte, und den weißen Raubtierhänden.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Der Tag der Entscheidung nahte. Am Vorabend +fuhr ich nach München. +Die Stunden schlichen, die Zeiger an der +Uhr wollten nicht von der Stelle rücken. Ich hörte, wie +das Leben draußen verstummte, die letzten Pferde müde +zum Stalle trotteten, das letzte Läuten der Straßenbahn +verklang. Und ich hörte wieder, wie es erwachte, wie +die ersten Marktwagen im Dämmerlicht grauenden +Morgens über das Pflaster ratterten und die Tritte der +Bäckerjungen straßenweit zu verfolgen waren; wie das +Räderrollen allmählich anschwoll zu einem brausenden +Ton, und kein einzelner Schritt unter den vielen mehr +zu unterscheiden war. Dann kamen die Stunden, die +über mein Schicksal entschieden. Sie waren wie lebendige +Wesen, die mit meinem Herzen Fangball spielten.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_134" id="Page_134"></a></p> + +<p>»Frei!« — Ich hatte das Telegramm dem Boten +aus der Hand gerissen, — ich starrte das Wort +an, bis mir die Augen übergingen. Im Zimmer +ertrug ich's nicht mehr. Zu groß war mein Glück. Und +selbst als der Himmel sich über mich spannte, war mir's, +als müßte es sein blaues Gewölbe zersprengen.</p> + +<p>Zwei Tage mußte ich des Geliebten warten. »Nachdem +Dein heimlicher Wunsch, Du emanzipationslüsterne +Frau, eine freie Ehe zu schließen, an meinem reaktionären +Eigensinn endgültig zu Schanden wurde« schrieb +er neckend, »muß ich unserer altmodisch ordentlichen +Verbindung auch eine bürgerliche Grundlage schaffen.«</p> + +<p>Ich lief indessen in der Stadt umher und suchte, +meinem übervollen Herzen Luft zu machen. Ein Bettler +stand an der Ecke mit einem Plakat vor der Brust: +»Ein armer Taubstummer bittet um eine milde Gabe,« +ich drückte ihm ein Goldstück in die Hand, was ihn so +verblüffte, daß er seiner Stummheit vergaß und ein Mal +über das andere ein »Vergelt's Gott« stammelte. Vor +allen Schaufenstern blieb ich stehen, in denen die Maisonne +zärtlich über Spitzen und Schleier strich. Und +das Schönste, was ich sah, war nur gerade schön genug, +um mich für ihn zu schmücken.</p> + +<p>Meines Lebens hohe Zeit stand vor der Türe; königlich +sollte sie empfangen werden. Niemand durfte ihr +begegnen, der Trauergewänder trug. Keines Menschen +Träne durfte den Willkommtrunk verbittern, mit dem +ich sie begrüßen wollte. Und im geschliffenen Kristall +des Pokals sollte sich nur die Sonne spiegeln.</p> + +<p>Der Gedanke an die Eltern krampfte mir das Herz +<a name="Page_135" id="Page_135"></a>zusammen. Ich sah sie in der dunkeln Wohnung hinter +den schweren Vorhängen, die immer an den Winter +glauben ließen. Würde mein Glück hell genug sein, um +hindurchzudringen? Ich fühlte, wie dumpf die Luft bei +ihnen war. Würde mein Glück stark genug sein, sie zu +zerstreuen?</p> + +<p>An einem hellen Morgen, über den der Himmel +leuchtete wie ein geheimnisvoll gleißender Opal, trug +ich ein weißes Kleid und Rosen im Gürtel, die lauter +Sonnenlicht getrunken hatten und die Blütenköpfe +senkten, schwer von Schönheit. Ich wartete des Geliebten. +Durch die vielen Scheiben der Bahnhofshalle +funkelte und sprühte das Morgenlicht und malte tanzend +helle Flecke auf den Asphalt. Wie blasse Mondscheiben, +wenn der Tag noch herrscht, standen die großen, +runden Bogenlampen über dem hastenden Leben. Hin +und her strömten bunte Menschenschwärme. Reisefieber, +das in blaue Fernen treibt, sorgender Ernst, der der +Tagesarbeit entgegenstrebt, lachende Hoffnung, die in +die Arme der Liebe verlangt, bange Angst, die vor der +Fremde zittert, malten sich in den vielen Gesichtern. +Die Züge brachten und empfingen sie in unaufhörlichem +Wechsel. Ich allein stand in der Flut ganz still, die +Augen auf das helle riesige Bogenrund gerichtet, in das +die großen schwarzen Schlangen fauchend untertauchten, +und aus dem sie, die welterobernden Ungeheuer, brausend +hervorquollen. Endlich! Ein schriller Pfiff aus einer +Lokomotive, die ihre mächtigen, blanken Glieder majestätisch +hereinwälzte, zwei zischende Garben weißer Wasserdämpfe —, +sie stand. Lauter Schatten liefen und drängten +an mir vorüber, ich sah nur ihn, — und er zog mich +<a name="Page_136" id="Page_136"></a>in die Arme, ganz fest —, alle Rosen fielen mir aus dem +Gürtel, und streuten ihre Blätter um uns, glutrote ...</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>»Und unsere Hochzeit, mein Lieb, wo soll sie sein?« +»Irgendwo zwischen hohen Bergen, im +Walde, wo der Dompfaff uns traut —«</p> + +<p>»Und wann, — wann?« heiß flüsterte seine Stimme +an meinem Ohr.</p> + +<p>»Still muß es um uns sein, ganz still, dann wird +die Stunde kommen, der wir gehorchen müssen ...«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Wir fuhren nach Augsburg zu Tante Klotilde, +meines Vaters Schwester. Vielleicht, daß +sie sich für uns gewinnen ließ, daß ihr +Einfluß den Vater beruhigen könnte. Am Bahnhof +trennten wir uns, er ging ins Hotel, mich führte ihr +Wagen durch das alte schmiedeeiserne Tor vor das +schöne Haus mitten im blühenden Garten. Mit ungewohnter +Zärtlichkeit empfing sie mich: »Du hast mir +etwas zu sagen, Kind? Fürchte dich nicht —, du weißt, +ich habe viel an dir gut zu machen.« Ich fürchtete +mich doch, — aber nicht vor ihr. Wenn sie mich verdammte, +so wußte ich: das Herz würde ihr darum nicht +bluten. Um den Vater nur bangte mir, wenn sie die +Verständigung nicht würde herbeiführen wollen. Ich +erzählte, daß ich verlobt sei. Ich verschwieg nicht, daß +er sich hatte scheiden lassen, — um meinetwillen. Aber +von der ersten Ehe erzählte ich nichts, und nichts von +dem Kinde, das vor wenigen Monden erst geboren +<a name="Page_137" id="Page_137"></a>worden war. Ich bekannte ehrlich, daß er, wie ich, +Sozialdemokrat von Gesinnung sei, aber ich betonte, +daß seine Tätigkeit allein auf neutralem wissenschaftlichem +Gebiete liege. Und als sie die Frage stellte, die, +wie ich wußte, für sie von ausschlaggebender Bedeutung +war: »In welcher Lage ist er?« — da log ich: »In der +besten —« Was ging das alles die anderen an?! +Mein Leben war es, für das ich allein die Verantwortung +trug. Nur dem Vater wollte ich es leicht +machen, und die Mutter sollte sich nicht grämen, und +mein blondes Schwesterchen sollte nicht weinen!</p> + +<p>Heinrich wurde zum Essen geladen. Seine ruhige, +fast hochmütige Zurückhaltung der »Frau Baronin« +gegenüber imponierte ihr. Sie schrieb noch am Abend +einen langen Brief an den Vater. Und am nächsten +Mittag kam seine telegraphische Antwort: »Tief gerührt +über die Liebe, mit der du Alix in deinen Schutz nimmst, +versage ich ihr nicht den Segen ihrer schmerzbewegten +Eltern.«</p> + +<p>Heinrich reiste nach München zurück, — es wäre ja +nicht passend gewesen, ein Brautpaar beieinander zu +lassen! — ich blieb noch, um in ein paar Tagen mit +Freunden, — wie ich vorgab, — nach Tirol zu gehen. +Inzwischen kamen die Briefe der Eltern. Von der +Mutter zuerst. Sehr liebevoll, aber doch voller Sorge. +»Ich danke Gott und der lieben Klotilde,« schrieb sie, +»daß Dein Vater die große unerwartete Sache so aufnahm +und ruhig ist, trotzdem ihm alles furchtbar schwer +wird und er noch nicht imstande ist, an Dich zu schreiben. +Wenn nur seine Gesundheit aushält, um die ich oft sehr +besorgt bin, besonders bei so großen Erschütterungen ...<a name="Page_138" id="Page_138"></a> +Ilschen hat sich reizend benommen; ihre kindliche, zärtliche +Art, ihrem Papa alles recht gut und schön darzustellen, +ihre Bitten und Tränen haben ihn tief gerührt ... +Um Deines Vaters willen bitte ich Dich, Deine Verlobung +wenigstens solange geheimzuhalten, bis er bei Klotilde +in Grainau ist, die ihn so freundlich einlud und ihn am +leichtesten wird beruhigen können. Auf diese Weise entgeht +er am besten dem Zeitungsklatsch, an dem es wohl leider +nicht fehlen wird ... Mir ist das Herz so übervoll, +daß ich keine Worte finde. Gott führe alles zum Besten ...« +Und dann kam der erste Brief des Vaters, aus dem ich +erfuhr, daß er wußte, was ich ihm schonend verschwiegen +hatte. »Wenn Du älter geworden sein wirst,« hieß es +darin, »so wirst Du verstehen, daß ich nicht Dein Glück +stören will, sondern nur mit der Erfahrung eines Mannes, +der am Ende seines Lebens steht, da kein Glück sehe, wo +Du seinen Gipfel glaubst erstiegen zu haben ... Dr. Brandt +mußte bei mir und Mama zuerst um die Erlaubnis zur +Verbindung mit Dir nachsuchen, es mußten mir ganz +klar die äußeren Verhältnisse dargetan werden, die zur +Scheidung führten, und die Lebenslage, die Dr. Brandt +Dir bietet. Von alledem ist nichts geschehen, und ich bin +und bleibe der vor Gott und den Menschen für Dich +verantwortliche Vater; auf mir, Mama, Ilse bleibt jeder +öffentliche Skandal sitzen. Sage selber, wie soll ich +Vertrauen zu einem Manne haben, der zweimal geschieden +ist? Ich kenne die Gründe nicht, kann also nur +bei meinem theoretischen Urteile bleiben, daß es ihm +zweimal nicht gelungen ist, seine ihm ›bis der Tod uns +trennt‹ angetraute Frau an sich zu fesseln. Es kommt +hinzu, daß selbst roheste Naturen Pietät dafür haben, +<a name="Page_139" id="Page_139"></a>wenn dem Manne eben von seiner Frau ein Kind geschenkt +worden ist. Diesen Augenblick zur Scheidung +zu wählen, ist gewiß nicht feinfühlig. Meine Tochter +ist mir zu schade, als daß ich ruhig zusehen könnte, +wenn sie in solche Verhältnisse verwickelt wird ...«</p> + +<p>Es entspann sich eine erregte Korrespondenz. Ich +war viel zu empfindlich, besonders gegenüber Angriffen +auf den Geliebten, als daß ich mich wenigstens äußerlich +hätte beherrschen können. Mein strahlendes Glück +hatte mich blind gemacht für die Welt, in der meine +Eltern lebten und dachten. Ich empfand als bittere +Kränkungen, was von ihrem Standpunkt aus sorgende +Liebe war. »Ich begreife nicht, daß Du scheinbar gar +nicht ahnst, wie schwer uns Deine Heirat werden muß,« +schrieb Mama in Beantwortung eines meiner Briefe, +»willst Du denn durchaus nicht die Wirklichkeit sehen? +Muß ich ganz deutlich werden und dir sagen, wie selbst +Dir wohlwollende Menschen über Dich den Kopf schütteln? +Du ahnst wohl gar nicht, was und wie man über Euch +spricht! Und jetzt erwähnst Du wie etwas Selbstverständliches, +daß Ihr Euch hier in Berlin wollt trauen lassen. +Ich finde den Gedanken unglaublich. Denke doch nur +an das Aufsehen, und was das für ein Licht auf uns +alle werfen würde! Wir wollen der Welt gegenüber +betonen, daß Du mit unserem Segen heiratest —, hier +würde nicht einmal unser Pfarrer, der so streng über +Scheidungen denkt, Euch trauen wollen ... Heiratet in +irgend einem stillen Ort Süddeutschlands, wohin ich und +Ilse zur Trauung kommen werden, und überlegt vor +allem, ob es nicht besser wäre, wenn Ihr Euch dann +fern von Berlin niederlaßt? Für alle Teile würde es +<a name="Page_140" id="Page_140"></a>besser sein, solange der gemeine Klatsch über Euch nicht +verstummt ist. Ich habe auch an Deinen armen Vater +zu denken, den Du ganz zu vergessen scheinst, und dem +jede neue Aufregung erspart werden muß ...«</p> + +<p>Ich erwähnte in meiner Antwort der Schwierigkeiten, +die eine Heirat an anderem Orte bereiten würde. Wir +hatten längst beschlossen, uns ohne alles Aufsehen trauen +zu lassen und gehofft, daß die Eltern angesichts der vollzogenen +Tatsache sich um ihr Was und Wie nicht kümmern +würden. Im nächsten Brief meiner Mutter schrieb +sie: »Du erwähnst nur der standesamtlichen Schwierigkeiten, +also wollt Ihr wohl die Kirche umgehen, — wenn +Du mir das noch antust, dann wäre es besser, +wir sehen uns nie wieder, denn das kann ich nicht überwinden, +das würde ich nie verzeihen, und Vater, Schwester +und Tante auch nicht! Bedenket wohl, was Ihr damit +tut: Ihr gebt unseren Beziehungen den Todesstoß ...«</p> + +<p>Ich war schon wieder abgereist, als mir in Innsbruck +berliner Zeitungen in die Hände fielen. Sie brachten +mit mehr oder weniger hämischen Randbemerkungen die +Mitteilung von Heinrichs Scheidung und meiner Verlobung. +Und gleich darauf kam ein Brief des Vaters: +»Was zu erwarten war, ist geschehen: alle Zeitungen +beschäftigen sich mit Dir und ziehen meinen guten Namen +in die Skandalgeschichte meiner Tochter. Sie sagen, +daß Du Dich nun ganz der Sozialdemokratie in die +Arme geworfen hast ... Du nahmst die Gewohnheit +an, bei Deinen Handlungen nie an Deine Eltern, nie +an Deine Schwester zu denken. Trotzdem bleibst Du +unser Kind, und wir tragen an Dir mit, gleichgültig +welches die Bürde ist, die Du uns auferlegst. Wenn +<a name="Page_141" id="Page_141"></a>eine Tochter frank und frei erklärt, sie gehöre zur Sozialdemokratie, +so bleibt an den Eltern etwas hängen. Ich +bin alt und gebrechlich, meine Tage sind gezählt, aber +ich bin notwendig für Deine Mutter und Deine Schwester. +Unehre jedoch ertrage ich nicht; wenn man mich ehrengerichtlich +belangt, wegen Deiner Beziehungen zu einer +staatsvernichtenden Partei, so mag man mich begraben. +Daß die Sozialdemokratie es jetzt freudig ausbeutet, +wenn die adlige Tochter eines allgemein bekannten +Generals sich zu ihr bekennt, das begreife ich, es ist +ihr Vorteil. Wer ein einziges Mal diese gemein aussehenden +Leute im Reichstage gesehen hat und sich vergegenwärtigt, +daß diese Rotte unheimlicher Kreaturen +von den Pfennigen der Arbeiter sich mästet, die um so +reichlicher fließen, je mehr alles in den Schmutz getreten +wird, was uns heilig ist, der muß am Rande der Verzweiflung +stehen, wenn er die eigene Tochter unter ihnen +weiß ...« Ich antwortete nicht. Wie viel besser wäre +der offene Bruch gewesen, als daß ich, vom Verstande +unkontrollierten Gefühlen hingegeben, eine Brücke über +Unüberbrückbares zu schlagen versucht hatte. Ich hatte +nicht wehe tun wollen —, litten die Eltern jetzt nicht +mehr, wo sie mich von schleichender Vergiftung befallen +glaubten, als wenn ich ihnen ganz gestorben wäre?</p> + +<p>Am Morgen meines Geburtstages erwartete ich den +Geliebten. Stille Wehmut dämpfte die Freude, mit der ich +Heinrich empfing. Vor lauter Glück bemerkte er meine +Stimmung nicht. »Ich bringe dir ein schönes Geburtstagsgeschenk,« +rief er, mich zärtlich umarmend. +»Herr Charles Hall, der Deutschamerikaner, von dessen +sozialpolitischen Interessen ich dir oft erzählte, hat sich +<a name="Page_142" id="Page_142"></a>bereit erklärt, meine Zeitschrift zu unterstützen. Siehst +du, nun hab' ich auch das durchgesetzt: die bürgerliche +Grundlage unserer gut bürgerlichen Ehe! — Dürfen +wir nun nicht Hochzeit feiern?!« fügte er leiser hinzu. +Ich schüttelte den Kopf und hing mich fest an seinen +Arm: »Laß mich erst wieder froh werden, mein Heinz!«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>An einem regenfeuchten Julitag kamen wir nach +St. Jodok, einem kleinen Bergnest, das die +Brennerbahn fauchend umkreist. »Morgen +fruh scheint d' Sunn,« versicherte der Führer, mit dem +wir über unsere Pläne verhandelten, und so beschlossen +wir, noch am Nachmittag zur Geraerhütte zu gehen. +Es war ein einförmig düsterer Weg durch die Wiesen +des Valser Tales mit ihren zahllosen braunen Heuschobern, +auf die der Nebel tief hinunterhing, und dann +die Anhöhe hinan auf steinigem Pfad, von schwarzgrauen +Bergen umgeben, deren Gipfel sich in den Wolken +verloren. Und in der Nacht tobte der Wind um die +Holzhütte, und der Regen klatschte an die kleinen Fenster, +daß ich mich fröstelnd in die Decken hüllte und eine +undurchdringliche Finsternis noch vor mir zu haben +meinte, als der Führer morgens an die Türe pochte. +»Schön wird's,« sagte er mit unerschütterlicher Sicherheit. +Wir traten hinaus, dicht vermummt, wie zu einer +Winterreise. Fast wäre ich schwindelnd zurückgewichen +vor dem Bilde, das die flackernde Laterne unsicher beleuchtete: +wie auf einer Insel im Wolkenmeer standen +wir. Unten im Tal lagen die Nebel dicht geballt, nur +hie und da streckte es sich aus ihnen hervor wie lange +<a name="Page_143" id="Page_143"></a>schwarze Arme, die, kaum daß sie unsere Höhe erreichten, +verschwanden wie Gespenster beim Glockenschlag. Wir +stiegen aufwärts, Schritt vor Schritt, lange Serpentinen +bis zum Alpeiner Ferner. Frischgefallener Schnee deckte +ihn wie ein Leichentuch, nur hie und da glänzte das +Eis hervor in tiefen, dunkelgrünen Spalten, — geheimnisvoll +lockende Gräber. Kein Leben ringsum; +selbst der Sturm war verstummt, unhörbar versanken +unsere Füße im Schnee. Mich grauste. War es nicht +das Reich des Todes, das wir betreten hatten?</p> + +<p>Da begann der Himmel über uns sich rosig zu färben; +noch einmal sah ich hinab in das Nebelmeer der Tiefe, +dann stieg ich, so rasch meine Füße mich tragen konnten, +um die Höhe zu erreichen, wenn die Sonne kam.</p> + +<p>Und sie war da. Glühend in junger Liebe, als küsse +sie die Erde zum erstenmal. In der heißen Umarmung +ihrer Strahlen ward die keusche Braut zum Weibe, das +sich dem Geliebten schrankenlos hingibt. Sie warf die +dunkeln Schleier von sich, in die sie sich eben noch scheu +gehüllt hatte, und auch die letzten weißen duftigen Hüllen +zerriß sie. In ihrer prangenden Schöne stand sie vor +ihm, die schimmernde weiße Stirn stolz gen Himmel +gehoben, den schneeigen Busen rosig überhaucht von +dem Gruß dessen, der sie erlöste.</p> + +<p>Wir standen ganz still und schauten uns an und lasen +einander die Gedanken von den stummen Lippen. Auf +dem Weg durch die Nacht und empor bis hierher, hatten +wir die Vergangenheit noch einmal durchlebt, zusammengedrängt +in wenige Stunden. Nun aber war es vorüber. +Der Gipfel war unser. Und über das Schneefeld +hinab, der Sonne zu, lag eingebettet in grüne<a name="Page_144" id="Page_144"></a> +Matten ein kleines, helles Haus. Mit dem Bergstock, +dessen Spitze rote Alpenrosen schmückten und weiße +Edelweißsterne, wies ich hinab. »Dort will ich Hochzeit +halten,« flüstere ich. Da hob mich der Liebste jubelnd +hoch empor, und miteinander sausten wir über den Schnee +in die Tiefe.</p> + +<p>»Arg verliabt san's,« brummte der Führer gutmütig, +als wir aufatmend unten standen.</p> + +<p>Zitherspiel und Gesang empfing uns in der Dominikushütte. +Ein paar junge Männer, Studenten mit +blondem Kraushaar und blitzenden Augen, saßen um +den Tisch, und ihre Stimmen füllten den Raum mit +lauter Frohsinn. Seil, Steigeisen und Eispickel lagen +neben ihnen; die verstaubten Stiefel und die braunen +Gesichter bewiesen: sie waren echte Höheneroberer. Solche +Söhne will ich haben —, zog es mir durch den Sinn, +als spräche es aus unbekannter Tiefe meines Wesens.</p> + +<p>Feierlich, mit Millionen goldenen Sternen am Himmel, +senkte sich die Nacht in das Tal. Von Wiesen und +Wäldern ein starker Duft füllte unsre braune Kammer. +Und leise Winde, die von den Gipfeln kamen und noch +keinen Staub getragen hatten, flüsterten in den Fichten +vor dem Fenster. Da bin ich sein Weib geworden ...</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_145" id="Page_145"></a></p> +<h2><a name="Funftes_Kapitel" id="Funftes_Kapitel"></a>Fünftes Kapitel</h2> + + +<p>Warme Augustsonne flutete durch alle Zimmer +und brütete unten in gewitterschwangerer +Hitze auf den jungen Anlagen des Lützowplatzes. +Unruhig wanderte ich von einem Raum in den +anderen, rückte auf dem mächtigen Doppelschreibtisch, +den wir uns zu gemeinsamer Arbeit hatten machen +lassen, die Bilder der beiden Buben, die nun meine +Stiefsöhne waren, noch ein wenig in den Vordergrund, +ging in ihr Zimmer mit dem blumengeschmückten Balkon, +von dem aus der Blick geradeaus weit über die dichtbelaubten +Bäume am Kanal schweifen konnte und +rechts die Straße hinauf bis in die grüne Tiefe des +Tiergartens, strich mechanisch die Bettdecken glatt und +steckte den Kanarienvögeln, mit denen ich die Kinder +überraschen wollte, ein paar Kuchenkrümel zu, die ich +nebenan vom reichbesetzten Vespertisch geholt hatte. +Immer wieder zog ich die Uhr: gleich mußten sie kommen, +schon eine Stunde fast war Heinrich fort, um sie am +Anhalter Bahnhof in Empfang zu nehmen. Ich lief +durch unser Schlafzimmer mit seinen hellen Möbeln +und meergrünen Vorhängen auf die breite Loggia hinaus: +von hier würde ich sie zuerst entdecken, wenn sie +vom Lützowufer auf den Platz einbiegen würden. Ich +<a name="Page_146" id="Page_146"></a>musterte erwartungsvoll alle Menschen. Von der luftigen +Höhe meines vierten Stockes glichen sie aufgezogenen +Puppen, wie sie die Händler um Weihnachten +auf dem Asphalt laufen lassen. Und der Herkules auf +der Kanalbrücke sah wie ein Knabe aus, der mit seinem +Pudel spielt.</p> + +<p>Wehte dort nicht jemand grüßend mit einem weißen +Tuch? Richtig: es war der kleine, schwarze Hans, der +dem Vater und dem Bruder voranlief. Ich hatte doch +rechtes Herzklopfen. »Du wirst sie lieb haben, meine +Kinder,« hatte Heinrich gesagt, ehe er ging. Und mein +»Ja« war aus vollem Herzen gekommen. Nun aber +war mir bang. Sie waren bei ihrer Mutter gewesen —, +würden sie der jungen Frau ihres Vaters nun nicht +wie einer Feindin begegnen? Würde all meine Liebe, +die ich ihnen entgegenbrachte, weil sie Heinrichs Söhne +waren, ihr Mißtrauen besiegen können?</p> + +<p>Sie stürmten die Treppe hinauf. »Fein, daß du jetzt +die Mama bist!« rief Wölfchen. Hans sah mich nur +groß an und kramte in seinem Rucksack nach einem halbverwelkten +Alpenrosensträußchen, das er mir mitgebracht +hatte. »Ihr müßt recht brav sein, damit Ihr so eine +gute Mama verdient,« sagte Heinrich. Ich warf ihm +einen flehenden Blick zu. Er sollte mich nicht loben, — jetzt, +da sie von der eigenen Mutter kamen. Aber ich +hatte ihnen wohl tiefere Empfindungen angedichtet, als +sie besaßen. Sie waren vergnügt, selbst Hans wurde +gesprächig; und als ich sie zu Bett brachte, waren sie +ganz von selbst zärtlich zu mir geworden.</p> + +<p>»Ich danke dir, Alix,« sagte Heinrich mit warmer +Betonung. »Noch hast du zum Dank keine Ur<a name="Page_147" id="Page_147"></a>sache,« +antwortete ich. Mir war seltsam beklommen +zumute.</p> + +<p>Als wir schlafen gingen, öffnete ich gedankenlos die +Tür zum Zimmer der Kinder, — es hatte mir in den +acht Tagen seit unserem Einzug als Ankleideraum gedient —, +erschrocken fuhr ich zurück: »Bist du's, Mutter?« +rief eine schlaftrunkene Stimme. Ganz leise zog ich die +Türe wieder ins Schloß; auf Zehenspitzen schlich ich ins +Bett. »Liebste — Einzigste!« flüsterte Heinrich und zog +mich in seine Arme. Noch waren wir in den Flitterwochen +unserer jungen Ehe, und uns war, als ob jeder +Tag und jede Nacht uns einander aufs neue schenkte. +Heute aber wehrte ich dem Geliebten mit einem ängstlichen +Blick auf die Tür, — kaum daß ich seinen Kuß +zu erwidern wagte. Wir waren nicht mehr allein. Zehnjährige +Knaben sind hellhörig.</p> + +<p>Am nächsten Morgen ging ich mit ihnen in die Stadt. +Ich hatte mich überzeugt, daß sie ganz neu eingekleidet +werden mußten, auch die Schulbücher galt es anzuschaffen. +In recht gedrückter Stimmung kam ich nach +Hause; die Einkäufe hatten ein großes Loch in mein +Portemonnaie gerissen. Siebenzig Mark, — das war +der ganze Rest meiner Erbschaft; auf unsere Reisen, +auf die Wohnungseinrichtung war sie draufgegangen; +Heinrich hatte schließlich auch noch den ganzen Haushalt +der geschiedenen Frau mitgegeben, und es war +nun nötig geworden, alles Fehlende zu ersetzen. Gewiß: +ich hätte weniger ausgeben können —; ich hatte +an nichts anderes gedacht, als unserer Liebe ein Heim +zu schaffen, das ihrer würdig war. Glückselig hatten +wir in den Tag hineingelebt; nun erst schien das All<a name="Page_148" id="Page_148"></a>tagsleben +anzufangen, ganz nüchtern, ganz prosaisch, +mit seinen täglichen kleinen Forderungen und seinen +persönlichen Sorgen, in deren Schwüle der Altruismus +so leicht verdorrt und der Egoismus üppig emporwuchert. +Mir sank der Mut: wie würde Heinrich, der, +wie es schien, an die Unerschöpflichkeit meiner Kasse +ebenso fest geglaubt hatte wie ich, die unerwartete +Nachricht aufnehmen? Ich war bei Tisch, — dem ersten +Mittag zu Hause, wir hatten bis dahin wie lustige +Studenten stets irgendwo draußen gegessen, — nicht gerade +redselig. Gut, daß die Buben so viel zu erzählen +wußten!</p> + +<p>Als wir uns am Schreibtisch allein gegenübersaßen, +Korrekturen und Manuskripte vor uns, bekannte ich +Heinrich meine Entdeckung. Er sah mich ganz entgeistert +an. »Aber das ist doch nicht möglich!« sagte +er schließlich und strich sich mit der Hand über die +heiße Stirn. »Du hast dich bestehlen und betrügen +lassen —«, fuhr er dann los mit einem Ausdruck und +einer Stimme, die ihn mir vollkommen fremd erscheinen +ließen. Entsetzt starrte ich ihn an: so hatte mein Vater +ausgesehen, wenn ich vor dem Ausbruch seines Zorns +verängstigt aus dem Zimmer entfloh. Mir stürzten die +Tränen aus den Augen. »Und nun weinst du auch +noch, — als ob damit geholfen wäre —« rief Heinrich +aufgeregt. Ich drückte mein Taschentuch vor die Augen, +stand auf und riegelte geräuschvoll die Schlafzimmertür +hinter mir zu. Ich hörte, wie er die Entreetür krachend +ins Schloß warf. Es war die erste, ernste Differenz +in unserer Ehe. Aber schon als ich ihn mit langen +Schritten unten über den Lützowplatz gehen sah, war +<a name="Page_149" id="Page_149"></a>mein Kummer verflogen. Ich hätte ihn, ohne Rücksicht +auf die Verwunderung der Menschen, zurückgerufen, +wenn meine Stimme ihn erreicht haben würde. Nun +stand ich weit hinausgelehnt auf der Loggia und winkte +mit dem Tuch, das noch feucht von meinen Tränen war. +Mitten auf dem Platz stand eine alte Frau mit einem +Korb voll Rosen. Seine Schritte verlangsamten sich, +als er in ihre Nähe kam. Zögernd ging er an ihr +vorüber. Dann aber drehte er um, ganz rasch, als +habe er etwas sehr Wichtiges vergessen; ich sah, wie er +der alten Frau alle Rosen aus dem Korbe nahm, und +den Weg hastig zurückging, den er gekommen war. In +diesem Augenblick hob er den Kopf und sah mich. Er +winkte mit der Hand voll Blumen. Ich lief die Treppe +hinab, ihm entgegen. Wir sanken einander in die Arme. +»Verzeih mir, Geliebte, verzeih!« flüsterte er. »Was +sollte ich dir zu verzeihen haben ...!«</p> + +<p>Noch am Abend fuhr er nach Frankfurt, um Hall +um einen Vorschuß zu bitten; vierundzwanzig Stunden +später depeschierte er: »Anstandslos bewilligt. Sei +ohne Sorgen.«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>»Nun müssen wir doch wohl ein paar Besuche +machen,« meinte Heinrich seufzend, ein paar +Tage später, »bei meinem Bruder, bei August, +bei dem Alten —«</p> + +<p>Wir gingen zuerst zum »Vorwärts« in die Beuthstraße, +in dessen Redaktion mein Schwager tätig war, +Dunkle, schmierige Steintreppen führten hinauf. Nur +spärlich drang das Tageslicht in die Redaktionsräume, +<a name="Page_150" id="Page_150"></a>vor deren Fenstern ein großes Fabrikgebäude mit dem +Rattern seiner Maschinen und den grauen Gestalten, +die sich eilig hin- und herbewegten, als ständiges Menetekel +für die Vertreter der Arbeiterschaft drüben aufgerichtet +schien. Zwischen Haufen von Büchern und +Zeitungen saß mein Schwager, blaß und abgespannt.</p> + +<p>Er war immer überarbeitet, denn zu seiner redaktionellen +Tätigkeit lastete er sich stets noch tausend andere +Dinge auf.</p> + +<p>»Du interessierst dich ja für die Konfektionsarbeiter,« +wandte er sich an mich, »Reinhard und ich bereiten +eine Enquete vor. Man muß die Öffentlichkeit immer +wieder mit der Nase auf die Dinge stoßen. Berlepsch +ist abgesägt, die Konfektionäre haben ihr Wort gebrochen, +ohne daß ein Hahn darnach krähte, jetzt gilt's +wieder Spektakel machen, sonst ist's ganz und gar aus +mit der Sozialreform.« Ich sicherte ihm freudig meine +Hilfe zu. Und mit jener nervösen Unruhe, die stets +das Zeichen geistiger Überreiztheit ist, schnitt er in +der nächsten halben Stunde ein Dutzend anderer Gesprächsthemen +an, um schließlich von seinem Bruder bei +der Frage des Vorwärtskonflikts festgehalten zu werden, +der gerade die Gemüter in der Partei erhitzte und die +Gegner sehr beschäftigte, die überall hoffnungsvoll Unfrieden +witterten.</p> + +<p>»Ihr habt unrecht von Anfang bis zu Ende,« erklärte +Heinrich kategorisch. »Zuerst in der Ironisierung +der Quarckschen Vorschläge und dann in der unwürdigen +Behandlung des alten Liebknecht.« »Was verstehst +du davon?« brummte Adolf.</p> + +<p>»Erlaube: von Sozialpolitik verstehe ich ebenso viel +<a name="Page_151" id="Page_151"></a>wie du. Und Quarcks Vorschläge liefen darauf hinaus, +den Gewerkschaften eine intensivere Beschäftigung +mit sozialpolitischen Fragen ans Herz zu legen. Darin +hat er recht. Sie sind wichtiger, als leichtsinnig begonnene +Streiks.«</p> + +<p>»Die Regierung würde auf unsere schönsten sozialpolitischen +Kongresse pfeifen, und die Folge wäre nur +eine Verwischung des Klassencharakters der Bewegung« — Adolf +redete sich in steigende Erregung hinein; jede +Unterhaltung schien sich in der Familie Brandt zum +Streit auszuwachsen; — »selbst einen verlorenen Streik, +der sie trotz alledem stärkt, weil er die Erbitterung +steigert, ziehe ich einem Liebäugeln mit bürgerlicher Sozialreformerei +vor. Und was den Alten betrifft —, ich +möchte sehen, was du tätest, wenn du mit ihm in der +Redaktion säßest!« — »Mich zanken — höchst wahrscheinlich! +Aber nicht vor der Öffentlichkeit!« Ich hielt +den Augenblick für kritisch und stand auf. »Übrigens +habe ich noch was für dich, Schwägerin,« sagte Adolf +und begann seine sämtlichen mit Papieren vollgestopften +Taschen vor uns auszuleeren. Endlich fand sich der +Zeitungsausschnitt, den er suchte.</p> + +<p>Ich las: »Zur Palastrevolution im Vorwärts — <em class="antiqua">cherchez +la femme</em>! Wir erhalten von authentischer +Seite folgende interessante Aufklärung über die tieferen +Beweggründe der Empörung der Vorwärtsredaktion gegen +ihren Chef, Wilhelm Liebknecht. Frau von Glyzcinski, +alias Fräulein Alix von Kleve, heiratete kürzlich <em class="antiqua">Dr.</em> Brandt, +einen der Vorwärtsredakteure. Ihr brennender Ehrgeiz, +der das Ziel verfolgt, das Zentralorgan der Partei in +die Hand zu bekommen, ist es, der die Intrige an<a name="Page_152" id="Page_152"></a>zettelte. +Eine Dynastie Brandt dürfte die Dynastie +Liebknecht nunmehr ablösen.« »Verlogenes Pack!« knirschte +Heinrich. Adolf lachte. »Beruhige dich,« sagte er zu +ihm, »wir bringen heute schon eine Berichtigung —« +»Und wir gehen sofort zu Liebknechts, um der Geschichte +die Spitze abzubrechen.«</p> + +<p>Adolf hielt uns noch einmal zurück: »Ich rate euch +dringend, den Besuch zu unterlassen. Der Alte kümmert +sich freilich um keinerlei Geklatsch, aber Frau Natalie +erzählt in allen Parteikaffeekränzchen Räubergeschichten +über euch, die sie von deiner geschiedenen Frau gehört +haben will. Sie ist euch noch feindseliger gesinnt als +Leo.« »Leo?!« wiederholte Heinrich überrascht. So +hieß jener Freund, auf dessen enthusiastische Schilderung +hin er die Bekanntschaft Rosaliens gesucht hatte. +»Das weißt du nicht?!« staunte Adolf. »Jedem, der +es hören oder nicht hören will, zählt er haarklein deine +Sünden auf: daß du Rosalie gezwungen habest, nach +England zu gehen, um hier — na, sagen wir: ungestört +zu sein, daß du sie selbst im Wochenbett nicht +geschont, sondern ihr die Einwilligung zur Scheidung +durch unaufhörliche Quälerei erpreßt hättest und sie, +kaum daß sie aufstehen konnte, mit dem Säugling aus +dem Hause getrieben hast.« Heinrich war außer sich. +Einer seiner besten Freunde war Leo gewesen, und er +verurteilte ihn, ohne ihn gehört zu haben!</p> + +<p>Wir gingen schweigsam nach Hause. Auf dem Lützowplatz +sah ich Frau Vanselow uns entgegenkommen. Sie +bemerkte uns, stutzte und bog hastig in einen Nebenweg +ein. Heinrich sah mich forschend an und zog, wie +zum Schutz, meinen Arm durch den seinen. »Mach dir +<a name="Page_153" id="Page_153"></a>nichts draus, Schatz. Es ist alles Gesindel! Du stehst +zu hoch, als daß es dich verletzen könnte.« — »Und +dich?!« fragte ich und zwang mich zum Lächeln. Er biß +sich die Lippen und schwieg.</p> + +<p>Fast immer, wenn ich ausging, hatte ich ähnliche +Begegnungen: Kein Zweifel, meine alten Gefährtinnen +aus der bürgerlichen Frauenbewegung wollten mich nicht +mehr kennen. Frau Schwabach ging mit hoch erhobenem +Kopf vorüber, wenn sie mich sah, und ich erfuhr aus +den Zeitungen von den Vorbereitungen zum internationalen +Frauenkongreß, den einzuberufen ich im Frühjahr +noch mit beschlossen hatte. Man lud mich zu keiner +Sitzung mehr ein, es fehlte nur noch, daß man mir +das Referat über die Arbeiterinnenfrage fort genommen +hätte, das mir seit Monaten übertragen worden war. +Ich schrieb an Frau Morgenstern, um sie daran zu erinnern. +Sie antwortete in sichtlicher Verlegenheit: »Wir +glaubten nicht, daß Sie noch Wert darauf legten, geschieht +es dennoch, so können wir Sie natürlich nicht +hindern.«</p> + +<p>Nach all diesen Erfahrungen sah ich dem Besuch bei +Bebels nicht ohne Herzklopfen entgegen, obwohl wir zu +unserer Hochzeit ein Glückwunschschreiben erhalten hatten. +Vielleicht war das nichts als eine Höflichkeit gewesen; +ich fing an, mißtrauisch zu werden, und etwas wie +Verbitterung bemächtigte sich meiner. Um so freudiger +war ich überrascht, als die gute Frau Julie uns herzlich +willkommen hieß. Vor Rührung und Dankbarkeit +wäre ich ihr fast um den Hals gefallen. Und wenn ich +in Bebel bisher den Vorkämpfer des Sozialismus bewundert +hatte, — von dem Augenblick an, wo er mir +<a name="Page_154" id="Page_154"></a>mit einem freundlichen: »Nun sind Sie ganz die unsere« +kräftig die Hand schüttelte, verehrte ich ihn um seiner +Menschlichkeit willen.</p> + +<p>Ich beklagte mich über die Behandlung durch die +vielen anderen, — selbst durch Parteigenossen. »Sie +wundern sich noch, daß Ihre Geschichte so viel Staub +aufgewirbelt hat?!« sagte Bebel. »Da kennen Sie unsere +männlichen und weiblichen Philister schlecht! In der +Theorie läßt man sich allerlei bieten, aber in der Praxis — nein, +das geht doch nicht! Wo bliebe da die Moral!! +Meine Frau und ich haben schon schwer für Sie +kämpfen müssen —«</p> + +<p>»So laß doch, August, — das erzählt man doch nicht!« +wehrte Frau Julie errötend ab, während ich ihr dankbar +die mütterlich-weiche Hand drückte.</p> + +<p>»Warum denn nicht?« meinte er. »Es ist besser, +Brandts sind orientiert, als daß sie täglich aufs neue +unangenehm überrascht werden.«</p> + +<p>»Ich hörte, daß Leo sich sehr feindselig benimmt?« +fragte Heinrich.</p> + +<p>»Und ob! Aber auch mit Singer habe ich mich schon +herumgestritten, so daß er mich schließlich fragte, ob ich +ihn für einen Philister hielte, was ich bejahte. Daß +Frau Liebknecht gegen Sie beide Partei ergreift, war +bei ihren Anschauungen gar nicht anders zu erwarten. +Bei den Frauen müssen Sie sowieso darauf gefaßt sein, +daß sie von einem wahren <em class="antiqua">horror</em> ergriffen sind. Im +Mittelalter hätten sie Sie als Hexe verbrannt, heute +werden Sie von hundert Mäulern begeifert und auf +hundert Federn gespießt.«</p> + +<p>»Und da läßt sich gar nichts machen?« Meinem<a name="Page_155" id="Page_155"></a> +Mann schwollen die Adern an den Schläfen. »Warten +Sie's ab, daß ist der einzige Rat, den ich geben kann. +In vier Wochen stürzen sich die Raubtiere auf irgendeinen +anderen armen Piepmatz, der so vermessen ist, +fliegen zu wollen.«</p> + +<p>Frau Julie fragte nach meinen Eltern. Ich erzählte +freimütig, was wir durchgemacht hatten. »Arme, junge +Frau — arme junge Frau,« wiederholte sie immer wieder +und streichelte mir die Wange.</p> + +<p>»Mach unsere Genossin nicht noch weicher, als sie +ist,« sagte er — »Sie müßten statt dessen in Drachenblut +baden! Aber eins wird Sie trösten: die Arbeit in +der Partei. Damit werden Sie schließlich auch die +bösesten Zungen zum Schweigen bringen.«</p> + +<p>Wir schieden wie Freunde. Ich fühlte mich neu gekräftigt +und voll Hoffnung. Als wir ein paar Tage +später zu Bebels geladen wurden, sah ich diesem Ereignis +mit erwartungsvoller Freude entgegen. Eine Gesellschaft +freier Geister, die die höchsten Ideale der +Menschheit vertreten — meine Sehnsucht, seit ich denken +konnte —, würde sich bei ihnen zusammenfinden: unsere +Gefährten auf dem Weg in die Zukunft.</p> + +<p>Lautes Stimmengewirr schlug uns entgegen, als wir +an jenem Abend über die gastliche Schwelle traten. Es +verstummte jählings, sobald die Türe vor uns aufging. +Sie haben eben von uns gesprochen, dachte ich unwillkürlich. +Ich wurde vorgestellt und aufs Sofa gezogen. +Auf dem Tisch davor stand eine blendende Petroleumlampe. +Neben mir saß eine große, dicke Dame, die sich +nicht anlehnen konnte, weil sie zu eng geschnürt war. +Sie war selbstbewußt wie anerkannte Schönheiten, +<a name="Page_156" id="Page_156"></a>warf ihre braunen Augen siegessicher umher und behandelte +mich sehr gnädig. Ein Herr mit einem +schwarzen Vollbart, der wie gut gewichste Stiefel glänzte, +rückte ihr mit seinem Stuhl immer näher und schlug +sich bei jedem Witz, den er erzählte, schallend auf +die Schenkel. Er versuchte, auch mich ins Gespräch +zu ziehen. »Sie sind ja, Gott Lob, auch eine vorurteilslose +Frau,« sagte er und zwinkerte vertraulich +mit den Augen. Ich wandte mich ostentativ zur anderen +Seite den Damen zu, die Frau Bebel an den Tisch +führte. Aber die Unterhaltung blieb an den oberflächlichsten +Phrasen kleben. Dazwischen hörte ich mit halbem +Ohr das Gespräch der beiden neben mir. Seine Witze +wurden immer eindeutiger, in irgend einer Friedrichsstraßen-Bar +mochte er sie nicht anders erzählen. Endlich +ging's zu Tisch; ich hatte den Ehrenplatz neben +Bebel. Man sprach über die lieben Mitmenschen genau +wie bei den »sauren Möpsen« schrecklichen Angedenkens, +die ich in den verschiedenen Garnisonen meines Vaters +hatte mitmachen müssen, und an Stelle von Regiments- und +Manövergeschichten über interne Parteiaffären. +Da ich nichts von ihnen verstand, konnte ich +die Gesellschaft um so mehr beobachten; die Damen +waren sehr erhitzt, und wenn der Nachbar eine Bemerkung +machte, kicherten sie unaufhörlich. Die Hausfrau +ging von einem zum anderen, um zum Essen zu nötigen. +Ich fing an, mich zu amüsieren, — nicht mit den +Gästen, sondern über sie, — und schämte mich doch +wieder, daß meine Beobachtung so kleinlich an lauter +Äußerlichkeiten kleben blieb. Ich wußte doch von vorn +herein: hier waren keine Montmorencys. Aber so etwas +<a name="Page_157" id="Page_157"></a>wie eine Gesellschaft bei Madame Roland vor 89 hatte +ich mir doch wohl vorgestellt.</p> + +<p>Zwischen Fisch und Braten benutzte ich die Gelegenheit, +um meines Nachbarn Ansicht über den bevorstehenden +Frauenkongreß einzuholen. Eine Notiz in +Wanda Orbins Zeitschrift hatte mir zu denken gegeben. +»Die Genossinnen haben beschlossen, die Einladung zum +Kongreß abzulehnen,« hieß es darin.</p> + +<p>»Ich kann Ihnen nur raten, sie ruhig anzunehmen, +ohne Rücksicht darauf, wie Frau Wanda sich stellt,« +sagte Bebel und warf mit einer lebhaften Bewegung die +widerspenstigen Haare aus der Stirn. »Ich befinde mich +mit ihr stets in kleinen Konflikten wegen der ungeschickten +Taktik und der oft recht gehässigen Art, mit der +sie die bürgerliche Frauenbewegung bekämpft. Sie +käme mit einer sachlichen, ruhigen Darstellung viel +weiter. Haben Sie zum Beispiel gelesen, was sie über +die Resolutionen schrieb, die hier in vier großen Versammlungen +zwischen der zweiten und dritten Lesung +des Bürgerlichen Gesetzbuchs zur Annahme gelangten?«</p> + +<p>Ich nickte: »Mich hat überhaupt gewundert, daß von +seiten der sozialdemokratischen Frauen so wenig geschah. +Das Bürgerliche Gesetzbuch hätte zu einer großen Protestbewegung +Anlaß genug gegeben!«</p> + +<p>»Sicherlich!« bekräftigte er, »und statt den gegebenen +Anlaß zu benutzen, lehnte Frau Wanda den Anschluß an +den Protest der bürgerlichen Damen ab —, nicht etwa +wegen dem, was darin steht, sondern wegen dem, was +nicht darin steht! Mich amüsiert der Vorgang besonders +deshalb, weil ich selbst den Resolutionen, die Frau +Vanselow mir schickte, ihre letzte Form gegeben habe.«</p> +<p><a name="Page_158" id="Page_158"></a></p> +<p>»Sie scheinen mir mehr von der bürgerlichen Frauenbewegung +zu halten, als ich, die ich aus ihr hervorging,« +meinte ich lächelnd.</p> + +<p>»Die Distanz verändert immer das Urteil,« antwortete +er. »Ich mache mir aber keinerlei Illusionen, +finde nur, daß es taktisch richtiger gewesen wäre, die +Empörung der bürgerlichen Damen über die Haltung +des Reichstags für uns auszunutzen, als sie so plump, +wie Frau Wanda es tat, vor den Kopf zu stoßen. Die +Frauen haben tatsächliche Fortschritte gemacht und sind +mit ihren männlichen Parteigenossen, den Liberalen, nicht +in einen Topf zu werfen.«</p> + +<p>Ich erinnerte ihn an das erwachende Interesse, das +sie seit dem Konfektionsarbeiterstreik für die Arbeiterinnenfrage +an den Tag legten. »Auch auf dem Kongreß +wird sie im Verhältnis zu früheren Zeiten einen +breiten Raum einnehmen.«</p> + +<p>»Ein Verdienst Glyzcinskis und Ihrer Zeitschrift —, das +werden Sie sich hoffentlich nicht verhehlen,« warf er +ein. »Im übrigen ist das natürlich die schwächste Seite +der Damen und wird es bleiben. Sie können ihnen +ja darüber tüchtig die Leviten lesen. Mit Ausnahme +der christlich-sozialen Frauen jüngerer Richtung verstehen +sie nicht einen Deut von ihr.«</p> + +<p>Christlich-sozial, — das war das Stichwort zur +Verallgemeinerung des Gesprächs. Göhre hatte eben +sein Pfarramt niedergelegt, Naumann plante eine +Tageszeitung; die offene Trennung der Gruppe, die +sich um ihn gebildet hatte, von der Stöckerpartei, war +eine schon fast vollendete Tatsache. Man stritt mit +steigender Lebhaftigkeit über ihre Ansichten, über die<a name="Page_159" id="Page_159"></a> +Bedeutung, die sie für die Sozialdemokratie haben +könne.</p> + +<p>»Nichts als ein Unterschlupf für die Möchtegern- und +Kanndochnicht-Politiker; Offiziere ohne Armee, die mit +den Jahren nach rechts abschwenken,« sagte der mit dem +schwarzen Bart und zog ihn schmeichelnd durch kranke, +blutleere Finger »Es wird unsere Sache sein, ihnen +die Entwicklung zu uns zu ermöglichen,« hörte ich Heinrichs +Stimme. »Sie sind immer ein Ideologe gewesen, +lieber Brandt,« antwortete ihm eine andere, »sollten +wir uns um eine Handvoll Intellektueller die Beine +ablaufen, wo Millionen Arbeiter noch nicht die unseren +sind?!« »Gerade um die Millionen zu gewinnen, +brauchen wir eine solche Handvoll —,« entgegnete +Heinrich.</p> + +<p>»Dafür lassen Sie nur ruhig die Verhältnisse sorgen,« +sagte Bebel lebhaft, »sie werden uns schneller, als ihr +alle glaubt, die Massen zutreiben. Noch ein paar Jahre +Flottenrummel, einige Reden von S. M..«</p> + +<p>»Und wir werden glücklich ein Dutzend Mandate +mehr haben —, oder meinst du wirklich, wir sprängen +dann schon mit beiden Beinen in den Zukunftsstaat?!« +Der mit gutmütigem Spott gesprochen und bisher fast +immer geschwiegen hatte, war Ignaz Auer. Auf meine +rasch entzündliche Begeisterung, die Bebels Worte ganz +anders ergänzte, wirkten die seinen wie ein kalter +Wasserstrahl. Anderen schien es ähnlich zu gehen, das +Gespräch verlor seinen allgemeinen Charakter; man stand +auf. Nach ein paar Höflichkeitsphrasen wurde der weibliche +Teil der Gesellschaft in das Wohnzimmer genötigt; +die Herren rückten mit ihren Zigarren um den Eßtisch +<a name="Page_160" id="Page_160"></a>zusammen, und durch die Tür klang ihre laute Unterhaltung. +Bei uns drinnen sprach man von Fleischpreisen +und Kochrezepten; keine der anwesenden Frauen +schien in der Parteibewegung irgend eine aktive Rolle +zu spielen. Fragen von allgemeinerem Interesse wurden +nicht berührt. Nur die große, dicke Frau, deren Schönheit +und Geist mir inzwischen irgendwer gepriesen hatte, +stellte sich wie ein Inquisitor kerzengerade vor mich hin +und fragte: »Wie denken Sie über Ibsen?« Die anderen +richteten selten ein Wort an mich; im Hintergrund +schienen sie über mich zu tuscheln, und ich fühlte ihre +Blicke, die musternd auf mir ruhten.</p> + +<p>Auf dem Heimweg konnte ich mir endlich Luft +machen. »Das sind ja alles Philister —,« brach ich +los, »vom Herrn Amtsrichter in Neu-Ruppin hätte ich +nichts anderes erwartet.« Heinrich lachte.</p> + +<p>»Glaubst du, die politischen Ideale könnten aus ihren +Vertretern gewandte Salonhelden machen?«</p> + +<p>»Das nicht. Aber freiere Menschen.«</p> + +<p>»Darüber dürften Generationen vergehen. Die Gewohnheit +ist wie eine Haut und läßt sich nicht auf einmal +abziehen. Du mußt unsere Genossen bei der Arbeit +kennen lernen, nicht beim Souper.«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Die erste Gelegenheit dazu bot sich bald. Adolf +lud uns ein, der Sitzung der Gewerkschaftskommission +beizuwohnen, in der die Vorschläge +<em class="antiqua">Dr.</em> Quarcks erörtert werden sollten. In einem Lokal +der Kommandantenstraße fand sie statt. Durch die enge +Kneipe, wo es nach schlechtem Fett und süßlichem Schnaps +<a name="Page_161" id="Page_161"></a>roch, und den regenfeuchten dunkeln Garten, wo ein paar +verkümmerte Kastanien zwischen haushohen Mauern einen +endlosen Todeskampf führten, ging es in die große, +hölzerne Veranda, deren spärliche Gasflammen die +dichtgedrängte Menge unruhig beleuchteten. Gegen hundert +verschiedene Berufe waren durch ihre Delegierten +vertreten, fast lauter ernste, ältere Männer im Sonntagsrock, +die Zigarre zwischen den Lippen, den Bierkrug +vor sich; nur zwei Frauen unter ihnen: Martha Bartels +und Ida Wiemer. Sie sahen uns kommen. Aber während +Martha Bartels den leeren Stuhl neben sich +hastig aus der Reihe schob und meinen Gruß frostig +und fremd erwiderte, kam uns Ida Wiemer freundlich +entgegen und zog uns an ihren Tisch. »Haben Sie die +Bartels gesehen?« flüsterte sie mir zu. »Sie hat den +Moralkoller, wie alle alten Jungfern.« Mühsam drängte +sich Reinhard mit seinem steifen Bein durch die Reihen, +um uns die Hand zu schütteln. »So kann ich Ihnen +noch persönlich gratulieren,« sagte er herzlich, »und uns +dazu, weil Sie nun ganz Genossin sind.«</p> + +<p>Er war der Referent des Abends. Mit einer Schärfe, +die mir die Wichtigkeit der Sache zu überschätzen schien, +wandte er sich gegen die Vorschläge Quarcks. Erst allmählich +hörte ich das Leitmotiv aus seiner Rede heraus: den +Gewerkschaften die Beratung und Beschlußfassung sozialpolitischer +Fragen überlassen, hieße den Frieden zwischen +Gewerkschaft und Partei gefährden, hieße den Parteitagen, +die sich bisher allein damit beschäftigt haben — »den +Bedürfnissen und Interessen der deutschen Arbeiterklasse +vollständig entsprechend« —, Sonderorganisationen +gegenüberstellen, in die der Einfluß bürgerlicher Sozial<a name="Page_162" id="Page_162"></a>reformer +einzudringen imstande sein würde. Die folgende +Diskussion verschärfte noch den Eindruck, den ich +gewonnen hatte.</p> + +<p>Es fielen harte Worte, vor denen ich erschrak, weil +sie mir eine Vorahnung dessen gaben, was mir bevorstehen +mochte. »Ein Mensch, der in seiner bürgerlichen +Existenz Fiasko gemacht hat, will uns, — lauter alte +erprobte Gewerkschafter, — auf neue Wege führen,« sagte +der eine unter dem Applaus der Anwesenden. »Erst soll +er, wie jeder Arbeiter auch, in die Schule gehen, ehe +er das Maul aufreißt.« — »Eine Sozialpolitik, wie +Quarck sie empfiehlt, ohne Parteipolitik, ist nichts als +jene Politik bürgerlicher Reformer, zu denen er im +Grunde noch gehört,« rief ein anderer. »Wenn er mit +seiner bescheidenen Parteistellung nicht zufrieden ist, dann +hätte er lieber gleich sagen sollen: für einen so großen +Mann wie mich muß eine Extrawurst gebraten werden, +statt seine Wünsche hinter die Forderung eines Zentral-Gewerkschaftsbureaus +zu verstecken,« meinte ein dritter +Redner, dem die verbissene Wut aus dem roten Gesicht +leuchtete. Erhob sich die Debatte über persönliche Gehässigkeiten +hinaus, so stand auf der einen Seite die +geschlossene Phalanx derer, die mit leidenschaftlichem +Eifer den Nachdruck auf die Gewinnung der politischen +Macht durch die Gesamtheit der Partei gelegt wissen +wollten und den Gewerkschaften den internen Kampf +um bessere Lohn- und Arbeitsverhältnisse als alleinige +Aufgabe zuwiesen, auf der anderen Seite die sehr +Wenigen, aus deren Worten die Unzufriedenheit mit +der praktischen Gegenwartspolitik der Partei leise herausklang, +und die vom Einfluß der Gewerkschaften auf +<a name="Page_163" id="Page_163"></a>die soziale Gesetzgebung ein Wiederaufleben der Sozialreform +erhofften. Ganz nebenbei erwähnte auch jemand, +daß unsere Vereinsgesetzgebung den Gewerkschaften +aus der Beschäftigung mit Sozialpolitik einen Strick +drehen und die Organisierung der Frauen unmöglich +machen könnte. Keiner ging weiter auf diese Bemerkung +ein, auch die Frauen schwiegen, ich war zu +schüchtern, um in diesem Kreis für mein Geschlecht eine +Lanze zu brechen. Mir schien dieser Grund ausschlaggebend, +um die Vorschläge unausführbar zu finden.</p> + +<p>Ich fühlte mehr, als daß ich verstand: unter diesen +Männern, die so eifrig debattierten, die alle so selbstverständlich +nur ein Ziel im Auge hatten, das Wohl +ihrer Klasse, schlummerten Gegensätze, die irgendwann +und -wo an die Oberfläche würden treten müssen.</p> + +<p>Wir gingen noch zusammen ins Kaffee: Reinhard, der +Schwager, die beiden Frauen und wir. Martha Bartels +hatte sich erst durch Reinhards langes Zureden dazu +bewegen lassen. »Wir müssen doch unsere Enquete besprechen,« +hörte ich ihn noch sagen, als sie sich uns +näherte. Ida Wiemer stieß mich mit dem Ellbogen an +und schob dann vertraulich ihren Arm in den meinen: +»Sie wissen doch: Genossin Bartels verbreitet, daß Sie +nur, um einen Mann zu finden, in die Partei kamen.«</p> + +<p>Das gab meinem Herzen einen Stich: Martha Bartels +war fast die einzige, die die Motive meines Schritts +hätte richtig beurteilen müssen. Sie blieb steif und +zurückhaltend und taute erst auf, als Adolf vorschlug, +ein paar Frauenrechtlerinnen, die sich während des +Streiks bewährt hatten, zur Arbeit heranzuziehen. »Niemals!« +rief sie leidenschaftlich. »Wir werden ihnen doch +<a name="Page_164" id="Page_164"></a>nicht die Beziehungen zur Arbeiterschaft vermitteln, die +sie nur für ihre Zwecke ausnutzen würden. Die Christlich-Sozialen +vor allem gehen nur auf den Gimpelfang +aus!« Es war, als ob ich Wanda Orbin sprechen +hörte. Aber ich konnte nicht anders, als ihr recht +geben. Halb mißbilligend, halb verwundert sah Frau +Wiemer, die andrer Ansicht war, mich an, und beim +Weggehen sagte sie mit einem gereizten Ton in der +Stimme. »Sie stellen sich auf ihre Seite — nach allem, +was ich Ihnen von ihr erzählt habe?!« Die Reihe, zu +staunen, war jetzt an mir: »Hier handelt es sich um die +Sache, — nicht um die Person!«</p> + +<p>Auf der Heimfahrt fühlte ich mich plötzlich sehr unwohl. +War es der Tabaksqualm, den ich nicht vertragen +konnte, war es die feuchte Nachtluft, — ich kam +nur schwer die steilen vier Treppen hinauf und warf +mich angekleidet aufs Bett. Heinrich zündete das Nachtlämpchen +an. Es glühte auf dem Tisch wie ein verirrter +Stern, — und die meergrünen Wände waren +wie ein milder Sommerabendhimmel, auf den das rote +Glas der Lampe rosige Wölkchen malte. Heinrich nahm +mir die Schildpattkämme aus den Haaren —, mein +Kopf wurde freier; er zog mir Schuhe und Strümpfe +aus und rieb meine eiskalten Füße zwischen seinen +Händen, von denen wohlige Wärme mir durch den +ganzen Körper strömte. »Ist dir jetzt besser, mein +Schatz?« fragte er besorgt mit dem weichsten Ton seiner +Stimme. Ich sah ihn dankbar an —, dabei blieb mein +Blick über seine Schulter hinweg an einem Bilde +haften; ich hatte es selbst dorthin gehängt, ich wollte +es immer vor Augen haben, ich hatte verlegen gelächelt, +<a name="Page_165" id="Page_165"></a>als Heinrich wissen wollte, warum. Und jetzt — in +glückseligem Erschrecken preßte ich beide Hände aufs +Herz —: glänzte nicht in den tiefen Dichteraugen des +lockigen Ganymed von Watts ein Funken lebendigen +Lebens? Ich sank in die Kissen zurück, Tränen strömten +mir aus den Augen, — war's möglich, daß ich vor der +Erfüllung meiner tiefsten Sehnsucht stand?!</p> + +<p>Am nächsten Morgen kam die Ärztin. Sie lachte +über die Erregung, mit der ich sofort und ganz sichere +Auskunft von ihr haben wollte, und sagte nichts anderes +als: »Vielleicht!« Ich klammerte mich an dies Vielleicht, +ich drehte es jeden Tag hundertmal hin und her, +ob es sich nicht doch in ein Gewiß verwandeln könnte. +Allerhand gespenstische Vorstellungen quälten mich: als +hätte die Frau, die mir hatte Platz machen müssen, +eine geheimnisvolle Macht über meinen Schoß, als +könnten ihre Raubtierhände das Fünkchen Leben zerdrücken. +Mein Mann wurde heftig und schalt meine +Torheit, wenn ich von meinen Ängsten sprach. So war +ich denn ganz allein mit ihnen. Hätte ich nur eine +Freundin, — oder eine Mutter —, dachte ich oft.</p> + +<p>Um die Zeit kamen Mutter und Schwester aus Pirgallen +zurück. »Ich muß Euch, ehe Hans wieder in +Berlin ist, allein sprechen,« schrieb sie und kündigte +ihren Besuch für denselben Tag an. Ich war nicht +ganz ohne Furcht: sie hatte es doch wohl übel genommen, +daß wir ihr Anerbieten, bei unserer Hochzeit +zugegen zu sein, immer wieder abgelehnt hatten. Zuerst +würde sie darum ein bißchen steif sein, aber dann —, +sie würde doch fühlen müssen, wie es um mich stand! +Mit ausgestreckten Händen ging ich ihr entgegen, — ich +<a name="Page_166" id="Page_166"></a>sehnte mich nach einer Mutter! Aber sie übersah sie, — vielleicht +weil der Flur dunkel war. Und sie atmete +rasch und war sehr rot, — vielleicht weil die Treppe +sie überanstrengt hatte. Sie sah sich gar nicht um in +unserem Zimmer, — und ich hatte es ihr zum Empfang +mit lauter leuchtenden Herbstblumen geschmückt.</p> + +<p>»Willst du nicht ablegen?« fragte ich zaghaft.</p> + +<p>»Nein,« antwortete sie schroff und setzte sich auf den +äußersten Rand des großen Lehnstuhls, der sonst selbst +den Fremdesten zwang, sich behaglich in seine Polster +zu lehnen. »Ich komme nur, um eins zu erfahren, das +über unsere künftigen Beziehungen entscheidet —« die +ruhige kühle Frau sprach so rasch, wie ich sie nie hatte +sprechen hören. »Meinen brieflichen Fragen seid Ihr +ausgewichen, mir ins Gesicht hinein könnt Ihr nicht +lügen: seid Ihr kirchlich getraut?« Noch härter als +das ihre klang jetzt mein »Nein«. Aus der Tiefe +meines verletzten Gefühles kam es. Die Mutter hatte +ich erwartet!! Sie sprang vom Stuhl, blaurot im +Gesicht, mit zitternden Händen ihren Schirm umklammernd. +»So ist eure Ehe ein Konkubinat, und du bist +seine Mätresse,« schrie sie mit gellender Stimme. Ich +fühlte, wie das Zimmer sich um mich zu drehen begann +und ein krampfhafter Schmerz meinen Leib zusammenzog.</p> + +<p>»So nehmen Sie doch Rücksicht auf Alix' Zustand —, +schonen Sie ihr Kind!« rief Heinrich, mich fest umschlingend, +da er sah, wie ich schwankte. Sie schien +einen Augenblick Atem zu schöpfen, dann lachte sie +schneidend: »Schonen?! Hat sie etwa ihre Eltern je +geschont?!«</p> + +<p>Ich verlor die Besinnung. Als ich wieder zu mir +<a name="Page_167" id="Page_167"></a>kam, lag ich zu Bett. »Ist sie fort?!« flüsterte ich und +sah angstvoll fragend auf den Geliebten. Er nickte.</p> + +<p>»Für diesmal ist es nichts!« sagte die Ärztin ein +paar Stunden später. In meinem Blick muß meine +ganze Verzweiflung gelegen haben, denn sie streichelte +mir die Wange wie einem kleinen Kinde und sagte +tröstend: »Um so sicherer wird es das nächste Mal sein!«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Ich erholte mich rasch. Mit der Arbeit versuchte +ich gegen den Schmerz zu kämpfen. Es schien +fast, als sollte die Waffe, die so oft unüberwindlich +zu machen vermag, an seiner Riesenkraft zuschanden +werden. Nicht einen Augenblick durfte ich sie +aus den Händen lassen, er hätte mich sonst wieder in +seine Gewalt bekommen. Ich bereitete meine Kongreßrede +vor und studierte alles, was über die Lage der +Arbeiterinnen irgend erreichbar war; ich arbeitete mit +den Kindern und frischte heimlich längst vergessene +Schulkenntnisse auf, um ihnen helfen zu können, ich +versuchte, der Köchin die alten Kochkünste beizubringen, +die ich einst zu Hause gelernt hatte.</p> + +<p>Wanda Orbin überraschte mich eines Morgens dabei. +»Was, Sie können kochen?!« lachte sie. »Ich kann, — ja,« +antwortete ich, »aber ich sehe, daß die Ausführung +meiner Kenntnisse teuer ist; ich werde meiner Köchin +das Feld wieder räumen müssen —.« »Das wird für +beide Teile das Beste sein. Ich hab's zwar auch jahrelang +tun müssen, bin aber dafür nicht als Generalstochter +aufgewachsen.« Ein leiser Spott lag in ihren<a name="Page_168" id="Page_168"></a> +Worten. »Sie werden überhaupt noch viel lernen +müssen, Genossin Brandt!«</p> + +<p>»Ich bin davon überzeugt und immer bereit dazu,« +antwortete ich kühl.</p> + +<p>»Dann wollen wir gleich damit anfangen. Ich fand +ihren Namen auf dem Kongreßprogramm —, Sie müssen +ihn zurückziehen!«</p> + +<p>Überrascht sah ich auf. Sie hatte mit dem Ton einer +Vorgesetzten gesprochen. »Warum?! Bebel hatte gegen +meine Teilnahme nichts einzuwenden!«</p> + +<p>»Bebel! Er sieht die Dinge aus der Vogelperspektive, +vor allem die Frauenbewegung. Die Genossinnen haben +beschlossen, die Aufforderung zu offizieller Beteiligung +abzulehnen.«</p> + +<p>»Ich weiß,« entgegnete ich; »im Frühjahr aber, zur +Zeit, als ich das Referat übernahm, bestand dieser Beschluß +noch nicht. Ich würde meinen Rücktritt, so kurz +vor dem Kongreß, für einen Wortbruch halten, der um +so weniger zu entschuldigen wäre, als ich selbstverständlich +mein Thema auf Grund meiner politischen Überzeugung +behandeln werde und es für dies Publikum +sehr nützlich ist, auch diese ihm ganz fremde Seite kennen +zu lernen. Zahlreiche Elemente, die der bürgerlichen +Frauenbewegung in die Arme liefen — die Lehrerinnen, +die Handelsangestellten, die Beamtinnen —, gehören ihrer +ganzen Lage nach zu uns. Wir können sie nur gewinnen, +wenn wir ihnen bis ins feindliche Lager nachgehen —«</p> + +<p>Frau Orbin unterbrach mich. »Sie irren. Diese Leute +kommen für uns zunächst gar nicht in Betracht. Und +wenn Sie wirklich durch Ihre Überredungskünste« — sie +schürzte wieder spöttisch die Lippen — »zwei oder +<a name="Page_169" id="Page_169"></a>drei gewinnen würden, stünde der Nachteil, den Ihre +Teilnahme an einer bürgerlichen Veranstaltung zur Folge +hätte, gar nicht im Verhältnis zu diesem minimalen +Gewinn.« Ich sah sie fragend an. Sie stand auf, +ging ein paarmal im Zimmer auf und nieder und blieb +dann dicht vor mir stehen.</p> + +<p>»Sie sind eben erst die Unsere geworden,« sagte sie +mit einer Art mütterlicher Freundlichkeit, »Sie sind +Aristokratin, — Gründe genug, um Ihnen mißtrauisch +zu begegnen, um Ihnen die Tätigkeit in der Partei, +von der ich so viel erwarte, sehr zu erschweren. Und +nun wollen Sie noch als einzige, — gegen unseren +Beschluß, — an diesem einseitig feministischen Kongreß +teilnehmen! Das verstehen die Genossinnen +nicht. Und wenn Sie dabei mit Engelszungen +den Sozialismus verkündigen würden, sie hören Sie +nicht, — sie sehen darin doch nichts anderes, als daß +Sie eben noch zu jenen gehören. Ich habe gestern +Ihretwegen einen schweren Kampf gehabt: die Genossinnen +weigern sich unbedingt, Sie zur internen Arbeit +zuzuziehen, wenn Sie nicht durch Unterwerfung +unter unseren Beschluß Ihre Zugehörigkeit zu uns dokumentieren.« +Sie zögerte und sah mich erwartungsvoll +an. Als ich noch immer schwieg, legte sie mir +beide Hände auf die Schultern und fuhr mit eindringlicher +Stimme fort: »Sie sind in die Partei eingetreten, +um für sie zu wirken; wollen Sie sich aus Rücksicht +auf die alten Kolleginnen Ihre künftige Stellung erschweren, +wenn nicht gar unmöglich machen? Haben +die Damen das um Sie verdient ...?« Sie machte +abermals eine Pause. Ich erinnerte mich, wie Frau<a name="Page_170" id="Page_170"></a> +Vanselow in einen Seitenweg eingebogen war, um mich +nicht grüßen zu müssen, wie Frau Schwabach mit hochmütig +erhobenem Kopf an mir vorüberging. Aber hatte +ich durch meinen Brief an Frau Morgenstern das +Referat nicht erzwungen, — konnte ich unter diesen +Umständen daran denken, zurückzutreten? Vor allem +aber: entsprach es meiner Überzeugung?</p> + +<p>»Sie mögen in allem recht haben, — nur in der +Hauptsache nicht: in Ihrem Beschluß. Würde ich +Ihnen nicht selbst als eine Heuchlerin, zum mindesten +als ein Schwächling erscheinen, wenn ich mich ihm +fügen wollte wider besseres Wissen und Gewissen?!« +sagte ich. Auge in Auge standen wir uns gegenüber. +Sie ballte die kleinen breiten Fäuste, aus ihrem +Gesicht brannten hektische Flecke, ihre roten Haare umgaben +es wie mit einem Feuerkranz. Ich dagegen erschien +ganz ruhig, ganz kühl; ich wußte, daß kein +Blutstropfen meine Wangen färbte; und wie um meine +sie überragende Gestalt zu betonen, reckte ich mich gerade +auf.</p> + +<p>»Noch nicht das Abc der Demokratie scheinen Sie +gelernt zu haben!« rief sie aus. »Auers Worte kann +ich Ihnen entgegenhalten, mit denen er in Frankfurt +vor zwei Jahren seinen aufsässigen Landsleuten diente: +›Das gehört zum Demokraten und zum Sozialdemokraten, +daß er sich sagt: Esel seid ihr zwar, aber ich muß mich +fügen‹. Mögen Sie uns meinetwegen für Esel halten — der +Reichtum Ihrer Erfahrung gibt Ihnen ja wohl +ein Recht dazu! —, wenn Sie aber zu uns gehören +wollen, so haben Sie Ihre Person der Allgemeinheit +unterzuordnen.« Jetzt war die untersetzte, kleine Frau +<a name="Page_171" id="Page_171"></a>doch die Überlegene. Ich wandte mich ab und lehnte +die heiße Stirn an die kühle Fensterscheibe; — sie sollte +nicht sehen, wie schwer es mir wurde, mich zu unterwerfen. +Aber sie folgte mir.</p> + +<p>»Genossin Brandt —,« aus ihrer Stimme war der +schrille Ton wieder verschwunden, der an den Kasernenhof +erinnerte, — »wir haben uns alle opfern müssen —« +Ich sah ihr ins Gesicht. Die scharfen Züge waren weich +geworden. »So will ich Ihnen nicht nachstehen,« antwortete +ich. In ihren Augen leuchtete es auf wie +Triumph. Mir war, als ob ihr Händedruck mich in +neue unsichtbare Fesseln schlüge.</p> + +<p>»So, — und nun soll Ihnen eine goldene Brücke +gebaut werden,« damit zog sie mich neben sich aufs +Sofa. »Wir erlassen Ihnen den offiziellen Rücktritt, +aber Sie benutzen die kurze Zeit, die Ihnen sowieso nur +zur Verfügung steht, zu einer Erklärung Ihres Standpunktes +und überbringen dem Kongreß unsere Einladung +zu den Volksversammlungen, in denen die Arbeiterinnenfrage +in einem Umfang zur Erörterung kommen wird, +der ihrer Bedeutung allein entspricht. Sie müssen es ja +selbst schon als eine skandalöse Zumutung empfunden +haben, daß man Ihnen dieselben fünfzehn Minuten zugestand, +die man so welterschütternden Fragen wie den +Volksküchen oder den Kleinkinderschulen auch gewährt +hat —«. Ich bejahte, ohne recht hinzuhören, sie sprach +weiter, wie ein unaufhörlich knarrendes Wasserrad, +immer rascher, ohne Absatz. »Den ersten Vortrag in +unseren Versammlungen übernehmen Sie,« — damit +war ihr Redestrom endlich versiegt. Wir verabschiedeten +uns. An der Treppe blieb sie noch einmal stehen: »Ich +<a name="Page_172" id="Page_172"></a>hätte fast die Hauptsache vergessen: Wir haben morgen +eine Sitzung. Holen Sie mich um acht Uhr ab; es +wird für sie angenehmer sein, wenn ich Sie einführe.«</p> + +<p>So war ich also aufgenommen — endgültig, aber +zu einer rechten Freude darüber kam ich nicht. So sehr +sich mein Nachgeben begreifen und entschuldigen ließ, +so notwendig es vielleicht in der gegebenen Situation +für mich war, ich wurde das peinliche Gefühl dabei +nicht los, einen Wortbruch begangen zu haben. Was +mir zuerst wie eine Erleichterung schien: die »goldene +Brücke«, — kam mir nun vollends wie eine Täuschung +vor. Aber ein Zurück gab es nicht mehr.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Die sozialdemokratische Frauenbewegung stand +damals noch immer im Zeichen des Köller-Kurses. +Ihre Bildungsvereine waren unter +den nichtigsten Vorwänden aufgelöst worden; ihre Vorkämpferinnen +mußten sich wiederholt polizeilichen Haussuchungen +unterwerfen, jede Korrespondenz mit Gesinnungsgenossinnen, +die man auffand, genügte, um sie +als staatsgefährliche Verbrecher hinter Schloß und Riegel +zu setzen. An der Frauenbewegung blieb daher der +Charakter revolutionären Geheimbündlertums, den die +Partei als solche mehr und mehr abstreifte, noch lange +haften. Für die Zusammenkünfte, die notwendig waren, +bedurfte es der größten Vorsichtsmaßregeln, und nur +ein kleiner Kreis vertrauenswürdiger Frauen wurde dazu +eingeladen. Die Sitzung, zu der wir gingen, Frau +Orbin und ich, fand bei einem kleinen Parteibudiker in +der Linienstraße statt. Wir vermieden es, durch das<a name="Page_173" id="Page_173"></a> +Lokal zu gehen — »hier gibt's überall Spitzel,« meinte +meine Gefährtin —, und bogen in den dunkeln Torweg +ein, stiegen vorsichtig tastend eine stockfinstere Treppe +hinauf und standen einen Augenblick zögernd vor einer +Tür, durch deren Schlüsselloch ein schwacher Lichtschein +drang. Ich bemühte mich, hindurch zu sehen. »Drinnen +ist niemand,« sagte ich, »eine Photographie hängt an +der Wand, — ein Mann mit schwarzem Bart und +weißen Locken.« — »Marx!« rief Wanda Orbin, »so +sind wir richtig.« Wir durchquerten den fensterlosen +Raum, dessen stickige Luft mir den Atem benahm, und +traten in die niedrige Stube, die daneben lag. Eine +Petroleumlampe hing von der geschwärzten Decke; mit +einem Geruch von schlechtem Tabak schienen alle Gegenstände +im Zimmer, — die schmutzigen Vorhänge, die +fettigen Zeitungen, die rotgewürfelte Tischdecke, das alte +Klavier im Winkel —, förmlich imprägniert zu sein. Und +dazu hatte der frische September draußen den Rest +stickiger Sommergroßstadthitze hier hereingedrängt. Die +Frauen, die um den langen Tisch in der Mitte saßen, +schwitzten. Ich wurde vorgestellt. Mein verbindliches +Lächeln begegnete unfreundlich-neugierigen Blicken. Erst +als Wanda Orbin mit ungewöhnlicher Wärme von mir +sprach, meinen Entschluß, dem Kongreß eine Erklärung +abzugeben, statt den angekündigten Vortrag zu halten, +mit großem Nachdruck herausstrich, klärten die Mienen +sich auf. Eine kleine runde Frau, die neben mir saß, +streckte mir die arbeitsharte Hand entgegen: »Na, sehen +Se mal, det is scheen von Ihnen!« sagte sie laut mit +feucht schimmernden Äuglein. »Ruhe, Genossin Wengs!« +rief die Bartels vom Tischende hinunter und trommelte +<a name="Page_174" id="Page_174"></a>mit den Fingerknöcheln auf den Tisch. Man versuchte +parlamentarisch zu verhandeln, aber es entspannen sich +immer wieder Privatunterhaltungen. Endlich schien sich +das Interesse auf einen Punkt zu konzentrieren: die +Kassenverhältnisse eines der aufgelösten Vereine wurden +erörtert. Da man Bücher und Protokolle aus Angst +vor Polizei und Staatsanwalt nicht zu führen pflegte +und das kleine Rechnungsbuch aus demselben Grunde +eilig verbrannt worden war, so fehlte es an den nötigen +Unterlagen, um zu einem tatsächlichen Ergebnis zu +gelangen. Es kam zu einer heftigen Debatte. Die arme +Frau, die Kassiererin gewesen war, wurde laut und leise +der Unredlichkeit geziehen —, sie hätte unbedingt noch +vier Mark haben müssen und behauptete schluchzend, +nichts zu haben.</p> + +<p>»Zu all die Arbeet un Schreiberei, die ich vor nischt +gemacht hab,« heulte sie, »soll ich nu noch als Diebin +dastehn. In Zukunft macht Euren Dreck alleene!« Und +hinaus war sie. Immer drückender wurde die Luft. +Das Fenster durfte nicht geöffnet werden, man hätte +uns vom Hof aus hören können. Ich erstickte fast in +dieser Atmosphäre. Die anderen schienen an sie gewöhnt +zu sein, niemand beklagte sich. »Wir müssen unbedingt +die beiden Hauptpunkte unserer Tagesordnung heute +noch erledigen,« erklärte schließlich Wanda Orbin, nachdem +man sich schon zwei Stunden um lauter persönliche +Dinge hin- und hergezankt hatte. »Ich bitte daher ums +Wort zur Frage des bürgerlichen Frauenkongresses.« +Man schwieg, und sie fuhr fort, indem sie nochmals den +Standpunkt der Genossinnen begründete, — mit einer +Stimme und einer Ausführlichkeit, als gelte es eine<a name="Page_175" id="Page_175"></a> +Volksversammlung zu überzeugen. Machte sie eine Pause, +so gab Martha Bartels das Signal zu allgemeinem +Applaus. »Wir sind in der vorigen Sitzung mit unserer +Besprechung zu keinem Abschluß gekommen. Ich frage +die Genossinnen, ob sie sich meinen Antrag, in die Diskussionen +des Kongresses einzugreifen, überlegt haben, +und wie sie sich dazu stellen?« Mit dieser mich nicht +wenig überraschenden Frage, schloß sie ihre Rede. Alles +blieb still. Martha Bartels sah erwartungsvoll von +einer zur anderen. »Wir sind wohl alle einer Meinung,« +meinte sie dann, »und können ohne weiteres zur Abstimmung +schreiten.« Ich hatte bisher mit keinem Wort +in die Debatte eingegriffen. Man sah mich mißbilligend +an, als ich mich jetzt meldete. Wanda Orbin runzelte +die Stirne. »Ich habe der Sitzung nicht beigewohnt, +in der Sie, scheint's, die Angelegenheit schon hinreichend +besprochen haben,« sagte ich, »mir fehlen daher, um zu +einem sicheren Urteil zu kommen, Ihre Gründe. Ich +möchte mir deshalb nur die Frage erlauben, ob es +nicht eine Inkonsequenz ist, die Beteiligung am Kongreß +abzulehnen und die Teilnahme an der Diskussion +zu beschließen?« Allgemeines, stummes Erstaunen. Nur +Ida Wiemer, die neben mir saß, stieß mich unter dem +Tisch heimlich an und warf mir einen aufmunternden +Blick zu. Mit endlosem Wortschwall suchte Wanda +Orbin, vom Beifallsgemurmel der Anwesenden begleitet, +die grundsätzliche Verschiedenheit beider Arten der Beteiligung +auseinander zu setzen. »Es hieße das Prinzip +des Klassenkampfes preisgeben,« sagte sie, »wenn wir +mit bürgerlichen Elementen irgend etwas gemeinsam +unternehmen wollten, aber es gehört zum Klassenkampf, +<a name="Page_176" id="Page_176"></a>daß wir in der Debatte ihnen geschlossen gegenüber +treten.« »Niemand hinderte uns, in selbständiger Rede +dasselbe zu tun —«, warf ich noch einmal ein. Meine +Worte gingen im allgemeinen Geschwätz, das wieder +entfesselt war, verloren. Wanda Orbin hatte alle +Stimmen auf ihrer Seite, — auch Ida Wiemer. +»Wenn man nicht mittut, wird man gehenkt —,« flüsterte +sie mir sich entschuldigend zu. Ich enthielt mich der Abstimmung. +»Wir kommen zum nächsten Punkt der Tagesordnung: +Parteitag,« sagte Martha Bartels, die den +Vorsitz führte. »Genossin Orbin hat das Wort.« »Der +Parteitag in Gotha ist für uns ganz besonders bedeutungsvoll,« +begann sie; »die Frauenagitation steht auf +der Tagesordnung. Es ist infolgedessen wünschenswert, +daß viele der tätigen Genossinnen als Delegiertinnen +anwesend sind, damit die praktische Erfahrung neben +der theoretischen Schulung zu Worte kommt. Unsere +Resolution ist Ihnen durch die ›Freiheit‹ bekannt; +es hat niemand an ihr etwas auszusetzen gehabt, sie +wird ohne Zweifel zur Annahme gelangen, da sie +nichts Neues bringt, sondern nur das bewährte Alte +zusammenfaßt. Nach anderer Richtung jedoch drohen +uns Kämpfe: es liegen Anträge vor, die die Schaffung +einer besonderen Arbeiterinnnenzeitung bezwecken. Ihre +Verfasser sind mit unserer ›Freiheit‹ unzufrieden. Es +ist notwendig, daß die Berliner Genossinnen klipp und +klar dazu Stellung nehmen.« Nun entwickelte sich etwas +wie eine Diskussion. Ein paar Frauen, Martha Bartels +voran, lobten die ›Freiheit‹ in allen Tönen, Frau Wiemer +allein sprach mit dem Wunsch nach etwas populäreren +Artikeln zugleich einen leisen Tadel aus, den Frau<a name="Page_177" id="Page_177"></a> +Orbin dadurch entkräftete, daß sie erklärte, die ›Freiheit‹ +sei gar nicht für die Massen bestimmt, sondern +nur für die Führerinnen. Man war darnach ausnahmslos +entschlossen, jede Änderung ihres Inhalts und jeden +Plan eines Konkurrenzunternehmens abzulehnen. Als +ich bemerkte, man möge wenigstens dafür sorgen, daß, +als wichtiges Mittel unserer Agitation, die allgemeine +Parteipresse der Frauenfrage einen breiten Raum gewähre, +lachte alles. »Da kennen Se unsere Männer +schlecht,« meinte die dicke Frau Wengs neben mir, »die +wollen von uns rein jar nischt wissen.« »Die mehrschten +erlooben den Frauen nich, daß se in ne Versammlung +jehn oder in 'nen Verein. Daheem sollen se sitzen un +Strümpe stoppen,« rief eine andere und ein allgemeines +Klagelied über die Männer hub an; erst die energische +Stimme der Orbin stellte die Ruhe wieder her: »Es +ist zwölf Uhr, — wir müssen zu Ende kommen.« »Jotte +doch, schon zwölwe, un ick habe soo'n weiten Weg,« +jammerte Frau Wengs und erhob sich. Ein paar andere, +die schon lange auf ihren Stühlen hin und hergerückt +waren, sprangen auf. »So bleiben Sie doch fünf Minuten, +Genossinnen,« kommandierte Martha Bartels, +»wir müssen doch die Delegiertinnen zum Parteitag +noch bestimmen.« Frau Wengs ging eilig zu ihrem +Stuhl zurück, mit ihr die anderen; gespannte Neugierde +drückte sich in den Mienen aller aus. Die Bartels +fuhr mit erhobener Stimme fort: »Vorgeschlagen sind +Genossinnen Stein, Wolf und meine Wenigkeit.« Ein +eifriges Geraune und Getuschel setzte ein. »Hat jemand +andere Vorschläge?!« Sie sah drohend umher. Ein +Dutzend Frauen meldeten sich auf einmal. »Immer die<a name="Page_178" id="Page_178"></a>selben!« +— »Laßt doch ooch andere drankommen!« — »Die +gewerkschaftlich tätigen Genossinnen werden +natürlich übergangen —!« schrie und lärmte es durcheinander. +»Ick schlage die Jenossin Brandt vor —,« +rief Frau Wengs. Es wurde still. Die Frauen sahen +mich an, — mißtrauisch, feindselig. Ich hatte die Situation +rasch erfaßt. »Ich danke der Genossin Wengs +für ihre Freundlichkeit,« sagte ich, »aber ich fühle mich +noch viel zu jung in der Bewegung, als daß ich solch +einen Ehrenposten annehmen könnte.« Wanda Orbin +nickte mir, sichtlich erleichtert, zu: »Nun aber schnell zur +Abstimmung, — wir versäumen ja noch die Pferdebahn! — Ich +denke, wir bleiben bei unseren Vorschlägen —« +Niemand widersprach, aber kaum war die Sitzung geschlossen, +als die allgemeine Unzufriedenheit sich in lauter +Unterhaltung wieder Luft machte. Man ging in kleinen +Gruppen auseinander, — lauter feindliche Lager, wie +mir schien. Wanda Orbin legte ihren Arm in den +meinen, die Bartels begleitete uns; ihre Stimmung +gegen mich war wieder umgeschlagen. Sie drückte mir +herzlich die Hand, als wir Abschied nahmen.</p> + +<p>Mein Mann erwartete mich im nächsten Kaffee. »Das +hat aber lange gedauert,« meinte er. »Wenn die Bedeutung +Eurer Beschlüsse der Länge der Zeit entspricht, +die Ihr darauf verwandt habt —!« Ich lachte, aber +es war nicht das Lachen glücklichen Humors, der den +Ereignissen die komische Seite abgewinnt und sich dadurch +über sie erhebt. Heute würde mich der Humor +im Stich gelassen haben, auch wenn ich ihn je besessen +hätte. Es war alles so eng gewesen, so drückend, — wie +die schmutzige Stube und die eingeschlossene Luft +<a name="Page_179" id="Page_179"></a>in ihr; kein großer Gesichtspunkt war zutage getreten. +»Wir Genossinnen sind immer einig,« hatte Wanda +Orbin mir gesagt. Konnte sie wirklich für Einigkeit +halten, was nichts war als die Beherrschung armer +Frauen kraft ihres Willens und ihrer Intelligenz? »So +wird es also deine Aufgabe sein, diesen Absolutismus +zu brechen,« sagte Heinrich. — »Nachdem ich mich ihm +selbst schon unterworfen habe?!«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Ich schritt die breite Treppe des Berliner Rathauses +hinauf. Seit vier Tagen verhandelte +der Frauenkongreß in dem festlichen Bürgersaal +vor einem Publikum, das immer weniger aus Neugierde, +immer mehr aus Interesse kam. Es war zwar +im Grunde nichts als eine Truppenschau, bei der jede +Teilnehmerin ihr Schlachtroß in raschem Galopp vorzuführen +hatte. Aber Berlin sah zum erstenmal: Die +Frauen konnten reiten. Heute war der Tag der großen +Sensation: Die Arbeiterinnenfrage stand auf der Tagesordnung; +man erwartete eine Schlacht zwischen den +bürgerlichen Frauen und den Proletarierinnen, und auch +mir persönlich galt ein Teil der allgemeinen Spannung, — der +Frau, deren Roman von Mund zu Mund ging, +der Renegatin. An der Türe stand Egidy, mein alter +Freund. Er drückte mir die Hand: »Ich bin erst eben +nach Berlin zurückgekehrt. Sonst wäre ich schon bei +Ihnen gewesen. Zwischen uns bleibt alles beim alten.« +Ich lächelte dankbar. Bei meinem Eintritt in den überfüllten +Saal entstand eine bemerkbare Unruhe: Kleider +raschelten, Stühle wurden gerückt, Köpfe wandten sich +<a name="Page_180" id="Page_180"></a>nach mir um, man flüsterte meinen Namen. Eine Gruppe +russischer Studentinnen, an denen ich vorüber mußte, +klatschte stürmisch. Vom Vorstandstisch mahnte eine +scharfe Stimme zur Ruhe. Die Genossinnen begrüßten +mich; die erwartungsvolle Erregung, in der sie sich befanden, +steigerte ihre Freundlichkeit mir gegenüber. +Wanda Orbin nötigte mich auf den Stuhl neben sich. +Ich blieb trotzdem befangen und suchte mit den Augen +meinen Mann, als müßte ich mich wenigstens mit den +Blicken an ihn klammern.</p> + +<p>Eine Österreicherin sprach zuerst über die Ergebnisse +der Wiener Arbeiterinnen-Enquete. Ich kannte sie. Sie +war eine überzeugte Sozialdemokratin. Die fünfzehn +Minuten reichten aus, um ein ergreifendes Bild schrecklichen +Elends zu malen. So hatte ich zu sprechen gedacht! +Eine Engländerin folgte ihr. Sie begründete +die Notwendigkeit der gewerkschaftlichen Organisation +der Frauen in wenigen scharf-umrissenen Sätzen; in +langer Rede hätte sie kaum mehr sagen können.</p> + +<p>»Frau Alix Brandt hat das Wort«, — tönte jetzt die +heisere Stimme der Vorsitzenden durch den Saal. Ich stand +auf und zwängte mich durch die Stuhlreihen, am dichtbesetzten +Tisch der Presse vorbei. »Sie wissen« — »Scheidungsprozeß« — »Verhältnis« — »Unglaublich«, — flüsterte +es. Mein Blut begann zu sieden. Ich stand +auf der Tribüne; — am Vorstandstisch zischte jemand, +aus einer Ecke des Saales klang Beifallsgeklatsch und +Getrampel. Das Zischen wurde stärker. Sekundenlang +kämpften beide Laute miteinander, — die Vorsitzende +rührte sich nicht. Helle Empörung bemächtigte sich +meiner, — jetzt war ich bereit, ihnen meine Verachtung +<a name="Page_181" id="Page_181"></a>ins Gesicht zu schleudern. Ich begann sehr ruhig, indem +ich erklärte, warum die Vertreterinnen der deutschen +Arbeiterinnenbewegung es abgelehnt hätten, sich an den +Arbeiten des Kongresses durch Delegierte zu beteiligen. +»Für sie, die auf dem Boden der Sozialdemokratie +stehen, ist die Frauenfrage nur ein Teil der sozialen +Frage, und als solche durch die mehr oder weniger gut +gemeinten Bestrebungen bürgerlicher Sozialreformer nicht +lösbar. Ich selbst teile diese Auffassung vollkommen.« +Meine Stimme hob sich und wurde schärfer; zu schneidendem +Schwert sollte jedes meiner Worte sie schleifen. +»Wer vorurteilslos und logisch denkt und sich eingehend +mit der Frauenfrage, — wohl gemerkt, der ganzen +Frauenfrage, nicht mit der Damenfrage, — beschäftigt, +der muß notwendig zur Sozialdemokratie gelangen.« +Stürmische Choruse unterbrachen mich, die der Beifall +der Genossinnen vergebens zu ersticken suchte. »Mit +anderen Worten: wer es nicht tut, ist ein Dummkopf +oder ein Heuchler?!« schrie eine der Damen vom Pressetisch +zitternd vor Aufregung. Ich neigte mit spöttischer +Zustimmung den Kopf; sie sprach aus, was zwischen +meinen Worten klingen sollte. Die Unruhe wuchs, ich +mußte lauter sprechen, um durchzudringen. »Die Wertschätzung +und das Verständnis der bürgerlichen Frauenbewegung +für die Arbeiterinnenfrage wird durch nichts +deutlicher charakterisiert, als durch die Tatsache, daß +man mir zu einem Vortrag über sie, die die größte +Masse des weiblichen Geschlechts umschließt, und die +entrechtete und unglücklichste, dieselben fünfzehn Minuten +gewährt hat, wie etwa der Damenfrage der Mädchengymnasien. +Ich verzichte daher auf meinen Vortrag...«</p> + +<p><a name="Page_182" id="Page_182"></a>Die Zuhörer schrieen und tobten, ein paar Männer +sprangen auf die Stühle und drohten mir mit erhobenen +Armen, in größter Erregung schwang die Vorsitzende +unaufhörlich die Glocke, deren wimmerndes +Klagegeheul die Melodie zu der Begleitung brüllender +Stimmen zu sein schien. Endlich verschaffte ich mir +wieder Gehör:</p> + +<p>»In zwei Volksversammlungen, die von uns einberufen +worden sind, soll den Teilnehmerinnen des Kongresses +Gelegenheit geboten werden, die Arbeiterinnenbewegung +kennen zu lernen. Nicht als ob wir des +frommen Glaubens lebten, auch nur eine von Ihnen +für uns gewinnen zu können. Zu tief eingewurzelt ist +der jahrhundertelang genährte Klassenegoismus, zu einschneidend +in das Leben und Denken gerade der abhängigen +Frau sind die Interessen ihrer Klasse, als daß +sie sich so leicht davon losreißen könnte. Aber vielleicht +wird Ihnen eine Ahnung davon aufgehen, daß es ein +größeres, ergreifenderes Elend gibt, als das der unbefriedigten, +berufslosen Töchter Ihrer Stände; daß +außerhalb Ihrer Kreise ein Kampf gekämpft wird, der +ernster, heiliger ist als der um den Doktorhut; daß der +Schwung der Begeisterung, der Heldenmut der Aufopferung +nur dort zu finden ist, wo Männer und Frauen +ihre vereinten Kräfte für das eine große Ziel einsetzen: +Befreiung der Gesamtheit aus wirtschaftlicher und moralischer +Knechtschaft ...«</p> + +<p>Ich stieg vom Podium. Es war ein Spießrutenlaufen. +Die eleganten Frauen Berlins, die in ihren +schönen Herbsttoiletten die ersten Reihen besetzt hielten, +hatten ihre ganze gesellschaftliche Haltung verloren. Sie +<a name="Page_183" id="Page_183"></a>zischten, sie riefen mir Schimpfworte zu, weißbehandschuhte +Fäuste erhoben sich in bedrohlicher Nähe. Aber +schon war Heinrich neben mir und reichte mir den Arm. +Ein paar Schritte weiter umringten mich die Genossinnen, +Wanda Orbin schloß mich stürmisch in die Arme.</p> + +<p>Kurz vor dem Ausgang stand eine Gruppe von erhitzten +Damen um den jüngsten Philosophen Berlins geschart; er +war ein Freund meines Mannes. »Sie haben Gift +gespritzt,« schrie er mir zu. Mit einem Blick voll +Zorn und Verachtung maß ihn Heinrich. Den nächsten +Augenblick trat mir Egidy entgegen. »Sie haben sich +schwer versündigt,« sagte er, seine blauen Augen funkelten +zornig.</p> + +<p>An der Türe zögerte ich. Mir war, als müßte ich +noch einmal rückwärts sehen, über die Menge hinweg +in den festlich glänzenden Saal: Von der Decke herab +flutete das Licht in Strahlenbündeln; es schimmerte +weich auf weißen Marmorfiguren, es zauberte lebendige +blutdurchflossene Adern in die Säulen von rotem Granit, +es funkelte prahlend auf goldenen Gesimsen, und dem +grauen Herbstabend draußen wehrten die hohen farbigen +Bogenfenster den Eintritt.</p> + +<p>Langsam gingen wir die breite Steintreppe hinab +auf die schmutzige Straße.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Am Südende der Friedrichstraße, wo das Licht +spärlicher wird, lag der alte Tanzsaal, in dem +ich am Abend sprechen sollte. Durch ein paar +Höfe, die nur die glühenden Augen breiter Fabrikfenster +erhellten, führte der Weg. Sie waren schwarz voll Menschen.<a name="Page_184" id="Page_184"></a> +Auf den ausgetretenen Stufen der Holztreppe bis zum +Saal war ein Vorwärtskommen fast unmöglich. Ein +paar stämmige Ordner bahnten uns mit Ellbogenstößen +den Weg. »Die berliner Arbeiter wollen Sie alle +sehen, Genossin Brandt,« sagte der eine. Ich senkte +den Kopf. Wie ich mich freute! Über den Massen, die +den Raum erfüllten, in den wir endlich gelangten, +lagerte Tabaksqualm und Menschenschweiß in schweren, +dunkeln Nebeln. Das Licht von den verstaubten Kronleuchtern +drang nur trübe durch den grauen Dunst. +Rußgeschwärzt war die niedrige Decke, von den Wänden +bröckelte der Kalk, blinde Spiegelscheiben warfen +gespensterhaft verzerrt das Bild der Menschen zurück, +die sich vor ihnen sammelten. Ein paar steile Stufen +zu einer kleinen Bühne ging es empor, auf der grell +gemalte Kulissen einen Wald von Palmen darstellen +sollten. Unter mir stand jetzt die Menge Kopf an Kopf. +Siedende Hitze stieg von ihr auf, daß der Atem mir +sekundenlang stockte.</p> + +<p>»So warten sie schon seit zwei Stunden wie eine +Mauer,« sagte Ida Wiemer, die den Vorsitz führte. +Der graubärtige Polizeileutnant schüttelte bedenklich den +Kopf. »Ich kann nur einen kurzen Vortrag gestatten,« +sagte er, »wenn ich nicht die Versammlung auflösen +soll.« »Genossen,« rief Ida Wiemer so laut sie konnte +in den Saal, »macht den fremden Kongreßdelegierten +Platz, die heute unsere Gäste sind —.« Eine Anzahl +Arbeiter versuchten, sich langsam hinauszuschieben. Aber +die Scharen, die die Türen belagerten, versperrten den +Weg. »Das ist lebensgefährlich,« wiederholte der Polizeileutnant +und wischte sich den Schweiß von der Stirne.<a name="Page_185" id="Page_185"></a> +»Fangen Sie an und machen Sie's kurz, — ein anderes +Mittel gibt's hier nicht.«</p> + +<p>Ich trat vor. Kirchenstille umfing mich. Ich sprach +gegen jene landläufigen Vorwürfe, durch die die Gegner +der Sozialdemokratie sie tödlich zu treffen glauben: +Die Zerstörung der Familie, die Propagierung der +freien Liebe, die Vernichtung der Religion, den blutigen +Umsturz. Und ich zeigte, wie die wirtschaftliche +Not es ist, die das Familienleben zerstört, wie +aus derselben Not die käufliche Liebe wächst, die +nichts gemein hat mit jener Freiheit der Liebe, die +wir als die einzige Grundlage echten Familienglückes +den Menschen erobern wollen; wie es die Kirche ist und +der Staat, die die Religion Christi vernichtet haben, +wie die blutige Revolution nicht von uns, sondern von +denen vorbereiten wird, die mit Flinten und Säbeln +drohen, die der wehrhaften Jugend befehlen, auch auf +Vater und Mutter zu schießen, die den Ruf hungernder +Arbeiter um ein paar Pfennige mehr Lohn, um ein +paar Stunden weniger Arbeitszeit mit Gewehrsalven +beantworten. Ich sah nichts mehr; zwischen mir und +den Menschen da unten hingen dichte Schleier. Aber +ich fühlte ihren heißen Atem, ich hörte mit gesteigerten +Sinnen ihr Stöhnen, wenn ich ihr Elend malte, ihren +Beifall, wenn ich von ihren Kämpfen sprach, ihren +hoffnungsstarken Jubel, wenn ich der Zukunft gedachte, +die unser sein wird.</p> + +<p>Ich schwieg erschöpft, — jetzt erst fühlte ich, wie +der Kopf mir brannte und der Atem nach Luft rang. +Hundert Hände streckten sich mir entgegen, als ich +zitternd die Stufen hinabstieg. Die Masse umdrängte +<a name="Page_186" id="Page_186"></a>mich. Dank, — Vertrauen, — Liebe las ich in ihren +Mienen. Ein paar Frauenrechtlerinnen gingen mit steif +erhobenen Köpfen an mir vorbei. Ich lächelte. Wie +hatte ich mich nur je über ihre Feindseligkeit grämen +können?! Ich kam nur langsam vorwärts. Mit lauter +Fragen und Bitten wurde ich aufgehalten: »Nicht +wahr, Sie sprechen auch bei uns einmal?« — »In +unserem Kreis?« — »In meiner Gewerkschaft?« Und +immer wieder sagte ich freudig ja. Die hier glaubten +an mich und erwarteten von mir, daß ich ihnen etwas +sein könnte. Im dunkeln Saal war mein Herz wieder +warm und hell geworden.</p> + +<p>Wir gingen den weiten Weg durch die Nacht nach +Haus. Am Kanalufer raschelten die gelben Blätter uns +zu Füßen und tanzten wie goldige Schmetterlinge in +der feuchten Herbstluft.</p> + +<p>»Warum die Menschen trauern, wenn die Blätter +fallen?« sagte ich. »Sie machen doch nur den jungen +Trieben Platz!« Mein Liebster küßte mich. »Du, was +denken die Leute?!« rief ich lachend und lief ihm davon. +»Die Wahrheit!« sagte er, mich einholend, und +preßte mir die Hände mit einem starken Griff zusammen. +»Daß wir ein Liebespaar sind!«</p> + +<p>Im Schlafzimmer droben riß ich die Kleider vom +Leibe, in denen der Dunst des Saales noch hing. Das +rosige Licht der Lampe umflutete mich; meine Augen +suchten den kleinen Ganymed. Unwillkürlich faltete ich +die Hände. Auch an diesen Frühling glaubte ich wieder.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_187" id="Page_187"></a></p> +<h2><a name="Sechstes_Kapitel" id="Sechstes_Kapitel"></a>Sechstes Kapitel</h2> + + +<p>Goldener Herbst! Ein königlicher Verschwender +bist du. Deiner Geliebten, der Sonne, gibst +du in brennenden Farben zurück, was sie an +Sommerglut der Erde geschenkt hat. Nichts ist dir zu +gering, um es mit dem Glanz deiner Liebe zu überschütten. +Auf die ödesten Mauern zaubert dein Blick +jauchzende Melodien von Gelb und Rot. Aus dem +armen Sand märkischen Bodens lockst du der Sonnenblumen +tropische Pracht hervor und lehrst sie, ihr +Strahlenangesicht deiner Geliebten anbetend zuzukehren. +Unter deinem Hauch reifen die Früchte, und schwer von +Segen neigen sich die Äste vor dir. Von entblätterten +Blüten trägt dein Atem zarte Samenfäden über die +Wiesen und schüttelt von den alten Eichen die Hoffnung +kommender Jahre.</p> + +<p>Tage, über die der Himmel leuchtet wie flüssiges +Silber, läßt du in Nächten untergehen, die tief und +dunkel sind, ein zukunftschwangeres Geheimnis.</p> + +<p>Nicht wie die jungen Mädchen den Lenz begrüßen — schämig +errötend und demutsvoll — empfing ich dich. +Ich forderte von dir, erhobenen Hauptes, meinen Anteil +an deinem Reichtum, Fürst des Jahres. Und, siehe, +aus meinem Herzen wuchsen glutrote Blumen, meine<a name="Page_188" id="Page_188"></a> +Seele wurde zu deinem Saitenspiel, mein Schoß zum +Tempel des Lebens — — —</p> + +<p>Es kam über mich wie ein einziger großer Feiertag. +Er duldete nichts Dunkles. Aus den Kammern vertrieb +ich allen Staub der Vergangenheit, aus Kisten und +Kasten alles, was moderte. Ich badete meine Augen, +daß sie klar und hell wurden und die Welt ihnen in +einem Glanz erschien, wie sie ihn nie vorher gesehen +hatten. Wie der Herbstwind am Morgen die Nebel zerstreut, +so flohen die Sorgen vor dem Sturm meiner +Seligkeit. Ich ging der Sonne nach. Auch den verlorensten +ihrer Strahlen fing ich auf und barg ihn in +der Schatzkammer meiner Seele.</p> + +<p>Sonnengesegnet sollte es sein, mein Kind!</p> + +<p>Ich war nicht mehr Ich. Das geheimnisvoll neue +Leben unter meinem Herzen hatte von mir Besitz ergriffen. +Ich träumte nicht mehr meine engen Träume, +die sich im Kreise um mich selbst bewegten, und lebte +nicht mehr meiner kleinen Hoffnung, die ihren Bogen +nur bis zum Friedhofstor des eigenen Daseins spannte. +Wie Wandervögel flogen meine Träume weit über mein +Gesichtsfeld hinaus, und die Brücke, die die Hoffnung +baute, verband die Zeit mit der Ewigkeit.</p> + +<p>Ich ward mir selbst zum Heiligtum. Ich pflegte +meinen Körper wie der Gläubige den Schrein, der das +Allerheiligste birgt. Und meiner Seele Eingang hüteten +goldgepanzerte Wächter; die Schärfe ihres Schwertes +traf jeden bösen Gedanken, ihren Speeren entging kein +niedriges Gefühl. Denn mein Körper und meine Seele +nährten das neue Leben. Kein Tropfen Giftes durfte +in ihnen sein.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_189" id="Page_189"></a></p> + +<p>Ich wünschte mir einen Sohn. Einen, der ein +Führer und Vorkämpfer werden könnte. Aber +die Erfüllung dieses Wunsches schien mir fast +zu viel des Glücks. Und so dachte ich auch der Tochter — einer, +die ein Vollmensch und darum ein echtes Weib +sein sollte. Von nun an stand Watts Ganymed vor +meinem Platz auf unserem großen Schreibtisch und neben +ihm ein süßes, blondes Mädelchen nach einem Porträt +von Gainsborough. Ich sah von einem zum anderen, +und tief in mein Herz prägten sich die holden Kindergesichter. +Mein Mann brachte mir täglich frische Blumen +für sie. Einmal aber kam er nach Haus und stellte statt +ihrer ein neues Bild mitten auf den Schreibtisch. Es +war Meister Dürers furchtloser Ritter, der seelenruhig, +im Schritt, den Kopf erhoben, das Auge gradaus gerichtet, +an allen Schrecken des Daseins vorüberreitet.</p> + +<p>»Laß kommen die Höll, mit mir zu streiten, ich will +durch Tod und Teufel reiten —,« ist sein Wahlspruch. +»Wenn's ein Bub wird,« sagte der Liebste, »so soll's +so einer sein.«</p> + +<p>»Du hast recht,« antwortete ich und drückte ihm +zärtlich die Hand, »ich habe schon zu viel an das +Kind und zu wenig an den Mann gedacht,« dabei +wies ich lächelnd auf die Wolken weißen Linnens, +die mich umgaben, und zeigte stolz die ersten winzigen +Hemdchen, die daraus entstanden waren. Mein Mann +hatte zuerst von dieser Arbeit nichts wissen wollen. »Du +nimmst einer armen Näherin das Brot und hast selbst +weit Besseres zu tun,« war seine Ansicht gewesen. Aber +<a name="Page_190" id="Page_190"></a>zum erstenmal hatte ich ihm widersprochen und meinen +Willen durchgesetzt. Auf die Stoffe, die meines Kindes +Körper berühren sollten, durften keine Kummertränen +fallen; Mutterliebe mußte die Nadel führen, Mutterträume +sich mit jedem Stich hinein verweben. Nun +kam es freilich vor, daß ich im Übereifer stundenlang +über der Arbeit saß und vernachlässigte, was ich sonst +zu tun hatte. »Das muß anders werden, Heinz,« sagte +ich laut und faltete die Leinwand zusammen. »Auch +um des Kindes willen darf ich die Welt außerhalb unserer +vier Wände nicht vergessen, die doch auch seine +Welt sein wird. Schau, hier ist ein Brief von Wanda +Orbin —,« ich reichte ihn meinem Mann hinüber, der +sich an den Schreibtisch gesetzt hatte; »sie beklagt sich, +weil ich zu wenig für die ›Freiheit‹ schreibe; hier sind +eine Reihe Aufforderungen zu Vorträgen, — ich war +nahe daran, sie ablehnend zu beantworten —«</p> + +<p>»Und hier,« unterbrach er mich, »habe ich Bücher, +die deiner Besprechung harren. An den Artikel, den +du mir für mein Archiv versprochen hast, will ich schon +gar nicht erinnern —«</p> + +<p>Ich stand auf und reckte mich mit einem Gefühl tiefen +Wohlbefindens. »Du wirst ihn bekommen! Ich verstehe +nicht recht, warum so viele Frauen jammern, wenn +sie guter Hoffnung sind. Ich fühle Kraft für zwei!«</p> + +<p>Und mit Feuereifer stürzte ich mich in die Arbeit, +die ich nur stundenweise unterbrach, um frische Luft zu +schöpfen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_191" id="Page_191"></a></p> + +<p>Ich sollte mir täglich Bewegung machen und +vermied den nahen Tiergarten, weil ich den +Eltern zu begegnen fürchtete. Ich wußte: mein +Herz würde sich schmerzhaft zusammenkrampfen, und +ich wollte mich jetzt nicht grämen. So fuhren wir denn +fast immer in den Grunewald und wanderten um die +stillen Seen, die zwischen entlaubten Bäumen und schwarzen +Kiefern dem Winter entgegenträumten, oder gingen +auf den gepflegten Wegen der jungen Kolonie, +all die vielen Villen betrachtend, die rascher als die +Mietskasernen auf dem Kurfürstendamm aus der Erde +wuchsen. Sie waren anders als die, die noch vor +wenigen Jahren entstanden waren, — heller, freundlicher. +Die verlogenen Butzenscheibenerker und die altdeutschen +Sprüche über den Türen verschwanden mehr +und mehr. Die Zeit wurde selbstbewußter und schämte +sich der erborgten Formen vergangener Jahrhunderte. +Oft freilich sahen wir halb staunend, halb lachend +Häuser, die aus lauter Originalitätssucht absurd geworden +waren. Aber auch das war im Grunde nichts +anderes, als der tolle Ausbruch überschäumender Jugendkraft, +und wenn mein Mann spotten wollte, erinnerte +ich an Goethes Wort: Es ist besser, daß ein junger +Mensch auf eigenem Wege irre geht, als daß er auf +fremdem recht wandelt.</p> + +<p>Heute blieben wir in Schauen versunken vor einem +Häuschen stehen, das aus dem Märchenbuch ins +Leben versetzt zu sein schien: ein tiefes Dach hing +schützend über den von rotem Weinlaub dicht um<a name="Page_192" id="Page_192"></a>sponnenen +Wänden, hinter kleinen blitzenden Fenstern +hingen weiße Vorhänge, auf den braunen Holzaltanen +blühten noch rote Geranien, und davor auf dem glatten +Rasenteppich warf ein kleiner Knabe jauchzend den +bunten Ball in die helle Herbstluft. »Wenn doch mein +Kind wie dieses in Wald und Garten wachsen könnte,« +dachte ich. »Solch ein Haus möcht' ich euch bauen, +dir und dem Kinde,« sagte Heinrich im gleichen Augenblick. +Ich lachte ein wenig gezwungen. »Wie sollte +das möglich sein, wo unsere Mietwohnung für uns +schon zu teuer ist!« »Wenn wir Zinsen statt Miete zu +zahlen hätten —,« meinte er nachdenklich; »Hall hat in +dieser Weise schon mancher Familie die Möglichkeit verschafft, +im eigenen Häuschen und im Freien zu wohnen!« +Wir gingen schweigsam weiter, nur hier und da fiel +eine Bemerkung, die mir zeigte, das er denselben Gedanken +weiter spann.</p> + +<p>Am Wildgatter nach Hundekehle holte uns eine große +Gesellschaft junger Radler ein; ihre blanken Räder +blitzten, knapp und elegant schmiegten sich die Sportanzüge +neuster Mode um die schlanken Gestalten. »Ist +das nicht —,« rief ich unwillkürlich, und mein Herz +klopfte rascher, aber schon wandte das reizende Mädchen, +das dicht an mir vorbei geflogen kam, dunkelerrötend +den Kopf zur Seite. »Ilse, — kein Zweifel,« antwortete +Heinrich. »Und sie grüßt mich nicht einmal!« +Tränen verdunkelten mir den Blick. »Wollen wir umkehren?« +frug mein Begleiter sanft und zog meinen +Arm fest durch den seinen. »Nein,« entgegnete ich und +versuchte zu lächeln; »sie kann ja nichts dafür, die +Kleine! Sie darf mich nicht kennen.«</p> + +<p><a name="Page_193" id="Page_193"></a>Unten vor dem Wirtshaus standen die Räder. Wir +wollten gerade links einbiegen, den Weg nach Paulsborn, +der für uns so reich war an Erinnerungen, als +Ilse, nach einem Augenblick des Zögerns, quer über die +Straße zu uns herüberlief. Sie umarmte mich stürmisch.</p> + +<p>»Sei nicht böse, Schwester,« rief sie atemlos und zog +mich tiefer in den Wald hinein. »Sie würden mich zu +Hause verraten, wenn ich dich gegrüßt hätte.« Zärtlich +streichelte ich ihr das erhitzte Gesicht und drückte ihr +kleines Händchen, das immer noch so weich und zart +war, so unfähig zuzupacken und festzuhalten.</p> + +<p>»Die Eltern wollen nichts von mir wissen?« fragte ich +zaghaft.</p> + +<p>»Wir reden viel von dir, Mama und ich,« antwortete +sie, »aber vor Papa dürfen wir deinen Namen nicht +nennen. Trotzdem weiß ich, daß er sich bangt nach +dir,« fügte sie rasch hinzu, als sie sah, wie ich erschüttert +war. »Wir holen ihn manchmal vom Kasino ab; +wenn wir über den Lützowplatz fahren, läßt er deine +Fenster nicht aus den Augen.«</p> + +<p>»Und Mama, sagst du, spricht von mir?!«</p> + +<p>»Ja. Sie hatte zuerst des Morgens rote Augen, aber +jetzt ist sie ruhig. Es quält sie nur, glaube ich, daß +sie nicht weiß, ob — ob —,« sie errötete, ein forschender +Blick glitt über meine Gestalt.</p> + +<p>Heiß strömte es mir zum Herzen, mein ganzes, reiches +Glück überkam mich, und alles Erinnerungsweh verschwand +vor ihm. »Grüße Mama,« sagte ich weich, +»und sage ihr, daß ich guter Hoffnung bin.« Ihre +Hand löste sich aus der meinen, ein Schatten schien +über ihre Züge zu huschen, etwas Fremdes stand auf +<a name="Page_194" id="Page_194"></a>einmal unsichtbar zwischen uns. »Ich muß fort, — sie +suchen mich sonst, — lebwohl — —!« und schon war +sie wieder jenseits der Straße.</p> + +<p>»Verstehst du das?« fragte ich meinen Mann, der die +ganze Zeit mit gerunzelter Stirn neben uns gestanden +hatte, und sah ihr kopfschüttelnd nach. »Nein,« sagte +er, »sie scheint mir aus Widersprüchen zusammengesetzt, +deine Schwester.«</p> + +<p>Auf dem Rückweg ertappten wir uns gegenseitig bei +einem verstohlenen, sehnsüchtigen Blick nach dem weinumsponnenen +Häuschen mit dem tiefen Dach darüber. +Der Rasenplatz war leer. Ob der Kleine da oben +hinter den zugezogenen weißen Vorhängen schlummern +mochte? Und ich träumte, während wir heimwärts fuhren, +offenen Auges einen gar süßen Traum.</p> + +<p>Mein Herz war heut übervoll. Als ich abends bei +den Knaben saß, um ihre Arbeiten zu beaufsichtigen, +fühlte ich stärker als sonst, wie wenig ich sie eigentlich +kannte. Sie waren nachmittags wie gewöhnlich im +Zoologischen Garten gewesen. Es kam mir wie ein Unrecht +vor, daß ich sie dort allein ließ; ich wußte nicht, +was sie hörten und sahen, welchen Einflüssen sie inmitten +der verdorbenen Großstadtjugend unterliegen +mochten. Und doch, nicht möglich wäre es gewesen, so +große Jungen auf Schritt und Tritt unter Aufsicht zu +halten.</p> + +<p>Ihr Verhältnis zueinander war kein brüderliches, sie +klagten sich häufig gegenseitig bei mir an, — das einzige +Mittel, wodurch ich etwas von ihnen zu erfahren bekam. +Hätte ich doch ihr volles Vertrauen besessen! +Aber freilich: ich hatte kein Recht darauf; für sie stand +<a name="Page_195" id="Page_195"></a>ich nicht einmal an Stelle der Mutter, denn sie lebte +noch. Je erfolgloser mein Bemühen gewesen war, +ihnen näher zu kommen, desto unbegreiflicher war +es mir, daß die Mutter sich hatte von ihnen trennen +können. Ein Kind bedarf der Mutter, die es besser +versteht, als es sich selbst verstehen kann. Tiefes +Mitleid ergriff mich mit den beiden Buben, aber +ein noch tieferes fast mit ihrer Mutter. Welch Schicksal +mußte sie getroffen haben, daß sich ihr Herz so hatte +verhärten können? Heinrich sprach nicht gern von ihr; +und meinen Gedanken, ihr zu schreiben, um wenigstens +in bezug auf die Erziehung der Kinder im Einvernehmen +mit ihr zu handeln, hatte er schroff und ärgerlich als +einen ganz törichten und zwecklosen zurückgewiesen. Ich +hatte ihn trotzdem ausgeführt — heimlich, um ihn nicht +zu ärgern. Da wir aber im Überschwang unseres jungen +Eheglücks einander gestattet hatten, unsere Briefe gegenseitig +zu öffnen, so las er ihre Antwort: ein paar kühle +hochmütige Zeilen, im Tone der Herrin gegenüber der +Gouvernante. Heinrich war damals ernstlich böse geworden, +und — was mir am tiefsten in die Seele +schnitt — traurig dazu. »Ich kann alles vertragen,« +hatte er gesagt, »nur eins nicht: daß du unehrlich bist +mir gegenüber. Ich muß dir unbedingt vertrauen können, +sonst ist unsere Ehe keine mehr.« Seitdem hatte ich die +kaum begonnene Korrespondenz wieder abgebrochen, und +die Brücke zum Herzen der Kinder, auf die ich gehofft +hatte, blieb ungebaut. Und nun kam es plötzlich wie +eine Erleuchtung über mich: ich wußte, womit ich sie +würde gewinnen können.</p> + +<p>»Erzähl uns was,« bettelte Wolfgang wie immer, +<a name="Page_196" id="Page_196"></a>wenn er aufatmend die Schulbücher zuschlug. »Gleich!« +antwortete ich lächelnd, und ging hinaus, um mit dem +Korb voll weißer Leinwand wiederzukommen.</p> + +<p>»Was meint ihr wohl, was das ist?« fragte ich und hielt ein +kleines Hemdchen hoch, sodaß das Licht der Lampe rosig +hindurchschimmerte. Sie rissen erstaunt die Augen auf. +»Eurem Brüderchen oder eurem Schwesterchen gehört +es, das ihr bekommen werdet. Habt ihr die Eicheln +gesehen, die von den Bäumen fallen? Wenn die Erde +sie aufnimmt, und weich und warm einhüllt, damit der +Winter ihnen nichts Böses tun kann, so wachsen im +Frühling junge Bäumchen daraus ... Und ein Vogelei +kennt ihr doch auch? Da ist zuerst gar nichts drin, wie +eine weißliche Flüssigkeit. Wenn's aber eingebettet im +Nestchen liegt, und die Henne es mit ihrem Leib bedeckt, +dann entwickelt sich zuerst die gelbe Dotter und +aus ihr ein winziger lebendiger Vogel. Sobald er +groß genug ist, zerbricht er das Ei und ist da! Wir +sind so sehr daran gewöhnt, daß wir uns des großen +Wunders gar nicht mehr bewußt werden, — eines +Wunders, das viel unfaßlicher ist, als wenn der Storch +die kleinen Kinder brächte, wie man es früher zu erzählen +pflegte.« Ich machte eine Pause; meine Zuhörer +rührten sich nicht, und ich hatte nicht den Mut aufzusehen. +Wußte ich doch nicht, was für Blicken ich begegnen +würde. »Euch ist vielleicht auch einmal das +Märchen vom Storch zu Ohren gekommen,« fuhr ich +leiser fort, »es ist dumm und albern! Die Wahrheit +ist tausendmal schöner: wie die Eichel im Schoß der +Erde, ruht der Menschensamen im Mutterleib, und wie +das Vögelchen sich entwickelt, so entwickelt sich das Kind, +<a name="Page_197" id="Page_197"></a>nur daß die Menschenmutter das Ei unter dem Herzen +trägt, bis es zerspringt und das junge Leben geboren +wird.« Ich schwieg wieder; es war so still, daß ich +hätte meinen können, ich wäre allein im Zimmer. »Weil +ich euch lieb habe, euch beide —,« flüsterte ich und senkte +den Kopf tief auf die Arbeit, die meine zitternden Hände +hielten, — »darum mag ich euch nicht belügen, darum +will ich euch anvertrauen, was mein glückseliges Geheimnis +ist: ich werde auch ein Kind bekommen!«</p> + +<p>Eine beklemmende Stille; ich konnte die Nadel hören, +wenn sie den Stoff durchstach. Endlich sah ich empor. Die +Köpfe gesenkt, mit dunkelroten Wangen saßen die Knaben +vor mir. Ein rascher scheuer Blick traf mich aus Wolfgangs +hellen Augen, um seine Lippen zuckte es. Waren +es verhaltene Tränen, oder war es am Ende gar — Spott? +Hans rutschte vom Stuhl auf die Erde und +machte sich, abgewandt von mir, an seiner Dampfmaschine +zu schaffen. Ich wußte nur zu gut, wie verdorbene +Kinder das Geheimnis des Lebens ihren Schulkameraden +zu erklären pflegen: mit lüsternen Augenzwinkern, +mit der Freude am Schmutz. Hatten sie es +so erfahren?! Mir stieg die Schamröte bis unter die +Haarwurzeln. Oder hatten sie, während ich sprach, +ihrer Mutter gedacht, hatten plötzlich empfunden, daß +ich sie nicht so würde lieben können wie mein eigenes +Kind? Ich seufzte tief auf. So war auch das vergebens +gewesen; statt eine Schranke einzureißen, hatte +ich eine neue errichtet. Ich begegnete ihnen von nun +an mit doppelter Zärtlichkeit; ich suchte ihre Wünsche +zu erfüllen, noch ehe sie laut wurden. Aber ihre Scheu +überwand ich nicht.</p> + +<p><a name="Page_198" id="Page_198"></a>Vor Heinrich ließ ich mir nicht merken, was in mir +vorging. Er hätte mich mißverstehen, hätte glauben +können, daß ich seine Bitte, die Kinder lieb zu haben, +nicht zu erfüllen vermöchte, — dachte ich. Auch war er +den Kindern gegenüber oft so reizbar, daß ich Mühe +hatte, ihn zu besänftigen. Das Verlangen, mit mir +allein zu sein, äußerte er zuweilen in einer, wie mir +schien, für die unschuldigen Buben empfindlichen Weise. +Ich lenkte ein, — ich deckte zu, — ich versteckte mein +eigenes Empfinden, das in derselben Sehnsucht gipfelte +wie das seine. Wie viele warme Worte und heiße +Blicke und zarte kleine Aufmerksamkeiten, die wie ein +holder Frühlingsflor den Garten junger Ehe schmücken, +wagten sich vor den fremden Augen der Kinder nicht +ans Tageslicht. Auch über das Glück meiner Mutterhoffnung +mußt' ich vor ihnen einen Schleier ziehen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Wir lebten damals ganz still. Von geselligem +Verkehr war selten die Rede. Wir +scheuten noch immer unliebsame Begegnungen, +und unsere Zurückhaltung, die mir als Hochmut +ausgelegt wurde, steigerte nur unsere Isoliertheit. Es +kam vor, daß wir im Theater zwischen lauter alten Bekannten +saßen und uns doch wie auf einsamer Insel +mitten im Meer befanden. Man musterte uns neugierig, +man tuschelte über uns, man grüßte bestenfalls, +und ich setzte dazu meine abweisendste Miene auf, um +den Menschenhunger, der mich manchmal überfiel, nicht +merken zu lassen.</p> + +<p>Zuweilen besuchten uns die Mitarbeiter an meines<a name="Page_199" id="Page_199"></a> +Mannes Zeitschrift: Nationalökonomen, Juristen und +Politiker aus aller Herren Länder, die er mit dem +ihm eigenen redaktionellen Geschick unter einen Hut zu +bringen gewußt hatte, und die, — mochten sie sonst +in ihren Ansichten noch so weit auseinander gehen, — unter +seiner Führung gemeinsam am selben Strange +zogen.</p> + +<p>»Ihr Mann ist ein wahres Redaktionsgenie!« sagte mir +einmal einer von ihnen, nachdem er sich nach langer +Debatte doch wieder unterworfen hatte, halb ärgerlich, +halb bewundernd. »Meist erdrücken die Autoren den +Redakteur, er nimmt dankbar, was ›bewährte Mitarbeiter‹ +ihm bringen und ist eigentlich nur ihr Geschäftsführer. +Ihr Mann aber zwingt uns in seinen +Dienst wie ein Feldherr seine Soldaten. Wenn er +will, so müssen wir alles andere stehen und liegen lassen, +uns hinsetzen, die Feder ergreifen und den gewünschten +Aufsatz schreiben.«</p> + +<p>Ich freute mich jedesmal dieser Gäste; denn mochten +sie von Rußland oder Frankreich, von England oder +Italien kommen, — eins war ihnen gemeinsam: Tatkraft +und Hoffnungsfreudigkeit. Ganz richtig äußerte +sich einer über diese innere Einheit, wenn er sagte: +»Wir sind Leute mit der Devise ›Ja, also!‹, im +Gegensatz zu der älteren Generation der kathedersozialistischen +Nationalökonomen, die die Männer des ›Ja, +aber!‹ gewesen sind.« Sie zogen die Konsequenzen ihrer +wissenschaftlichen Erkenntnis und traten rückhaltlos auf +Seite der Arbeiter in Fragen des Arbeiterschutzes. In +ihnen sah ich starke Verbündete der Sozialdemokratie, +und es schien mir kein Zweifel, daß die Logik der inneren<a name="Page_200" id="Page_200"></a> +Entwicklung und der äußeren Geschehnisse sie schließlich +zu ihren offenen Parteigängern würde machen müssen.</p> + +<p>Aber noch eine andere Tatsache unterstützte meinen +Glauben an den Fortschritt sozialer Erkenntnis: die +Gründung der nationalsozialen Partei.</p> + +<p>Sie war eben in Frankfurt zur Welt gekommen und +getauft worden; sie hatte im Rausch der Festesfreude +freilich den Mund sehr vollgenommen, wie das nun +einmal in solcher Situation deutsche Art zu sein pflegt: +»Wir stehen als Erben vor der Türe der Sozialdemokratie,« +hatte Göhre erklärt. »Wir stellen uns an die +Spitze der Arbeiterbewegung, denn die Zeit der Sozialdemokratie +ist um,« hatte Sohm ihm sekundiert. Aber +solche rednerischen Entgleisungen, die unsere Parteipresse +mit einem übertriebenen Pathos rügte, statt über sie zu +lächeln, wogen leicht gegenüber dem Handeln dieser +Männer und Frauen: sie anerkannten die Gegenwartsforderungen +der Sozialdemokratie, sie stellten sich, bei +aller Betonung nationaler Gesinnung, in bewußtem +Gegensatz zur Regierung, die die sozialen Pastoren maßregeln +ließ, — zum Kaiser, der ihre Bestrebungen für +sträflichen Unsinn erklärte.</p> + +<p>Ein Ereignis trat ein, das vollends zwischen rechts +und links wie Scheidewasser wirken sollte: der Hafenarbeiterstreik +in Hamburg. Hatte wenige Jahre vorher +die Cholera die Augen der ganzen Welt auf die gräßlichen +Elendsquartiere der reichen Kaufmannsstadt gerichtet, +so zeigte sich jetzt, daß selbst ihr Schrecken nicht +imstande gewesen war, die Brutstätten des Todes aus +der Welt zu schaffen. Noch hausten zwanzig Prozent +ihrer Bewohner dicht zusammengedrängt in winzigen<a name="Page_201" id="Page_201"></a> +Räumen und engen Gassen, — zu fünft in einem Zimmer, +zu neun in zweien! Und zu diesen gehörten vor allem +die Hafenarbeiter, die bei schwerer Arbeit, die sie oft +Tag und Nacht nicht los ließ, nicht genug verdienten, +um sich auch nur in Frieden ausruhen und frische Arbeitskräfte +sammeln zu können. Der Eindruck der Tatsachen, +die der Streik enthüllte, war ein ungeheurer, +und die Haltung der Hamburger Reeder, die sich allen +Einigungsversuchen der Arbeiterorganisationen widersetzten +und einen Kampf um ein paar Groschen mehr +Lohn zu einem Kampf um ihre Macht erweiterten, empörte +jeden, der vorurteilslos zu denken vermochte. In +höherem Maße als zur Zeit des Konfektionsarbeiterstreiks +nahm die Öffentlichkeit Partei für die Arbeiter, +geführt von den jungen sozialpolitischen Professoren +und der nationalsozialen Partei. Das waren, so schien +mir, Symptome für das Erwachen eines Geistes, der +nicht mehr zu bannen sein würde. Und die Haltung +der Gegner bekräftigte meine Auffassung: Kleine Nadelstiche, +wie die Ausweisungen englischer Arbeiterführer, +die, um Frieden zu stiften, nach Hamburg gekommen +waren, — schroffe Erklärungen der Reichsregierung +gegen die Streikenden, — von ihr unwidersprochene +Aussprüche, wie die des alten Reaktionärs Kardorff im +Reichstag: »Ich freue mich, daß man von den bedenklichen +Wegen des Erlasses von 1890 jetzt abgekommen +ist,« — Wünsche eines Stumm und seiner Gesinnungsgenossen, +die zur Bekämpfung staatsgefährlicher Umtriebe +eine Änderung der Vereinsgesetze forderten, — waren +das alles nicht Zeichen der Angst und der Schwäche? +Und war nicht die Wandlung, die der Kaiser seit seinen +<a name="Page_202" id="Page_202"></a>sozialpolitischen Erlassen durchgemacht hatte, ein unbewußtes +Eingeständnis schwindenden Einflusses? Erfüllt +von seinem Gottesgnadentum, durchtränkt von der Vorstellung, +die Tradition und Erziehung den Fürsten unauslöschlich +einprägt: daß das Volk ihnen gegenüber +im Verhältnis des Kindes zum Vater steht, hatte er ein +sozialer Kaiser sein wollen, indem er der Arbeiterschaft +als Geschenk brachte, was ihm gut schien für sie. Als +sie es ihm nicht dankte, als sie Rechte forderte, statt +Gnaden zu erbitten, sie sogar mit Gewalt ertrotzen wollte, — da +wurde der in seiner Autorität verletzte Fürst zum +zürnenden, strafenden Vater. Und derselbe Kaiser, der +1890 für die Schaffung von Schiedsgerichten eintrat, stellte +sich 1896 auf die Seite der Hamburger Reeder und forderte +die Vereinigung aller Arbeitgeber gegen die Arbeiter.</p> + +<p>Um diese Zeit besuchte uns mein alter Freund Professor +Tondern, der ein stiller Gelehrter irgendwo an +einer Provinzuniversität geworden war, und den ich für +unsere Sache fast schon aufgegeben hatte. Er war zur +Zeit des Streiks in Hamburg gewesen, und mein Mann +hatte ihn für das Archiv zu einer Arbeit darüber aufgefordert. +Statt aller Antwort kam er selbst, ganz erfüllt +von dem Erlebten.</p> + +<p>»Da bilden wir uns nun wer weiß wie viel auf +unsere Bildung, unsere alte Kultur ein,« sagte er, »und +müssen angesichts solcher Kämpfe beschämt eingestehen, +daß wir mit all dem lumpigen Rüstzeug ihren Forderungen +gegenüber jämmerlich Schiffbruch leiden würden, +während die in Elend und Unwissenheit Aufgewachsenen +sich wie Helden bewähren. Sie hätten nur sehen sollen, +wie tapfer die Frauen, vom kleinen Mädchen bis zum +<a name="Page_203" id="Page_203"></a>steinalten Mütterchen, ihren Vätern und Söhnen zur +Seite standen. Da steckt ungebrochene Jugendkraft —« +Er brach seufzend ab.</p> + +<p>»Zeugt die arbeiterfreundliche Haltung gewisser bürgerlicher +Kreise nicht auch dafür?« fragte ich.</p> + +<p>Er schüttelte heftig den Kopf, daß die dünn gewordenen +roten Haarsträhnen flogen. »Immer noch die +alte Optimistin!« murmelte er. »Zu einem guten Teil +haben Sie freilich recht —« fügte er dann laut hinzu. +»Der Streik hat die Verschlafenen aufgerüttelt, hat die +sozialpolitischen Probleme wieder in den Fluß der Diskussion +gebracht, hat die brennende Feindschaft, die der +Generalstab des Kapitals, das heißt das Kapital in +seiner bedrohten politischen Machtsphäre gegen die freie +Wissenschaft empfindet, zu hellen Flammen werden lassen, — und +das kann dem echten, dem kritischen wissenschaftlichen +Geist nur heilsam sein.«</p> + +<p>»Diese Feindschaft muß aber auch mehr und mehr zu +uns herübertreiben,« entgegnete ich.</p> + +<p>»Zur Sozialdemokratie? Nein! Erinnern Sie sich +unserer Haltung nach der frankfurter Tagung der +Ethischen Gesellschaft? — Seitdem hat sich für uns +nichts verändert. Wir sind sogar nur noch fester an +die Staatskrippe, und damit an den Dienst der kapitalistischen +Gesellschaft geschmiedet, weil unsere Kinder inzwischen +größer und anspruchsvoller wurden. Eine Ausnahme, +wie Sie, bestätigt nur die Regel. Marx hat +keine größere Wahrheit ausgesprochen als die, daß die +gesellschaftliche Umwandlung nur das Werk der Arbeiterklasse +sein kann.«</p> + +<p>Er stand auf. »Ich muß eilen, — meine Frau wartet +<a name="Page_204" id="Page_204"></a>auf mich,« sagte er hastig, und strich sich gleich darauf +mit einer verlegen ungeschickten Bewegung den roten +Bart. Ich verstand. Es war gewissermaßen nur ein +Geschäftsbesuch gewesen. Mit Damenbesuchen wurde +ich nicht verwöhnt! Er schüttelte meinem Mann die +Hand: »Sie bekommen den Aufsatz in spätestens vierzehn +Tagen.« Dann wandte er sich abschiednehmend zu +mir: »Sie dürfen mir auch die Hand geben. Meine +Stellung zu Alix Brandt ist genau dieselbe geblieben +wie zu Alix von Glyzcinski.«</p> + +<p>Kurze Zeit darauf meldete sich einer der geistvollsten +Archiv-Mitarbeiter, Professor Romberg, bei uns an. Ich +sah ihm mit gespannter Erwartung entgegen, denn ihm +war ein Buch vorausgegangen, das ihn wie ein Herold +mit Fanfarenstößen angekündigt hatte. Ein schmaler +roter Band war es nur, aber das Wort »Sozialismus« +prangte in goldenen Lettern darauf, und sein Inhalt +war nichts anderes als eine Verteidigung der Lehren +von Karl Marx, als eine Anerkennung der sozialdemokratischen +Arbeiterbewegung. Das Katheder eines wohlbestallten +ordentlichen preußischen Universitätsprofessors +hatte sich der Verfasser wohl auf immer verscherzt, aber +eine Zuhörerschaft hatte er sich erobert, aus der für die Sache +des Sozialismus eine große Gefolgschaft werden mußte.</p> + +<p>Mein Mann lächelte über meinen Enthusiasmus, er +spielte sogar ein wenig den Eifersüchtigen, als ich zum +Empfang dieses Gastes ganz besondere Vorkehrungen +traf, den Tisch mit buntem Herbstlaub schmückte und +eine Flasche Wein besorgen ließ, — zum erstenmal seit +unserer Hochzeitsfeier.</p> + +<p>Als er eintrat, hatte ich jene seltsame Empfindung, +<a name="Page_205" id="Page_205"></a>die ich als Kind besonders häufig gehabt hatte: daß +mir derselbe Mann in derselben Situation schon einmal +begegnet war; selbst die gleichgültige Begrüßungsphrase +und der Ton seiner Stimme dabei war mir bekannt, +ehe er sie aussprach. Im ersten Augenblick war ich +verwirrt und überließ Heinrich die Unterhaltung, +dann musterte ich den Gast, und dabei verwischte sich +das Gefühl langen Bekanntseins wieder, ähnlich wie +ein Traum uns um so gewisser entgleitet, je mehr wir +über ihn nachdenken. Diesen großen, tiefbrünetten Mann +mit den lebhaften braunen Augen und der hochgewölbten +Stirn hatte ich gewiß noch nie gesehen. War es Sympathie, +die ich für ihn empfand? Der dunkle Bart beschattete +dicke Lippen, die von stark entwickelter Sinnlichkeit +zeugten, die großen Hände mit den breiten Fingerkuppen +und den abgebrochenen Nägeln widersprachen der +vornehmen Eleganz seiner schlanken Gestalt. Aber diese +Mischung von Roheit und alter Kultur prädestinierte +ihn vielleicht gerade für die Rolle eines Führers der +öffentlichen Meinung, die er, unserer Ansicht nach, zu +spielen bestimmt war.</p> + +<p>In einer Rede, die von Geist und Wissen sprühte, +setzte er meinem Mann die Ideen auseinander, die er +in einer Abhandlung für das Archiv zusammenfassen +wollte. »Wir müssen der Sozialpolitik die Krücken +nehmen, die Ethiker, Christlichsoziale und neuerdings +Rassenhygieniker ihr glaubten geben zu müssen, um sie +dem von ihnen willkürlich gesteckten Ziele entgegenhumpeln +zu lassen. Sie kann und muß auf eigenen +Füßen gehen, eigene Ziele verfolgen. Ich verlange die +Autonomie des sozialpolitischen Ideals, das nicht nur +<a name="Page_206" id="Page_206"></a>nicht ethisch, nicht religiös, nicht rassenhygienisch, sondern +diesen Idealen direkt entgegengesetzt sein kann.«</p> + +<p>»Das sei Ihnen in bezug auf das religiöse Ideal zugegeben,« +warf mein Mann ein, »aber das ethische, das +rassenhygienische?! Die ›Befreiung des gesamten Menschengeschlechts, +das unter den heutigen Zuständen leidet‹, ist +doch wohl ein ethisches Postulat!«</p> + +<p>Romberg bewegte lebhaft abwehrend die Hände: +»Bleiben Sie mir mit der Zukunftsmusik des Erfurter +Programms vom Leibe! Sie könnten ebenso gut die +›Versöhnung der Klassengegensätze‹, die die Ethiker unter +den Nationalökonomen der Sozialpolitik als Aufgabe +zuschieben, predigen. Nein: wir stehen im Klassenkampf, +wir müssen in diesem Kampf Partei ergreifen, +und zwar nicht für die Schwachen nach christlicher +Auffassung, sondern für das höchst entwickelte Wirtschaftssystem, +für die den wirtschaftlichen Fortschritt +repräsentierende Klasse, das heißt auf Kosten der +anderen.«</p> + +<p>»Mit anderen Worten: für das Proletariat?« fragte +ich. Er wandte sich mir zu.</p> + +<p>»Gewiß: für das Proletariat, soweit seine Ideale sich +mit dem Ideal der Sozialpolitik decken: der wirtschaftlichen +Vollkommenheit, und,« — er betonte scharf den +letzten Satz, — »soweit sie sich dauernd mit ihm decken +werden. Denn es ist einerseits in dauerndem Fluß begriffen +und ist andererseits kein absoluter Endzweck, +sondern nur ein Mittel zur Verwirklichung höherer Zwecke. +Das wirtschaftliche Leben ist die Schranke, in der unser +ganzes Dasein, auch in seinen höchsten Äußerungen, eingeschlossen +ist. Wir müssen sie erweitern, so rasch als +<a name="Page_207" id="Page_207"></a>möglich, ohne Rücksicht auf die Bedenken empfindsamer +Seelen, um zu Licht und Luft zu gelangen.«</p> + +<p>»Und mit diesen Ansichten können Sie es verantworten, +außerhalb unserer Partei zu stehen!« rief ich +aus. Er schien erstaunt.</p> + +<p>»Alles, was ich sagte, was ich schrieb, beweist doch, +daß ich es verantworten kann!« meinte er langsam. +»Oder glauben Sie, ich würde mehr erreichen, wenn +ich mich in Ihr Heer einreihen, Ihre Uniform anziehen +würde, wenn ich jede meiner Ideen, ehe ich sie auszusprechen +mich getraute, dem Votum Ihres Parteitages +unterwerfe?!«</p> + +<p>»Ich verstehe Sie nicht!« antwortete ich. »Wie reimt +sich Ihre Abneigung gegen die Partei mit diesem Buch +zusammen,« — ich hielt ihm den roten Band entgegen, — »mit +Ihrer Verteidigung des Klassenkampfes, mit Ihrer +Prophezeiung der dauernden, der notwendigen Einheit +der Bewegung?«</p> + +<p>»Ich muß Ihre Frage mit einer Frage beantworten: +Ist die Zugehörigkeit zur Bewegung abhängig von der +namentlichen Einschreibung in einen Wahlverein? Ist +es für meine Stellung wichtiger, wie ich mich nenne, +als was ich leiste?! Die Frage des Eintritts in die +Partei kann für unsereinen nur individuell gelöst werden. +Ich zum Beispiel würde in dem Augenblick flügellahm +werden, wo ich in<em class="spaced"> der</em> Gesellschaft aushalten müßte.«</p> + +<p>»Für einen Augenblick vielleicht, aber in dem Moment, +wo Sie sich durchsetzen, wo Sie Einfluß gewinnen +würden, hätten Sie die Kraft Ihrer Flügel in +doppeltem Maße wieder —,« mischte sich mein Mann +ins Gespräch.</p> +<p><a name="Page_208" id="Page_208"></a></p> +<p>»Sie überschätzen mich, lieber Freund. Über gewisse +Dinge komme ich nicht hinweg. Sie wissen, mein +›Sozialismus‹ hat einen ungeahnten Erfolg; ich brauche +mich in meiner Schriftstellereitelkeit wahrhaftig nicht gekränkt +zu fühlen. Aber die Behandlung, die mir — mir, +der ich den Sozialismus verteidige! — von einem +Teil Ihrer Presse zuteil geworden ist, hat mir die ganze +Gesellschaft auf lange verekelt!«</p> + +<p>Der Gegensatz zwischen dem Enthusiasmus, der ihn +wenige Minuten vorher erfüllt hatte, und der morosen +Stimmung, die jetzt aus Wort und Ton und Haltung +sprach, war so verblüffend, daß wir verstummten. Aber +Romberg forderte uns zur Antwort heraus:</p> + +<p>»Sie mißbilligen meinen Standpunkt?« Fragend sah +er von einem zum anderen.</p> + +<p>»Ganz und gar!« antwortete ich heftig. »Glauben +Sie, daß wir um der schönen Augen der Parteigenossen +willen Sozialdemokraten geworden sind, — oder der +Partei entrüstet den Rücken kehren würden, weil ein +paar Nasen uns nicht gefallen?! Wir dienen der Sache, +nicht den Personen.«</p> + +<p>»Eine so reinliche Scheidung zwischen der Sache und +den Personen läßt sich in Wirklichkeit nicht durchführen,« +sagte er, sichtlich verletzt. »Es kann sehr wohl der Fall +eintreten, daß eine Sache durch eine bestimmte Personengruppierung +rettungslos verloren geht, und ich bin der +Meinung, daß in Ihrer Partei Leute den Ton angeben, +die Ihre Sache diskreditieren.«</p> + +<p>»Wenn Sie dieser Ansicht sind, müßten Sie erst recht +in die Partei eintreten, um die Sache, die doch auch +die Ihre ist, vor solchen Einflüssen zu retten!«</p> + +<p><a name="Page_209" id="Page_209"></a>Er biß sich auf die Lippen und schwieg sekundenlang. +Dann ließ er sich, wie ermüdet, in den Lehnstuhl fallen +und sagte langsam: »Sie mögen recht haben, — auf +Grund Ihrer Individualität. Ich würde einfach zugrunde +gehen, wenn ich mit dem Gesindel, das Ihre +Partei groß gefuttert hat, auf gleich und gleich verkehren +müßte. Übrigens,« er lächelte ein wenig, »Sie +sind ja erst seit vorgestern ›Genossin‹, — wir wollen +unser Gespräch in zehn Jahren zu Ende führen! Und +Sie, mein lieber Brandt, sind doch auch nur im Nebenberuf +›Genosse‹. Wenn Sie Ihrer Frau beistimmen, +warum treten Sie nicht in die politische Arena?«</p> + +<p>Mein Mann ging ein paarmal im Zimmer auf +und nieder, ehe er antwortete. »Ich habe nicht Ihre +Begabung, die Sie zum Agitator stempelt. Und ich +bin nicht unabhängig wie Sie, was, meiner Ansicht +nach, eine wichtige Voraussetzung ist, wenn man in +der Partei Wertvolles leisten will. Das Archiv ist mein +Brotgeber. Es könnte seine wertvollsten Mitarbeiter verlieren, +wenn sein Redakteur politisch hervorträte. Sonst, — lieber +heute als morgen würde ich ein tätiger Parteigenosse sein!«</p> + +<p>Ich hatte Heinrich noch nie so sprechen hören; eine +tiefe Unbefriedigung enthüllte sich mir, eine Seite seines +Wesens, die sich selbst dem durchdringenden Blick meiner +Liebe bisher versteckt hatte. Ich konnte den Gedanken +daran nicht los werden und vergaß fast unseres Besuchers darüber.</p> + +<p>Beim Abschied reichte ich ihm die Hand. Ein unbehagliches +Gefühl überkam mich: die seine lag, so groß +sie war, schwach und leblos in der meinen. Menschen +<a name="Page_210" id="Page_210"></a>ohne Händedruck waren mir immer unsympathisch +gewesen. Und doch zog dieser Mann mich an.</p> + +<p>»Wollen wir nach all dem Ernst nun nicht Berlin +ein wenig genießen?« fragte er. »Wir armen Provinzler +müssen uns mit Großstadtluft auf Monate versorgen, +wenn wir einmal von unserer Kette loskommen.« Wir +verabredeten allerlei, und er ging.</p> + +<p>»Nun?!« fragte Heinrich, als die Tür sich hinter ihm +geschlossen hatte.</p> + +<p>»Ein interessanter Mensch, ob ein Kämpfer?!« antwortete +ich nachdenklich. »Aber was interessiert mich +dies Problem, wo mein eigner Mann mir eins aufgegeben hat!«</p> + +<p>Er zuckte lachend die Achseln: »Kümmere dich nicht +darum, Schatz, es ist doch zunächst unlösbar.« »Du +würdest wirklich gern politisch tätig sein?« drängte +ich unbeirrt. »Wäre es dir willkommen?« fragte er +statt der Antwort. Mir stieg das Blut in die +Wangen. Ich sah den Geliebten an der Stelle, die ich +Romberg zugedacht hatte; ich sah uns beide Schulter an +Schulter im Kampfe stehen. »O wie schön wäre das!« +flüsterte ich.</p> + +<p>Die nächsten Tage nahm uns Romberg sehr in Anspruch. +Er war von einer fast kindlichen Genußfähigkeit, +dabei voller Interesse für Kunst und Literatur, in allem +das Gegenspiel des typischen deutschen Professors.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_211" id="Page_211"></a></p> + +<p>Berlin war damals reich an neuem Leben für +den, der es zu finden verstand. Denn die +Oberfläche trug noch immer das Stigma geschmackloser +Alltäglichkeit. Mein Instinkt war doppelt +wach; meine Sinne schienen geschärft für alles Werden, +und meine Hoffnung umschlang mit üppigen Ranken +jede neue Erscheinung.</p> + +<p>Wir sahen Gerhart Hauptmanns »Versunkene Glocke«, +die zum erstenmal zur Aufführung kam. Alles stritt um +des schönen Märchens eigentlichen Inhalt und riß ihm +im Streit grausam die Schmetterlingsflügel aus. Den +einen erschien es als das tragische Bekenntnis eigener +Schwäche: denn die im Tal gegossene, für die Höhe bestimmte +Glocke Meister Heinrichs stürzte vom Berge +hinab in die Tiefe, und als er selbst emporstieg, um +droben ein neues Wunderwerk zu schaffen, zog sie ihn +nach sich ins Grab. Den anderen war es nichts als +ein Zeichen geistiger Reaktion: der Dichter der ›Weber‹ +floh vor dem wirklichen Leben. Ich aber hörte darin +das immer wiederkehrende Leitmotiv der Sehnsucht, das +den Glockengießer emporzog, auch als er an seiner +Schwäche sterben mußte, ich sah die Sonnenpilger, die +den Marmortempel suchten, dessen Baumeister zugrunde +ging, dem aber Kräftigere als er Hammer und Kelle +aus den toten Händen nahmen.</p> + +<p>Und dieselbe Sehnsucht, die der Hoffnung Schwester +ist, die aus unserer nüchternen, auf praktisch-greifbare +Ziele gerichteten Zeit hinwegverlangt in reichere, blühendere +Gefilde, wo die arme gehetzte Seele nicht mehr zu +dursten und zu frieren braucht, schien einer jungen noch +<a name="Page_212" id="Page_212"></a>unbekannten Künstlerschaft die Hand zu führen. Wir +sahen Gläser, deren zart schimmernde Blumenkelche in +Märchenfarben strahlten, und Teppiche, auf denen die +ganze Fülle des Frühlings ausgestreut erschien. Wir +kamen in eine Ausstellung, die eine Welt fremder Wunder +enthielt, deren Schöpfer ein noch Unbekannter war. +Staunend stand ich vor dem schönsten, das sie bot: +einem Fenster voll leuchtender Glut, mit den Gestalten +Tristans und Isoldens. In ihren Augen, in ihrer Gebärde +steigerte sich die Sehnsucht zum Verlangen; die +Farben waren eine Hymne des Lebens: das Rot jauchzte, +das Blau verging in zärtlichen Melodien, wie ein +mystischer Orgelton stand das Violett dazwischen.</p> + +<p>Achselzuckend ging die Masse an alledem vorüber. +Auch die beiden Männer, die mich begleiteten, waren +mehr erstaunt als betroffen. Ob wohl nur eine, die +schwanger war, die verborgenen Lebenskeime dieser Zeit +zu schauen vermochte? Ich sog mit allen Sinnen ein, +was der Menschenknospe in meinem Schoß zur Nahrung +dienen konnte.</p> + +<p>»Seit ich Sie kenne, begreife ich nicht, wie Sie Genossin +werden konnten,« sagte Romberg beim Abschied, +»mit Ihrem starken Kulturbedürfnis, ihrem Schönheitsdurst!«</p> + +<p>»Für mich war das nur ein Motiv mehr, um es zu +werden,« antwortete ich. »Auch den Seelenhunger der +Massen nach höheren Lebenswerten möchte ich stillen helfen.«</p> + +<p>»Sie haben kaum einen —,« meinte er wegwerfend.</p> + +<p>»Dann ist meine Aufgabe doppelt groß: ich muß sie +hungrig machen — —«</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_213" id="Page_213"></a></p> + +<p>Mein Zustand hinderte mich zunächst nicht an der +Parteitätigkeit. Ich hielt Versammlungen ab, +solang es ging, obwohl die schlechte Luft sich +mir immer schwerer auf den Kopf legte; ich besuchte +die Sitzungen der Frauenorganisation regelmäßig trotz +der ekelerregenden Düfte der Lokale, in denen sie stattfanden. +Wenn die Polizei, die uns ständig auf den +Fersen war, gewußt hätte, wie wenig welterschütternd +die Fragen waren, über die wir debattierten, sie würde +uns ruhig unserem Schicksal überlassen haben. Seitdem +Wanda Orbin nicht mehr in Berlin war, schien zwar +auch den Nur-Ja-Sagerinnen der Mund geöffnet zu +sein, aber was sie vorbrachten, das drehte sich meist +um die kleinlichsten Dinge. Derselbe Zank, derselbe +Neid, der mir die bürgerliche Frauenbewegung vergällt +hatte, fand sich auch hier, nur daß er sich in gröberen +Formen äußerte. Ich wäre bitter enttäuscht gewesen, +wenn ich nicht allmählich Einblicke gewonnen hätte, die +mir die Dinge in anderem Licht erscheinen ließen.</p> + +<p>Ich lernte das Leben dieser Frauen kennen. Da war +eine, die tagaus, tagein in dieselbe elende Zwischenmeisterwerkstatt +ging, um, wenn sie todmüde heimkam, von dem +betrunkenen Mann mit Schlägen oder zudringlichen +Zärtlichkeiten empfangen zu werden; — sollte sie nicht +verbittert sein? Da war eine andere, die, obwohl sie +einen braven Gatten hatte, auf ihre alten Tage in die +Fabrik zurückgekehrt war, weil sie nur auf diese Weise +ihrem kranken Sohn den Besuch eines Sanatoriums +ermöglichen konnte; — sollte sie die glücklicheren Mütter +nicht beneiden, die die Gesundheit ihrer Kinder nicht so +<a name="Page_214" id="Page_214"></a>schwer erkaufen mußten? Und ein verblühtes Mädchen +war zwischen uns, die ihrer gelähmten Mutter ihre ganze +Jugend hatte opfern müssen, — war's nicht begreiflich, +daß etwas wie Haß in ihren Augen aufblitzte, wenn +ich sprach?</p> + +<p>Einmal besuchte ich die kleine dicke Frau Wengs; sie +war vor drei Tagen ihres siebenten Kindes genesen, und +ich fand sie schon wieder hinter dem Waschfaß. War +es erstaunlich, daß sie reizbar war? All diese Frauen +standen in harter Arbeitsfron; war es nicht viel merkwürdiger, +daß sie sich dabei die Kraft, den Opfermut, +die Begeisterungsfähigkeit erhalten hatten, die es ihnen +möglich machte, ihre spärliche Freizeit, ihre ihnen so +bitter nötige Nachtruhe dem Dienst der Partei zu widmen? +Sie leisteten das äußerste, was sie leisten konnten; es +war nicht ihre Schuld, daß es trotzdem so wenig war.</p> + +<p>Ich grübelte lange nach, wie hier zu helfen wäre. +Mein alter Plan eines Zentralausschusses für Frauenarbeit +tauchte wieder auf. Wenn man mit Hilfe der +Partei solch einen Mittelpunkt schaffen, die begabtesten +der Frauen dabei beschäftigen, von ihrer Erwerbsarbeit +dadurch befreien könnte? Frau Wengs war nach dem +Parteitag zur »Vertrauensperson für ganz Deutschland« +gewählt worden. War es nicht wie ein Hohn auf die +Frauenbewegung, daß sie, die kaum Zeit hatte, eine +Zeitung zu lesen, für die das Schreiben eines Briefes +eine fast unüberwindliche Aufgabe war, an ihrer Spitze +stehen sollte? Man hatte mir freilich erzählt, Wanda +Orbin habe ihre Wahl unterstützt, um die Leitung um +so sicherer in der eigenen Hand zu behalten, Wanda +Orbin, die uns so fern war, deren unzureichende Kennt<a name="Page_215" id="Page_215"></a>nis +der Verhältnisse schon daraus hervorging, daß sie +ihre Zeitschrift in einem Tone schrieb, der einen hohen +Grad von Wissen bei dem Leser voraussetzte. Ja, wenn +sie in Berlin wäre, wenn sie offiziell die Führung in +die Hände bekäme, wenn die Gestaltung der ›Freiheit‹ +dem Einfluß der Genossinnen zugänglich gemacht werden +könnte! Schon damit, so schien mir, wäre viel geholfen. +Ich schrieb ihr in diesem Sinne, ich fragte sie, ob sie +kommen würde, wenn man die Anstellung einer weiblichen +Parteisekretärin durchgesetzt hätte. Sie antwortete +ausweichend: es fessele sie vieles, vor allem die Erziehung +ihrer Söhne in Stuttgart. Ich gab die Sache noch +nicht verloren. Ich legte meinen Plan der Schaffung +eines Sekretariats für die Frauenbewegung den Genossinnen +vor, ich entwickelte ihn in einem längeren +Artikel in der ›Freiheit‹ und hütete mich zunächst, +Wanda Orbins Namen zu nennen, da ich wußte, daß +auch sie Gegnerinnen hatte. Die Wirkung war verblüffend: +die Frauen gerieten in eine Aufregung, die in +keinem Verhältnis zur Sache zu stehen schien. Man +fand es ungeheuerlich, daß ich, die ich noch nichts, aber +auch rein gar nichts geleistet hätte, mir herausgenommen +habe, an der Arbeiterinnenbewegung Kritik zu üben; +man bekämpfte meinen Plan durch Wort und Schrift, +als bedeute er eine Gefahr für die Partei. Bei der +Abstimmung erhob sich keine Hand für ihn. Ich erfuhr +erst allmählich die wahre Ursache dieser wütenden Gegnerschaft: +die Frauen hatten angenommen, daß ich für mich +selbst eine einträgliche Stellung schaffen wolle. Und +Wanda Orbin hatte sie offenbar in diesem Glauben gelassen. +Es gab Momente, in denen diese Erfahrung +<a name="Page_216" id="Page_216"></a>mir wehe tat, — trotz aller Mühe, überall nur das +Gute zu sehen. Und die Entrüstung meines Mannes, +der jeden Nadelstich, der mich traf, wie einen Dolchstoß +empfand, trug nicht dazu bei, mich zu beruhigen.</p> + +<p>Aber die öffentlichen Ereignisse sorgten dafür, Gedanken +und Interessen auf wichtigere Dinge zu lenken, und die +Verstimmung zwischen mir und den Genossinnen in einmütige +Kampflust gegen die Feinde, die unsere Sache +von außen bedrohten, zu verwandeln.</p> + +<p>Hatten die Parlamentsreden der Herren der Rechten, +vom Geiste Stumms beherrscht, schon kriegerisch genug +geklungen, so kündigten die kaiserlichen Worte auf dem +brandenburger Provinzial-Landtag Kampf bis aufs +Messer an: »Die Aufgabe, die uns allen aufgebürdet +ist, die wir verpflichtet sind zu übernehmen, ist der Kampf +gegen den Umsturz mit allen Mitteln... Ich werde +mich freuen, in diesem Gefecht jedes Mannes Hand in +der meinen zu sehen, er sei edel oder unfrei,« hieß es +darin, und zum Schluß: »Wir werden nicht nachlassen, +um unser Land von dieser Pest zu befreien, die nicht +nur unser Volk durchseucht, sondern auch das Heiligste, +was wir Deutsche kennen, die Stellung der Frau, zu +erschüttern trachtet.«</p> + +<p>Kein Zweifel: ein Gewitter stand bevor, das unsere +Saaten bedrohte; dem Blitz, der die Situation grell +beleuchtet hatte, folgte der Donner und der prasselnde +Regen in Gestalt einer Vereinsgesetznovelle, die +dem reaktionären preußischen Landtag zur Entscheidung +vorlag und nichts anderes bedeutete, als eine +Knebelung des Koalitionsrechts, eine Auslieferung unserer +Organisationen an die Willkür der Polizei. Da war +<a name="Page_217" id="Page_217"></a>niemand unter uns, dem nicht das Herz stürmisch geschlagen +hätte, — vor Empörung über das drohende Unrecht, +vor Freude über den aufgezwungenen Kampf. Es +gab keinen kleinlichen Zank mehr; man drängte sich zur +Arbeit und übernahm auch die geringfügigste mit dem +Pflichtbewußtsein des Soldaten, der seinen Posten bezieht. +Ich konnte der vorgeschrittenen Schwangerschaft +wegen nur mit der Feder tätig sein, und Zorn und +Begeisterung führte sie. Ich sah eine Zeit nahe bevorstehen, +wo die besten Elemente des Bürgertums, wo vor +allem die Vertreter der freien Wissenschaft, vor die Wahl +gestellt zwischen der Reaktion und dem Proletariat, sich +auf die Seite der Arbeiter stellen müßten.</p> + +<p>»Du prophezeist trotz einem Bebel,« lachte mein Mann, +wenn ich mich fortreißen ließ, alles zu sagen, was ich +erträumte, und dann erinnerte er mich an jene anderen +Kaiserreden, die den Dreizack des Meergottes für die +deutsche Faust verlangten, und den Beifall derselben +Männer fanden, auf die ich rechnete. Aber ich hörte +nicht darauf, ich wollte nicht hören.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Die Fähigkeit, Dunkles zu sehen, war meinem +inneren Auge mehr und mehr abhanden +gekommen. Wo immer ich den Blick hinwandte: +überall war es hell, überall strahlte die +Welt voll Frühlingsahnen. Und als es draußen in +den Gärten und auf den Plätzen wirklich zu blühen +begann, da schien mir's, als wäre dies der erste Lenz, +den ich erlebte. Ich saß in der Sonne auf dem Balkon +und sah staunend, wie aus den braunen saftig glänzen<a name="Page_218" id="Page_218"></a>den +Knospen auf den Kastanienbäumen kleine zartgrüne +Blätter leise ans Licht strebten. Ich ging am Arm des +Geliebten durch den Tiergarten, den ein starker würziger +Erdgeruch erfüllte, und stand vor dem Wunder still, das +in Hunderten bunter Frühlingsblumen aus dem Rasenteppich +emporwuchs. Und die Sonne schien so mild +und warm, — wenn sie meine Wange traf, war mir, +als streichle sie mich. In der Nacht lag ich oft stundenlang +wach; ich war nicht müde. Regte sich dann in +meinem Schoß das junge Leben, so strömte es mir durch +die Glieder wie Feuer.</p> + +<p>Frühzeitig war alles zu seinem Empfang bereit. Oft, +wenn niemand es merkte, schloß ich mich ein in dem +hellen Zimmer, wo alles seiner wartete, und kniete vor +dem kleinen Bettchen, und vergrub meine heißen Wangen +in seinen kühlen Kissen.</p> + +<p>Einmal, als ich mit Heinrich am Ufer entlang heimwärts +ging, an der Bucht vorbei, wo die Weiden ihre +grünen Schleier tief bis zum Wasser hinuntergleiten +lassen, kam uns ein alter grauhaariger Mann entgegen. +Ich hörte zuerst nur seinen schleppenden Schritt, denn +die Abendsonne, die im Westen verglühte, blendete mich. +Aber ich wußte: das war mein Vater. Meine Knie +zitterten. Und schon war er vorbei. Er schien in Gedanken +verloren und hatte uns wohl nicht erkannt. Ich +wandte den Kopf nach ihm, — da stand er wie angewurzelt +und starrte mich an, so voll Zärtlichkeit —! +Ich wäre ihm fast zu Füßen gestürzt, aber er machte +eine rasche, abwehrende Bewegung und ging weiter. +An dem Abend weinte ich. Und ich hatte doch mein +Kind vor allem Kummer schützen wollen!</p> + +<p><a name="Page_219" id="Page_219"></a>Wenige Tage später waren wir wieder zur gewöhnlichen +Zeit fort gewesen. Mit geheimnisvollem Lächeln +öffnete mir das Mädchen die Tür, als ich heimkam. +Ins Kinderzimmer sollt' ich kommen, sagte sie. Da +brannte die Lampe unter dem Rosenschleier und auf +dem weißen Tisch lagen lauter spitzenbesetzte Hemdchen +und Jäckchen, und kleine Schuhe und Steckkissen, und +lange Tragekleidchen; durch die blauen Bänder, die sie +zusammenhielten, waren Sträuße duftender Maiblumen +gezogen. »Das gnädige Fräulein brachte alles selbst,« +berichtete lächelnd das Mädchen und übergab mir einen +Brief von Mama:</p> + +<p>»Mein liebes Kind! Das alles schickt Dir Dein +Vater. Er hat mir und Deiner Schwester erlaubt, zu +Dir zu gehen, und Dir seine Grüße zu bringen. Schreibe +mir, wann wir Dich besuchen können,« schrieb sie. Bald +darauf kam sie selbst. Ich hatte vor Erregung eine +böse Nacht gehabt und empfing sie auf dem Diwan +liegend. Sie aber war so ruhig, so teilnahmsvoll, als +läge höchstens eine Reise zwischen ihrem ersten Besuch +und heute. Drohte eine verlegene Pause, so half das +Geplauder Ilschens darüber hinweg, die mir von ihren +ersten Ballfreuden und ihren Triumphen nicht genug +erzählen konnte.</p> + +<p>»Wie geht es dem Vater?« fragte ich schließlich +zaghaft, da sie zu vermeiden schienen, seiner Erwähnung +zu tun. »Er ist recht alt geworden,« antwortete +Mama langsam. »Aber noch so rüstig,« fiel +die Schwester ein, und berichtete zum Beweis dafür +von den Diners und den Bällen, zu denen er sie begleitet +hatte. Sie nannte Namen, die ich nicht kannte, +<a name="Page_220" id="Page_220"></a>und erwähnte Gesellschaftskreise, die er früher auf das +peinlichste gemieden hatte: Tiergartensalons, in denen, +wie er zu sagen pflegte, der jüngere Offizier nur als +Mitgiftjäger, der alte nur als Tafeldekoration auftritt. +Ich fühlte jetzt: er mußte sehr alt geworden sein.</p> + +<p>Ehe sie gingen, bat ich Ilschen, nun aber recht oft +zu mir zu kommen. Sie sah, statt zu antworten, ängstlich +fragend auf Mama. »Allein darf sie euch nicht +besuchen,« sagte diese mit dem alten harten Ton in der +Stimme, während sich tiefe Falten um ihre Mundwinkel +gruben. Als sie fort waren, trat ich auf den Balkon. +Ich hatte das Bedürfnis, frische Luft zu schöpfen. Da +fiel mein Blick auf die Straße: mit kleinen, hastigen +Schritten ging der Vater vor unserer Haustür auf und +ab, und als Ilse ihm entgegentrat, wandte er sich ihr +mit einer raschen Bewegung zu, und ich sah, wie sie +sprach und sprach, und wie er horchte, den Kopf ihr zugeneigt, +als fürchte er, auch nur ein einzig Wort zu +verlieren. An diesem Abend mußt' ich wieder weinen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Der Sommer kam. Ich schleppte mich nur +noch mühsam die hohen Treppen herauf und +hinunter. Ich zählte nicht mehr nach Wochen, +sondern nach Tagen. Meine Zimmer standen voll Junirosen.</p> + +<p>Ich war noch einmal mit den Kindern in die Stadt +gegangen, um zu besorgen, was ihnen für die Ferienreise +zu ihrer Mutter noch fehlte. Als ich daheim die +Sachen in den Koffer legte, dunkelte es mir plötzlich +vor den Augen. Ein jäher Schmerz zog mir den Leib +<a name="Page_221" id="Page_221"></a>zusammen. Ich schlich ins Wohnzimmer und fiel +meinem Mann, der erschrocken vom Schreibtisch aufgesprungen +war, in die Arme. »Nun ist's so weit,« +flüsterte ich und sah ihn glückselig an. Er schickte zu +meiner Ärztin. Ich aber saß still im Lehnstuhl und +spottete seiner Ängstlichkeit. Wie hätte ich mich auch +nur einen Augenblick lang fürchten können! Wenn ich +die Augen schloß, sah ich Großmamas gütiges Antlitz +vor mir und hörte sie tröstend wiederholen, was sie +mir früher so oft versichert hatte: Ein Kind gebären ist +das leichteste von der Welt. Aber der Abend kam und +die Nacht, — ich wartete noch immer. Und am folgenden +Tag war ich zu schwach, um vom Bett aufzustehen, +und in der Nacht standen zwei Ärztinnen um mein +Bett, und Heinrich wich nicht von mir. Ich allein +spürte nichts von Angst; wenn ich vor Schmerzen stöhnte, +so war mir's, als wäre ich's nicht.</p> + +<p>Am Morgen des dritten Tages strahlte der Himmel +in wolkenloser Pracht; von der Gedächtniskirche herüber +klang tiefer Glockenton, und von allen Seiten antworteten +ihm hellere Stimmen. »Es will ein Sonntagskind +sein,« flüsterte ich lächelnd dem Liebsten zu, der +neben mir saß, und an den ich mich klammerte, wenn +es gar zu wehe tat.</p> + +<p>»Und in der Johannisnacht geboren werden,« hörte +ich wie von ferne sagen. Müde sank ich in die Kissen. +Mir träumte von den Bergen, die zum Himmelszelt +stolz ihre weißen Häupter heben, und von grünen +Matten, die sich zart und weich zu Füßen grauer Felsen +schmiegen. Und ich sah, wie alle Spitzen zu glühen +begannen, als hätten sich die Sterne auf sie her<a name="Page_222" id="Page_222"></a>niedergesenkt, +und von allen Hügeln die Flammen +loderten. Plötzlich aber war mir, als stünde ich selbst +auf dem Scheiterhaufen, — schon züngelte das Feuer +an meinem nackten Körper empor, — ich schrie laut +auf — —</p> + +<p>War ich gestorben, — und darum so seliger Ruhe +voll?! Ich schlug die Augen auf. »Heinz!« kam es +ganz, ganz leise von meinen Lippen. Ich tastete mit +den Händen auf dem Bett, — ich fühlte seinen Kopf, — seine +Schultern, — warum bebten sie nur so?! Heiße +Augen, die durch Tränen leuchteten, richteten sich auf +mich. Von der anderen Seite öffnete sich die Türe, +ein breiter Strom von Licht ergoß sich in das dunkel +verhangene Zimmer, auf der Schwelle stand eine Frau, +ein weißes Bündelchen auf den Armen. »Mein Kind —!« +rief ich. »Unser Sohn!« antwortete Heinrich und legte +ihn mir an die Brust. Ehrfürchtig berührten meine +Lippen die von wirren Löckchen dunkel umrahmte Stirn. +Und zwei große blaue Augen, in denen des Werdens +tiefes Geheimnis noch zu schlafen schien, blickten mich an.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_223" id="Page_223"></a></p> +<h2><a name="Siebentes_Kapitel" id="Siebentes_Kapitel"></a>Siebentes Kapitel</h2> + + +<p>Drei Monate später saß ich an unserem Schreibtisch, +in einen Artikel vertieft, den ich Wanda +Orbin versprochen hatte.</p> + +<p>»Fast schien es, als sollte der Züricher Arbeiterschutz-Kongreß +den Beweis erbringen, daß die Anhänger +der verschiedensten politischen und religiösen +Weltanschauungen auf dem Gebiete praktischer Sozialreform +zu gemeinsamen Resultaten gelangen könnten. +Die Fragen der Kinder- und der Sonntagsarbeit +riefen keinerlei tiefere Differenzen hervor. Nur hie +und da fiel ein Wort, das wie Wetterleuchten die +Abgründe erhellte, die tatsächlich zwischen den Rednern +auseinanderklafften. Aber erst die Frage der Frauenarbeit +vollzog schließlich die Trennung der Geister. Schon +in der vorbereitenden Sektion kam es zu hitzigen Debatten: +auf der einen Seite standen die katholischen +Sozialreformer Belgiens und Österreichs, unter ihnen +Männer in langem Priesterrock und brauner Mönchskutte, +auf der anderen die Führer der internationalen +Sozialdemokratie, die Bebel und Liebknecht, die Vandervelde +und Geier an ihrer Spitze. Und als wir uns +am nächsten Morgen in dem hohen Saal der Tonhalle +wieder versammelten — einem Saal, der nur für Festes<a name="Page_224" id="Page_224"></a>freude +geschaffen schien, — und der blaue See und die +weißen Berge durch die breiten Fenster zu uns hereinstrahlten, +ein Bild glücklichen Friedens, da wußten +wir: heute kommt es zur Schlacht. Die Tribünen +waren überfüllt: die ganze studierende Jugend Zürichs +drängte sich dort oben zusammen. Erwartungsvolle Erregung +brannte auf ihren Wangen. Und unten sammelten +sich die Delegierten um ihre Tische: die Luft +schien zu vibrieren unter dem Einfluß all der klopfenden +Pulse, all der kampfheißen Blicke. Der katholische +Demokrat Carton de Wiart trat hinter das Rednerpult +zur Verteidigung seines Antrags: Verbot der großindustriellen +Frauenarbeit. Mit tiefem Glockenklang erfüllte +seine schöne Stimme den Riesenraum und steigerte +sich zum tragischen Pathos, wenn sie die zerstörenden +Folgen der Frauenarbeit schilderte: ›Der Säugling verkommt +in Hunger und Schmutz, die heranwachsenden +Kinder werden ein Opfer der Straße; vom erloschenen +Herdfeuer flieht der Mann und sucht Trost und Wärme +im Trunk ...‹ Er malte nicht zu schwarz, und auch +aus den Reihen der Gegner hätte ihm niemand widersprechen +können. Aber während die tatsächlichen Zustände +ihm und seinen Gesinnungsgenossen als eine beklagenswerte +Verirrung der Menschheit erschienen, die +durch ein gebieterisches ›Zurück!‹ von dem alten kleinbürgerlichen +Familienleben wieder abgelöst werden +könnten, sahen die Sozialdemokraten in ihnen eine notwendige +Begleiterscheinung der kapitalistischen Wirtschaftsordnung, +die nur durch ein ›Vorwärts!‹ zum Sozialismus +zu überwinden ist. ›Auch wir sind für die +Verkürzung der Arbeitszeit, für gesetzlichen Mutterschutz, +<a name="Page_225" id="Page_225"></a>für Verbot der Frauenarbeit in gesundheitsschädlichen +Betrieben,‹ erwiderte Frau Alix Brandt dem Redner; +›aber für ein Verbot der Frauenarbeit überhaupt sind +wir nicht. Denn nicht jenes idyllische Bild glücklichen +Familienlebens, das Herr de Wiart in so leuchtenden +Farben malte, würde seine Folge sein, sondern eine +noch größere Zerstörung der Familie, eine noch gefährlichere +Untergrabung weiblicher Kraft. Weder Laune +noch Neigung treibt die Frauen in Scharen in die +Fabriken, sondern Not. Schließt ihnen deren Tore, und +dieselbe Not wird sie in das Elend der Heimarbeit +treiben, wo schrankenlos die Ausbeutung herrscht, wird +sie demjenigen Frauenberuf zuführen, vor dem weder +die christliche Sittlichkeit des Staates, noch die Ritterlichkeit +der Männer das weibliche Geschlecht jemals gehütet +haben: der Prostitution.‹ Und in einer Rede voll +hinreißender Leidenschaft verteidigte Frau Wanda Orbin +die Berufsarbeit der Frau als die Grundlage ihrer +sozialen Befreiung: ›Die Arbeit ist ihre Menschwerdung. +Was sie auf der einen Seite zerstört, baut sie auf der +anderen wieder auf für die sittliche und geistige Einheit +von Mann und Frau. Aus den Konflikten zwischen +Beruf und Haus erwachsen dem Weibe zwar die größten +Schmerzen, aber auch die größte Kraft. Nicht nur, +weil ein Verbot der Frauenarbeit heute die Not steigern +würde, wie meine Vorrednerin Ihnen auseinandersetzte, +stimmen wir geschlossen gegen den Antrag Wiart, sondern +weil wir Frauen die Arbeit wollen um unserer +Selbstbefreiung willen, um einer künftigen Neugestaltung +der Ehe und der Familie willen, die die ökonomische +Unabhängigkeit des Weibes zur Voraussetzung +<a name="Page_226" id="Page_226"></a>hat.‹ Minutenlang umbrauste der Jubel aus dem Saal +hinauf, von den Tribünen herab die Rednerin. Und +als die Baronin Vogelsang, eine zarte, schlichte Frauengestalt, +sie ablöste, — mit niedergeschlagenen Augen +und leise zitternden Händen, ungewohnt des öffentlichen +Auftretens, — erschien sie wie die Personifizierung +jener fernen versunkenen Welt, die sie mit leisen, weichen +Worten, mit einem Appell an das Gefühl wieder glaubte +heraufbeschwören zu können: ›Um der Kinder willen, +denen die Industrie die Mütter raubt, nehmen Sie den +Antrag an —;‹ ihre erhobenen Blicke flehten und rührten +manch einem ans Herz, so daß die rauhe Wahrheit, die +der Verstand erkennt, hinter den weichen Schleiern, die +die Empfindung webt, zu verschwinden drohte ...«</p> + +<p>Ich legte die Feder aus der Hand und seufzte tief +auf. Seit meines Kindes Geburt waren die Probleme +der Frauenbefreiung für mich keine bloßen Theorien +mehr. Sie schnitten in mein eigenes Fleisch, — und +ich war keine Industriearbeiterin, — ich brauchte nicht +von früh bis spät in der Fabrik zu schuften, fern meinem +Liebling. Mir grauste, wenn ich daran dachte, daß so +etwas möglich, ja notwendig sein konnte. Es gab +Augenblicke, in denen meine Überzeugungen auf tönernen +Füßen zu stehen schienen.</p> + +<p>Schon die Reise nach Zürich war mir schwer genug +geworden, obwohl ich mein Kind in bester Obhut zurückgelassen +hatte. Meine Phantasie malte sich täglich neue +Schrecken aus, die ihm zustoßen konnten. Und wie viele +Stunden des Tages mußte ich jetzt fern von ihm sein! +Wie oft sprang ich vom Schreibtisch auf und sah +sehnsüchtig auf den sonnigen Platz hinunter, wo es, in +<a name="Page_227" id="Page_227"></a>seinen weißen Wagen gebettet, auf- und niedergefahren +wurde. Wie viele Blicke aus seinen blauen Augen, +wieviel krähendes Babylachen von seinem roten Mündchen +gingen mir verloren! Und abends, und nachts: wie +oft mußte ich, statt an seinem Bettchen zu sitzen, in +Versammlungen sprechen, an Partei-Zusammenkünften +teilnehmen.</p> + +<p>Manche meiner Genossinnen kamen aus der Werkstatt +und der Fabrik, auch sie hatten kleine Kinder zu Hause +und kein Dienstmädchen, um sie zu hüten; — meine Bewunderung +für sie stieg und zugleich mein Verständnis +für all die Bitterkeit, den Haß und das Mißtrauen, +das sich in ihnen angesammelt hatte. Kann ein Weib +der Welt, die den Kindern die Mutter entreißt, mit +anderen Empfindungen gegenübertreten? Und doch hatte +ich mich in Zürich mit aller Leidenschaft dafür eingesetzt, +die weibliche Berufsarbeit — auch die der Mütter — zu +erhalten? Ich zerriß den halbfertigen Artikel wieder und +schrieb an Wanda Orbin ein paar entschuldigende Worte. +Ich konnte nicht mehr über eine Frage sprechen, ich +war außer stande, den Lesern fix und fertige Ansichten +aufzutischen, seitdem sie mir zur persönlichen Angelegenheit +geworden war, und ich ihr für mich selbst die Antwort +noch schuldig bleiben mußte.</p> + +<p>Mein Mann kam nach Hause. »Bist du schon fertig?« +fragte er mit einem verwunderten Blick auf den +Schreibtisch, dessen Aussehen keine Arbeit mehr verriet. +Ich erklärte ihm die Situation, obwohl ich von vorn +herein wußte, daß ihm das volle Verständnis dafür +fehlen würde. Er hatte schon oft nachsichtig, wie über +eine kindliche Torheit gelächelt, wenn ich den Konflikt +<a name="Page_228" id="Page_228"></a>berührte, in dem ich mich befand; er war sogar +hie und da heftig geworden, hatte mich für sentimental, +für überängstlich erklärt, wenn ich die Trennung von +meinem Kinde, die meine Berufs- und Parteipflichten +mir auferlegte, so schwer nahm. Auch heute schüttelte +er den Kopf und unterdrückte sichtlich eine Antwort, +weil er mich nicht verletzen wollte. »Ich glaube, wir +haben Grenzpfähle berührt, die das Reich des Weibes +von dem des Mannes trennen,« sagte ich nachdenklich. +»Wir sind nicht imstande, wie Ihr, alle Probleme in +kühler Objektivität zu lösen, — wie eine mathematische +Aufgabe.«</p> + +<p>Gegen Abend besuchte uns Romberg. Wir waren +rasch mitten in lebhaftester Debatte. Das Fernbleiben +aller jungen sozialpolitischen Professoren vom Züricher +Arbeiterschutz-Kongreß hatte wie eine gemeinsame Demonstration +gewirkt und war mir um so peinlicher aufgefallen, +als es im Gegensatz nicht nur zu meinen +großen Hoffnungen, sondern auch im Gegensatz zu ihren +eigenen Wünschen und Äußerungen gestanden hatte.</p> + +<p>»Waren Sie nicht derjenige, der es stets bedauerte, +daß Gelehrte und Arbeiter nicht einmal auf dem Gebiet +der Sozialpolitik sich begegnen und miteinander beraten +könnten?« fragte mein Mann. »Und nun bot sich +Ihnen endlich die Gelegenheit, und Sie ergriffen sie +nicht!« Romberg biß sich in die Lippen, wie immer, +wenn er um eine Antwort verlegen war.</p> + +<p>»Die Zeit war unglücklich gewählt,« meinte er schließlich zögernd.</p> + +<p>»Warum sagen Sie nicht lieber gleich, was die linksliberale +Presse zu ihrer Rechtfertigung feierlich erklärte,<a name="Page_229" id="Page_229"></a>« +rief ich empört, »daß die starke Beteiligung unserer +Partei den Kongreß von vorn herein zu einem sozialdemokratischen +gestempelt habe und preußische Professoren +daher nicht hingehörten!«</p> + +<p>Er unterbrach mich: »Sie wissen genau, daß der +Vorwurf eines Mangels an Mut mich nicht treffen +kann!« Ich dachte an das rote Buch und lenkte ein. +Aber die gegenseitige Verstimmung wich erst allmählich +dem Interesse am Gegenstand unseres Gesprächs.</p> + +<p>»Die blutige Wanda hat, wie ich gelesen habe, in +Zürich auch die Frauenfrage gelöst,« sagte Romberg mit +einem sarkastischen Lächeln.</p> + +<p>»Ich fürchte, jede ›Lösung‹ ist nur der Ausgangspunkt +neuer Probleme,« erwiderte ich.</p> + +<p>Romberg warf mir einen überraschten Blick zu: +»Wie, — auch Sie beginnen, an der Unfehlbarkeit +Ihrer Päpste zu zweifeln?! Das wird ja immer +besser: Schönlank putzt den alten Liebknecht herunter +wie einen Schulbuben und weist ihm nach, daß die +Verelendungstheorie angesichts der gestiegenen Lebenshaltung +der Arbeiter zum alten Eisen geworfen werden +muß wie das eherne Lohngesetz seligen Angedenkens; +Bebel tritt für die Beteiligung an den Landtagswahlen +ein, was ein Preisgeben eines mit aller Lungenkraft +verteidigten Prinzipes ist, und Alix Brandt wird +zur Antifeministin — —«</p> + +<p>»Wenn Ihre Zusammenstellung eine Berechtigung hat, +so ist es die, daß meine Zweifel ebensowenig zum Antifeminismus +führen, wie Schönlanks oder Bebels Negationen +veralteter Anschauungen zum Antisozialismus.«</p> + +<p>»Also auch hier nur eine Revision des Programmes?«</p> +<p><a name="Page_230" id="Page_230"></a></p> +<p>»Auf Grund der Revision der Erfahrungen, die wir +durchgemacht haben, — gewiß! Übrigens fehlt es ja +der Frauenbewegung noch an jedem Programm, weil +es ihren Problemen an der wissenschaftlichen Formulierung +fehlt.«</p> + +<p>»Das wäre eine Aufgabe, die Sie lösen müßten,« +meinte Romberg lebhaft.</p> + +<p>»Damit würdest du dir und anderen zur Klarheit +verhelfen —,« fügte Heinrich rasch hinzu, »ein Buch +über die Frauenfrage, das von einer Darstellung der +tatsächlichen Verhältnisse ausgehen müßte, das die wirtschaftliche, +die soziale und die rechtliche Lage der Frauen +zu behandeln hätte, ...«</p> + +<p>»In Ihnen regt sich doch sofort der Redakteur,« unterbrach +ihn Romberg. »Die vage angedeutete Idee ist +unter Ihren Händen zur Disposition eines ganzen Werkes +geworden.«</p> + +<p>Das Herz klopfte mir vor Erregung. Der Gedanke +an diese Arbeit packte mich gerade durch seine Selbstverständlichkeit. +Ein zusammenfassendes, grundlegendes +Werk der Art gab es noch nicht. Es fehlte nicht nur +mir, es fehlte der ganzen Bewegung, die auch darum +so unsicher hin- und hertastete.</p> + +<p>»Ich habe, fürchte ich, die nötigen Vorkenntnisse nicht,« +meinte ich schließlich zaghaft.</p> + +<p>»Dafür haben Sie ja einen Nationalökonomen zum +Mann,« antwortete Romberg.</p> + +<p>Während des Abends, den wir im Theater verbrachten, +dachte ich nur an den Plan der Arbeit, die ich entschlossen +war auszuführen. Erst auf Rombergs wiederholtes: +»Sehen Sie nur!« sah ich mich um. In der<a name="Page_231" id="Page_231"></a> +Reihe vor uns erschienen zwei seidenrauschende Damen +mit goldroten Haaren, feuchtschimmernden Augen und +unnatürlich glühenden Lippen. »Wird für diese in +Ihrem Zukunftsstaat kein Platz sein?« flüsterte Romberg. +»Ich hoffe nicht!« sagte ich. »Schade!« antwortete er +lächelnd. In der Bewunderung für derlei Erscheinungen +ist er wie ein Onkel aus der Provinz, dachte ich ärgerlich. +Als wir aber nachher, seiner Gewohnheit gemäß, +die die Nacht gern zum Tage machte, noch lange bei +uns zusammensaßen, kam er auf die Begegnung zurück: +»Können Sie sich wirklich eine Welt als wünschenswert +vorstellen, in der alle Frauen Berufsphilister werden, +wie es heut schon alle Männer sind; in der sie keine +Zeit mehr haben, ihre Schönheit zu pflegen, kurz, in +der alle duftenden Luxusgärten in Kartoffelfelder verwandelt +werden?« —</p> + +<p>»Ich würde solch eine Welt zerstören und nicht schaffen +helfen! Aber Frauen, wie jene, auf die Sie anspielen, +gehören nicht zu den duftenden Blumen, zu den an sich +unnützen, aber unentbehrlichen Reizen des Lebens. Sie +sind verdorbene Speisen für verdorbene Gaumen.«</p> + +<p>»Sie mögen in dem Einzelfall recht haben; unumstößlich +aber bleibt für mich das Eine: nicht die Berufsarbeiterin, +nicht die, nach Ihren Begriffen freie, emanzipierte +Frau wird der Kultur höchste Blüte sein, sondern +die <em class="antiqua">femme amante</em>.« Er sah mich kampflustig an, er +liebte den Widerspruch und erwartete ihn; der Typus +einer Frauenrechtlerin stand für ihn ein für allemal fest, +und er glaubte immer wieder, ihn in mir vor sich zu +haben.</p> + +<p>»Sie hoffen umsonst auf meine sittliche Empörung,<a name="Page_232" id="Page_232"></a>« +spottete ich, »meine Meinung stimmt fast überein mit +der Ihren, nur daß ich die Existenz der <em class="antiqua">femme amante</em> +leugne, solange nicht die wahrhaft freie Frau ihre Voraussetzung +ist...«</p> + +<p>Als Romberg uns verlassen hatte, zog mein Liebster +mich in seine Arme und flüsterte mir ins Ohr: »Hätte +ich nicht meinem dummen Katzel widersprechen müssen, +das die <em class="antiqua">femme amante</em> wegdisputieren will und selbst +nichts anderes ist?« »Und nichts anderes sein will,« +sagte ich leise und gab ihm seinen Kuß zurück.</p> + +<p>Ich lag noch lange wach und grübelte. Ob ich +ihm anvertrauen könnte, was mich bewegte? Schon in +der kurzen Zeit meiner Ehe war mir klar geworden, +was ich vorher nicht verstanden und darum nur verurteilt +hatte: warum Staat und Kirche nicht die Liebe, +sondern die Pflicht zur Grundlage der Ehe gemacht +haben, warum nach ihnen die Zeugung, Erhaltung und +Erziehung der Nachkommenschaft ihre Hauptaufgabe ist. +Die Ehe kam mir vor wie eine moralische alte Jungfer, +die der jungen unbändigen Liebesleidenschaft durch ihre +Predigten das Leben ständig vergällt. Die Liebe braucht +Festtagsstimmung, die Ehe braucht den Alltag. Vor +jedem rauhen Luftzug, den die Ehe erzeugt, läßt die +zarte Blume der Liebe die Blätter hängen. Die Liebe +ist ein Rausch, die Ehe ist nüchtern. Lodern auf dem +Altar der Liebe die Flammen, so schämen sich die +Opfernden wie arme Sünder, wenn die Ehe sie +plötzlich ertappt. Eins aber vor allem wurde mir +täglich gewisser: die Liebe fordert Freiheit, die Ehe +Abhängigkeit. Einer muß sich dem anderen unterordnen, +wenn der Frieden des Hauses gewahrt sein +<a name="Page_233" id="Page_233"></a>soll, wo aber in der Liebe Unterordnung anfängt, flieht +sie selbst.</p> + +<p>So türmten sich die Probleme der Frauenfrage, — meiner +Frauenfrage. Wahrlich, es war eine große +Aufgabe, sie zu lösen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Ich stürzte mich mit Feuereifer in die Vorstudien +meiner Arbeit; daß sie mich ans Haus, an +den Schreibtisch fesselte, war eine willkommene +Begleiterscheinung.</p> + +<p>Als der Vortragsaufforderungen gar zu viele wurden, — und +es blieb nicht bei bloßen Aufforderungen, +deren Annahme oder Ablehnung der Entscheidung +des Einzelnen überlassen blieb, die Genossinnen verfügten +vielmehr ohne viel zu fragen über meine Arbeitskraft —, +erzählte ich von dem Buch, das ich vorbereitete, +und das mir eine gewisse Beschränkung auferlege. Ich +war nicht wenig erstaunt, daß dieselben Menschen, die +der Wissenschaft eine fast unbegrenzte Bedeutung zumessen, +über meine Mitteilung die Nase rümpften und +sie nur als einen Vorwand ansahen, um mich von der +Agitation zurückzuziehen. Je mehr ich sie zu überzeugen +suchte, desto weniger verstanden sie mich. »Wer so 'ne +Erziehung jehabt hat, wie die Jenossin Brandt, für den +is das Schreiben doch keen Kunststück,« sagte eine von +ihnen. »Un ieberhaupt: im Erfurter Programm steht +haarkleen allens, wat wir wollen,« fügte eine andere +hinzu. »Genosse Bebels ›Frau‹ und Genossin Orbins +Artikel in der ›Freiheit‹ sind als Grundlage für unsere +Bewegung mehr als ausreichend,« sagte Martha Bartels +<a name="Page_234" id="Page_234"></a>mit einer Schärfe, die sich steigerte, je älter sie wurde. +Ich sah ein, daß nichts zu machen war; im Grunde +hatten die Frauen recht, wenn sie sich um ungelegte +Eier nicht kümmern mochten.</p> + +<p>Nur eine Idee erwähnte ich noch, die ich kürzlich als +den gesunden Kern aus der ungenießbaren Schale einer +französischen Broschüre herausgeschält hatte: die einer +staatlichen Mutterschafts-Versicherung. Ich wollte ihr eine +fest umrissene Gestalt geben und sie in den Mittelpunkt +meines Buches stellen. Die Mutter schützen, solange sie +das Kind unter dem Herzen trägt, sie dem Kinde erhalten, +solange es der Pflege und Ernährung durch sie +bedürftig ist, — das schien mir aber auch ein Ziel, +würdig einer starken Bewegung, es zu erreichen. Ich +schlug vor, in unseren Versammlungen die Frage zur +Erörterung zu bringen. Aber seltsam: um unseren +Sitzungstisch saßen die früh gealterten, abgehärmten +Mütter, und kein Wort, keine Miene verriet, daß der +Gedanke sie zu erwärmen vermöchte. Alles Neue galt +ihnen zunächst als etwas Feindliches. Diese Revolutionärinnen +hatten schon eine Tradition und waren +darum vielfach reaktionär.</p> + +<p>Von dem Plan meines Werkes sprach ich mit ihnen +nicht mehr. Aber ich beschloß, alle Zeit, die mir blieb, +ihm zu widmen.</p> + +<p>Doch auf die Möglichkeit stetiger Arbeit hoffte ich +vergebens.</p> + +<p>An unserem Schreibtisch saßen wir, mein Mann +und ich. Wie schön hatten wir es uns gedacht, +das gemeinsame Arbeiten! Aber dieses Einandergegenübersitzen +von zwei Menschen, die sich lieben, die jeden<a name="Page_235" id="Page_235"></a> +Ausdruck im Gesicht des anderen sehen müssen und unwillkürlich +zu deuten versuchen, diese Sorge, einander +ja nicht zu stören, schufen eine <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'Atmospäre'">Atmosphäre</ins> von Nervosität, +die um so unerträglicher wurde, als keiner den +Mut hatte, sie dem anderen zu gestehen. Es kam vor, +daß ich aufatmete, wenn mein Mann das Zimmer verließ; +und oft ging ich hinaus, weil ich fühlte, daß er +allein sein mußte.</p> + +<p>Tausenderlei Dinge zerrissen die Tage und die Stimmung: +Da gab's bei den Kindern Vokabeln zu überhören +und Anzüge zu flicken, da waren die Haushaltssorgen, +die mich um so stärker in Anspruch nahmen, je +weniger ich von ihnen verstand, und die ständige angstvolle +Frage: komme ich aus? Auf meinen Mann, der +für mich die Güte und Rücksicht selber war, wirkte sie +wie ein rotes Tuch. Ohne irgendeine Erklärung und +Entschuldigung gelten zu lassen, hielt er mich stets für +schuldig, wenn ich sie nicht bejahend beantworten konnte. +»Du verschwendest, — du läßt dich vom Mädchen betrügen —,« +rief er, während die Zornadern ihm auf +der Stirne schwollen. Und doch lebten wir nach meinen +anerzogenen Begriffen über die Maßen einfach. Mich +kränkte sein Zorn, den ich als Ungerechtigkeit empfand. +Ich konnte keine gute Hausfrau sein, wenn ich zu gleicher +Zeit meinen schriftstellerischen Beruf ausüben wollte. +Das menschliche Gehirn ist auf das Nebeneinander von +zwei Gedankenketten nicht eingerichtet. Und der Haushalt +erfordert umsomehr die Gedankenwelt der Frau, je +weniger ihr seine Pflichten zur mechanischen Gewohnheit +geworden sind. Mir blieb kein Ausweg: ich verschwieg +meine Sorgen, ich vermied es soviel als möglich, meinen<a name="Page_236" id="Page_236"></a> +Mann um Geld zu bitten, was ich immer als eine Erniedrigung +meiner selbst empfand. Wanda Orbin hatte +recht, tausendmal recht: die ökonomische Selbständigkeit +des Weibes ist die Voraussetzung einer glücklichen Verbindung +der Geschlechter, sie hilft so manche andere +Klippen der Ehe umschiffen. Ich schrieb, neben der +Vorarbeit für mein Buch, wieder Artikel für Zeitschriften +und Tagesblätter, um Geld zu verdienen.</p> + +<p>Nur wenn ich bei meinem Kinde war, wenn seine +Pflege meine Gedanken in Anspruch nahm, dann empfand +ich das nicht wie eine Störung oder wie ein Ablenken +von meiner eigentlichen Tätigkeit. Fühlte ich sein +warmes rundes Körperchen in meinen Armen, so strömte +wunschloser Friede mir tief ins Herz. Lachten mich +seine blauen Augen an, so vergaß ich alles darüber, +was es an Glück in der Welt noch geben mochte, und +weinte er, und ich wußte nicht warum, so gab es kein +Menschenleid, das mir hätte größer erscheinen können; +klammerten sich seine rosigen, kleinen Finger fest um +die meinen, so fühlte ich, daß er für immer von mir +Besitz ergriffen hatte; daß mein Herz dazu da war, um +ihn zu lieben, mein Geist, um ihn zu erziehen, meine +Kraft, um ihm den Weg ins Leben bahnen zu helfen. +Kam ich von ihm zu meinem Mann zurück, so war +jeder Schatten von Kummer verschwunden, ich liebte +ihn doppelt, weil er meines Kindes Vater war. Und +sah ich meine Stiefsöhne dann, so tat mir das Herz +weh: ich konnte sie nicht lieben wie mein eigenes Kind; +sie mußten das fühlen, wenn ich mich auch noch so sehr +bemühte, meine Zärtlichkeit für den Kleinen nur zu +äußern, sobald sie fern waren.</p> + +<p><a name="Page_237" id="Page_237"></a>Zuweilen, wenn das Geld wieder einmal recht knapp +war, dachte ich nicht ohne Bitterkeit an die reiche Mutter +dieser Kinder. Aber meinem Mann sagte ich nichts davon. +Die Erziehung, die ich zu Hause genossen hatte, +und deren Folgen Georgs sanfte Hand von mir abzustreifen +vermochte, bekam wieder Macht über mich: ich +lernte schweigen, um nicht zu verletzen, und um Auseinandersetzungen +aus dem Wege zu gehen.</p> + +<p>Meine Mutter kam um jene Zeit häufig zu mir. +Seitdem wir unser Kind hatten taufen lassen, war sie +viel milder und herzlicher geworden, obwohl ich sie über +unsere Beweggründe nicht im Irrtum gelassen hatte. +»Wir haben kein Recht, dies Kind von vornherein in +eine Ausnahmestellung zu zwingen,« hatte ich ihr gesagt, +als sie in unserer Handlungsweise einen Ausdruck +unseres eigenen Gesinnungswechsels zu sehen glaubte; +»ebensowenig wie wir es später, wenn es selbständig +denken kann, hindern wollen, zu tun oder zu lassen, +was seiner eigenen Überzeugung entspricht.«</p> + +<p>Aber nach anderen Richtungen hütete ich mich um +so mehr, sie ins Vertrauen zu ziehen. Sie hatte +mir häufig gesagt: »Wenn du einmal verheiratet bist, +wirst du einsehen, daß das Leben der Frau aus lauter +Opfern und im Kampf mit lauter Kleinkram besteht!« +Sie durfte nicht glauben, daß ihre Prophezeiung in +Erfüllung gegangen wäre. Und sie mußte in der Meinung +erhalten werden, die sie schließlich allein über +meine Heirat getröstet hatte: daß meine äußere Lage +die behaglichste sei. An der Art, wie diese ruhige, anscheinend +kühle Frau ihre Freude darüber äußerte, sah +ich erst, wie sehr sie selbst unter den dauernden peku<a name="Page_238" id="Page_238"></a>niären +Sorgen gelitten hatte. Wie oft hatte ich sie +um ihrer Härte willen im stillen angeklagt. Jetzt bat +ich ihr manches ab. Ich erinnerte mich, wie umsichtig +sie den großen Haushalt geführt hatte, wie sie stunden- und +tagelang Wäsche flickte und uns unsere Kleider +nähen half, — wie schwer mochte es auch ihr geworden +sein, wie viel mochte sie entbehrt haben!</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Weihnachten 1897 war es. Zum erstenmal +putzte ich für mein Kind den Weihnachtsbaum. +Erstaunt riß es die Augen auf +und streckte die Händchen verlangend aus, als es die +vielen bunten Lichter sah! Unter der Tanne lag allerlei +Spielzeug für ihn, darunter ein großer bunter Hampelmann, +den mein Vater geschickt hatte. Mit dem +Söhnchen auf dem Arm trat ich zu meinem Weihnachtstisch, +auf dem ein geheimnisvoll versiegelter Brief lag. Ich +öffnete ihn, während mein Junge fröhlich lallend den +Hampelmann hin- und herschwenkte: »Ein Häuschen im +Grunewald« stand darin. Vor Überraschung war ich +sprachlos. Heinrich umarmte mich und das Kind, glückselig +über die Freude, die er bereitet hatte. In aller +Stille hatte er mit Hall verhandelt und ihn rasch bereit +gefunden, unseren Wunsch durch die Beschaffung von +Baugeld und Hypotheken erfüllen zu helfen. »Wie wird +unser Kind gedeihen, wie ruhig und friedlich wird meine +Alix dort arbeiten können!« sagte er.</p> + +<p>»Werden wir auch die Zinsen aufbringen können?« +meinte ich schließlich, nachdem der erste Sturm der +Freude sich gelegt hatte. Ein Schatten flog über seine<a name="Page_239" id="Page_239"></a> +Züge: »Mußt du dich immer gleich wieder fürchten, — auch +angesichts solch eines Glücksfalles?!« Beschämt +senkte ich den Kopf. Die Lichter waren längst erloschen, +und die Kinder schliefen, unser Liebling mit dem Hampelmann, +fest an sich gedrückt; der süße Duft der Wachskerzen, +vereint mit dem starken der Tanne, erfüllte das +Zimmer; wir großen Kinder träumten darin unseren +Weihnachtstraum: von dem stillen Häuschen im Wald, +fern dem Lärm der Großstadt, von einer Heimat, die +wir beide nie gekannt hatten, von unserem Kind, das +wachsen sollte wie die Bäume: die Wurzeln im Boden +der Mutter Erde, das Haupt erhoben, der Sonne zu +und dem Sturme trotzend.</p> + +<p>Am nächsten Morgen, einem echten Weihnachtsfeiertag, +über den der Himmel all seinen Glanz und seine +Farben goß, zog ich meinem blonden Buben ein weißes +Mäntelchen an, packte ihn sorgfältig in die weichen +Kissen seines weißen Wagens und schickte ihn zu den +Eltern. Meine Gedanken begleiteten ihn: wie ein helles +Licht sah ich ihn auftauchen in dem dunklen Flur, sah, +wie der Großvater ihn feuchten Auges in die Arme +nahm, fühlte, wie der letzte eiserne Reifen um des alten +Mannes Herz zersprang.</p> + +<p>»Das war ein lieber Gedanke von Dir,« schrieb die +Mutter. »Ich habe Deinen Vater seit Jahren nicht +so froh gesehen. Er strahlt noch jetzt und behauptet, +es gäbe in der ganzen Welt kein zweites Kind wie +seinen Enkel. Mich hat die Nachricht von Heinrichs +Weihnachtsgeschenk noch besonders beglückt: so hat Gott +meine Gebete doch erhört und alle Strafe von Dir abgewendet!«</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_240" id="Page_240"></a></p> + +<p>Unseren wundergläubigen Vorfahren galten die +zwölf Nächte, die dem Weihnachtsabend folgen, +für heilig: in dieser Zeit wurde die Arbeit +auf das notwendigste beschränkt, nur in Feiertagsgewändern +begegneten die Menschen einander, und die +Träume, die geträumt wurden, gingen in Erfüllung. +Unter der Schwelle unseres Bewußtseins lebt und wirkt +auch heute noch dieser Glaube. In den Straßen und +in den Herzen ist es stiller als sonst. Der fieberhafte +Pulsschlag des öffentlichen Lebens stockt. Selbst der +heimatloseste Weltenbummler sucht sich einen Winkel +Familienleben, wo er unterkriechen kann. Und wem es +recht wohl und warm ums Herz wird, der wünscht zuweilen, +sich auf immer einspinnen zu können in diese Stille.</p> + +<p>Aber das junge Jahr wirft alle guten Gaben, die +die Greisenhand des alten zum Abschied spendete, aus +seinem Lebenspalast hinaus und ruft mit schmetternden +Fanfaren zu neuen Kämpfen, richtet Ziele auf mit +lockenden Preisen, so daß auch die süß Schlummernden +sich dem Land ihrer Träume entreißen und im grellen +Licht des Tages den alten Wettlauf wieder beginnen.</p> + +<p>So erging es auch uns. Sturmzeichen sahen die +Wetterkundigen am Himmel seit jenen ersten Gewitterwolken +kaiserlicher Reden im vergangenen Jahr. »Rücksichtslose +Niederwerfung jeden Umsturzes« hatte die eine +gefordert, als »Vaterlandslose« hatte die andere diejenigen +gebrandmarkt, die den Flottenforderungen ablehnend +gegenüberstanden. Inzwischen war die Flottenvorlage +dem Reichstag zugegangen, die ihren Schatten +monatelang vorausgeworfen hatte, und auf sieben Jahre +<a name="Page_241" id="Page_241"></a>hinaus Millionen und Abermillionen für neue Schiffsbauten +forderte. Doch die stürmische Entrüstung, zu +welcher der Philister sonst immer bereit ist, wenn seinem +Geldsack Gefahr droht, war ausgeblieben. Denn in +seiner psychologischer Kenntnis der Menschennatur, die +um so überraschender war, als die Regierungen ihre +Völker mit dergleichen nicht zu verwöhnen pflegen, waren +Vorfälle, die früher spurlos vorübergingen, — wie der +Streit eines deutschen Kaufmanns mit den Polizeibehörden +der Republik Haiti und die Ermordung zweier +deutscher Missionare in China, — zu so ernsten Konflikten +mit fremden Mächten aufgebauscht worden, daß +der <em class="antiqua">furor teutonicus</em> sich daran zu entzünden vermochte. +Einmal gereizt, griff der gute deutsche Michel +wutschnaubend nach dem Racheschwert, und in seinen +Träumeraugen brannte plötzlich wieder die alte Sehnsucht +nach fernen fremden Ländern und ihren Märchenschätzen. +Was uns, die wir nüchtern geblieben waren, +wie eine romantische Floskel klang, — die pathetische +Rede des Kaisers an seinen nach China ausziehenden +Bruder von dem Dreinfahren der gepanzerten Faust und +dessen Antwort von dem »Evangelium der geheiligten +Person Seiner Majestät«, das er im Auslande verkünden +wolle, — das entsprach im Augenblick dem fanatisierten +Empfinden des deutschen Bürgers. Er, dessen +Leben so lange sang- und klanglos dahingeflossen war, +der seit Bismarcks Abschied für seine Begeisterungsfähigkeit +keinen Gegenstand mehr gehabt hatte, berauschte +sich an der Idee der Weltmacht, und die ungeheure +Flottenforderung schreckte ihn nun nicht mehr.</p> + +<p>Aber die Regierung erreichte durch ihre Politik noch +<a name="Page_242" id="Page_242"></a>mehr als das: hatte das Interesse eines großen Teiles +der Bourgeoisie sich in einer für sie bedenklichen Weise +in den letzten Jahren der sozialen Frage zugewandt, so +war nunmehr ein Mittel gefunden, es von ihr abzulenken. +Mit schmerzlichem Erstaunen sah ich, wie +Männer, auf die ich noch vor wenigen Monden für +unsere Sache gerechnet hatte, den Nationalismus über +den Sozialismus siegen ließen, wie selbst ein Romberg +und seine Freunde die Weltmachtpolitik verteidigten. +Daß es zwischen ihr und der Arbeiterpolitik nichts anderes +geben könne als unversöhnlichen Gegensatz, schien +mir über allem Zweifel zu stehen. Für Rombergs Argumente, +der in der Erschließung neuer Absatzgebiete auch +einen Vorteil für die deutsche Arbeiterschaft sah, war +ich vollkommen unzugänglich.</p> + +<p>Die große Flutwelle patriotischer Begeisterung trieb +nicht nur alte Freunde von unserer Sache ab, sie trug +uns auch neue Feinde zu. Vielen, die sich um Politik +bisher kaum gekümmert hatten, galten wir jetzt als +Feinde des Vaterlandes, die mit allen Mitteln bekämpft +werden müßten. Der Weizen Herrn von Stumms, +unseres grimmigen alten Gegners, blühte; er drohte +mit der Revolution von oben, wenn die Flottenvorlage +im Reichstag zu Falle käme. Und tatsächlich schien ein +neues Ausnahmegesetz in Vorbereitung. Der »Vorwärts« +veröffentlichte ein Geheimschreiben des Staatssekretärs +des Innern an die verbündeten Regierungen, worin er +ein Gesetz zum Schutz der Arbeitswilligen in Aussicht +stellte, das, nach den Absichten unserer Gegner, die +Koalitionsfreiheit der Arbeiter notwendig beeinträchtigen, +wenn nicht vernichten würde.</p> + +<p><a name="Page_243" id="Page_243"></a>Was die Regierung gewollt hatte, wurde erreicht: +eine Mehrheit für die Flottenvorlage, eine scharfe Trennung +zwischen den bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokratie +für die Wahlen zum neuen Reichstag.</p> + +<p>Aber auch für uns schien die Lage günstig: auf der +einen Seite die Weltmachtpolitik mit ihrer möglichen +Folge kostspieliger Kriegsabenteuer und drückender Steuerlasten, +auf der anderen die Bedrohung des Koalitionsrechtes, — war +das nicht genug, um die proletarischen +Massen zu einem gewaltigen Protest aufzupeitschen?! +Warum war die Stimmung in unseren Versammlungen +so flau, warum fehlte auch mir, wenn ich sprach, jene +anfeuernde Kraft der Rede, die früher an ihren Wirkungen +zutage getreten war? Die starke, hoffnungsvolle +Freudigkeit war verloren gegangen, als ob sich zwischen +uns und das Ziel, dem wir so leidenschaftlich zustrebten, +ein dunkler Schleier gesenkt hätte. Durch die Einheit, +die unsere Kraft gewesen war, ging ein blutender Riß. +Das Instrument der Partei klang verstimmt, als wäre +eine Saite gerissen.</p> + +<p>Langsam und allmählich, für die meisten unmerklich, +hatte es sich vorbereitet: mit der Entwickelung der Sozialdemokratie +von der Sekte zur Partei hatte sich zuerst +die Taktik ihres Vorgehens leise verändert. Von der +Ablehnung jeder Beteiligung an einem Parlament des +kapitalistischen Staates als eines unmöglichen Paktierens +mit der Bourgeoisie bis jetzt, wo sogar von alten bewährten +Führern die Teilnahme an den Landtagswahlen +unter dem Dreiklassenwahlsystem empfohlen wurde, war +ein weiter Weg. Und er war gegangen worden. Was +einer der wenigen Staatsmänner der Partei, Georg +<a name="Page_244" id="Page_244"></a>von Vollmar, nach dem Fall des Sozialistengesetzes unter +dem empörten Widerspruch der radikalen Elemente in +der Partei erklärt hatte: daß in dem Maße, in welchem +wir einen unmittelbaren Einfluß auf den Gang der +öffentlichen Angelegenheiten gewinnen, wir unsere Kraft +auf die nächsten und dringenden Dinge konzentrieren +müßten und »dem guten Willen die offene Hand, dem +schlechten die Faust« zu zeigen sei, — das hatte sich +von Jahr zu Jahr als immer notwendiger erwiesen, +und vor der Logik der Tatsachen wich die radikale Phrase +bloßer Verneinung Schritt vor Schritt zurück.</p> + +<p>Jetzt aber begann sogar die alt-ehrwürdige Theorie +vor dem Ansturm der jungen Praxis in ihren Grundfesten +zu zittern. Im Lichte der fortschreitenden Zeit +erwiesen sich manche Fundamentalsätze, wie sie das Erfurter +Programm formuliert hatte, als überholt. Schon +die Beschäftigung mit der Agrarfrage hatte gezeigt, daß +die wirtschaftliche Entwickelung sich nicht überall mit +den von Marx aufgestellten Gesetzen in Einklang bringen +ließ, daß die Konzentrierung des Kapitals sich nicht so +rasch und nicht so schematisch vollzieht, wie er auf +Grund damaliger Erfahrungen angenommen hatte. Und +auch das vom kommunistischen Manifest mit apodiktischer +Sicherheit in Aussicht gestellte allgemeine Herabsinken +der Arbeiter in den Pauperismus war nicht eingetreten; +die Lebenslage des Proletariats hatte sich vielmehr im +Laufe des letzten halben Jahrhunderts gehoben. Und +nun trat einer der bewährtesten Vorkämpfer des Sozialismus, +einer ihrer Märtyrer, der noch im Exil in England +lebte — Eduard Bernstein —, auf und erörterte +in breiter Öffentlichkeit die neuen Probleme des Sozia<a name="Page_245" id="Page_245"></a>lismus. +Er rüttelte weder an seiner Voraussetzung +noch an seinem Ziel, aber er zeigte an der Hand der +Tatsachen, daß der Weg zwischen beiden länger ist und +anders geartet, als Marx und seine Schüler ihn dargestellt +hatten, daß wir ihn daher mehr berücksichtigen, +unsere Handlungen mehr auf seine Etappen, als auf +das schließliche Ende einstellen müßten.</p> + +<p>Auf uns, die wir durch die Erkenntnis des Elends in +der Welt zum Sozialismus geführt worden waren, die +wir von ihm in einem in seiner Wurzel religiösen +Glaubensüberschwang die Erlösung von allem Übel erwartet +hatten, wirkte die kühle Klarheit der Bernsteinschen +Beweisführungen niederschmetternd. Meinem Verstande +waren die Grundsätze des Sozialismus so ohne +weiteres einleuchtend gewesen, weil mein Gefühl mit +seinem Wollen von vornherein übereinstimmte. Sie +kritisch und wissenschaftlich zu prüfen, war mir, wie +Tausenden meiner Gesinnungsgenossen, nie eingefallen. +Jetzt war es ein Gebot der höchsten Tugend, — der +intellektuellen Redlichkeit, — es nachzuholen.</p> + +<p>Die Zeiten meiner religiösen Kinderkämpfe schienen +wiedergekehrt zu sein. Nur daß ich jetzt mit allen Fasern +meines Innern in dem Glauben wurzelte, dem ich +meinen ganzen Lebensbesitz geopfert hatte, aus dem ich +alle meine Kräfte sog. Was stand noch fest, dachte ich +verzweifelt, wenn so vieles schwankte? Ernüchtert, — bar +jener stürmischen Begeisterung, die mich ausziehen +ließ, der Menschheit eine neue Welt zu erkämpfen, sah +ich den langen, öden Weg vor mir mit all seinen +kleinen Hindernissen, die im Schweiße unseres Angesichts +überwunden werden sollten, und mit dem Ziel, das im<a name="Page_246" id="Page_246"></a> +Nebel der Ferne fast verschwand. Die Naivetät jungen +Glaubens, die noch keine Probleme kennt, ist für die +Masse der Menschen die Voraussetzung ihres Enthusiasmus +und damit ihrer Stärke. Ich hatte sie verloren +wie viele meiner Genossen; das lähmte uns. Oft kamen +Augenblicke, wo ich die anderen beneidete, die, sei es +aus unbewußter Furcht vor einem inneren Zusammenbruch, +sei es aus einer gewissen Beschränktheit ihres +Denkens, den alten Glauben gegenüber der neuen Erkenntnis +aufrecht erhielten und leidenschaftlich verteidigten. +Mein Gefühl war auf ihrer Seite, und nur zu +häufig riß es mich wieder mit sich fort. Vielleicht wäre +es sogar auf lange Zeit hinaus das herrschende geblieben, +wenn nicht mein Mann immer wieder meinen +Verstand gegen mein Herz zu Hilfe gerufen hätte. Und +die Tatsachen und die Zahlen waren unerbittlich: Die +Konzentration des Kapitals und die Eroberung der politischen +Macht durch das Proletariat waren die beiden +anerkannten Bedingungen der Verwirklichung des Sozialismus. +Aber der Schneckengang der Entwickelung zum +Großbetrieb, der zuweilen sogar ein Krebsgang zu sein +schien, und die Tatsache, daß von hundert Wahlberechtigten +nur achtzehn sozialdemokratische Stimmzettel +abgaben und mehr als die Hälfte der erwachsenen +männlichen Arbeiterschaft der Sozialdemokratie +noch gleichgültig, wenn nicht feindlich gegenüberstand, +bewiesen, wie weit wir noch vom Ziel +entfernt waren. Eine Selbsttäuschung hierüber wäre +ein Verbrechen an unserer Sache gewesen, — das sah +ich ein. Es galt, den Kinderglauben ruhig und mutig +aufzugeben.</p> + +<p><a name="Page_247" id="Page_247"></a>Mit jener rücksichtslosen Leidenschaft, die stets das +Produkt der Angst um die Gefährdung der Grundlagen +des Lebens und Wirkens ist, bekämpfte die Masse der +Arbeiterschaft, an ihrer Spitze all die Führer, deren +heißblütiges Temperament über alle Zweifel siegte, und +all die klugen Demagogen, die auf der Seite der Mehrheit +blieben, weil ihre Macht von dieser Mehrheit abhing, +die neuen Ideen und ihre Vertreter. Und dieser +ganze Kampf fiel in die Vorbereitung der Reichstagswahlen; +er lähmte die Agitationskraft der einen, die +wie ich noch mit sich selbst zerfallen waren, er lenkte +die Interessen der anderen ab, die die Partei vor dem +unheilvollen Einfluß der Ketzer glaubten schützen zu +müssen.</p> + +<p>Wenn ich in Versammlungen sprach, fühlte ich: meine +Worte zündeten nicht. Einmal traf ich bei solcher Gelegenheit +Reinhard wieder. Er schien mir sehr gealtert. +Wir sprachen über unsere Aussichten. »Wir hätten +zwanzig bis dreißig Mandate erobern können,« sagte +er, »wäre das ganze Getratsch von Endziel und Bewegung +uns nicht in die Parade gefahren.«</p> + +<p>»Hat Bernstein etwa nicht recht?!« fragte ich.</p> + +<p>»Recht! — Recht!« antwortete er heftig. »Natürlich +hat er recht in dem, was er sagt, aber daß er es +sagte, in diesem Augenblick sagte, war ein Fehler, +ein schwerer Fehler. Wir alten Gewerkschafter, die +wir mitten im Leben stehen, sind schon lange seiner +Meinung, aber wir machen die Genossen nicht kopfscheu +mit theoretischem Kram, wir handeln einfach, wie +die Verhältnisse es fordern.«</p> + +<p>»So hätte er schweigen sollen?«</p> +<p><a name="Page_248" id="Page_248"></a></p> +<p>»Keineswegs! Er hätte nach den Wahlen fünf Jahre +zum Reden Zeit genug gehabt. Aber daß er uns jetzt +diesen Knüppel zwischen die Beine schmeißt —«</p> + +<p>Ich dachte an Reinhards Worte, als mir ein andermal +in der Diskussion ein rabiater Genosse vorwarf, +auch ich hätte »das Endziel in die Tasche gesteckt«, und +verteidigte mich nicht. Solange wir im Kampf gegen +den gemeinsamen Gegner standen, mußte die Streitaxt +begraben werden. Aber die Radikalen dachten anders. +Es kam vor, daß Reichstagskandidaten von den eigenen +Genossen wie Parteiverräter behandelt wurden. Wanda +Orbin vor allem, die immer wieder erklärte, daß die +Reinheit der Partei ihr höher stünde als ihre numerische +Stärke, wurde zur fanatischen Gegnerin aller +derer, die sich nicht unverbrüchlich auf die alten Dogmen +einschwuren. Und mehr als je hatte sie die Frauen +auf ihrer Seite, — die Frauen, die nicht auf dem +Wege wissenschaftlicher Erkenntnis, sondern einzig und +allein durch ihr Gefühl geleitet zu Sozialistinnen geworden +waren. Mit jener naiven Kraft der ersten +Christen, die ihr ganzes Tun und Denken auf die +unmittelbare Wiederkehr des Gekreuzigten eingerichtet +hatten, hofften sie auf die baldige Erfüllung ihres Zukunftstraums.</p> + +<p>Als das Resultat der Wahlen bekannt wurde, — es +war in bezug auf die Zunahme der Mandate, +aber noch mehr im Hinblick auf das Stimmenverhältnis +weit hinter unseren Erwartungen zurückgeblieben, — stieg +die Erbitterung gegen die »Bernsteinianer«, +denen man die Schuld an diesem Ergebnis +zuschob, noch mehr.</p> + +<p><a name="Page_249" id="Page_249"></a>Ein Symptom für die allgemeine Stimmung war +der Beschluß, der nach einer stürmischen Versammlung +im Feenpalast von den Berlinern gefaßt wurde. Seinem +Wortlaut nach richtete er sich zwar nur gegen eine Beteiligung +an den Landtagswahlen in Berlin selbst, sein +Tenor aber war eine Verurteilung der Beteiligung überhaupt. +Sie erschien den Radikalen als ein bedenkliches +Hinneigen zu revisionistischen Ideen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>In dem Kreise der Genossinnen äußerte sich das +gegenseitige Mißtrauen weniger im Streit um +Meinungen, als in persönlichen Reibereien. War +ich schon während meiner Tätigkeit in der bürgerlichen +Frauenbewegung zu der Überzeugung gelangt, daß diese +spezifisch weibliche Art nur durch eine Zusammenarbeit +mit dem Mann sich beseitigen lassen würde, so war ich +jetzt entschlossen, den Einfluß, den ich noch besaß, nach +dieser Richtung geltend zu machen.</p> + +<p>»Wir haben die Gleichberechtigung der Geschlechter +auf das Programm geschrieben, wir müssen sie also zu +allererst in der eigenen Partei durchführen,« erklärte ich, +und selbst die Feindseligsten waren in diesem Gedanken +mit mir einig. »Bei den Genossen aber werden Sie +damit schön abblitzen!« meinte Martha Bartels. »Bei +denen heißt's noch immer, wenn unsereins den Mund +auftut: Kusch dich! zu Hause — wie in der Bewegung,« +sagte eine andere langjährige Parteigenossin. +»Sie wissen, wie wir voriges Jahr behandelt worden +sind, —« fügte die dicke Frau Wengs hinzu, »als wir +auch nur eine Einzigste von uns in den allgemeinen<a name="Page_250" id="Page_250"></a> +Versammlungen als Delegiertin zum Parteitag wollten +aufgestellt haben. ›Wascht man eure dreckige Wäsche +alleene —,‹ sagten uns die Vertrauensleute.« »So +müssen wir eben immer wiederkommen,« entgegnete ich, +»Na — für die schönen Augen von Genossin Brandt +tun sie's am Ende,« höhnte Martha Bartels. Schließlich +beschloß man, noch einen Versuch zu machen, und +es gelang auf einer der Parteiversammlungen, zunächst +meine Delegation zum Parteitag der Provinz Brandenburg +durchzusetzen. Die Freude der Genossinnen über +diesen Erfolg war die der Kinder, wenn sie ein neues +Spiel beginnen: auf eine Zeitlang war jeder Streit +vergessen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Am Vorabend der Provinzialkonferenz veröffentlichte +die Presse eine neue Rede des Kaisers, +die er im Kurhause von Öynhausen gehalten +hatte: »Das Gesetz naht sich seiner Vollendung und +wird den Volksvertretern noch in diesem Jahre zugehen, +worin jeder, der einen deutschen Arbeiter, der willig +ist, seine Arbeit zu vollführen, daran zu verhindern +sucht, oder gar zu einem Streik anreizt, mit Zuchthaus +bestraft werden soll ...«</p> + +<p>Das bedeutete nichts weniger und nichts mehr, als +eine Vernichtung des Koalitionsrechts, das war eine +Kriegserklärung an das Proletariat, für die es nur eine +Antwort gab: einmütiges Zusammenhalten. In der +Sitzung am nächsten Morgen brachte ich eine Protestresolution +ein, die zur einstimmigen Annahme gelangte, +und unter dem Eindruck der kaiserlichen Drohung ver<a name="Page_251" id="Page_251"></a>lief +die Tagung ohne einen Mißklang. Martha Bartels +schüttelte mir herzlich die Hand, wie seit Monaten +nicht, die gute Frau Wengs lachte über das ganze +runde Gesicht, klopfte mir wohlwollend auf die Schulter +und versicherte: »Nun haben Sie uns aber alle miteinander +auf Ihrer Seite.«</p> + +<p>Zwei Tage später erfuhr ich, daß einer der berliner +Wahlkreise bereit sei, mich zum nächsten Parteitag zu +delegieren.</p> + +<p>»Du bist leicht zu befriedigen!« sagte mein Mann +mit einem leise spöttischen Ton in der Stimme, als er +meine Freude sah.</p> + +<p>»Es ist doch ein Anfang,« antwortete ich. »Oder +meinst du, ich wäre in die Partei gekommen, um ewig +Rekrut zu bleiben?«</p> + +<p>»Gewiß nicht,« lachte er, »ich kenne doch meinen +ehrgeizigen Schatz!«</p> + +<p>Mir stieg das Blut in die Schläfen. War es Ehrgeiz, +der mich beherrschte, oder nicht vielmehr der berechtigte +Wunsch nach einem Wirkungskreis für meine +Leistungskraft? Zu tief empfand ich das Opfer, das +ich brachte, wenn ich mein Haus und mein Kind verließ, +als daß ich es dauernd für überflüssige Nichtigkeiten +hätte bringen können. Jetzt war ich im Aufstieg, +und weil ich es war, hatte ich die Sympathie +der anderen für mich; es galt nunmehr, beides +festzuhalten.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_252" id="Page_252"></a></p> + +<p>In der Versammlung, die über die Parteitagsdelegationen +endgültig zu entscheiden hatte, herrschte +von Anfang an Gewitterschwüle. Die schroffsten +Gegner saßen einander gegenüber, und bei jedem Punkt der +Tagesordnung kam es zu hitzigen Wortgefechten. Eines +schien von vornherein klar: die Masse der radikalen +Berliner erwartete vom nächsten Parteitag eine Abrechnung +mit den revisionistischen Elementen in der Partei, +ja sie scheuten sich nicht, selbst gegen Bebel Stellung +zu nehmen, weil er in der Landtagswahlfrage nicht auf +ihrer Seite stand. Man forderte schließlich, daß sämtliche +Delegierte sich auf die Feenpalastresolution verpflichten +sollten. Während ringsumher alles durcheinander +schrie und tobte, wurden die zur Delegation Vorgeschlagenen +aufgerufen.</p> + +<p>»Genossin Brandt, stehen Sie auf dem Boden unseres +Beschlusses?« Überrascht fuhr ich auf, — ich +hatte nicht erwartet, als Erste gefragt zu werden, — ich +versuchte mir im Moment die Situation zu vergegenwärtigen. +»So antworten Sie doch!« rief ungeduldig +die Stimme des Vorsitzenden.</p> + +<p>Die Genossinnen umringten mich: »Sie werden uns +doch nicht im Stiche lassen,« flüsterte Frau Wiemer von +der einen Seite, — »wir haben ja nur für Berlin die +Beteiligung abgelehnt,« zischte mir Martha Bartels von +der anderen ins Ohr. Und ein leises »Ja« kam zögernd +von meinen Lippen.</p> + +<p>Gleich darauf hörte ich Reinhards Namen nennen, +und im selben Augenblick seine Antwort: ein scharfes +»Nein«. Ich wurde gewählt — er nicht.</p> + +<p><a name="Page_253" id="Page_253"></a>Glückwünschend umringten mich die Genossinnen. Aber +jedes Wort, das sie sagten, ließ mich dunkler erröten. +Am Ausgang traf ich Reinhard. »Das hätte ich von +Ihnen nicht erwartet,« sagte er. »Sie kannten doch +den tieferen Sinn der Resolution.«</p> + +<p>Ich schlich nach Hause, müde, schuldbewußt. Noch +in der Nacht schrieb ich eine Erklärung für den »Vorwärts«, +und legte mein Mandat in die Hände meiner +Wähler zurück ...</p> + +<p>Die Frauen hätten mich am liebsten gesteinigt, die +Männer lachten mich aus. Ich schwieg. Womit hätte +ich mich verteidigen können?</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_254" id="Page_254"></a></p> +<h2><a name="Achtes_Kapitel" id="Achtes_Kapitel"></a>Achtes Kapitel</h2> + + +<p>»Ottoo — addaa,« rief das helle Stimmchen +meines Sohnes. Er saß auf meinen Knieen +im Wagen und winkte unermüdlich nach rechts +und links, als ob er in seiner Freude alles grüßen +müßte, was er sah. Wir fuhren hinaus in den Grunewald. +Es war ein strahlender Sommertag; Scharen +von Radlern flogen an uns vorüber; selbst die Dampfstraßenbahn +fauchte heut wie ein vergnügter Alter, weil +sie so viel Jugend in hellen Kleidern ins Grüne fuhr.</p> + +<p>Vor einem umzäunten Waldwinkel hielten wir. Ich +setzte den Kleinen ins Moos, und verwundert tippte er +mit den runden rosigen Fingern jeden Grashalm an +und kroch den schillernden Käfern nach und sah mit +einem jauchzenden »Da — da!« den Vögeln zu, die +von Zweig zu Zweig hüpften. Die alten dunkeln Kiefern +wiegten ihre Häupter im Winde, die Sonne malte runde +goldene Flecke auf ihre braunen Stämme, ein paar kleine +blaue Blümchen reckten neugierig die Köpfe, und ein +gelber Schmetterling tanzte über ihnen, — es war eine +große Sommer-Festvorstellung für mein Kind.</p> + +<p>Wir erwachsenen Leute gingen indessen ernsthaft umher +und betrachteten das grüne Erdenfleckchen, auf dem unser +Haus stehen sollte. Der Baumeister war mit uns ge<a name="Page_255" id="Page_255"></a>kommen. +Er war noch jung und ein echter Künstler; +von allen, bei denen wir gewesen waren, hatte er uns +am besten verstanden. Ich hielt das Bild des Häuschens +in der Hand, das seinen Namen trug — Alfred +Messel —, und sah es schon lebendig vor mir, mit seinen +blumenbesetzten Fensterbrettern und seinem lachenden +roten Dach. »Ein rotes Dach?« sagte der Baumeister. +»Nein! Unter die schwarzen Kiefern paßt nur ein graues.« +Schwarz und grau? Wie trübe klang das! Ich sah +ihn erschrocken an, — mir war auf einmal die Freude +vergangen.</p> + +<p>»Schwester Alix!« rief es über den Zaun. Ilse stand +an der Türe, die Hand auf der blitzenden Lenkstange ihres +Rades, und neben ihr ein großer, überschlanker Mann. +Errötend stellte sie ihn vor: »Professor Erdmann!« Sie +hatte mir schon von ihm erzählt, dem aufgehenden Stern +am Himmel des Kunstgewerbes, der in den Salons des +Tiergartenviertels eine Rolle zu spielen begann, und +Messel begrüßte ihn wie einen lieben Kollegen. Nach +ein paar raschen Worten drängte Ilse zum Aufbruch: +»Wir dürfen die anderen nicht verlieren,« sagte sie. +»Ich find' es viel hübscher zu zweien,« meinte ihr Begleiter +und sah sie mit einem Lächeln an, das auf ein +tieferes Einverständnis der beiden schließen ließ. Sie +fuhren davon. Das helle Köpfchen meiner Schwester +hob sich empor zu ihm, seine lange Gestalt neigte sich +zu ihr, — so flogen sie nebeneinander die sonnige Straße +hinauf, bis der dunkle Wald sie verschlang.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_256" id="Page_256"></a></p> + +<p>»Ottoo — addaa,« klang es wieder aus dem +Wagen heraus, als wir heimwärts fuhren. +Aber die Händchen grüßten nicht mehr nach +rechts und links; krampfhaft umspannten sie einen +Büschel grünes Gras, und unverwandt hafteten die +Augen meines Kindes auf dem bunten Käfer, der sich +gemächlich darin niedergelassen hatte. Auf einmal +breitete er seine schillernden Flügel aus und flog +mit surrendem Geräusch davon; entsetzt starrte mein +Kind ihm nach, das Gras entfiel den Fäustchen — ein +sehnsüchtig-schluchzendes »adda — adda« kam von dem +zuckenden Mündchen, und verzweifelt weinte es vor sich +hin. Mein Mann lächelte über den wilden Schmerz +um den entflogenen Käfer. Tut er dem kleinen Seelchen +nicht ebenso weh, wie wenn die großen Leute um +den Verlust ihrer Eroberungen trauern? dachte ich und +zog meinen Liebling mitleidig in die Arme.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Am nächsten Morgen in aller Frühe kam meine +Schwester. Sie wollte mich allein sprechen. +Ihr heißes Gesichtchen, ihr rascher Atem, drei +mühsam hervorgestoßene Worte: »ich liebe ihn,« sagten +mir genug. »Und die Eltern?« fragte ich. »Sie wissen +von nichts,« stotterte sie und sah ganz verängstigt drein.</p> + +<p>Ich dachte an meinen Vater: mit welch verächtlichem +Naserümpfen hatte er früher über Künstlerehen gesprochen. +Sollten für seine Töchter keine seiner heißen +Wünsche in Erfüllung gehen?</p> +<p><a name="Page_257" id="Page_257"></a></p> +<p>»Du wirst dich auf harte Kämpfe gefaßt machen +müssen, —« sagte ich, und mein Blick haftete auf ihren +kleinen, kraftlosen Händen. »Ich laufe davon, wenn +Papa es nicht zugibt,« rief sie.</p> + +<p>Noch am selben Tage besuchte ich Erdmann. Mein +Schwesterchen war einmal mein Kind gewesen, sie war +es mir von dem Augenblick an wieder, wo sie schutzbedürftig +vor mir stand.</p> + +<p>Als der Mann, den sie liebte, mir in seinem Atelier +entgegentrat, war mein erstes Gefühl das des Schreckens: +wie bleich war er, wie groß und schmal, wie seltsam +durchsichtig waren seine schlanken, langfingrigen Hände. +Aber die Art, wie er mit mir sprach, ließ mich über +den Menschen seine Erscheinung vergessen.</p> + +<p>»Ich liebe Ihre Schwester und werde sie heiraten,« +antwortete er auf meine Frage. »Freilich: Ilse stellte +mir eine Bedingung, —« fügte er lächelnd hinzu, »du +mußt Alix gefallen, sagte sie.«</p> + +<p>»Das dürfte weniger schwer sein, als daß Sie +ihren Eltern, vor allem dem Vater, gefallen müssen,« +meinte ich.</p> + +<p>»Gegen den härtesten Schädel hat sich noch immer +der meine als der härtere erwiesen,« entgegnete er.</p> + +<p>»Aber Ilse ist weich; ob sie schweren Kämpfen gewachsen +sein würde?!«</p> + +<p>»Gerade weil sie so zart ist, liebe ich sie, und +nehme alle Kämpfe auf mich, — nur ihrer Treue +muß ich sicher sein.« Dabei funkelten seine Augen. +Ein starkes Temperament schien sich hinter den leichten +Formen zu verstecken; würde die kleine Ilse es ertragen +können?</p> +<p><a name="Page_258" id="Page_258"></a></p> +<p>»Sie ist noch sehr jung,« warf ich noch einmal +ein. »Um so besser,« — ein warmer Glanz echter Freude +verschönte seine Züge, — »wir Künstler brauchen leere +Leinwand und unbehauenen Stein.«</p> + +<p>Vor dem Abschied versprach er mir, sich meiner Mutter +zu erklären, damit sie imstande sei, den Vater vorzubereiten. +Ich ging nachdenklich heim. Ilse war ein leicht +zu leitendes Kind gewesen, — fast zu leicht, denn mit +dem Zuckerbrot der Liebe ließ sie sich willenlos hin- und +herführen; aber hörte sie auch nur eine Peitsche knallen, +so erwachte ein unbändiger Trotz in ihr, und in ihren +Augen glühte der Haß gegen den, der sie meistern wollte. +Würde die Liebe dieses Mannes, der nur aus von Energie +gespannten Nerven und Sehnen zu bestehen schien, die +richtige Grenze zu finden wissen?</p> + +<p>Meine Mutter war zuerst außer sich, als Erdmann +sich ihr eröffnet hatte. Sie kam zu mir und kämpfte +mit den Tränen: »Nun bin ich es wieder, die Eurem +Vater standhalten muß! Und ich habe es doch so satt!« +»Dafür wirst du nachher um so mehr Ruhe haben,« +suchte ich sie zu beruhigen. Ihre schmalen Lippen +kräuselten sich, sie hatte wohl ein bitteres Wort auf der +Zunge, aber sie sprach es nicht aus.</p> + +<p>Erdmann verkehrte von nun an bei den Eltern. +»Denk' nur, er gefällt Papa!« erzählte mir Ilse ganz +glücklich, und die Mutter lebte wieder auf. Daß der +Bewerber ihrer Tochter in guten Verhältnissen war, +beruhigte sie vor allem. Und auch ich freute mich dessen; +meine Schwester war ein verwöhntes Prinzeßchen; +wie oft hatte nicht die Mutter vor ihr gekniet, um ihr +die Stiefel zuzuschnüren, damit ihr nur ja der Rücken +<a name="Page_259" id="Page_259"></a>nicht schmerzte! Zu keinerlei Arbeit war sie jemals +genötigt worden, — ich selbst hatte ihr nur zu häufig +die Schularbeiten gemacht, damit das Köpfchen +unter den schweren goldenen Flechten nicht gar zu müde +wurde!</p> + +<p>Eines Morgens kam die Nachricht: »Papa hat eingewilligt!« +und daneben von der Mutter Hand: »Hans +war ganz ruhig. Nur als Erdmann fort war, hat er +sich stundenlang in sein Zimmer eingeschlossen.« Er +mußte doppelt gelitten haben, da er sich durch keinen +Ausbruch seiner Leidenschaft mehr zu erleichtern vermochte. +Ich konnte mich noch nicht freuen, weil ich +nur seiner gedachte. Ob ich ihm schreiben dürfte, — ob +ein verständnisvolles Wort von mir ihm zu helfen +vermöchte?</p> + +<p>Im Zoologischen Garten erwartete er täglich mein +Kind. Er hatte immer die Taschen voll für den Kleinen; +war das Wetter schlecht, so ließ er ihn zu sich kommen, +setzte sich zu ihm auf den Teppich und baute dem Enkel +Bleisoldaten in Schlachtordnung auf. Und stets ließ +er mich grüßen, sagte das Mädchen. Er würde einen +Brief von mir nicht zurückweisen! An einem blauen +Bändchen knüpfte ich ihn meinem Jungen um den Hals, +als er das nächste Mal zu »Apapa« fuhr. Auf dieselbe +Weise brachte er die Antwort mit zurück:</p> + +<div class="blockquot"><p>»... Hast es richtig getroffen, mein Kind: ein +Auge weint, und das andere lacht nicht. Ich muß +mich selbst überwinden. Wenn man das Fahrwasser +kennt, dann hat die Hoffnung ihr Recht; aber das +unbekannte Fahrwasser, in das man sein Letztes +lassen muß, das gibt an keiner Stelle Ruhe. Daß<a name="Page_260" id="Page_260"></a> +Du mich verstanden hast, erfreut mich und macht +mich dankbar.</p></div> + +<p> +<span style="margin-left: 26em;">Dein alter Vater.«</span><br /> +</p> + +<p>Meine Schwester strahlte vor Glück. Mit jener +geistigen Beweglichkeit, die ihr von jeher eigen gewesen +war, ging sie vollkommen auf im Künstlertum ihres +Verlobten. Sie schien wirklich die leere Leinwand, der +unbehauene Stein, aus dem erst unter seinen Händen +ein lebendiges Werk werden sollte. Selbst ihre Kleidung +richtete sie nach seinem Geschmack; sie war eine +der ersten, die jene malerischen Gewänder trug, wie sie +aus den Köpfen der jungen Vorkämpfer des aufblühenden +Kunstgewerbes hervorgingen und von den Frauenrechtlerinnen +aus hygienischen, von den Malern aus +künstlerischen Gründen geschaffen wurden. Jedes Stück +ihrer künftigen Einrichtung wurde nach den Zeichnungen +Erdmanns angefertigt. »Oskars Stil entspricht so vollkommen +meinem ästhetischen Empfinden,« sagte sie, und +ihr Blick flog ein wenig hochmütig über unsere Möbel +hinweg, »daß ich in einer anderen Umgebung nicht +leben könnte.« Sie hatten nahe dem Kurfürstendamm +eine Wohnung gemietet, die nach Erdmanns Angaben +umgestaltet wurde. Kam das junge Paar mit der +Mutter zu uns, so drehte sich das Gespräch um die Zukunftspläne +mit all ihren reizvollen Details. Meine +eigenen, die mich so glücklich gemacht, so ganz gefangen +hatten, traten dabei zurück. »Du willst uns wohl mit +eurem Haus überraschen, daß du so wenig davon erzählst,« +meinte die Mutter einmal und ich nickte dazu.</p> + +<p>Die Gründe, warum ich schwieg, waren freilich anderer +Art. Das Haus, das inzwischen immer stattlicher +<a name="Page_261" id="Page_261"></a>aus der Erde herauswuchs, war zur Quelle neuer +drückender Sorgen geworden. Wir hatten in unserer +naiven Unkenntnis aller realen Forderungen des Lebens +vorher nicht berechnet, daß doch auch während des Baues +Zinsen zu zahlen waren, die unser Budget auf das +Schwerste belasten mußten. Ich wußte oft nicht ein +noch aus; dabei sah ich, wie mein Mann unter den Verhältnissen +litt, und zwar um so mehr, je mehr er empfand, +daß ich von ihnen betroffen wurde. Machte ich einmal +irgend eine von der Angst diktierte Bemerkung, so fuhr +er sich mit der Hand nervös durch das weiche, wellige +Haar und sagte mit einem gequälten Ausdruck in den +Zügen: »Kümmere dich doch nicht darum! Überlasse +mir all diese Lappalien. Ich werde dir alles aus dem +Wege räumen.«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Um jene Zeit kamen die Kinder aus den Ferien +zurück. Ich fürchtete mich schon davor, denn +noch Wochen nachher pflegten sie mir in naivem +Egoismus zu erzählen, was alles bei ihrer Mutter besser +und schöner gewesen war. Hörte es Heinrich, so schalt +er sie, weil er sah, daß es mich kränkte, und eine bleischwere +Stimmung herrschte um unseren Tisch. Diesmal +stürmten sie besonders eilig die Treppe hinauf; — so +freuen sie sich doch, nach Hause zu kommen, dachte +ich. Wolfgang, der Leichtfüßigere, kam zuerst. Kaum +ließ er sich Zeit, mich zu begrüßen. »Die Mutter läßt +dir sagen,« rief er atemlos, »sowas dürfte nicht mehr +vorkommen. Mützen hatten wir, wie sie in Österreich +nur Portiers tragen, und Anzüge, über die die Bauern<a name="Page_262" id="Page_262"></a>jungens +lachten.« Ich fühlte, wie blaß ich wurde. Ich +hatte sie wie immer für die Reise neu eingekleidet, um +ja keinerlei Vorwurf auf mich zu laden. Und diesmal +war es mir noch schwerer geworden als sonst. Bei +Tisch fing auch Hans, der stets zurückhaltender war, +zu erzählen an. »Warmes Abendessen ist viel gesünder, +meint die Mutter,« sagte er, »und es schmeckt auch besser +als immer bloß Wurst.«</p> + +<p>Ich war so überreizt, daß ich mit den Tränen kämpfte, +und als am nächsten Morgen auch noch ein Brief aus +Wien kam, in dem mir die Mutter der Kinder über +meine unzureichende Erziehung allerlei Vorhaltungen +machte, war es zu Ende mit meiner Selbstbeherrschung. +Konnte ich die Kinder denn überhaupt erziehen, wo ich +ständig fürchtete, von ihnen als die böse Stiefmutter +angesehen zu werden und damit jeden Einfluß zu verlieren?! +Konnte ich sie strafen, wo ich wußte, daß sie +sich bei der eigenen Mutter darüber beklagen würden?! +Ich zeigte Heinrich den Brief und schüttete ihm, nicht +ohne mich selbst all meiner versäumten Pflichten anzuklagen, +mein Herz aus.</p> + +<p>»Und das alles sagst du mir erst jetzt?« rief er. »All +den Kummer schleppst du mit dir herum und sprichst +dich nicht aus?« Er schlang den Arm um mich und +küßte mir die Tränen aus den Augen. »Hier muß +gründlich Wandel geschaffen werden, um deinetwillen ...« +»Vor allem um der Kinder willen, Heinz,« unterbrach +ich ihn; »so gut geartet, wie sie sind, — schließlich müssen +sie Schaden leiden.« Wir berieten, was zu tun sei.</p> + +<p>In früheren Jahren hatte die Mutter wiederholt versucht, +ihre Söhne bei sich zu behalten, aber immer +<a name="Page_263" id="Page_263"></a>wieder hatte Heinrich sie zurückgefordert. »Wie konntest +du?!« sagte ich leisem Vorwurf. »Kinder gehören +zur Mutter!« »Ich war sehr einsam, sehr liebebedürftig; +ich hatte im Scheidungsprozeß mit Nägeln und Zähnen +um die Kinder gekämpft,« antwortete er. »Jetzt aber +ist die arme Frau viel einsamer als du, —« »— sie +zu bemitleiden, habe ich keinen Grund,« entgegnete er +hart, »sie war es, die zuerst ihre Kinder im Stiche ließ! +Jetzt darf nur die Rücksicht auf dich und auf das Wohl +der beiden Buben den Ausschlag geben.«</p> + +<p>In der Nacht nach unserem Gespräch warf sich Heinrich +im Bett schlaflos hin und her; im ersten Morgengrauen +stand er leise auf, und ich hörte, wie er +im Zimmer nebenan auf und nieder ging. Ich +hätte doch nichts sagen sollen, dachte ich angstvoll. Er +sah müde und vergrämt aus, als er wieder zu mir +hereinkam.</p> + +<p>»Ich habe mich entschlossen, ihr die Kinder anzubieten,« +sagte er.</p> + +<p>»Wollen wir nicht doch lieber alles beim alten lassen, — ich +sehe vielleicht nur zu schwarz,« warf ich ein.</p> + +<p>Ich dachte an die Stunde, da er mir mit der Bitte, +sie recht lieb zu haben, seine Söhne anvertraut hatte. +Er sah so finster drein! Jähe Furcht beschlich mich +um meinen kostbaren Besitz: seine Liebe. Aber er blieb +bei dem einmal gefaßten Beschluß.</p> + +<p>Sein Anwalt schrieb in seinem Auftrag nach Wien. +Die Antwort war keine rückhaltlos zustimmende: jede +Verbindung, so wünschte die Mutter, sollte zwischen den +Söhnen und dem Vater abgebrochen werden, sobald sie +ihr Haus betreten würden. Wochenlang zogen sich die<a name="Page_264" id="Page_264"></a> +Verhandlungen hin, und die Korrespondenz nahm eine +immer erbittertere Form an. Ich konnte nicht mehr mit +ansehen, wie Heinrich litt, und all die Selbstvorwürfe, +die mich quälten, nicht mehr ertragen.</p> + +<p>Eines Abends benutzte ich meines Mannes Abwesenheit +und fuhr mit dem Nachtzug nach Wien. Vom +Hotel aus meldete ich mich bei der Mutter der Kinder +an. Herzklopfend stieg ich die steinernen Stufen hinauf. +In einem Salon mit schweren Renaissancemöbeln +empfing sie mich, eine schlanke, dunkle Frau mit scharf +geschnittenen, fast männlichen Zügen. Sie gab mir +nicht die Hand, sie zögerte offenbar, mir auch nur einen +Stuhl anzubieten.</p> + +<p>»Ich komme, weil ich hoffe, daß eine mündliche Besprechung +leichter zum Ziele führen wird,« begann ich.</p> + +<p>»Er schickt Sie?« Ihre Stimme hatte einen merkwürdig +leblosen, kalten Ton, als käme sie weit her aus +dunkler Tiefe.</p> + +<p>»Nein! Ich reiste ohne sein Wissen. Wir Frauen, +meine ich, werden uns verständigen, — mit einigem guten +Willen natürlich, — denn zwischen uns steht nichts —«</p> + +<p>»Meinen Sie wirklich, daß zwischen uns nichts steht?!« +Ein Blick voll Haß streifte mich. »Meine Kinder stehlen +Sie mir!«</p> + +<p>»Ich?! —« Aufs Äußerste erstaunt sah ich sie an. +»Ich, die ich sie Ihnen wiederbringe?!« Aber sie hörte +nicht auf mich. In leidenschaftlicher Erregung kamen +die Worte, sich überstürzend, von ihren Lippen: »Habe +ich nicht in diesem letzten Sommer tagtäglich hören +müssen: ›Die Mama erlaubt das alles, — die Mama +straft uns nicht, — die Mama schenkt uns dies und +<a name="Page_265" id="Page_265"></a>jenes‹?! Und jetzt soll ich vielleicht erleben müssen, daß +meine eigenen Kinder sich fort wünschen von mir? Oder +jedesmal unzufrieden heimkehren, wenn sie, wie ihr Vater +es wünscht, zu den Ferien in Berlin gewesen sind?!«</p> + +<p>Ich verstand sie, — so hatte ich auch ihr unbewußt +Böses getan! »Sie wissen, mein Mann hat für das +erste Jahr schon auf ein Wiedersehen verzichtet,« antwortete +ich.</p> + +<p>»Das ist aber auch das Allermindeste, was ich verlange! +Im übrigen —,« sie nahm wieder den alten +eisigen Ton an und zwang sich zur Ruhe, »muß ich umziehen, +ehe die Kinder kommen. Sie sehen hier meine +Wohnung —,« sie wies nach dem Eßzimmer nebenan, +»ich habe keinen Platz für sie.«</p> + +<p>Keinen Platz für die eigenen Kinder?! Sie schien +zu fühlen, was ich empfand, denn rasch fuhr sie fort: +»Ich wünsche, daß die durch Unordnung sowieso schon +genug geschädigten Buben gleich in ein regelmäßiges +Leben, eine zu ernster Arbeit gestimmte Häuslichkeit +kommen.«</p> + +<p>»Und wann, meinen Sie, dürfte das sein?« Drängte +ich. »Die Situation ist für alle Teile unerträglich!«</p> + +<p>Sie lächelte: »Finden Sie? Ich habe Schlimmeres +ausgehalten!« Tiefe Falten gruben sich auf ihre Stirn, +um ihre Mundwinkel. Wieder streifte mich ein Blick, — zum +Fürchten. »Warten Sie nur, bis Sie fünf, +sechs Jahre mit ihm gelebt haben werden!«</p> + +<p>Ich erhob mich, — fast wäre der geschnitzte Stuhl +bei meiner raschen Bewegung zu Boden geglitten. Hier +hatte ich nichts mehr zu tun. Sie geleitete mich hinaus. +Und als müßte sie mir zuletzt noch ihren Haß +<a name="Page_266" id="Page_266"></a>fühlen lassen, sagte sie: »Ich werde schwere Mühe haben, — die +Kinder sind zu schlecht erzogen.«</p> + +<p>Ich dachte an die Buben, — an ihre lustigen Knabenstreiche, +an die ungebundene Freiheit, die sie genossen. +Noch ein gutes Wort wollte ich bei der strengen Frau +für sie einlegen und sagte bittend: »Sie werden ihnen +nicht zu plötzlich die Wandlung fühlen lassen?«</p> + +<p>»Wie können Sie sich erlauben —?!« rief sie fassungslos. +»Wer ist hier die Mutter: Sie oder ich?!«</p> + +<p>Krachend fiel die Flurtüre hinter mir zu. In der +nächsten Nacht fuhr ich nach Berlin zurück. Nicht das +mindeste glaubte ich erreicht zu haben. Ein Brief des +wiener Anwalts folgte mir auf dem Fuße. Er enthielt +den unterschriebenen Vertrag und übermittelte den +Wunsch, den Kindern möchte die Reise nach Wien +nur als ein Besuch dargestellt werden, »damit sie gerne +kommen.«</p> + +<p>Das war ein Jubel: Der Schule entrinnen, — und +eine Reise nach Wien! Wir brachten sie zur Bahn und +sahen den strahlenden Gesichtern nach, die grüßend aus +dem Kupeefenster nickten, bis der Zug unseren Blicken +entschwand.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Kaum drei Wochen später kehrten sie zurück, — still +und blaß. Wolfgangs rundes Kindergesicht +war schmal geworden, in Hans' dunkeln Augen +hatte sich der Ausdruck von Melancholie noch vertieft. +Ihr Aufenthalt in Wien war wirklich nur ein Besuch +gewesen. Ob die einsame Frau das Glück nicht ertragen +hatte? Ob die Forderungen eines Lebens für +<a name="Page_267" id="Page_267"></a>andere sie erdrückt haben mochten? In die größte, die +letzte Einsamkeit hatte sie plötzlich der Tod entführt.</p> + +<p>Aber noch darüber hinaus wirkte ihr Haß: das Testament +bedrohte die Kinder mit Enterbung, wenn sie +im Hause des Vaters bleiben würden. Und so mußten +sie wieder fort, da sie der Wärme, der Liebe am meisten +bedurften.</p> + +<p>Von einer neuen Schule im Harz hatten wir erfahren, +wo die Jugend in schöner Abwechselung von +Spiel und Arbeit, von der Übung körperlicher und +geistiger Kräfte sich frei und fröhlich zu entwickeln vermag, +einer Schule, deren Leiter den Mut hatte, dem +Geist engherzigen Preußentums den Eintritt bei sich zu +verwehren. Dorthin brachten wir sie. Es war das +beste, das wir hatten finden können, und doch so schrecklich +wenig für die, denen die Mutter gestorben war.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Nun war es still bei uns im Hause. Ottochen, +der sich inzwischen auf seinen eigenen Füßchen +zu bewegen gelernt hatte, lief im Zimmer +der Brüder von Stuhl zu Stuhl, guckte in die Schränke +und unter die Betten und rief vergebens »Wof« und +»Ans«. Zuerst weinte er, weil sie nicht kamen, um mit +ihm zu »pielen«, dann erinnerte er sich ihrer nur noch, +wenn er auf meinem Schoß am Schreibtisch saß und +ich ihm ihre Bilder zeigte. Er war ein unbändiger +kleiner Kerl, der nie lange an einem Platz aushielt. +Ein Sonnenstrahl im Zimmer, eine Fliege am Fenster, +Hundegebell und Pferdegetrappel auf der Straße, — alles +erregte seine brennende Neugierde; wenn aber +<a name="Page_268" id="Page_268"></a>gar Soldaten vorübermarschierten, so zappelte er mit +Händen und Füßen vor Freuden, und rief, so laut er +konnte: »Daten! daten!«</p> + +<p>Seitdem der Großvater sich dem Enkel zu Liebe einmal +in die alte Generalsuniform gezwängt hatte, ging +er noch einmal so gern in die Ansbacherstraße. »Apapa +Dat, Apapa Dat,« hatte er mir mit erstaunten Augen +und einem Ausdruck von Ehrfurcht in dem Gesichtchen +damals erzählt. Und »Apapa dehn!« schrie er mit +Stentorstimme, wenn wir nicht ruhig genug mit ihm +spielten.</p> + +<p>Eines Abends im Herbst kam meine Mutter und erzählte +mir, der Vater habe heute, ohne sie zu fragen, +die Wohnung gekündigt. »Er will im Grunewald +mieten,« fügte sie hinzu, »um Ottochen nahe zu sein.« +Mir wurden die Augen feucht: so ersetzte ihm der Enkel +die Tochter, die er verloren hatte.</p> + +<p>Kurze Zeit darauf bekam ich einen Brief von ihm:</p> + +<div class="blockquot"><p>»Liebes Kind! denke doch nicht, daß es mir genügt, +Deinen Jungen bei mir zu sehen. Alte Leute +brauchen viel Wärme, darum sagte ich Ottochen heute, +daß er Papa und Mama das nächste Mal mitbringen +soll. Er sah mich so ernsthaft an, daß ich glaube, er +hat mich verstanden.</p></div> + +<p> +<span style="margin-left: 25.5em;">Dein treuer Vater.«</span><br /> +</p> + +<p>Und so trat ich mit meinem Kind auf dem Arm in +die alte Wohnung. Die Schwester kam mir entgegen: +»Nun wird meine Hochzeit erst ein richtiges Fest für +mich sein,« sagte sie und küßte mich stürmisch. Sie +öffnete die Tür zum Zimmer des Vaters. »Er kommt +gleich,« flüsterte sie und lief davon. Ich mußte mich +<a name="Page_269" id="Page_269"></a>setzen; die Kniee zitterten mir. Alles hatte ein Gesicht, +ein liebes, vertrautes: die verblichenen Sessel, die so +einladend die Armlehnen nach mir ausstreckten, der alte, +grüne Teppich, der sich warm und weich unter meine +Füße schmiegte, die dunkeln Bilder an der Wand, die +zu lächeln schienen. Auf dem Schreibtisch lagen wie +einst in Reih und Glied die sorgfältig gespitzten Bleistifte +und die Gänsefedern, die der Vater sich selbst zu +schneiden pflegte, und der »Soldatenhort«, für den er +schrieb. Und in der Ecke — die alte Reiterpistole! +Aus dem Zimmer war ich einmal geflohen vor ihr. — Der +sie auf mich gerichtet hatte, rief mich heut zurück! +Nein, — mich nicht! Nur dieses süßen blonden Kindes +Mutter!</p> + +<p>Die Türe ging auf. »Apapa!« rief der Kleine und +streckte ihm die Ärmchen entgegen. Im nächsten Augenblick +fühlte ich uns beide umfaßt: Die Lippen zitterten, +die meine Stirn berührten. »Wir wollen einander nicht +weich machen, Alix,« sagte er leise. »Wir wollen so +tun, als wärst du gar nie weg gewesen.«</p> + +<p>Von nun an sahen wir uns oft. Mühsam, mit +schwerem Atem, auf jedem Treppenabsatz minutenlang +innehaltend, kam er immer häufiger zu uns herauf, und +meist um die Stunde, die er früher im Kasino zuzubringen +pflegte. Er hatte stillschweigend auch diese alte +Gewohnheit aufgegeben, und als die Mutter ihn darnach +fragte, sagte er: »Was soll ich mich jetzt noch über +Menschen und Zeitungen ärgern?!«</p> + +<p>Mein Mann, der sich nie als »Schwiegersohn« fühlte, +sondern stets sehr zurückhaltend, sehr förmlich blieb, gefiel +ihm. »Du ahnst ja kaum, wie der Frieden auf mich +<a name="Page_270" id="Page_270"></a>wirkt,« schrieb er mir einmal. »Ich bin Dir die Erklärung +schuldig, daß dein Mann, dessen vollendeter +Takt mir so wohltuend ist, ganz auf mich zählen kann.«</p> + +<p>Zuweilen fuhr er mit uns in den Grunewald, wo er +zum Frühjahr in unserer Nähe eine Wohnung gemietet +hatte. Er strahlte vor Freude, wenn er unser Häuschen +wachsen und werden sah.</p> + +<p>»Wie mich das glücklich macht, dich so ohne Sorgen +zu wissen,« sagte er zu mir, während er unermüdlich +über die Balken kletterte und jeden Raum in Augenschein +nahm. Dann drückte er Heinrich die Hand: »Daß +du meiner Alix solch eine Heimat schaffst!«</p> + +<p>Draußen im Garten freute ihn jeder Strauch, der +gepflanzt wurde. »Hier muß Ottochen einen großen +Sandhaufen haben,« — meinte er, »und eine Schaukel +und eine Kletterstange, damit seine Muskeln straff werden. +Daneben aber baut mir eine Laube, in der ich +im Sommer, ohne euch zu stören, sitzen und mit meinem +Jungen spielen kann.«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>An einem dunkeln Spätherbsttag, kurz vor der +Hochzeit meiner Schwester, kam ich nach Hause. +»Exzellenz ist beim Kleinen,« sagte das Mädchen. +Ich nickte lächelnd. Ottochen war nicht ganz wohl und +durfte des schlechten Wetters wegen nicht ausgehen. Nun +kam der Großvater zu ihm. Ich trat in sein Zimmer. Auf +dem Teppich saß mein Kind, vertieft in die neuen Soldaten, +die ihm »Apapa« mitgebracht haben mochte; im Lehnstuhl +lag der Vater tief zurückgelehnt und schlief. Der +sonst so lebhafte Junge bewegte sich leise zwischen dem<a name="Page_271" id="Page_271"></a> +Spielzeug und sah erschrocken auf, als ich näher trat. +»Pst, pst!« machte er und legte ein Fingerchen auf die +Lippen. »Apapa baba!«</p> + +<p>Der graue Schatten des frühen Abends kroch durch +die Fenster. Schwer lag er über den Zügen des Schlafenden, +verwischte jede Lebensfarbe, ließ jede Falte tiefer +erscheinen. Ich faltete unwillkürlich die Hände: Wie +alt, wie blaß, wie müde sah er aus! Und war doch +ein so starker Mann gewesen und den Jahren nach +kein Greis! Ich sank in die Kniee und küßte die +herabhängende Hand. Der Kummer um mich war +es gewesen, der ihm ein Stück seines Lebens gekostet +hatte.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Ende November wurde Ilse im Elternhaus mit Oskar +Erdmann getraut. Nur die nächsten Verwandten +waren geladen worden, und auch von ihnen hatten +manche abgesagt, als sie erfuhren, daß wir zugegen sein +würden. Meine Schwester sah aus wie eine Frühlingselfe. +Alles Licht im Raum ging von ihren goldenen Haaren +aus, deren Glanz selbst der keusche Brautschleier nicht +zu dämpfen vermochte. Erdmann schien mir noch +schmaler als sonst. Ein unbestimmtes Angstgefühl beschlich +mich. Meiner Schwester »Ja!« klang so froh, +so hell an mein Ohr, daß es die Sorge verscheuchte. +Als aber der Geistliche sich fragend an ihn wandte, +verschlang ein rauher Husten, unter dem ich seinen +Rücken beben sah, seine Antwort. Mir war, als wechselten +seine Geschwister, die neben uns standen, einen erschrockenen, +vielsagenden Blick. Doch wie das junge<a name="Page_272" id="Page_272"></a> +Paar sich uns zuwandte, überstrahlte ihr Glück auch +diesen Eindruck.</p> + +<p>Vor der Hochzeitstafel überkamen mich alte Träume. +Sie stiegen aus den schlanken Kelchen, die einst aneinanderklangen, +während Walzermelodien mich umrauschten, +sie schimmerten in den silbernen Jardinieren, +in denen so viel Rosen, — duftende Zeugen meiner +Balltriumphe —, verblüht waren.</p> + +<p>Jemand schlug ans Glas. Nun, wußte ich, wird +meines Vaters klare Stimme die Luft in rasche Schwingung +versetzen, sein Geist und sein Witz wird alle bezaubern, +und alle verdunkeln, die nach ihm reden werden. Erwartungsvoll +sah ich ihn an.</p> + +<p>Seine Finger zerdrückten unruhig die Serviette, seine +Lippen öffneten sich einmal — zweimal, bis daß ein Ton +sich ihnen entrang, der rauh und heiser war. Und dann +sprach er, — langsam, schwerfällig, wie eingelernt. Meine +Erwartung verwandelte sich in Staunen, mein Staunen in +Angst. Seine Hand hob sich wie zu einer jener alten Gesten, +die so wirksam zu unterstreichen pflegten, was er sagte, — gleich +darauf sank sie schlaff herab, die Lippen +zuckten, — der begonnene Satz zerriß; — eine qualvolle +Pause; — dann griff er hastig nach dem Kelchglas, hob +es empor, wobei die Tropfen zitternd über den Rand +spritzten: »Die Familie Erdmann lebe hoch — hoch — hoch!« — In +den Stuhl sank er zurück; seine Augen +wanderten wie um Verzeihung bittend von einem zum +anderen, und als sein Blick den meinen traf, sah ich +die Träne, die ihm in den Wimpern hing.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_273" id="Page_273"></a></p> + +<p>Im Winter ging es meinem Vater Woche um +Woche schlechter. Es duldete ihn nicht im +Hause; schon früh trieb ihn eine unerklärliche +Unruhe fort; versuchte die Mutter, ihn zurückzuhalten, +so setzte er ihren Bitten einen so heftigem Widerstand +entgegen, daß sie ihn gehen lassen mußte. Er besuchte +meine Schwester und schleppte sich bis zu uns herauf, +obwohl es ihm täglich schwerer wurde. Es war, als +ob er das Alleinsein mit der Mutter nicht ertrüge. Nur +wenn sein Enkel bei ihm war, wich seine innere Unruhe +einem Ausdruck stillen Friedens. Zuweilen verließ +ihn das Gedächtnis, dann nannte er den Kleinen »Alix« +und war noch zärtlicher zu ihm als sonst. Einmal kaufte +er eine Puppe, um sie »Alix« zu schenken; als ihn die +Mutter auf den Irrtum aufmerksam machte, geriet er +in helle Wut. »Alle Freude willst du mir verderben,« +schrie er und sprach stundenlang nicht mit ihr. Irgendeine +Pflege duldete er nicht; er schloß sich im Schlafzimmer +ein, wenn der Arzt kommen sollte.</p> + +<p>Ich sah, wie meine Mutter sich mühte, ihm alles +recht zu machen. Aber die Sorgfalt, mit der sie ihn +umgab, hatte etwas Kühles, Fremdes, — als ob das Herz +nicht dabei wäre. Sie litt unter seiner Heftigkeit; es +kam vor, daß ihre starre Selbstbeherrschung zusammenbrach; +dann weinte sie bitterlich, aber es waren Tränen +des Zornes, nicht des Leides. »Er ist so böse zu mir, +so böse!« kam es krampfhaft zwischen ihren fest geschlossenen +Zähnen hervor. Hilflos stand ich vor der +Offenbarung der Ehetragödie meiner Eltern. Manches +Erlebnis, das meine Jugend verbittert hatte, tauchte in +<a name="Page_274" id="Page_274"></a>der Erinnerung wieder auf, und ich fand jetzt den +Schlüssel dazu.</p> + +<p>»Die Ehe hat sie zerstört,« sagte ich zu meiner Schwester, +als wir darüber berieten, wie ihnen vielleicht noch zu +helfen sei.</p> + +<p>»Ja, — das glaube ich gern,« antwortete sie mit +einem grüblerischen Ausdruck, der ihrem weichen Gesichtchen +sonst fremd war.</p> + +<p>Ich horchte auf; — kaum zwei Monate war sie +verheiratet! Von da an führte mein Weg, wenn +ich zu den Eltern ging, regelmäßig bei ihr vorüber. +Ich hatte sie in ihrem jungen Glück nicht stören +wollen, jetzt trieb mich die Sorge, zu sehen, ob es +nicht schon gestört war. Aber ich fand sie stets heiter +inmitten ihrer schönen Häuslichkeit, die in Formen +und Farben so harmonisch zusammenstimmte, daß eine +Vase, ein Blumenstrauß schon störend zu wirken vermochte, +wenn sie nicht in bewußtem Einklang damit +gewählt worden waren. Und ich fand ihren Mann +zärtlich um sie besorgt, — in einer Art freilich, die +ich nicht vertragen hätte, die der Natur Ilsens aber zu +entsprechen schien. Er bestimmte ihre Kleidung, er beaufsichtigte +die Hauswirtschaft, er ordnete den Tisch, +wenn Besuch erwartet wurde. Und alles nahm unter +seiner Hand den Charakter seines Künstlertums an: der +Vornehmheit, die jedes äußeren Schmuckes entbehren +konnte, weil sie das Wesen des Materials zu reinstem +Ausdruck brachte; der jedem lauten Ton abholden Ruhe, +die wie Sonnenuntergang am Tage durch die orangeseidenen +Vorhänge klang und am Abend in den Falten +der grünen, die sich darüber breiteten, träumte; und +<a name="Page_275" id="Page_275"></a>der Liebe zur Natur, die sich in allem, was ihn umgab, +widerspiegelte, — in den dunkelroten Kastanienblättern +der Tapete, den zarten Pflanzen- und Vögelstudien japanischer +Stiche, dem Wandteppich mit dem stillen Waldbach, +auf dem die Schwäne ziehen. Es war gut sein +bei ihnen, und wer davon ging, dem kam die Welt +draußen doppelt häßlich, unharmonisch, laut und herzlos +vor. Aber es ging auch etwas wie eine Lähmung +von dieser Umgebung aus, etwas, das vom wirklichen +Leben gewaltsam abzog.</p> + +<p>Die Gäste des Hauses entsprachen dieser Stimmung; +keine der Fragen, die uns bewegten, traten mit ihnen +über seine Schwelle. Die Kunst stand im Mittelpunkt +all ihres Denkens und Fühlens; nicht jene nebenabsichtslose, +die wächst wie ein Baum, gleichgültig, ob nur +einsame Wanderer ihn finden, oder ob Scharen unter +seinem Schatten ruhen, sondern jene märchenhafte +Treibhausblume, die nur für die Auserwählten gezogen +wird. Sie vertraten alle den Individualismus, aber +hinter ihrer Forderung der höchsten Kultur des Individuums +verbarg sich nur sein Kultus. Man sprach +mit halber Stimme, man las Bücher, die in numerierten +Exemplaren nur für einen kleinen Kreis von +Freunden gedruckt wurden; am Flügel saß häufig ein +katholischer Priester, der in dem milden Wachskerzenlicht +des zartgetönten Salons Palestrinas feierliche Weisen +ertönen ließ.</p> + +<p>Dieselbe Atmosphäre, die sich weich um die Stirne +legt, herrschte hier, wie im Theater, wo Hofmannsthals +Hochzeit der Sobëide jenen Haschichrausch hervorrief, +der der Welt entrückt. Und am Ende des<a name="Page_276" id="Page_276"></a> +Jahrhunderts jauchzte die Jugend den neuen Göttern +ebenso stürmisch zu, wie wir die Ibsen und Gerhart +Hauptmann empfangen hatten. Flüchteten die Menschen +nur im Gefühl ihrer Schwäche aus der Wirklichkeit, +oder waren nicht unter denen, die sich abseits des rauhen +Lebens in einem weißen Tempel versteckten, auch solche, +die als geweihte Priester der Menschheit wieder aus ihm +hervorgehen werden?</p> + +<p>Ich hätte die Frage nicht entscheiden können, aber +mein Optimismus glaubte gern an Keime neuen Werdens, +wo andere Fäulniserscheinungen sehen. Auch Erdmanns +Persönlichkeit berechtigte dazu. Er selbst wurzelte +zu bewußt im Boden der Erde, als daß er seine Kunst +ihr hätte entreißen können. Er behandelte die jungen +Männer, die seine genial geknoteten Krawatten nachahmten, +von seinem tiefsten Wesen aber wenig wußten, +mit leiser Ironie. Die <em class="antiqua">l'art pour l'art</em>-Devise war für +ihn nicht das Letzte.</p> + +<p>»Wir müssen den Snob benutzen,« sagte er, als +wir einmal unter uns waren, »um allmählich zum +Volk zu kommen. Es ist mit dem Kunstgewerbe wie +mit der Mode: Das Neueste ist zuerst ein Vorrecht +der Wenigen und nach einem Jahr die Gewohnheit +der Massen.« Lebhaft hin- und hergehend setzte +er uns dann seine Zukunftspläne auseinander: Handwerkerschulen +wollte er schaffen, in denen nicht alte +Klischees immer wieder benutzt werden, sondern die +neuesten und schönsten Errungenschaften der Kunst zu +Mustern dienen.</p> + +<p>»Es ist bewundernswert, wie verständnisvoll all die +kleinen Handwerker, die ich jetzt schon zusammen<a name="Page_277" id="Page_277"></a>gesucht +habe, meinen Ideen entgegenkommen. Sie +sind in ihrem Geschmack weniger verdorben, sie haben +vor allem weit mehr Gefühl für das Material, das +sie bearbeiten, als die meisten unserer Kunstgewerbetreibenden, +die vor lauter theoretischem Wissenskram +jede persönliche Stellung zu den Dingen verloren haben —.« +Ein heftiger Hustenanfall unterbrach ihn, rote Flecken +zirkelten sich auf seinen eingefallenen Wangen ab. Meine +Schwester erblaßte, lief hinaus und brachte ihm eine +Tasse Tee, die er entgegennahm, wie etwas längst Gewohntes. +»Der berliner Winter, — dies ekelhafte Regenwetter —,« +sagte er dann und lehnte sich müde in den +Stuhl zurück, während seine Brust sich noch krampfhaft +hob und senkte. »Ich war um diese Zeit immer im +Süden —,« fügte er halblaut wie zu sich selbst hinzu.</p> + +<p>Wir gingen. Meine Schwester begleitete uns bis zur +Tür. Ich sah sie fragend an. Sie nickte, um ihren +Mund zuckte es verräterisch: »Ich weiß, — wir sollten +fort, aber er will nicht. Er kann seine Arbeiten +nicht im Stiche lassen, sagte er. Aber später, in Jahr +und Tag, wenn er sehr viel verdient haben wird, —« +dabei lächelte sie wieder hoffnungsvoll, — »dann wollen +wir reisen —« »Ilse!« klang es ungeduldig von innen. +Sie fuhr erschrocken zusammen: »Nun wird er wieder +böse sein!« und lief, sich hastig verabschiedend, hinein.</p> + +<p>Wochenlang war er an das Zimmer gefesselt. Nun +ging meine Mutter zwischen dem Mann und dem +Schwiegersohn unermüdlich hin und her. »Ilschen ist +viel zu zart für solch eine Pflege,« meinte sie, während +sie selbst dabei immer magerer wurde. Bat ich sie, sich +zu schonen, so hatte sie nur die eine Antwort: »So<a name="Page_278" id="Page_278"></a>lange +mir Gott Pflichten auferlegt, habe ich sie zu erfüllen.« +Dabei rückte der Umzugstermin näher; er mußte +pünktlich inne gehalten werden, denn die Wohnung der +Eltern war vermietet. In der Nacht, wenn der Vater +schlief, kramte und packte die Mutter, um ihn nur ja +bei Tage damit nicht zu stören.</p> + +<p>Bei uns sah es ähnlich aus, denn unser Häuschen +war inzwischen fertig geworden, und der Tag des Einzugs +war festgesetzt. Aber die Freude fehlte, mit der +ich ihm vor Monaten entgegengesehen hatte.</p> + +<p>»Sind wir erst draußen, so wird alles gut werden,« +versicherte mir Heinrich immer wieder, wenn meine +sorgenvollen Mienen ihm meine Stimmung verrieten. +»Glaubst du, daß wir Taler von den Kiefern schütteln +können, wie das Kind im Märchen?« antwortete ich. +»Wertvollere jedenfalls,« meinte er gereizt. »Deines +Kindes und deine Gesundheit, deine Arbeitskraft sind +doch wohl wichtiger, als die paar blauen Lappen, die +du momentan vermißt.« Ich zuckte die Achseln. Die +Sorgen waren ja meine Krankheit, und sie gedeihen +auch in der besten Luft.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Hans geht es schlecht, kommt bitte gleich —« +Meine Mutter schickte diese Zeilen. Wir +fuhren in die Ansbacherstraße. Auf seinem +Lehnstuhl saß der Vater, halb angezogen, mit blaurotem +Gesicht und blutunterlaufenen Augen. Gepackte +Kisten standen umher, öde starrten uns die vorhanglosen +Fenster entgegen, grauer Staub lag auf den abgeräumten +Tischen.</p> +<p><a name="Page_279" id="Page_279"></a></p> +<p>»Ich will nicht zu Bett, — ich will nicht,« stöhnte +der Kranke. Der Mutter liefen die Tränen über die +abgehärmten Wangen.</p> + +<p>»Er stößt mich zurück, wenn ich ihm helfen will,« +flüsterte sie. Der Arzt trat ein. Mit gewaltsamer Anstrengung +erhob sich der Vater, stützte sich mit beiden +Händen auf den Tisch vor ihm und schrie, während +die Augen ihm aus den Höhlen zu treten schienen: +»Hinaus — hinaus! Ich mag keinen Quacksalber!« —</p> + +<p>Dann brach er zusammen, krallte die Hand in die +linke Seite, — langsam wich die Farbe aus seinen +Zügen; willenlos ließ er sich ins Schlafzimmer führen, +den Kopf tief gesenkt, schwankend, mit kleinen, unsicheren +Schritten. Im Bett lag er ganz still. Nur +die Augen, die merkwürdig groß und klar geworden +waren, sprachen, was die Lippen nicht sagen konnten.</p> + +<p>Während Heinrich und Erdmann von den neuen +Mietern der Wohnung, die sich zu einem Aufschub des +Einzugs nicht verstehen wollten, zum nächsten Krankenhaus +fuhren, um die Übersiedlung dorthin vorzubereiten, +und die Mutter mit Ilsens Hilfe draußen das Notwendigste +zusammenpackte, war ich allein bei dem Kranken.</p> + +<p>Wir redeten miteinander. Seine Augen bohrten sich +forschend in meine Züge. »Du kannst ruhig, — ganz +ruhig sein, lieber Papa. Ich bin vollkommen glücklich —,« +versicherte ich. Sie leuchteten auf, um sich +gleich darauf in jäher Angst, halb geschlossen, wieder +auf mich zu richten. »Ich liebe dich, Papa, ich habe +nie aufgehört, dich zu lieben,« antwortete ich mit +tränenerstickter Stimme. Um seine blassen Lippen zuckte +ein leises Lächeln, seine schwache Hand versuchte, die +<a name="Page_280" id="Page_280"></a>meine zu umschließen, die Lider deckten sekundenlang die +stahlblauen Pupillen, — dann zuckten sie schreckhaft +wieder empor. Eine einzige, ungeheure, verzweifelte +Frage starrte aus diesen Augen, in die das ganze Leben +sich zu einer letzten Zuflucht zusammendrängte. Ich +verstand. Vorsichtig löste ich meine Hand aus der +seinen und ging hinaus — »Mama!« rief ich leise. +Sie kam. Ich sah noch zwei Hände, die sich zitternd +ihr entgegenstreckten, — dann zog ich die Türe hinter +mir ins Schloß ...</p> + +<p>Als der Krankenwagen vorfuhr, trat sie aus dem +Zimmer, bleich, regungslos, wie versteinert. »Er schläft,« +sagte sie. Ich beugte mich über ihn: wie ein Hauch +schwebte der Atem nur noch von seinen Lippen. Die +Augen waren geschlossen, das Gesicht weiß und still, +beherrscht von einem Ausdruck feierlichen Ernstes.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Zu Hause lief mir mein Kind entgegen. »Apapa +dehn!« schrie es ungeduldig. Es war die Stunde +seiner täglichen Ausfahrt. Ich schüttelte traurig +den Kopf. Da fing es an herzbrechend zu schluchzen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Noch zwei Tage atmete der Sterbende. Mit +einer Ruhe, von der ich nicht wußte, ob ich +sie bewundern oder mich vor ihr entsetzen +sollte, ordnete die Mutter alles an, als wäre er schon +gestorben.</p> + +<p>Angstvoll sah ich hinüber zu dem starren Gesicht in +den weißen Kissen. »Er ist ohne Bewußtsein,« hatte +<a name="Page_281" id="Page_281"></a>der Arzt versichert. Zuweilen aber schien mir, als hörte +er noch, als sähe er mit geschlossenen Augen, als ginge +ein Beben durch seinen Körper.</p> + +<p>In der dritten Nacht starb er.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Droben an der Hasenhaide, wo der Riesenleib +der Stadt sich gigantisch den Hügeln zu +Füßen hinstreckt und der Sturm ungehindert +durch die alten Bäume pfeift, ist die letzte Garnison +der Soldaten. Von den Schießständen grüßen die +Flintenschüsse herüber, von den Kasernenhöfen die Trompetensignale, +und vom Tempelhofer Feld klingen zuweilen +die Kriegsmärsche in den Frieden des Kirchhofs.</p> + +<p>Dorthin trugen alte Regimentskameraden den Sarg, +in dem der Tote schlief, gehüllt in den Mantel, der in +allen Feldzügen sein unzertrennlicher Begleiter gewesen +war. Es war ein stilles Begräbnis. Für die alten +Freunde war er gestorben, als er sich mit mir, der Abtrünnigen, +versöhnte.</p> + +<p>Auch der Kaiser hatte des Mannes vergessen, der +seinem Ahnherrn in Frankreichs blutgetränkter Erde die +Krone des deutschen Reiches erobern half.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Acht Tage später verließen wir die Wohnung, +in der die Sonne durch alle Fenster hatte +fluten können, in der mein Sohn geboren +worden war. »Ottoo — addaa —« jauchzte er wieder, +als wir davonfuhren; aber die Fenster des Wagens +waren geschlossen, und der Frühlingsregen peitschte an +<a name="Page_282" id="Page_282"></a>das Glas. Im Walde draußen empfing uns die neue +Heimat: Unter dem tiefen grauen Dach unseres Hauses +schauten die kleinen Fenster wie Augen unter schattenden +Wimpern hervor, geheimnisvoll lockend und feindselig +abwehrend zurück. Darüber wiegten die Kiefern +ihre schwarzen Kronen. Es war wie ein Stück der +stillen, ernsten Natur, die es umgab. Und still und +ernst trat ich über seine Schwelle.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_283" id="Page_283"></a></p> +<h2><a name="Neuntes_Kapitel" id="Neuntes_Kapitel"></a>Neuntes Kapitel</h2> + + +<p>Der Winter des Jahres 1899 wollte kein Ende +nehmen. Die Stadt Berlin, die durch Reinlichkeit +zu ersetzen pflegte, was ihr an Schönheit +gebrach, war dem Schnee, der sich auf den Straßen +bis in den April hinein in schmutzig-grauen Schlamm +verwandelte, nicht gewachsen. Heerscharen, mit Spaten +und Hacke bewaffnet, schickte sie aus, um den hartnäckigen +Feind aus den Toren zu treiben, und um die +Massen der Arbeitslosen, die unter seinem Regiment +immer stärker angeschwollen waren, zu verringern. Vergebens. +Der Schnee ballte sich zu Haufen; vor den +Asylen der Obdachlosen staute sich die Menge. Mehr +als je waren kräftige Männer darunter. Selbst um +die am schlechtesten bezahlte Heimarbeit rissen sich die +Frauen; wovon sollten sie die Kinder ernähren, da die +Väter feiern mußten und das Fleisch immer teurer wurde?</p> + +<p>»Der Winter ist mit den Ausbeutern im Bunde,« +sagte eine blasse, kleine Parteigenossin, die jedesmal mit +entzündeteren Augen in die Sitzungen kam. »Die +Agrarier, die Konfektionäre und die Kohlenfritzen werden +dick und fett, und wir kriegen die Schwindsucht.« +Sie stickte Hemden, — »ganz feine aus Battist, mit +'ner Fürstenkrone. Ich wünschte man bloß, jeder Stich +wäre 'ne Nadelspitze, wenn sie den durchlauchtigsten<a name="Page_284" id="Page_284"></a> +Körper berühren,« fügte sie hinzu. Die Bitterkeit, +mit der sie sprach, erfüllte mehr denn je ihre Klassengenossen.</p> + +<p>Sie froren und hungerten. Im Reichstag aber bewilligte +die Mehrheit der bürgerlichen Parteien eine +Militärvorlage, die Millionen und Abermillionen kostete. +Sie suchten vergeblich nach Arbeit, und im Abgeordnetenhaus +brachten die Junker den Plan des Mittellandkanals +zu Fall, der zahllose neue Arbeitsmöglichkeiten +eröffnet hätte. Überall siegten die Interessen der +Besitzenden gegen die der Arbeiter, und nun drohte die +Zuchthausvorlage, ihnen im Kampf um bessere Arbeitsbedingungen +die letzte Waffe zu nehmen: Das Koalitionsrecht.</p> + +<p>Noch zögerte die Regierung mit der Veröffentlichung +des Wortlautes der Vorlage, aber sie warf ihre Schatten +voraus, so daß an ihrem Inhalt niemand mehr zweifeln +konnte.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Um diese Zeit erschien Eduard Bernsteins längst +erwartete Broschüre: »Die Voraussetzungen +des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie.« +Sie faßte zusammen und führte aus, +was er ein Jahr vorher in seiner Artikelserie über +die Probleme des Sozialismus gesagt hatte. Jetzt, wo +die erste Erregung hinter mir lag und ich mit ruhigem +Verstand zu lesen vermochte, spürte ich den Einfluß +der englischen Fabier, der Webb, der Shaw, der +Burns, in deren geistiger Atmosphäre dies Buch entstanden +war. Ich spürte aber auch den deutschen Ge<a name="Page_285" id="Page_285"></a>lehrten, +der der rauhen Luft Preußens seit Jahrzehnten +entwöhnt war und es in seiner stillen londoner Studierstube, +fern der Heimat, verfaßt hatte. Er konnte drüben +nicht wissen, wie der deutschen Partei im Augenblick +jede Aufnahmefähigkeit für theoretische Erörterungen +gebrach, und wie der Masse der Parteigenossen, die sich +von allen Seiten in ihrer physischen und rechtlichen +Existenz bedroht sahen, seine Mahnung, den Liberalismus +nicht zurückzustoßen, zu handeln wie eine demokratisch-sozialistische +Reformpartei, als blutiger Hohn erscheinen +mußte. Wo waren denn die freigesinnten Elemente der +Bourgeoise, auf die es sich verlohnte, Rücksicht zu nehmen, +um mit ihnen gemeinsam demokratische Forderungen +durchzusetzen? Sie entflammten in schöner Begeisterung +für Völkerfreiheit, — wenn es sich um den Kampf der +Buren gegen die Engländer handelte. Sie empörten +sich wider Unrecht und Vergewaltigung, — wenn von +Dreyfus und dem französischen Generalstab die Rede +war. Es kam sogar etwas wie ein Entrüstungssturm +zustande, als das Zentrum die Kunst in die Ketten +kirchlicher Moral zu legen drohte, — aber dem Urteil +von Löbtau, das neun Maurer, die sich mit ihren über +die schwer errungene zehnstündige Arbeitszeit hinaus +arbeitenden Kollegen in eine Schlägerei verwickelten, +mit Zuchthaus bestrafte, standen sie stumm und kalt +gegenüber.</p> + +<p>So sehr ich mich genötigt sah, der theoretischen Kritik +Bernsteins zuzustimmen, so wenig seiner Auffassung von +der Notwendigkeit eines Paktierens mit dem Liberalismus. +»Wer nicht mit uns ist, der ist wider uns —.« +Getäuschte Liebe trägt die Maske brennenden Hasses; +<a name="Page_286" id="Page_286"></a>darum urteilt der Renegat über die Klasse, die er +verließ, am schärfsten. Wo waren all die, auf die +ich gerechnet hatte? Ein einziger hatte seitdem den +Weg zu uns gefunden: Göhre. Alle anderen starrten +geblendet in die Fata Morgana deutscher Zukunftsweltmacht.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>»Ich habe den Genossinnen einen Vorschlag zu +unterbreiten,« begann Martha Bartels in einer +unserer Frauensitzungen. »Unter uns ist kaum +eine, die nicht wenigstens die Bernsteindebatten im +Vorwärts verfolgt hätte. In engeren Parteikreisen haben +wir wohl auch Gelegenheit gehabt, uns darüber auszusprechen +und Belehrung durch andere zu empfangen. +An einer großen öffentlichen Auseinandersetzung fehlt +es leider noch. Ich beantrage, Genossin Orbin zu bitten, +in öffentlicher Volksversammlung einen Vortrag über +den Streit, der uns so nahe angeht, halten zu wollen.«</p> + +<p>Mit ungewöhnlicher Lebhaftigkeit stimmte man ihr zu. +Ich wußte, daß es Wanda Orbin selbst gewesen war, +die ihr diesen Gedanken souffliert hatte. Sie wütete in +der »Freiheit« gegen Bernstein. »Soweit es sich um +die Erörterung der praktischen Vorschläge Bernsteins +handelt, scheint auch mir der Antrag annehmbar,« sagte +ich. »Seine Theorien aber sind doch wohl kein Thema +für eine öffentliche Volksversammlung.«</p> + +<p>»Genossin Brandt hält uns mal wieder für zu dumm,« +hörte ich die schrille Stimme der rotäugigen Stickerin +sagen. »Bernstein meent ja ooch, daß wir noch nich reif +sind,« meinte eine andere mit einem giftigen Blick auf +<a name="Page_287" id="Page_287"></a>mich, »er is nischt als so'n verkappter Bourgeois, der uns +zum St. Nimmerleinstag vertrösten will, damit's ihm +nich an den Schlafrock jeht.«</p> + +<p>Ich hielt diesem Ausbruch proletarischer Eitelkeit, die +die Partei groß gezogen hatte, ruhig stand. Die apodiktische +Sicherheit, mit der die Partei in ihrer Presse +ihre Ansichten vertrat; die verflachende Popularisierung +der Lehren ihrer Vorkämpfer, durch die sie sie den +Massen mundgerecht machte; der Hohn, mit dem sie die +Äußerungen »bürgerlicher Wissenschaft« überschüttete, +konnten keine andere Wirkung haben.</p> + +<p>»Wie wär's, wenn Genossin Brandt das Korreferat +übernähme?« fragte Ida Wiemer, die vor allem gewerkschaftlich +tätig war und infolgedessen zu einer weniger +radikalen Auffassung neigte.</p> + +<p>»Selbst wenn Sie das wünschen, müßte ich nein +sagen,« antwortete ich rasch; »ich bin außer stande, +theoretische Fragen zu beurteilen, die einen Mann wie +Bernstein jahrelang beschäftigt haben, ehe er eine Antwort +fand.« Rings um mich sah ich spöttisches Lächeln +in den Mienen, Ida Wiemer senkte errötend den Kopf, +als schäme sie sich für mich.</p> + +<p>Tatsächlich hätte ich nicht törichter vorgehen können: +Nur wer keck alles zu wissen und zu können behauptet, +verschafft sich Ansehen in der Öffentlichkeit. Ich hatte +mir eine Blöße gegeben, die mir nicht vergessen werden +würde.</p> + +<p>Luise Zehringer sprach nach mir, eine Genossin aus +Hamburg, eine Zigarrenarbeiterin mit harten vermännlichten +Zügen. Es fehlte ihr, auch in dem Klang der +Sprache, jede Spur von Weiblichkeit. Ein ernstes Ar<a name="Page_288" id="Page_288"></a>beitsleben +von Kindheit an hatte der ganzen Erscheinung +jede Weichheit genommen.</p> + +<p>»Ich gehöre zu denen, die eine energische Zurückweisung +der Bernsteinschen Angriffe auf unsere Grundanschauungen +nicht nur für notwendig, sondern für +jede von uns, die im Besitze proletarischen Klassenbewußtseins +ist, für möglich hält,« sagte sie. »Ich habe +keine vornehme Erziehung genossen, wie die Genossin +Brandt, aber meine fünf Sinne habe ich beieinander. +Ich weiß darum, ohne jahrelanges Studium, daß Bernstein +Marx und Engels Unterstellungen macht, die sie +niemals vertreten haben, daß er gegen eine Verelendungstheorie +kämpft, die niemals von uns propagiert worden +ist. Wir verstehen unter Proletariat nicht diejenigen, +die mit zerlumptem Rock und knurrendem Magen umherlaufen, +sondern jeden, der abhängig ist vom Kapital. +Und diese Abhängigkeit wächst von Tag zu Tag und +damit die Masse des Elends. Und ist die Zunahme +der Erwerbsarbeit proletarischer Hausfrauen und Mütter +nicht ein weiterer, schlagender Beweis für die Zunahme +des Elends? Glauben Sie vielleicht, Genossinnen, sie +verließen aus Vergnügungssucht, wie die Damen der +Bourgeoisie, ihr Zuhause und ihre Kinder?!«</p> + +<p>Aller Augen hingen an der Sprecherin, die ihre leidenschaftlich +vorgestoßenen Worte mit lebhaften eckigen +Gestikulationen begleitete. »Ich weiß aber noch mehr: +ich weiß, daß die Empörung gegen das Elend mit ihm +wächst, daß die Gleichgültigsten, wenn sie hungernd +über den Jungfernstieg gehen, während hinter den Spiegelscheiben +der feinen Restaurants die Protzen schmatzen +und saufen, die Fäuste ballen lernen und weniger denn +<a name="Page_289" id="Page_289"></a>je von einem Techtelmechtel mit den schlauen Verführern +der Bourgeoisie, den Liberalen, wissen wollen. Zwischen +uns und ihnen gibt es nur Kampf, — Kampf bis aufs +Messer, — bis zur Diktatur des Proletariats, vor dem +der behäbige, gut genährte Herr Bernstein und seinesgleichen +solch ein Grausen hat ...« Sie schwieg erschöpft; +ihre Züge waren noch um einen Schein blasser +geworden. Wanda Orbins Referat war gesichert.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>»Wie stellen sich die Parteigenossen Berlins zu +Bernsteins Schrift?« Auf leuchtend gelben +Zetteln prangte diese Frage an den Litfaßsäulen. +Im Westen gingen die Spaziergänger achtlos +daran vorbei. In der Friedrichstadt blieben Studenten +mit unverkennbar russischem Typus nachdenklich +davor stehen, während ihre deutschen Kollegen der Anzeige +der Amorsäle ihre Aufmerksamkeit zuwandten. Im +Norden und im Osten dagegen sammelten sich Gruppen +von Arbeitern vor ihr, und in die Kneipen, in die +Arbeitssäle und in die Wohnungen wurde die Frage +weiter getragen. Als Wanda Orbin die Tribüne betrat, +erwarteten nur wenige ihrer Zuhörer von ihr +etwas anderes, als die Bestätigung der Antwort, die +für sie selber schon feststand.</p> + +<p>Sie verkündete mit priesterlichem Fanatismus den beseligenden +Glauben an die Herrlichkeit des nahe bevorstehenden +Zukunftsstaates gegenüber der kühlen Beweisführung +seiner langsamen Entwicklung; sie schürte den +Haß wider die bürgerliche Gesellschaft, sie mahnte zum +Vertrauen allein auf die eigene Kraft des Proletariats.<a name="Page_290" id="Page_290"></a> +Zwischen ihr und der Zuhörerschaft entstand jene hypnotische +Verbindung, durch die der Redner nur als +Sprachrohr der Massen erscheint und die Massen wieder +unter der Suggestion des Redners stehen. Sie war die +Stimme des Volkes, das die Ketzer verdammte, die ihm +nehmen wollten, was ihres Lebens einziger Reichtum, ihres +Willens einzige Triebkraft war: den religiösen Glauben +des Sozialismus. In ihr lebte die Urkraft der Bewegung, +die nur Freunde und Feinde kannte, die kämpfen +wollte, aber nicht paktieren, die im Eroberungskrieg das +Leben jedes einzelnen zu opfern bereit war, nicht aber +die Hoffnung auf raschen Sieg.</p> + +<p>Ein alter Mann saß neben mir. Er war müde gekommen; +jetzt glänzten seine Augen, seine Wangen +glühten, sein gebeugter Rücken richtete sich auf. An +einem Tische nicht weit davon sah ich eine Gruppe +junger Arbeiter; sie trommelten mit den breiten Fäusten +auf den Tisch, und Haß und Lust und barbarische Kampfbegier +leuchtete aus ihren Zügen. Unter dem Spiegel +an der Wand lehnten umschlungen ein paar schwarzhaarige +Studentinnen; aus ihren Blicken sprach jene +Schwärmerei, die Hirtenmädchen zu Heldinnen macht. +Auch ich war erschüttert; was mein Verstand, mir selbst +zum Trotz, Stein um Stein aufgerichtet hatte, das +drohten die Pfeile von der Rednertribüne zu zerstören. +Aber dann vernahm ich schrille, falsche Töne, für die +nur mein Gehör fein genug schien: die Rednerin verhöhnte +die Kraft ethischer Motive als einen in Rechnung +zu stellenden Motor in der revolutionären Bewegung. +Sie überschüttete mit Spott jene »bürgerliche +Intelligenzen«, die mit der »Gerechtigkeitsidee« ins weite<a name="Page_291" id="Page_291"></a> +Meer gesteuert und mit gebrochenen Masten in den Hafen +der Entsagung zurückgekehrt sind. »Nur der aus seinen +Klasseninteressen entstehende Klassenkampf des Proletariats +wird dem Sozialismus die Welt erobern.« Welche +Motive hatten denn die Marx und Engels, die Lassalle, +die Liebknecht auf die Seite der Enterbten getrieben? +Waren sie nicht »bürgerliche Intelligenzen« gewesen, +wie Wanda Orbin selbst? Mit frenetischem Beifall +nahm das Volk ihren Kniefall vor seiner Majestät entgegen, +während mir die Schamröte in die Schläfen +stieg. Als sie dann mit einer Stimme, die nur noch +ein Kreischen war, weil nicht mehr das Feuer der Begeisterung, +sondern weibische Rachsucht sie belebte, in +den Saal hinausschrie: »Wenn die Gegensätze so schroff +zutage treten, wie zwischen der Masse der Genossen und +den Bernstein, den Heine, den David, den Schippel, so +ist eine reinliche Scheidung besser als ein fauler Friede,« +und die Zuhörer trampelnd und johlend Beifall klatschten, +da wußte ich, daß die Partei der Freiheit Scheiterhaufen +zu schichten imstande sein würde.</p> + +<p>Still davon zu gehen, nachdem die Versammlung geschlossen +worden war, wäre gewiß am klügsten gewesen. +Der Wirbelsturm meiner Gefühle, der sich aus Bewunderung +und Empörung, aus Schüchternheit und Angst +zusammensetzte, hatte mich gehindert, in der Diskussion +zu sprechen, jetzt aber kochte mir das Blut; ich wollte +nicht feige erscheinen, ich mußte mit Wanda Orbin +sprechen, die mich noch immer für ein Glied ihrer Gefolgschaft +hielt. Sie kam meinem Wunsch entgegen.</p> + +<p>Wir gingen noch in ein Kaffee, und schon auf dem Wege +dahin sprach sie mich an: »Sie waren gegen mein Re<a name="Page_292" id="Page_292"></a>ferat, +hörte ich?« »Ja, und ich bin es nachträglich noch +mehr, als vorher,« antwortete ich. »Das ist ja sehr +interessant,« meinte sie spitz und wandte sich von mir +ab. Ich war den Rest des Abends Luft für sie.</p> + +<p>Wir verabschiedeten uns mit einer kühlen Verbeugung, +und während sie, umringt von den Genossinnen, +ihrem Absteigequartier entgegenging, fuhr ich allein nach +Hause. Ich kämpfte mit den Tränen. In dem engen +Kreise der Arbeiterinnenbewegung Wanda Orbin als +Gegnerin gegenüberzustehen, das bedeutete entweder mein +Ausscheiden aus ihm oder einen endlosen aufreibenden +Kampf.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Spät in der Nacht kam ich nach Hause. Hier +draußen im Grunewald bedeckte eine feste +Schneedecke Straßen und Gärten, tiefschwarz +stiegen die Kiefern aus ihrer hellen Weiße empor; ihre +dünnen, dürftigen Wipfel verloren sich im Nebel. Ich +fürchtete mich. Nacht und Dunkelheit waren meine +schlimmsten Feinde. Dann sah ich, wie in meiner Kindheit, +drohende Gestalten hinter Baum und Busch, und +hörte die Tritte Unsichtbarer hinter mir. Ich lief. +Auf dem kleinen Platz wenige Schritte vor unserem +Garten blieb ich stehen. Der Atem wollte versagen. +Ich sah hinüber: Grau, düster, als wäre es selbst nur +ein Gebilde des Nebels, schlief unser Haus zwischen +den schwarzen Stämmen, die es umstanden wie lauernde +Wächter.</p> + +<p>Ein kalter Schauer rann mir über den Rücken: wir +hatten hier noch keinen frohen Tag gehabt. Der Kleine +<a name="Page_293" id="Page_293"></a>schlief schlecht, — der Kiefernduft rege ihn auf, meinte +der Arzt, — er war oft krank gewesen. Und zwischen +mir und meinem Mann richteten die Sorgen sich auf, +immer höher und höher, wie eine trennende Mauer, +in die die Kraft unserer Liebe nur hie und da Bresche +schlug. Wir trugen unsere Qualen allein, — aus Rücksicht; +wir hüllten unsere Seelen in den dunkeln Mantel +des Schweigens, damit der Anblick ihrer Not nicht den +anderen verletze. Daß einer den anderen überhaupt +nicht mehr sehen konnte, blieb uns verborgen. Unausgesprochene +Vorwürfe wirkten auf unsere Gefühle wie +früher Frost auf entfaltete Rosen. Uralte Vorurteile, +Traditionen, deren triebkräftige Wurzeln den Boden umklammern, +wenn auch der Baum gefällt ist, nährten sie.</p> + +<p>Unter der Schwelle des Bewußtseins lebte in mir, +der Emanzipatorin ihres Geschlechts, die Vorstellung: +daß der Mann, dem das Weib sich anvertraute, wie +ein Schutzengel über ihrem Leben stehen müsse, daß er +verpflichtet sei, sie vor Sorgen zu hüten. Statt dessen +hatte der meine — der Vorwurf wühlte in mir — sie +über mich heraufbeschworen! Und in dem Grunde +der Seele des Mannes, der aus eigener Überzeugung +meine Berufsarbeit förderte, lebte der Gedanke: daß +die Frau das Reich des Hauses zu regieren habe, daß +ihr die Pflicht obliege, durch ihr Wirken die Not von +seiner Schwelle zu bannen. Statt dessen verstand die +seine nichts von alledem, und nur zu oft las ich in +seinen sprechenden Zügen den Vorwurf: Du — du bist +schuld.</p> + +<p>Ein Licht, das im Erdgeschoß, wo die Köchin schlief, +aufflammte, riß mich aus meinem Sinnen. Ich eilte +<a name="Page_294" id="Page_294"></a>der Gartenpforte zu. Da öffnete sich die Türe zum +Kücheneingang, — »auf morgen!« hörte ich flüstern, ein +Mann trat heraus, kletterte gewandt über den Zaun +und ging, vor sich hinträllernd, die Straße hinab. Das +Licht im Mädchenzimmer erlosch.</p> + +<p>Ich schlich hinauf. Mein Mann schlief fest. Wie +ich ihn schon um diesen Schlaf beneidet hatte! Ihn +suchte er auf, ich mußte ihn mir erst erzwingen! Heute +wollte er sich überhaupt nicht festhalten lassen. Der +Gedanke, daß ich morgen die Minna schelten mußte, +peinigte mich: dadurch, daß ich ihre Arbeitskraft in Anspruch +nahm, hatte ich doch noch kein Recht über ihre +Person. Wie durfte ich verlangen, daß sie mir ihre +Liebe opfern sollte? Und doch würde vermutlich die +Konsequenz meiner Nachsicht nichts anderes sein, als +daß sie ihren Liebhaber mit ernährte. Eine gute Hausfrau +nimmt alle Schlüssel an sich, — die des Hauses +wie die der Speisekammer. Ich vermochte es nicht: +Konnte ich einen fremden Menschen einsperren, wie +einen Sklaven? Vor einer Hausgenossin alles verschließen, +als hielte ich sie von vornherein für eine +Diebin? Wieder rollte sich durch einen geringfügigen +Anlaß ein ganzes Problem vor mir auf. Ich grübelte +ihm nach, über die kleinen Nöte meiner eigenen vier +Wände hinaus, und fand keine andere Lösung als die +radikalste: Vernichtung des patriarchalischen Haushalts, +Entwicklung des Dienstmädchens, das unter ständiger +Kontrolle steht, das Tag und Nacht dienstbereit sein +soll, zur freien Arbeiterin, die stundenweise beschäftigt +und entlohnt wird.</p> + +<p>Mit dem grauenden Tage kehrte ich wieder zu mir +<a name="Page_295" id="Page_295"></a>selbst zurück. Die nächste Zeit stellte starke Anforderungen +an mich: der Feldzug gegen den Zuchthauskurs +sollte auf der ganzen Linie eröffnet werden, — ich würde +häufig abends fort sein müssen. Wenn ich doch irgend +jemand hätte, der mich im Hause vertreten könnte. +Aber die guten Hausgeister der Vergangenheit, — all +die unbeschäftigten Tanten und Cousinen waren ausgestorben, +hatten sich in selbständige Berufsarbeiterinnen +verwandelt. Und meine Mutter?!</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Gleich nach des Vaters Tod hatte sie ihren +Haushalt aufgelöst und war zu Erdmanns +gezogen. Eine Lungenentzündung hatte Ilse +aufs Krankenlager geworfen, die Mutter war Pflegerin +und Haushälterin zugleich gewesen. Durfte ich sie jetzt, +wo sie selbst der Erholung bedürftig war, für mich in +Anspruch nehmen?</p> + +<p>Sie besuchte uns am nächsten Tag. Ottochen lief +ihr entgegen. Er suchte immer noch den »Apapa« und +weinte, wenn er nicht mitkam.</p> + +<p>Wie leicht, wie elastisch der Gang der Mutter ist, +dachte ich erstaunt, als ich sie näher kommen sah. Mir +war, als wäre sie sonst schwer und hart aufgetreten. +Ihre Wangen waren gerötet, der bittere Zug um ihren +Mund wie weggewischt, die schmalen, blassen, zusammengepreßten +Lippen wölbten sich plötzlich, wie von jungem +Blut durchglüht.</p> + +<p>»Nun kann ich reisen!« sagte sie mit einem Aufleuchten +in den Augen. »Meine Pflicht Erdmanns +gegenüber ist erfüllt, — sie wollen selbst so rasch als +<a name="Page_296" id="Page_296"></a>möglich auf See, um ihre Lungen auszuheilen; da bin +ich frei —,« sie dehnte dies letzte Wort, als müßte sie +es ganz auskosten.</p> + +<p>Nach Italien wollte sie zuerst. Sie erzählte von +einem ganzen Stoß kunsthistorischer Bücher, die sie mitnehmen +wollte. »Ich bin nie zum Lesen gekommen,« +meinte sie; »wie viel hab' ich versäumt, wie viel kann +ich nachholen!«</p> + +<p>Ich sah sie verwundert an, wie eine Fremde: hatte +sie mich nicht so und so oft aus der Lektüre herausgerissen, +als ich noch daheim war, und mich neben +sich an den Flickkorb gezwungen? Hatte sie jemals etwas +anderes gelesen als die Zeitung und hie und da +einen Roman?</p> + +<p>»Du bist erstaunt?« lächelte sie. »Du wirst es noch +selbst erfahren, wie die Pflicht für andere zu leben uns +Frauen fast bis zur Selbstvernichtung treiben kann.« +Ich fand keine Antwort. Wie unglücklich mußte sie gewesen +sein, — und wie unglücklich gemacht haben, da +sie fünfunddreißig Jahre lang nur aus Pflichtgefühl die +Ketten der Ehe getragen hatte!</p> + +<p>»Im nächsten Winter werde ich mich hier in einer +Pension etablieren,« fuhr sie fort, »du glaubst nicht, +wie allein der Gedanke mich beruhigt, alle Haushaltsquälerei +los zu sein!« Und sie war scheinbar in ihrem +Haushalt aufgegangen!</p> + +<p>»Was geschieht aber dann mit den Möbeln?« fragte +ich, um nur irgend etwas zu sagen.</p> + +<p>»Ich habe heute das letzte verkauft — —«</p> + +<p>»Verkauft?!« Ich starrte sie entgeistert an. Wie?! +Ohne uns, ihren Kindern, auch nur eine Mitteilung da<a name="Page_297" id="Page_297"></a>von +zu machen, hatte sie all die hundert lieben Dinge, +die ein Stück Heimat für mich gewesen waren, achtlos +in alle Winde verstreut?! Des Vaters Schreibtisch +mit den geschnitzten Eulen, — den alten Stuhl +davor, — die Reiterpistole! Ich strich mir mechanisch +mit der Hand über die heiße Stirn, um den +bösen Traum zu verscheuchen, — denn es war doch nur +ein Traum!</p> + +<p>»Auch die grünen Lehnsessel — und das alte Sofa, +das in meinem Zimmer stand?« murmelte ich.</p> + +<p>»Gewiß!« antwortete sie mit heller Stimme, aus der +der scharfe ostpreußische Akzent mehr als sonst hervortrat. +»Ihr alle habt, was ihr braucht, — das Gerümpel +hätte kaum noch einen Umzug ausgehalten; — nur Silber, +Glas und Porzellan ließ ich bei Ilse auf den Boden +stellen. Ich habe lang genug all dies Schwergewicht +mit mir gezogen.«</p> + +<p>Mir schoß das Blut in die Schläfen: So strich sie +Jahrzehnte ihres Lebens aus und mit ihnen die Erinnerung! +Schon hatte ich bittere Worte auf der Zunge. +Ich hob den Blick: Der Ausdruck ihrer Züge entwaffnete +mich. Mir war, als sähe ich plötzlich bis zum Grunde +ihres Herzens. Dem Götzen der Pflicht hatte sie ihr +Leben geopfert und wußte nun nicht einmal, wie groß +ihre Sünde gewesen war. Jetzt erst trat sie aus dem +Dämmerdunkel seines Tempels ans Tageslicht und +grüßte es, als sähe sie es zum erstenmal. Arme Mutter! +Keinen Strahl deiner schon leise sinkenden Sonne +will ich dir verdunkeln, dachte ich, und bat ihr im stillen +ab, was ich an heimlichem Groll gegen sie im Herzen +getragen hatte. Als ich sie zum Abschied küßte, liebte +<a name="Page_298" id="Page_298"></a>ich sie, — mit jener mitleidigen Liebe, die eine einzige +Trennung ist.</p> + +<p>Es war gut, daß sie ging, — für sie und für mich. +Der Glaube, daß ihre Kinder keine materiellen Sorgen +hatten, gehörte zu dem Glücksgefühl, mit dem sie die +späte Freiheit genoß. Hätte ich sie zurückgehalten, ihr +in meine Häuslichkeit Einblick gewährt, er wäre doch +erschüttert worden. Ich mußte selbst mit mir und den +Verhältnissen fertig werden.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>»Eine Villa im Grunewald, —« wie oft hörte ich +in den Kreisen der Parteigenossen mit einem mißtrauisch-hohnvollen +Blick auf mich diese vier Worte +flüstern. Sie wußten nicht, daß uns kein Stein von ihr gehörte, +daß sie aber mit dem Gewicht aller ihrer Steine auf +uns lastete. Die Zinsen, die wir zu zahlen hatten, waren +schließlich doch höher, als die Miete gewesen; Haus +und Garten erforderten mehr Arbeitskräfte, als die +kleine Etagenwohnung, und das Leben hier draußen +war auf Rentiers und Millionäre zugeschnitten, die den +Grunewald allmählich bevölkert hatten. Noch mehr als +früher war jeder Erste des Monats ein Schreckenstag +für mich. Und wenn ich am Schreibtisch saß und meine +Gedanken auf das Buch, an dem ich arbeitete, konzentrieren +wollte, kamen die Sorgen grinsend aus allen +Winkeln gekrochen und bohrten ihre Knochenfinger in +mein Gehirn und zerdrückten meine Gedanken zwischen +ihnen. Dann lief ich zu meinem Sohn hinauf oder +spielte im Garten mit ihm, — denn über seinen Zauberkreis +wagten sich die grauen Gespenster nicht.</p> + +<p><a name="Page_299" id="Page_299"></a>Wie hatte die Mutter gesagt, als sie mit jungen +Augen von ihrer Freiheit sprach? »Lang genug hab' +ich dieses Schwergewicht mit mir gezogen — —« Ein +Schwergewicht, — eine Kette am Fuß, — so empfand +ich auf einmal das Haus, in dem ich wohnte. Flügellos +machte es mich und — alt, alt!</p> + +<p>Du hast Falten um Mund und Nase, sagte mein +Spiegel, Falten, und trübe Schleier über den Pupillen +wie all jene Frauen, denen der jämmerliche +Kleinkram des Lebens die Seele zertritt. Ich aber +will nicht alt sein, schrie es in mir; noch braust und +schäumt der Strom der Jugend in meinem Innern, +der starke Strom, der Felsen höhlt und Riesen des +Waldes entwurzelt, und den die Ehe in ihre gemauerten +Kanäle zwang.</p> + +<p>»Heinz, hab' einmal Zeit für mich,« sagte ich eines +Abends. Wir saßen fast immer bis zum Schlafengehen +arbeitend an unserem Schreibtisch. Gemeinsame Abende +gab's für uns nicht. Ich hatte unter diesem Mangel +im Beginn unserer Ehe schwer genug gelitten. Er sah +von seiner Lektüre auf; ein helles Licht huschte über +seine Züge. »Immer, mein Schatz — nur leider verlangst +du nie danach.«</p> + +<p>»Ich weiß, du hast es sehr gut gemeint,« begann +ich stockend, »du hast nur meinen Wunsch erfüllen wollen, +als du dieses Haus für uns bautest. Keiner von uns +hat vorher gewußt, daß — daß es eine unerträgliche +Last für uns sein würde — —«</p> + +<p>»Aber, Alix, du kommst auf diesen vernünftigen Gedanken, +du?!« unterbrach er mich. »Du könntest — du +wolltest —?!«</p> +<p><a name="Page_300" id="Page_300"></a></p> +<p>»Das Haus verkaufen, — ja! Tausendmal lieber, +als in dieser Angst weiterleben —« Mir stürzten die +Tränen aus den Augen, trotz aller Selbstbeherrschung.</p> + +<p>Heinrich gehörte zu den wenigen Männern, die durch +Frauentränen nicht weicher, sondern härter werden. »Wozu +die Tragik,« sagte er ärgerlich. »Wenn du einsiehst, +was mir längst klar ist: daß wir über unsere Verhältnisse +leben, so sind wir einig, und die Konsequenzen +sind selbstverständlich.«</p> + +<p>Meine Tränen flossen nur noch stärker; ich hatte unwillkürlich +so etwas wie ein Lob für meinen Opfermut +erwartet. Erst allmählich kam ich zur Ruhe.</p> + +<p>Wir saßen aneinandergeschmiegt wie in den ersten +Zeiten unserer Ehe auf dem pfauenblauen Sofa und +spannen neue Zukunftsträume, als wäre durch unseren +bloßen Entschluß schon die Bahn für sie frei.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Wochen und Monde vergingen. Niemand +fragte nach unserem Haus. Indessen zog +mit blauem Himmel und heißer Sonne +der Sommer ein, und auch unter den Kiefern lachten +und dufteten Rosen, Nelken und Lilien. Grüne Ranken +kletterten übermütig an den grauen Wänden empor, +vor allen Fenstern nickten rote Geranien. Und mitten +in all der Pracht blühte mein Kind. Es spielte den +ganzen Tag im Grünen, jeder Busch wurde ihm ein +lebendiger Gefährte. Und wenn es droben im Giebelstübchen +hinter den Blumenbrettern schlief, dann saßen +wir noch lange auf der Altane und atmeten den würzigen +Duft der Nacht und genossen der zauberischen<a name="Page_301" id="Page_301"></a> +Ruhe des Waldes. Ich fing an, dies Stückchen Erde +zu lieben: es hatte meinem Sohn eine Heimat werden +sollen. Ich trennte mich immer schwerer von dem stillen +Winkel.</p> + +<p>Nichts ist gefährlicher für den Altruismus, als die +mit Egoismusbazillen gefüllte Luft häuslicher Gemütlichkeit. +Nur die ganz Starken, Widerstandsfähigen entziehen +sich der Ansteckung.</p> + +<p>Die Vorkämpfer der Menschheit waren fast immer +die Heimatlosen.</p> + +<p>Aber auch meine Körperkräfte hinderten mich oft an +der agitatorischen Tätigkeit. War ich genötigt, ein paar +Abende hintereinander zu sprechen, so versagte meine +Stimme. »Sie dürfen sich niemals in Rauch und Staub +aufhalten,« sagte dann der Arzt und verordnete mir +Schweigen und frische Luft. Meine robusten Genossinnen, +für die die Atmosphäre der Versammlungssäle nicht +schlechter war als die ihrer engen Stuben, ihrer überfüllten +Werkstätten und Fabrikräume, hielten mich für +schulkrank und mißtrauten mir mehr noch als früher.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Wir hatten im Winter einen Arbeiterinnenbildungsverein +gegründet, — einen Notbehelf, +da das Gesetz den Frauen die Teilnahme +an politischen Organisationen untersagte und +seine Handhabung den Arbeiterinnen gegenüber besonders +streng war. Er wurde aber rasch zum Selbstzweck; +die Frauen hatten ein lebhaftes Bedürfnis nach +geistiger Aufklärung aller Art, und es war für mich +eine Erfrischung, seinen Zusammenkünften beizuwohnen.<a name="Page_302" id="Page_302"></a> +Zwei Abende war schon über Erziehung gesprochen worden, +und die Debatte bewies, mit wie viel Ernst, mit +wie viel Eifer diese armen Arbeiterfrauen ihre Aufgabe +als Mütter erfaßten.</p> + +<p>Diesmal hatte ich Romberg genötigt, mitzukommen. +Er war in bezug auf die geistige Entwickelungsmöglichkeit +der Frauen sehr skeptisch, und so sehr er +aus rein ökonomischen Gründen die Frauenbewegung +für notwendig anerkannte, so war sie ihm doch nur +eine traurige Notwendigkeit; was sie erstrebte, erschien +ihm nicht als Fortschritt, sondern nur als eine +unausbleibliche beklagenswerte Wandelung. Den Bildungshunger +der »Waschfrauen und Näherinnen« hielt +er nun gar für eine meiner unverzeihlichen Illusionen. +Ich wollte ihm einmal statt Gründe Beweise liefern. +Und allmählich schien er wirklich erstaunt. Eine kleine, +adrett gekleidete Frau stand jetzt auf dem Podium. +»Mein Mann ist Maschinenschlosser,« sagte sie, »wir +haben nur zwei Kinder und soweit unser Auskommen, +so daß ich nicht mit zu verdienen brauchte. Aber unser +Junge ist ein heller Kopf. Da hab' ich mir gesagt: +Der soll was Besseres werden als seine Eltern, der soll +auch mal wissen, wie schön und wie reich die Welt ist, +und nicht, wie wir, bloß durch so'n schmales Guckloch +ein Endchen von ihr zu sehen kriegen. Und nun gehe +ich wieder in die Fabrik, und der Fritze geht dafür +aufs Gymnasium. Ich will mich nicht rühmen, daß +ich's tu', ich möcht' nur jeder raten, es ebenso zu +machen.«</p> + +<p>In jener Impulsivität, die ich so sehr an meinem +Mann liebte, stand er auf, um der tapferen kleinen<a name="Page_303" id="Page_303"></a> +Frau, die wieder ihrem Platz zuschritt, die Hand +zu drücken. Romberg dagegen sagte: »Meinen Sie, +daß der ›Fritze‹ als Geistesproletarier glücklicher sein +wird!?« »Auf das Glück kommt es nicht an, sondern +auf den Grad der sozialen Leistung, und die wird größer +sein, wenn seine Begabung zu ihrem Rechte kommt,« +antwortete ich rasch.</p> + +<p>Ein junges Mädchen trat an unseren Tisch. »Genossin +Brandt?« forschend sah sie mich an. — »Die +bin ich.« — »Ich wollte Sie nur mal was fragen. +Ich bin nämlich Dienstmädchen gewesen und habe eine +Freundin, die noch Köchin is, und die hat mich neulich +in den Dienerverein mitgenommen, wo sie jetzt wollen +auch die Mädchens aufnehmen. Sie schimpfen aber +dort alle gegen die Sozialen, und da wollt ich gern mal +wissen, ob Sie nich mal könnten hinkommen —«</p> + +<p>»Sie werden doch nicht!« flüsterte mir Romberg zu. +»Verpflichte dich zu nichts,« sagte mein Mann leise.</p> + +<p>»Selbstverständlich komme ich,« entgegnete ich der +zaghaft vor mir Stehenden; ihr Gesicht erhellte sich; +wir verabredeten alles weitere.</p> + +<p>Beim Heimweg schalt mein Mann: »Du läßt dich +von jeder beschwatzen, und alle spekulieren schließlich +auf deine Gutmütigkeit.«</p> + +<p>»Wenn diese kleine Begegnung zu einer Dienstbotenbewegung +den Anlaß gibt, so wirst du anders denken.«</p> + +<p>»Mir tut es in der Seele weh, wenn ich Sie in +der Gesellschaft seh,« meinte Romberg. Er sah mich +mit einem Blick an, der mich erröten machte. Wie +töricht, — dachte ich gleich darauf, zornig über die +eigene Schwäche, und doch blieb ich den ganzen Abend +<a name="Page_304" id="Page_304"></a>über im Bann jener Frauenfreude, die belebend wirkt +wie prickelnder Champagner: der Freude an der Bewunderung. +Alix von Kleve stieg aus der Versenkung +ernster Jahre empor und sonnte sich an altvertrauten +Triumphen. In meinen Verkehr mit Romberg trat ein +neuer Reiz: er ließ es mich fühlen, daß das Weib in +mir ihn anzog und nicht nur die neutral-interessante +Persönlichkeit. Es gibt Frauen, die angesichts solcher +Erfahrung die Beleidigten spielen. Sie lügen.</p> + +<p>»Ich drehe dir den Hals um, wenn du dir von +Romberg die Kur machen läßt,« grollte Heinrich, als +wir zu Hause waren, zwischen Scherz und Ernst. Ich +flog ihm in die Arme. »Hast du mich wirklich so lieb?« +lachte ich. Er zog mich stürmisch an sich: »Dich, dich +hab' ich lieb,« flüsterte er leidenschaftlich, »das süße +Katzel, — meinen Schatz; — die berühmte Frau kann +mir gestohlen werden ...«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>In der ersten Morgenfrühe weckte mich ein wilder +Schrei. »Aus Minnas Stube,« — sagte ich +mir und stürzte hinunter. Sie lag in ihrem +Blut, und als der Arzt kam, schwand mein letzter Zweifel: +sie hatte gewaltsam die Folgen ihres Liebesverhältnisses +beseitigen wollen.</p> + +<p>An ihrem Krankenbett studierte ich die Dienstbotenfrage. +Sie faßte Vertrauen zu mir. Ich erfuhr von +diesem armen Leben, das von Kindheit an unter fremden +Leuten in ständiger Unfreiheit, in ununterbrochener +Dienstbarkeit verflossen war. »Was muß unsereiner +doch auch haben, — was fürs Herz. Und wenn ich +<a name="Page_305" id="Page_305"></a>nicht getan hätte, was er wollte, — dann wär' er fortgegangen, — dann +hätte er zehn für eine gefunden,« +schluchzte sie.</p> + +<p>»Warum heirateten Sie nicht?« wagte ich einmal +einzuwenden. »Heiraten?! Womit denn?! — Arbeit +hat mein Franz keine, — meine paar Spargroschen +gab ich ihm, — und vor so einer Jammerwirtschaft +in einem Loch auf'n Hof mit'n halb Dutzend Göhren +graut's mich ...« Sie wurde von Tag zu Tag +elender. Ihr Franz fragte nur einmal nach ihr. Als er +hörte, daß sie krank sei, kam er nicht wieder. Ich mußte +sie schließlich der schweren Pflege wegen, die ihr Zustand +nötig machte, ins Krankenhaus bringen. Dort +starb sie.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>»Wir wollen die Harmonie zwischen Dienstboten +und Herrschaften wieder herstellen ...« — »die +Dienstboten allein können nichts erreichen, +es gehören auch die Herrschaften dazu ...« — »den +Arbeitern fehlt es heute an tüchtigen Hausfrauen, +weil die Mädchen lieber in die Fabrik als in Stellung +gehen, wo sie sich dazu vorbereiten könnten ...« Das +waren die Leitmotive, unter denen die Versammlungen +tagten, die der Dienerverein veranstaltete. Die wenigen +weiblichen Dienstboten, die ihm schon angehörten, schlugen +zwar zuweilen eine schärfere Tonart an, wenn die Erinnerung +an all die erlittene Unbill sie überwältige, +aber sie trugen schwarzweiße Kokarden und verwahrten +sich nachdrücklich dagegen, mit der Arbeiterbewegung +irgend etwas gemeinsam zu haben.</p> + +<p><a name="Page_306" id="Page_306"></a>Ich verhielt mich während der ersten Versammlungen +nur als Zuhörerin und erkannte bald, daß es dem Verein +an Mitteln und Mitgliedern fehlte und er offenbar +nichts wollte, als durch Hinzuziehung weiblicher +Dienstboten diesem Übel abzuhelfen. Im Grunde fürchtete +er schon, die Geister, die er gerufen, nicht los zu +werden, denn sobald ein Mädchen ihre Erfahrungen +gar zu rückhaltlos zum besten gab, trat irgendein Beschwichtigungsapostel +ihr entgegen.</p> + +<p>»Ich stelle den Antrag, daß wir uns der entstehenden +Dienstbotenbewegung mit allem Nachdruck annehmen,« +sagte ich, als ich wieder einmal mit den Genossinnen +zusammenkam; »in jeder Versammlung müssen einige +von uns anwesend sein. Wir dürfen die Gelegenheit +nicht vorübergehen lassen, um diese rechtlosesten unter +den Arbeiterinnen zum Bewußtsein ihrer Klasse zu erziehen. +Wir müssen so bald als möglich eine selbständige +Organisation gründen, damit sie dadurch dem +Einfluß dieses grundsatzlosen Vereins nicht unterworfen +bleiben.«</p> + +<p>Aber je lebhafter ich sprach, desto kühler und zurückhaltender +waren die anderen. »Genossin Brandt scheint +nicht zu wissen, daß die Dienstboten kein Koalitionsrecht +besitzen —,« meinte Martha Bartels naserümpfend.</p> + +<p>»Gerade weil ich das weiß, empfinde ich um so mehr +unsere Verpflichtung, ihnen zu helfen, ihnen das Rückgrat +zu stärken,« entgegnete ich heftig.</p> + +<p>»Die Dienstmädchen sind noch längst nicht reif für +unsere Bewegung, — überlassen wir sie ruhig sich selbst,« +sagte eine andere.</p> +<p><a name="Page_307" id="Page_307"></a></p> +<p>»Damit sie den Nationalsozialen in die Hände fallen, +die ihre Netze auslegen, wo immer sie einen Proletariermassenfang +erwarten dürfen,« antwortete ich, und unterdrückte +noch rasch eine Bemerkung über die Schädlichkeit +dieses fatalistischen Glaubens an die Alleinseligmachung +der ökonomischen Entwicklung, der uns in geeigneten +Momenten die Hände in den Schoß legen läßt.</p> + +<p>»So werde ich denn allein mein Heil versuchen,« erklärte +ich schließlich, als mein Antrag abgelehnt wurde, +und verließ die Sitzung.</p> + +<p>Von nun an fehlte ich in keiner Dienstbotenversammlung. +Mit bunten Sommerhüten und hellen Blusen +füllten die während der Reisezeit der »Herrschaften« +dienstfreien Mädchen die glutheißen Säle. Zuerst kamen +nur die Gutgestellten, die Jungen, die Handschuhe +trugen und zuweilen vornehmer aussahen wie ihre +»Gnädigen«. Sie betrachteten die Sache fast wie +eine Ferienlustbarkeit und kokettierten mit den Männern, +die hier auf Abenteuer ausgingen. Aber allmählich +überwogen die älteren, die von zehn und zwanzig +und dreißig Dienstjahren erzählen konnten, und die +Armen, die Mädchen für Alles waren, auf deren +schmale Schultern die gut bürgerliche Hausfrau die +Lasten des Lebens abzuwälzen sucht. Und ihre Klagen +wurden lauter, ihre Worte deutlicher; das Kichern und +Lachen verstummte vor den Bildern des Grams, die sich +enthüllten.</p> + +<p>Es gab welche, die ihre Kolleginnen um den dunkeln +Hängeboden über der Küche beneideten, weil sie nichts +hatten als ein Schrankbett auf dem offenen Flur oder +eine Matratze im Baderaum: »Dabei wird unsere gute<a name="Page_308" id="Page_308"></a> +Stube nur zweimal im Jahre für die große Gesellschaft +geöffnet ...«</p> + +<p>Ach, und die schmale Kost bei der harten Arbeit: +»Eine Stulle mit Schweineschmalz am Abend, — während +der Herr drinnen Rotwein trinkt zu fünf Mark +die Flasche ...«</p> + +<p>Vor allem aber: »Nie ein Stündchen freie Zeit ... +Wir schrubbern und kochen, während die Herrschaft +spazieren geht, ... wir hüten die Kinder, während +sie tanzen ...«</p> + +<p>Dazwischen schüchterne Bitten der Ängstlichen und +Gutmütigen: »Nur ein wenig geregelte Arbeitszeit, — und +freundliche Worte statt des ewigen Zanks, — dann +wollen wir gern dienen, wollen treu und +fleißig sein.«</p> + +<p>Sie waren wie aufgescheuchte Vögel, die ohne Richtung +hin- und herflattern. Als ich zum erstenmal vor +ihnen zu reden begann, hielten sie mich für eine »Gnädige«. +»Nu aber jeht's los!« rief kampflustig eine rundliche +Köchin. Alles lachte. Ich sprach von den Gesindeordnungen, +den Ausnahmegesetzen für die Dienstboten, +die sie den Dienstgebern fast rechtlos in die Hände +liefern, von der erlaubten »leichten« körperlichen Züchtigung, +von den vielen Gründen zur Entlassung ohne +Kündigung und schließlich von einer jener Schöpfungen +der preußischen Reaktion, die den Streik der Dienstboten +mit Gefängnis bestraft. Noch hörte man mir ruhig zu, +unsicher, was ich aus den Tatsachen folgern würde. +Nur der Vorsitzende, der stets aus eigener Machtvollkommenheit +»das Hausrecht übernahm«, sah beunruhigt +zu mir auf.</p> +<p><a name="Page_309" id="Page_309"></a></p> +<p>»Für Sie ist demnach die Zuchthausvorlage, die Deutschlands +gesamte Arbeiterschaft knebeln will, immer Gesetz +gewesen,« rief ich laut.</p> + +<p>»Eine Sozialdemokratin!« kreischte neben mir eine +Frau in hellem Entsetzen. Ein unbeschreiblicher Lärm +erhob sich; auf die Tische sprangen die Mädchen in +hysterischer Erregung, schrieen und winkten mit den +Taschentüchern; eine von ihnen drängte sich neben mich, +ballte die Fäuste und rief schluchzend: »Wir sind königstreu! +Wir sind gottesfürchtig!« Hilflos, mit angstgerötetem +Gesicht schwang der Vorsitzende unaufhörlich +die Glocke. Aber in der nächsten Versammlung erwarteten +mich schon ein paar Mädchen an der Türe: »Sie +werden sprechen, nicht wahr? — Wir werden Ihnen +Ruhe verschaffen!«</p> + +<p>Und im überfüllten Saal waren außer den Dienstboten: +Neugierige, Hausfrauen, bürgerliche Frauenrechtlerinnen, +Journalisten mit der frohen Erwartung einer in möglichst +vielen Zeilen zu beschreibenden Sensation. Auch +ein paar Genossinnen entdeckte ich: Ida Wiemer und +Marie Wengs. »Wir greifen ein, wenn's not tut,« +sagten sie, »nur tapfer!« Bis um Mitternacht ließ mich +der Vorsitzende nicht zu Worte kommen. Ich ging im +Saal umher, von Tisch zu Tisch. »Das ist Recht und +Freiheit im Dienerverein,« sagte ich. Jemand rief: +»Alix Brandt soll reden!« und der Ruf pflanzte sich +fort und dröhnte schließlich durch den Saal. Als ich +aber auf dem Podium stand, erstickte ihn ein zorniges +Zischen; die Kraft meiner Stimme kämpfte dagegen an, +und wie ein Unwetter in der Ferne verklang es.</p> + +<p>»Sie wollen eine Verbesserung der Gesindeordnung, +<a name="Page_310" id="Page_310"></a>als ob auf verunkrautetes Feld frischer Samen gesät +werden sollte. Es gibt nur eine Forderung, die Sie +stellen dürfen: ihre Abschaffung, damit Sie den Arbeitern +gleichgestellt werden —«</p> + +<p>»Wir sind keine Arbeiterinnen, — wollen keine sein!« +rief ein zierliches Zöfchen mit gebrannten Stirnlocken +entrüstet.</p> + +<p>»Sie predigen Harmonie zwischen Herrschaft und +Dienstboten, und doch gibt es zwischen ihnen ebensowenig +eine Interessengemeinschaft wie zwischen dem +Arbeiter und dem Unternehmer —«</p> + +<p>»Unerhört!« — Ein paar Damen mit hochrotem +Gesicht drängten sich zur Türe. Die Mädchen lachten +hinter ihnen: »Sie können die Wahrheit nicht vertragen!«</p> + +<p>»Je mehr Sie Maschinen sind, desto weniger Menschen +sind Sie und desto bessere Dienstboten im Sinne der +Hausfrauen ... Sie wollen statt der endlosen eine beschränkte +Arbeitszeit, Sie tun recht daran. Aber die +Masse der Hausfrauen ist nicht in der Lage, statt eines, +zwei und drei Mädchen für dieselbe Arbeit anzustellen. +Sie wollen statt einer Schlafstelle ein Zimmer, das +ihnen etwas wie ein Zuhause sein kann. Sie tun recht +daran. Aber bei der heutigen Einteilungsart der Wohnungen +und ihren hohen Preisen sind die meisten Frauen +nicht imstande, sie Ihnen zu geben. Sie wollen — lassen +Sie mich aussprechen, was Sie selbst noch +nicht ausgesprochen haben — Sie wollen mit Ihren +Freundinnen verkehren können, Ihren Bräutigam sehen, +ohne auf die Straße, auf die Tanzböden gehen zu +müssen —«</p> +<p><a name="Page_311" id="Page_311"></a></p> +<p>»Unglaublich!« — Und wieder leerte sich der Saal +um zahlreiche elegante Zuhörer.</p> + +<p>»Das ist Ihr gutes Recht. Und wer sich hier entrüstet +gebärdet, den frage ich: was empört sich in +Ihnen? Ihre Sittlichkeit?! Ist es sittlich, junge, +lebensvolle Mädchen, die auf Freude dasselbe Recht +haben wie die höheren Töchter, denen die Natur dasselbe +Verlangen nach der Erfüllung ihrer Geschlechtsbestimmung +verlieh wie diesen, auf Hintertreppen, auf +Schleichwege und zweifelhafte Balllokale anzuweisen, +statt ihnen den Schutz des Hauses zu verleihen ..?«</p> + +<p>Minutenlanger Beifall unterbrach mich. Dicht um +das Podium scharten sich junge Gestalten und leuchtende +Augen hingen an meinen Lippen.</p> + +<p>»Es ist vielmehr der natürliche Egoismus, der Interessengegensatz +der Hausfrauen zu den Dienenden, der auch +die Wohlwollenden unter ihnen zwingt, fremden Gästen +ihr Haus zu schließen ... Wir werden für die Gegenwart +eine Reihe von Forderungen an die Gesetzgebung +im Interesse der Dienenden zu stellen haben, deren Erfüllung +viele Mißstände beseitigen wird. Aber der Dienst +des Hauses wird nur dann den Charakter des Sklavendienstes +verlieren und zur Würde selbständiger Arbeit +sich entwickeln, wenn das abhängige Dienstmädchen sich +in die freie Arbeiterin verwandelt hat, die ihre Arbeitskraft +nur stundenweise verkauft, die imstande ist, in +Reih und Glied mit dem in der Sozialdemokratie +organisierten Proletariat für ihre letzten Ziele zu +kämpfen ..«</p> + +<p>Ich stieg in den Saal hinunter, umbraust von Beifallsrufen +und Schimpfworten.</p> + +<p><a name="Page_312" id="Page_312"></a>Von nun an hatte ich die Mehrheit auf meiner Seite. +Die Versammlungen wurden ruhiger, sachliche Beratungen +der aufzustellenden Forderungen wurden ermöglicht.</p> + +<p>Der Lärm tobte statt dessen außerhalb der Säle +weiter. Die Presse schrie nach der Polizei; Hausfrauenversammlungen +nahmen geharnischte Resolutionen +an, durch die sich die Anwesenden verpflichteten, ihren +Dienstboten den Besuch unserer Zusammenkünfte zu verbieten. +Alles war von der Angst ergriffen, daß mit +der Dienstbotenbewegung die Intimität des Familienlebens +der Sozialdemokratie ausgeliefert sei. Auf mich, +die ich diese Gefahr über die ruhigen Bürger heraufbeschworen +hatte, konzentrierte sich der persönliche Haß. +In allen Tonarten wurde ich beschimpft und verleumdet. +Und selbst nahe Freunde, aufgeklärte, freidenkende +Menschen, sprachen mir mündlich und schriftlich ihre +Mißbilligung aus. Die ruhigsten Frauen gerieten dabei +in leidenschaftliche Erregung.</p> + +<p>»Der Kanal, in den Sie den Strom der Dienstbotenbewegung +geleitet haben, wird das ›traute Familienleben‹ +überfluten. Was dann?!« schrieb mir Romberg.</p> + +<p>Meine Mutter erfuhr durch die Zeitungen von den +Vorgängen in Berlin. »Immer wieder zerstörst Du +durch die Maßlosigkeit Deiner Forderungen ihren nützlichen +Kern und machst Dir und Deiner Sache die wohlwollendsten +Menschen zu Feinden,« hieß es in einem +Brief von ihr. Tags darauf folgte ihm ein zweiter, +dem ein Schreiben meiner augsburger Tante beigelegt +war. »Nach den unerhörten Vorgängen in Berlin bin +ich außerstande, an Alix persönlich zu schreiben. Ich +<a name="Page_313" id="Page_313"></a>habe sie bisher immer verteidigt, habe ein Auge zugedrückt, +wo ich konnte, aber ihre unverantwortliche +Aufhetzung der Dienstboten, — denen es im Grunde +nur zu gut geht, — werde ich weder verstehen, noch +verzeihen können. Teile ihr das in meinem Namen +mit und sage ihr, was vielleicht nicht ohne Eindruck +auf sie bleiben wird, daß auch ihre alten Freunde, +die Grainauer Bauern, empört über sie sind ...« Ich +lächelte unwillkürlich: wenn ich von der Unfreiheit des +Gesindes sprach, mußten sie sich getroffen fühlen.</p> + +<p>Aber dann machte ich mir den Ernst der Sache klar: +Ich hatte in Gedanken an das reiche Erbe der Tante nie +auch nur einen Bruchteil meiner Überzeugungen preisgegeben, +die Selbständigkeit meiner Entschließungen war +nie durch sie beeinflußt worden. Jetzt aber besaß ich +einen Sohn, dessen einzige Zukunftsaussicht vielleicht in +Frage stand, — seine Eltern hatten nicht das Zeug dazu, +Kapitalisten zu werden! — und ich wußte nur zu +gut, was es heißt, unter dem Druck ständiger Sorgen +zu leben, ich ahnte, wie frei sich ein Mensch entfalten, +wie ungehindert er seine Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit +stellen kann, der an das Dach über dem +Kopf, an den Rock auf dem Leib und das tägliche Brot +keinen seiner Gedanken zu verschwenden braucht. Ich +schrieb an Tante Klotilde und versuchte, ihr meine +Stellung zur Dienstbotenfrage auseinanderzusetzen. Ich +bekam meinen Brief uneröffnet zurück. Meiner Mutter +teilte sie mit, daß sie das Geschehene vergessen wolle, +wenn ich nach dieser Richtung auf meine agitatorische +Tätigkeit verzichten würde.</p> + +<p>In jenen Tagen erklärte Wanda Orbin in der ›Frei<a name="Page_314" id="Page_314"></a>heit‹, +daß die Genossinnen verpflichtet seien, sich der +Dienstbotenbewegung anzunehmen. Wenn sie schon ohne +besonderen Beschluß immer häufiger in den Versammlungen +erschienen, so war dies das Signal zur Änderung +ihrer Stellung der ganzen Sache gegenüber. Die +Veranstaltung selbständiger Versammlungen wurde beschlossen, +und zur Rednerin wurde ich bestimmt. Ich +zögerte: verletzte ich nicht ein höheres Interesse, das +meines Sohnes, wenn ich zusagte?</p> + +<p>»Lege ihm die Frage vor, wenn er reif genug ist, sie +zu verstehen,« sagte mein Mann. »Wie er sie beantworten +wird, kann ich dir jetzt schon sagen: Meine +Mutter darf niemandem, auch mir nicht, ihre Überzeugung +opfern.«</p> + +<p>Und ich sprach. Die Empörung in der Öffentlichkeit +wuchs mit jeder Versammlung. Mit einer gewissen +Ostentation zogen sich die Menschen von mir zurück. +Aber die Bewegung war im Fluß und durch nichts mehr +aufzuhalten. Wäre ich weise genug gewesen, der fachliche +Erfolg allein hätte mich befriedigt. Aber noch +war ich zu jung, war zu sehr Weib, um den Menschen +und den Ereignissen mit der kühlen Objektivität reifer +Politiker gegenüberstehen zu können. Im Grunde sehnte +ich mich nach einem warmen, aufmunternden Wort +seitens meiner Kampfgefährten, nach ein wenig freundlicher +Anerkennung. Statt dessen begegneten sie mir +stets mit gleicher Kühle, mit gleicher Zurückhaltung. +Zu keiner einzigen entstand ein persönliches Verhältnis; +je länger ich mit ihnen arbeitete, desto fremder schien +ich ihnen zu werden.</p> + +<p>»Ich bin aus Liebe zu euch gekommen, mit vollem<a name="Page_315" id="Page_315"></a> +Herzen und ganzer Kraft,« hätte ich sagen mögen, +»warum stoßt ihr mich zurück?«</p> + +<p>Ich kämpfte oft mit den Tränen, wenn ihr Mißtrauen +mir immer wieder begegnete. Und nachher hörte ich, daß +man über meinen Hochmut, meine Unnahbarkeit schalt. +Im stillen hoffte ich, man würde mich diesmal zum +Parteitag delegieren, aber ich wurde nicht einmal dazu +vorgeschlagen. Martha Bartels sagte nicht ohne Betonung: +»Wir bleiben natürlich dem Grundsatz treu, +nur bewährte Genossinnen mit einer Delegation zu betrauen.« +Darauf wurde die große, hagere Frau Resch +gewählt; sie trug schon seit Jahren unermüdlich Flugblätter +aus, und ihr Mann war eine Größe in der +inneren Bewegung.</p> + +<p>»Was kümmerst du dich um die Weiber!« meinte +mein Mann ärgerlich, als ich ihm klagte. Und Ignaz +Auer, der uns an einem schönen Septembersonntag besuchte, +wiederholte dasselbe.</p> + +<p>»Glauben Sie mir altem Knaster,« meinte er, und +sein schönes blasses Gesicht nahm jenen rätselhaften +Ausdruck an, der aus Sarkasmus und Melancholie zusammengesetzt +war, »glauben Sie mir: solange ich +denken kann, war bei den Frauen stets derselbe Krakehl, +und wenn ich schon lange modere, wird's ebenso +sein. Sie haben alle Untugenden der Unterdrückten in +konzentriertester Form, und schwingt man nicht, wie +die Wanda, ständig die Knute, so hat man verspielt. +Seien Sie versichert: schon Ihr Aussehen vergeben +Ihnen die Weiber nie.«</p> + +<p>»Und doch sind Sie als Sozialdemokrat für die Gleichberechtigung +der Geschlechter?« wandte ich ein. Er +<a name="Page_316" id="Page_316"></a>wehrte ab, mit einer vollendet geformten starken Männerhand, +die aber durch ihre Blutleere an die eines Toten +gemahnte. »Ich werd's ja, gottlob, nicht erleben!« +sagte er. »Nach der Richtung hat die Wanda recht, +wenn sie den Auer mit dem Bernstein, den Schippel +und den Heine in einen Topf wirft: ich bin mehr für +die Bewegung als für das Endziel.« So waren wir +wieder bei dem Thema angelangt, in das jede Unterhaltung +zwischen Parteigenossen zu münden pflegte.</p> + +<p>»Der Parteitag in Hannover wird eine Klärung +bringen,« meinte ich im Laufe der Unterhaltung.</p> + +<p>»Eine Klärung?!« Er lachte kurz auf. »Ich muß +Genossin Bartels wirklich recht geben: Sie sind noch +nicht mandatsfähig! Glauben Sie wirklich, so tiefgehende +Meinungsverschiedenheiten, die auf Unterschieden +des Temperamentes, der Urteilskraft, der Bildung und +der Lebenslage beruhen, ließen sich durch bloßes Handaufheben +entscheiden?! Wir werden sie auch mit zehn +Parteitagen nicht aus der Welt schaffen. Und wieder +füge ich hinzu: Gottlob nicht! Es wäre nur ein Zeichen +von Altersschwäche, wenn wir alle ja schrien. Die +Hauptsache bleibt die Einigkeit im Handeln. Und um +die ist mir nicht bange, — die zwingen uns unsere +Gegner auf.«</p> + +<p>»Die Meinungsverschiedenheiten wären gewiß kein +Unglück, wenn nicht die Unduldsamkeit hinzukäme,« sagte +mein Mann.</p> + +<p>»Auch die ist noch nicht das Schlimmste. Wenn wir +die eigene Ansicht für die richtige halten, so müssen wir +doch konsequenterweise die falsche des Gegners bekämpfen,« +entgegnete Auer. »Nur daß der Anders<a name="Page_317" id="Page_317"></a>denkende +immer gleich als ein hundsgemeiner Kerl gebrandmarkt +wird, — das ist bitter.« Er verabschiedete +sich. Er fürchtete sichtlich, sich zu Klagen und Anklagen +hinreißen zu lassen. An der Gartentür blieb er stehen, +ein spöttisches Lächeln kräuselte seine Lippen: »Wenn +Sie übrigens ein Mandat haben wollen, Genossin Brandt, — ich +verschaff' es Ihnen. Die liebe Wanda und ihre +Leibgarde ein wenig zu ärgern, macht mir Spaß. Sie +müssen sich nur nachher zur Agitation in dem betreffenden +Kreis verpflichten.« Ich schüttelte den Kopf. Mir +widerstrebte die Sache.</p> + +<p>»Nimm's an, Alix,« mahnte mein Mann, »so zeigst +du am besten, daß du von der Gnade der berliner +Frauen nicht abhängig bist.«</p> + +<p>»Sie können's tun, — ganz ohne Gewissensbisse. Sowas +haben auch die obersten Halbgötter nicht verschmäht.« +Zögernd sagte ich zu. Es war mir nicht wohl dabei, +so sehr ich auch gewünscht hatte, einem Parteitag, und +vor allem diesem, beizuwohnen.</p> + +<p>Kurz ehe wir abreisten, kam meine Mutter zurück. +Sie schien um ein Jahrzehnt verjüngt. »Ich bleibe bei +dem Kleinen, während ihr fort seid,« sagte sie; »das +wird mein bedrücktes Gewissen etwas erleichtern, — nach +diesen selbstsüchtigen Monaten!«</p> + +<p>Wir mußten ihr nun auch von unserer Absicht, das +Haus zu verkaufen, erzählen. »Das ständige Hin- und +Herfahren zerrüttet unsere Nerven,« sagte ich leichthin, +»ich müßte auf die öffentliche Tätigkeit verzichten, wenn +wir draußen bleiben wollten.«</p> + +<p>Sie sah von einem zum anderen in stummer sorgenvoller +Frage. »Es ist wirklich so, Mamachen —,« ver<a name="Page_318" id="Page_318"></a>sicherte +ich lächelnd. Sie schüttelte fast unmerklich den +Kopf und fragte nichts mehr.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Zwischen schmalen Gassen und engen Höfen, fern +jenem modernen Teil der Städte, der auch in +Hannover ebenso elegant wie charakterlos ist, +liegt eine große dunkle Halle, der Ballhof genannt. +Vor Zeiten warfen hier Kurfürsten, Prinzessinnen und +Könige einander im graziösen Spiel ihre Bälle zu, bis +mit schwerem Schritt und ernstem Gesicht einer kam, +dem Spielen fremd war: der Proletarier. Hellere Räume +suchten die Fürsten für ihre Freuden; er nahm für seine +Arbeit, was sie übrig ließen: die dunkle Halle. Mit +frischem Grün waren ihre Pfeiler umwunden, hinter +purpurroten Fahnen verschwanden die alten schmucklosen +Wände. Das Parlament der Arbeiter tagte hier. Draußen +lachte die Oktobersonne, drinnen brannte über den langen +Tafeln künstliches Licht, das auf alle Gesichter scharfe +Schatten zeichnete, sodaß sie finster und feindselig erschienen. +Dumpf hing die Luft im Raum; der Atem +der Jahrhunderte war hinter den winzigen Fenstern gefangen +geblieben. Er beengte die Brust.</p> + +<p>Lange vor dem Beginn der Verhandlungen war der +Saal schon gefüllt. Anschwellendes Stimmengewirr, +Stühlerücken, Rascheln von Papier, — jenem Papier, +daß alle Süßigkeiten und alle Gifte der Welt auszuströmen +vermag, — bildete die in ihren ungelösten +Disharmonien aufreizende Ouvertüre. Zeitungsblätter +wurden hin- und hergezeigt: »Bernstein Apostata« stand +über dem einen Artikel, »Reinliche Scheidung« über +<a name="Page_319" id="Page_319"></a>einem zweiten; »wir werden mit dem Revisionismus +fertig werden, oder wir sind fertig,« hieß es an einer +rot angestrichenen Stelle, »die Genossen im Reich erwarten +eine klare Entscheidung,« an einer anderen. Von +der unausbleiblichen Spaltung der Partei sprachen frohlockend +bürgerliche Zeitungen; in linksliberalen Blättern +begrüßten Kathedersozialisten die Anhänger Bernsteins +als die ihren.</p> + +<p>Bureauwahl. Es hörte kaum jemand zu. Paul Singer +war anwesend, das Präsidium also von vornherein in +guten Händen. Die Begrüßungsreden der Ausländer +dämpften das Stimmengewirr im Saal. Frankreich, +wo der Dreyfus-Skandal noch im Mittelpunkt des Interesses +stand, wo Millerand, der Sozialdemokrat, mit +<ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'Jaurés'">Jaurès</ins>', des Sozialdemokraten, ausdrücklicher Zustimmung +das in den Augen der deutschen Radikalen unverzeihliche +Verbrechen begangen hatte, in das Ministerium +einzutreten, — Seite an Seite mit Gallifet, dem +Mörder der Kommune, — war nicht vertreten. Des +alten Liebknecht heftige Angriffe auf die Genossen jenseits +der Vogesen mochte an dieser Zurückhaltung nicht +ohne Schuld sein.</p> + +<p>Die Verhandlungen begannen. Mit ungeduldiger Hast +wurde ein Punkt der Tagesordnung nach dem anderen +erledigt. Alles drängte dem Hauptthema des Parteitages +zu. Und selbst mitten in die nebensächlichsten Debatten +hinein blitzte schon das Wetter der kommenden +Tage.</p> + +<p>»Sie stehen bereits mit der Brandfackel an unserem +Scheiterhaufen —,« sagte einer der Revisionisten neben uns.</p> + +<p>Am Abend, als wir Frauen zu einer internen Be<a name="Page_320" id="Page_320"></a>sprechung +zusammenkamen, fühlte ich: in Gedanken war +die »reinliche Scheidung« schon vollzogen. Wir berieten +einen Antrag für den Arbeiterinnenschutz, der unserer +nächsten agitatorischen Tätigkeit Inhalt und Richtung +geben, und dessen Forderungen durch den Parteitag +sanktioniert werden sollten. Im Grunde waren es lauter +Selbstverständlichkeiten. Nur der Schutz der Schwangeren +war neu. Ich hatte dafür gekämpft, obwohl ich +wie vor einer Mauer redete und sie hatten ihn nicht +ablehnen können, ohne sich selbst ins Gesicht zu schlagen. +Dafür waren sie um so hartnäckiger, als ich die Unterstellung +der Dienstboten unter die Gewerbeordnung in +den Antrag aufzunehmen empfahl. Das steht bereits +in unserem Programm, hieß es. Aber viele unserer +anderen Forderungen standen auch darin. Und gerade +jetzt wäre es wichtig gewesen, uns offiziell mit der Dienstbotenbewegung +solidarisch zu erklären. »Wir dürfen +unsere Kräfte nicht verzetteln.« — Damit war die Sache +abgetan.</p> + +<p>Die Frauen rückten nach der Besprechung freundschaftlich +zueinander, unterhielten sich mit wohltuender +Herzlichkeit mit all den Genossinnen, die aus Ost +und West hierher gekommen waren; mich streifte zuweilen +ein scheuer Gruß, ein fremder Blick; — ich +ging hinaus.</p> + +<p>In unserem Gasthof fand ich die Führer in erregte +Unterhaltung vertieft. Ihre Augen glühten in +jugendlichem Feuer, selbst die Ausbrüche ihrer Leidenschaft +bändigte der heilige Ernst, mit dem sie alle für +ihre Sache kämpften. Bebel war am stillsten; immer +wieder strich er sich nervös die widerspenstige Locke aus +<a name="Page_321" id="Page_321"></a>der Stirn; auf ihm lastete die Verantwortung der kommenden +Tage.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Kalt und grau brach der nächste Morgen an. Im +Ballhof kämpften die elektrischen Lampen umsonst +gegen das Dunkel; es hockte um so deutlicher +hinter den Pfeilern und zwischen den Tischen, je +heller in ihrem direkten Strahlenkreis das Licht erschien. +Nur langsam füllte sich heute der Saal, und nur wenige +Stimmen wurden laut. Ein gemessener Ernst lag +auf allen Gesichtern und eine zweifelvolle Erwartung. +Singer betrat das Podium:</p> + +<p>»... zur Verhandlung steht Punkt 4 der Tagesordnung: +›Die Angriffe auf die Grundanschauungen +der Partei‹. Das Wort hat der Berichterstatter Genosse +Bebel.« Noch ein heftiges Stühlerücken, dann +tiefe Stille.</p> + +<p>Bebels Stimme allein beherrschte den Raum.</p> + +<p>Im Gesprächston begann er, ruhig, fast gemütlich. +Jeder Zuhörer fühlte sich unwillkürlich persönlich angeredet. +Selbst als er die unbeschränkte Freiheit der +Kritik an den eigenen Grundanschauungen als die Lebenslust +der Partei bezeichnete, warf er den Satz nicht wie +einen Fehdehandschuh in die Menge, sondern sprach im +Tonfall der Konstatierung einer Selbstverständlichkeit. +Die Fragen der materialistischen Geschichtsauffassung, +der Dialektik, der Werttheorie schaltete er von vornherein +aus, — »der Kongreß ist kein wissenschaftliches +Konzil,« sagte er, — um zum Problem des Entwickelungsprozesses +der kapitalistischen Gesellschaft überzu<a name="Page_322" id="Page_322"></a>gehen, +das Bernstein anders darstellte als Marx +und Engels. Eine Fülle statistischer Berechnungen +schüttete er vor uns aus, um Bernsteins Ansichten zu +entkräften, um festzustellen, daß das marxistische Dogma +von der Zuspitzung der wirtschaftlichen Gegensätze, von +der relativen Verelendung des Proletariats noch unerschüttert +ist.</p> + +<p>Und angesichts der verwirrenden Masse des Materials, +an der die große Menge den Grad der Wissenschaftlichkeit +mißt, wie sie an der Häufigkeit der Zitate +den Grad der Bildung zu messen pflegt, ging ein +Flüstern staunender Bewunderung durch die Reihen, das +sich in einem »sehr richtig«, einem »hört, hört« wieder +und wieder Luft machte.</p> + +<p>Bebels Stimme schwoll an, seine Bewegungen wurden +lebhafter, seine kleine Gestalt reckte sich. Er malte +die Not des Proletariats. Die grollende Leidenschaft +dessen, dem das Elend Auge in Auge gegenübertritt, +zitterte in seinen Worten, und klein und jämmerlich erschien +dagegen, was Bernsteins nüchterne Schreibstubenweisheit +von der gebesserten Lage des Arbeiters zu berichten +gewußt hatte.</p> + +<p>Wie der peitschende Ostwind über die Baumwipfel, +so wehte seine Rede über die Köpfe. Und sie neigten +sich gedankenschwer, sie wandten sich einander zu; sie +hoben sich wieder, von einem Wort, das sie traf, emporgerissen. +Da und dort stand einer auf, wie magnetisch +angezogen von dem, der sprach. Eine dunkle Gruppe +Menschen umringte die Rednertribüne.</p> + +<p>Auf einmal aber war es der Wind nicht mehr, der +in den Ästen rauscht, — es war der Sturm. Die +<a name="Page_323" id="Page_323"></a>jugendstarke Kraft des Revolutionärs, die begeisterte +Schwärmerei des Glaubenshelden donnerte und brauste +in den Worten des Agitators. All der zaghafte Pessimismus, +all der unschlüssige Zweifel, all die resignierte +Bedenklichkeit, mit denen Bernstein die Seelen belastet +hatte, flog vor ihnen davon wie Spreu und Staub. +Und wie der Geisterbeschwörer aus dem Nebel Gestalten +entstehen läßt, so entwickelte sich unter dem Zauberstab +des Redners die Erscheinung des alten Marx. War er +es wirklich? Seltsam, — uns allen, die wir aufmerksam +zusahen, kam es vor, als habe Bernstein manche +Farben zu diesem Bilde gemischt. Was Bernstein wider +ihn gesagt hatte, das nahm Bebel für ihn in Anspruch: +Die Elendstheorie hat an den Tatsachen Schiffbruch +gelitten, sagte Bernstein, — nie hat Marx sie im Sinne +des absoluten Niederganges aufgefaßt, erklärte Bebel; der +Hinweis auf die Erlöserkraft der Revolution ist vom +Übel, sagte Bernstein, — auf die Evolution hat Marx +schon das größte Gewicht gelegt und niemals das Heil +im Straßenkampf gesehen, erklärte Bebel. Und während +er sein Feuerschwert gegen all die zückte, die vor lauter +Wenn und Aber den rücksichtslosen Kampfmut einzubüßen +im Begriffe standen, traf es auch die Inquisitoren, +die ihn besaßen, aber auf die Ketzer im eigenen +Lager zielten.</p> + +<p>Die Menge, die sich zuerst auseinandergerissen wie +Steine von einem Felssturz vor ihm ausgebreitet hatte, — jeder +die scharfe Kante feindselig wider den anderen +gekehrt, — schien wieder ein Marmorbruch, aus dem er +planvoll gewaltige Quadern schlug, die sich zu Grundmauern +zusammenschließen ließen.</p> + +<p><a name="Page_324" id="Page_324"></a>Fünf Stunden sprach er schon. Nun wich der Sturm +seiner Rede wieder dem ruhigen Gesprächston; sich +selbst zurückgegeben, atmete die Menge tief und gesättigt +auf. Noch einmal, wie der letzte ferne Donner +des Gewitters, hob sich seine Stimme in ungeschwächter +Kraft: »Unsere Grundanschauungen sind nicht erschüttert, — wir +bleiben, was wir waren —.« Tobender Beifall +verschlang den Schluß.</p> + +<p>Minutenlang stand der nächste Redner, Eduard David, +an Bebels Stelle, ehe seine Stimme den Lärm durchdrang. +»Ich habe den Mut, auch nach Bebels Referat, Bernstein in +seinen Anschauungen zuzustimmen,« sagte er. Irgendwo +zischte jemand, aber der Respekt vor dem ehrlichen Bekenntnis +unterdrückte rasch jeden Laut des Mißfallens. Kühl, +fast nüchtern sprach er; wer ihn auch nicht kannte, +empfand: er kam mitten aus der Praxis des politischen +Gegenwartslebens, er stand nicht mehr im Bann der +Tradition der Sekte mit ihrer Geheimbündelei, ihrem +Märtyrertum, ihrer Glaubensseligkeit. Er ließ das +grelle Licht des Tages auf die durch Bebel beschworene +Geistererscheinung von Marx fallen, und hinter ihr stand +der lebendige Bernstein. Wo Bebels Leidenschaft Gegensätze +verwischt oder sein Zorn die Ansichten des Gegners +niedergetrampelt hatte, da malte er sie groß und +deutlich, wie der Lehrer die Rechenaufgaben vor der +Klasse auf die schwarze Tafel. Keiner, der nicht blind +war, konnte sich ihnen verschließen. Und er rief in die +Wirklichkeit zurück, wo Bebel uns auf den Flügeln +seiner Phantasie in die Zukunft getragen hatte. »Die +höhere prinzipielle Bewertung der Gegenwartsarbeit, — das +ist es, was Bernstein uns gibt, und das ist mehr +<a name="Page_325" id="Page_325"></a>wert, als was er uns genommen hat,« erklärte er und +verkündete gegenüber der einseitigen Betonung des +Kampfs um die politische Macht — als des einzigen +Mittels, den Sozialismus zum Siege zu führen — die +Dreieinigkeit der gewerkschaftlichen, der genossenschaftlichen, +der politischen Bewegung, die durch tägliche +Arbeit dem Sozialismus einen Fußbreit Erde nach dem +anderen erobern.</p> + +<p>Nun erst war der Kampfplatz abgesteckt. Der Alltagsausdruck +trat an Stelle der Begeisterungsglut, die +Bebels Rede angefacht hatte, auf die Gesichter, und über +die Geister herrschten wieder, an Stelle des großen einigenden +Gedankens, all die Streitpunkte der praktischen +Politik.</p> + +<p>Durfte ich mich deshalb dem Gefühl des Bedauerns +überlassen, das mich momentan überwältigt hatte? Entsprang +nicht jenes instinktive Festhalten an den überkommenen +Anschauungen jener Schwerkraft des menschlichen +Geistes, die sich von je im Dogmatismus, im +Konservativismus, wie in Denkfaulheit und Bequemlichkeit +geäußert hat? Wir, die wir Vorkämpfer sein +wollten, waren verpflichtet, sie zu überwinden.</p> + +<p>Bewegte Tage kamen, ein Kampf, der nicht immer +ein Kampf der Meinungen blieb. Und das »Kreuzige!« +tönte am lautesten vom Munde der Frauen. +Wanda Orbin kreischte es in den Saal hinein; Luise +Zehringer, die Hamburger Zigarrenarbeiterin, wiederholte +es; eine kleine polnische Jüdin, die eben erst in +die deutsche Partei eingetreten war, kritisierte mit der +Sicherheit einer Parteiautorität die Ansichten und Handlungen +bewährter Führer. Und die Masse klatschte ihr<a name="Page_326" id="Page_326"></a> +Beifall. »Sehen Sie, — das ist eine Politikerin,« sagte +ein Journalist, »je respektloser sie die Auer und +Vollmar und Bernstein abkanzelt, desto sicherer ist ihr +Erfolg.«</p> + +<p>Immer deutlicher sonderten die Parteien in der Partei +sich voneinander ab; über dem tiefer und tiefer wühlenden +Streit vergaßen auch die Leichtsinnigsten die Vergnügungen +des Abends; Sitzungen wurden statt ihrer +abgehalten. Es gab dabei Augenblicke, in denen es +schien, als würden die Radikalen vor dem äußersten +nicht zurückschrecken. Die uneingeschränkte Anerkennung +des Parteiprogramms wollten sie fordern, wie der +orthodoxe Priester den Schwur auf das Apostolikum. +Und jeder begann im stillen die große Abrechnung mit +sich selbst.</p> + +<p>Zum ersten Mal kam mir zum Bewußtsein, was +all die Jahre hindurch die unbekannte Quelle meiner +Kämpfe und Schmerzen gewesen war: die Sache forderte +den ganzen Menschen restlos, ich aber wollte im +Kampfe für sie ich selber bleiben. Und zu gleicher Zeit +schien mir, als ob zuletzt kein anderes als dies Problem +all den Kämpfen, die wir führten, zugrunde lag.</p> + +<p>»Warum bist du so stumm?« fragte mein Mann, als +wir in der Mittagspause zusammensaßen.</p> + +<p>»Weil ich anfange zu fürchten, daß ich kein Recht habe, +Genosse zu sein. Ich bin ja auch kein Christ —.« Verständnislos, +ein wenig erschrocken, als zweifle er einen Augenblick +an meinen gesunden Sinnen, sah Heinrich mich +an. Ich legte meinen Arm in den seinen. »Hab keine +Angst, Liebster, — ich dachte niemals klarer als jetzt! +Hingabe an den Willen Gottes bis zur Selbstentäuße<a name="Page_327" id="Page_327"></a>rung +fordert das Christentum, Hingabe an den Willen +der Massen der Sozialismus. Ob es zwischen dieser +Forderung und dem Persönlichkeitsrecht eine Brücke gibt, +das weiß ich im Augenblick ebensowenig, als wir es in +der Partei wissen.«</p> + +<p>»Deine Formulierung ist falsch, ganz und gar falsch,« +entgegnete Heinrich erregt, »nicht an den Willen, sondern +an das Wohl der Massen wird die Hingabe verlangt.«</p> + +<p>»Und doch verlangt Ihr als etwas Selbstverständliches +das Opfer der Überzeugung,« unterbrach ich ihn.</p> + +<p>Wir traten in den Saal. Mit einer fiebrigen Nervosität, +die alle ergriffen hatte und manche jener robusten +sehnigen Arbeitergestalten tragikomisch erscheinen +ließ, rissen die Delegierten den austeilenden Ordnern +die neuen Drucksachen aus der Hand. Es war Bebels +Resolution in neuer Fassung. Wir verglichen.</p> + +<p>»... Nach alle diesem liegt für die Partei kein +Grund vor, ihr Programm ...« las ich. »Jetzt heißt +es: ›ihre Grundsätze und Grundforderungen‹ zu ändern« +las Heinrich, »damit können wir uns ohne weiteres +einverstanden erklären,« fügte er hinzu, und mit einem +lächelnden Blick auf mich: »Du siehst, die Klippe tragischer +Konflikte ist glücklich umschifft.«</p> + +<p>Auer kam an uns vorüber. In seinem Gesicht wetterleuchtete +es. »Jetzt werde ich ihnen einmal zum Tanz aufspielen,« +sagte er in grimmigem Scherz. Dabei sah ich, wie +seine Finger sich zur Faust zusammenzogen. Von allen +Seiten, schriftlich und mündlich, direkt und indirekt war +er angegriffen worden. Er, der sich zur Bernsteinfrage +in der Öffentlichkeit überhaupt nicht geäußert hatte, +<a name="Page_328" id="Page_328"></a>galt als der eigentliche und der gefährlichste Führer der +Revisionisten, als der Abtrünnige.</p> + +<p>Die Luft im Saal war immer schwerer geworden. +Oder war es nur die gesteigerte Reizbarkeit der Nerven, +die sie so empfand? Irgendeine Entladung mußte +kommen. Mit Naturnotwendigkeit schien jeder Redner +die Gegensätze ins Absurde steigern, den Gegner bis +zur Lächerlichkeit herabsetzen zu müssen. Die Zuhörer +wurden unruhiger. Man ging ab und zu, man unterhielt +sich.</p> + +<p>Da betrat Auer die Tribüne. Mit dem leisen +Spott der Überlegenheit um die Lippen sah er über +die Menge hinweg. Dann kam die Abrechnung. Unwillkürlich +senkten sich alle Köpfe vor diesem gewaltigen +Ausbruch eines feuerbergenden Kraters. Eine +öffentliche Anklage war es, und am Pranger standen +alle, die den befreienden Streik der Gedanken in ein +lähmendes Gezänk um Personen verwandelt hatten. +Und eine Verteidigung war es, — eine Verteidigung +des Mannes, den dieselbe Partei, um deretwillen er +aus dem Vaterland verbannt worden war, des Verrats +bezichtigte; — aber auch eine Verteidigung seiner selbst, +des in der jahrzehntelangen Parteiarbeit aufgeriebenen +Kämpfers. Seine breiten Hände, — bestimmt, einen +Hammer zu führen oder ein Schwert, — umklammerten, +zuweilen krampfhaft zuckend, den Rand des Rednerpults. +Sie waren am Schreibtisch, in der eingeschlossenen +Bureauluft weiß geworden. Das stolze Germanenhaupt, +dem ein Ritterhelm gebührte, sank leise nach vorn. Die +Sorgen der Partei lasteten schwer auf ihm. Das Antlitz, +das auf den Bergen seiner Heimat, der Sonne am +<a name="Page_329" id="Page_329"></a>nächsten, braun und rot sich hätte färben müssen, war +grau und fahl. Durchwachte Nächte sprachen aus seinen +Augen.</p> + +<p>Gereizte Zurufe unterbrachen ihn, — zu wuchtig fielen +seine Schläge. Und seine Stimme, durch hunderte +von Reden, hunderte von Agitationsreisen abgenutzt, +drohte zu versagen. Noch eine die Luft durchschneidende +Bewegung mit der Hand, als wolle er ausstreichen, +was sich doch unauslöschlich seiner Erinnerung eingeprägt +hatte, noch ein Witz, den er in die Masse warf, +wie der Tierbändiger einen Knochen zwischen die Tiger, +und der Strom seiner Rede erreichte in ruhigem Fluß +sein Ziel.</p> + +<p>Die Resolution Bebel wurde angenommen, nur ein +kleines Häuflein Unentwegter, die noch immer ihr »Kreuzige!« +schrieen, stimmte dagegen.</p> + +<p>»... Auch auf diesem Parteitag hat es sich gezeigt, +daß die Partei über ihre Grundsätze und ihre Taktik +einheitlich denkt und auch fernerhin in voller Einmütigkeit +handeln wird ...,« sagte Singer zum Schluß. Die +Arbeitermarseillaise brauste durch den Ballhof. Hörte +niemand die Dissonanz? Es waren nicht die Geister +der Vergangenheit, die Prinzessinnen, die Kurfürsten und +die Könige, die sie hervorriefen. Es war der Geist der +Zukunft.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_330" id="Page_330"></a></p> + +<p>Müde und erschöpft reisten wir heimwärts. Es +dämmerte, als wir vom Bahnhof zum Grunewald +fuhren. Wie herrlich die Stille war +in den breiten Alleen! Wie erfrischend der Duft der +Kiefern den heißen Kopf umstrich! Statt der vielen +Menschenstimmen nur ein abendlich-süßes Vogelgezwitscher! +Wer doch im Walde bleiben könnte! —</p> + +<p>Mit jenem feinen Taktgefühl, das auf dem Baume +alter Kultur eine der köstlichsten Früchte ist, hatte meine +Mutter, kurz ehe wir ankamen, das Haus verlassen. +So konnten wir uns ungeteilt am Wiedersehen mit unserem +Jungen freuen. Mir schien, als wären wir +Wochen statt Tage weg gewesen: war er nicht viel +größer und viel klüger geworden? Und wie entzückend +ringelten sich die blonden Löckchen um den breiten +Schädel! In übersprudelndem Eifer mußte er alles erzählen, +alles zeigen. Seinen Bauernhof packte er vor +mir aus, nahm die Bäume und rief: »Nu laufen sie +zu dem lieben, duten Mamachen!« »Aber Bäume laufen +doch nicht!« meinte ich. Darauf nickte er altklug mit +dem Köpfchen und sagte: »Doch, Mama; in der Elektrischen, +da laufen die Bäume.« Und als er zur Feier +des Tages mit uns zu Abend gegessen hatte, rutschte er +geschickt von seinem hohen Stühlchen, stellte sich breitbeinig +vor uns hin und rief: »Ich bin satt!« Das +erste »Ich«! — Lachend schloß ich ihn in die Arme: +Nun war mein Kind ein Mensch geworden. Alle Probleme +der Welt verschwanden mir wieder angesichts dieses +Wunders.</p> + +<p><a name="Page_331" id="Page_331"></a>Am nächsten Morgen saß ich am Schreibtisch +und rechnete. Die Angst trieb mir Schweißtropfen +auf die Stirn: schon das nächste +Vierteljahr würden wir die Zinsen nicht zahlen können. +Wie hatte ich als Mädchen gezittert, wenn die Rechnungen +kamen, die der Mutter Tränen erpreßten! Es +war das reine Kinderspiel gewesen im Vergleich mit +meiner Situation. »Mach dir doch keine Sorgen, ehe das +Unglück da ist,« sagte mein Mann ärgerlich, als er sah, +wie verstört ich war.</p> + +<p>Ich wurde krank. Die alten unausbleiblichen Schmerzen, +die jede Erregung zur Folge hatte, stellten sich mit +erschreckender Heftigkeit wieder ein. Und abends, wenn +ich todmüde in die Kissen sank, klopfte mir das Herz +bis zum Halse herauf. Ich war genötigt, ein paar Versammlungen +abzusagen. Ich war froh darüber: in einem +Zustand geistiger und körperlicher Erschlaffung verbrachte +ich meine Tage.</p> + +<p>»Wir haben einen Käufer!« mit der Botschaft überraschte +mich mein Mann eines Morgens. Ich zweifelte +noch. Aber bald darauf kam er selbst, und in wenigen +Tagen war der Kauf abgeschlossen.</p> + +<p>»Siehst du nun ein, wie töricht es war, sich zu +fürchten?« sagte Heinrich. Beschämt senkte ich den Kopf. +»Ich will in Zukunft mutiger sein,« versicherte ich.</p> + +<p>Schon im Januar sollten wir das Haus verlassen. +Dann wollen wir von vorne anfangen, dachte ich, +und begann eifrig nach einer bescheidenen Wohnung zu +suchen.</p> + +<p>Bin ich erst in Ruhe, so werde ich auch gesund +<a name="Page_332" id="Page_332"></a>werden, sagte ich zu mir selbst, wenn die Schmerzen nicht +weichen wollten und das Herz mich nicht schlafen ließ.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Eines Abends nahm ich wieder an einer Sitzung +der Genossinnen teil. Wie die Befreiung von +den persönlichen Sorgen mich aus der Erstarrung +aufgerüttelt hatte, so elektrisierten mich jetzt +die politischen Vorgänge wieder. Das Zuchthausgesetz +war endgültig begraben worden, aber trotz aller gegenteiligen +Versicherungen drohte eine neue gewaltige Flottenvermehrung.</p> + +<p>»Unter den Waffen schweigen die Musen,« erklärte +ich, als wir die Aufgaben besprachen, die der kommende +Winter uns stellte, und einige der Frauen den Arbeiterinnen-Bildungsverein +und seine Veranstaltungen in den +Vordergrund schieben wollten. »Wir müssen unsere +Kräfte konzentrieren: auf die beschlossene Agitation für +den Arbeiterinnen-Schutz und auf den Kampf gegen die +neue Volksausbeutung.«</p> + +<p>»Wenn wir so sicher wie stets auf Genossin Brandts +wertvolle Unterstützung rechnen können, wird der Sieg +uns nicht fehlen,« spottete Martha Bartels und berichtete +dann, wie ich durch die kürzlich »angeblich« +wegen Krankheit erfolgten Absagen die Sache geschädigt +hätte.</p> + +<p>»Unsichere Kantonisten können wir nicht brauchen,« +sagte Frau Resch, die seit ihrer Delegation nach Hannover +sehr selbstbewußt geworden war.</p> + +<p>Während ich antwortete, drückte ich die Hand krampfhaft +in die Seite, wo die Schmerzen wühlten, und +<a name="Page_333" id="Page_333"></a>suchte, tiefatmend, die wilden Schläge meines Herzens +zu beruhigen. Aber trotz meiner Verteidigung, setzte +der Zank sich fort. Und plötzlich war mir, als drehe +sich das Zimmer um mich —, ohnmächtig brach ich +zusammen. Als ich zu mir kam, übersah ich mit +einem einzigen Blick die Situation: Ida Wiemer hielt +mich umschlungen, auf ihren Zügen lag ein Schimmer +aufrichtiger Teilnahme; aber steif und unbeweglich +saßen alle anderen um den Tisch, die Augen auf mich +gerichtet, voll Hohn und Spott, voll Kälte und +Mißtrauen. Ein eisiger Schauer lief mir über den +Rücken. Ich preßte die Zähne zusammen und erhob +mich. In dem Augenblick kam mein Mann. Der Kellner +hatte mich fallen sehen und ihn, der im Restaurant auf +mich wartete, benachrichtigt. Auf seinen Arm gestützt, +verließ ich das Zimmer. Niemand erhob sich. Niemand +sagte mir Lebewohl.</p> + +<p>Wir fuhren noch in der Nacht zum Arzt. Er machte +ein bedenkliches Gesicht. »Ein paar Monate im Süden, +und Sie können genesen,« sagte er. Ich empfand seinen +Bescheid wie eine Erlösung. Fort, — weit fort, wo +ich Ruhe finden, wo ich wieder zu mir selber kommen +würde!</p> + +<p>Wir entschieden uns für Meran. Der Überschuß, +der uns vom Kaufpreis des Hauses bleiben würde, +ermöglichte die Reise. Mein Kind nahm ich mit. Und +eine große Kiste mit Büchern und Manuskripten. »Nun +werde ich ungestört meine ›Frauenfrage‹ vollenden können,« +sagte ich hoffnungsvoll.</p> + +<p>»Wenn der Arzt dir das Arbeiten erlaubt,« meinte +mein Mann und sah dabei traurig drein. »Ich werde +<a name="Page_334" id="Page_334"></a>ihn nicht erst fragen,« lachte ich; »Arbeit ist für mich +die beste Medizin.«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Silvester 1899 kamen Erdmanns mit der Mutter +zu uns. Als es Mitternacht schlug, rissen wir +alle die Fenster auf und riefen ein schallendes +»Prost Jahrhundert!« in die sternhelle Nacht hinaus. Da +war keiner, dem das Vergangene nicht wie ein Alp von +der Seele gefallen wäre. Und unsere Hoffnungen waren +riesenstark. Nur die Mutter sah sorgenvoll von einem +zum anderen: zu Erdmann, dessen eingesunkene Brust +nach jedem lauten Wort trockener Husten erschütterte, +zu Ilse, deren Blicke halb ängstlich, halb verschüchtert +an ihrem Gatten hingen, zu uns, von deren Kämpfen +sie manches ahnen mochte.</p> + +<p>Schatten gingen um. Ich mußte sie bannen. Aus +dem Bettchen droben, wo es mit heißen Wangen schlief, +nahm ich mein Kind und trug es hinunter. Im Licht +der Lampen schlug es die strahlenden Augen auf. Ich +hatte es jubelnd emporheben wollen, nun aber drückte +ich es zärtlich ans Herz und flüsterte leise, ganz leise, +damit die anderen nichts hörten: »Dein ist das Jahrhundert.«</p> + +<p>Wenige Tage später schloß sich die Pforte des grauen +Hauses hinter uns. Die Wipfel der Kiefern bewegten +sich leise über dem Dach. Schwarz standen ihre Stämme +vor den blumenlosen Fenstern. In jubelnder Vorfreude +auf die Reise warf mein Junge keinen einzigen Blick +zurück. So wollte auch ich nur vorwärts sehen.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_335" id="Page_335"></a></p> +<h2><a name="Zehntes_Kapitel" id="Zehntes_Kapitel"></a>Zehntes Kapitel</h2> + + +<p>Ein eisiger Wind pfiff aus dem Passeier Tal +über Meran; die Schneeflocken fielen so dicht, +daß es aussah wie lauter weiße Schleier, die +der Winter, mißgünstig, einen nach dem anderen der +Natur vor das schöne Antlitz zog. Und ich war mit +der ganzen Sonnensehnsucht des Deutschen, der jenseits +des Brenners zu jeder Jahreszeit blauen Himmel und +blühende Bäume erwartet, gen Süden gefahren!</p> + +<p>»Du hast mir das Sommerland versprochen, — ich +will ins Sommerland —,« weinte mein Bübchen, als +es am ersten Morgen aus dem Fenster unseres kleinen +Zimmers in die weiße Welt hinaussah. Während ich +ihn durch lauter Hoffnungen zu beruhigen suchte, fröstelte +auch mich.</p> + +<p>Das Sanatorium »Iduna«, das westlich von Meran +einsam zwischen Wiesen und Obstbäumen lag, +war uns empfohlen worden. »Es nimmt nur eine +beschränkte Anzahl von Patienten auf, bewahrt daher +den Charakter eines behaglichen Privathauses,« hieß es +im Prospekt. In Wirklichkeit war's ein altes Landhaus, +das, wie so viele seinesgleichen im Süden, mit dünnen +Wänden und zugigen Fenstern den Winter zu ignorieren +schien. Ein paar eiserne Ofen strahlten stundenweise +<a name="Page_336" id="Page_336"></a>rotglühende Hitze aus, um dann wieder kalt, schwarz +und feindselig dazustehen, als freuten sie sich des grausamen +Spiels mit den armen Bewohnern.</p> + +<p>Ich hatte nicht schlafen können: der Wind rüttelte +an den Fenstern, mein Sohn warf sich unruhig in dem +ungewohnten großen Bett hin und her, und ein hohler +Husten, nur von stöhnenden Seufzern unterbrochen, klang +aus dem Zimmer unter uns unaufhörlich zu mir empor. +Müde und abgespannt ging ich zum Frühstück in den +Eßsaal, — einer verglasten Veranda, durch deren breite +Fenster der Winter von allen Seiten hereinsah. In +der Mitte stand der lange schmale weißgedeckte Tisch, +darauf in nüchterner Regelmäßigkeit Reihen weißer +Teller und Tassen. Eine Frau saß daran in schwarzem +Kleid mit vergrämten Zügen, neben ihr im Rollstuhl +ihr blasser Mann, finstere, gerade Falten auf der Stirne, — einer +jener Kranken, die hoffnungsloses Leiden böse +gemacht hat, — ihm gegenüber am äußersten Ende der +Tafel ein schmalbrüstiger Jüngling, dessen Antlitz nur +noch mit der Haut bespannt schien, — einer fahlen, +graugelben —. Ich zögerte an der Schwelle, mir +grauste vor dem Bilde, in dem alle Farben des Lebens +erloschen waren.</p> + +<p>Da sprang mein Kind an mir vorbei, im feuerroten +Kleidchen, mit frischen Wangen und glänzenden Augen. +Und der ganze Raum war erhellt. Ein freundliches +Lächeln spielte um die blutleeren Lippen des Jünglings; +die Falten auf der Stirn des Gelähmten glätteten sich, +nur die Frau im schwarzen Kleid wandte wie verletzt +den Kopf zur Seite.</p> + +<p>Ich wäre am liebsten wieder fortgezogen. Aber ich +<a name="Page_337" id="Page_337"></a>war viel zu müde, viel zu apathisch dazu. Der Arzt, +ein gütiger alter Mann mit weichen Frauenhänden, versprach +mir ein anderes Zimmer mit einem Balkon nach +Süden. »Das unter Ihnen,« sagte er, »der Herr reist +ab —,« dabei verschleierten sich seine hellen Augen. +Dann gab er mir Verhaltungsmaßregeln. »Meine wichtigste +Verordnung ist: ein Kindermädchen. Sie müssen +Ruhe haben, — Tag und Nacht, der Bub dagegen soll +sich tüchtig Bewegung machen,« begann er.</p> + +<p>Ruhe, — schon das Wort war wie einlullendes Streicheln. +Am nächsten Tage brachte er mir ein hübsches, +brünettes Landmädchen, das mir gefiel; sie zog mit dem +Kleinen, der sich an die lustige Gefährtin rasch gewöhnte, +in das Zimmer nebenan. Nun erst fühlte ich, wie krank +ich war: den ganzen Tag lag ich still, und bewegungslos +wie mein Körper waren Gedanke und Gefühl. Auch +meine Umgebung störte mich nicht mehr; — wenn ich +nur mein Bett hatte und meinen Liegestuhl.</p> + +<p>»Nun wird er bald abreisen,« sagte der Arzt eines +Tages und drückte mit der Spitze des Zeigefingers in +den Augenwinkel, als sei ihm ein Staubkörnchen hineingeflogen.</p> + +<p>»Dann soll ich hinunter?« fragte ich und dachte entsetzt +an die Mühe des Umräumens. »Ja,« meinte er, +»denn nun es täglich wärmer wird, müssen Sie in +der Sonne liegen.« »In der Sonne?!« Ich lächelte +ungläubig. Seit einer Woche hatte der Schnee sich in +Regen verwandelt.</p> + +<p>Die Nacht darauf kam ich nicht zur Ruhe. Ich warf +mich im Bett hin und her, und plötzlich wußte ich, was +mir fehlte: der regelmäßige Husten unter mir war ver<a name="Page_338" id="Page_338"></a>stummt; +die Stille lastete auf mir, die unheimliche Stille. +Bald danach war mir, als gingen Gespenster um: das +huschte im Haus auf leichten Sohlen, das wisperte und +flüsterte, — knarrend öffnete sich unten eine Tür. Ich +erhob mich und trat ans Fenster: ein Leiterwagen stand +im Garten; Männer waren darin, die sich durch Gebärden +mit denen im Hause zu verständigen schienen; +und auf einmal schwebte etwas in der Luft dicht unter +mir, etwas Schwarzes, Großes, — der Regen klatschte +darauf, — eintönig. Schon wollt' ich schreien, — da +geriet das Schwarze in den Lichtkreis der nächsten +Laterne: es war ein Sarg.</p> + +<p>Ich schwankte ins Bett zurück und verkroch mich zitternd +unter der Decke. So war er »abgereist«! —</p> + +<p>Ich sah wieder die Glasveranda vor mir im Schneelicht, +mit den Menschen, deren Körper im Sterben +lagen, oder deren Seelen schon gestorben waren. Und +das Badhaus fiel mir ein mit den dunkeln Holzwannen, +in denen das Wasser aussah, als wäre es +Schlamm. Willenlos war ich hineingestiegen, hatte mir +Gesundheit holen wollen, wo Krankheit in allen Ritzen +und Fugen lauernd saß. Und mein Kind hatte ich die +Pestluft atmen lassen!</p> + +<p>Noch in der Nacht fing ich an zu packen. Früh +fuhr ich nach Meran und drüber hinaus nach Obermais, +so hoch und so weit als möglich. Dort fand ich +neben alten efeuumsponnenen Schlössern ein freundliches +Haus zwischen Nußbäumen und Weinreben.</p> + +<p>Am selben Abend zogen wir ein.</p> + +<p>Es war, als ob der Winter uns nicht hätte folgen +können. Die Berge entschleierten sich. Der Schnee, +<a name="Page_339" id="Page_339"></a>der eben erst wie ein Leichentuch die Erde verhüllt hatte, +blitzte jetzt im Sonnenlicht wie eine Hochzeitskrone auf +ihren Häuptern. Errötend entfalteten sich an den Mandelbäumchen +die ersten Blüten. Ich lag auf der Veranda +und ließ mich wie sie von der Sonne durchglühen und +fühlte, daß auch mir die Lebensfarbe in die Wangen +stieg. Täglich brachte mir mein Söhnchen frische Wiesenblumen.</p> + +<p>»Ich werde dich führen, Mamachen, wenn du +nicht mehr Auau hast,« schwatzte er, »zu den so vielen +Vergißmeinnicht, und zu den Musikmännern auch, wo +die Damen und Herren sind.« Ich lachte ihn an: wirklich, +die Sehnsucht nach dem Leben regte sich wieder +in mir. Liegen sollt' ich, immer liegen, sagte der +Arzt, weil mein Herz noch nicht ruhig genug war. +»Dann müßt' ich liegen bis ich neunzig Jahr alt bin,« +antwortete ich ihm, »denn daß mein Herz so gegen alle +Vorsicht klopft, ist nur ein Beweis, daß ich lebe.«</p> + +<p>Einmal wachte ich auf nach erquickendem Schlaf, +streckte und reckte mich und blinzelte in die Sonne. +Mir war so wohl, — so wohl! Warum nur?! Und +in mir antwortete es ganz deutlich: weil du frei bist. +Ich sah mich erschrocken um, als könnte irgend jemand +dies tiefe Geheimnis, daß ich kaum mir selbst gestand, +erkundet haben. Ich war frei — wirklich frei; ich +konnte tun, was ich wollte, ohne vorher all jene bohrenden +Fragen erst beantworten zu müssen: stört es den +Anderen? Verletzt es ihn? Beeinträchtigt es seine Ruhe, +seine Wünsche, seine Liebe? Jetzt, zum Beispiel, konnte +ich aus dem Bette steigen und lustig einen Walzer +trällern, — läge Heinrich neben mir, ich würde mich +<a name="Page_340" id="Page_340"></a>aus Rücksicht auf seinen Schlaf ganz, ganz still verhalten. +Und dann konnt' ich gemächlich im Wasser +planschen, mich ankleiden, mir die Haare ordnen, ohne +jene quälende Scham des Häßlichen, des Unästethischen, — die +einzig berechtigte zwischen zwei Menschen, die einander +lieb haben, und die einzig notwendige, wenn sie +ihrer Liebe den Zauber des ersten Rausches erhalten +wollen. Die Ehe der meisten ist ein Erwachen aus ihm, +mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge. Sie +wissen nicht, daß die Liebe eine zarte, kostbare Blume +ist, die sorgsamer Pflege bedarf. Sie pflanzen sie in den +Küchengarten und wundern sich dann, wenn sie eingeht.</p> + +<p>Ich war frei — wirklich frei. Und ich konnte hingehen, +wohin ich wollte! Ganz erstaunlich kam mir das +vor, — gerade, als ob die Welt mir auf einmal ihre +Tore aufschlösse. In den ersten Jahren meiner Ehe +hatte Heinrich mich auf jedem Weg begleitet, — aus +zärtlichster Liebe, nicht etwa aus Mißtrauen oder aus +Eifersucht. Und ich hatte keinen anderen Weg machen +können, als der ihm recht war. Zuweilen war ich heimlich +die Hintertreppe hinuntergestiegen, nicht, weil ich +ein Geheimnis vor ihm gehabt hätte, sondern nur um +einmal ohne innere Hemmung in den Straßen herumlaufen +zu können. Allmählich hatte unsere verschiedenartige +Tätigkeit dem steten Zusammensein ein Ende gemacht; +aber selbstverständlich blieb, daß ich ihm erzählte, +wo ich gewesen war, was ich getan hatte. Und da ich +ihn nicht unzufrieden machen, nicht ärgern wollte, so +stand ich doch stets in seinem Bann. Wenn ich einmal +seiner Empfindung zuwider gehandelt hatte, so kam es +vor, daß ich — log.</p> + +<p><a name="Page_341" id="Page_341"></a>Kaum, daß der Gedanke daran in mein Bewußtsein +trat, als ich ihn auch schon, dunkel errötend, zurückweisen +wollte. Aber je mehr ich mich mühte, desto +klarer stand er vor mir. Ich mußte ihm Auge in Auge +sehn: »Es kam vor, daß ich meinen Mann belog.« +Nicht, weil ich ihn hintergehen, sondern weil ich ihn +nicht ärgern, nicht erregen wollte. Aus Liebe also! +Oder aus Furcht?! So lernen die Frauen lügen, weil +sie des Mannes Besitztum sind, weil die Ehe ihre Persönlichkeit +auslöscht wie ihren Namen. Wie vielen, die +gerade gewachsen waren, hat sie das Rückgrat zerbrochen! +Und sie verlieren nach ein paar Jahren der Ehe ihre +Physiognomie, — sind farblos, zermürbt.</p> + +<p>Ein brennendes Verlangen nach Menschen überkam +mich. Wie war ich doch mein Leben lang an den +bunten Schwarm um mich gewöhnt gewesen! In den +letzten Jahren hatte er sich mehr und mehr verflüchtigt. +Den alten Freunden war ich gestorben, seit ich Sozialdemokratin +geworden war; neue hatte ich unter den +Genossen nicht gefunden, und von den Künstlern, von +den Gelehrten, die unsere Räume einmal betraten, kamen +nur wenige wieder. Romberg war im Grunde unser +einziger Verkehr gewesen. Und der wohnte nicht in +Berlin.</p> + +<p>Woher kam das alles? War ich weniger anziehend +als die Frauen, die »ein Haus ausmachten«? +Waren sie geistreicher als ich? Ich schürzte spöttisch die +Lippen. Stießen sich die Sittenstrengen noch immer an +der Geschichte meiner Eheschließung? Sie machten sich +doch sonst nichts daraus, mit Frauen zu verkehren, die +»eine Vergangenheit« hatten, die Gegenwart geblieben +<a name="Page_342" id="Page_342"></a>war! Nein, in alledem lag die Ursache nicht. Bei +meinem Manne, schien mir, war sie zu suchen. Er war +ein Menschenschwärmer gewesen, leicht geneigt, zu bewundern +und zu verehren und sich den anderen gegenüber +gering zu achten. Um so schmerzhafter hatte jede, +auch die leiseste Enttäuschung ihn getroffen, und je +häufiger sie sich wiederholte, desto scheuer zog er sich +zurück, desto mißtrauischer wurde er. Und für jenen +leichten Verkehr, der wie mit Libellenflügeln nur die +Oberfläche des Lebensstromes streift, war er zu schwerblütig. +Er hatte nie getanzt; — seltsam, daß mir das +erst heute einfiel. Er hatte nie gelernt, eine Gesellschaftsmaske +zu tragen. Darum fühlten sich immer nur +die Menschen, die er aufrichtig gern hatte, wohl bei uns. +Die anderen stieß er ab.</p> + +<p>Draußen lachte der Frühlingstag. Zwischen blühenden +Bäumen und Beeten von Hyazinthen spielte die +Musik fröhliche Weisen, die Passer sprang dazu in entfesselter +Wildheit über Stock und Stein. Ich ging mit +meinem Buben an der Hand zwischen der Menschenmenge +hin und her. Ich freute mich, als wäre ich +zwanzig Jahr, über die bewundernden Blicke, die uns +folgten. Täglich wollt' ich von nun an hinuntergehen, +Sonnenschein trinken und Lebenslust. Ich traf Bekannte +und geriet durch sie in einen Kreis fröhlicher +Weltbummler. Wie gut das tat, einmal wieder unterzutauchen +in Glanz und Freude! Einmal wieder lachen +zu können aus Herzensgrund! Bewundernde Blicke zu +fühlen! Man brachte mir täglich Blumen, — jene +großen glühenden Rosen von Meran, deren Duft nicht +an Gärten erinnert, sondern an berauschende Essenzen +<a name="Page_343" id="Page_343"></a>des Morgenlandes. Ich ließ mir gefallen, daß man +mir huldigte; ich spielte mit heißen Gedanken, wie ein +Kind mit rotleuchtenden Giftblumen. Eines Abends, +während bunte Lichterkränze sich an den alten Bäumen +vor dem Kurhaus von Ast zu Ast schwangen und die +Geigen der Zigeunerkapelle in die laue Nacht hinein +seufzten und lockten, ließ ich mich in den Kursaal +führen, um den Tanzenden zuzuschauen. Süße Walzermelodien +umschmeichelten meine Sinne. Der Rausch +des Tanzes ergriff mich. Willenlos überließ ich mich +ihm. Erst als der letzte Ton verklagen war, kam ich +zu mir und erschrak. Leichtsinn und Genuß, die Zaubergeister, +drohten mich in ihre Gewalt zu bekommen. +Das durfte nicht sein!</p> + +<p>»Meran fängt an, schwül zu werden,« schrieb ich am +nächsten Morgen an meinen Mann; »so sehr die weiche +Luft meiner Gesundheit nützte, so sehr schädigt sie meine +Arbeitskraft. Und ich wünsche jetzt nichts mehr, als +mich Hals über Kopf in meine Arbeit zu stürzen. Darum +möchte ich fort. Der Arzt verordnet mir Höhenluft; +ich selbst fühle, daß ich etwas Starkes, Herbes +atmen müßte. Wollen wir nicht miteinander irgend ein +stilles Plätzchen suchen? Wir waren lange genug getrennt..«</p> + +<p>Statt aller Antwort kam er selbst. »Ich habe gewartet, +bis du mich rufen würdest —, es ist mir schwer +genug geworden,« flüsterte er zärtlich, »nun aber wirst +du mich nicht mehr los.« Dunkel errötend barg ich +den Kopf an seiner Brust.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_344" id="Page_344"></a></p> + +<p>An der Ampezzostraße, südlich von Cortina, liegt +ein kleines Dorf, Pezzié genannt. Zwischen +seinen braunen, ärmlichen Hütten ragte ein +einzelnes Bauernhaus mit weißgetünchten Mauern und +großen Altanen stattlich hervor. Über ein Vierteljahr +wohnten wir dort in tiefster Stille und Zurückgezogenheit. +Im Lärchenwald hinter dem Hause spielte mein +Junge mit den braunen Bauernkindern, auf der Altane, +angesichts des weiten blühenden Tals und des gewaltigen +schneebedeckten Felsenmassives der Tofana, fing +ich wieder an zu arbeiten. Wenn mir in den vergangenen +Wochen die Aufgabe eingefallen war, die ich +mir mit meinem Buch gestellt hatte, so war sie mir wie +ein unübersteigbarer Berg erschienen. Jetzt, da ich sie +aufs neue in Angriff nahm, war mir's, als habe all +die Zeit hindurch eine fremde Kraft unter der Schwelle +meines Bewußtseins weiter an ihr gearbeitet.</p> + +<p>Oder sollten Gedanken wie Samen sein, die einmal +in den Boden des Geistes gestreut, sich aus eigener +Macht weiter entwickeln? Die vielen Zahlen, die ich +in meinen Büchern vor mir hatte — Ergebnisse der +Volks- und Berufszählungen europäischer und außereuropäischer +Länder, Lohn- und Arbeitsstatistiken —, +wurden merkwürdig lebendig, als zuckten in ihnen die +Leiden der Millionen. Immer deutlicher sah ich das +Bild, das ich zu malen hatte: den Zug der Frauen, +wie er durch glutheiße Wüsten und rauhe Steppen dahinschleicht, +jede einzelne in ihm gebeugt unter den +Lasten, die sie zu tragen hat: der Hacke und dem Spaten, +<a name="Page_345" id="Page_345"></a>der Sichel und der Spindel, dem einen Kinde auf dem +Rücken, dem anderen unter dem qualvoll klopfenden +Herzen. Was mich zuerst nur wie ein Instinkt in die +Reihen der kämpfenden Arbeiterschaft geführt hatte, das +wurde mir jetzt zur bewußten Erkenntnis: die Berufsarbeit +der Frau, die ihre Entstehung der Umwandlung +der Produktionsweise durch die Maschine zu verdanken +hat, ist immer mehr zu einem notwendigen Bestandteil +dieser Produktionsweise geworden. Aber indem sie sich +ausdehnt, untergräbt sie zu gleicher Zeit die alte Form +der Familie, erschüttert die Begriffe der Sittlichkeit, +auf denen der Moralkodex der bürgerlichen Gesellschaft +beruht, und gefährdet die Existenz des Menschengeschlechtes, +deren Bedingung gesunde Mütter sind. Es +bleibt der Menschheit schließlich nur die Wahl: entweder +sich selbst oder die kapitalistische Wirtschaftsordnung +aufzugeben. Diese Konsequenz zu scharfumrissenen Ausdruck +zu bringen, sodaß niemand ihr aus dem Wege zu +gehen vermöchte, — das war mein Wunsch.</p> + +<p>Das Fieber der Arbeit, das alle Pulse schneller +schlagen läßt, das über jede Müdigkeit hinwegtäuscht, +das die Gedanken des Tages in den Traum der Nacht +verflicht, hatte mich ergriffen. Und zugleich jener gesunde +Egoismus des Schaffenden, der ihn für seine +Umgebung blind und taub macht, nur damit das Werk +wachsen kann. Dankbar überließ ich der Berta, dem +meraner Kindermädchen, die sich mit solcher Klugheit +in jede Lage zu schicken schien, die Sorge um unseren +kleinen Haushalt. Daß sie für uns kochte und wusch +und nähte und eifersüchtig jede andere Hilfe abwehrte, +war mir nur ein Beweis für ihre Tüchtigkeit; und daß +<a name="Page_346" id="Page_346"></a>der Kleine mit solcher Liebe an ihr hing, machte sie +mir vollends unentbehrlich.</p> + +<p>Wenn ich mit meinem Mann spazieren ging, so sprach +ich von nichts anderem als von meiner Arbeit, von all +den Ideen, all den Plänen, die sie in mir auslöste. +Und er hörte mir nicht nur ruhig zu, er ging voller +Anteilnahme auf meine Interessen ein und half mir +durch seine Fachkenntnisse.</p> + +<p>Daß auch er ein selbständiges Leben hatte, daß auch +in ihm vieles bohrte und gärte, das nach Ausdruck verlangte, +daß er um so einsamer wurde, je mehr ich mich +in die Arbeit verlor, — von alledem wußte ich nichts.</p> + +<p>Zuweilen stiegen am Horizont drohend die Sorgenwolken +empor: was das Grunewaldhaus uns übrig gelassen +hatte, war bald verzehrt, die Einnahmen aus dem +Archiv blieben unzulänglich, mein Buch, auf dessen +Erfolg ich rechnete, war noch lange nicht vollendet; +wie würden wir auskommen?! Mit aller Anstrengung +vertrieb ich die bösen Gedanken, ich arbeitete noch ununterbrochener, +um mir selbst keine Zeit zu lassen, ihnen +nachzuhängen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Eines Morgens bekam Heinrich einen Brief, den +er mir stumm herüberreichte: Ob er während +der nächsten Monate für ein uns nahestehendes +Blatt die Pariser Korrespondenz übernehmen könne? Ihr +bisheriger Leiter sei erkrankt und habe einen längeren +Urlaub angetreten.</p> + +<p>Es überlief mich heiß und kalt. Wie der Name Rom +auf die Deutschen des Mittelalters, so wirkt der Name<a name="Page_347" id="Page_347"></a> +Paris auf die Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts. +Aus ihren dunklen Wäldern, ihren finsteren Burgen und +engen Städten sehnten sich unsere Vorfahren nach dem +lachenden Himmel Italiens; und aus dem Ernst unseres +strengen Alltagslebens verlangt alles, was jung ist in +uns, nach dem Glanz, nach dem Leichtsinn von Paris. +Aber ich bemühte mich, ruhig zu scheinen und meiner +stürmisch aufwogenden Freude Herr zu werden.</p> + +<p>»Was sagst du dazu?« fragte mein Mann. »Wir +würden uns rasch entschließen müssen. Mit dem internationalen +Sozialistenkongreß, der in zehn Tagen zusammentritt, +müßte meine Tätigkeit anfangen.«</p> + +<p>»Und dein Archiv?!« warf ich ein. »Du kannst es doch +nicht monatelang von Frankreich aus redigieren!«</p> + +<p>»Ach, — das Archiv..!« meinte er mit einem halb +wegwerfenden, halb ärgerlichen Ton, der mich erstaunt +aufsehen ließ. Das Archiv war seine Schöpfung, sein +liebstes Geisteskind.</p> + +<p>»Das Archiv könnte ich von überall her leiten! +In Paris aber scheint mir jetzt der rechte Ort, um den +Sozialismus in seiner neusten Phase zu studieren, in +Paris, wo ein Millerand Minister ist, wo die Intellektuellen, — unter +ihnen ein Zola, ein France, ein +Steinlen, — mit Jaurès Arm in Arm gehen!.. Wenn +du also nichts dagegen hast, so nehme ich den Antrag +an.«</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_348" id="Page_348"></a></p> + +<p>Paris! Die untergehende Septembersonne umgab +die schwarz hingestreckte Stadt mit rotglühender +Glorie. Mir war, als klänge im +Räderrollen unseres Zugs ein rhythmisches Jauchzen, +als könne die fauchende Riesenschlange es nicht erwarten, +sich in die lodernde Glut zu stürzen.</p> + +<p>Am Morgen nach unserer Ankunft wanderten wir +durch die Straßen. Es war die vollkommenste Überraschung, +die mich mehr und mehr verstummen ließ. Ich +hatte etwas Lautes, Buntes erwartet, etwas, das übereinstimmt +mit dem Begriff »Paris«, den wir uns draußen +gebildet haben. Und nun sah ich Häuserzeilen in gleichmäßig +feiner zurückhaltender Architektur, hohe Fenster +mit schmalen Gittern davor, sah Mauern, über die der +Efeu kroch, und Baumriesen, die aus alten verschwiegenen +Höfen geheimnisvoll herüberrauschten.</p> + +<p>Ich sah, wie sich die vielen Alleen plötzlich in weite, +weite Gärten verloren, unter deren Büschen graue +Statuen träumten, und unter runden Lorbeerbäumen stille +Bassins goldig glitzernd von den vielen kleinen Fischen +darin. An altertümlichen Kirchen kamen wir vorbei mit +runden und viereckigen dicken Türmen, oder dem mystischen +Maßwerk keuscher Gotik über alten Portalen.</p> + +<p>Zur Madeleine schritten wir die breite Steintreppe +empor und traten aus der heidnischen Pracht ihrer +Säulenhalle in das Dämmerdunkel ihres Inneren. Eine +wunderschöne Nonne kniete regungslos am Eingang, die +Sammelbüchse vorgestreckt in schmalen weißen Händen. +Und als wir uns wieder zum Gehen wandten, schweifte +der Blick über die zu unseren Füßen sich dehnende<a name="Page_349" id="Page_349"></a> +Straße und die majestätische Größe der Place de la +Concorde, wo Menschen und Wagen sich verloren +wie Spielzeug, bis weithin zur Kuppel des Invalidendoms. +Er hütete, was sterblich war an dem +korsischen Riesen, der die Welt formte nach seinem +Willen, und der, ein Lebender, noch heute die Stadt +Paris erfüllt.</p> + +<p>Durch Alleen breiter Kastanienbäume, deren dunkle +große Blätter schwarze Schatten auf die hellen Wege +warfen, gingen wir langsam hinauf, wo der Triumphbogen +des Etoile sich, von weichen Morgennebeln umspielt, +mit den Wolken zu verschmelzen schien. Und in +den Gärten der Tuilerien verloren wir uns. Zarte +Kinder mit künstlich geringelten Locken spielten auf +feinen Plätzen, alte Herren, mit dem roten Bändchen +im Knopfloch, fütterten die Vögel, von einer Schar +Zuschauer umgeben, deren Interesse fast wie Andacht +war. Von den Bäumen tanzten leise die gelben +Blätter; eine träumerisch süße Luft, die Geräusche und +Farben dämpfte, spielte zärtlich um den grauen Königspalast +des Louvre und streichelte sanft die Gesichter der +Vorübergehenden, als wollte sie sie trösten, weil es +schon Herbst geworden war. Und selbst die Bettler +auf der Brücke, und die schmutzigen Savoyardenknaben, +die ihre Ware feil boten, und die alten Buchhändler, +die ihre stockfleckigen Schartäken auf den Quaimauern +aufbauten, lächelten leise. Der Fluß aber wälzte sich +lautlos vorüber; seine Wasser schimmerten in gebrochenen +Farben wie müde Opale.</p> + +<p>»Eine vornehme Frau ist Paris,« sagte ich nachdenklich, +als wir von unserem ersten Ausgang zurückgekehrt +<a name="Page_350" id="Page_350"></a>waren, »eine vornehme Frau, deren schöne Züge die +Wehmut des Alterns umflort ...«</p> + +<p>Am Abend verließen wir wieder das Hotel. Jetzt +brauste die Weltstadt: rauschende Kleider, rollende Wagen, +girrendes Lachen, wüstes Geschrei —, zu einem einzigen +Ton verschmolz das alles. Zwischen den Bäumen der +Boulevards strahlten die Laternen wie endlose Lichterketten, +breit quoll das Licht aus den Cafés über wippende +Federhüte und spiegelnde Zylinder. Nur auf dem riesigen +Concordienplatz wirkten die Bogenlampen wie +Brillanten auf dem dunkelgrauen Samt der Nacht.</p> + +<p>Da plötzlich leuchtete jenseits zwischen den Bäumen +ein Wunder auf: ein schimmerndes Tor aus Juwelen +erbaut, eine Märchenstadt dahinter, deren Mauern +Kristall, deren Türme Feuerbrände waren; die Weltausstellung. +Wir folgten dem wimmelnden Menschenstrom, +dessen Rauschen sich aus allen Sprachen der +Welt zusammensetzte. Es war ein einziger Traum aus +Tausendundeine Nacht. Ein Turm, aus strahlenden +Goldfäden gewoben, trug auf seiner diamantenen +Spitze die schwarze Kuppel des Himmels. In tiefdunkle +Teiche ergossen sich Kaskaden von Licht. Der +stille Fluß spiegelte Paläste wieder, die allen Glanz der +Welt an seinen Ufern vereinigt hatten. Die Brücken +spannten sich über ihn wie lauter glückverheißende Regenbogen. +Und wer sie überschritt, den empfing jenseits +ein Lachen, ein Singen, ein Jubeln, — als gäbe es +nirgends Tränen mehr. Ein Taumel erfaßte die Menschen: +von den Terrassen herunter, — aus den weit geöffneten +Türen bunter Häuser lockte die Freude in sehnsüchtigen +Geigentönen, in wilden Trompetenstößen. Dort +<a name="Page_351" id="Page_351"></a>tanzte Loie Fuller, die lebendig gewordene Flamme: +wenn sie sich aufwärts schwang, züngelten die Schleier +über ihrem Haupte, wenn sie sich neigte, leuchtete +sekundenlang ihr schneeweißer Busen. Drüben trippelte +auf Stöckelschuhen Sada Yacco, die Japanerin; aus +ihren geschlitzten Augen sprühten Blitze fanatisierter +Kunst, auf ihren Gewändern leuchteten Blumen der +Hölle und Vögel des Paradieses. Und unter dem bunten +Zeltdach ringelten sich Schlangen um den halbnackten +Leib der Indierin, züngelten zärtlich um ihre +braune Haut, während ihre kleinen Füße, von goldenen +Ringen umklirrt, sich im Takte bewegten und ihre +Arme sich ausstreckten — eine einzige Gebärde verlangender +Lust ...</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Mitten im Gewühl trafen wir Geier, der zum +Sozialistenkongreß nach Paris gekommen +war. »Ein Riesenvarieté, — nichts weiter,« +brummte er, »im Grunde widerwärtig.« Ich erwachte +wie aus einem Traum: die Gesichter der Tänzerinnen +erschienen mir plötzlich fratzenhaft; wo die Schminke sich +verwischte, grinste hinter dem Lächeln der Freude die rohe +Sucht nach Gewinn. Und der lichtgewobene Turm, der +den Himmel trug, war aus Eisen; Menschlein kletterten +selbstbewußt bis in seine Spitze, und hoheitsvoll wich +die Sternenkuppel weit, weit zurück vor ihnen. Kulissen +aus Gips und Leinwand waren die Paläste, Glas die +Juwelen im Portal.</p> + +<p>»Man soll einen Mondsüchtigen nicht anreden,« sagte +ich. »Schon glaubt ich mich wirklich auf dem Wege +<a name="Page_352" id="Page_352"></a>zur Erfüllung einer Sehnsucht, die mit mir geboren zu +sein scheint —«</p> + +<p>»Und die wäre?« fragte Heinrich. Ich zögerte; ich +wußte, wie falsch ich verstanden werden könnte.</p> + +<p>»Bacchantische Lust zu sehen, überströmende, jauchzende +Lebenswonne, — die dabei eines Gottes würdig wäre. +Immer ist Freude so etwas Armseliges, — Mutloses.«</p> + +<p>»Dann sind Sie jedenfalls in Paris am rechten Ort. +Übrigens hätte ich Ihrer norddeutschen Prinzessinnenwürde +nicht so exotische Phantasien zugetraut,« spottete +Geier. »Aber immerhin, — ich, als alter Pariser, kann +Ihnen vielleicht heute noch dienen.«</p> + +<p>Wir verließen die Ausstellung, überquerten den Platz +bis zur Rue Royal.</p> + +<p>»Maxim« stand in großen Buchstaben über der Tür +des Restaurants, in das wir eintraten. Auf den +hohen Stühlen vor dem Schenktisch der Bar saßen +elegante Männer mit müden, gelangweilten Gesichtern. +Aus dem Saal dahinter klang gedämpfte Musik. +Die Frauen unter seinen Spiegelwänden an den kleinen, +blumengeschmückten Tischen flüsterten nur hie und da +miteinander. Sie waren alle schön und jung. Hellblond +und üppig die eine im weißen Seidenkleid, Perlen in +den rosigen Ohren, rieselnde Perlen um den runden +Hals und einen matten Perlenglanz in den großen +hellen Augen. Statuenhaft die andere neben ihr, die +prachtvolle Gestalt eng in roten Samt gehüllt, die +schmalen Finger von Brillantringen bedeckt, die nachtschwarzen +Haare in glatten Scheiteln um die Schläfen. +Und rothaarige, hinter deren durchsichtiger Haut blaue +Adern klopften, brünette, mit dem bräunlich warmen Ton +<a name="Page_353" id="Page_353"></a>der Südländerin, reihten sich ihnen an, eine schneeweiße +dazwischen, mit rosigem Antlitz, als wäre die +Pompadour aus dem langweiligen Jenseits in ihr geliebtes +Paris zurückgekehrt. Zuweilen standen sie auf +und schritten langsam auf und nieder; ihre Kleider +raschelten, als ob schillernde Salamander durch dichtes +Blattwerk schlüpften, das aufreizende gleichmäßige Klipp-klapp +der hohen Absätze ihrer Seidenschuhe tönte dazwischen, +in ihren Juwelen brachen sich hundertfarbig +die Lichter, Wolken betäubenden Duftes zogen hinter +ihnen her. Sie waren wie exotische Blumen aus +fremden Urwäldern.</p> + +<p>Die Musik ging in Walzermelodien über. Und durch +die offenen Türen kamen allmählich die Herren aus der +Bar, — alte und junge Greise. Nüchtern, lustlos, wie +der Trainer ein Rennpferd, musterten sie die Frauen. +Sie erwachten erst zum Leben, als der Sekt in den +Gläsern vor ihnen perlte. Ihre Blicke wurden zu +lüsternem Greifen, ihr Lachen wurde gemein. Sie erschienen +wie rohe Barbaren gefangenen Königinnen +gegenüber. Und jetzt begannen die Geigen zu jauchzen, +rascher und rascher füllten sich die Gläser und leerten +sich wieder, die Paare schwangen sich in rasendem Tanz; — dort +senkte ein Graubart die zittrigen Kniee vor +einer jungen Schönen und trank aus ihrem weißseidenen +Schuh.</p> + +<p>»Nun?!« fragend wandte sich Geier mir zu. Ich +zuckte die Achseln: »Nennen Sie das bacchantische +Lust?! Wenn Männer sich erst betrinken müssen, um +für Frauenschönheit zu entflammen, und Frauen nur +durch den Rausch, der ihre Augen und ihre Sinne um<a name="Page_354" id="Page_354"></a>nebelt, +den Ekel vor diesen Männern zu überwinden +vermögen?!«</p> + +<p>Wir gingen. Über die Boulevards schob und drängte +sich die Menge: Fremde, mit gespannten Zügen, überall +ungeheuerliche Enthüllungen der Sünde erwartend, kleine +bescheidene Provinzfrauen mit einem dirnenhaften Funkeln +in den Augen, Kinder, blaß und übernächtig, immer +noch Blumen verkaufend, den alten wissenden Blick halb +neidisch auf die geschminkten Kokotten gerichtet, die wie +Götzenbilder sich durch die dunkeln Massen bewegten.</p> + +<p>War Paris nicht doch ihresgleichen?</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Als wir am nächsten Morgen den Sitzungssaal +des Internationalen Kongresses betraten, blieb +ich schon an der Tür erschrocken stehen: das +tobte und schrie, pfiff und trampelte, als sollte ein Sensationsstück +zu Fall gebracht werden. Vandervelde, der +belgische Volksführer, stand auf der Rednertribüne, aber +weder seine Autorität, noch der sonore Klang seiner +schönen Stimme, noch die beschwörenden Gesten seiner +aristokratischen Hände wurden Herr über die entfesselte +Leidenschaft der Menge. Drohende Fäuste reckten sich +zu ihm empor: <em class="antiqua">»À bas les ministériels!«</em> tönte es im +Takt von der einen Seite, wo sich um Jules Guesde, +den französischen Liebknecht, die Anhänger scharten. Wer +es nicht vorher wußte, erfuhr es angesichts dieser Versammlung: +nur um eine Kardinalfrage des Sozialismus +konnte ein so wüster Kampf entbrennen. Die Vertreter +des alten revolutionären Gedankens behaupteten standhaft +ihre Intransigenz: »Die Befreiung der Arbeiter +<a name="Page_355" id="Page_355"></a>kann<em class="spaced"> nur</em> ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein, jedes +Paktieren mit der bürgerlichen Gesellschaft ist ein Verrat +an der Sache des Proletariats.« Von diesen lapidaren, +jedem Arbeitergehirn leicht einzuprägenden Sätzen +aus, verurteilten sie notwendigerweise den Eintritt des +Sozialisten Millerand in das Ministerium und forderten +vom Kongreß eine offizielle Anerkennung ihres Standpunktes. +Wider Vandervelde, der die Vermittlungsresolution +der Deutschen verteidigt hatte, erhob sich der +Italiener Ferri; die schönheitstrunkenen Romanen jubelten +schon seiner bloßen Erscheinung zu, und als er mit +all den klassischen Worten der Revolution jonglierte, +wie ein geschickter Taschenspieler mit glänzenden Kristallkugeln, +und den Revisionismus von der Landtagswahlbeteiligung +der Deutschen bis zum Ministerialismus der +Franzosen als einen Abfall brandmarkte, dankte ihm +brausender Beifall. Die graziösen Französinnen auf +den Zuschauertribünen, denen der Kongreß dieselben +Nervenreize bot wie eine Première, schlugen begeistert +die weißbehandschuhten Händchen aneinander, und des +Redners dunkler Blick grüßte dankend die seidenrauschenden +Vertreterinnen des Kapitalismus, gegen den er eben +zum Kampf gerufen hatte.</p> + +<p>Dann kam Jaurès, der das moderne republikanische +Frankreich in der Dreyfusaffäre gegen Klerikalismus +und Militarismus verteidigt hatte, — eine untersetzte +Gestalt, mit dem breiten blonden Kopf eines Germanen. +Er wird es schwer haben, dachte ich angesichts dieser +Versammlung, die ihre Redner ästethisch zu werten +scheint. Aber schon der erste Laut seiner Stimme zog +die Menge in seinen Bann: sie war wie das Meer; +<a name="Page_356" id="Page_356"></a>selbst wenn sie ruhig schien, war Sturm in ihr, und +wenn sie anschwoll, schlug sie donnernd gegen die +Mauern, wie die Wogen gegen den Fels. Ich war +nicht imstande auf die Worte zu achten, ich hörte nur +den Klang, jenen musikalischen Tonfall der Sprache, +der die Wesensart des ganzen Volkes enthüllt, eines +Volkes, das durch logische Schlüsse wissenschaftlicher +Deduktionen niemals überzeugt zu werden vermag, wenn +nicht der Künstler in ihm durch die Schönheit der Form, +durch das Pathos des Ausdrucks gepackt wird, eines +Volkes, von dem ich plötzlich begriff, daß es die Bastille +stürmen und Napoleon Bonaparte zu seinem Kaiser +krönen konnte.</p> + +<p>Ich war noch wie benommen, als wir abends den +Saal verließen. An der Tür begrüßten uns unsere +Landsleute. »Eine unglaubliche Gesellschaft!« schimpfte +der eine. »Für nichts ist gesorgt: nicht mal Bleistift und +Papier gibt's auf den Tischen.« — »Und keine Möglichkeit, +die Anträge rechtzeitig drucken zu lassen,« fügte +ein zweiter hinzu, — »man weiß nich mal, wo man +essen jehn soll,« brummte ein dritter.</p> + +<p>Jetzt fühlte ich mich wieder in Deutschland.</p> + +<p>Wir unterhielten uns, als wir zusammensaßen, über +die deutsche Resolution. »Sie ist aus Wenn und Aber +zusammengesetzt, und einem Fall Millerand ist zwar die +Tür geschlossen, aber das Fenster geöffnet,« — räsonierten +die Vertreter des sechsten berliner Wahlkreises, +für die der Eintritt eines Sozialisten in ein bürgerliches +Ministerium keine taktische, sondern eine prinzipielle +Frage war. »'Die Eroberung der Regierungsgewalt +kann nicht stückweise erfolgen,'« las stirnrunzelnd einer +<a name="Page_357" id="Page_357"></a>der Wortführer des Revisionismus; »das ist ein Satz, +den wir unmöglich unterschreiben können, denn in parlamentarisch +regierten Staaten kann und wird sie nicht +anders als allmählich vor sich gehen.«</p> + +<p>Am Morgen darauf stimmten die Deutschen trotzdem +geschlossen für die Resolution, um die Einigkeit der +Partei zu dokumentieren, und sicherten ihr dadurch ihre +Annahme. Ich war froh, daß ich kein Mandat besaß, +denn die vielgerühmte Disziplin unserer Genossen +mißfiel mir, die die persönliche Ansicht dem +Willen der Mehrheit unterwarf; die individualistische +Haltung der Franzosen schien mir ein Beweis größerer +innerer Stärke zu sein. Ich äußerte meine Ansicht, als +wir mit unseren näheren Bekannten nachts vor einem +Boulevardcafé zusammensaßen, und stieß auf heftigen +Widerspruch. »Unsere Disziplin hat uns groß gemacht,« +hieß es von allen Seiten. »Numerisch groß, — gewiß,« +antwortete ich, »ob aber entsprechend einflußreich?! In +England, wo die Partei so zerrissen ist wie hier, durchdringt +die sozialistische Idee alle Kreise, gehören Sozialisten +allen öffentlichen Körperschaften an, in Frankreich +stützt sich die Republik auf Sozialisten, und ein einziger +sozialistischer Minister ist imstande, in Monaten mehr +Reformen auf dem Gebiete des Arbeiterschutzes durchzuführen, +als seine Vorgänger während Jahrzehnten —«</p> + +<p>»Und in Deutschland übernahm unsere Reichstagsfraktion +im Kampf gegen die Lex Heinze die Führung +und rettete Wissenschaft und Kunst vor unerhörter Knebelung,« +unterbrach mich einer der Anwesenden lebhaft; +»es geht langsam bei uns, aber es geht, und selbst die +Resolution, deren Annahme durch uns Sie so verur<a name="Page_358" id="Page_358"></a>teilen, +ist ein Zeichen des Fortschrittes. Sie hat dem +falschen Radikalismus eine seiner Spitzen abgebrochen +indem sie der politischen Taktik freie Hand ließ.«</p> + +<p>»Dazu, scheint mir, werden die Verhältnisse Radikale +und Revisionisten stets ohne weiteres zwingen. Die +Preisgabe persönlicher Überzeugung war überflüssig,« +antwortete ich.</p> + +<p>»So halten Sie es für besser, wenn man um verschiedener +Ansichten willen wie verzankte Kinder nach +rechts und links auseinander läuft?!«</p> + +<p>»Es scheint mir jedenfalls richtiger, als klaffende +Gegensätze mit den morschen Brettern gegenseitiger Konzessionen +überbrücken zu wollen.«</p> + +<p>Eine augenblickliche Stille trat ein; man sah erwartungsvoll +auf Geier, der eben hinzugetreten war.</p> + +<p>»Politik besteht aus Konzessionen,« erklärte er und +strich gleichmütig die Asche von seiner Zigarre; »aber davon +versteht ihr Weiber nichts. Für das Geschäft seid +ihr entweder zu gut oder zu schlecht, darum laßt die +Finger davon. Übrigens: — Ich habe eine Nachricht in +der Tasche, die den Wünschen der Genossin Brandt entgegenkommt: +Euer neuer Prophet, Bernstein, wird +Deutschland <em class="antiqua">in persona</em> beglücken dürfen.«</p> + +<p>Von allen Seiten mit Fragen nach dem Wie und +Warum bestürmt, fuhr Geier mit einem spöttischen Blick +auf mich in seinem Berichte fort: »Die deutsche Regierung +hofft auf eine Spaltung der Partei. Es ist +Bülows, des neuen Reichskanzlers, erste Heldentat, wenn +er das Ausweisungsdekret gegen Bernstein nicht mehr +wiederholt. Viel Glück zu diesem Zuwachs, Ihr lieben +Reichsdeutschen!« Damit erhob er sich, flüchtig grüßend.</p> + +<p><a name="Page_359" id="Page_359"></a>Wir gingen schweigsam nach Haus, mein Mann und +ich, in unsere kleine möblierte Wohnung, die wir nach +langem Suchen endlich gefunden hatten. Ich fühlte auf +diesem Heimweg deutlicher als je, daß wir allmählich +auch innerlich nebeneinander und nicht miteinander +gingen. In der Nacht hörte ich, wie unruhig er sich +hin und her warf, und sah im Laternenlicht, das matt +durch die Fensterscheiben drang, wie zerquält seine Züge +waren. Er litt, — und ich wußte nicht warum; ich, +die ich ihm am nächsten stand, hatte ihn allein gelassen! +Das Herz krampfte sich mir zusammen. Waren nicht +jene Frauen wirklich die besseren gewesen, die nichts +hatten sein wollen, als ein allzeit offenes Gefäß für die +Schmerzen und die Kämpfe des Gatten? Vielleicht +waren sie die tiefste Bedingung seiner Kraft.</p> + +<p>»Heinz,« flüsterte ich zaghaft und griff nach seiner +Hand, »warum sprichst du nicht mit mir? — Irgend +etwas lastet auf dir —.«</p> + +<p>Er lächelte mich an. »Gutes Kind, — beunruhige +dich doch nicht! Du hast mit dir selbst genug zu tun +und mit deiner Arbeit.«</p> + +<p>»Du aber nimmst teil daran, — du hilfst mir, und +ich sollte dir nicht helfen dürfen?! — Hängt es am +Ende damit zusammen, daß du dem Archiv innerlich +untreu geworden bist?« drängte ich.</p> + +<p>»Woher weißt du das?« fuhr er auf.</p> + +<p>»Ich habe doch Augen im Kopf, — ich sehe, wie oft +du die Korrekturen ungeduldig zur Seite wirfst —«</p> + +<p>»Du hast recht,« antwortete er, »ich hätte dich nur +gern mit meinen Angelegenheiten verschont, so lange sie +mir selbst so unklar sind. Als ich das Archiv ins Leben +<a name="Page_360" id="Page_360"></a>rief, war die Sozialpolitik ein unbebautes Ackerland. +Jetzt, wo der Samen aufging, kann jeder Garben +schneiden —«</p> + +<p>»Ich verstehe,« unterbrach ich ihn lebhaft, »wir +beide gehören zu denen, die Wege anlegen, aber nicht +die Steine dafür karren können.«</p> + +<p>»Wege anlegen —,« wiederholte er, »ganz richtig! +Und dafür ist in der Partei jetzt die Zeit gekommen. +Gräßlich, angesichts dieser Aufgabe die Hände gebunden +zu haben! Dem Revisionismus fehlt es an einem +geistigen Mittelpunkt, einem unabhängigen Organ, das +an Stelle bloßer Verneinung die Ideen praktischer Politik +in die Köpfe der Massen hämmert, das die geistigen +Kräfte der Intellektuellen in den Dienst unserer Sache +zieht. Die Lex Heinze hat sie aus dem Schlaf geweckt, — auch +hier müßte das Eisen geschmiedet werden, solange +es warm ist.«</p> + +<p>»Und wieso sind dir dafür die Hände gebunden?!« +rief ich aus, von den Gedanken, die er aussprach, gepackt. +»Der Plan muß ausgeführt werden!«</p> + +<p>»Bei all deiner Klugheit bist du doch ein ganz +dummes Katzel!« sagte er. »Oder wächst dir ein Kornfeld +auf der flachen Hand?! Kein bürgerlicher Verleger +würde ihn verwirklichen helfen, ein Parteiverlag erst +recht nicht ...«</p> + +<p>Ich dachte an den Amerikaner Garrison, der seine der +Idee der Sklavenbefreiung gewidmete Zeitschrift selbst +schrieb und druckte. Ob wir nicht diesem Beispiel +folgen könnten? Mein Mann lachte mich aus. »Selbst +wenn wir unsere ganze Arbeitskraft der Sache opfern +würden, ohne pekuniäre Mittel hülfe das nichts. Ich +<a name="Page_361" id="Page_361"></a>sehe nur eine Möglichkeit, um zum Ziel zu gelangen —,« +er brach ab, als habe er schon zuviel gesagt.</p> + +<p>»Die wäre?«</p> + +<p>»Der Verkauf des Archivs. Mit dem Erlös könnte +man die Zeitung ins Leben rufen —«</p> + +<p>»Warum versuchst du das nicht?!« Ich ärgerte mich, +daß er nur einen Moment hatte zögern können. Er sah +mich forschend an.</p> + +<p>»Ist das Tapferkeit oder Leichtsinn, was aus dir +spricht? — Mit dem Verkauf des Archivs ist die Sicherheit +unserer Existenz preisgegeben. Wir können bei dem +neuen Unternehmen alles verlieren —«</p> + +<p>»Darüber bin ich keinen Augenblick im Zweifel,« +antwortete ich ernst. »Aber mir scheint, gegenüber der +Größe der Aufgabe fallen persönliche Bedenken nicht +ins Gewicht.«</p> + +<p>Wir waren einig. Von nun an widmete mein Mann +all seine freie Zeit der Verwirklichung seines Gedankens. +Er trat mit deutschen Verlegern in Verkaufsverhandlungen, +und wenn ich angesichts ihrer wiederholten +Resultatlosigkeit oft nahe daran war, den Mut zu verlieren, +so schien der seine mit jedem Mißlingen neu zu +wachsen. Er wandte sich an die bekannteren Revisionisten, +und wenn ihre zögernden Antworten mich deprimierten, +so steigerten sie nur seine Energie. Und meine +Liebe, die unter der grauen Asche der Alltäglichkeit nur +noch leise geglimmt hatte, glühte auf, wie Waldfeuer +im Sturm. Je stärker ich die Überlegenheit seines +Willens empfand, desto mehr liebte ich ihn. Und gewohnt, +mein eigenes Erleben zu betrachten wie der +Forscher ein wissenschaftliches Experiment, aus dem er +<a name="Page_362" id="Page_362"></a>bestimmte allgemeine Schlüsse zieht, sah ich, daß eine +der Theorien der modernen Frauenbewegung sich angesichts +der Erfahrung wieder einmal als leere Konstruktion +erwies.</p> + +<p>»Das geistig entwickelte, seelisch differenzierte Weib +ist die Voraussetzung und Bedingung tieferer und dauernder +Beziehungen zwischen den Geschlechtern,« hatte meine +alte Gegnerin, Helma Kurz, noch kürzlich in dem ihr +eigenen geschwollenen Stil den Lesern ihrer Zeitschrift +verkündet. Sie identifizierte Liebe und Freundschaft, +weil sie — das einsame alte Mädchen — wie der +Blinde von der Farbe sprach. Weibesliebe ist Hingabe +an den Höherstehenden, gleichgültig ob das Herz, das +sie empfindet, unter dem groben Hemd der Dienstmagd +oder dem Talar der Doktorin beider Rechte schlägt. +Darum wird die erotische Treue um so seltener sein, je +stärker das Weib sich geistig und seelisch individualisiert.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Mit noch größerem Eifer als früher stürzte ich +mich in meine Arbeit; nicht nur, weil der +Augenblick schreckhaft näher rückte, in dem +ich das Honorar dafür nicht mehr würde entbehren +können, sondern mehr noch, weil das Buch vollendet +sein mußte, ehe die neue Aufgabe — die Zeitschrift +meines Mannes — an mich herantrat.</p> + +<p>Archive, Arbeitsämter und Bibliotheken öffneten sich +mir ohne Schwierigkeit. Vom Minister bis zum Portier +verleugnet der Franzose die Kultur des achtzehnten +Jahrhunderts nicht, auch wenn die Dame, die +ihm begegnet, keine Marquise ist; jeder beeilt sich, ihr +<a name="Page_363" id="Page_363"></a>behilflich zu sein, ihr entgegenzukommen, kein spöttisches +Lächeln, keine herunterhängenden Mundwinkel verraten +der arbeitenden Frau, wie der Mann sie im Grunde wertet.</p> + +<p>Je mehr ich mich aber in die Arbeit versenkte, desto +höher türmten sich die Probleme der Frauenfrage um +mich auf, — die sozialen, die ethischen, die sexuellen +entwickelten sich eines aus dem anderen, als kröche +ein Drache aus dunkler Höhle hervor, ein Glied um +das andere vorschiebend, langsam, endlos. Wenn ich +mich morgens zum Fortgehen rüstete und mein +Kind die runden Ärmchen um meinen Hals schlang +und bat und schmeichelte: »Mamachen, bleib doch mal +bei mir, — Mamachen, bitte, bitte, erzähl' mir nur eine +einzigste schöne Geschichte —,« dann erschien mir mein +eigenes Leben wie jene unheimliche Höhle, und in mein +eigenes Herz bohrte der Drache seinen Giftzahn. Wie +gläubig hatte ich früher den alten Vorkämpferinnen der +Frauenbewegung gelauscht, wenn sie von jenen Amerikanerinnen +erzählten, die ihre Pflichten als Mütter, +Hausfrauen und Berufsarbeiterinnen in so unvergleichliche +Harmonie zueinander zu setzen vermochten. Ich +erinnerte mich vor allem jener Advokatin, die neben +ihrer großen Praxis sechs Kinder erzogen und einen +großen Haushalt allein geleitet haben sollte.</p> + +<p>»Infame Lügen alter Jungfern!« dachte ich grimmig. +Und doch war ich selbst noch eine Bevorzugte. Kam ich +nach Haus, so fand ich mein Kind in guter Obhut und +unseren Tisch gedeckt.</p> + +<p>Der Berta, die mit so viel Tränen durchgesetzt hatte, +bei mir zu bleiben, verdankte ich die äußere Arbeitsmöglichkeit. +Ich konnte ihr nicht dankbar genug sein.</p> + +<p><a name="Page_364" id="Page_364"></a>Aber Millionen armer Frauen arbeiten in der Werkstatt +und in der Fabrik, während die Straße ihrer +Kinder Hüterin ist und sie gezwungen sind, nach der +Hast der Arbeit noch die unzureichende Ernährung für +sich und die Ihren selbst zu bereiten. So unschätzbar +die wirtschaftliche Selbständigkeit des Weibes sein mag, +sind die Opfer des Mutterherzens und des Kinderglücks +nicht ein zu hoher Preis für sie? Ich fand aus der +Wirrnis nicht heraus: auf der einen Seite diese Not, +auf der anderen Seite die liebezerstörende pekuniäre Abhängigkeit +des Weibes vom Mann.</p> + +<p>Die deutschen Gewerbeaufsichtsbeamten hatten um jene +Zeit eine Untersuchung über die Arbeit verheirateter +Frauen in der Industrie angestellt. Die Ergebnisse +lagen mir vor: überall war es die bittere Notwendigkeit, +die ihnen zwischen dem natürlichen Weibesberuf +und dem Erwerb außerhalb des Hauses keine Wahl +ließ. Und alles deutete darauf hin, daß ihre Zahl +ständig zunehmen würde. Nichts schien mir im Augenblick +so wichtig, als die Lösung dieser brennenden Frage. +Es galt auf der einen Seite, dem Säugling die Mutter +zurückzugeben, und auf der anderen, das Weib von der +Last doppelter Pflichten zu befreien. Ich baute meinen +alten Plan der Mutterschaftsversicherung aus, — fest +überzeugt, daß über kurz oder lang die Regierungen gezwungen +sein würden, ihm näher zu treten. Aber selbst +seine Verwirklichung würde die notwendige Arbeitsteilung +zwischen Hausfrau und Berufsarbeiterin nicht herbeiführen.</p> + +<p>»Laß einmal heut deine Nachmittagsarbeit,« sagte +Heinrich eines Tages, als ich in meine Grübeleien ver<a name="Page_365" id="Page_365"></a>sunken +nach Hause kam. »Wir sind zur Einweihung +eines Arbeiter-Restaurants geladen, — France und Jaurès +werden dort sein —«</p> + +<p>»Du weißt, ich darf mich nicht ablenken lassen,« +antwortete ich mißmutig.</p> + +<p>»Diesmal ist aber die Sache interessant genug, um +eine Ausnahme von der Regel zu entschuldigen,« meinte +er. »Eine genossenschaftliche Gründung der Art liegt +auf dem Wege zu unseren Zielen.« Ich horchte auf: +irgend etwas, halb Unbewußtes, packte mich.</p> + +<p>In einer engen Seitenstraße des Boulevard Montparnasse +lag ein altes kleines Haus geduckt zwischen +hohen Mietskasernen. In seinem neuen Anstrich, mit +den Girlanden um die Türe und den Fähnchen an +den Fenstern sah es lustig aus wie ein altes Männlein, +das goldene Hochzeit feiert. Drinnen um die festlich +gedeckten Tafeln herrschte eitel Fröhlichkeit.</p> + +<p>»Daß wir es erreicht haben, — endlich!« sagte +glückstrahlend einer der Leiter. »Seit Jahren sammeln +wir Sou um Sou, um die armen Arbeiter +dieser Gegend von der Ausbeutung der Kneipenwirte +zu befreien, und um den zahllosen arbeitenden Familienmüttern +ein gutes und billiges Mittagsmahl zu verschaffen.«</p> + +<p>Ich reichte dem Manne die Hand und drückte sie herzhaft; +er sah mich verwundert an: er konnte nicht wissen, +welch ein Geschenk er mir eben gegeben hatte.</p> + +<p>Die breite Gestalt von Jaurès erschien in der Türe, +hinter ihm die elegante eines vornehmen Graubarts, +dessen geistfunkelnde Augen über die große schiefe Nase +unter ihnen zu spotten schienen. »Anatole France,« stellte<a name="Page_366" id="Page_366"></a> +Jaurès ihn uns vor. Wir waren sofort in lebhaftem +Gespräch.</p> + +<p>»Ich mag nicht fehlen, wenn die sozialistische Arbeiterschaft +irgendwo einen Fuß breit Boden gewinnt,« sagte +er; »je mehr die Bourgeoisie an Idealismus verloren +hat, desto unfruchtbarer ist sie für uns Intellektuelle. +Wir müssen uns stets zu den Hoffenden und Werdenden +halten, wenn wir nicht selbst absterben wollen.«</p> + +<p>»Unsere deutschen Intellektuellen halten sich lieber zu +denen, die zwar an Hoffnungen arm, aber an Gold und +Juwelen um so reicher sind —,« antwortete ich.</p> + +<p>Er lächelte ungläubig: »Wirklich?! In einem Lande, +das sprichwörtlich reich an hungernden Dichtern und +arm an Männern ist?!«</p> + +<p>Dann wurde er zerstreut, zog ein Blatt Papier aus +der Tasche, überflog es wieder und wieder und reichte +es Jaurès: »Ich bin kein Redner und soll durchaus +sprechen. Was meinen Sie, wenn ich das hier sage?« +Dabei stieg die Röte der Verlegenheit in das gebräunte +Gesicht des berühmten Mannes.</p> + +<p>Wir setzten uns zu Tisch. Ich konnte nicht glauben, +daß die vielen Menschen um uns herum mit den selbstverständlich +guten Manieren, dem freimütigen Ton, der +ohne weiteres jeden Abstand der Bildung und des +Milieus ausglich, die Ärmsten der Armen waren. Ich +sah es erst allmählich an den hohlen Wangen und sorgfältig +vernähten Flicken auf den Kleidern. Und doch +aßen und tranken sie, als ob sie alle Tage satt würden.</p> + +<p>France sprach; stockend, schüchtern, aber mit einem +so warmen Ton in der Stimme, daß er alle gefangen +nahm. Und dann wußten sie auch von ihm: »Unser +<a name="Page_367" id="Page_367"></a>großer France,« flüsterte stolz einer dem anderen zu, +und ein paar kleine Nähmädchen mit harten zerstochenen +Fingern brachten ihm die Veilchensträußchen, die sie im +Gürtel trugen.</p> + +<p>Als ich am nächsten Tage wieder bei der Arbeit saß, +war mein neuer Plan fix und fertig: »Haushaltungsgenossenschaften« +nannte ich ihn. In den Arbeitervierteln +der großen Städte sollte jede Mietskaserne mit +einer Zentralküche versehen sein, die den Bewohnern +ihre Mahlzeiten liefert. In den Häusern der Arbeiter-Baugenossenschaften +müßte der Anfang damit gemacht +werden; Kinderkrippen und Kinderhorte zum Tagesaufenthalt +der Mutterlosen sollten sich anschließen; die +genossenschaftliche Wirtschaft, der Einkauf im Großen +müßte, so berechnete ich, die Kosten für die anzustellenden +Arbeitskräfte aufbringen. Einsichtige Kommunen +würden sich allmählich bereit finden, solche, für +die physische und moralische Gesundheit der Bevölkerung +überaus wichtige Häuser selbst zu bauen. Mit der Befreiung +von der doppelten Arbeitslast der Hauswirtschaft +und der außerhäuslichen Erwerbsarbeit würde +einer der wichtigsten Teile der Frauenfrage ihrer Lösung +entgegengeführt werden. Und was für die Arbeiterin +galt, das galt ebenso für die geistig tätige Frau. Ich +war so erfüllt von meiner Idee, daß ich vor freudigem +Herzklopfen nächtelang schlaflos blieb. Mit dieser Sache +konnte ich bis zum Erscheinen meines Buches nicht +warten. Gerade jetzt, wo das Problem der Erwerbsarbeit +verheirateter Frauen auf der Tagesordnung stand, +mußte ich damit hervortreten.</p> + +<p>Ich schrieb an Wanda Orbin und teilte ihr mit, daß +<a name="Page_368" id="Page_368"></a>ich an der Hand der neuesten Fabrikinspektorenberichte +eine kurze Broschüre über die für die Arbeiterinnenbewegung +so wichtige Frage der Beschäftigung verheirateter +Frauen in der Industrie schreiben wolle und von +ihr nur erfahren möchte, ob nicht etwa von anderer +Seite ähnliches geplant würde. Irgendwelche Details +gab ich ihr nicht.</p> + +<p>Sie antwortete mir umgehend, daß sie selbst seit +längerer Zeit mit der Bearbeitung der Frage beschäftigt +sei. »Ich habe mich nunmehr entschlossen,« fuhr sie +fort, »die einzelnen Teile meiner Arbeit als selbständige +Broschüren erscheinen zu lassen, um sie weiteren Kreisen +leichter zugänglich zu machen. Die erste enthält die +grundsätzliche Auseinandersetzung der Frage der Fabrikarbeit +verheirateter Frauen und des gesetzlichen Arbeitterinnenschutzes, +das Manuskript liegt im wesentlichen +bereits fertig vor... Sie werden mir kaum zumuten, +auf die Veröffentlichung zu verzichten, weil an +anderer Stelle die Behandlung derselben Frage beabsichtigt +wird...«</p> + +<p>Nein: ich dachte nicht daran, um so weniger, als +es mir nichts genutzt haben würde. Ich wollte auch +nicht mit Wanda Orbin in einen lächerlichen Konkurrenzkampf +eintreten. Mochte ihre Schrift zuerst erscheinen, — mir +würde nachher genug zu sagen übrig bleiben.</p> + +<p>Während der Monate, die wir noch in Paris verlebten, +erschien sie jedoch nicht, und die verschiedenen +Parteibuchhandlungen wußten nichts von ihr.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_369" id="Page_369"></a></p> + +<p>Schwer und grau hing der Winterhimmel über +Paris. Zuweilen tanzten weiße Flocken in +der Luft, und dann schien's, als ob es hell +werden wollte; aber die schmutzige Straße verschlang +sie. Die Obst- und Gemüseauslagen, die im Sonnenschein +sonst so bunt und lockend den Vorübergehenden +angelacht hatten, sahen welk und unappetitlich aus. +Die kleinen Mädchen mit den schönfrisierten Köpfchen, +die vor kurzem noch lachend und kokettierend mit spitzen +Hacken klappernd über das Pflaster getrippelt waren, +liefen jetzt fröstelnd ihres Wegs mit verfrorenen, mißmutigen +Gesichtern.</p> + +<p>Wer jetzt dicht am Kaminfeuer sitzen und träumen +könnte! Aber nach wie vor ging ich dieselben Wege +durch alte enge Gassen und saß mit eisigen Füßen +in dunkeln Bureaus. Wußte ich noch, daß es Paris +war, in dem ich lebte? Lebte?!! War das wirklich +Leben?! Hatte nicht am Ende auch mich die schmutzige +Taglöhnerstraße verschlungen? Mich, die ich licht +und frei sein wollte? Wenn wir abends zuweilen +aus unserem stillen Stadtwinkel zum rechten Seineufer +hinübergingen, wo die Bogenlampen festlich +zu strahlen beginnen, wo hinter glänzenden Spiegelscheiben +Juwelen und Spitzen und märchenhaft schimmernde +Gewänder prahlend ihre Schönheit entfalten +und Equipagen und Automobile hin und wieder rollen, +aus denen schöne Frauenköpfe nicken und lächeln wie +seltene Treibhausblumen hinter ihrem Glashaus, — nur +zum Schmuck einer Nacht gezüchtet, — dann fühlte +<a name="Page_370" id="Page_370"></a>ich im verborgensten Winkel meines Herzens einen +stechenden Schmerz.</p> + +<p>Am Eingang zum Opernhaus standen dicht gedrängt +arme junge Mädels; sie warteten auf die eleganten +Damen, die mit seidenbeschuhten Füßchen und langen +Schleppen den Wagen entstiegen. Sie ließen sich von +den Rädern mit Kot bespritzen, um vom Glanze des +Lebens nur einen Schein zu erhaschen.</p> + +<p>Wir hatten bei einigen Parteigenossen Besuch gemacht, — auch +bei Millerand, — und waren mit einer Liebenswürdigkeit +empfangen worden, als wären wir längst erwartete +alte Freunde. Aber es blieb bei ein paar förmlichen +Einladungen mit oberflächlichen allgemeinen Gesprächen. +Während mein Mann einen unvereinbaren +Gegensatz in dem Benehmen unserer Gastgeber empfand, +fühlte ich mich plötzlich in die Umgebung meiner Jugend +zurückversetzt und verstand sie.</p> + +<p>Der Franzose ist ein geborener Aristokrat, er hat +jene Kultur des Benehmens, jene Liebenswürdigkeit +der Form, die zugleich eine unübersteigliche Mauer ist, +hinter der sich das persönlich Menschliche verbirgt.</p> + +<p>Wir gerieten auch in einen literarischen Salon, dessen +Herrin <em class="antiqua">tout Paris</em> um sich zu versammeln verstand. Sie +war von unverwüstlicher Schönheit, und ihre Küche war +berühmt. Als wir nach Hause gingen, war mein Mann +befriedigt und angeregt und ich schlechter Laune. »Hast +du dich denn nicht amüsiert?« fragte er mich schließlich.</p> + +<p>»Ganz und gar nicht,« antwortete ich, »und wenn ich +nicht fürchten müßte, daß meine Ehrlichkeit mich in +deinen Augen herabsetzt, —«</p> + +<p>»Aber Alix,« lachte er und zog meinen Arm fester +<a name="Page_371" id="Page_371"></a>durch den seinen, »du weißt, daß du mich immer entzückst, +wenn du du selber bist.«</p> + +<p>»So will ich's drauf ankommen lassen und dir gestehen, +daß ich die Rolle des unbeteiligten Zuschauers +in jeder Gesellschaft, — und wäre es die interessanteste, — unerträglich +finde. Es ist ja sicher lehrreich, zu erfahren, +daß der Wert der Frau in Paris mit dem Wert +ihrer Kosmetik und ihrer Toilette steigt und fällt, aber +da ich auf dem Gebiet nicht konkurrieren kann —«</p> + +<p>Heinrich lachte noch lauter. »Du liebe Eitelkeit, du,« +war alles, was er sagte, während die Röte der Beschämung +mir noch auf den Wangen brannte.</p> + +<p>Ein andermal folgte ich der Einladung einer der +führenden Frauenrechtlerinnen in die Redaktion ihrer +Zeitung. Ich bewunderte schon lange die Energie, mit +der sie die Frauen — französische Frauen! — zwang, +die politischen Tagesereignisse zu verfolgen, und an +der Seite der Zola und Jaurès an dem Kampf für +Dreyfus teilgenommen hatte. Ich erwartete unwillkürlich +<ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'ein'">eine</ins> typische Feministin: harte Züge, eckige Bewegungen, +männliche Kleidung. Schon die Räume, die +ich betrat, überraschten mich; sie hatten alle das Aussehen +und das Parfüm eines eleganten Boudoirs. Ein paar +Damen gingen vorüber, — sie hätten ebenso beim <em class="antiqua">five +o'clock</em> im Grand Hotel erscheinen können. Dann kam +die Leiterin selbst. Wenn sie mir bei Maxim begegnet +wäre, ich hätte mich nicht gewundert. Ihre Schönheit +hatte trotz aller statuenhaften Kühle, — oder vielleicht +gerade deshalb, — etwas Sieghaftes.</p> + +<p>»Je radikalere Feministen wir sind, desto stärker +müssen wir unser Weibsein betonen,« sagte sie im Lauf +<a name="Page_372" id="Page_372"></a>des Gesprächs. Ich stimmte ihr lebhaft zu und dachte +an ihre deutschen Gesinnungsgenossinnen, die den Gegensatz +zwischen der Weltdame und der Frauenrechtlerin +nicht genug glaubten zeigen zu müssen.</p> + +<p>»Sie vergessen nur eins,« fuhr ich fort. »Die +Pflege der Schönheit kostet Zeit und Geld. Und die +eigentlichen Trägerinnen der Frauenbewegung, die +Frauen, die heute im Kampf ums Dasein stehen, haben +keins von beiden.«</p> + +<p>»Darum müssen wir es ihnen schaffen,« warf sie lebhaft +ein und führte mich, um ihre eigene Tätigkeit nach +dieser Richtung zu illustrieren, in den Setzersaal, wo +lauter junge Mädchen beschäftigt waren. Unter den +großen Schürzen lugten zierliche Kleider hervor, die +hübschen Lockenköpfchen hätten höheren Töchtern gehören +können. Ihre Augen folgten mit schwärmerischer Bewunderung +der stolzen Gestalt ihres weiblichen Chefs, +die sich, umgeben von Veilchenduft, mit einem leisen +Wiegen in den Hüften durch ihre Reihen bewegte. Ich +hörte später, sie sei eine <em class="antiqua">grande amoureuse</em>, eine von +jenen, deren Herzen kalt bleiben, wenn ihre Sinne +glühen. »Ihre Mittel sind unerschöpflich,« sagte man +mir mit einem vielsagenden Lächeln. Mich interessierte +dieser Typus, der mir in Deutschland nicht würde begegnen +können. Ich versuchte, ihr näher zu treten. +Doch auch sie blieb stets dieselbe: geistvoll, liebenswürdig, — aber +unnahbar.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_373" id="Page_373"></a></p> + +<p>Unser Pariser Aufenthalt neigte sich seinem Ende +zu. Mein Buch war fast fertig. Es fing +schon an, sich von mir loszulösen und vor mir +zu stehen wie etwas Fremdes, nicht mehr zu mir Gehöriges, +mit dem ich auch innerlich abgeschlossen hatte. +Es war wie eine erstiegene Höhe, von der aus ich nun +weiter gehen mußte. Meine Gedanken kreisten immer +enger um die neue Aufgabe, die wir uns gestellt hatten. +Meine Hoffnungen, genährt von der Liebe zu meinem +Mann, der seine Lebensbestimmung glaubte gefunden +zu haben, übertönten die leise warnenden Stimmen +meines Inneren.</p> + +<p>»Du kannst nur schaffen, wenn du dich selbst behauptest,« +sagten sie.</p> + +<p>»Du wirst die Sache zum Siege führen, wenn du +dich selbst hingibst,« frohlockte die Hoffnung.</p> + +<p>Ich glaubte ihr.</p> + +<p>Heinrich fuhr voraus nach Berlin. Ich erinnerte +mich während der letzten acht Tage, daß ich in Paris +war. Mein Junge jubelte, weil er nun jeden Morgen +mit »Mamachen« gehen durfte. Die Berta hatte auf +ihren Spaziergängen mit ihm viel mehr gesehen als ich; +der kleine Bub wurde mir zum Führer. Er kam sich +dabei sehr wichtig vor. Zuerst zog er mich in atemloser +Eile durch die Tuilerien hindurch zu »der Frau, +die ein Soldat war«. Ich lächelte: war es doch +meiner frühsten Kindheit Traum gewesen, das Vaterland +zu befreien wie sie! Stolz und siegessicher, Frankreichs +Fahne fest in der Hand, erhob sich ihr Standbild +vor mir; sie war den Stimmen in ihrer Brust gefolgt, — unbeirrt; +<a name="Page_374" id="Page_374"></a>aus dem Scheiterhaufen, der ihren +Leib verzehrte, erhob sie sich nur noch größer.</p> + +<p>»Die Jungfrau von Orleans, — ist das ein Märchen?« +fragte der Kleine, als ich ihm die Geschichte erzählt hatte, +und sah mit nassen Augen zu der Reiterin empor.</p> + +<p>»Nein, es ist Wahrheit,« antwortete ich.</p> + +<p>»Warum verbrannten sie denn die bösen Menschen?« +Auf seine glatte Kinderstirn gruben sich tiefe Falten des +Zornes.</p> + +<p>»Sie vertragen nur, was ihresgleichen ist,« sagte ich +leise, wie zu mir selbst.</p> + +<p>Unter der hohen Kuppel des Invalidendomes standen +wir miteinander. Ein breiter Strom bläulichen Lichtes +entsprang ihr und wogte tief unten um den roten Porphyr, +der des großen Korsen Gebeine umschließt. Der +Gang ringsum, die Kapellen zur Seite schienen im +Dämmer zurückzutreten. Mit leiser Stimme erzählte +ich von dem armen Knaben aus Ajaccio, der, seinem +Sterne getreu, die Welt eroberte, der das Testament +der Revolution vollzog, und der auf der Felseninsel im +Weltmeer starb — in Ketten.</p> + +<p>»Auch weil — weil —« das Kind neben mir suchte +nach den Worten, deren Sinn er nicht verstanden hatte; +»weil er zu groß war für die anderen,« ergänzte ich.</p> + +<p>Am letzten Tage vor unserer Abreise kämpfte der erste +Frühlingssonnenschein mit den schwarzgrauen Regenwolken; +grüne Spitzchen lugten neugierig an Büschen +und Bäumen aus braunen Hüllen hervor; die Kinder +mit den langen gedrehten Locken bevölkerten wieder die +Gärten.</p> + +<p>Ich war stundenlang im Louvre gewesen. Ich hatte +<a name="Page_375" id="Page_375"></a>die Menschen, die Welt, die Jahrhunderte durch die +Augen der Größten aller Zeiten gesehen und fühlte +meinen Geist heller, mein Herz wärmer werden. In der +Kunst kommt es nicht darauf an, wie die Welt ist, sondern +wie die Augen sind, die sie betrachten. Nur der +Künstler hat recht, dem sie immer Objekt bleibt, der im +Häßlichen noch das Schöne, im Bösen das Menschliche +findet.</p> + +<p>Und nun, zum Abschied, nahm ich noch einmal den +Kleinen mit mir.</p> + +<p>»Zur Göttin der Griechen wollen wir,« sagte ich ihm, +»die Odysseus und Achilles anbeteten.«</p> + +<p>Die Leute drehten sich um, lächelnd, spottend, entrüstet, +als sie mich mit dem Kind an der Hand durch +die Säle gehen sahen, bis dahin, von wo der Venus +von Milo weiße Gestalt uns entgegenleuchtete.</p> + +<p>»Warum beten die Menschen nicht?« flüsterte mein +Sohn, der die Mütze vom Köpfchen gezogen hatte.</p> + +<p>In einsamer Herrlichkeit stand sie vor uns, im Bewußtsein +ihrer Macht und Schöne, zeitlos, beziehungslos. +Ihr Blick schweifte hinweg über die Menge, gleichgültig, +ob sie ihr Opfer zündete oder die Linien ihres +Körpers mit dem Zirkel maß. Sie herrschte, sie begeisterte +und belebte, nicht weil sie vom Sockel stieg in +den Dienst der Massen, sondern weil sie vollendet war +in sich.</p> + +<p>Droben in den Sälen hingen die Bilder aller derer, +die die Menschen, denen sie dienten, gekreuzigt hatten: +die Heiligen, die Madonnen, die Christuskinder. Sollte +der Zweck des Daseins nicht doch der Olymp der Griechen +und nicht der Himmel der Christen sein?</p> + +<p><a name="Page_376" id="Page_376"></a>Ich strich mit der Hand über die Stirn. Es war +etwas wach geworden in mir, das schlafen mußte.</p> + +<p>Ein weiches Händchen nestelte sich in das meine: +»Warum hat die Göttin keine Arme, Mamachen?«</p> + +<p>»Zur Strafe, weil sie die Menschen nicht festhielt, +die ihrem Tempel entliefen.«</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_377" id="Page_377"></a></p> +<h2><a name="Elftes_Kapitel" id="Elftes_Kapitel"></a>Elftes Kapitel</h2> + + +<p>Es war ein Sonntag, als wir Berlin wiedersahen. +Mir schien, als wären wir Fremde. +Wie klein, wie armselig war das alles: die +Linden mit ihren kraftlosen Bäumen und stillosen Häusern, +der Pariser Platz mit seiner bedrückenden Engigkeit. Und +die neuen Stadtteile: eine gute Bürgersfrau, die sich +herausgeputzt hat, und das bißchen echte Kultur, das sie +besaß, darüber vollends verlor. Dazwischen die Feiertagsbummler: +Der Kontrast zwischen ihrer kreischenden +Lautheit in Tönen und Farben und dem matten Grau +des Märztages tat Augen und Ohren weh.</p> + +<p>»Ich möchte wissen, wo ich zu Hause bin,« seufzte +ich und legte mich abends mit jenem Gefühl innerer +Leerheit schlafen, das uns zuweilen überkommt, wenn +wir eine Staatssoirée hinter uns haben. Mir träumte +von einem riesigen Wasserfall. Noch im Halbschlaf am +Morgen hörte ich sein Rollen und Rauschen, und je +wacher ich wurde, desto stärker schwoll es an. Vom +Potsdamer Platz herauf klang es; Straßenbahnen, Omnibusse, +Lastwagen, eilende Menschenfüße waren die Instrumente +dieses Konzertes; Berlin ging auf Arbeit. +Da war kein Winkel ohne Leben.</p> + +<p>Drüben in der Leipzigerstraße waren unter der Spitzhacke +alte Mauern zusammengebrochen, und sieghaft er<a name="Page_378" id="Page_378"></a>hob +sich jetzt, von Riesengranitpfeilern getragen, ein +mächtiges Warenhaus, wie selbst Paris es nicht kannte, +aus dem märkischen Sand. Kein Basar, dessen Bau +Gotik, Barock und Renaissance durcheinanderwirft, wie +seine reklameschreienden Schaufenster die Waren, — ein +Stück neuer Kultur vielmehr, die die Schönheit der +Zweckmäßigkeit erkannte und doch allen Zauber der +Kunst über sie ausgoß. Die Menschen strömten aus +und ein. Sie trugen von all jenen glänzenden Goldblumen +und köstlichen Steinreliefs, die seine inneren +Räume schmückten, von den farbenleuchtenden Onyxplatten +und gemalten Holzdecken, von den Feuertropfen +und Lichtgirlanden einen Schimmer von Schönheit mit +sich nach Haus.</p> + +<p>Jenseits des Platzes waren Baumriesen gestürzt, denn +dem Verkehr mußte die Straße sich weiten, und an der +Peripherie der Stadt standen reihenweise die Holzgerüste, +wie gewaltige Pallisaden, — Zeichen dafür, daß das +alte Kleid ihrem Riesenleibe zu eng wurde.</p> + +<p>Ein Emporkömmling ist sie, — gewiß! Aber keiner, +den das Glück aufwärts trug. Vielmehr einer, der sich +durch die Kraft seiner Fäuste den Weg bahnte.</p> + +<p>Wie die Menschen liefen und hasteten! Sie kannten +jenes gemächliche Schlendern nicht, mit dem Lächeln der +Behaglichkeit auf den Lippen und kokettierenden Blicken +hin und her. Aller Züge schienen gespannt von nervöser +Eile, von sorgender Angst, von lastenden Gedanken.</p> + +<p>Klingendes Spiel, feste Schritte im Takt kündeten +das Nahen von Soldaten. Der Verkehr stockte. Wo in +Preußen die bewaffnete Macht erscheint, gehört ihr die +Straße. Und hypnotisiert durch den Marsch, durch die<a name="Page_379" id="Page_379"></a> +Masse, durch wehende Federbüsche und blinkende Uniformen, +drängte jung und alt ihr nach, ihr voran.</p> + +<p>Die Alexander-Grenadiere bezogen heute ihre neue +Kaserne: in nächster Nähe des Schlosses war sie errichtet +worden, eine Zwingburg mit Mauern und Schießscharten; +und vom Lustgarten aus führte der Kaiser +selbst seine Garde dem neuen Heime zu, während die +Polizei in weitem Bogen das gaffende Volk beiseitedrängte, +damit der Herrscher allein blieb mit seinen +Truppen. »Ihr seid die Leibwache eures Königs,« sagte +er, »und wenn diese Stadt noch einmal wie Anno 48 +sich wider ihn erheben wird, so seid ihr berufen, die +Frechen und Unbotmäßigen mit der Spitze eurer Bajonette +zu Paaren zu treiben.«</p> + +<p>Fürwahr, wenn ich mich bis jetzt wie in einem Traum +befunden hatte, nun wußte ich: wir waren in Berlin.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Wir gingen mittags zu Erdmanns. Sie waren +erst kürzlich von einer langen Seereise zurückgekehrt, +die der Arzt ihnen verordnet +hatte, und schienen, nach den Briefen meiner Schwester +zu schließen, befriedigt von ihrem Erfolg. Und nun +standen sie mir gegenüber, so anders als ich sie verlassen +hatte. Scharf und eckig traten die Backenknochen +aus meines Schwagers Gesicht hervor, sein Anzug +hing um ihn, als wäre sein Körper nichts als ein +Knochengerüst. Nur sein Geist schien lebensvoller als +je und sprühte Funken. Das Schwesterchen dagegen +war ebenso still, wie sie blaß und schmal war. Wo +war das runde Kindergesicht und die glänzenden Augen?<a name="Page_380" id="Page_380"></a> +Seltsam: auch aus ihren Haaren war der Goldschimmer +verschwunden; es lag wie Asche auf ihnen. Die einstmals +lauter Wärme ausströmte, hatte eine Atmosphäre +abweisender Kühle um sich. Ihre Lippen glichen jetzt +denen meiner Mutter: scharf, schmal, blutlos. Ich sah, +daß sie sich mir nicht öffnen würden, und forschte in +ihren Zügen; aber auch sie blieben verschlossen. Ob sie +unglücklich war, weil sie kein Kind hatte? Erdmann +spielte stundenlang mit meinem Buben, während sie ihn +kaum mit einem Blick streifte. Wir sprachen von der +Mutter, die den Winter in Italien verlebt hatte und +Briefe schrieb wie ein junges Mädchen, das zum erstenmal +in die Welt sieht.</p> + +<p>»Sie ist glücklich, seitdem sie allein ist,« sagte Ilse. +Ein flehender, gequälter Blick ihres Mannes traf sie.</p> + +<p>»Was spielst du jetzt?« fragte ich, zum Flügel deutend, +um das Gespräch abzulenken.</p> + +<p>»Ich habe die Musik aufgegeben, sie macht mich +nervös,« antwortete sie.</p> + +<p>»Auch die Oper??«</p> + +<p>»Die erst recht! Die offenen Mäuler und gespreizten +Arme all der dicken Tenöre und Primadonnen zerstören +jeden Rest von Illusion. Man kann sie bestenfalls ertragen, +wenn man geschlossenen Auges zuhört. Aber +da man immer den übrigen Pöbel um sich hat — —«</p> + +<p>Sie unterbrach sich und schürzte ein wenig spöttisch +die Lippen: »Ach so, — entschuldige! Ich vergaß, daß +ich euer proletarisches Empfinden kränken könnte.«</p> + +<p>Erdmann lachte. »Nun — nun,« meinte er begütigend, +»der Pöbel des Parketts dürfte doch auch in +euren Augen mit dem Proletariat nicht identisch sein.<a name="Page_381" id="Page_381"></a> +Übrigens bin ich mit Ilse einer Meinung: der Zirkus +und das Überbrettl sind für unsereins allein noch erträglich. +Hohe Kunst auf der Bühne ist verletzend für +Menschen von Kultur. Man sollte dafür Marionettentheater +schaffen, oder sechsfache Schleier vor die Darsteller +hängen, damit sie wie Schatten wirken.«</p> + +<p>»Unvergleichliche Wirkungen müßten sich dadurch erzielen +lassen,« sagte Ilse, etwas lebhafter werdend, +»zum Beispiel mit herrlichen Sachen, wie diesen hier.« +Sie wies auf das neuste Heft der Blätter für die Kunst, +das dramatische Gedichte von Schülern Stefan Georges +enthielt.</p> + +<p>»Ich lese sie noch immer nicht,« entgegnete ich lächelnd; +»weniger denn je kann ich heute die hochmütige Abkehr +vom Leben vertragen, die das Kennzeichen all dieser +Menschen ist. Sie berauschen sich am Klang der Sprache +und bekommen, wenn es zu handeln gilt, zittrige Hände +wie Absinthtrinker.«</p> + +<p>Wir gerieten in eine Debatte, die sich immer schärfer +zuspitzte. Ilse bekam heiße Wangen und mitten im Gespräch +einen heftigen Hustenanfall, der mich angstvoll +aufhorchen ließ. Erdmann sah in diesem Augenblick +wie verstört drein. Und wie um gewaltsam den Eindruck +abzuschütteln, beschloß er, uns durch den Tiergarten +zum Hotel zurückzubegleiten.</p> + +<p>»Ich bin zu müde —,« sagte Ilse.</p> + +<p>»In der frischen Luft wirst du schon munter werden,« +damit drängte er sie hinaus.</p> + +<p>Wir begegneten vielen Menschen, die Erdmanns +grüßten. Das stimmte ihn fröhlich. »Lauter Leute, die +ich einrichte,« sagte er. »Wenn ich erst all den Berlin-W.-<a name="Page_382" id="Page_382"></a>Protzen +zu anständigem Wohnen verholfen haben werde, +kann ich den ganzen Kram an den Nagel hängen und +Pinsel und Palette wieder vorholen. Was, mein kleines +Ilschen?!« Und zärtlich schob er seinen Arm in den +ihren. Aber sie senkte den Kopf nur noch tiefer.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Als die Mutter zurückkehrte, äußerlich und innerlich +verwandelt, frisch und strahlend, dabei +mit gesteigertem Lebensdurst, der sich auf alles +stürzte, was sich ihr bot, lag Erdmann fiebernd zu Bett.</p> + +<p>»Er wird sich erholen, sobald es warm wird,« sagte +sie zuerst, und erzählte voll freudigem Eifer von ihren +schweizer Sommerplänen. Ein paar Tage später sah +ich sie wieder: gerade, steif, mit zusammengekniffenen +Lippen, wie damals, als der Vater noch lebte. Die +Ärzte hatten sie aufgeklärt. Erdmann hatte die Schwindsucht, +Ilse schien angesteckt.</p> + +<p>Wir nahmen Abschied von Erdmanns. Sie sollten +in ein heidelberger Sanatorium übersiedeln. Die seidene +Decke, unter der er lag, bauschte sich kaum sichtbar +über dem Körper; die mageren Finger führten eifrig +den langen Bleistift über das Papier auf seinem +Schoß. »Ich muß doch für Prinzessin Ilse Geld verdienen,« +und ein leidenschaftlicher Blick traf die schöne +junge Frau, die ihm mit gesenkten Lidern, ruhig und +pflichttreu, die Arznei zum Munde führte.</p> + +<p>Ich kämpfte mit den Tränen, als ich nach Hause +kam. Nicht nur, weil meine Schwester in einem Augenblick, +wo ich sie unglücklich wußte, mir fremd, fast feindselig +gegenüberstand, sondern weil sie das Opfer einer<a name="Page_383" id="Page_383"></a> +Ehe war, von der ich sie vielleicht hätte zurückhalten +können. Ich empfand ihre Kühle wie einen Vorwurf.</p> + +<p>»Vor Kinderschmerzen hast du mich einst gehütet,« +schienen ihre Augen zu klagen, »warum hast du mich +vor dem schlimmsten nicht bewahrt?« Und wenn sie +meinen Buben geflissentlich übersah, so wußte ich, was +sie damit sagen wollte: »Du hast mich über ihm vergessen.«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Unser Einzug in die neue Wohnung, — einem +Gartenhaus der Uhlandstraße, — war kein +fröhlicher. All die tausenderlei Dinge, die +mit ihm zusammenhingen, vom Auslösen der Möbel auf +dem Speicher bis zu den Löhnen der Handwerker, hatte +unser letztes Geld verschlungen.</p> + +<p>»So mach dir doch nichts draus, — quäle nicht dich +und mich mit unnützen Sorgen,« rief Heinrich heftig, +als ich ihm unsere Lage auseinandersetzte. Ich schwieg +verletzt. Er war wie ein geistig Weitsichtiger, der das +Nächste nicht sieht, dem immer nur das Ferne gegenwärtig +ist. Der Plan seiner Zeitschrift beherrschte ihn +völlig. So mußte ich mir selber helfen. Ich bat den +Verleger meines Buches um mein Honorar. Er erfüllte +meinen Wunsch ohne weiteres. Heinrich aber wunderte +sich nicht einmal, wieso ich plötzlich Geld hatte. Für +ihn schienen die pekuniären Seiten des Lebenskampfes +nicht zu existieren, mir dagegen nahmen sie alle Schwungkraft +und machten mich bis zur Grausamkeit bitter +gegen ihn. Bat ihn jemand um ein Almosen oder um +ein Darlehn, so gab er, was er in der Tasche hatte.<a name="Page_384" id="Page_384"></a> +Wagte ich einen leisen Vorwurf, so gruben sich seine +Stirnfalten noch tiefer, und es kam immer häufiger +vor, daß er mir mit einem: »Sieh lieber, daß deine +Berta dich nicht betrügt!« antwortete. Dann erst war +die Entzweiung eine vollkommene. Nichts schien mir +ungerechter, als dieses Mädchen zu verdächtigen, das +sich für uns aufopferte und nicht einmal eine Aufwärterin +zu ihrer Hilfe zuließ. Daß sie allmählich in +ihrem Aussehen und Benehmen zu einem »Fräulein« +geworden war, schien mir im Interesse meines Jungen +nur vorteilhaft, während Heinrich es als Folge meiner +Verwöhnung ansah und behauptete, ich verdürbe nur +das einst so schlichte Bauernmädchen.</p> + +<p>Lange freilich währten unsere gegenseitigen Verstimmungen +nie. Vor den klaren Augen unseres Kindes, +denen nichts entging, schämten wir uns ihrer. Seine +Jugend sollte nicht durch den Unfrieden seiner Eltern +vergiftet werden, wie die meine.</p> + +<p>»Nu lach doch wieder ein ganz kleines bißchen!« +Damit kletterte er schmeichelnd auf seines Vaters Knie. +»Nich wahr, Mamachen, du gibst dem Heinzpapa gleich +einen dicken, runden Kuß!« Damit lief er zu mir und +legte das weiche Bäckchen zärtlich an meine Wange.</p> + +<p>Waren wir so versöhnt, so fühlten wir den Stachel +nicht, der sich trotzdem immer tiefer in unsere Herzen +bohrte.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_385" id="Page_385"></a></p> + +<p>Gleich nach unserer Ankunft hatte ich den Genossinnen +meine Rückkehr mitgeteilt. Auch +das war der Anlaß zu einer kleinen Auseinandersetzung +zwischen uns gewesen.</p> + +<p>»Willst du dich wirklich wieder in die unfruchtbare +Arbeit stürzen?!« sagte mein Mann ärgerlich.</p> + +<p>»Gewiß,« entgegnete ich mit jener Gereiztheit, die +mich immer überkam, wenn ich meine persönliche Freiheit +durch ihn gefährdet glaubte. »Ich sehe die Frauenbewegung +mehr denn je als das Gebiet an, auf dem +ich wirken muß.«</p> + +<p>»Du wirst in unserer Zeitschrift genug für sie tun +können, — mehr als in eurem Kaffeekränzchen!«</p> + +<p>Ich zuckte spöttisch die Achseln und meinte gedehnt: +»Wenn ich darauf warten soll!« Im selben Moment +aber bereute ich schon, ihn an seiner empfindlichsten +Stelle verletzt zu haben. Es lag wahrhaftig nicht an +ihm, wenn seine Idee noch nicht verwirklicht war.</p> + +<p>Unsere Gesinnungsgenossen, mit Einschluß von Bernstein, +der sie noch von London aus in Briefen an +meinen Mann lebhaft begrüßt hatte, stimmten ihr rückhaltlos +zu, aber es fand sich niemand, der auch nur +einen Pfennig für sie gegeben oder sich sonst um ihre +Ausführung bemüht hätte. Daß auch dies nur ein +Symptom für die Uneinigkeit und Unklarheit des Revisionismus +war, empfand jeder von uns. Eine Bewegung +war vorhanden, aber es fehlte ihr die starke Hand +eines Führers, der sie zusammenzufassen und ihr Richtung +zu geben vermag. Wir erwarteten für die Sache +wie für unseren Plan, der ja nur in ihren Diensten +<a name="Page_386" id="Page_386"></a>stehen sollte, von dem persönlichen Eingreifen Bernsteins +nicht wenig.</p> + +<p>An einem Maienabend des Jahres 1901, dessen Luft +vom Brodem lebensschwangerer Erde so gesättigt war, +daß er selbst mitten in der steinernen Öde der Stadt +fühlbar wurde, drängten sich die Menschenmassen in +einem engen Saal dicht zusammen; sie trugen in ihren +Haaren und Kleidern den Duft des Frühlings mit +herein, und der ganze Raum schien erfüllt von seinem +Fieber. Es waren keine Arbeiter. Aber die intellektuelle +Jugend war es. Besann sie sich endlich auf sich +selbst? War sie im Begriff, Ideale aufzurichten, die +einer großen Kraft und eines großen Kampfes würdig +waren? Die sozialwissenschaftliche Studentenvereinigung +Berlins hatte diese Versammlung einberufen und +Eduard Bernstein zum Redner gewählt. Ihre berühmtesten +Lehrer saßen unter ihnen, dazwischen die +politischen Führer jener Linken, — die Barth, die Naumann, +die Gerlach, — die, abgestoßen von allen anderen +bürgerlichen Parteien, zwischen ihnen und der Sozialdemokratie +die unfruchtbare Rolle des Puffers spielte. +Sie alle hofften, — bewußt oder unbewußt, — daß +dieser Abend irgendeine Quelle erschließen würde, an +der sie nicht nur ihren Durst stillen könnten, sondern +deren Wasser sich zum Strome weiten und alle ihre +irrenden Schiffe zu tragen vermöchten.</p> + +<p>»Wie ist wissenschaftlicher Sozialismus möglich?« +lautete die Frage, auf die Bernstein die Antwort geben +wollte. Er trat an das Rednerpult. Hinter den +Brillengläsern sahen seine kurzsichtigen Augen mit einem +verlegen-erstaunten Blick auf die Menge der Zuhörer.<a name="Page_387" id="Page_387"></a> +Dann sprach er. Mit einer Stimme, die brüchig klang. +In abgehackten Sätzen. Ein Mann, der an die Enge +der Studierstube gewohnt war, nicht an die Volksversammlung. +Schon zog der Schatten der Enttäuschung +über den hoffnungsfrohen Glanz auf den Gesichtern. +Schüchtern und leise tauchte hie und da +schon die Frage auf: »Was hat er eigentlich? — Was +will er?«</p> + +<p>Daß der Sozialismus von spekulativem Idealismus +erfüllt und darum nicht Wissenschaft sei, die im voraussetzungslosen +Streben nach Erkenntnis bestehe; daß +die Arbeiterbewegung vom Wollen eines bestimmten +Zieles, vom Glauben an ein bestimmtes Zukunftsbild +getragen sei und nicht vom Wissen, — es war kaum +möglich, aus der langen Rede etwas anderes herauszuhören, +als diese wenigen, für den Ausgangspunkt +einer neuen Bewegung viel zu negativen Gedanken.</p> + +<p>Zuweilen schien es, als ob der Vortrag nichts wäre +als das laut gewordene Grübeln eines Menschen über +Dinge, die ihn selbst noch als Probleme quälen. Er +war so mit sich beschäftigt, daß er nicht fühlte, +jener elektrische Strom, der ihn zuerst mit den Zuhörern +verband, sich mehr und mehr verflüchtigte, statt daß er +ihn benutzt hätte, um die unerschütterten, befreienden +Gedanken des Sozialismus diesen offenen Seelen einzuprägen, +ihnen den Willen zur Tat zu vermitteln, nach +dem ihre junge Kraft sich sehnte.</p> + +<p>Wir hatten einen Künder neuer Wahrheit erwartet, +und ein Zweifler war gekommen, dem des Pontius Pilatus +Frage Geist und Gewissen bewegte.</p> + +<p>Ein feiner durchdringender Regen rieselte hernieder, +<a name="Page_388" id="Page_388"></a>als wir den Saal verließen. Mich fröstelte. Ich wäre +am liebsten still nach Hause gegangen.</p> + +<p>»Nun?! In diesem zweieinhalbstündigen Redefluß sind +Ihnen wohl alle Felle weggeschwommen?« sagte eine +sarkastische Stimme neben mir. Ich sah in Rombergs +lächelndes Gesicht und machte eine abwehrende Bewegung; +mir war nicht zum Scherzen zumute. »Und +nun rasch, kommen Sie beide mit, in irgend einen gemütlichen +Winkel. Wir haben uns eine Welt zu erzählen;« +damit versuchte er, einen Weg durch die Menge +zu bahnen. Seine aufrichtige Freude über unser Wiedersehen +tat mir in diesem Augenblick, in dem ich so viel +verloren zu haben glaubte, doppelt wohl.</p> + +<p>»Lassen wir's heute,« meinte mein Mann mißmutig, +»wir würden nur Ihre gute Laune verderben.«</p> + +<p>»Oder ich Ihre schlechte, da meine die dauerhaftere +ist,« lachte Romberg.</p> + +<p>Wir gingen zusammen in eins der zunächst gelegenen +Restaurants, aber der »gemütliche Winkel«, den wir +uns aussuchten, wurde rasch zum Kriegsschauplatz, denn +eine ganze Gesellschaft Versammlungsbesucher fand sich +allmählich ein, und jeder hatte das Bedürfnis seinem +Herzen Luft zu machen. Es zeigte sich nun erst recht, +wie unklar Bernstein gesprochen hatte: je nach der politischen +oder philosophischen Richtung, der der einzelne +zugehörte, gab er seinen Worten eine andere Deutung.</p> + +<p>»Das Todesurteil des Marxismus!« triumphierte der +Nationalsoziale.</p> + +<p>»Nein,« antwortete scharf einer unserer radikalen +Parteigenossen, »ein Todesurteil seiner selbst! Er hat +als wissenschaftlicher Sozialist abgedankt.«</p> + +<p><a name="Page_389" id="Page_389"></a>Und nun wurden aus seiner Rede einzelne Sätze +herausgerissen, die der und jener sich notiert hatte, und +betrachtet und zerpflückt. Als eine Rückkehr zum Utopismus +wurde bezeichnet, daß er die »Wünschbarkeit einer +sozialistischen Gesellschaftsordnung« für den Hebel der +Agitation und die werbende Kraft der Partei erklärt hatte.</p> + +<p>»Nur alte wundergläubige Weiber lockt man damit +hinter dem Ofen hervor,« spottete einer; »auch das +himmlische Jerusalem war ›wünschbar‹, und doch haben +wir die Fahrt dahin aufgegeben, weil seine Existenz unbeweisbar +blieb.«</p> + +<p>»Vollends lächerlich,« fügte ein anderer hinzu, »ist +die Behauptung, daß die Einsicht in die größere Gerechtigkeit +sozialistischer Einrichtungen uns zu Sozialisten +gemacht hat. Mag sein, daß Mitleid mit den Armen, +Empörung gegen die Ungerechtigkeit manch einen zuerst +in unsere Reihen trieb. Aber bloße Empfindungen verflüchtigen +sich, wenn die Erkenntnis sie nicht auf realen +Boden zwingt. Würde Bernstein wirklich die Frage +nach der Wissenschaftlichkeit des Sozialismus verneinen +können, so wäre er so viel wert, als das Christentum +bisher gewesen ist.«</p> + +<p>Romberg hatte zuerst ruhig zugehört.</p> + +<p>»Jetzt zerzausen sie den armen Bernstein, weil er +ihnen nicht die letzte Wahrheit gab!« sagte er nun, +während aller Augen sich auf ihn richteten. »Die +Wissenschaft ist doch nichts Fertiges, sondern ein ewiges +Suchen! Er sucht, und beweist dadurch, daß er denkt. +Wissenschaftlich abgedankt hat nicht er, sondern haben +diejenigen seiner Gegner, die jeden Satz im Lehrgebäude +des Sozialismus für ein unersetzliches Glied in der<a name="Page_390" id="Page_390"></a> +Kette der sozialistischen Beweisführung halten. Dieser +Dogmatismus könnte die Bewegung töten, nicht aber der +Revisionismus, auch wenn er sich noch so täppisch gebärdet.«</p> + +<p>»Bernsteins Kritik vernichtet doch aber geradezu grundlegende +Ideen des Marxismus?« wandte der Nationalsoziale +ein.</p> + +<p>»Und wenn schon?!« antwortete Romberg. »Der +Bau des marxistischen Systems ist so genial, daß sich +Mauern herausbrechen lassen, ohne ihn zu gefährden. +Die Tatsache des Klassenkampfes schaffen Sie nicht aus +der Welt, sie allein genügt, um die Naturnotwendigkeit +des Sozialismus zu beweisen.« Er trank sein Glas +leer und erhob sich mit einem hochmütigen Blick auf +die verdutzten Gesichter der Tischgenossen. »Unser Schicksal +ist unentrinnbar, — damit muß man sich abfinden,« +sagte er, »aber wünschbar — weiß Gott! — ist's für +unsereinen nicht. Ich bin bloß froh, daß die berühmte +<em class="antiqua">'lutte finale'</em> sich erst auf meinem Grabe abspielen wird.«</p> + +<p>Wir gingen zusammen.</p> + +<p>»Ich danke Ihnen,« sagte ich, als wir draußen waren; +der niederdrückende Eindruck der Rede Bernsteins war +verwischt.</p> + +<p>»Im Grunde habe ich ja auch nur für Sie gesprochen —,« +es war der teilnehmende Blick eines +Freundes, mit dem er mir bei den Worten in die Augen +sah, — »ich bin so gewohnt, Sie stark zu sehen, daß +mir Ihr Kummer förmlich weh tat.«</p> + +<p>Er begleitete uns bis nach Haus. Mein Mann weihte +ihn in unsere Pläne ein.</p> + +<p>»Und Sie sind einverstanden? Sie wollen am Ende +gar mittun?!« wandte er sich an mich.</p> +<p><a name="Page_391" id="Page_391"></a></p> +<p>»Mit allen Kräften, — gewiß!« antwortete ich. »Was +können Sie dagegen haben, nach all den Gedanken, die +Sie heute über den Sozialismus entwickelten.«</p> + +<p>»Ich mag Sie mir nicht vorstellen, — auf dem Drehschemel +vor dem Redaktionspult, — die Schmierereien +anderer Leute korrigierend. Sie gehören ins achtzehnte +Jahrhundert —«</p> + +<p>»Gewiß! An die Seite der Madame Roland —!« +unterbrach ich ihn rasch.</p> + +<p>Nach und nach erwärmte er sich für unseren Gedanken. +»Mit all dem Kleinbürgerlichen, Philiströsen in Ihrer +Partei werden Sie gründlich abrechnen müssen,« meinte +er im Laufe des Gesprächs, »weite Horizonte geben, die +über den Misthaufen des Nachbarn hinausgehen.« Und +er verbreitete sich über die Stellung der Partei zur auswärtigen +Politik.</p> + +<p>»Hier trennen sich unsere Wege, lieber Professor,« +sagte mein Mann. »Sie werden kaum erwarten, daß +ich als Sozialdemokrat auf diesem Gebiet Ihre Wandlungen +mitmache.«</p> + +<p>»Wandlungen?! Wieso?!« ereiferte sich Romberg. »Es +entspricht der Konsequenz meiner Entwicklung, daß +ich für den Kolonialbesitz Deutschlands eintrete und +demzufolge für die Flottenvorlage agitiert habe. Traurig +genug, daß ihr Sozialisten euch, scheint es, erst belehren +lassen werdet, wenn ihr die Macht im Staate habt! +Das ist, — verzeihen Sie, liebe Freundin! — der unglückselige +feministisch-sentimentale Einschlag in der +Sozialdemokratie, der sie für die notwendigen, großen, — wenn +Sie wollen — grausamen Forderungen der +Kultur blind und taub macht. Der Kampf um die<a name="Page_392" id="Page_392"></a> +Macht ist die Bedingung unserer Entwicklung. Die Frage, +die uns die Weltgeschichte stellt, ist einfach die: soll uns +die Erde gehören oder den Negern und den Chinesen? +Die Antwort scheint mir nicht zweifelhaft.«</p> + +<p>Ich sah empört zu ihm auf: »So sind Sie für das +Chinaabenteuer mit all seinem Gefolge von Hunnentum +und für die Kolonialkriege mit all ihrer Unmenschlichkeit?! +Das heißt doch nicht, Forderungen der Kultur +erfüllen, sondern die Kultur preisgeben, die wir haben!«</p> + +<p>»Ich bin für die Erschließung Chinas, die für unseren +Handel eine Notwendigkeit ist; ich bin für die Kolonialkriege, +die den Boden gewinnen für unsere Volksvermehrung, +aber daraus folgt doch nicht, daß ich die +Greuel des Krieges verteidige. Ich nehme sie nur um +der größeren Werte willen in den Kauf, wenn sie unvermeidlich +sind ... Wir würden heute noch in Urwäldern +wohnen, wenn wir mit den wilden Tieren Mitleid +gehabt hätten.«</p> + +<p>Eine lebhafte Debatte über die volkswirtschaftliche +Bedeutung der Kolonien und der »offenen Tür« Chinas +entspann sich zwischen meinem Mann und Romberg. +Ich hörte kaum zu; der Gedanke an die Urwälder und +die wilden Tiere ließ mich nicht los und spann sich wie von +selber weiter. Ich horchte erst auf, als Romberg sagte: +»Wenn die Sozialdemokratie sich nicht entschließt, die +Sache der Starken zu führen, so wird ihr Sieg eine +Niederlage der Menschheit sein.«</p> + +<p>Vor unserer Haustür nahmen wir Abschied voneinander.</p> + +<p>»Was wird denn aber mit dem Archiv?« wandte sich +Romberg noch einmal an Heinrich; »es wäre ein Jammer, +wenn es zugrunde ginge!«</p> + +<p><a name="Page_393" id="Page_393"></a>Mein Mann zuckte die Achseln. »Wissen Sie einen +Käufer dafür?« fragte er statt einer Antwort.</p> + +<p>»Einen Käufer? — Vielleicht!« meinte Romberg nachdenklich.</p> + +<p>Eine leise Hoffnung stieg in uns auf.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>An einem der folgenden Tage kam ich zum erstenmal +seit meiner Rückkehr mit den Genossinnen +zusammen. Man empfing mich kühl, — fast +als bedaure man, mich überhaupt wieder zu sehen. Ich +unterdrückte den aufsteigenden Ärger. Bald würden sie +mir ganz anders begegnen. Lag erst mein Buch in +ihren Händen, — das Buch, das eine wissenschaftliche +Leistung und ein Bekenntnis war, — so würden sie mich +alle freudig willkommen heißen.</p> + +<p>In dem Jahr meiner Abwesenheit waren die Fortschritte +der Arbeiterinnenbewegung nicht erheblich gewesen. +Man hatte versucht, durch Einrichtung von Beschwerde- und +Auskunftsstellen einen persönlichen Zusammenhang +mit den der Bewegung noch fremd gegenüberstehenden +Arbeiterinnen zu schaffen. Ich lächelte +unwillkürlich, als ich davon hörte. Vorschläge der Art +hatte mein so leidenschaftlich bekämpfter Plan eines +Zentralausschusses für Frauenarbeit enthalten.</p> + +<p>Für den Arbeiterinnenschutz und gegen die Beschränkung +der Fabrikarbeit verheirateter Frauen war auf Grund +eines Parteitagsbeschlusses eine größere Agitation entfaltet +worden. Die Erfolge waren minimal.</p> + +<p>»Es fehlt uns immer noch an packenden Schriften, +die wir verbreiten könnten,« meinte eine der Frauen.</p> +<p><a name="Page_394" id="Page_394"></a></p> +<p>»Ist denn Genossin Orbins Broschüre noch nicht erschienen?« +fragte ich und begegnete erstaunten Gesichtern.</p> + +<p>»Genossin Orbins Broschüre?!« wiederholte Ida +Wiemer. »Von der wissen wir nichts!«</p> + +<p>»Ich habe doch darauf hin meine eigene Absicht, eine +solche zu schreiben, aufgegeben!« rief ich aus, — noch +immer wollte ich nicht glauben, woran doch nicht mehr +zu zweifeln war: sie hatte mich nur an der Arbeit hindern +wollen! Martha Bartels lächelte ironisch. Ich +hörte, wie sie ihrer Nachbarin zuflüsterte: »Sie will sich +nur aufspielen, — uns glauben machen, daß sie auch +mal was zu arbeiten die fromme Absicht hatte —,« und +ich sah wie ihre Worte von Mund zu Mund gingen +und die Mienen sich klärten.</p> + +<p>»Wenn Sie sich mit der Frage beschäftigt haben,« +sagte sie dann laut und hochmütig, »so können Sie ja +ein paar Referate übernehmen.«</p> + +<p>Ich war bereit dazu.</p> + +<p>»Vielleicht sprechen Sie auch bei uns?« fragte die Vorsitzende +des Arbeiterinnenbildungsvereins; »es müßte +freilich ein anderes Thema sein.«</p> + +<p>»Gern!« antwortete ich und war entschlossen, die +Frage der Haushaltungsgenossenschaft bei der Gelegenheit +zur Erörterung zu bringen.</p> + +<p>»Frauenarbeit und Hauswirtschaft« nannte ich meinen +Vortrag, der schon eine Woche später stattfand. Der +niedrige, enge Raum der Arminhallen war überfüllt, als +ich eintrat. Eine Anzahl bürgerlicher Frauenrechtlerinnen +suchten sich in den Winkeln des Saales zu verbergen. +Sie hatten mein Auftreten bei Gelegenheit des inter<a name="Page_395" id="Page_395"></a>nationalen +Frauenkongresses nicht vergessen und zeigten +nicht gern ihr Interesse für mich.</p> + +<p>Ich stellte in großen Zügen die Entwicklung der +Frauenarbeit dar, von ihrer ersten Beschränkung auf +das Haus bis zu ihrer heutigen Ausdehnung auf alle +Berufe, und die parallel laufende Evolution der Hauswirtschaft +von jenen Zeiten an, wo innerhalb ihres +Kreises alle Bedürfnisse der Familie hergestellt wurden, +bis zur Gegenwart, wo nichts von ihr übrig geblieben war +als der Herd. Ich schilderte die Lage der erwerbstätigen +Familienmütter, die physischen und seelischen Gefahren, +denen ihre Kinder ausgesetzt sind, und ich erörterte die +Zunahme der Berufsarbeit verheirateter Frauen nicht +nur auf dem Gebiet der manuellen, sondern auch auf +dem der geistigen Arbeit. »Die unausbleiblichen Folgen +dieser Tatsachen liegen auf der Hand: entweder bricht +der weibliche Körper unter der doppelten Arbeitslast +des Hauses und des Berufs vorzeitig zusammen und +der Geist büßt seine Leitungskraft ein, oder die Häuslichkeit +wird vernachlässigt, und die junge Generation +wird durch Mangel an Pflege und hygienisch einwandfreier +Ernährung aufs äußerste geschädigt ... Die +Gefahr ist zu groß, zu dringend, als daß wir uns mit +dem Appell an die Hilfe des Staats genügen lassen +dürften, wir müssen zu gleicher Zeit zur Selbsthilfe +greifen.« Und nun entwarf ich meinen Plan. »Hungernde +englische Weber waren die Schöpfer der Konsumgenossenschaften, +deren Kauffahrteischiffe heute die +Meere durchziehen; der Wohnungsnot armer Arbeiter +entsprang die Idee der Baugenossenschaften, deren +Häuser überall aus der Erde wachsen, — sollte der<a name="Page_396" id="Page_396"></a> +Jammer der Frauen und der Kinder nicht die Haushaltungsgenossenschaft +ins Leben rufen können?«</p> + +<p>Ich fühlte die wachsende Erregung, die sich der Zuhörerschaft +bemächtigte. Es war das Zentrum der Interessensphäre +der meisten, in das ich getroffen hatte. +Aber auf den Sturm, der sich erhob, war ich doch nicht +gefaßt gewesen. Alle jene Gründe, mit denen die Sozialdemokratie +vor Jahrzehnten der Selbsthilfe der Gewerkschaften +entgegengetreten war, mit denen sie heute +noch vielfach den Genossenschaften entgegentritt, — als +Ablenkungen vom Hauptziel, der Verwirklichung des +Sozialismus, und vom allein wichtigen Kampf: dem +politischen; als Versöhnungen des Proletariers mit dem +Gegenwartsstaat, — wurden mir wie ein Hagel von +Pfeilen entgegengeschleudert. Es fehlte nicht an scharfen +Seitenhieben auf meinen Revisionismus, der sich darin +dokumentiere, daß ich innerhalb der kapitalistischen Gesellschaftsordnung +sozialistische Ideen verwirklichen wolle, +wie die alten, überwundenen Utopisten.</p> + +<p>Nur wenige unterstützten mich. Die Frauenrechtlerinnen +schwiegen.</p> + +<p>Bereits am nächsten Morgen ging mein Vortrag +durch die Presse, entstellt, verspottet, beschimpft.</p> + +<p>»Der Zukunfts-Karnickelstall, wo sich das Familienleben +auf das Schlafzimmer beschränkt«, hieß es in der +konservativen Presse; von der »Kaserne als Idealzustand« +sprach die liberale. Als die Spottlust befriedigt +war, kamen die pathetischen Artikel, die angesichts +der drohenden Zerstörung der Familie ihre Kassandrastimme +erhoben. Und in den »Sprechsälen« und +»Frauenecken« zeterten die guten Hausfrauen, deren +<a name="Page_397" id="Page_397"></a>einziges Zepter der Kochlöffel war. Hatte ich sie schon +durch die Dienstbotenbewegung gegen mich aufgebracht, — jetzt +standen sie mir als ein Heer gerüsteter Feinde +gegenüber. Der Kochherd war wirklich nicht nur der +Inhalt, sondern die Grundlage ihres Familienlebens.</p> + +<p>»Die Männer werden überhaupt nicht mehr heiraten, +wenn sie keine Hausfrau brauchen,« jammerte eine ehrliche +Naive.</p> + +<p>Ich wartete vergebens auf die Unterstützung der +Frauen, die mir ihre Not oft selbst geklagt hatten: der +Schriftstellerinnen, Ärztinnen, Künstlerinnen.</p> + +<p>»Nur ein Jahr lang sollten unsere männlichen Kollegen +Suppe kochen und Strümpfe stopfen,« hatte einmal eine +von ihnen ausgerufen, »und wir würden an dem Fehlen +großer Leistungen ihre geistige Minderwertigkeit beweisen +können!«</p> + +<p>In den Blättern der Frauenbewegung fand mein +Plan keinen Widerhall. Helma Kurz rief Ach und +Wehe über mich, die ich »alle Frauen aus der trauten +Häuslichkeit in die Kaserne« treiben wolle. Keine der +Führerinnen der Frauenbewegung begriff, daß die Befreiung +der erwerbstätigen Frau von der Sklaverei der +Küche eine ihrer Programmforderungen sein müßte. Nur +eine kleine Gruppe Menschen, die in der Öffentlichkeit +unbekannt waren, schloß sich mir allmählich an, und ein +paar Baumeister meldeten sich, die den Mut gehabt +hätten, ein Haus nach meinem Plan aufzuführen, — mit +abgeschlossenen kleinen Wohnungen und Speiseaufzügen +aus der Zentralküche. Wir waren überzeugt, nur +ein lebendiges Beispiel würde genügt haben, um die +Bewegung in Fluß zu bringen. Aber wir waren zu +<a name="Page_398" id="Page_398"></a>wenige, um das Bestehen des Hauses zu sichern, und +mein Name, — der der Sozialdemokratin, — schreckte +viele ab. Sie fürchteten den kommunistischen Zukunftsstaat +im Kleinen.</p> + +<p>Inzwischen kam Wanda Orbin nach Berlin und bat +mich, da sie krank sei, »in wichtiger Angelegenheit« um +meinen Besuch. Sie reichte mir nur die Fingerspitzen, +als ich eintrat.</p> + +<p>»Sie haben die Interessen der Partei auf das schwerste +verletzt,« begann sie im Ton eines Inquisitors, »und da +es nicht das erste Mal geschieht, so bin ich verpflichtet, +Sie zu warnen.«</p> + +<p>Ich griff mir an die Stirn: was war es nur, was +ich verbrochen hatte?!</p> + +<p>»Ihre Agitation für die Haushaltungsgenossenschaft —« +ich lachte ihr ins Gesicht; sollte sie mit so strenger Miene +scherzen?! Aber sie runzelte die Stirn, — es war ihr Ernst, +blutiger Ernst! — »hat weitere Kreise gezogen, als gut +ist. Dergleichen verwirrt die Köpfe, stört die Einheitlichkeit +des Vorgehens —«</p> + +<p>Ich stand auf. »Möchten Sie mir wohl noch mitteilen, +worin meine erste Verletzung der Parteiinternen +bestand?« fragte ich ruhig.</p> + +<p>»Sollten Sie Ihren Plan eines Zentralausschusses für +Frauenarbeit schon vergeben haben?« rief sie aus.</p> + +<p>»Und durch ihn habe ich die Partei geschädigt?! — Sie +sind ja jetzt schon im Begriff, teilweise auszuführen, +was ich wollte —!«</p> + +<p>Wanda Orbins Augen funkelten mich zornig an: +»Wenn Sie die Unterschiede nicht verstehen, so beweist +das nur wieder Ihren Mangel an proletarischem Be<a name="Page_399" id="Page_399"></a>wußtsein —;« +dabei kreischte ihre Stimme wie auf der +Rednertribüne.</p> + +<p>»Mag sein!« entgegnete ich scharf. »Mir fehlt das +Demagogentalent, um mich zur Proletarierin aufzuspielen.« +Damit wandte ich mich zum Gehen, auf das tiefste verwundet.</p> + +<p>Mein Vortrag erschien im Verlag des »Vorwärts« +als Broschüre. Wanda Orbin »vernichtete« ihn in vier +Leitartikeln, und ihre Autorität war viel zu gewichtig, +als daß sich innerhalb der Partei irgendeine Stimme +für ihn erhoben hätte. Wie die Schnecke, wenn ihre +Fühlhörner unsanft berührt werden, sich in ihr Haus +zurückzieht, so hatte ich das Bedürfnis, mich zu verkriechen.</p> + +<p>»Laß deine Ideen erst Wurzel fassen, Liebste,« tröstete +mich mein Mann; »sind sie lebenskräftig, so fällt dir +die Frucht von selbst in den Schoß.«</p> + +<p>Ich lächelte wehmütig über den Irrtum, in dem er +sich befand. Was mich schmerzte, war nicht das momentane +Scheitern eines Planes, sondern daß ich Wanda +Orbin so klein gesehen hatte, die mir, auch mit ihren +Fehlern, so groß erschienen war. Und daß sie die anderen +beherrschte, zum Teil mit Mitteln, gegen die ich mich +waffenlos fühlte!</p> + +<p>Nun galt es, statt alle Kräfte auf den Kampf für +die gemeinsame Sache zu konzentrieren, sich für den +eklen Streit im eigenen Lager stets gewappnet zu halten.</p> + +<p>Wenn ich mich abseits stellen, einer jener Eigenbrödler +werden könnte, mit Scheuklappen vor den Augen, immer +nur ein Teilchen des allgemeinen Zieles verfolgend?! +Daß ich unfähig dafür war, bewies mir die Erfahrung +mit meinem eigenen Plan. Hätte ich das Talent und +<a name="Page_400" id="Page_400"></a>die Zähigkeit des Organisators gehabt, ich würde ihn +in jahrelanger steter Arbeit, unbekümmert um die Spötter, +haben durchsetzen können. Und nun stand ich da und +sah erschrocken auf meine Hände, die so leer geworden +waren und so kraftlos.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Die Sonne brannte auf dem Asphalt, braun und +verdorrt hingen die Blätter an den armen +Bäumen, zu ihren steingepanzerten Wurzeln +drang keine Luft und kein Tau. Grauer Staub deckte +die Büsche wie mit Trauerschleiern. Wer draußen im +Wald den Sommer suchen ging, den empfingen die +Kiefern schwarz und ernst und die blumenlosen Felder. +O, daß ich empor auf einen Berg steigen könnte zu +reiner Luft und klaren Quellen! Heimweh packte mich, — Heimweh +nach den schmalen Pfaden zwischen +duftenden, buntblühenden Wiesen, nach dem stillen +See im Buchenwald, wo zwischen Moos und Gestein +Märchenblumen ihre Kelche öffnen. Heimweh nach der +großen Einsamkeit!</p> + +<p>Ob nicht der Geist der Frauen verkümmert und ihr +Gemüt verdorrt, weil sie nicht einsam sein dürfen?</p> + +<p>»Geh, — erhole dich, — ruh' dich aus, und wenn es +nur ein paar Tage sind, — es wird dir gut tun,« sagte +mein Mann, dem meine Schlaflosigkeit, meine Blässe +anfiel; »ich und die Berta hüten den Jungen.«</p> + +<p>Es bedurfte keiner Überredungskünste, meine Sehnsucht, +allein zu sein, ganz allein, war zu groß. Ich +fuhr nach dem Harz. Aber schon unterwegs packte mich +die Unruhe: was konnte dem Kleinen inzwischen nicht +<a name="Page_401" id="Page_401"></a>alles geschehen! Tausend Fragen und Sorgen schreckten +mich am Tage, ängstliche Träume verfolgten mich bei +Nacht. Und die Berge hier, die mir fremd waren, +blieben mir stumm, und die rauschenden Quellen sprachen +eine fremde Sprache.</p> + +<p>Da erreichte mich ein Brief meiner Mutter aus +Heidelberg. »Erdmann ist aufgegeben,« hieß es darin, +»und Ilse hat Lungenentzündung, deren Ausgang unabsehbar +ist. Sie spricht oft von Dir ...«</p> + +<p>Am selben Abend schrieb ich an meinen Mann: +»Liebster! Ich halte es nicht aus ohne Dich, ohne Otto. +Aber ehe ich zurückkehre, muß ich Ilse wiedersehen. +Nach den Andeutungen meiner Mutter ist alles zu +fürchten. Du hast mich ausgelacht, als ich Dir einmal +sagte, daß ich mich ihr gegenüber schuldig fühle. Es +kommt ja aber auch nicht darauf an, ob eine Schuld +im Sinne landläufiger Moral besteht, sondern darauf, +ob ich sie empfinde. Ich muß das gut machen, — damit +ich mich nicht quäle, wenn das arme Kind sterben +sollte, und damit sie mir wieder vertraut, wenn sie lebt +und meiner bedarf ...«</p> + +<p>Ich reiste am selben Abend noch ab. Meine Mutter +empfing mich am Bahnhof.</p> + +<p>»Es geht zu Ende,« sagte sie auf meinen fragenden +Blick. »Und Ilse?« »Sie fiebert noch immer! Meine +Ahnung betrog mich nicht. Diese unglückselige Ehe!«</p> + +<p>Die letzten drei Worte stieß sie zwischen den Zähnen +hervor. Es war kein zärtliches Mitleid, das sie empfand, +sondern Empörung gegen das Geschick.</p> + +<p>»Das ist lieb, daß du kommst, gute Schwester,« rief +mir Ilse entgegen, als ich an ihr Bett trat. Seit +<a name="Page_402" id="Page_402"></a>langem hörte ich wieder den alten warmen Ton in +ihrer Stimme, und ihr Gesichtchen hob sich rund und +rosig von den weißen Kissen ab, als wäre es wieder +das des süßen kleinen Mädchens von einst. Wußte sie +nicht, daß ein paar Türen weiter ihr Mann im Sterben +lag? Der Arzt trat ins Zimmer mit den Tropfen und +dem Fieberthermometer. Ich sah, wie ihre Augen jeder +seiner Bewegungen folgten, wie sie ihn anlächelte, voll +dankbaren Vertrauens. Und in der Sorgfalt, mit der +er ihr die Kissen rückte und den Vorhang am Fenster +weit zurückschlug, damit die Sonnenstrahlen ihre Haare +umspielen konnten, lag tiefere Empfindung, als die des +Arztes. Blühte dem armen Kinde eine Herbstrose auf +dem Totenacker?</p> + +<p>»Du gehst zu ihm?« fragte sie und lehnte sich mit geschlossenen +Augen müde zurück.</p> + +<p>»Ja,« antwortete ich leise. Das Lächeln aus ihrem +Antlitz verschwand, die Lippen preßten sich zusammen.</p> + +<p>In Decken gehüllt, am weit offenen Fenster lag er. +Die weißen Wände des Zimmers, die Betten, das weiße +Geschirr, von blinkenden Metall unterbrochen, die weiße +Schürze der Pflegerin strahlten über sein eingefallenes +gelbes Gesicht eine grausame Helle aus. Er war so +geistvoll, so lebendig wie je; das hätte täuschen können, +wenn mein Auge nicht eben auf die Morphiumspritze in +der Hand der Diakonissin gefallen wäre.</p> + +<p>»Sieh nur, wie wunderschön das ist!« sagte er und +sein Blick umfaßte in leidenschaftlicher Liebe das bunte +Herbstlaub der Bäume draußen. Er hatte den Schoß +voll kleiner Skizzen und ließ den Pinsel nur aus der +Hand, wenn die Schwäche ihn übermannte.</p> +<p><a name="Page_403" id="Page_403"></a></p> +<p>»Hast du Ilse gesehen?« fragte er schließlich.</p> + +<p>Ich nickte.</p> + +<p>»Sie ist noch viel, viel schöner als die Berge und +der Wald,« flüsterte er sehnsüchtig.</p> + +<p>Am nächsten Tage verließ ich Heidelberg wieder. Eine +bleierne Müdigkeit bemächtigte sich meiner. Ich hätte +immerfort schlafen mögen. Dabei fand ich lauter dringende +Briefe vor: der Verleger wünschte eine raschere Erledigung +der Korrekturen, der Verein für Haushaltungsgenossenschaften +lud mich zur nächsten Sitzung, ein paar Parteigenossen +erinnerten an die ihnen bereits zugesagten Vorträge.</p> + +<p>Eine mir selbst Fremde stand ich auf der Rednertribüne. +Jene Glut der Leidenschaft, die allein fähig +ist, den Eisenmantel zu schmelzen, den Kummer und Not +um die Herzen der Ärmsten schmiedete, jene Klarheit der +Überzeugung, die allein das Dunkel des Vorurteils und +der Unwissenheit zu durchleuchten vermag, fehlten mir +und ließen sich nicht erzwingen.</p> + +<p>»Ich bin unfähig, zu sprechen, — erlassen Sie es mir +diesmal,« bat ich einen der Genossen; »die Menschen +kehren heim, ohne einen Gran Kraft und Klugheit gewonnen +zu haben.«</p> + +<p>Aber er bestand auf seinem Schein: »Ihr Name zieht, +und wir brauchen einen vollen Saal.«</p> + +<p>Eines Abends sollte ich bei den Textilarbeitern referieren. +Als ich kam, war der Saal leer, und der Wirt +erzählte mir, daß die Versammlung schon vor zwei Tagen +stattgefunden und man mich vergebens erwartet habe. +Ich zog die Einladungskarte aus der Tasche: nur das +Datum war angegeben, nicht der Tag, und dieses stimmte.<a name="Page_404" id="Page_404"></a> +Der Vertrauensmann der Gewerkschaft, zu dem ich ging, +mußte mir bestätigen, daß der Irrtum nicht auf meiner +Seite lag. Wenige Tage später hörte ich, eine der Genossinnen +habe behauptet, ich hätte das Datum gefälscht, +um mich der Aufgabe zu entziehen, und habe hinzugefügt, +sowas sei bei mir schon öfter vorgekommen. Auf das +äußerste empört, verlangte ich eine Untersuchung der +Angelegenheit. Ein Schiedsgericht trat zusammen. In +endlosen Sitzungen wurden Zeugen vernommen, die Einladungskarte +geprüft, verglichen. Ich ballte die Fäuste +unter dem Tisch vor Erregung und konnte mich doch +dem Eindruck nicht entziehen, den die ruhige Gründlichkeit +all dieser Arbeiter auf mich machte. An Ernst und +Objektivität, an Takt und Würde standen sie turmhoch +über ihren weiblichen Klassengenossen, mit denen ich +bisher zusammengekommen war. Eine formelle Ehrenerklärung, +die mir schriftlich zuging, war das Resultat +der Verhandlungen. Aber die Empfindung, besudelt zu +sein, wurde ich lange Zeit nicht los.</p> + +<p>Ich vertiefte mich in die Korrekturen meiner »Frauenfrage«. +Und die Genugtuung über meine Arbeit wirkte +wie ein stärkendes und reinigendes Bad.</p> + +<p>Mitten in der Arbeit an den letzten Druckbogen besuchte +mich die weibliche Vertrauensperson meines Wahlkreises. +Für eine große Volksversammlung, die in den +allernächsten Tagen stattfinden und sich mit den von der +Regierung angekündigten Zollerhöhungen beschäftigen +sollte, hatte man mir den Vortrag zugedacht. Ich lehnte +ab. Meine Besucherin wurde immer dringender.</p> + +<p>»Sie müssen kommen,« erklärte sie schließlich.</p> + +<p>»Ich muß?! Warum?!« fragte ich verwundert.</p> +<p><a name="Page_405" id="Page_405"></a></p> +<p>»Wir haben Ihren Namen schon auf die Plakate gedruckt!«</p> + +<p>»Das ist Ihre Schuld, — nicht die meine,« entgegnete +ich; »selbst wenn ich Zeit hätte, mich binnen zwei Tagen +auf ein schwieriges Thema, wie den drohenden Zolltarif, +vorzubereiten, würde ich bei meiner Ablehnung bleiben +und Sie die Folgen eines so unverantwortlichen Vorgehens +tragen lassen.«</p> + +<p>Sie warf mir noch einen rachsüchtigen Blick zu und ging.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Mein Buch erschien. Die Aufnahme, die ihm +zuteil wurde, entschädigte mich für viele +Schmerzen und gab mir das Vertrauen in +die eigene Kraft zurück.</p> + +<p>»Sie haben mehr geleistet, als ich erwartet hatte, und +das will viel sagen,« schrieb mir Romberg. »Ihr Werk +ist eine wissenschaftliche Leistung, dem keine Kritik und +keine Zeit den Charakter eines <em class="antiqua">standard work</em> nehmen +wird, und — was für mich seinen größten Wert ausmacht — der +Ausdruck einer starken Persönlichkeit. Die +objektive Wissenschaft ist zweifellos etwas sehr Großes, +aber der Mensch bleibt immer das Allergrößte ...«</p> + +<p>Nur zwei Zeitschriften rissen meine Arbeit herunter: +die Monatsblätter von Helma Kurz und — die »Freiheit« +von Wanda Orbin.</p> + +<p>»Alix Brandts Buch ist jeder Mütterlichkeit und jeder +Wissenschaftlichkeit bar,« hieß es in dem einen Blatt; +»die Genossin Brandt hätte in der Kleinarbeit der Agitation +erst lernen und sich bewähren müssen, ehe sie +etwas für die Arbeiterinnenbewegung wirklich Nützliches +<a name="Page_406" id="Page_406"></a>hätte schaffen können,« lautete das Endurteil in dem +anderen.</p> + +<p>Ich lachte zuerst und dachte daran, wie ich von einer +meiner bürgerlichen Gegnerinnen einmal pathetisch als +ein »Tribünenweib« bezeichnet worden war, »deren +Lenden nie ein Kind getragen haben«, und eine Genossin +mir als schwere Unterlassungssünde die Tatsache +vorgehalten hatte, daß ich eine wichtige Parteipflicht — die, +Flugblätter auszutragen — noch nicht erfüllt hätte.</p> + +<p>Aber dann verging mir das Lachen. Mein ganzes +Ich lag in dem Buch, all mein Wissen, mein Glauben, +mein Hoffen. »Meinem Mann und meinem Sohn« stand +als Widmung vor dem Titel. Das war keine bloße +Form, es war ein Bekenntnis: ich hätte es nicht schreiben +können ohne das Doppelerlebnis der Liebe und der Mutterschaft, +das aus dem Kinde erst den Menschen macht, das +Schleier von den Augen reißt und eiserne Klammern +von den Herzen. Es sind Männer gewesen, die die +Madonna zur Mutter Gottes erhoben, denn nur der +lebendig befruchtete Schoß vermag Lebendiges zu gebären. +Und arme Irre waren es, die die Jungfrauschaft +mit dem Heiligenschein krönten. Denn die Voranleuchtenden +sind nur, die des Lebens Tiefen erschöpften.</p> + +<p>An die Mütterlichkeit hatte ich appelliert mit jedem +Satz, den ich niederschrieb. Aus einem primitiven +Empfinden, das über die Wiege des eigenen Kindes +kaum hinausging, sollte sie zu weltumspannender Kraft +sich entfalten. All die Tausende und Abertausende Hilfloser +und Entrechteter hatte ich aufgeboten, daß sie die +Mütter suchen sollten. Einst pochte ihr Murmelgebet: +»Heilige Maria, bitte für uns!« umsonst an das Tor +<a name="Page_407" id="Page_407"></a>des Himmels, — sollte ihre stumme Not auf der Erde +keine Antwort finden?</p> + +<p>Waffen hatte ich geschmiedet für die Proletarierinnen, +Waffen, — ich wußte es, — die unzerbrechlich waren. +Ich erwartete keinen Dank dafür, denn daß ich sie +schaffen konnte, war Dank genug. Nur nehmen, nur +gebrauchen sollten sie meine Klingen und Pfeile.</p> + +<p>»Warte die Zeit ab,« sagte mein Mann. Aber ich +fieberte nach Tat, nach Wirken, — ich konnte nicht warten.</p> + + + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Dem Arbeiterinnen-Bildungsverein und einzelnen +der führenden Genossinnen hatte ich mein +Buch zur Verfügung gestellt. Eines Morgens +bekam ich einen Brief von Martha Bartels. +Schon freute ich mich, — ich werde sie wiedergewonnen +haben, dachte ich, und erinnerte mich, wie sie mir, der +Fremden, einst entgegengekommen war, als ich noch Alix +von Glyzcinski hieß.</p> + +<p>Ich ließ ihren Brief in den Schoß fallen, als ich +seine wenigen Zeilen durchflogen hatte, und lehnte mich +mit einem Gefühl von Schwindel in den Stuhl zurück.</p> + +<p>»Nachdem Ihre Unzuverlässigkeit in der Ausführung +übernommener Parteipflichten wieder offenbar wurde,« +schrieb sie, »haben die Genossinnen einstimmig beschlossen, +Sie zu unseren Sitzungen nicht mehr einzuladen.«</p> + +<p>Ein formeller Ausschluß also, — ohne Gründe anzugeben, — ohne +mich zu hören! Und das in einer +Partei, die die Ideale der Demokratie vertritt! Ich +verlangte, mir zu gewähren, was die Gesetzgeber des +kapitalistischen Staates den Mördern und Dieben zu<a name="Page_408" id="Page_408"></a>gestehen: +mich vor meinen Richtern verteidigen zu +können. Man antwortete mir nicht. Ich erfuhr schließlich, +daß jene Genossin, die mich vergebens zu einem +Vortrag hatte pressen wollen, die Sache so dargestellt +hatte, als ob ich mein gegebenes Wort gebrochen hätte. +Und ich hörte weiter, daß meine »Fälschung« jener +Einladungskarte zum Referat bei den Textilarbeitern +noch immer in aller Munde sei. Ich sandte die Ehrenerklärung +der Gewerkschaft ein, ich zwang die Lügnerin, +ihre Behauptung zu widerrufen. Es nützte nichts.</p> + +<p>»Wir erkennen an, daß in diesen beiden Fällen ein +Irrtum vorlag,« schrieb Martha Bartels, »aber es +stehen noch so viele andere fest, wo Sie sich als unzuverlässig +erwiesen haben, daß die Genossinnen an ihrem +einstimmigen Beschluß, Ihre Mitarbeit abzulehnen, festhalten.«</p> + +<p>Ich ging zum Parteivorstand, um die Einsetzung eines +Schiedsgerichts zu fordern. »Liebe Genossin,« sagte +Auer, mir gutmütig die breite Hand auf die Schulter +legend, »tun Sie das nicht! Lehren Sie mich unsere +Weiber kennen! Jedes Schiedsgericht wird Ihnen recht +geben, — natürlich! Aber, glauben Sie, daß damit +geholfen ist?! Schon am nächsten Tag werden die +Klatschmäuler, denen Sie nun einmal ein Dorn im +Auge sind, neue, noch schlimmere Sünden über Sie zu +verbreiten wissen, und das modernisierte Gerichtsverfahren +der heiligen Fehme wird alle demokratischen Schiedssprüche +umstoßen. Überlassen Sie der Wanda die +Weiber! Für Ihren Tätigkeitsdrang ist in der Partei +noch Raum genug.«</p> + +<p>Ich fügte mich seiner Ansicht. Ob aus Einsicht, aus<a name="Page_409" id="Page_409"></a> +Müdigkeit, aus Ekel? Ich weiß es nicht mehr. Auers +Hand umspannte die meine schmerzhaft fest.</p> + +<p>»Wollen Sie von mir alten Kerl noch einen Rat auf +den Weg nehmen?« fragte er. »Wer auf hoher Warte +steht, dem sollten die leid tun, die sich von unten im +Schweiße ihres Angesichts abmühen, mit Steinen zu +werfen. Er sollte immer über sie hinwegsehen. Dann +hören sie von selber auf und besinnen sich, daß ein +Weg da ist, auf dem auch sie aufwärtssteigen könnten ... +Wer die Distanz nicht wahren kann, ist kein Politiker.«</p> + +<p>»Die Distanz, — das bedeutet Fernsein, Kühle,« +antwortete ich mit einem leisen Seufzer, »— ich liebe +die Menschen; ich möchte von ihnen geliebt sein.«</p> + +<p>»Sie lieben die Menschen, — diese Menschen?! Sie +scherzen!« Er reckte sich zu seiner ganzen Größe. »Wir +würden sie erhalten, wenn wir sie lieben würden. Aber +wir wollen sie überwinden — mit dem gewaltigen Erziehungsmittel +einer neuen Gesellschaftsordnung —, also +hassen wir sie.«</p> + +<p>Ich schüttelte den Kopf. War das eine hohe Warte? +Würde ich sie je erreichen, — erreichen wollen?!</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_410" id="Page_410"></a></p> +<h2><a name="Zwolftes_Kapitel" id="Zwolftes_Kapitel"></a>Zwölftes Kapitel</h2> + + +<p>Probleme werden nicht durch Resolutionen aus +der Welt geschafft. Auch der beste Wille der +Streitenden, — und es gab Augenblicke, wo +selbst Eduard Bernstein die Schwäche dieses »guten +Willens« hatte und Hervorragende unter seinen Anhängern +den »Revisionismus« als eine neue Richtung +innerhalb der Partei abschworen, — vermag das Streitobjekt +nicht aus der Welt zu schaffen. Einmal ausgesprochene +Gedanken lösen sich gleichsam von dem, der +sie dachte, ab und haben ein selbständiges Leben.</p> + +<p>Die Beschlüsse des Parteitags von Hannover hatten +nichts zur Folge, als einen Waffenstillstand. Bernsteins +Rede im sozialwissenschaftlichen Studentenverein +eröffnete den Kampf von neuem. In Artikeln, Reden +und Broschüren wurde er mit steigender Erbitterung geführt. +Und die aufreizenden Zurufe der Zuschauer, die +vom nächsten Tage die Spaltung der Sozialdemokratie +erwarteten und erhofften, erhitzte die Kämpfenden noch +mehr. Die wachsende Leidenschaft tötete jede Objektivität. +Keiner gestand dem anderen die Ehrlichkeit der +Gesinnung zu. Hinter jeder Äußerung eines Revisionisten +entdeckte der orthodoxe Marxist Parteiverrat, in +jeder Verteidigung des radikalen Standpunktes sah der<a name="Page_411" id="Page_411"></a> +Revisionist dogmatische Verbohrtheit und bewußtes Demagogentum. +Er überhörte geflissentlich die Lehren der +Psychologie und der Geschichte, aus denen er hätte +folgern können, daß die Verteidigung der Tradition, +der grundlegenden Dogmen des Sozialismus notwendig +zu demselben Haß, derselben Verfolgung der Angreifer +führen muß, wie einst die des Heidentums gegen die +Christen, der römischen Kirche gegen die Reformation.</p> + +<p>Aber ein noch merkwürdigeres Zeichen dafür, wie +wenig bloße Erkenntnisse des Verstandes die ursprüngliche, +nur auf die Einflüsse des Gefühls reagierende +Natur des Menschen zu ändern vermögen, war die +Haltung der Radikalen. Sie verleugneten in ihrem +Zorn eine der Grundlagen ihrer eigenen Anschauung: +die materialistische Geschichtsauffassung. Es war die +befreiendste Lehre, die Marx hinterließ, zu der sich allmählich, +bewußt oder unbewußt, auch Nichtsozialisten +bekannten: daß, da »alles fließt«, auch die Theorien +sich entwickeln müssen, entsprechend den Wandlungen +des wirtschaftlichen und sozialen Lebens. In diesem +Sinne war der Revisionismus marxistisch und der Radikalismus +reaktionär.</p> + +<p>Die ernsten Kämpfe zwischen den beiden Richtungen +spielten sich zwischen den geistigen Führern ab, von +denen die einen die Masse der Arbeiterschaft hinter sich +hatten, die anderen noch Offiziere waren ohne Armee. +In dem harten Schädel der Proletarier saß jeder Buchstabe +des sozialistischen Apostolikums noch fest; wurde +der Kampf daher in die Volksversammlungen getragen, +so äußerte er sich in wüstem Geschimpfe gegen die +Neuerer, die dem Armen das Beste zu erschüttern +<a name="Page_412" id="Page_412"></a>drohten, was ihnen der Sozialismus gegeben hatte: +ihren Glauben. Es kam aber noch ein anderes hinzu: +der Respekt vor der Wissenschaft, zu dem der Sozialismus +sie verpflichtete, ging Hand in Hand mit einem +glühenden Verlangen nach Wissen. Bildungsschulen, +wissenschaftliche Vorträge und Kurse kamen diesem Verlangen +entgegen und pfropften auf den lebensschwachen +Baum der Volksschule ein Reis, unter dessen Früchten +Dilettantismus und Bildungsdünkel am besten gediehen. +Wozu ernste Denker Jahrzehnte brauchen, das glaubte +der Proletarier in ein paar Abendstunden erreichen zu +können. Daß er es glaubte, war nicht seine Schuld: +die Naivität seiner Jugend unterstützte die Partei, die +ihm in Wort und Schrift nichts mehr einprägte als +die Überzeugung von der Dummheit seiner Gegner. Als +Gegner aber erschienen ihm auch die Revisionisten. Zu +seinem gefühlsmäßigen Haß gegen die Unruhstifter trat +die hochmütige Verachtung der Akademiker hinzu.</p> + + + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Einmal, — ich war gerade von einer Agitationsreise +zurückgekehrt, — beklagte ich mich darüber, +als Reinhard gerade bei uns war.</p> + +<p>»Ich habe Sie sonst für so verständig gehalten,« +sagte er; »daß Sie nun auch so nervös, so empfindlich +geworden sind! — Ich kann Ihnen versichern: mir selbst +kommt der Krakehl zum Halse heraus! Er macht unsere +Leute kopfscheu; von jedem Gegner wird er uns aufs +Butterbrot geschmiert. Außerdem haben wir doch jetzt, +ein Jahr vor den Reichstagswahlen und angesichts der<a name="Page_413" id="Page_413"></a> +Zolltarif-Vorlage Besseres zu tun, als uns über die Verelendungstheorie +die Köpfe blutig zu schlagen.«</p> + +<p>»Sind wir etwa daran schuld?!« fuhr Heinrich auf. +»Oder nicht viel mehr die Großinquisitoren der ›Neuen +Zeit‹, die seit Jahr und Tag ihre Spürhunde auf uns +hetzen?! Die jungen Leute, die noch nichts geleistet +haben, als ihnen nachzubeten, gestatten, gegen alte verdiente +Genossen, — einen Jaurès, einen Auer, einen +Vollmar, — wie gegen Schwachköpfe oder Verräter vom +Leder zu ziehen?!«</p> + +<p>»Die Propheten aus dem Osten nicht zu vergessen, +die desgleichen tun —,« unterbrach ihn Reinhard mit +einem sarkastischen Lächeln.</p> + +<p>»Die gehören in dieselbe Kategorie, nur daß ihre, — na, +sagen wir parlamentarisch: Unbescheidenheit +noch größer ist. Vom Kothurn ihrer Unentwegtheit +herab führen sie das große Wort, und ihr Ziel ist offensichtlich +der Bannfluch, d. h. der Ausschluß aller derer +aus der Partei, die eine selbständige Meinung haben.«</p> + +<p>»Wenn man Sie so schimpfen hört, lieber Brandt, +könnte man die Schicksalsfügung segnen, die Sie bisher +verhinderte, Ihre Zeitschrift ins Leben zu rufen,« sagte +Reinhard. »Wenn Sie all Ihre Wut noch in Druckerschwärze +verwandeln würden!!«</p> + +<p>»Sie irren sehr, wenn Sie glauben, ich werde mein +Blatt zum Kampfplatz für Theoretiker machen,« entgegnete +Heinrich ruhig. »Mir würde es in erster Linie +darauf ankommen, praktische Politik zu treiben. Daß +das auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens notwendig +ist, daß es endlich an der Zeit wird, den ruhenden +Koloß der Partei in Bewegung zu setzen und Tages<a name="Page_414" id="Page_414"></a>arbeit +verrichten zu lassen, — das scheint mir das wichtigste +Ergebnis der gegenwärtigen Bewegung.«</p> + +<p>Reinhard stand auf, stampfte ärgerlich mit der Krücke +auf den Boden und sagte: »Als ob das alles eine blitzblanke +neue Erfindung wäre! Was war es denn, was +wir lange vor Bernstein in den Parlamenten, in den +Kommunen, in den Gewerkschaften und Genossenschaften +getrieben haben?! Der ganze Unterschied zwischen den +Revisionisten und den Radikalen ist, daß die einen in +der Arbeiterschutzgesetzgebung, in der Gewerkschafts- und +Genossenschaftsbewegung, in der allmählichen Demokratisierung +des Staats nichts als Erziehungsmittel für +das Proletariat erblicken, und die anderen Sozialisierungen +der Gesellschaft, Voraussetzungen des Sozialismus. +Dem Arbeiter aber ist's wirklich einerlei, wie die +Dinge heißen, die er bekommt, wenn er sie nur überhaupt +kriegen kann. Und darum —« er ging erregt +im Zimmer auf und nieder — »begreife ich die ganzen +Skandale nicht und fühle es meinen Genossen nach, +wenn sie euch Akademiker mißtrauisch betrachten. Wir +sind ja auf dem besten Wege, — was werft ihr Steine +in unseren Teich?! Sehen Sie sich z. B. mal die +Tagesordnung unseres Stuttgarter Gewerkschaftskongresses +an! Sie waren ja dabei, als man sich wütend an die +Gurgeln fuhr, weil der eine die sozialpolitische Tätigkeit +der Gewerkschaften forderte, der andere sie für +schädlich hielt. Und ich selbst, — Sie besinnen sich! — war +der radikalsten einer. An meiner eigenen Entwicklung +mögen Sie die Entwicklung der ganzen Bewegung +messen. In aller Stille ist viel Wasser die +Spree hinuntergelaufen, und jetzt sind wir mitten drin +<a name="Page_415" id="Page_415"></a>in der Sozialpolitik. Oder betrachten Sie unsere Haltung +in der inneren Politik: denken Sie an die Budgetbewilligung +der Badener im vorigen Jahr, — Bebel +hat sie freilich hinterher heruntergeputzt, — oder an +die Zustimmung unserer bayrischen Landtagsfraktion +zur Wahlreform, — Bebel wird sie natürlich darum +auch noch unter die Lupe des Prinzips nehmen —. +Und, vor allem!, erinnern Sie sich, wie selbst die ärgsten +berliner Revolutionäre mit dem dreifachen R jetzt +stramm und einig zur Landtagswahl aufmarschieren. +Von dem Augenblick an, wo der Parlamentarismus den +Charakter des Kräutchens Rührmichnichtan für uns verloren +hatte, sind wir folgerichtig weitergegangen.«</p> + +<p>Ich hatte ihm mit wachsendem Interesse zugehört. +»Und was wollen Sie mit alledem beweisen?« fragte ich.</p> + +<p>»Daß der ganze Stank und Zank überflüssig ist. — Sowohl +vom Standpunkt eurer Angst um Versumpfung +und Verknöcherung der Partei, wie vom Standpunkt all +der radikalen Kassandras männlichen und weiblichen +Geschlechts, die um unser sozialistisches Seelenheil +zittern. Wahrhaftig: wenn wir mit der Bourgeoisie +paktieren, so doch nur, um für uns das Schäfchen ins +Trockne zu bringen!«</p> + +<p>»Ich folgere aus Ihren Beweisführungen etwas ganz +anderes,« rief ich aus. »Da die Praxis wieder einmal +der Theorie vorausgeeilt ist, so muß die Theorie sich +ihr anpassen, sonst kommt der Moment, wo das Band +zwischen beiden zerreißt. Die Lehre von der planmäßigen +Demokratisierung und Sozialisierung der kapitalistischen +Gesellschaft muß an Stelle des Dogmas von +der alleinseligmachenden Revolution treten —«</p> +<p><a name="Page_416" id="Page_416"></a></p> +<p>»Aber das ist doch genau dasselbe!« polterte Reinhard. +»Selbst der dümmste Radikale denkt doch nicht im +Schlaf daran, daß er die Hände nur in den Schoß zu +legen und auf die gebratene Taube der politischen Macht +zu warten braucht, die ihm ins Maul fliegen wird! +Jeder Rekrut in unserer Armee sieht alle Tage, wie sie +sich jede Handbreit politischer Macht schrittweise erobern +muß. Ebenso wächst ihr Einfluß nur nach und nach, +und das berühmte Endziel kann nichts anderes sein als +die letzte Krönung des Gebäudes.«</p> + +<p>Mein Mann lächelte: »Ich sage ja: Sie sind Revisionist.«</p> + +<p>»Zum Donnerwetter, nein! — Ich bin Sozialdemokrat!« — Reinhards +Augen glänzten — »Und ihr seid +Rabulisten.«</p> + +<p>Beim Abschied nahm sein Gesicht wieder den alten, +gutmütig-freundlichen Ausdruck an.</p> + +<p>»Nichts für ungut, Genossen!« brummte er mit einem +leichten Anflug von Verlegenheit; dann reichte er +meinem Mann die Hand. »Sie können auf mich +rechnen. Wenn Ihr Blatt praktische Politik treiben +wird, — in bewußtem Gegensatz zu unseren Zeitschriften +von rechts und links, die sich um des Kaisers Bart +raufen, — so wird es befreiend wirken und seines Erfolges +bei unseren Genossen sicher sein.«</p> + +<p>Als er gegangen war, reichte mir mein Mann einen +Brief von Romberg.</p> + +<p>»... Ihre Pläne sind mir immer wieder durch den +Kopf gegangen,« schrieb er, »und der Gedanke, das +›Archiv‹ selbst zu erwerben, ließ mich nicht los. Trotzdem +bin ich zu dem Entschluß gelangt, meine persön<a name="Page_417" id="Page_417"></a>lichen +Wünsche nicht nur zu unterdrücken, sondern Ihnen +überdies den dringenden Rat zu geben, die Verkaufsidee überhaupt +fallen zu lassen. Sie wissen selbst, daß das neue +Unternehmen, dem Sie Ihren Brotgeber, das Archiv, +opfern wollen, in bezug auf seinen materiellen Erfolg +ein ganz unsicheres ist. Stünden Sie allein, so könnten +Sie meinetwegen den Husarenritt unternehmen, aber +Sie haben Familie, — verübeln Sie es meiner aufrichtigen +Freundschaft nicht, wenn mich die Sorge um +sie in diesem Zusammenhang von ihr sprechen läßt. Ich +weiß: Frau Alix zieht in diesem Augenblick zürnend die +Brauen zusammen; sie ist ja noch fanatischer, noch +leichtsinniger wie Sie. Seien Sie darum doppelt klug +für beide und erhalten Sie sich das Archiv. Es kann +einmal die Rolle der Planke spielen, die Sie vor dem +Ertrinken rettet ...«</p> + +<p>Ich warf den Brief heftig auf den Tisch. »Daß +Romberg solch bourgeoise Anschauungen hat!« rief ich +aus. »Als ob wir beide nicht im Notfall schwimmen +könnten!« Heinrich zog mich zärtlich in die Arme.</p> + +<p>»Daß du so denkst, weiß ich,« sagte er, »trotzdem +werde ich handeln wie ein Bourgeois!« Ich wollte auffahren. +»So höre doch erst zu, ehe du schimpfst!« +meinte er lächelnd. »Besinnst du dich auf Lindner, den +jungen Dichter, den wir auf dem Pariser Kongreß getroffen +haben?« Ich nickte. »Er tauchte vor kurzem +hier auf und besuchte mich, während du weg warst: ein +sympathischer Mensch, dessen Schüchternheit alle seine +guten Absichten im Keime erstickt. Er möchte in der +Partei wirken; aber auf der einen Seite fürchtet er als +Akademiker das Mißtrauen der Genossen, auf der an +<a name="Page_418" id="Page_418"></a>deren Seite stößt ihn die Pöbelgesinnung zurück, die +ihm vielfach schon begegnete. Er schüttete mir sein +Herz aus; dabei erfuhr ich, daß er der einzige Sohn +reicher Leute ist. Ich sprach ihm von unserem Plan, er +war sofort Feuer und Flamme dafür.«</p> + +<p>»Und gibt die Mittel?!« unterbrach ich Heinrich erregt.</p> + +<p>»Wenn die Eltern, von denen er noch abhängig ist, +sie ihm bewilligen ...«</p> + +<p>Endlich dem Ziele nah! war der einzige Gedanke, +der mich beherrschte; winzig erschienen ihm gegenüber +die noch vorhandenen Hindernisse.</p> + +<p>Einige Tage später kam Lindner zu uns: ein lang +aufgeschossener blonder Mensch, mit kurzsichtig zwinkernden +blaßblauen Äuglein und schlaffen, feuchten Händen. +Er gefiel mir nicht. Aber ich unterdrückte rasch diese +erste instinktmäßige Empfindung.</p> + +<p>»Ich möchte den Arbeitern die Kunst nahe bringen,« +sagte er im Verlauf unseres schwerfällig sich hinschleppenden +Gesprächs.</p> + +<p>»Die Freien Volksbühnen erfüllen, wie mir scheint, +Ihren Wunsch. Sie haben Tausende von Mitgliedern +aus Arbeiterkreisen und leisten Vorzügliches,« antwortete +ich.</p> + +<p>»So meinte ich es nicht, nein —,« und die Stimme +unseres Gastes, die noch den Timbre der Knabenstimme +hatte, obwohl er längst über die Entwicklungsjahre +hinaus war, wurde lebhafter; »ich dachte, es +müßte möglich sein, das Künstlertum im Proletariat zu +erwecken, eine neue Kunst — die Kunst der Zukunft — entstehen +zu lassen. Ich würde das als meine Aufgabe ansehen.«</p> + +<p><a name="Page_419" id="Page_419"></a>Ich musterte ihn genauer: er war gar nicht dumm, +er hatte sogar einen originellen Zug.</p> + +<p>»Ich glaube nicht recht daran,« sagte ich dann langsam. +»Daß die Talente sich durchsetzen, gehört zu den +Fabeln der Menschheit. Der harte Kampf ums Dasein +erstickt die meisten ihrer Keime. Und die davon doch +zur Blüte gelangen, verkümmern schließlich im Dilettantismus. +Vielleicht würden die von Ihnen erhofften +Talente statt freier Künstler Hörige des Proletariats, +wie die Talente, auf die wir vor zehn Jahren hofften, +Hörige des Kapitalismus geworden sind..«</p> + +<p>Mein Junge kam herein und erfüllte das Zimmer im +Augenblick mit seiner strahlenden Frische. Wie eine +Pflanze, die im Dunkel gestanden hat mit blassen saftlosen +Trieben, wirkte Lindner jetzt auf mich. Er tat +mir leid, und ich wurde darum weicher. Er erzählte +von seinen Eltern. Sie hatten große Hoffnungen auf +ihn gesetzt, und daß er sie immer wieder enttäuschte, +machte ihn selbst mutlos. Aber jetzt, — jetzt würde er +um seine Überzeugung, — um seine Zukunft mit ihnen +kämpfen!</p> + +<p>Er gewann Vertrauen zu mir. Und wenn er +meine instinktive Abneigung immer wieder hervorrief, +so überwand das Mitleid mit dieser armen Greisenseele +eines Jünglings sie eben so oft. Seine Besuche +waren oft recht unbequem. Wie die meisten Menschen, +für die die Arbeit nur eine Nebenbeschäftigung ist, +hatte er keinen Respekt vor der Zeit. Er fühlte +nicht, daß er störte, und wenn man es ihm andeutete, +so war er gekränkt. Nur wenn er mit Ottochen spielen +konnte, merkte er nicht, daß ich ihn hatte los werden +<a name="Page_420" id="Page_420"></a>wollen. Er liebte die kleinen Kinder und ließ sich von +meinem fünfjährigen Wildfang mit einer Gutmütigkeit +tyrannisieren, die rührend war. Oft hörte ich durch die +Türe die hellen Kommandotöne meines Jungen.</p> + +<p>Mein Bub'! Daß ich nur heimlich, wie aus dem +Hinterhalt, sein Geplauder belauschen durfte! Daß ich mir +die Stunden für ihn stehlen mußte! Ich war abermals +einem falschen feministischen Lehrsatz auf der Spur. +Nicht der Säugling bedarf der Mutter am meisten. All +die vielen, mechanischen Dienste, die der kleine Körper +fordert, versteht eine geschulte Pflegerin besser als sie. +Erst der erwachende Geist braucht die Augen der Mutter, +die jede seiner Regungen sieht, und ihre Sorgfalt, die +allein weiß, welche seiner vielen Triebe beschnitten, +welche gestützt, welche der Sonne und dem Wetter ausgesetzt +werden können. Und Millionen Frauen dürfen +es nicht! Nie erschien mir unsere Gesellschaftsordnung +widersinniger: sie zwingt den Staat, Gefängnisse zu +bauen für die Verbrecher und Fürsorgeerziehungsanstalten +für die verwahrloste Jugend, der sie die Mütter genommen hat.</p> + +<p>Sollten wir wirklich darauf warten müssen, bis sich +in hundert und aberhundert Jahren der Prozeß der +Sozialisierung der Gesellschaft abgespielt hat? War +unsere wirtschaftliche und technische Entwicklung nicht +heute schon so weit vorgeschritten, um durch eine sozialistische +Organisation in Verbindung mit der allgemeinen +Arbeitspflicht, die Herabsetzung der Arbeitszeit auf das +geringste Tagesmaß zu ermöglichen und den Kindern +nicht nur die Mutter, sondern auch den Vater zurückzugeben? +In dem leidenschaftlichen Zorn, der mich gegen +<a name="Page_421" id="Page_421"></a>die Hüter der bestehenden Ordnung erfüllte, konnte ich +nicht anders, als sie für Heuchler oder für Dummköpfe +zu erklären. Die Frauen galt es, wider sie zu empören! +Mutterliebe ist das stärkste Gefühl in der Welt, stärker +als die Leidenschaft der Geschlechter, stärker als der +Hunger. Einmal von den Fesseln befreit, in die die +Tradition sie zwängte, muß sie zum Motor werden, der +die Gesellschaft aus den Angeln hebt.</p> + +<p>Ich wandte mich in meinen Reden immer mehr an +die Frauen. Ich peitschte ihre Empfindung auf; ich erklärte +sie für die Schuldigen, wenn ihre Kinder hungerten +an Leib und Geist, wenn sie verkamen, wenn die Maschine +ihre Jugend zerfraß, wenn sie im Zuchthaus +endeten. Der Zolltarif mit seiner Verteuerung aller +Lebensmittel, der zu gleicher Zeit die Reichstagsdebatten +beherrschte, die Fleischteuerung, die eine Folge der +Schließung der Grenzen war, — kurz, die ganze agrarische +Reichspolitik, in die die Regierung eingeschwenkt +war, boten mir die Handhabe, um an die nächsten Interessen +der Frauen anzuknüpfen, an jene Frage, die je +nach der Bedeutung, die sie für die Glieder des Volkes +hat, ein Gradmesser der Menscheitskultur sein kann: wie +sättige ich meine Kinder?</p> + +<p>Von einer meiner Versammlungen war ich fast stimmlos +zurückgekehrt.</p> + +<p>»Sie dürfen weder in Rauch noch in Staub sprechen,« +sagte der Arzt wie schon einmal vor Jahren.</p> + +<p>Ich lachte ihm ins Gesicht, ließ mir den Hals ein +paarmal einpinseln und fuhr nach Schlesien. Mit +äußerster Anstrengung gelang es mir, noch zwei Reden +zu halten. Dann versagte die Stimme ganz.</p> + +<p><a name="Page_422" id="Page_422"></a>Jetzt erklärte der Arzt, daß ich sobald als möglich +fort müsse: »In gute reine Luft, am besten ins Gebirge.« +Ich schüttelte den Kopf. Wie konnte ich an +eine Sommerreise denken?!</p> + +<p>»Die Gesundheit geht allem anderen voraus,« sagte +mein Mann, »heute noch kannst du packen und morgen +in den Alpen sein.«</p> + +<p>Die Frage, ob solch eine Reise möglich wäre, schien +ihn keinen Augenblick zu beunruhigen.</p> + +<p>»Ich kann den Kleinen nicht wochenlang allein lassen —,« +wandte ich ein.</p> + +<p>»Natürlich: Ottochen nimmst du mit,« antwortete +Heinrich ohne Besinnen, »auch diesem Stadtpflänzchen +wird das Landleben gut tun.«</p> + + + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Um jene Zeit war mein Schwager Erdmann gestorben. +Meine Mutter kam mit Ilse nach +Berlin zurück. Ich erschrak, als ich sie sah. +Jetzt erst war sie wirklich alt geworden, unauslöschlich +hatten sich die Falten der Verbitterung um ihre Mundwinkel +eingegraben. Zwischen ihre fest aufeinandergepreßten +Lippen kam kein Laut der Klage. Aber wenn +Ilse neben ihr stand in all ihrer strahlenden Jugend, +mit den Augen, die sehnsüchtig die Sonne suchten nach +all dem monatelangen Leid, dann fühlte ich die ganze +Qual dieses Zusammenlebens.</p> + +<p>Sie kamen häufig allein zu mir, und ich mußte immer +wieder zwischen ihnen vermitteln. Endlich faßte ich den +Mut, der Mutter ehrlich meine Meinung zu sagen:</p> + +<p>»Warum läßt du sie nicht frei? — Viele in ihrem<a name="Page_423" id="Page_423"></a> +Alter stehen allein in der Welt. Wozu quälst du dich +selbst und sie?«</p> + +<p>Die Mutter wurde hochrot im Gesicht. »Da sieht +man, wohin eure religionslose Moral euch führt!« rief +sie. »Nicht genug, daß du im Lande umherziehst und +die Frauen gegen Kirche und Staat aufhetzst, wie mir +mein Bruder erzählt, du respektierst nicht einmal +mehr die selbstverständlichsten Gebote der Mutter- und +der Kindespflicht.«</p> + +<p>»Nein,« antwortete ich erregt. »Eine Pflicht, die +kein Gebot des Herzens ist, eine Pflicht, die sich wie +ein antiker Schicksalsspruch durchsetzen will, auch wenn +die Menschen dabei zugrunde gehen, erkenne ich nie und +nimmer an. — Was Onkel Walter erzählt, sollte dir +übrigens nichts Neues sein: du weißt, daß ich Sozialdemokratin +bin. Daß meine Agitation ihm jetzt, wo sie +sich gegen seine speziellen agrarischen Interessen richtet, +besonders antipathisch ist, scheint mir auch nur selbstverständlich.«</p> + +<p>»Und ich hatte gehofft, daß die Mutter in dir dich allmählich +von diesen Abwegen zurückführen würde —«</p> + +<p>»Die Mutter in mir treibt mich vorwärts!« unterbrach +ich sie.</p> + +<p>»Lehrt sie dich auch jede Familienrücksicht über Bord +werfen? Nicht daran denken, wie du alle kompromittierst, +die unseren Namen tragen? Wie mein Bruder sich sogar +gezwungen sieht, ein Mandat für den nächsten Reichstag +nicht mehr anzunehmen?!« Ihr Zorn fing an, mich +zu entwaffnen.</p> + +<p>»Liebe Mutter, das alles wollen wir, denke ich, nicht +wieder aufrühren,« sagte ich ruhig. »Die Verwandten +<a name="Page_424" id="Page_424"></a>haben sich längst in aller Form von mir losgesagt, und +wenn es für mich Familienrücksicht gibt, so ist es allein +die auf mein Kind.«</p> + +<p>»Gerade an diesem Kind wirst du für all das Unglück, +das du über uns gebracht hast, büßen müssen!« rief die +Mutter mit funkelnden Augen.</p> + +<p>Ich war von dem drohenden Ton ihrer Stimme betroffen. +»Was meinst du damit?!« frug ich.</p> + +<p>»Solltest du für Otto etwa nicht auf Klotildens Erbe +hoffen?« entgegnete sie. »Hat sie dich seit deiner Heirat +jemals eingeladen?!«</p> + +<p>»Ich stehe dauernd in brieflichem Verkehr mit ihr. +Sie hat mir erst kürzlich über meine ›Frauenfrage‹ Worte +wärmster Anerkennung geschrieben. Und daß sie mich +nicht bei sich sehen kann, begreife ich vollkommen. Ich +würde ihre Freunde vertreiben, an denen sie hängt,« +antwortete ich ausweichend.</p> + +<p>»Nun so laß dir von mir gesagt sein, daß die Berichte +über deine agitatorische Tätigkeit sie aufs äußerste empörten. +Jenny Kleve kam eben aus Augsburg zurück —«</p> + +<p>Ich biß mir heftig auf die Unterlippe. »Jenny Kleve! +Allerdings eine gute Quelle! Und eine geeignete Vertreterin +meiner Interessen!« spottete ich. »Bist du es +nicht gewesen, die alles daran setzte, um zwischen ihr +und ihren Geschwistern und Tante Klotilde nähere Beziehungen +herzustellen?! Dein eigener Bruder warnte +dich damals, dir kein Kuckucksei ins Nest zu legen!«</p> + +<p>»Ich habe nur meine Pflicht getan,« erklärte die Mutter.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_425" id="Page_425"></a></p> + +<p>Tante Klotildens Erbschaft! Der Gedanke bohrte +sich mir in Hirn und Herz. Mit einer Sicherheit, +die nie auch nur den geringsten Zweifel +aufkommen ließ, hatte ich stets auf sie gerechnet. Ich +wußte: ihrem geliebten ältesten Bruder, meinem Vater, +hatte sie versprochen, für mich sorgen zu wollen; er hatte +mir noch kurz vor seinem Tode den Inhalt ihres Testamentes +vorgelesen, und hinzugefügt: »Daß ich Deine und +Deines Jungen Zukunft gesichert weiß, wird mir +das Sterben erleichtern. Habe ich doch selbst gar nicht +für Euch sorgen können!« Über manche schwere Stunde +hatte die Erinnerung daran mir hinweggeholfen: Mag +kommen, was will, mein Kind wird einmal nicht darben! +Sollte sie ihr Wort brechen können?! Ein kalter Schauer +erschütterte meinen Körper. Ich wußte, wie es tat, an +die jämmerliche Notdurft des Lebens ständig denken zu +müssen. Wie viele junge Menschen hatte ich aus der +Flut des Lebens auftauchen sehen, von einem starken +Talent emporgetragen, und nach ein paar Jahren hatte +das Bleigewicht der Not sie niedergezwungen!</p> + +<p>Mein Sohn sollte sich frei entwickeln können. Ich +mußte mich selbst überzeugen, ob die Warnung meiner +Mutter berechtigt war.</p> + +<p>Mein Mann war böse, als ich davon sprach. »Du +wirst dich doch nicht mit den Kleves auf eine Stufe +stellen?!« rief er aus. »Unser Junge hat es nicht nötig, +daß seine Mutter sich erniedrigt. Er wird stark genug +sein, sich selbst durchzukämpfen.«</p> + +<p>Ich war so erregt, daß all die verschwiegenen Qualen +hervorstürzten wie ein entfesselter Wildbach: »Du frei<a name="Page_426" id="Page_426"></a>lich +wirst nichts davon merken, wenn er sich grämt, +gerade so, wie du nicht merkst, nicht merken willst, wie +mich die Sorgen niederdrücken. Du schiltst, wenn ich +nach deiner Ansicht nicht genau genug auf jeden Wurstzipfel +achte, der in die Küche kommt, aber du fragst +nicht danach, woher ich das Geld nehme, wenn du keins +mehr hast und wir leben wollen!«</p> + +<p>Und ich erzählte ihm, wie ich im vorigen Jahr den +Verleger um Vorschuß hatte bitten müssen, wie ich mein +bißchen Schmuck heimlich aufs Versatzamt getragen hatte. +Er wurde ganz blaß, und sein Gesicht nahm jenen harten, +kalten Ausdruck an, vor dem ich mich immer fürchtete. +Tagelang gingen wir stumm nebeneinander her, während +das gezwungene Zusammensein uns stets aufs neue reizte.</p> + +<p>»Die Ehe ist doch eine gräßliche Einrichtung,« sagte +Heinrich schließlich und reichte mir in versöhnlicher +Stimmung die Hand.</p> + +<p>Ich nickte eifrig und meinte lächelnd: »Wie stark +muß die Liebe sein, um sie auszuhalten!«</p> + +<p>»Die besten Freunde müssen einander unerträglich +werden, wenn sie Tag und Nacht in denselben Käfig +gesperrt sind,« ergänzte er.</p> + +<p>»Ich glaube, es ist Zeit, daß wir für ein paar Wochen +in Freiheit gesetzt werden,« wagte ich zögernd auszusprechen; — ich +erwartete jeden Tag die Antwort von +Tante Klotilde auf meinen Brief, in dem ich sie gefragt +hatte, ob es ihr recht wäre, wenn ich mit dem Kleinen +nach Grainau käme. Ich würde mir eine eigene Wohnung +nehmen, — natürlich, — und sie nur besuchen, +wenn sie uns sehen wollte. Mein Mann runzelte zwar +noch die Stirn, aber er meinte dann doch lachend:<a name="Page_427" id="Page_427"></a> +»Mach, daß du wegkommst, damit ich die Gattin los +werde und die Geliebte wiederfinde.«</p> + +<p>Die Antwort kam, — eine kühle, glatte Ablehnung. +»Die Welt ist groß,« schrieb sie, »Du brauchst Deine +Sommerferien nicht gerade in Grainau zu verleben, wo +die Situation für dich, — ganz abgesehen von der meinen, +auf die Du ja keine Rücksicht zu nehmen scheinst —, +eine wenig gemütliche wäre. Die Bauern würden +Dir fremd, wenn nicht feindlich gegenüberstehen. Seit +der Dienstbotenbewegung, die Du mit soviel Lärm in +Szene setztest, hast Du ihre Sympathie verloren. Deine +ständigen Angriffe auf unseren allverehrten Kaiser« — hier +hörte ich die Stimme der Kleves, die nur in +der Potsdamer Hofluft zu atmen vermochten — »haben +den vielleicht noch vorhandenen Rest vollends zerstört ... +Ich bin eine alte, kranke Frau und brauche innere und +äußere Ruhe. Im übrigen wird meine Liebe zu Dir +durch die räumliche Entfernung eher erhalten, als beeinträchtigt +werden ...«</p> + +<p>Was nun? Gab es nichts mehr, das mir den Weg +zu ihr bahnen könnte? »Gehen Sie ins Gebirge,« hatte +der Arzt gesagt. Wenn ich nun doch reisen würde, — mit +dem Kleinen, — irgend wohin nicht allzuweit von +Grainau, wo der glückliche Zufall eine Begegnung ermöglichen +könnte! Ich war überzeugt: sah sie mein +Kind, ihr ganzes Herz würde gewonnen werden!</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_428" id="Page_428"></a></p> + +<p>In Mittenwald, dicht unterm Berg, fand ich bei +einem Bauern ein Giebelzimmerchen und die +große, bunte Wiese, die ich meinem Liebling +versprochen hatte. Den ganzen Tag spielte er dort mit +dem kleinen Sohn des Hauses, dem Hansei, und seine +weiße Stadthaut bräunte sich, und seine Muskeln wurden +straff. Ich saß indessen auf der Altane und schrieb alle +möglichen Artikel und freute mich, wenn das Honorar +immer wieder eine Woche längeren Aufenthalt möglich +machte. Von fernher glänzte und lockte die Zugspitze +bis zu mir herüber. Ich sah sie bei Nacht im Mondschein, +wenn die Sterne am dunkeln Himmel sich bewundernd +um sie scharten. Ich sah sie bei Tage, wenn +die Sonne sie inbrünstig küßte und ihr doch nichts zu +rauben vermochte von ihrer jungfräulichen Reinheit. +Ihr zu Füßen war das Stückchen Erde, das ich liebte, +wie keins in der Welt. Wo ich mein Jugendglück fand +und — begrub. Ich verstand, daß es Menschen gibt, +die vor Heimweh krank werden.</p> + +<p>Auf unseren Spaziergängen suchte ich immer die Wege, +auf denen ich dem weißen Berge näher kam, und erzählte +dem aufhorchenden Kleinen von ihm als der verzauberten +Prinzessin und ihrem grauen finsteren Wächter, dem +Waxenstein. Dabei wurden mir wohl auch die Augen +feucht. »Sei nich traurig, Mamachen,« tröstete mich +mein Kind. »Ein großer Held wird kommen und die +Prinzessin befreien!«</p> + +<p>Einmal, als wir wieder zu dem stillen See aufwärts +gingen, plauderte er lustig von den Kühen und den +Blumen. Dann wurde er plötzlich still, ein grübelnder<a name="Page_429" id="Page_429"></a> +Zug trat in sein rundes Kindergesichtchen, und seine +Wangen färbten sich dunkler.</p> + +<p>»Der Hansei will Kutscher auf'n Stellwagen werden,« +begann er unvermittelt; »ist das nicht dumm?!«</p> + +<p>Ich nickte zerstreut. Er schwieg wieder.</p> + +<p>Als wir uns aber im Walde lagerten, zog er meinen +Kopf dicht an den seinen und flüsterte aufgeregt: »Ich +muß dir ein großes Geheimnis sagen, — dir ganz allein. +Ich will ein Held werden und alle schlechten Leute totschlagen!«</p> + +<p>Ich streichelte seinen Lockenkopf. »Das ist nicht leicht, +mein Kind,« sagte ich ernst.</p> + +<p>»Oh, ich weiß! Aber was man will, das kann man auch!« +rief er mit einem hellen Jauchzen in der Stimme. Ich +zog ihn zärtlich an mich. Hatte ich es nötig, um ihn +zu bangen? Brauchte ich zu fürchten, daß seine Zukunft +von der Gunst der harten Frau dort drüben abhängig +werden könnte? Ich vergaß allmählich, weshalb ich hierher +gekommen war. Ich sah nicht mehr erwartungsvoll +die weiße Straße hinauf, wo ich vor Zeiten so oft mit +der Tante gefahren war.</p> + +<p>Es fiel von meiner Seele wie lauter dunkle Schleier. +Die Sonne und die freie Bergluft berührten sie wieder. +Zuweilen kam ich mir selbst wie verzaubert vor: als sei +all mein Träumen, mein Hoffen und Sehnen aus mir +herausgetreten und lebendig geworden in der Gestalt +dieses Kindes.</p> + +<p>An den Wiesenwegen standen überall Kruzifixe, Wahrzeichen +jener Verneinung des Lebens, die uns gelehrt +hat, Armut und Unglück nicht als unsre ärgsten Feinde, +sondern als gottgewollt anzusehen.</p> +<p><a name="Page_430" id="Page_430"></a></p> +<p>»Ich kann einen angenagelten Gott nicht anbeten,« +sagte mein Sohn.</p> + +<p>Unser Aufenthalt ging zu Ende. Ich mußte zum +Parteitag nach München. Aber ich konnte nicht fort, +ohne drüben gewesen zu sein, wo auf dem Hügel die +kleine weiße Kirche steht und der grüne Badersee im +Walde träumt, mit dem Bilde der Zugspitze im Herzen. +Wir fuhren nach Garmisch und wanderten über die +Wiesen, an den braunen Heuschobern vorbei, dorthin, +wo sich in leisen Wellenlinien das Tal erhebt, Hügel +an Hügel von alten Baumriesen bekrönt und blühenden +Büschen. Glänzend wie ein Silberstreifen schlängelt +sich der Weg durch die Gründe, — braune und rote +Dächer tauchen auf, — schon plätschert der Bergbach, +der ganz, ganz oben in den Furchen und +Spalten dem Felsen entspringt und vom Schnee sich +nährt und vom Eis: Das war Grainau —. »Und +nun, Bubi, paß auf: nun kommen die blauen und goldgelben +Häuser mit den lustigen Heiligenbildern daran +und den vielen, vielen Nelken auf den Altanen.«</p> + +<p>»Wo denn, Mamachen?!«</p> + +<p>Ich sah mit großen Augen um mich. Wo waren sie +nur? Die Erinnerung malte mir wohl ihr Bild, aber +die Zeit hatte ihre Farben verlöscht, und überall standen +neue Häuser mit kalkweißen Wänden, — ohne den heiligen +Florian in den Nischen, — blumenlos. Wie verschüchterte +Bauernkinder vor den Städtern verkrochen +sich die alten scheu in den Winkeln. Ich beschleunigte +meine Schritte. Der Wald war derselbe geblieben, +und zwischen den Buchenstämmen leuchtete schon der +See. Dort wollt' ich stille Andacht halten! — Mein<a name="Page_431" id="Page_431"></a> +Fuß stockte: ein großes Hotel erhob sich an seinem Ufer. +In seine kristallklare Flut hatte man eine Nixe aus +Bronze versenkt; auf den Kähnen drängten sich die +Menschen um sie und starrten hinunter. Aber den +Badersee sahen sie nicht. Der lag ganz still und sah +zum Himmel empor in großer, großer Einsamkeit. Und +hinter dunkeln Wolken versteckten sich die Berge, als +schämten sie sich der Welt unter ihnen.</p> + +<p>Ich kämpfte mit den Tränen. Meine Jugend hatte +ich gesucht, — war ich nicht statt dessen plötzlich uralt +geworden? Ich mochte nichts mehr sehen, auch das +Rosenhaus nicht. Aber mein Junge gab nicht nach.</p> + +<p>Lange lagen wir auf dem Moose im Wald, den kleinen +Rosensee uns zu Füßen, am jenseitigen Ufer das traute grünumrankte +Haus. Hier hatte sich nichts verändert. Und +all die Bilder von Glück und Leid, die dieser Rahmen +einst umschloß, zogen an mir vorüber. Die Jahre zwischen +damals und heut wären mir wie ein Traum erschienen, +wenn nicht das Kind neben mir mich an die lebendige +Gegenwart erinnert hätte. Ich stand auf und reckte +den Körper. Der Abschied von diesem Haus, diesem +See, diesem Wald war der erste Schritt in das neue +Leben gewesen. Ich bereute ihn nicht. Dankbar sah +ich noch einmal hinüber. Trotz alledem: dieser Erdenwinkel +blieb mein.</p> + +<p>Eine weißhaarige Frau, die den schweren Körper +nur mühsam am Stock vorwärts bewegte, trat aus +der Tür in den Garten. Uns entgegen auf dem +schmalen Steg kam hastig ein hellgekleidetes Mädchen. +Dicht vor mir blieb sie sekundenlang mit weit aufgerissenen +Augen stehen. Es war Jenny Kleve. Dann sah +<a name="Page_432" id="Page_432"></a>ich noch, wie sie hinüberlief, mit erregten Gesten auf +die alte Frau einsprach, und wie diese dem herbeigerufenen +Diener eine Weisung erteilte. Ich lachte +auf: jetzt hat sie Befehl gegeben, mich nicht vorzulassen, +dachte ich; — Jenny Kleve, auf diesen Triumph +freust du dich umsonst!</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>In München erwartete uns Berta, mit der der +Kleine nach Berlin zurückreisen sollte.</p> + +<p>Hätte ich nur mit ihnen heimreisen können! +All der Staub der Stadt, der meine Lunge erfüllt, +der grau und schwer die Glut meines Herzens fast erstickt +hatte, war vom Bergwind weggeweht worden. +Mein Kind, — mein Geliebter, — waren sie nicht der +Inhalt meines Lebens? Mein Geliebter, — nicht mein +Gatte, an dessen Seite nichts mich zwang als ein Stück +Papier. »Die geläuterte Moral der Zukunft wird die +Roheit unserer Gesittung nicht verstehen,« schrieb ich an +Heinrich, »die die Beziehungen der Geschlechter, wie die +zwischen Unternehmer und Arbeiter, zwischen Herrn und +Diener, mittelst eines formulierten Vertrages regeln +wollte, die die Frau nötigte, als Symbol des Auslöschens +ihrer Persönlichkeit, den eigenen Namen mit +dem des Mannes zu vertauschen. Liebe sollte immer +ein Geheimnis sein, eins, um das nur die Allernächsten +wissen. Die Ehe schreit es in alle Welt hinaus und +erzählt zynisch jedem Gassenbuben: sieh, dieses Weib gehört +jenem Mann!.. Ich sehne mich nach Dir. Mit +tieferer, heißerer Sehnsucht, als da die Liebe mir nur +<a name="Page_433" id="Page_433"></a>ein Traum war. Ich möchte untertauchen bis auf den +Grund ihres Ozeans, denn mir ist, ich wäre bisher nur +auf der Oberfläche gefahren, und in der Tiefe warteten +Schätze auf mich von unermeßbarem Wert. Aber wenn +ich an unsere laute Straße denke, an die engen Zimmer, +in die unsere große Liebe sich sperren ließ, um Magddienste +zu tun, — dann sinkt meine Sehnsucht in sich +zurück, wie ein Springbrunnen, der eben in Milliarden +Wassertropfen der Sonne entgegenflog und nun, da der +Gärtner den Hahn abdreht, plötzlich verschwindet ...« —</p> + +<p>»Du hast recht,« antwortete er, »tausendmal recht! +Aber glauben kann ich Dir erst, wenn Du Deine Empfindung +nicht nur aussprichst, sondern ihr folgst ... +Komm, und wir wollen in irgend einem stillen Winkel, +wo uns niemand kennt, Hochzeit feiern, wie einst ... +Der Parteitag braucht Dich nicht. Dieser Augenblick +jedoch ist vielleicht der einzige, der in uns beiden die +Erinnerung an die Ehe auslöscht ...«</p> + +<p>Aber ich ging nicht. Ich war unfrei. Nie hätte ich +es mir eingestanden, und doch war es so: ich stand, wie +die Mutter, noch unter dem kalten Gesetz der Pflicht. +Ich durfte die Aufgabe nicht im Stiche lassen um meiner +Wünsche willen! Am wenigsten jetzt, wo ihre Erfüllung +mir widerstrebte.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Wie schön hatte ich es mir einst gedacht, wenn +zu den Kongressen der Partei die Gesinnungsgenossen +von Ost und West, von Nord +und Süd zusammenkommen würden, ungleich nach Beruf +und Alter und Geschlecht, und doch ein einiges Heer, +<a name="Page_434" id="Page_434"></a>von derselben Kraft durchdrungen, von demselben Willen +beseelt, neue Kreuzfahrer, die auszogen, der Menschheit +heiliges Land zu suchen. Und jetzt?</p> + +<p>Schon im Hotel, wo die meisten Delegierten untergekommen +waren, musterte man sich mißtrauisch, begrüßte +sich kühl. Und Gruppen bildeten sich, die berieten, ob +und wie man die Ansichten der anderen Gruppen überstimmen +könne.</p> + +<p>Dem Parteitag ging eine Frauenkonferenz voraus. +Als ich in den Kreis der fünfundzwanzig Genossinnen +trat, fühlte ich die abweisende Kälte, die mir entgegenströmte. +Nur Ida Wiemer schüttelte mir herzhaft die +Hand. »Was sagen Sie nur zu dieser Tagesordnung?!« +flüsterte sie erregt.</p> + +<p>Ich lachte spöttisch: »Sie wollen offenbar in anderthalb +Tagen die ganze Frauenfrage lösen. Arbeiterinnenschutz, +Kinderschutz, gesetzliche Regelung der Heimarbeit, +politische Gleichberechtigung, — ein imponierendes Programm! +Es ist ja aber auch eine hübsche Zahl von Jasagern +beisammen. Die schlucken die Resolutionen unbesehen.«</p> + +<p>»Aber Krach gibt's auch,« antwortete Frau Wiemer. +»Ihnen müßten die Ohren geklungen haben, so giftig +ist die Bartels auf Sie.«</p> + +<p>»Auf mich?! Ich habe ja gar nichts getan!« meinte +ich verwundert.</p> + +<p>»Aber die düsseldorfer Genossinnen haben einen Antrag +auf Anstellung einer Parteisekretärin eingebracht. +Man meint, Sie müßten dahinterstecken —«</p> + +<p>Darum also die bösen Gesichter!</p> + +<p>»Und dann: daß Sie als Einzige von uns morgen im +Kindlkeller sprechen!«</p> + +<p><a name="Page_435" id="Page_435"></a>Darum also die gekränkten Mienen!</p> + +<p>Die arme Düsseldorferin wußte offenbar nicht, in +was für ein Wespennest sie mit ihrem Antrag gestochen +hatte, und konnte die Erregung, die er hervorrief, nicht +begreifen. Ich kam ihr zu Hilfe und goß nur Öl ins +Feuer. Alles fiel über uns her. Martha Bartels sah +in dem Antrag ein Mißtrauensvotum gegen ihre Tätigkeit +als Zentralvertrauensperson und spielte die persönlich +Gekränkte, Luise Zehringer gab der offenbar allgemeinen +Meinung, wonach ich mir auf diese hinterlistige +Weise eine fette Pfründe schaffen wollte, drastischen +Ausdruck, indem sie mit einem wütenden Blick auf mich +erklärte:</p> + +<p>»Die Genossinnen, die nur ab und zu von sich hören +lassen, sonst aber praktisch gar nicht arbeiten, können +wir für solche Stelle nicht brauchen. Die haben unser +Vertrauen nicht.«</p> + +<p>Dabei begann sie krampfhaft zu schluchzen und kreischte, +wie ich es von ihr noch nie gehört hatte. Aller Klang +und alle Weichheit waren aus ihrer Stimme verschwunden. +Ob das das unausbleibliche Schicksal aller Agitatorinnen +war?!</p> + +<p>Die Bartels sekundierte ihr: »Uns können nur Frauen +nützen, die Fleisch von unserem Fleische sind ... Keine +akademisch gebildeten Damen, die nur mal, um sich zu +zeigen, ab und zu in einer großen Versammlung einen +Vortrag halten —.« Ich stand dicht vor ihr und sah +ihr gerade ins Gesicht. »Solche Paradepferde können +wir nicht brauchen,« schrie sie.</p> + +<p>Mein Nachbar, ein belgischer Genosse, schüttelte verwundert +den Kopf: »Es scheint, die ganze Konferenz +<a name="Page_436" id="Page_436"></a>richtet sich gegen Sie. Was haben Sie nur getan?!« +fragte er.</p> + +<p>»Ist's nicht Verbrechen genug, daß ich überhaupt da +bin?!« antwortete ich bitter.</p> + +<p>Als im weiteren Verlauf der Debatte die Frage des +Arbeiterinnenschutzes besprochen wurde, nahm ich die +Gelegenheit wahr, abermals die Forderungen einer umfassenden +Mutterschaftsversicherung zu verteidigen. Ein +paar Beifallsrufe wurden laut, die meisten der Frauen +jedoch, ihr Leben lang gewohnt, sich unterjochen zu +lassen, waren durch die Anwesenheit so anerkannter +Parteiautoritäten, wie Wanda Orbin und Martha +Bartels, viel zu verschüchtert, als daß sie ihnen hätten +opponieren können. Kaum hatte ich geendet, als Wanda +Orbin sich zum Worte meldete.</p> + +<p>Sie sprach mit einer Leidenschaft, als gelte es, die +höchsten Prinzipien des Sozialismus zu verteidigen, und +mit einer Stimme, als hätte sie eine Riesenvolksversammlung +vor sich: »Der Gedanke, welcher der Mutterschaftsversicherung +zugrunde liegt,« sagte sie, »ist der Gedanke +der menschlichen Solidarität in seiner weitesten +Form. Die Verwirklichung dieses Prinzips aber steht +in so schreiendem Gegensatz zu dem Wesen der kapitalistischen +Gesellschaftsordnung, daß wir sie auf ihrem +Boden nicht erreichen werden ... Sie kann erst zur +Verwirklichung gelangen, wenn das Recht des lebenden +Menschen über den toten Besitz zur Geltung gebracht +sein wird, — in einer sozialistischen Gesellschaft ...« +Ihre Stimme überschlug sich, Schweißtropfen standen +auf ihrer Stirn. Von allen Seiten klatschte man enthusiastisch.</p> +<p><a name="Page_437" id="Page_437"></a></p> +<p>»Bisher hat es nur als ein Kennzeichen der bürgerlichen +Frauenbewegung gegolten, aus Opportunitätsgründen +möglichst wenig zu fordern, um überhaupt etwas +zu erreichen,« antwortete ich in ruhigem Gesprächston. +»Wir verlangen im Gegenteil Alles, und nehmen nur +als Abschlagszahlung, was davon stückweise errungen +wird. Haben wir etwa jemals aufgehört, für den Achtstundentag +zu agitieren, weil der Gegenwartsstaat ihn +nicht gewähren wird? Mit noch größerem Recht können +wir von ihm die Mutterschaftsversicherung fordern, denn +ein gut Teil ihrer Ziele muß er im eigensten Interesse +verwirklichen. Er braucht gesunde Mütter, arbeitsstarke +Männer, kriegstüchtige Rekruten.«</p> + +<p>Wanda Orbin erhob sich noch einmal. »Die Forderung +der Mutterschaftsversicherung ist durchaus nicht +so radikal sozialistisch, wie Frau Brandt meint ...,« rief +sie. Ringsum klatschte man wieder. Weder sie noch +ihre Zuhörerinnen hatten bemerkt, daß sie, um mir zu +widersprechen, sich innerhalb weniger Minuten selbst +widersprochen hatte.</p> + +<p>Als ich ins Hotel zurückkam, müde und verärgert, +trat mir überraschend mein Mann entgegen. Ich errötete +dunkel. Er küßte mir nur die Hand.</p> + +<p>»Ich wußte, daß du Kämpfe haben wirst,« sagte er, +»und daß ein Freund dir fehlen könnte.« Mit tiefer +Dankbarkeit sah ich ihm in die Augen.</p> + +<p>Der Geist, der in der Frauenkonferenz umgegangen +war, herrschte auf dem Parteitag.</p> + +<p>»Wir brauchen die Akademiker nicht!« war die Parole, +unter der er stand. »Wenigstens die nicht, die sich erlauben, +eine andere Meinung zu haben als wir.«</p> + +<p><a name="Page_438" id="Page_438"></a>Ein Antrag besonders war von symptomatischer Bedeutung; +er verlangte nichts weniger, als daß die Mitglieder +der Partei verpflichtet werden sollten, Kritiken +über schriftliche oder mündliche Äußerungen von Parteigenossen +nur in Parteiblättern, das heißt solchen Zeitungen +und Zeitschriften, die der Parteikontrolle unterstehen, +zu veröffentlichen. War es nicht ein grotesker +Widerspruch zu den grundlegenden Prinzipien der Partei, +daß solch ein Antrag auch nur ernsthaft diskutiert werden +konnte? Daß es Sozialdemokraten gab, die die »Einheitlichkeit +der Partei« dazu mißbrauchten, um die Meinungsfreiheit +niederzuknütteln?</p> + +<p>»Ich habe geglaubt, die Leute hätten sich in der +Adresse geirrt,« sagte Vollmar und reckte sich zu seiner +ganzen Riesengröße auf, sodaß er turmhoch und turmsicher +über der brandenden Woge der Menge stand. +»Das ist ein Antrag für die Zentrumspartei, für die +Kirchenorgane mit dem Zensor obenan, wo nur eine +Meinung gilt. Es genügt nicht, ihn zu bekämpfen, ihn +niederzustimmen. Bis auf seine Wurzeln, gilt es, ihn +zu verfolgen, sonst kehrt er in der und jener Form alljährlich +wieder und überwuchert unser Erdreich. Es +ist der ewige Geist der Kontrolle, der Geist der Kasernenhofdisziplin, +dem er entspringt. Und gegen ihn müssen +wir uns wenden. Nicht die freie Meinung unterdrücken, +was eine Schwäche verraten würde, die nur dem Tode, +das heißt der Versteinerung einer Bewegung vorangehen +kann, sondern sie fördern, ist unsere Aufgabe. +Sollte der Versuch unternommen werden, selbständige +Menschen mundtot zu machen, so wäre der kein echter +Sozialdemokrat, der es fertig bekäme, sich solcher Zensur +<a name="Page_439" id="Page_439"></a>zu unterwerfen. Es wäre wahrhaftig nicht der Mühe +wert, die Fesseln der bürgerlichen Gesellschaft von sich +zu werfen, um sie nur mit neuen zu vertauschen!«</p> + +<p>Ich sah mich um im Saal. Es waren nur bestimmte +Gruppen, die Beifall klatschten. Reihenweise saßen die +Genossen an den langen Tafeln mit verschlossenen oder +gleichgültigen Mienen. Unwillkürlich lief mir ein Schauer +über den Rücken. Die »Diktatur des Proletariats«, — wird +sie die Freiheit sein?</p> + +<p>»Sie würde ein rasches Ende nehmen, wenn sie etwas +anderes wäre,« sagte einer unserer Genossen, als wir +am Abend zusammen waren und ich die Frage ausgesprochen +hatte.</p> + +<p>Während der letzten Tage des Kongresses, deren Verhandlungen +sich um die praktischen Fragen der Arbeiterversicherung +und der Kommunalpolitik drehten, legten +sich die Wogen der Erregung wieder. Und als August +Bebel von den kommenden Reichstagswahlen sprach und +seine braunen Jünglingsaugen unter dem grauen Haarschopf +immer feuriger glänzten, je drastischer seine Darstellung +der inneren und äußeren politischen Lage wurde, +je weitgehendere Hoffnungen er für den Wahlkampf +daran knüpfte, da jubelte alles ihm einmütig zu; jener +zündende Funke der Begeisterung sprang von einem zum +anderen, derselbe Funke, den eine Kriegserklärung für +alle waffenfähigen Männer bedeuten mag. Sie werfen +ihr Werkzeug beiseite, sie treten in Reih und Glied, und +zum guten Kameraden wird der Nachbar, mit dem sie +eben noch in kleinlichem Hader lebten.</p> + +<p>Noch erging sich die bürgerliche Presse in langatmigen +Betrachtungen über den »Bruderzwist« in der Partei, +<a name="Page_440" id="Page_440"></a>um Hoffnungen für ihre Sache daraus zu schöpfen, und +schon standen wir in Reih und Glied dem gemeinsamen +Feind gegenüber.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Am Tage unserer Rückkehr nach Berlin ging ich +zur Mutter. Drei Monate hatte ich sie nicht +gesehen. Ihre Briefe, die kurz und freudlos +waren, ließen mich nichts Gutes ahnen. Sie wohnte +mit Ilse in einer Pension am Lützow-Ufer. Als ich +aus dem hellen Tageslicht in das dunkle Zimmer trat, — die +Häuser hier traf nie ein Sonnenstrahl, — löste +sie sich langsam, wie ein Schatten, aus dem tiefen Stuhl, +in dem sie gesessen hatte. Ihre Hände nur leuchteten +weiß und überschlank aus dem schwarzen Ärmel des +Kleides. Sie war sehr verändert.</p> + +<p>Streifen weißen Haares zogen sich durch ihre blonden +Scheitel. Auf ihrem schmalen Gesicht wechselte fahle +Blässe mit fliegender Röte. Die Pupillen in ihren +Augen standen keinen Augenblick still. Ein Gefühl von +Zärtlichkeit überkam mich. Ich küßte ihre beiden Hände.</p> + +<p>»Es ist nicht leicht —,« sagte sie.</p> + +<p>»Was denn, Mamachen?« fragte ich so sanft, als hätte +ich eine Kranke vor mir.</p> + +<p>»Weißt du noch, wie ich Ilse die Stiefel zuschnürte, +als sie ein Kind war? Vor ihr auf den Knieen, — nur +damit sie sich nicht bücken sollte?« begann sie langsam, +traumverloren. »Dann pflegte ich ihren Mann zu +Tode, — und nun läßt mir die Angst keine Ruhe, daß +sie wieder in ihr Unglück rennt —« Sie ließ sich nicht +beruhigen. Es war, als ob eine fixe Idee sie beherrschte.</p> + +<p><a name="Page_441" id="Page_441"></a>Eines Abends schickte Ilse nach mir.</p> + +<p>»Um Gottes willen — rasch —,« rief sie mir schon +vor der Haustür entgegen, »ich fürchte mich so!« +Oben fand ich die Mutter im Bett zusammengekauert, +die Augen starr ins Wesenlose gerichtet. »Hans — Hans — tu +mir nichts!« wimmerte sie. »Du hast ja +mein Versprechen —« Und dann streckte sie wie lauschend +den Kopf vor. »Hier meine Hand darauf —« +flüsterte sie ruhiger werdend, und ihre weißen Finger +griffen in die leere Luft, um etwas zu umschließen, das +niemand sah als sie.</p> + +<p>Der Arzt erklärte ihren Zustand für Nervenüberreizung +und verlangte die Trennung von Mutter und +Tochter. Aber erst nach Wochen voller innerer und +äußerer Qualen ließ sie sich überreden, ohne Ilse nach +Montreux zu gehen. Ich hatte ihr versprechen müssen, +die Schwester zu mir zu nehmen, und sie selbst überwachte +noch ihre Übersiedlung in eine zufällig leere +Wohnung neben uns.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Es war um die Weihnachtszeit; jene Zeit voller +Geheimnisse und voller Freuden; jene Zeit, +die ein Gott der Liebe wirklich geweiht zu +haben scheint. Ich hatte dann immer alle Hände voll +zu tun. In den Laden gehen und kaufen, das kann +jeder, der einen vollen Beutel hat, auch im Alltag des +Jahres. Aber den Wünschen derer, die man liebt, +nachspüren, und sie mit eignen Händen zu erfüllen +suchen, das kann nur, wer Festtagsstimmung hat.</p> + +<p>Eine Götterburg baut' ich meinem Buben auf mit<a name="Page_442" id="Page_442"></a> +Wodan und Baldur, mit Loki im roten Feuerkleid und +den Walküren in Schwanengewändern. Stets fehlte +noch irgend was: ich mußte weit umherlaufen, um +die Silberflügel für die Helme der Schlachtjungfrauen +oder den goldenen Eber für Freyrs Wagen zu finden. +Und ich war so müde, so schrecklich müde! Es war, +als ob mein Körper täglich schwerer auf den Füßen +lastete. Endlich war alles fertig. Ich lag erschöpft +auf dem Sofa.</p> + +<p>Wie schwach mir war und wie glühend heiß dabei! +Mit einer letzten Kraftanstrengung schlich ich ins Schlafzimmer +und legte mir den Fieberthermometer unter den +Arm: 39½ — Ich rief nach Berta und schickte zum +Arzt. Dann wußte ich nichts mehr von mir.</p> + +<p>Erst allmählich sah ich schattenhaft Gestalten um mein +Bett — Heinrich — den Arzt — die Pflegerin in der +weißen Haube und — die Mutter! Wie hatte man +sie nur rufen können, die arme, kranke Frau?! Oder, — eiskalt +packte mich die Angst, — sollte ich sterben +müssen?! Ich durfte doch gar nicht! Ich mußte den +Weihnachtsbaum putzen für mein Kind! Unaufhaltsam +liefen mir die Tränen über die Wangen.</p> + +<p>Ich genas. Auf dem Sofa lag ich jetzt wieder, und +über meine Decke ließ Ottochen alle Götter und alle +Walküren reiten.</p> + +<p>»Wie kam es nur,« wandte ich mich zur Mutter, +die, noch schmaler geworden, im Stuhl neben mir +lehnte, »wie kam es nur, daß du so plötzlich hier +warst? Heinrich gab mir sein Wort, daß er dir nichts +von meiner Erkrankung geschrieben hat, — und Ilse auch.«</p> + +<p>Ein stilles Lächeln glitt über ihre Züge.</p> +<p><a name="Page_443" id="Page_443"></a></p> +<p>»Nein, niemand schrieb mir, — aber ich sah, daß der +Tod neben dir stand. Ihr mögt noch so sehr zerren +wie an einer Kette, das Band zwischen Mutter und +Kind ist stärker als Ihr.«</p> + +<p>Am nächsten Tage reiste sie ab. Sie hatte den alten +schwarzen Mantel an, den ich seit Jahren an ihr +kannte, und auf ihrem dunkelgrauen Hut saß ein kleiner +grünschillernder Käfer, — ich weiß noch alles ganz +genau. An der Tür zögerte sie und sah mich an, — mit +einem langen, langen Blick. Ich wollte mich aufrichten +und sie noch einmal umarmen. Aber ich war +viel zu schwach dazu.</p> + +<p>Acht Tage später war sie tot.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_444" id="Page_444"></a></p> +<h2><a name="Dreizehntes_Kapitel" id="Dreizehntes_Kapitel"></a>Dreizehntes Kapitel</h2> + + +<p>»Genosse Weber aus Frankfurt a. O. — meine +Frau.« Ich war gerade zur Türe eingetreten, +als Heinrich mir seinen Gast vorstellte, +einen kleinen lebhaften Menschen mit blanken, +braunen Augen und kahlem Schädel. Verwundert sah +ich von einem zum anderen: sie waren beide heiß und +rot vor Erregung.</p> + +<p>»Helfen Sie mir, Genossin Brandt,« sagte der +Fremde und trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte. +Komisch, was für einen breiten, nach außen +gebogenen Daumen er hat, wie bei der Spinnerin +im Märchen, dachte ich zerstreut, während meine Augen +gewohnheitsmäßig an seinen Händen hängen blieben.</p> + +<p>»Weber bietet mir die Kandidatur seines Wahlkreises +an,« erklärte Heinrich. Nun erst horchte ich auf.</p> + +<p>»Und er zögert, sie anzunehmen. Bringt lauter Wenn +und Aber vor. Und will Bedenkzeit. Als ob es jetzt +noch was zu bedenken gäbe! Jeder von uns muß ins +Geschirr, — so oder so,« rief unser Gast, und seine +Worte überstürzten sich vor Eifer. »Machen Sie kurzen +Prozeß, — schlagen Sie ein!«</p> + +<p>»Schade, daß Sie mich nicht brauchen können, — ich +täte es besinnungslos,« antwortete ich und legte meine<a name="Page_445" id="Page_445"></a> +Hand in die seine, die er noch vergeblich meinem Mann +entgegenstreckte. Weber hielt sie fest.</p> + +<p>»Ein Weib — ein Wort,« lachte er. »Sie sollen +sehen, wie wir Sie brauchen können, — zuerst müssen +Sie uns den Kandidaten und dann den Wahlkreis erobern +helfen!«</p> + +<p>Aber mein Mann blieb fest, trotz allen Zuredens.</p> + +<p>»In vierundzwanzig Stunden werden Sie meine Antwort +haben...« sagte er.</p> + +<p>Als Weber gegangen war, schalt er mich: »Du +bist unüberlegt wie ein Kind! Glaubst du, daß das +Archiv nicht sehr geschädigt wird, wenn ich für die +Partei kandidiere, oder gar als Mitglied der sozialdemokratischen +Fraktion in den Reichstag komme?!«</p> + +<p>Ich machte eine wegwerfende Bewegung: »Ach, — das +Archiv und immer das Archiv! Lindner wird sich +über kurz oder lang entscheiden müssen, und wenn du +erst eine ausgesprochen sozialistische Zeitschrift leitest, so +wird das auf das Archiv nicht anders wirken, als +wenn du Abgeordneter bist...«</p> + +<p>Einen Augenblick lang schwieg ich und sah ihn erwartungsvoll +an, aber er blieb am Schreibtisch sitzen +mit gesenkten Augen und zusammengekniffenen Lippen, +während seine Hand unruhig mit dem Bleistift spielte.</p> + +<p>»Heinz —,« fuhr ich mit weicherer Stimme fort, +»Heinz, das bist nicht du, den ich unschlüssig vor mir +sehe! Alle Wetterzeichen deuten auf einen großen Kampf, +und du könntest abseits bleiben, wenn man dich zu den +Waffen ruft?! Du, den ich liebe um seiner Kühnheit +willen, der all die tausend jämmerlichen Rücksichten des +Alltagsmenschen nicht kennt —«</p> +<p><a name="Page_446" id="Page_446"></a></p> +<p>»Ich sage dir, wie schon einmal, daß ich an euch zu +denken habe, an dich und das Kind,« unterbrach er +mich, aber seine Stimme hatte keinen Ton dabei.</p> + +<p>»Hat Romberg, der den Freien spielt und im Grunde +nichts ist als ein Philister, so viel Macht über dich?!« +antwortete ich heftig. »Soll auch für uns die Familie +der Götze sein, dessen Unersättlichkeit wir das Beste +opfern: unsere Freiheit, unsere Überzeugung, unser +Menschentum?! Sie wäre wert, daß wir sie zerstörten, +wie unsere Gegner es von uns behaupten, wenn dem +so wäre!«</p> + +<p>Heinrich erhob sich und reichte mir die Hand. Seine +Augen glänzten wieder. »Du bist mein tapferer Kamerad,« +sagte er, — nichts weiter. Und ich stellte keine +Frage mehr an ihn.</p> + +<p>Am nächsten Morgen gingen wir in den Reichstag. +Seit Wochen tobte hier der Kampf um den Zolltarif. +Mit eiserner Konferenz hatte die sozialdemokratische +Fraktion es bisher durchgesetzt, daß über jeden einzelnen +Zollsatz beraten und namentlich abgestimmt wurde. Wenn +sie die schließliche Annahme der Vorlage auch nicht verhindern +konnte, — sie hatte eine geschlossene Mehrheit +gegen sich; von den bürgerlichen Parteien wagte es nur +die kleine freisinnige Vereinigung unter Führung von +Theodor Barth mit ihr zusammen gegen die drohende +Verteuerung aller Lebensmittel Front zu machen —, so +wollte sie wenigstens nichts versäumen, um ihre Folgen +abzuschwächen, oder, — das war die Hoffnung der Optimisten +in ihrer Mitte, — die Entscheidung so lange +hinauszuschieben, bis die neu gewählten Volksvertreter +sie zu fällen haben würden. Sie wußten genau: wenn +<a name="Page_447" id="Page_447"></a>sie mit dem Zolltarif als Agitationsmittel vor die +Wählermassen treten könnten, so würde eine verstärkte +Opposition in den Reichstag zurückkehren. Aber ihre politischen +Gegner fürchteten diese Entwicklung der Dinge +ebenso sehr, als die Sozialdemokraten sie wünschten. Schon +hatten sie versucht, durch eine Umänderung der Geschäftsordnung +die Verhandlungen zu beschleunigen, — umsonst. +Die Sozialdemokraten begegneten ihnen mit +vier- und fünfstündigen Dauerreden, mit immer neuen +Anträgen. Die Empörung stieg bis zur Siedehitze. +Und jetzt, — darüber war kein Zweifel, — hatten die +Vertreter der Rechten und des Zentrums nach langwierigen +Beratungen ein Mittel gefunden, das den Einfluß +der Opposition endgültig lahmlegen sollte.</p> + +<p>In der langen grauen Wandelhalle, die der dunkle +Novembertag noch öder, noch farbloser erscheinen ließ, +warteten wir auf unsere Tribünenkarten. Abgeordnete +eilten an uns vorüber, in schwarzen Röcken oder in +Soutanen, schwere Mappen unter den Armen, mit +müden, überwachten Gesichtern, oder sie gingen flüsternd +zu zweien und blieben in den Ecken stehen, die Köpfe +zueinandergeneigt, wie Verschwörer. Erhob sich ihre +Stimme im Eifer des Gesprächs, so hallten abgerissene +Worte durch den hohen Raum und schwebten wie verirrt +in der Luft. Ein langsamer fester Schritt näherte +sich uns: Ignaz Auer.</p> + +<p>»Sie haben eine gute Nase, Genossin Brandt,« lachte +er, indem er uns kräftig die Hände schüttelte; »heute +platzt hier irgend eine Bombe. Und da müssen Sie +dabei sein, was?!« Er führte uns in den Wandelgang, +der den Sitzungssaal umschließt, und mit seinem +<a name="Page_448" id="Page_448"></a>weichen Teppich und seiner braunen Täfelung behaglich +gewirkt hätte, wenn nicht ein unaufhörliches hastiges +Hin und Her die Luft in ständiger nervöser Schwingung +erhalten hätte. Wir setzten uns.</p> + +<p>»Mir ist die Kandidatur für Frankfurt-Lebus angeboten +worden. Was halten Sie davon?« wandte sich +mein Mann an Auer. Der strich sich nachdenklich mit +der breiten Hand den Bart, während ein leiser Spott +seine Lippen kräuselte.</p> + +<p>»Also wieder ein Akademiker! Was werden unsere +Berliner sagen?! — Übrigens,« fügte er lauter hinzu, +»ich kenne den Wahlkreis: Äcker, nichts als Äcker, und +Bauern- und Rittergüter, wenig Industrie, — kurz, ein +böser Winkel.«</p> + +<p>»Aussichtslos?« fragte Heinrich.</p> + +<p>»Aussichtslos? Nein!« antwortete Auer. »Nur erleben +wir beide seine Eroberung nicht.« Ich biß mir +ärgerlich die Lippen, — ich hatte erwartet, daß er zureden +würde.</p> + +<p>Ein heller Glockenton klang durch das Haus. Die +Sitzung war eröffnet. Wir stiegen zur Tribüne hinauf. +Jeder Platz war besetzt. Gespannte Erwartung lag auf +allen Zügen. Man zeigte einander flüsternd die Hauptführer +im Kampf. Allmählich füllte sich unten der +Saal. Das gelbgraue Licht, das von den farblosen +Wänden und der tiefen Glasdecke ausstrahlte, ließ alle +Gesichter gleichmäßig fahl erscheinen.</p> + +<p>»Ein vornehmer Raum!« sagte eine Dame neben +mir. Daß man so oft für vornehm hält, was nur +kühl, nur leblos ist! Die Architekten öffentlicher Gebäude +sollten den psychologischen Einfluß der Farben +<a name="Page_449" id="Page_449"></a>auf die Menschen studieren. Vielleicht würden dann +manche Parlamentsverhandlungen und Gerichtsbeschlüsse +anders ausfallen.</p> + +<p>Hinter dem Rednerpult stand ein Abgeordneter, der +mit einförmiger Langsamkeit über die Petitionen zu den +Vieh- und Fleischzöllen berichtete. Niemand hörte auf +ihn. In Gruppen standen die Mitglieder der Rechten +und des Zentrums beieinander. Hier und da eilte einer +von ihnen zur Tür, um bald darauf achselzuckend +wiederzukommen. Irgend etwas sehnlich Erwartetes +fehlte. Die Linke nur saß scheinbar ruhig auf ihren +Plätzen, und auf dem Präsidentenstuhl lehnte Graf +Ballestrem in erzwungener Gelassenheit den weißen Kopf +an die hohe Lehne. Der Berichterstatter schloß. Graf +Ballestrem erhob sich: »Wir treten nunmehr in die Beratung +des Zolltarifs ein ...«</p> + +<p>In diesem Augenblick stieg Herr von Kardorff, der +greise Führer der Rechten, mit jugendlicher Elastizität +die Stufen zur Estrade empor. Ein weißes Papier +zitterte in seinen Händen. Die Stimme, mit der er +scharf und hell seine Worte in den Saal hinausstieß, +vibrierte:</p> + +<p>»In wenigen Minuten wird dem Hause ein Antrag +vorliegen, der dahin geht, in Paragraph 1 der Gesetzesvorlage +die Enbloc-Annahme des Zolltarifs auszusprechen ...«</p> + +<p>Ein Hohngelächter übertönte jedes weitere Wort. Die +Linke sprang auf und umdrängte die Estrade.</p> + +<p>»Eine Guillotinierung!« klang es aus dem schwarzen +Menschenknäuel.</p> + +<p>»Sie haben uns selbst auf diesen Weg gedrängt ...,<a name="Page_450" id="Page_450"></a>« +rief Kardorff. Er ballte die Faust um das weiße Papier, +reckte die überschlanke Gestalt hoch auf und maß +mit einem hochmütigen Blick die Gegner unter ihm.</p> + +<p>Man wartete auf die Verteilung des Antrages. Eine +lange, atemlose Pause. Endlich traten die Diener ein. +Man riß ihnen die bedruckten Blätter aus der Hand. +Dicht unter der Rednertribüne, auf der Kardorff noch +immer aushielt — gerade, starr, scheinbar gleichgültig —, +warf einer der Sozialdemokraten in fanatischem Zorn +das zusammengeballte Blatt zu Boden. Um den heftig +gestikulierenden Bebel sammelte sich die Linke.</p> + +<p>»Zur Geschäftsordnung!« rief Singers tiefe Stimme +immer wieder dem Präsidenten zu.</p> + +<p>Und dann sprach er. Aber durch den frenetischen +Beifall der Linken und die empörten Zwischenrufe der +Rechten und des Zentrums klangen nur abgerissene Sätze +zu den Tribünen empor.</p> + +<p>»... Dieser Antrag ist der Ausfluß des persönlichen +Interesses, welches die Herren Gesetzgeber an der Zolltarifvorlage +haben ... Sie fördern den Umsturz, Sie +propagieren die Revolution, indem Sie die Interessen +des Volkes mit Füßen treten... Neunhundert Positionen, +von denen jede einzelne die wirtschaftliche Existenz +Tausender bedroht, wollen Sie in einer Abstimmung zur +Entscheidung bringen ... Sie fürchten sich, die Beute +könnte Ihnen entgehen ... Sie sind die Schleppenträger +der Agrarier und die Regierung ist ...«</p> + +<p>»Ihr Zuhälter!« kreischte eine Stimme dazwischen.</p> + +<p>Der Präsident erhob sich und schwang die Glocke. +Aber das Wort saß fest; flüsternd ging es schon durch +die Menschenreihen auf den Tribünen.</p> + +<p><a name="Page_451" id="Page_451"></a>Noch einmal übertönte Singers Rede den Sturm im +Saal: »Mehr denn je wird das Recht der Minorität, +sich gegen Vergewaltigungen zu wehren, zur heiligen +Pflicht, wo es sich darum handelt, dem Volke ein Gesetz +zu ersparen, das es der Not ausliefert, während es +Ihre Taschen füllt ...«</p> + +<p>Seine Fraktionskollegen umringten den Redner; einen +Augenblick lang lag die Hand Theodor Barths in der +seinen.</p> + +<p>»Das Wort zur Geschäftsordnung hat der Herr Abgeordnete +von Kardorff.«</p> + +<p>Schon hatte sich Singer seinem Platz wieder zugewandt. +Wie er den Namen hörte, drehte er sich um und blieb +zwischen den Seinen stehen, groß, schwer, breitschultrig. +Über ihm auf einer der Stufen, die zur Estrade führten, +stand Bebel, die dunkelglühenden Augen fest auf den +Redner gerichtet, während seine Finger sich nervös bewegten, +sich spreizten und wieder zusammenzogen, als +prüften sie ihre Kraft.</p> + +<p>Ruhig, mit der ganzen Selbstbeherrschung des alten +Aristokraten, begann Kardorff zu sprechen: »Wir sind +der Überzeugung, daß der vorliegende Antrag das einzige +Mittel ist, um die Tarifvorlage, deren Erledigung +wir für ein großes vaterländisches Interesse halten ...«</p> + +<p>»Vaterländisch?!« fragte jemand ironisch; ein schallendes +Gelächter antwortete.</p> + +<p>Der Redner gab sich nicht die Mühe, den Lärm zu +überschreien. Gleichgültig sah er über die Menge hinweg +und wartete, bis der Präsident die Ruhe wieder +hergestellt hatte. Dann sprach er weiter, ohne die +Stimme zu erheben, ohne Pathos. Er gab sich nicht +<a name="Page_452" id="Page_452"></a>die Mühe, überzeugen zu wollen; in seiner ganzen Art +lag eine souveräne Verachtung des Gegners.</p> + +<p>»...Daß die Mehrheit wichtige Gesetzesvorlagen +auch gegen den Willen der Minorität durchsetzt, ist +eine grundlegende Forderung unseres konstitutionellen +Lebens...«</p> + +<p>Tosender Lärm unterbrach ihn. Aus dem dichtgedrängten +Haufen, der sich allmählich immer näher zur +Rednertribüne emporschob, erhoben sich geballte Fäuste. +»Räuber!« — »Taschendieb!« — »Volksverräter! —«, +wie Peitschenhiebe pfiff und sauste es durch die Luft. +Die Mitglieder der Rechten erhoben sich und besetzten +wie zum Schutz die andere Seite der Treppe. Kardorff +sprach weiter. Sein Gesicht war um einen Schein blasser +geworden, und seine schmalen Hände umklammerten krampfhaft +das Pult. Hier stand nicht mehr der einzelne, der +um einen momentanen Vorteil kämpft, — in diesem Mann +erhob sich vielmehr die alte Welt wider die neue und +umgab seinen scharf geschnittenen Aristokratenkopf mit +dem dunklen Glanz tragischer Größe.</p> + +<p>Als wir gingen, stritt man sich noch immer in endlosen +Reden über die Zulässigkeit des Antrags.</p> + +<p>»Acht Tage läßt sich die Sache wohl noch hinziehen,« +meinte einer unserer Reichstagsabgeordneten, den wir +in der Wandelhalle trafen, »dann ist der Zolltarif angenommen. +Ein Pyrrhussieg für die Rechte, — der +Nagel zum Sarg für die Nationalliberalen!«</p> + +<p>»Und hundert Mandate für uns!« fügte ein anderer +frohlockend hinzu; »das wird ein Wahlkampf werden, +der seinesgleichen nicht hatte!«</p> + +<p>In einem Kaffee der Potsdamerstraße erwartete uns<a name="Page_453" id="Page_453"></a> +Weber. Fragend sah er von einem zum anderen. Mein +Mann reichte ihm die Hand.</p> + +<p>»Hier haben Sie mich, wenn Sie noch mögen. Auer +sagt, wir würden die Eroberung von Frankfurt-Lebus +nicht erleben, — das gab den Ausschlag. Die gebratenen +Tauben, die in den Mund fliegen, schmecken mir +nicht. Wir wollen uns zusammen ein Wild erjagen.«</p> + +<p>Wir blieben noch lange beieinander. Weber erzählte +von seinem eigenen Leben: wie er als armer Schustergeselle +in die Welt hinausgewandert war, sich schließlich +seßhaft gemacht hatte und anfing, sich emporzuarbeiten.</p> + +<p>»Eine verbissene Zähigkeit gehört dazu, wenn's gelingen +soll,« meinte er, »dieselbe Zähigkeit, die wir +haben müssen, soll die Partei vom Flecke kommen. Nur +ein paar solcher Genossen haben wir in Frankfurt, die +seit Jahren den steinigen Boden beackern, unermüdlich, +in täglicher Kleinarbeit, gegen den Haß und die Verfolgungssucht +des ganzen bourgeoisen Klüngels, — und +doch sind wir ein gut Stück weitergekommen. Seit +zwanzig Jahren schau ich mir die alte rote Fahne an, +die seit dem ersten Lassalleschen Arbeiterverein eingerollt +im Winkel steht. Der schönste Tag meines Lebens wär's, +wenn ich sie einmal flattern sehen könnte!« Und mit dem +breiten Schusterdaumen wischte er sich einen feuchten +Tropfen aus dem Augenwinkel.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_454" id="Page_454"></a></p> + +<p>Mit jedem neuen Tage wurde der Kampf im +Reichstage brutaler; selbst die politisch Gleichgültigen +wurden aufgerüttelt und verfolgten +ihn mit gespannter Aufmerksamkeit. Durch Nachtsitzungen +versuchte die Mehrheit die Kraft der Minderheit zu erschöpfen, +aber mit trotziger Ausdauer hielt sie stand, +und schob die Entscheidung durch endlose Reden immer +wieder auf Tage und Stunden hinaus. Der gegenseitige +Haß zerriß in zügelloser Leidenschaft alle Bande +äußerer Gesittung. Konservative Abgeordnete bezeichneten +die Arbeiter Berlins, die in riesigen Versammlungen +gegen den Umsturz der Geschäftsordnung durch +den Antrag Kardorff protestierten, als »skrophulöses +Gesindel«, und ihre Presse forderte von der Regierung: +»der Bestie den Zaum anzulegen«. Die »Bestie« blieb +ihre Antwort nicht schuldig. Die größten Säle der +Millionenstadt konnten die Menge nicht fassen, die +nichts mehr war, als ein Wille: nieder mit der Reaktion! +und eine Hoffnung: der Rachefeldzug der +nächsten Wahlen. Und mehr und mehr tauchten Menschen +in den Versammlungen auf, die nicht zum Proletariat +gehörten. Bewunderung für die wilde Energie der +kleinen Schar Belagerter riß so manchen aus dem politischen +Schlummer, und der Groll führte andere hierher; +sie fühlten ihre liberalen Interessen durch ihre eigenen +Vertreter im Reichstag — die Bassermann, die Richter — schmählich +verraten. Zu früh vernarbte Wunden +brachen auf: die Erinnerung an die Lex Heinze erwachte, +durch die Kunst und Wissenschaft tödlich getroffen worden +wären, wenn die Roten im Reichstag sie nicht so wütend +<a name="Page_455" id="Page_455"></a>verteidigt hätten; und die Rede des Kaisers klang lauter, +als da sie gehalten wurde, in die Ohren derer, die sich +bisher vom Getümmel der Schlacht scheu vor ihre Staffelei +und ihren Schreibtisch zurückgezogen hatten. »Eine Kunst, +die sich über die von mir bezeichneten Gesetze und Schranken +hinwegsetzt, ist keine Kunst mehr,« hatte er angesichts der +vollendeten Standbilder in der Siegesallee erklärt, und +die großen Eroberungen neuer künstlerischer Möglichkeiten, +wie sie denen um Manet und van Gogh, um +Liebermann und Klinger gelungen waren, als ein Niedersteigen +in den Rinnstein bezeichnet. Jetzt rötete das Schamgefühl +manchem die Wangen, der den Streich ruhig empfangen +hatte. »Wahrlich, es gilt mehr als den Zolltarif,« +sagte mir einer aus dem Kreise der Sezession, »es gilt +die Verteidigung der ganzen modernen Entwicklung. +Wenn es zu diesem Ende nichts anderes gibt, als den +Stimmzettel, so werden auch wir uns seiner zu bedienen +wissen.« Eine Revolte der Intellektuellen stand bevor, +und im stillen hoffte ich wieder, daß sie zu einer Revolutionierung +der Geister führen würde.</p> + +<p>Aber auch die Gegner außerhalb des Reichstages +rüsteten sich schon für die kommenden Wahlen. Was +der Adel Preußens vor zwanzig Jahren noch für unmöglich +gehalten hatte, das geschah. Junker und Fabrikant +vereinigten sich, da der gemeinsame Feind drohte: +die Sozialdemokratie. Und der Kaiser selbst wurde in +diesem Kampf der erste Agitator: »Zerreißt das Tischtuch +zwischen Euch und diesen Leuten, die Euch aufhetzen +gegen Thron und Altar, um Euch zugleich auf das rücksichtsloseste +auszubeuten und zu knechten —;« wie auf +Windesflügeln durcheilten diese seine Worte, die er an +<a name="Page_456" id="Page_456"></a>eine Deputation von Arbeitern gerichtet hatte, das Reich, +denn jeder Sozialdemokrat trug sie weiter. Und lauter, +immer lauter wurde der Groll: »Wer anders beutet uns +aus als die Zollwucherer, die uns das Fleisch vom Tisch +nehmen und das Brot verteuern? Wer anders knechtet uns +als die Stützen von Thron und Altar, die das Joch +der Fronarbeit auf unsere Schultern laden?«</p> + +<p>Während die Folgen der schweren Krankheit mir die +agitatorische Tätigkeit noch unmöglich machten, stand +mein Mann schon mitten im Wahlkampf. Er kam jedesmal +hoffnungsvoller wieder, denn an der neuen Aufgabe +wuchs seine Energie. Ich benutzte die Stunden der +Alleinherrschaft über unseren Schreibtisch zur Abfassung +einer Agitationsbroschüre, in der ich die politische Situation +vom Standpunkt der Frau aus beleuchtete. Für +den kommenden Wahlkampf sollte sie die Arbeiterinnen +aufklären, anfeuern, mit Waffen versehen. Das Häuflein +ihrer offiziellen Vertreterinnen hatte mich zwar hinausgeworfen, +aber Hunderttausende gab es, zu denen +ich sprechen konnte.</p> + +<p>»Jetzt mache ich auch mit Lindner kurzen Prozeß,« +sagte Heinrich eines Abends, als er eben von Frankfurt +zurückkehrte. »Gehen wir aus dem Wahlkampf in der +Stärke hervor, wie wir es hoffen dürfen, so treten die +Aufgaben praktischer Politik mit zwingender Notwendigkeit +an uns heran, und meine Zeitschrift hat einen +Wirkungskreis ohnegleichen ...«</p> + +<p>Lindner kam. Mit Wünschen und Hoffnungen und +ohne Entschlossenheit, wie immer.</p> + +<p>»Sie haben mich lange genug genarrt,« fuhr ihn +Heinrich an; »im Vertrauen auf Sie habe ich gewartet +<a name="Page_457" id="Page_457"></a>und immer wieder gewartet. Nun aber verlange ich +ein Ja oder Nein.«</p> + +<p>Lindners schmale Gestalt sank förmlich in sich selbst +zusammen. Halb verlegen, halb gekränkt versprach er +eine rasche Entscheidung.</p> + +<p>»Wie kannst du nur!« rief ich, als die Türe sich +hinter ihm schloß. »Nun wird er ganz gewiß zurücktreten!«</p> + +<p>»Und wenn schon!« lachte Heinrich fröhlich, »glaubst +du, die Zeitschrift hinge von ihm allein ab?«</p> + +<p>Drei Tage später war der Vertrag abgeschlossen, die +Zeitschrift gesichert. Lindner schien umgewandelt; die +Aufgabe, die er vor sich sah, wirkte auf ihn wie Morphium +auf Hysterische: sie gab ihm Kraft, Tatendurst, +Selbstbewußtsein.</p> + +<p>»Nun fehlt nur noch die notarielle Beglaubigung,« +sagte er, nachdem er seinen Namen unter das Schriftstück +gesetzt hatte, »und morgen kann die Arbeit losgehen!«</p> + +<p>Mein Mann legte ihm die Hand mit einer bevormundenden +Bewegung auf den Arm: »Arbeiten müssen +wir tüchtig, alle drei, aber über den geeigneten Zeitpunkt +des Erscheinens wollen wir noch andere hören. +Und eine notarielle Beglaubigung?« — Er lachte — »Ich +denke, solche Scherze schenken wir uns. Unser Wort +genügt, auch wenn wir es nicht schriftlich gegeben +hätten.«</p> + +<p>An einem der nächsten Abende folgten die Führer der +Revisionisten unserer Einladung. Wie zu einem Feste +hatte ich unser Zimmer geschmückt und unsere Tafel bereitet. +Und festlich war mir zumute, — wie den Soldaten +nach der Kriegserklärung. Die frankfurter Fahne +<a name="Page_458" id="Page_458"></a>fiel mir ein, die eingerollt im Winkel stand, — eine +im Sturme immer voran flatternde sollte unsere Zeitschrift +werden!</p> + +<p>Unsere Gäste gratulierten uns, — aber sie hatten doch +viel Bedenken, ob unser Plan durchführbar sei. Sie +anerkannten die Wichtigkeit der Aufgabe, die wir uns +gestellt hatten, — aber an der Stärke der Wirkung +zweifelten sie. Ihre rege Mitarbeit versprachen alle, — aber +ohne den Enthusiasmus für die Sache, den ich +erwartet hatte. Der Name der Zeitschrift wurde bestimmt: +Die Neue Gesellschaft; die Zeit ihres Erscheinens +wurde festgesetzt: nach den Wahlen, nach dem +Parteitag. — Es war eine nützliche und verständige Besprechung, +die wir hatten, aber wir feierten kein Fest. +Die vielen Blumen auf meinem Tisch taten mir leid.</p> + +<p>Was ich schon oft empfunden hatte, das verstärkte +sich jetzt: der Revisionismus besaß den Verstand und die +Einsicht des Alters, das Feuer der Jugend war ihm +jedoch darüber verloren gegangen. Wer aber die Zukunft +erobern will, der muß es erhalten, muß es mit +seiner Liebe, seinem Haß, seiner Hoffnung nähren, damit +es weithin leuchtet und wärmt, und die Fackeln +derer, die ihm folgen, sich daran entzünden können.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>An einem frühen Märzmorgen des Jahres 1903 +war ich zu meiner ersten Wahlagitation von +Berlin weggefahren, das grau und grämlich, +jenseits aller Jahreszeit, den Schlaf noch in den Augen +hatte. In Gusow verließ ich den Zug. Auf dem Bahnsteig +stand ein Mann, die Schirmmütze keck auf ein<a name="Page_459" id="Page_459"></a> +Ohr gezogen, eine Nummer unserer märkischen Parteizeitung +in der Hand — unser Erkennungszeichen. Er +lachte mich fröhlich an.</p> + +<p>»Ich bin der Jenosse Merten,« sagte er. »So was +war noch nich da in Jusow und Platkow. Alles, aber +auch alles lauert auf Ihnen —«</p> + +<p>Wir stiegen in ein klappriges Wägelchen und fuhren +zwischen Weiden und Erlen die Straße hinauf. Überrascht +sah ich um mich. Ich hatte es gar nicht gewußt, +daß es schon Frühling geworden war!</p> + +<p>»Welch eine Luft!« sagte ich mit tiefen Atemzügen.</p> + +<p>»Nich war, jut ist sie!« antwortete mein Begleiter +mit einem Stolz, als wäre sie sein eigenstes Werk. +»Wenn die nich wäre, wir gingen längst auf und davon. +Aber wenn wir — meine Kollegen und ich — Sonnabends +von der Arbeet aus Berlin nach Hause +fahren und unsere Kinder kommen uns entgegen, nich +so blaß und dünn wie die berliner Jöhren, und wir +können im Jarten in der Laube sitzen, an unserem +eigenen Jemüse rumpusseln und an unseren Obstbäumen, — dann +vergessen wir gern die Plackerei der ganzen +Woche.« Wir begegneten vielen Fußgängern. Er grüßte +nach rechts und links. »Kommst du ooch nach Platkow?« +redete er sie an.</p> + +<p>»Jawoll —« »Natierlich,« riefen sie.</p> + +<p>»Sind das alles Maurer? fragte ich.</p> + +<p>»Wo denken Sie hin,« antwortete er, »da sind Landarbeeter +mang, sogar Bauern. Heute kommt alles zu uns. +Die haben ja nie in ihrem Leben 'ne Frau reden jehört.«</p> + +<p>Mitten auf der Straße, wo die Aussicht am freiesten +war, ließ er den kräftigen Braunen halten.</p> +<p><a name="Page_460" id="Page_460"></a></p> +<p>»Das ist das Oderbruch,« erklärte er und wies nach +links, wo sich das Land weit, endlos weit in der Ferne +verlor, und darauf verstreut, wie Spielzeug, zwischen +knorrigen Bäumen, rotbedachte Häuschen und Kirchen +mit breiten Türmen hervorsahen. Blaßblau, wie von +durchsichtigem Kristall, wölbte sich die Himmelsglocke +über der Ebene. Aus den dunkeln Ackerfurchen stieg +lebenverkündend ein würziger Geruch. Vergessene Geschichten +fielen mir ein: vom alten Fritz, der dies fruchtbare +Land dem Wasser abgetrotzt hatte, von all den +märkischen Junkern, den Itzenplitz, den Marwitz, den +Finkenstein, die hier ringsum seit Generationen die +Herren waren. Mein Begleiter zeigte nach rechts, wo +der Boden sich hob und Wälder den Horizont begrenzten.</p> + +<p>»Hier oben sind die Rittergüter, da sitzen lauter +Agrarier, — unsere ärgsten Feinde,« erzählte er. »Die +sind schlau gewesen, von Anfang an. Haben sich die +guten Stellen gesichert, wo das Wasser sie nicht erreichen +konnte; während die Bauern unten alljährlich drauf +gefaßt sein mußten, daß es ihre arme Kate davontrug. +Sie kennen doch die Jeschichte, die unsere Kinder in +der Schule lernen müssen: ›Hier habe ich in Frieden +eine Provinz erobert,‹ soll König Friedrich gesagt haben, +als er mal hier in die Jegend kam. So'n Mumpitz! +Als ob es nich arme Luders wie wir gewesen wären, +die die Kanäle gruben und die Dämme aufwarfen!«</p> + +<p>»Aber den Gedanken hat doch der König gehabt,« +meinte ich.</p> + +<p>Ein mißtrauischer Blick streifte mich. »Für'n König +mag das freilich ooch schon 'ne Anstrengung gewesen +sein!« spottete er.</p> + +<p><a name="Page_461" id="Page_461"></a>Eine breite Kastanienallee führte in das Dorf Gusow. +Einstöckige Häuser, mit weißen Vorhängen an blanken +Fenstern, umgaben in weitem Bogen den Dorfteich, +seitwärts öffnete sich der kiesbestreute Weg zum Schloß, +dem einstigen Besitztum des alten Derfflinger, und zur +Kirche, unter deren Altar seine Gebeine ruhten. Mein +Begleiter sah nach der Uhr.</p> + +<p>»Was meinen Sie, wenn wir zu Fuß durch den Park +gingen? Sie glauben nich, wie schön der ist!« Dabei +bekam sein breites Gesicht einen fast schwärmerischen +Ausdruck.</p> + +<p>An dem stillen Schloß vorbei betraten wir den Park. +Weite Rasenflächen dehnten sich vor der Terrasse, mit +einem lichten Schimmer jungen Grüns überzogen. Zu +Füßen uralter Eichen, die schwarz gegen den hellen +Himmel standen, guckten Schneeglöckchen neugierig aus +der Erde hervor und Krokusblüten schlugen verwundert +ihre blauen Augen auf. Ein schmaler Pfad +wand sich zwischen hohem Gebüsch, das plötzlich zur +Seite wich, um dem Wunder fremdartig märchenhafter +Bäume Platz zu machen; grau schimmerten ihre Stämme +wie Granit, und graue Wurzeln krochen knorrig über +das dunkle Moos des Bodens.</p> + +<p>»Zedern sind es,« sagte mein Begleiter, »Zedern vom +Libanon;« und blickte bewundernd auf den Traum des +Südens. Über uns in den Kronen der Bäume brauste +der Frühlingssturm. Nach seiner Melodie wiegten sich +schlanke Birken, und krachend splitterten von Eichen und +Linden die dürren Äste.</p> + +<p>Mein Begleiter kannte jeden Platz im Park und +jede Pflanze, — mit scheuer Zärtlichkeit strichen seine +<a name="Page_462" id="Page_462"></a>rissigen Hände über die ersten kleinen Knöspchen an den +Sträuchern.</p> + +<p>»Daß Sie in der Stadt arbeiten, wo Sie das Land +so lieben!« staunte ich.</p> + +<p>Er schüttelte sich: »Landarbeeter?! Nee! Das is +nischt for unsereens!«</p> + +<p>Wir näherten uns Platkow, dem nahen Ziel unserer +Fahrt.</p> + +<p>»Sehen Se mal hier die wackeligen Buden an,« sagte +Merten, »Strohdächer, — Fenster, wie Mauselöcher, +Türen, daß sich ein ordentlicher Mann bücken muß, — wahrscheinlich, +damit man's nich verlernt! Nischt +als Leisetreter gab's hier, die die Mütze bis auf die +Erde zogen, wenn die herrschaftliche Kutsche sie mit +Dreck bespritzte! Aber nu wird's anders, sage ich +Ihnen, janz anders —« dabei strahlte er förmlich — »sehen +Sie dort, das Weiße, das ist unser <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'Gewerkschafshaus'">Gewerkschaftshaus</ins>!«</p> + +<p>Mitten in diesem agrarischen Winkel, der der Agitation +der Partei so gut wie unzugänglich gewesen war, +weil kein Lokal ihren Versammlungen zur Verfügung +stand, hatten die Bauarbeiter sich ihr eigenes Haus errichtet. +Die Ortspolizei verweigerte ihnen zwar die +Schankkonzession, aber sie hatten ein Dach über dem +Kopf, einen freien Raum zu freier Rede.</p> + +<p>»Sie hätten die Bauern sehen sollen, wie unser Haus +eins — zwei — drei, haste nich jesehn! aus der Sandkule +herauswuchs!« erzählte Merten. »Wir hatten ja +nur Sonntags Zeit zur Arbeet, aber die Steene flogen +man so. An eenem Sonntag in aller Frühe, als sie +nach Jusow zur Kirche fuhren, fingen wir zu buddeln +<a name="Page_463" id="Page_463"></a>an, und als sie nach dem letzten Amen wieder vorbeikamen, +sahen die Mauern schon aus der Erde!«</p> + +<p>Der Wagen hielt. Der ganze Platz stand voll +Menschen. Sie schoben sich hinter mir in den kleinen +Saal; auf den Bänken an den Wänden saßen schon +die Frauen mit heißen Gesichtern.</p> + +<p>Ich sprach vom Sturm, der draußen den Staub von +den Dächern fegte und alles Morsche zu Boden riß. Und +von dem Sturm des Sozialismus. Ich schilderte die politische +Lage Deutschlands und zählte die Sünden der Regierung +und der Reichstagsmehrheit auf vom Zuchthauskurs +bis zum Zollraub, ich erzählte von den Milliarden, die +dem armen Mann in Gestalt von indirekten Steuern, +Zöllen und Liebesgaben aus dem schmalen Beutel gezogen +werden, während sein Weib daheim im kleinen Haushalt +seufzend mit jedem Pfennig rechnen muß. An der +Hand der Untersuchungen bürgerlicher Gelehrter wies +ich nach, wie die Verteuerung der Lebensmittel auf die +Steigerung des Alkoholismus, der Kriminalität, der +Lungentuberkulose wirkt. Ich zog die ärztlichen Forschungen +heran, um zu zeigen, wie ganze Volkskreise +entarten, wenn die Ernährung eine unzureichende ist: +»Schwächerer Wille, schneller versagende Aufmerksamkeit, +raschere Erschöpfung sind die Folgen einer Politik, die +das Wohl des Volks, die Liebe zum Vaterland ständig +im Munde führt, in der Tat aber die Leistungsfähigkeit +der Arbeiter untergräbt, und unsere Stellung +auf dem Weltmarkt erschüttert. Die wirtschaftliche +Krise, unter der wir alle leiden, die Zunahme der +Arbeitslosigkeit mit ihrem Gefolge von Kinderjammer +und Frauenausbeutung sind ein Beweis dafür. Keine<a name="Page_464" id="Page_464"></a> +›gepanzerte Faust‹ kann uns davor retten ... Einmal +im Laufe von fünf Jahren ist es jedem Deutschen vergönnt, +Urteil zu sprechen über die, die sein Schicksal +sind. Des Volkes Not und Unterdrückung liegt auf +der einen Schale der Wage, des Volkes Glück und +Freiheit auf der anderen. Wir, die ›Vaterlandslosen‹, +wir, die ›Elenden‹, wir, die ›Rotte von Menschen, nicht +wert, den Namen Deutsche zu tragen‹, machen unser +Urteil davon abhängig, welche Seite der Wage schwerer +wiegt ...«</p> + +<p>Man hatte mir bewegungslos zugehört, die Frauen, +mit den Händen gefaltet im Schoß, die Männer, ohne +den Blick von mir zu wenden. Nur hie und da sah +ich ein zustimmendes Nicken. Das Volk dieser kargen +Erde trug sein Herz nicht auf den Lippen und wußte +nichts von der Reaktion empfindlicher Nerven, worin +oft der ganze Beifall des Städters besteht. Aber nachher, +als ich nicht mehr über ihnen stand, ging ein +Fragen und Erzählen an, das mehr als jedes Händeklatschen +bewies, wie jedes Wort vom durstenden Boden +ihres Innern aufgenommen worden war. Freilich: im +engsten Kreise eigenen Lebens drehten sich ihre Interessen, +aber ein jeder umschloß das große Leid der Welt.</p> + +<p>Ich wurde in Arbeiterhäuser geführt: so klein, so arm, +so eng. »Und hier is doch so ville Sand, auf dem jut +noch zehn Häuser stehen könnten!«</p> + +<p>Sie zeigten mir das Armenhaus: in einem winzigen +Raum hauste ein uraltes Paar mit vier kleinen Enkelkindern. +Das einzige Bett nahm fast die Hälfte der +Stube ein.</p> + +<p>»Immer, von kleen auf, haben wir hier uf'n Jut je<a name="Page_465" id="Page_465"></a>arbeetet,« +sagte der Mann, eine zusammengeschrumpfte +Gestalt mit einem kleinen braunen Gesicht wie eine +Wurzelknolle, »nu essen wir's Jnadenbrot —,« dabei +kicherte er halb verlegen, halb höhnisch. »Det Schloß +aber, det hat woll an die fufzich leere Zimmer ...«</p> + +<p>Wir gingen durch das nachtdunkle Dorf zum Bahnhof. +Einer, der jüngste der Schar, begann mit heller +Stimme zu singen. Allmählich fielen die anderen ein. +Die Türen der Häuser, an denen wir vorüberkamen, +öffneten sich. Einige der Bewohner traten neugierig +bis zur Schwelle. Andere lockte das Lied und die feuchtwarme +Märznacht, — sie folgten uns. Und so ging +es im Takt auf die Straße hinaus und immer, immer +länger wurde der Zug singender Menschen.</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Wir hämmern jung das alte morsche Ding, den Staat,<br /></span> +<span class="i0">Die wir von Gottes Zorne sind, — das Proletariat — das Proletariat —«<br /></span> +</div></div> + +<p>klang es schmetternd hin über das schlafende Bruch.</p> + +<p>Allmählich, je mehr ich dem Land und seinen Bewohnern +nähertrat, gewann ich es lieb, und die +weite Ebene enthüllte mir all ihre verborgene Schönheit, +und die Menschen ihr weiches, trotziges Herz. Sie +fühlten noch nicht die Distanz zwischen sich und mir, +darum begegnete mir nirgends Neid oder Mißtrauen. +Fingen sie doch kaum an, das Allerhandgreiflichste zu +empfinden: wie etwa den Gegensatz ihrer Hütte zum +Herrschaftsschloß. Und gerade an diesem Punkt ihres +Wesens sah ich, wo ich eingreifen mußte.</p> + +<p>»Wer andere Zustände schaffen soll, muß doch erst +den Druck der eigenen empfinden lernen,« sagte ich zu<a name="Page_466" id="Page_466"></a> +Romberg, der mir meine agitatorische Tätigkeit durchaus +verleiden wollte.</p> + +<p>»Ich kann Sie mir nun einmal nicht vorstellen, in +einer Dorfkneipe Unzufriedenheit predigend,« antwortete +er ärgerlich.</p> + +<p>»So überzeugen Sie sich durch eignen Augenschein, +daß ich es kann,« meinte ich. Auf meiner nächsten +Fahrt kam er mit. Diesmal war es ein Leiterwagen, +der uns in strömendem Regen über aufgeweichte Landwege +nach einem kleinen Dörfchen fuhr, Lehmannshöfel +mit Namen.</p> + +<p>»Wie wird's mit unserer Versammlung bei dem +Wetter?« fragte ich den alten Genossen, der uns an +der Bahn empfangen hatte.</p> + +<p>»Jut, — sehr jut,« entgegnete er. »Was unser oller +Pfarrer is, der hat vorichte Woche die Weiber ufjehetzt. +Sie sollten man bloß nich in die Versammlung jehn, +hat er jesagt, so wat jinge sie jar nischt an, am wenichsten, +wenn 'ne Frau reden tut, die lieber zu Haus +det Mittagbrot kochen und mit die Kinder beten sollte. +Nu können Se sich denken, daß se justament in die Versammlung +jehn. Proppenvoll war's schonst heut morjen.«</p> + +<p>Radfahrer begegneten uns, von oben bis unten bespritzt, +Fußgänger mit aufgeweichten Sohlen, denen das +Wasser von der Mütze tropfte. Wir luden auf, so viel +der Wagen fassen konnte. Seit dem Morgengrauen +hatten sie Flugblätter ausgetragen. Voll guten Humors +erzählten sie ihre Abenteuer. Auf manchem Hof hatten +sie über Zäune klettern müssen, weil das Tor vor ihnen +verschlossen wurde; der eine war als reisender Handwerksbursche +bis in die Gesindestuben der Rittergüter +<a name="Page_467" id="Page_467"></a>vorgedrungen, der andere hatte mit demütigem Gesicht, +als wär's ein Traktätchen, den Kirchgängern die Zettel +in die Hand gedrückt; im Vorübersausen hatte der Radler +sie geschickt durch offene Türen und Fenster geworfen.</p> + +<p>In der Wirtsstube von Lehmannshöfel glühte der +eiserne Ofen. Nasse Mäntel und Stiefel trockneten +daran. Tabaksqualm zog in schweren Schwaden an +der niedrigen Decke. Mein Platz war mit Kiefernzweigen +umwunden. Vor mir auf dem Tisch standen +rechts und links zwei Blumensträuße in flachen weißen +Papiermanschetten.</p> + +<p>»Von den Tagelöhnerinnen aufs Jut —,« erklärte +dunkel errötend ein junges Mädchen, das als letzten +Rest der alten Tracht die strohblonden Flechten unter +dem schwarzseidenen Kopftuch verborgen hatte. Wie in +der Kirche saßen die Leute vor mir: rechts die Männer, +links die Frauen, — lauter Gesichter, in die kein anderer +Gedanke als der an die nächste Not des Daseins seine +Zeichen gegraben hatte. Noch nie war eine Versammlung +hier gewesen. Ob ich den Ton finden würde, +der zu ihnen drang? Ich erzählte von ihrem eigenen +Dasein, wie es in ewigem Gleichmaß dahinfließt, nach +der alten eintönigen Melodie: Leben, um zu arbeiten, +arbeiten, um wieder leben zu können. Wie Freude für +sie nur ein kurzer Rausch ist mit bösem Erwachen — ein +Alkoholrausch, ein Liebesrausch — und die Sorgen +allein sie nie verlassen. Wie die Welt voll Glanz und +Schönheit ist; wie das größte und schönste, was die +Menschheit in Jahrhunderten gedacht und empfunden, +in Tausenden von Büchern und Statuen und Bildern +aufbewahrt wurde für ihre Nachkommen. »Aber eine<a name="Page_468" id="Page_468"></a> +Mauer baute man ringsum, und nur wer den goldenen +Zauberstab besitzt, dem öffnet sich die Pforte ...«</p> + +<p>Ein junger Mann, der ein bißchen stumpfsinnig vor +mir gesessen hatte, sah plötzlich auf — mit ein paar +Augen, in deren Tiefe die Sehnsucht flammte.</p> + +<p>»Das Kind der armen Tagelöhnerin hat vielleicht +die Seele eines Dichters, — mit vierzehn Jahren schon +muß es Kartoffeln buddeln und Rüben ziehen, und die +Arbeit tritt mit ihren eisenbeschlagenen Füßen seine +Seele tot ...«</p> + +<p>An der Tür drüben sah ich ein altes Mütterchen, +das den weißen Kopf schluchzend in den knochigen Händen +vergrub.</p> + +<p>»Für diese Welt ist Armut ein Verbrechen, das mit +lebenslänglicher Zwangsarbeit bestraft wird ... Tränen +darüber sind genug vergossen worden. Vor lauter +Jammern haben wir das Handeln vergessen. Von der +Kanzel herab haben sie gepredigt, daß die Ergebung in +das Geschick eine Tugend ist. Ich sage Euch, sie ist ein +Laster. Denn an all dem Elend in der Welt sind wir +schuld, — wir mit unserer Demut, unserer Unterwürfigkeit, +unserer Trägheit ... Jeder Blick in das bleiche +Gesichtchen ihres Lieblings, jede jammernde Bitte um +Nahrung sollte der Frau nicht Tränen fruchtlosen Leids +erpressen, sondern sie anspornen, ihrem Kind die Zukunft +erobern zu helfen ... Wo die Mutter unfrei und +furchtsam ist, wächst ein Geschlecht von Knechten mit +knechtischer Gesinnung empor, und der Wert einer +Mutter wird in Zukunft nicht blos daran gemessen +werden, ob sie ihre Kinder gewaschen, gekleidet und +genährt hat, sondern ob sie sie zu Kämpfern erzog +<a name="Page_469" id="Page_469"></a>und ihnen mit dem Vorbild tatkräftiger Begeisterung +voranging.«</p> + +<p>An Beispielen des täglichen Lebens suchte ich ihnen +klar zu machen, wie jeder Einzelne, auch der Bescheidenste, +an dem großen Befreiungsfeldzug des Sozialismus +teilnehmen kann, wie er nie zum Ziele führen +würde ohne die Arbeit des einzelnen. Mir war, als +hörte ich die Atemzüge der Menschen vor mir und ihre +Seufzer. O, daß ich sie doch ins Herz getroffen hätte!</p> + +<p>Feuchte Nebel hingen wie lange Trauerschleier über +den Feldern. Wir fuhren stumm zurück. Frostgeschüttelt +lehnte ich mich in die Kissen, als wir endlich den Zug +nach Berlin bestiegen hatten.</p> + +<p>»Wie Sie das verantworten können!« brach Romberg +los, der bis dahin kein Wort gesprochen und den +armen Leuten, zwischen denen er gesessen hatte, sein +Unbehagen so deutlich fühlen ließ, daß ich schon bedauerte, +ihn mitgenommen zu haben. Jetzt fuhr ich aus +dem Halbschlaf auf.</p> + +<p>»Ich verstehe Sie nicht!« sagte ich.</p> + +<p>»Um so schlimmer!« rief er. »Sie nehmen diesen +Menschen das einzige, was sie besitzen, was ihnen das +Leben erträglich machte: ihre Unwissenheit, ihren Stumpfsinn, — ohne +ihnen irgend etwas dafür geben zu können.«</p> + +<p>»Wie, das Erwachen aus der Lethargie wäre nichts?!« +entgegnete ich heftig. »Sich durch die Teilnahme an dem +Befreiungswerk der Klassengenossen über sich selbst und +sein kleines Schicksal hinauszuheben, — das wäre nichts?! +Von Ihnen hörte ich zuerst das Wort von der Politik +der Starken. Das ist mein Leitmotiv. Ohne die Disharmonien +des aufwühlenden Schmerzes, ohne die Grau<a name="Page_470" id="Page_470"></a>samkeit +der Erkenntnis gibt es nicht den starken Akkord +ihrer Lösung.«</p> + +<p>»Und wie steht's mit denen, die daran zugrunde gehen?!«</p> + +<p>»Sie wären auch am Leben zugrunde gegangen!«</p> + +<p>Mit einem fremden Blick, der mir zu meinem eigenen +Erstaunen wehe tat, streifte er mich.</p> + +<p>»Ist Weichheit und Schwäche auch für Sie noch ein +Attribut der Weiblichkeit?« fragte ich, und das Herz +klopfte mir, als fürchtete ich die Antwort.</p> + +<p>»Ich weiß selbst nicht recht —,« meinte er zögernd. +»Aber daran soll unsere Freundschaft nicht Schiffbruch +leiden.«</p> + +<p>»Haben Sie gar keine Zeit mehr für mich?« fing er +nach einer Pause wieder zu sprechen an, als der Zug +sich Berlin schon näherte. Ich sah auf. »Ich möchte, +daß Sie wenigstens zwischendurch wieder ein Kulturmensch +werden!«</p> + +<p>Ohne rechte Lust, nur um ihn nicht wieder zu verletzen, +versprach ich ihm, mich am nächsten Tag seiner Führung +zur »Kultur« anzuvertrauen. Am Bahnhof empfing uns +Heinrich, der eine Stunde früher aus einer anderen +Gegend seines Wahlkreises zurückgekehrt war. Wir +waren beide so erfüllt von unseren Erlebnissen, daß wir +im Eifer des Erzählens Romberg fast vergaßen. Er +verabschiedete sich steif und verstimmt.</p> + +<p>»Bildung und Politik sind für mich schwer vereinbare +Begriffe —,« sagte er am nächsten Morgen, als wir zusammen +in die Stadt gingen.</p> + +<p>»Sie scheinen einem Wechsel der Stimmungen unterworfen, +der bisher nur einer Frau gestattet war,« entgegnete +ich ärgerlich. »Es ist noch nicht lange her, daß Sie +<a name="Page_471" id="Page_471"></a>mit einer Begeisterung, die ich nicht vergessen habe, die +Sozialdemokratie als die bedeutsamste Erscheinung der +Zeit feierten.«</p> + +<p>Er lächelte. »Frauenlogik! Es tut mir ordentlich +wohl, diesen weiblichen Zug bei Ihnen zu finden! Was +hat mein Urteil über den Klassenkampf des Proletariats +mit meiner Meinung über die Beteiligung des Gebildeten +an der Politik zu tun?! Wir sollten um höhere +Werte ringen —«</p> + +<p>»Gibt es höhere, als die Befreiung der Menschheit +von all den Fesseln, die sie an die Erde schmieden und +ihren Höhenflug hemmen?!« unterbrach ich ihn erregt.</p> + +<p>»Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, — die alte Parole, +unter der schon die Bastille gestürmt wurde,« entgegnete +er mit spöttischem Lächeln; »fügen Sie noch das Ideal +des Christentums, — die selbstentsagende Nächstenliebe +hinzu, so beweist das alles, wie unsäglich arm eine Zeit +sein muß, die selbst einer so gewaltigen Bewegung wie +der des Proletariats keine neuen Ideale hat schaffen +können.«</p> + +<p>Seine Worte begegneten einem noch unklaren Empfinden, +das ich um so energischer zu unterdrücken gesucht +hatte, als mir die Wege dunkel erschienen waren, zu +denen es hätte führen können.</p> + +<p>Wir traten in den modernsten Kunstsalon Berlins. +Der Holzbogen der Eingangshalle, der in seinen geschwungenen +Linien alle Sprödigkeit des Materials siegreich +überwunden hatte, empfing mit weit ausgebreiteten +Armen die Besucher. In hellen Vitrinen, durch unsichtbare +Lichtspender von innen strahlend, lagen auf grauem +Samt Gürtel, Schnallen, Armreifen und Diademe;<a name="Page_472" id="Page_472"></a> +Vogelgefieder und Schmetterlingsflügel aus durchsichtigem +Email vereinten sich mit dunklem Gold, mattem Silber; +Perlen in phantastischen Formen standen neben Edelsteinen +von unerhörter Farbenpracht —</p> + +<p>»Ein Schmuck für Märchenprinzessinnen, von einem +Dichter geschaffen,« sagte Romberg bewundernd und +versenkte sich in den Anblick. Er mochte weißer Arme +gedenken und schimmernder Nacken und holder Frauenköpfe +mit lachenden Lippen und duftenden Locken. In +meinen Augen aber hafteten andere Bilder: rissige +Hände, gebeugte Rücken, sorgendurchfurchte Gesichter —, +ich wandte mich ab, im Innersten verletzt.</p> + +<p>Der nächste Raum war voll sanften Lichtes und +tiefer, weicher Sessel.</p> + +<p>»Wie wohltuend, wie ruhig!« meinte jemand. »Eine +schöne alte Frau mit sehr weißen stillen Händen müßte +ihren Lebensabend hier verträumen.« Aber die Armenstube +von Platkow sah ich vor mir.</p> + +<p>Vor ein großes Bild traten wir dann: auf weichem, +blumendurchwirktem Rasenteppich, der sich im stillen +Wald verlor und zärtlich eine Quelle umgab, die diesen +Frieden mit keinem Plätscherlaut stören mochte, kniete +ein Jüngling, den dunkeln Dantekopf andachtsvoll zu +der Jungfrau erhoben. Aus der Säulenhalle des Tempels +tretend, krönte sie ihn; lange, schmale, durchsichtig +bleiche Finger hielten den Kranz. Mädchen, so schlank +und hoheitsvoll wie sie, standen zur Seite. Und das +alles leuchtete in mystischem Blau, in trunkenem Purpur, +in sattem Grün, — weitab allen grauen Tönen der Wirklichkeit. +Fast nahm die fremde Wunderwelt mich schon +gefangen. Da tauchte der sturmdurchpeitschte Park vor +<a name="Page_473" id="Page_473"></a>mir auf und der rauhe Mann, der mit harten Arbeitshänden +zärtlich die kleinen Knospen streichelte. Ich war +sehr einsilbig.</p> + +<p>Wir beschlossen den Tag im Theater, wo Maeterlincks +Pelleas und Melisande unter der Direktion eines jungen +Revolutionärs der Bühne zur Aufführung kam. Böcklins +Landschaften schienen lebendig geworden:</p> + +<p>Der Zauberwald und die Felsen, die finsteren Schloßtürme +und der weiße Marmorbrunnen verschmolzen mit +den schwebenden Gestalten, dem Sonnenglanz und dem +Mondlicht zum reinen Rhythmus bewegter Kunst.</p> + +<p>Die lärmende Straße draußen zerstörte den Traum. +Mit schmerzhafter Klarheit empfand ich die gähnende +Kluft zwischen all der ästhetischen Kultur, die um uns +her zu blühen begann, und dem Leben, dem Denken +und Wünschen der Millionen, die erst anfingen, um die +Befriedigung ursprünglichster Triebe zu kämpfen. Rombergs +Gedanken begegneten den meinen.</p> + +<p>»Fühlen Sie nicht selbst, wie weltenfern Sie denen +stehen, deren ganzes Bedürfen in etwas mehr Zeit, etwas +mehr Brot gipfelt?« sagte er. »Sie müssen Ihre +Sinne, Ihre Nerven, an deren subtiler Verfeinerung +Generationen arbeiteten, gewaltsam abstumpfen, um ihr +Sprachrohr werden zu können.«</p> + +<p>Meine ganze Freudigkeit kehrte mir wieder.</p> + +<p>»Wie eng Sie denken!« lachte ich. »Nicht abstumpfen, +steigern muß ich meine Empfänglichkeit, damit ich immer +weiß, wie groß das Entbehren ist und wie ungeheuer +der Gewinn unseres Kampfes.«</p> + +<p>»Machen Sie sich denn gar nicht klar, daß, wenn die +Masse erreichen sollte, was Sie heute haben, Sie und<a name="Page_474" id="Page_474"></a> +Ihresgleichen ihr wieder um tausend Jahre voran +sind?!« sagte Romberg. »So wird die Kluft bleiben, — immer +bleiben, und die Gleichheit ist eine Chimäre.«</p> + +<p>»Ich fordere auch nur die Gleichheit der Lebensbedingungen; +wie der Baum aus diesem Boden wächst, +darüber entscheidet seine eigene Kraft,« antwortete ich.</p> + +<p>Wir brachen ein Gespräch ab, das uns nur voneinander +entfernen mußte. Aber einen Gedanken hatte es +wachgerufen, der sich von nun an nicht mehr einschläfern +ließ. Wenn er mich quälte und ich ihn abschütteln +wollte, so bohrte er sich nur noch tiefer in Hirn und +Herz. Hörbarer, als da die Völker wanderten, um sich +neuen Heimatboden zu erobern, dröhnte die Erde unter +den Tritten der Millionen, die sich in Bewegung gesetzt +hatten, um dem Elend zu entfliehen. Aber ihrem Wollen +fehlte die einheitliche Formel. Im Dreigestirn der Revolutionsideale +lag sie nicht. Und was Marx ihnen +gegeben hatte, das waren wissenschaftliche Erklärungen +über die Art, das Tempo und das Ziel der Bewegung +gewesen, die nur so lange über den Mangel hinwegtäuschen +konnten, als sie unerschüttert waren.</p> + +<p>Ein Ereignis bestärkte mich in meiner Idee. Mitten +im Wahlkampf, der all unsere Kräfte auf ein Ziel, — die +Niederwerfung des Gegners, — hätte konzentrieren +müssen, entspann sich ein wüster Krieg zwischen den +Parteigenossen selbst. Er wäre unmöglich gewesen, +wenn nicht jenes Fehlen der inneren Einheit gegenseitiges +Mißtrauen zur Folge haben mußte. Was der +eine ruhigen Gewissens tat oder ließ, das erschien dem +anderen als ein Verstoß gegen die Partei.</p> + +<p>Ein halbes Dutzend Parteigenossen, — ich gehörte zu +<a name="Page_475" id="Page_475"></a>ihnen, — hatten seit Jahr und Tag an einer bürgerlichen +Wochenschrift mitgearbeitet, die eine Tribüne +war, auf der alle Richtungen ungehindert zu Worte +kamen. Die literarischen und künstlerischen Kritiken, +die ich darin veröffentlicht hatte, — Augenblicksarbeiten, +denen ich gar kein längeres als ein Augenblicksinteresse +beimaß, — hatten oft weniger dem Bedürfnis nach Aussprache, +als dem Erwerbszwang ihr Entstehen zu verdanken. +Die Parteipresse stand mir nur selten zur Verfügung, +und um so seltener, je mehr ich des Revisionismus +verdächtig war. In ähnlicher Lage wie ich +waren die meisten derer, die mit mir ›gesündigt‹ hatten. +Zwei von ihnen standen als Reichstagskandidaten im +heftigsten Feuer der Wahlkampagne. Aber das hinderte +einige radikale Wortführer nicht, uns in breitester Öffentlichkeit +als Schleppenträger der gegnerischen Presse zu +verdächtigen.</p> + +<p>Kaum hatte ich den betreffenden Artikel gelesen, als +ich schon am Schreibtisch saß, um uns dagegen zu verteidigen. +Die Ansicht, daß wir jede Tribüne benützen +müssen, von der aus wir gehört werden können, hatte +sich in mir seit der Zeit, wo ich sie, von Wanda Orbin +beeinflußt, angesichts des Frauenkongresses verleugnet +hatte, nur befestigt. Unsere Presse, unsere Versammlungsreden +erreichten immer nur dieselben Kreise, und +abseits standen Hunderttausende, die uns nur aus den +Darstellungen der Gegner kennen lernten. Ich legte +meine Erklärung den Mitbetroffenen vor. Sie sollte in +derselben Zeitung erscheinen, die uns angegriffen hatte. +Ich wurde daran verhindert; man wünschte die Ausdehnung +des Zwists zu vermeiden, indem man die +<a name="Page_476" id="Page_476"></a>öffentliche Antwort, wie ich sie beabsichtigt hatte, in eine +Zuschrift an den Parteivorstand verwandelte. Dieser +aber sah sich nicht mehr imstande, auf eine interne +Auseinandersetzung einzugehen, — die ganze Presse hatte +sich schon der Sache bemächtigt, unsere politischen +Gegner schlachteten sie gegen uns aus —, er veröffentlichte +seine Entscheidung: kein Parteigenosse darf an +einer Zeitschrift mitarbeiten, die die Sozialdemokratie in +hämischer oder gehässiger Weise kritisiert. Die ganze +Provinzpresse druckte natürlich die lapidaren Sätze des +Vorstands ab. Wir waren gebrandmarkt vor den Genossen, +in deren Mitte wir wirken sollten; den Gegnern +waren die Waffen in die Hand geliefert, um uns vor +ihnen zu diskreditieren. Darüber verging uns das +Lachen, das im Grunde die richtigste Antwort gewesen +wäre. Wir sahen in der Entscheidung, die es jedem +Parteiführer an die Hand gab, mißliebige Blätter auf +den Index zu setzen, einen weiteren Schritt zum Papismus, +wir empörten uns, daß gerade diejenigen, die in +der Partei in Amt und Brot waren, den freien Schriftstellern, +die dem Verdienst nachgehen mußten, die Zugehörigkeit +zur Partei unmöglich zu machen suchten, +und eine ihrer Grundlagen schien uns in dem Angriff +auf die Freiheit der Meinungsäußerung verletzt. Wir +Überläufer aus der Bourgeoisie, die im Kampf gegen +alle Autoritäten, — die der Familie, der Bildung, der +Religion, des Staats —, den Weg zur Sozialdemokratie +gefunden hatten, wären die letzten gewesen, eine neue +Autorität, — die des Parteivorstands, — anzuerkennen. +Und mein Mann, der seine Frondeurnatur am wenigsten +verleugnen konnte, wurde unser Wortführer gegen ihn:<a name="Page_477" id="Page_477"></a> +in einem geharnischten Artikel verteidigte er die Freiheit +der Meinungsäußerung. Nun erst entbrannte der Kampf, +der seit dem Münchener Parteitag schon im stillen die +Geister erhitzt hatte, auf der ganzen Linie, — mit all +jener Bitterkeit, die entsteht, wenn Freunde zu Feinden +werden.</p> + +<p>Im stillen fürchteten wir, was unsere politischen +Gegner hofften: daß die Wahlen dadurch zu unserem +Nachteil beeinflußt werden könnten.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Am ersten Mai, dem Weltfeiertag der Arbeit, +sollte ich in Frankfurt a. O. die Festrede +halten. Mir war im Augenblick wenig festlich +zumute: mit so viel Hoffnungsfreudigkeit hatte ich +die Agitation begonnen, — sollte sie vergebens gewesen +sein?! Sollte ich am Ende an ihrer Erfolglosigkeit +mitschuldig sein, weil ich — es klang wie der dumme +Witz eines Possenreißers — in einer bürgerliche Zeitschrift +über Halbes Theaterstücke und Laura Marholms +Frauenbücher geschrieben hatte?! Aber schon als der +Zug die letzte berliner Bahnhofshalle verließ und statt +der hohen grauen Häuser sich draußen Laube an Laube +reihte, von dem ersten jungen Grün überhaucht, mit +bunten Fähnchen lustig bewimpelt, und Menschen in +Festtagskleidern auf der Chaussee zwischen den jungen +Birken, die grüßend die grünen Schleier ihrer Äste bewegten, +den Versammlungen entgegeneilten, in denen +ihres Frühlingsglaubens Auferstehungsbotschaft gepredigt +werden sollte, verschwanden all meine törichten +kleinlichen Ängste. Was hatten die dogmatischen Zän<a name="Page_478" id="Page_478"></a>kereien +der Priester mit der Religion der Massen +zu tun?</p> + +<p>Zwei kleine Mädchen empfingen mich am Bahnhof, +mit blauen Bändern in den Zöpfchen und frisch gewaschenen +weißen Kleidern, die sich um sie bauschten, +so daß sie aussahen wie Riesenglockenblumen. Sie +führten mich hinunter in die Stadt über den Platz mit +seinen geharkten Wegen, seinen artigen Rasenfleckchen +und den kleinen dürftigen Beeten darauf, an Häusern +vorüber mit nüchternen Fassaden und ablehnend verhangenen +Fensterscheiben. Die Glocke der Elektrischen +wirkte hier wie erschreckender Lärm. Als wir aber um +die Ecke bogen, wo die Kastanien über das holprige +Pflaster schon breite Schatten warfen, da schien das +Leben der träumenden Stadt erwacht: in Trupps zu +vieren und fünfen, mit weißen und braunen und gelben +Kinderwägelchen dazwischen, die Männer im Sonntagsrock, +die Frauen mit nickenden Blumen auf hellen Hüten, +so zogen sie durch die Straße. Und an jeder Gassenmündung +gesellten sich andere hinzu, und wo die Gärten +größer und die Häuser kleiner wurden, kamen Landleute +mit Stulpenstiefeln, Mädchen mit Kopftüchern +über die Feldwege. Alles grüßte einander mit dem +Blick frohen Erkennens. Weit hinunter bis zu dem +silbernen Band der Oder dehnten sich, von alten Weiden +umrahmt, üppige Wiesen; in goldgelben Flecken, wie +auf die Erde gebanntes Sonnenlicht, glänzten Butterblumen +daraus hervor. Von der anderen Seite des +Wegs, wo der Boden sich hob, nickten über Weißdornhecken +rosig blühende Bäume; darüber klang der +langgezogene Sehnsuchtston der Stare, das Kwiwitt +<a name="Page_479" id="Page_479"></a>der Rotkehlchen, das vielstimmige Zwitschern buntgefiederter +Meisen.</p> + +<p>Nun hatten sich die Wandernden zu einem Zuge zusammengeschoben, +und eins war ich mit ihnen. Aus +dem Garten, durch dessen laubumwundene Pforte wir +zogen, tönte Musik. Auf der Bühne der Festhalle, die +wir betraten, warteten schon die Sänger. Ich stieg die +Stufen hinauf. »... Ein Sohn des Volkes will ich sein +und bleiben...« sang der Chor. Durch die hohen weit +geöffneten Fenster strömte die Sonne in breiten Wogen; +ihre Strahlen trugen den Duft des Frühlings mit herein +und berührten all die braunen und blonden Scheitel +der andächtig lauschenden Menge.</p> + +<p>Dicht unter der Bühne hatten sich die Kinder zusammengeschart, +die kleinsten in ihren bunten Kleidchen, +wie ein Beet farbenfroher Sommerblumen, am weitesten +nach vorn. Ein kecker kleiner Kerl war bis auf die +Rampe geklettert, ein strohblondes Mädchen schmiegte +sich schüchtern an sein Knie, und die beiden Augenpaare — ein +schwarzes und ein blaues — hingen an mir +wie eine große verwunderte Frage.</p> + +<p>Sehr feierlich war mir zumute, als stünde ich, ein +geweihter Priester, zum erstenmal auf der Kanzel. Aber +es war nicht die Religion der Liebe, die ich predigte, — jener +Liebe, die den Haß der Welt in sich trägt, +es war nicht die ewige Seligkeit, die ich verkündigte, — jene +Seligkeit, in die nur Eingang findet, wer zu +kriechen und den Kopf zu bücken gelernt hat. Was +als unklare Empfindung in den Herzen unserer Väter +lebte, die die Sonne anbeteten, deren Feste Sonnwendfeiern +waren, die dem steigenden Licht im Lenz die Neu<a name="Page_480" id="Page_480"></a>geborenen +weihten, — das ist die Grundlage unserer +Religion. Nicht wer am nachhaltigsten seine Sinne abtötet, +sondern wessen Augen am klarsten sind, wessen Ohr +am feinhörigsten ist, um alle Schönheit der Welt in sich +aufzunehmen, der ist der Heiligste unter uns. Und ein +Anrecht auf unser Himmelreich gewinnt nicht, wer leidet +und duldet, sondern wer handelt und genießt. Dulden +und leiden kann jeder, aber nur der Sohn einer reifen +Kultur vermag zu genießen, nur der Wissende handelt.</p> + +<p>»Wenn sich die Arbeiter der ganzen Welt Jahr um +Jahr in der Forderung des Achtstundentages zu diesem +Frühlingsfest vereinigen, so tun sie es, weil sie wissen, +daß sie damit ihre Menschwerdung fordern. Zeit ist die +Voraussetzung für Wissen und Genuß ...«</p> + +<p>Halb enttäuscht, halb erwartungsvoll sahen die Frageaugen +der Kinder noch immer zu mir empor. Mit demselben +Ausdruck bettelte mein eigen Kind um eine Geschichte, +wenn wir im Walde gingen, wo die Bäume +und die Blumen ihm noch stumm waren. Auch diese +Kleinen hier sollten nicht vergebens warten: von den +Bettelkindern erzählt' ich ihnen, die auszogen, ihre verlorenen +Königskronen wiederzufinden ...</p> + +<p>Draußen im Garten kamen sie dann alle und dankten +mir. Die Kinder hatten die Fäustchen voll Wiesenblumen +und legten sie mir in den Schoß. Die Alten +luden mich an ihren Tisch. Sie wußten nicht, daß ich +ihnen zu danken hatte. Ich war wieder stark und froh, +ich hatte in ihnen die Erde berührt, die kraftspendende.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_481" id="Page_481"></a></p> + +<p>Der Tag der Entscheidung rückte näher. Immer +leidenschaftlicher wurden die Angriffe unserer +Gegner in ihrer Presse, in ihren Flugblättern. +Mit dem alten Märchen vom gewaltsamen Teilen suchten +sie den Bauern, der an seiner Scholle hängt, den +kleinen Handwerker, der sich an den kläglichen Rest +seiner Selbständigkeit klammert, in ihre Gefolgschaft zu +fesseln. Mit der Autorität des Kaisers stützten sie ihre +Angriffe auf die sozialistischen Agitatoren.</p> + +<p>»Zerreißt das Tischtuch zwischen Euch und jenen Leuten,« — dieses +kaiserliche Wort machten sie zu ihrem Schlachtruf. +Weite Kreise des Volkes, denen der Thron noch +so heilig war wie der Altar, scharte er unter ihre +Fahnen, aber größere noch, empört über die Stellungnahme +des Staatsoberhaupts im Kampf der Parteien, +trieb er zu uns herüber. Hochauf loderte der Zorn in +unseren Reihen. Was sich in Jahren angesammelt hatte +an bitterer Enttäuschung und stillem Groll, das brach +flammend hervor. Zu Regimentern, die wider den Gegner +aufmarschierten, wurden die vielstelligen Zahlen, die Milliarden, +die Armee und Flotte, China und Afrika verschlungen +hatten; als Raubritter und Ausbeuter wurde +gestempelt, wer je dazu ja gesagt hatte. Malten sie +drüben mit blutigen Farben das Bild der Revolution +und rissen dadurch den Gleichgültigen aus dem verschlafenen +Winkel seines Daseins, so beschworen sie +hüben alle Gespenster der Not und des Hungers herauf +und schreckten mit ihnen die Stumpfen aus ihrem Arbeitsleben. +Der ehrliche Kampf mit offenem Visier auf freiem +Felde wurde zum Guerillakrieg mit heimtückischen Listen +<a name="Page_482" id="Page_482"></a>und nächtlichen Überfällen. Und durch die feindlichen +Lager hin und her auf leisen Sohlen schlich die Verleumdung; +wen das Schwert nicht niederstreckte, den +vergiftete sie.</p> + +<p>Ich hatte dem Gegner gegenüber gerecht bleiben, mich +als einzelne behaupten wollen, gegenüber der Suggestion +der Masse. Aber je länger ich im Kampfe stand, desto +schwerer wurde es, ihrer Gewalt zu widerstehen. War +ich nicht auch nur ein Soldat im Heere, dessen Füße +von selbst im Takt der anderen marschieren, der die +gleichen Waffen trägt, und, vom Rausch des Krieges +überwältigt, einen persönlichen Feind in jedem Glied +des gegnerischen Heerbannes sieht?</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Der Gegenkandidat meines Mannes war ein +alter Reaktionär, den der Bund der Landwirte +auf seinen Schild erhoben hatte. Der +Zolltarif galt ihm als ein »gigantisches Werk«; die +Arbeitslosenversicherung, die in diesem Jahre wirtschaftlicher +Depression für uns eine immer dringendere Forderung +geworden war, erklärte er für »unmoralisch«; +dem gesetzlichen Arbeiterschutz, dessen Ausbau auf dem +Wege zu unseren Zielen lag, müsse, so sagte er, ein +»Stopp« entgegengerufen werden, und wider den Großkapitalismus, +dessen Entwicklung eine Voraussetzung des +Sozialismus war, galt es, den Mittelstand mobil zu +machen. Als der typische Konservative war er der willkommenste +Gegner, weil sich hier, klar voneinander geschieden, +zwei Weltanschauungen gegenüberstanden. +Zwischen ihnen schwankten, als das Zünglein an der<a name="Page_483" id="Page_483"></a> +Wage, die Liberalen des Kreises hin und her. Sie +wollten nicht glauben, daß wir ein gut Stück Weges +zusammengehen konnten und es einer Verleugnung aller +liberalen Grundsätze gleichkam, wenn sie den Konservativen +Gefolgschaft leisten wollten.</p> + +<p>Meinen Mann sah ich immer seltener. Trafen wir +uns zu Hause, so schrieben wir zusammen Flugblätter +und Artikel, wobei er mit der ruhigen Sachlichkeit seiner +Beweisführung die Gegner zu entwaffnen und ich mit +dem Feuer, das mich durchglühte, Anhänger zu werben +versuchte. Hie und da trafen wir uns in Versammlungen, +dann hörte ich, daß er sprach, wie er schrieb: +er wandte sich an den Verstand, er suchte zu überzeugen, +wo ich an das Gefühl appellierte. Er hatte die Sprache +des Dozenten, nicht die des Agitators. Wen er dem +Sozialismus gewann, der wurde zum Bekenner. Was +ich entzündete, mochte nur zu oft nichts als ein Feuerwerk +sein.</p> + +<p>In den letzten Tagen fuhren wir von Ort zu Ort. +Schon blühten Pfingstrosen in den Gärten, und von +Flieder und Hollunder dufteten die Lauben. Über den +staubigen Chausseen brütete die Sommersonne. Die +Menschen in den engen Sälen atmeten rasch und schwer +wie im Fieber. In den Dörfern gab's Schlägereien. +War einer als Genosse bekannt, so spieen die Bauern +vor ihm aus, und seinem Weibe gingen die Nachbarinnen +aus dem Wege. Die Kinder aber in der +Schule ließ der Lehrer mit besonderer Vorliebe patriotische +Lieder singen. Säle, die uns zur Verfügung gestanden +hatten, wurden uns genommen; breitspurig, ein +Herr der Situation, stand der Gendarm vor der Türe, +<a name="Page_484" id="Page_484"></a>wenn wir den Eingang erzwingen wollten. Kamen wir +auf freiem Felde zusammen, der Sonne und dem Regen +trotzend, so löste er die Versammlung auf, hatten wir +irgendwo einen Raum für sie gefunden, so erklärte er +ihn für feuergefährlich, kam ich als Rednerin in irgend +ein abgelegenes Nest, so hieß es: »Frauenspersonen +dürfen nicht sprechen.« Aber die Genossen waren immer +wieder erfinderischer als er. So fuhren wir einmal in +ein kleines Dorf, das weltverlassen zwischen zwei blauen +Seen in der Niederung liegt. Nur arme Schiffer +wohnten hier und kleine Bauern, die elender lebten als +der Fabrikarbeiter in der Stadt. Einer von ihnen hatte +seine ganze arme Kate ausgeräumt, um die Versammlung +zu ermöglichen. Das Hausgerät stand auf dem +Hof, die Sonne enthüllte unbarmherzig all seine Armseligkeit. +Die leeren Stuben faßten trotzdem die Menge nicht, +das Gärtchen stand noch voll von ihnen. Selbst auf +den Gemüsebeeten trampelten schwere Stiefel, aber als ich +ein Wort des Bedauerns äußerte, sagte des Schiffers +Frau mit glänzenden Augen: »Wenn's auch mit Erbsen +nischt is dies Jahr, wenn's man mit die Stimmen für +den Sozi wat sein wird!«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Am Vorabend der Entscheidung kamen wir in +Frankfurt an. Im Hauptquartier der Partei +herrschte fieberhaftes Leben: hier meldeten sich +Radfahrer, um zum morgigen Dienst ihre Marschorder +in Empfang zu nehmen, blutjunge Leute unter ihnen, +die sich mit um so größerem Enthusiasmus in den Dienst +der Sache gestellt hatten, als sie selbst noch nicht wählen +<a name="Page_485" id="Page_485"></a>durften; dort stellten sich Frauen zur Verfügung, um +die Säumigen an die Urnen zu holen, und in später +Nachtstunde kamen andere hungrig, heiß und verstaubt +von der letzten Verteilung der Wahlflugblätter zurück. +Als die Stadt schlief, huschten die Unermüdlichen noch +durch die Straßen, und am Morgen leuchtete in weißen +und roten Lettern ein »Wählt Brandt!« an den Zäunen +und auf dem Trottoir.</p> + +<p>Wir gingen durch die Wahllokale. Vormittags stellten +sich allmählich die Bürger ein, ruhigen Schrittes, +ohne sonderliche Erregung; mit dem Zwölfuhrglockenschlag +wurde es auf den Straßen lebendig, und durch +die Türen schoben sich die Arbeiter, beschmutzt, verstaubt, +wie die Fabrik und der Bau sie entlassen +hatte. Die Bezirksleiter notierten jeden, der sich meldete, +strichen an, wer noch fehlte, gaben Weisung +an die ihrer Aufgabe wartenden Frauen. Und die +suchten dann die Säumigen in den Wohnungen, auf +den Arbeitsstätten. Nachmittags lag wieder sommerliche +Stille über der Stadt. Dann aber, als der Himmel sich +schon mit rosigen Wolken überzog, hallte das Pflaster +wider von raschen Tritten. Sie kamen in Scharen: +die jungen, rüstigen voran, und zuletzt, von Frauen, +von Kindern geführt, Alte, Kranke und Krüppel. Der +Zettel in ihrer Hand, das war ihr einziges, freies +Mannesrecht, damit waren sie an diesem einen Tage +die Gestalter ihres Geschicks.</p> + +<p>Es dämmerte. In den Wahllokalen saßen unter +spärlichen Gasflammen, vor rauchenden Petroleumlampen +die Zähler. Wenn wir eintraten, bedurfte es keiner erklärenden +Worte, die leersten Gesichter waren sprechend +<a name="Page_486" id="Page_486"></a>geworden: Furcht und Hoffnung, Zorn und Siegeszuversicht +drückte sich in ihnen aus.</p> + +<p>Schon brannten die Laternen in den Straßen. Im +Hause, wo die Partei ihr Bureau aufgeschlagen hatte, +waren alle Fenster erleuchtet. Im Saal oben war es +noch leer; nur der Vorstand des Wahlvereins harrte +vor dem Tisch mit dem großen Tintenfaß und den unbeschriebenen +weißen Blättern der kommenden Dinge. +Sie grüßten uns kopfnickend, sie waren blaß und schweigsam +vor Erregung. Über Webers Stirn standen helle +Schweißtropfen, seine blanken Augen waren verschleiert. +Wir setzten uns. Nach und nach füllte sich der Raum. +Lauter Schweigende. Die Minuten schlichen wie ebenso +viele Stunden. Endlich der erste Radler! Gleich darauf +der zweite, der dritte, der vierte — die Wahlbezirke +der Stadt.</p> + +<p>»Schlecht steht's!« knirschte der eine und warf den +Zettel auf den Tisch.</p> + +<p>»Der Westen Frankfurts —,« sagte Weber, »immerhin: +zum erstenmal Stimmen für den Sozi! — Das +Zentrum, — na, besser hätt's sein dürfen! — Und die +Vorstadt, pfui Teufel, das sind die Eisenbahner, die auf +Kommando wählten! — Aber hier —,« sein Gesicht +strahlte — »das reißt die ganze Stadt heraus!«</p> + +<p>»Hurra!« rief einer und schwenkte die alte Soldatenmütze +zum offenen Fenster hinaus.</p> + +<p>»Bravo!« antwortete es vielstimmig von unten.</p> + +<p>Wieder verrannen Viertelstunden. Schon waren alle +Plätze an den langen Tischen besetzt.</p> + +<p>»Warum dauert das nur so lang —,« seufzte ich.</p> + +<p>»Die Radler aus dem Oderbruch können noch nicht +<a name="Page_487" id="Page_487"></a>hier sein —,« sagte Weber, der wieder und wieder nach +der Uhr sah.</p> + +<p>»Telegramme!« schrie jemand. Der Postbote drängte +sich durch die Reihen.</p> + +<p>Mit bebenden Fingern riß Weber sie auf: »Berlin +erobert! — Ganz Sachsen unser —!«</p> + +<p>Ein Jubelruf, der sich wieder bis auf die Straße +weiterpflanzte, aber rasch verklang. Das Schweigen +war eine einzige Frage. »Und wir?!« — Jetzt aber +tönte von unten ein donnerndes »Hoch!« Wir stürzten +zum Fenster: über das Pflaster sprangen Lichter in langer +Kette, Räder blitzten auf —, die Treppen stürmte es +empor: atemlos, blaurot, mit zitternden Knien standen +sie vor uns, die Männer aus dem Oderbruch. Sie +waren keines Wortes mächtig, aber die Tränen, die +hellen Freudentränen tropften ihnen über die Wangen. +Mit einer fast feierlichen Gebärde breitete Weber die +Botschaften vor uns aus. Hunderte von Stimmen +hatten wir gewonnen. Dicht unter den Augen der +Gegner, auf Gutshöfen, in Dörfern hatten die Landleute +für uns gestimmt. Stumm streckte ich dem Maurer +Merten die Hand entgegen. Er hielt sie lange zwischen +seinen harten Fingern.</p> + +<p>Jetzt standen die Menschen schon Kopf an Kopf. Noch +fehlten die entferntesten Bezirke, — Buckow, Fürstenwalde. +»Entschieden ist noch nichts,« murmelte Weber +angstvoll.</p> + +<p>Wieder ein Lärm auf der Straße. »Die Oderzeitung +bringt ein Extrablatt!« schrieen sie zu uns empor. In +weitem Bogen flog es von der Tür über die Köpfe hinweg +auf unseren Tisch: »Depeschen aus Süddeutschland — München,<a name="Page_488" id="Page_488"></a> +Nürnberg, Bayreuth, Stuttgart, Darmstadt — alles +unser!«</p> + +<p>Und nun löste ein Depeschenbote den anderen ab; +jede Siegesnachricht steigerte die elektrische Spannung, +selbst die Nachtluft draußen schien erfüllt von ihr.</p> + +<p>Zu elf dumpfen Schlägen holte die Uhr auf der +Marienkirche aus.</p> + +<p>»Im Haus der Oderzeitung löschen sie die Lampen,« — rief +ein junger Bursche, und brach sich mit Ellbogenstößen +freie Bahn in den Saal. Die Gesichter ringsum +erhellten sich.</p> + +<p>Eine Gärtnersfrau, der ausdauerndsten eine im Heranholen +säumiger Wähler, nahm aus ihrem bis dahin sorgfältig +gehüteten Korb einen großen Strauß roter Nelken +und stellte ihn vor uns auf den Tisch. — »Ist's nicht +zu früh?!« — Ein Brausen lag in der Luft, — war's +nicht das pochende Blut in meinen Schläfen? Oder +waren's die vielen Stimmen vor dem Haus?</p> + +<p>»Die ganze Straße steht schwarz voll Menschen,« +flüsterte ein baumlanger Arbeiter neben mir in scheuer +Angst. Es war heiß, — glühend heiß im Saal, und +doch schien mir, als müßten alle frieren wie ich.</p> + +<p>Da — »Fürstenwalde!« und wie ein Echo: »Buckow!« +Weber war weiß im Gesicht, — sekundenlang bohrten +sich seine Augen in das Papier. Wir hielten den Atem +an, — dann stieß er mit rauher Stimme ein einziges +Wort hervor: »Gesiegt!«</p> + +<p>Einen Augenblick war es noch still. Einem alten +Mann, den ich nicht kannte, und der bis zu mir vorgedrängt +worden war, drückte ich krampfhaft die Hand. +Dann brach es los wie Gewittersturm. Das schrie, +<a name="Page_489" id="Page_489"></a>das jauchzte, das schluchzte —, alte Männer fielen einander +um den Hals, Frauen verbargen die Gesichter an den +Schultern der Nächsten. Und draußen zerriß ein einziger +Jubelruf die Stille der Nacht. Sie riefen nach +ihrem Gewählten.</p> + +<p>Auf die Fensterbrüstung trat er. »Nicht mir dieses +Hoch, Parteigenossen —,« und seine tiefe Stimme klang +voll und warm und die Luft selbst schien sie weiter und +weiter zu tragen, »— Euch vielmehr, die ihr den +Sieg erkämpftet, und unserer großen Sache vor allem, +die die Siegesgewißheit in sich trägt! Ein Hoch der +Sozialdemokratie, ein dreifaches Hoch!« Und wieder brauste +es, als schlügen orkangepeitschte Wellen an Felsenriffe.</p> + +<p>Inzwischen war Weber still beiseite gegangen. Nun +kam er zurück. Er trug die alte Fahne, von grauen +Tüchern umwunden. Dicht vor dem Fenster nahm er +langsam die Hülle ab, hob die schwere Stange hinaus, +und das rote Tuch rollte auseinander und wehte, aufglühend, +wo das Licht es traf, wie entfachte Flammen +über die stumme Menge.</p> + +<p>»Genossin Brandt! — — Alix Brandt!« — Riefen sie +mich?! — Man schob mich zum Fenster, — man hob +mich empor, — ich sah keine Menschen, ich sah nur ein +wogendes Meer, — ohne Anfang, ohne Ende. Und ich +streckte die Arme weit aus —</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_490" id="Page_490"></a></p> +<h2><a name="Vierzehntes_Kapitel" id="Vierzehntes_Kapitel"></a>Vierzehntes Kapitel</h2> + + +<p>Alle Vorbereitungen für das Erscheinen der +Gesellschaft waren getroffen. Es +sollte eine Zeitschrift großen Stiles werden. +Hervorragende Parteigenossen des In- und Auslandes +hatten uns ihre Mitarbeit zugesagt. Eine junge Künstlerin, +von der Idee, die uns leitete, gepackt, hatte den Umschlag +gezeichnet: schwarze Fabriken, aus deren Essen +die Feuerflammen der kommenden Zeit emporschlagen. +Es gab Leute, die angesichts der schönen Ausstattung, +des niedrigen Preises und der hohen Honorare, die wir +festgesetzt hatten, bedenklich die Köpfe schüttelten. Aber +der Dreimillionen-Sieg der Partei hatte den Glauben an +unsere Sache, den wir von jeher besessen hatten, nur +noch gestärkt. Jetzt war wirklich die Zeit gekommen, +wo die Sozialdemokratie eine Macht im Staate zu +werden begann, wo sie vor der Aufgabe stand, selbständig +praktische Politik zu treiben. Breite Schichten +der Arbeiterschaft, die erstarkten Gewerkschaften an der +Spitze, verlangten danach, und die Masse der Mitläufer, +die unseren Sieg hatte vergrößern helfen, war zweifellos +nicht durch die ferne Aussicht auf den Zukunftsstaat +zu uns gekommen, sondern durch die Hoffnung auf +Reformen der Gegenwart.</p> + +<p><a name="Page_491" id="Page_491"></a>Eines Morgens kam Heinrich verärgert aus dem +Bureau: »Der Lindner läuft umher wie die Jungfrau +von Orleans: ›und mich, die all dies Herrliche vollendet, +mich freut es nicht, das allgemeine Glück‹. Sollten die +Schwarzseher ihn schon beeinflußt haben?! Das könnte +mir passen!«</p> + +<p>Wir hörten eine Woche lang nichts von ihm. Dann +kam ein Brief; — während mein Mann ihn überflog, +veränderten sich seine Züge: »Hier hast du den Wisch,« +rief er wütend und warf die Türe hinter sich ins Schloß.</p> + +<p>»Da ich mich überzeugt habe, daß ein gedeihliches Zusammenarbeiten +zwischen uns nicht erreichbar sein wird, +trete ich von unserem Vertrag zurück —,« las ich.</p> + +<p>Das ist doch nicht möglich, — das kann doch nicht +sein, fuhr es mir durch den Kopf; wie kann er sein +Wort brechen, jetzt, in diesem Augenblick, wo er weiß, +das damit alles steht und fällt!</p> + +<p>Heinrich war beim Rechtsanwalt gewesen. »Nichts +zu machen,« knirschte er, als er nach Hause kam, »mein +Anstand, oder sagen wir lieber meine Dummheit, die +mich hinderten, den Vertrag notariell zu machen, ermöglichen +diesen erbärmlichen Rückzug.«</p> + +<p>Was nun?! Heinrichs trotzige Energie hatte auf diese +Frage nur eine Antwort: »Erst recht!«</p> + +<p>Ich fühlte mich im ersten Augenblick wie gelähmt +und war geneigt, im Rücktritt Lindners etwas zu sehen, +das einem Wink des Schicksals oder einem Gottesurteil +gleichkam. Aber die Ereignisse innerhalb der Partei zerstreuten +den Nebel, der meinen Blick vorübergehend verdunkeln +wollte.</p> + +<p>Überall hatten nach den Wahlen Siegesfeiern statt<a name="Page_492" id="Page_492"></a>gefunden. +Hunderte von Rednern hatten das »Unser +die Welt!« in die überfüllten Säle hinausgeschmettert +und ein vieltausendstimmiges Echo gefunden. Dann +aber war der Rausch verflogen, und jenes erwartungsvolle +Schweigen war eingetreten, das jedem großen Ereignis +zu folgen pflegt. Man konnte sich nicht vorstellen, +daß nun der Alltag wieder da ist, — genau so +wie vorher; es mußte irgend etwas folgen, das dem Ungeheueren +entsprach, das wir erlebt hatten! Doch es geschah +nichts. Nur der Sommer war gekommen mit seiner +Blumenpracht, — wie immer. Ein unbestimmtes Gefühl +der Enttäuschung erkältete die eben noch glühenden +Herzen. Die durch den Kampf aufgepeitschten Nerven +erschlafften plötzlich; eine nörgelnde Empfindung der Unzufriedenheit +entstand; kaum einer war, der sich ihr entziehen +konnte, und wer am leidenschaftlichsten um den +Sieg gerungen hatte, den packte sie mit doppelter Gewalt.</p> + +<p>Einige der führenden Geister in der Partei waren +sich bewußt, daß die nervöse ungeduldige Frage der +Massen nach dem Preise des siegreichen Kampfes Antwort +heischte. Aber sie empfanden nicht, daß die Antworten, +die sie gaben, angesichts der Größe der Erwartungen +wie eine Verhöhnung wirken mußten. Kautsky, +der Theoretiker des Radikalismus, versuchte ihr als der +Vorsichtigere aus dem Wege zu gehen, indem er sich +nur mit den Wahrscheinlichkeiten der künftigen Haltung +unserer Gegner beschäftigte, und im übrigen die Gemüter +durch den Hinweis auf »die alte, bewährte Taktik +der Partei« zu beruhigen suchte. Eduard Bernstein dagegen, +der Revisionist, hatte in dem Bestreben, zu momentanen +praktischen Resultaten zu gelangen, acht Tage nach +<a name="Page_493" id="Page_493"></a>dem Siege auf die Frage: was folgt aus dem Ergebnis +der Reichstagswahlen? keine andere Antwort als die: +ein sozialdemokratischer Vizepräsident im Reichstag! Was +in ruhigen Zeiten vielleicht zu einer Erörterung innerhalb +der Fraktion geführt hätte, das wurde jetzt das +Signal zum Aufruhr.</p> + +<p>Wie, darum haben wir monatelang unsere Haut zu +Markte getragen, darum haben drei Millionen Deutsche +einundachtzig Sozialdemokraten in den Reichstag geschickt, +damit einem von ihnen die Gelegenheit geboten +wird, vor dem Kaiser zu katzbuckeln, — dem Kaiser, +dessen Faust wir von Essen und Breslau her noch auf +unserer Wange brennen fühlen?! So tönte es von allen +Seiten.</p> + +<p>Vergebens, daß Vollmar von München aus versuchte, +der kühlen Vernunft zu ihrem Rechte zu verhelfen, indem +er die tatsächlichen Vorteile der Vertretung der +Partei im Präsidium hervorhob und die Haltlosigkeit +der prinzipiellen Gegnerschaft zu dem »Hofgang« dadurch +illustrierte, daß die Parteigenossen in den Einzelstaaten +es mit ihrer republikanischen Gesinnung vereinigen müssen, +dem jeweiligen Landesherrn Treue zu schwören, der Eid +aber doch bedeutungsvoller sei, als ein offizieller Besuch +im Kaiserschloß, — bis nach Norddeutschland drang +seine Stimme nicht. Zu tief empfanden Alle die unbewußte +Verhöhnung ihrer Hoffnungen und ihres Glaubens +in Bernsteins Antwort auf die Frage, die sie bewegte. +Und auch ich konnte mich dem niederdrückenden Eindruck +nicht entziehen.</p> + +<p>Die Empörung über Bernstein verdichtete sich zur allgemeinen +Wut auf die Revisionisten, die sie ihrerseits +<a name="Page_494" id="Page_494"></a>mit einem Ungeschick, das sich nur aus ihrer Temperamentlosigkeit +erklären ließ, schüren halfen.</p> + +<p>»Wir müssen die liberalen Parteien ersetzen —,« erklärte +der eine; die aufgeregten Massen lasen daraus: +wir müssen unsere sozialdemokratischen Grundsätze in die +Tasche stecken.</p> + +<p>»Ein proletarischer Klassenkämpfer sein, das heißt +nicht auf die bürgerliche Gesellschaft unterschiedslos +drauflos prügeln —,« sagte ein anderer; die Arbeiter +ergänzten: wir sollen mit ihr liebäugeln.</p> + +<p>Sie hatten unrecht — zweifellos —, wie jeder unrecht +hat, den die Leidenschaft nicht nur dem Ziel entgegen +vorwärts reißt, sondern blind und taub macht +für alles, was rechts und links geschieht. Aber weit +größer war das Unrecht derer, die imstande gewesen +waren, an dem Siegesfeuer, dessen himmelauflodernde +Flammen die Begeisterung der Kämpfer entfacht hatten, +ihr armseliges Süppchen zu kochen und es den Andächtigen, +deren Glauben noch glühender brannte als +das Feuer, als sättigende Speise darzureichen.</p> + +<p>Ein mächtiger Helfer erwuchs ihrem Zorn, einer, der +noch immer wundergläubig gewesen war, wie sie; einer, +den, wie sie, der Sieg trunken gemacht hatte: August +Bebel. In einer Erklärung, die dem Pronunziamento +des Nachfolgers Christi auf dem apostolischen Stuhle +gleichkam, verurteilte er Bernstein und die Seinen und +drohte überdies mit der Entscheidung des nächsten Parteitages. +Nun erst, nachdem der Führer gesprochen, entbrannte +der Bruderkrieg in vollem Umfang. Was Bebel +nur hatte ahnen lassen, das sprachen andere aus: fort +aus der Partei, wer uns den Sieg verekelt.</p> + +<p><a name="Page_495" id="Page_495"></a>Ich fürchtete das Schlimmste. Meine persönlichen +Besorgnisse verschwanden wie Tautropfen im Meer. +Jetzt galt es, den Bedrohten einen Mittelpunkt schaffen, +der zum Ausgang einer starken, jungen Bewegung werden +könnte. Aus tiefster Überzeugung wiederholte ich Heinrichs: +»Erst recht!«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Der Verkauf des Archivs war der erste Schritt +zu unserem Ziel. Heinrich wandte sich an +einen der größten Verleger, der seine Bereitwilligkeit +aussprach, das Archiv zu übernehmen, wenn +der alte Herausgeber ihm erhalten bliebe. Er bot ein +Redaktionshonorar dafür, das uns zeitlebens der Sorgen +enthoben hätte. Wir besannen uns keinen Augenblick, +seine Vorschläge zurückzuweisen.</p> + +<p>»Nun bliebe noch Romberg,« sagte ich zögernd; ich +wußte, seit jener ersten Anfrage war eine leise Entfremdung +zwischen den beiden Männern eingetreten.</p> + +<p>»Damit er mich wieder behandelt, wie der hochmögende +Vormund,« brauste Heinrich auf.</p> + +<p>Noch am selben Abend schrieb ich an Romberg. +Wenige Tage später war er in Berlin. Ich setzte ihm +die Lage auseinander.</p> + +<p>»Ich appelliere lediglich an Ihr Interesse für die +Zeitschrift,« sagte ich, »die heute eine der angesehendsten +ihrer Art ist. Es lag Ihnen daran, sie in die +Hand zu bekommen; — Sie sprachen seinerzeit davon, +als von einem Ersatz der ordentlichen Professur.«</p> + +<p>Er machte eine abwehrende Handbewegung. »Wenn +ich nun aber statt meines persönlichen Interesses, das +<a name="Page_496" id="Page_496"></a>sich nicht verändert hat, meine Freundschaft entscheiden +ließe?!« rief er aus. »Mir scheint, ich müßte Sie vor +einem Unglück bewahren!«</p> + +<p>»Das lassen Sie meine Sorge sein,« antwortete ich +herb. Er schwieg verletzt, und als gleich darauf mein +Mann eintrat, stellte er sich auf einen ausschließlich geschäftlichen +Standpunkt und verhandelte nur mit ihm.</p> + +<p>Kurze Zeit darnach war die Angelegenheit entschieden: +Mit zwei anderen Herren übernahm Romberg das Archiv.</p> + +<p>Ich hatte im Augenblick meine ganze Zuversicht +wiedergewonnen und lud ihn ein, den Abschluß fröhlich +mit uns zu feiern. Aber er war schon abgereist.</p> + +<p>»Dann geben wir uns allein ein Fest,« meinte mein +Mann; »wir haben Ursache genug dazu als selbständige +Inhaber der Neuen Gesellschaft!« Doch es schien, als +sollte es nicht sein. Zuerst verschlang die Arbeit unsere +Zeit, und dann kam die Stimmung nicht wieder.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Der Hader in der Partei nahm immer bösartigere +Dimensionen an. Was Bebel an +Erklärungen und Artikeln veröffentlichte, das +klang so maßlos, daß die Vizepräsidentenfrage und die +Mitarbeit der Parteigenossen an bürgerlichen Blättern +unmöglich die einzige Ursache seines Vorgehens sein +konnte. Er mußte irgendwo Parteiverrat wittern, wenn +er alle politische Klugheit so völlig zu vergessen vermochte +und den Gegnern die bittere Pille der Wahlniederlage +durch den Kampf in den eigenen Reihen versüßte.</p> + +<p>»Die Zeit des Vertuschens und Komödienspiels ist +vorbei —,« rief er; »jetzt heißt es Farbe bekennen, jetzt +<a name="Page_497" id="Page_497"></a>gibt's kein Ausweichen mehr —,« was hieß das anders, +als daß Elemente in der Partei vorhanden waren, die +nicht hinein gehörten, die entfernt werden mußten?</p> + +<p>»Die Masse der Parteigenossen halte die Augen auf!« +mahnte er; was bedeutete das anders, als daß sich Verräter +in ihrer Mitte befanden? Aber während Bebels Zorn +vom Feuer der Leidenschaft noch immer verklärt erschien, +sekundierten ihm die Zionswächter des Radikalismus mit +der Kälte systematischer Verfolgungssucht. Und nun erwachte +im Proletariat, auf dessen rohe Instinkte sie spekulierten, +der Pöbel. Er warf sich keifend auf alles, +was nicht mit ihm lärmte.</p> + +<p>Wir, die wir dem Revisionismus eine selbständige +Zeitschrift schaffen wollten, standen, das zeigte sich bald, +mit auf der ersten Seite der Liste der Konskribierten. +Noch ehe die erste Nummer unseres Blattes erschienen +war, wurde es als ein kapitalistisches Unternehmen gebrandmarkt; +von Mund zu Mund ging der Klatsch, +daß wir einen reichen Gönner gefunden hätten, der es +wie einen Sprengstoff in die Partei werfen wollte, und +in einer der wild erregten Versammlungen, die dem +Parteitag vorangingen, fiel zum erstenmal das verächtliche +Wort, das wohlgefällig weitergetragen wurde: »Geschäftssozialisten.«</p> + +<p>Es traf mich wie ein Keulenschlag. Eben erst hatten +wir eine gesicherte Existenz von uns gewiesen, — und +nun dies Wort!!</p> + +<p>Ich brütete stumm vor mich hin. Ich ging nicht auf +die Straße, denn ich fühlte mich wie beschmutzt.</p> + +<p>Was ich erlebte, war nur ein Teil dessen, was allen +begegnete, die unter dem Namen Revisionisten zusammen<a name="Page_498" id="Page_498"></a>gefaßt +wurden. Das zahnlose alte Weib, der Klatsch, +ging um mit den ewig beweglichen Lippen und den +dürren Fingern, die in jeder Gosse gierig wühlen. Als +Mandatsjäger wurde der eine verdächtigt, als lügnerischer +Verleumder Bebels der andere. Und wessen wir +bisher fälschlich beschuldigt worden waren, — eine geschlossene +Gruppe zu sein, — das machte die Verfolgung +aus uns. Den Kopf umnebelt von den giftigen +Dünsten, die rings um uns aufstiegen, erschien uns der +Haß der Personen, die uns bekämpften, als das Primäre; +kaum einer war, der noch wußte, daß es der +Gegensatz der Anschauungen war, der ihn zeugte, und +niemand gab zu, daß Bebel recht hatte, wenn er an kleinen +Symptomen die ganze Richtung erkannte, — die Richtung, +die seinen tiefgewurzelten Prophetenglauben, aus dem er +die ganze Schwungkraft seiner Lebensarbeit sog, erschüttern +mußte, wenn sie zur allgemeinen Anerkennung kam.</p> + +<p>Wie sich sein Zorn und derer um ihn auf die Einzelnen +entlud, die im Augenblick als die Sünder erschienen, +so entlud sich der unsere auf einen Mann, der +seit Jahren das Feuer schürte, das uns verbrennen +sollte, der, ohne sich jemals in das Gewühl der Volksversammlung +zu wagen, von der Abgeschiedenheit seiner +Studierstube aus Jeden verfolgte, der kein Buchstabengläubiger +des Marxismus war. Seine glänzende journalistische +Fähigkeit hatte ihm seine Stellung geschaffen; +die fanatische Rücksichtslosigkeit, mit der er seine Gegner +verfolgte, hatte sie erhalten helfen. Niemand wagte, +sich ihm entgegenzustellen. Selbst seine Gesinnungsfreunde +fürchteten ihn, denn er haßte heute, was er +gestern noch liebte.</p> +<p><a name="Page_499" id="Page_499"></a></p> +<p>»Er ist das böse Prinzip der Partei,« hieß es in +unserem Kreise, während tatsächlich nur der konservative +Radikalismus mit all seiner Unduldsamkeit, all +seinem Dogmenglauben in ihm Fleisch geworden war.</p> + +<p>»Wenn wir die Partei von ihm befreien können, so +haben wir sie gerettet,« erklärten unsere Freunde.</p> + +<p>Meinen Mann packte der Gedanke wie keinen. Noch +immer hatte seine überschäumende Willenskraft sich an +Aufgaben erproben wollen, die niemand sonst übernahm. +Er hörte um so weniger auf die warnenden Stimmen, +die sich erhoben, als ich ihn in seinem Vorhaben nur +bestärkte. Die Partei aus der inneren Zerrüttung erretten, +in der sie sich befand, sie einer neuen gesicherten +Einheit entgegenführen, — keine Aufgabe wäre mir im +Augenblick größer erschienen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Es war am Abend vor unserer Abreise nach +Dresden, wo der Parteitag stattfand.</p> + +<p>»Es wird ein Kampf bis aufs Messer,« +sagte Heinrich; »aber was auch kommen mag, mich +soll's nicht kränken, wenn ich nur deiner sicher bin!«</p> + +<p>Ich legte beide Arme um seinen Hals: »Du kannst +es, Heinz! Noch niemals liebte ich dich so wie heut!« +Und zärtlich schmiegte ich meinen Kopf an seine Schulter, +während mein Auge in demütiger Liebe an dem seinen hing.</p> + +<p>»Ihr törichten Frauen wollt in den Männern immer +nur Helden sehen,« meinte er. Seine Lippen brannten +auf meinem Mund. Wir vergaßen der Ehe, wie in +allen glücklichen Stunden unseres Lebens; — der Ehe, +die alle Geheimnisse schamlos ihrer Schleier beraubt, +<a name="Page_500" id="Page_500"></a>so daß die Liebe, die nur von Sehnsucht lebt, sterben +muß.</p> + +<p>Gegen Morgen weckte mich ein Schrei. Ich fuhr +entsetzt aus dem Schlaf.</p> + +<p>»So bleib doch, Liebste,« flüsterte Heinrich traumbefangen. +Aber schon war ich im Nebenzimmer am +Bett meines Kindes. Seine Wangen glühten, verständnislos +irrten seine Augen an mir vorbei. Und +wieder löste sich ein Schmerzensruf von seinen trockenen +Lippen. Ich wickelte den zuckenden Körper in nasse +Tücher und schickte die Berta zum Arzt. Jetzt erst erwachte +mein Mann und erschien an der Türe.</p> + +<p>»Papachen,« sagte der Kleine und verzog den Mund +mühsam zu einem Lächeln.</p> + +<p>»Was ist denn nur?!« rief Heinrich mit gerunzelter +Stirn und ungeduldiger Stimme; »komm doch ins Bett, — du +erkältest dich ja!«</p> + +<p>Ich lief ins Schlafzimmer zurück, um mir einen Mantel +zu holen.</p> + +<p>»Du siehst doch, — Ottochen ist krank,« flüsterte ich +ihm im Vorübergehen zu.</p> + +<p>»Krank!« wiederholte er laut und trat näher. »Nicht +wahr, mein Junge, dir fehlt nichts, — du träumtest +nur schlecht, — du siehst ja rund und rosig aus, wie's +liebe Leben!«</p> + +<p>Mit einem ängstlich fragenden Blick sah der Kleine +von einem zum anderen.</p> + +<p>»Gewiß, Papa, gewiß,« sagte er dann mit stockender +Stimme, »jetzt ist schon alles wieder gut.« Aber seine +tränenumflorten Augen, die flehend zu mir aufsahen, +sein heißes Händchen, das krampfhaft meine Finger +<a name="Page_501" id="Page_501"></a>umschloß, strafte seine Worte Lügen. Ich drängte Heinrich +hinaus. Wo nur die Berta blieb? Warum der Arzt +nicht kam? — Im Wohnzimmer schlug die Uhr sieben.</p> + +<p>»Es ist die höchste Zeit, daß du dich anziehst, Alix,« +rief Heinrich. Wir hatten uns mit unseren Freunden +für den Achtuhrzug verabredet. Ich wechselte rasch die +Kompresse auf der brennenden Stirn meines Kindes und +ging ins Schlafzimmer.</p> + +<p>»Selbstverständlich bleibe ich hier,« sagte ich, die +Stimme dämpfend.</p> + +<p>»Das wäre noch schöner!« antwortete er heftig. »Wegen +eines Schnupfens, den der Junge im schlimmsten Fall +kriegen wird, willst du in diesem Augenblick mich und +die Sache im Stiche lassen!«</p> + +<p>Ich fühlte, wie das Blut mir siedendheiß in das +Antlitz schoß: »So sprich doch wenigstens leise —«</p> + +<p>Aber Heinrich wollte nicht hören: »Du weißt, was +auf dem Spiele steht, — du kommst mit,« schrie er mich +an, und seine Hand umkrallte meinen Arm.</p> + +<p>»Und wenn die ganze Partei darüber zugrunde ginge, — ich +bleibe hier,« zischte ich, außer mir vor Empörung.</p> + +<p>»Mama, — Mama!« rief eine süße weinende Stimme. +Der Kleine stand auf der Schwelle, mit angstvoll aufgerissenen +Augen, wie im Schwindel auf den bloßen +Füßchen hin und her schwankend. Auf meinen Armen +trug ich ihn ins Bett zurück und riegelte die Tür hinter +uns zu. Nach kurzer Zeit hörte ich Heinrich das +Haus verlassen. Ich fühlte keinen Schmerz, — nur eine +ungeheure Leere in meinem Herzen. Darüber nachzugrübeln, +war ich nicht imstande: in wilden Fieberphantasien +wälzte sich mein Kind auf seinem Lager.</p> + +<p><a name="Page_502" id="Page_502"></a>Kaum in Dresden angekommen, telegraphierte mir +mein Mann: »Verzeih. Wie geht es?« Mußte ich ihm +nicht jetzt, wo er so schweren Stunden entgegenging, +die Wahrheit schonend verschweigen?! Aber warum +diese Rücksicht?! War er doch mehr als schonungslos, +war grausam gewesen! Nie würde ich ihm das verzeihen +können!</p> + +<p>»Otto schwere Blinddarmentzündung,« antwortete ich +kurz, dem Ergebnis der ärztlichen Untersuchung entsprechend.</p> + +<p>Zwei Tage vergingen und zwei Nächte. Noch immer stieg +das Fieber; der kleine Körper krümmte sich vor Schmerzen. +Die Schreie der Angst wurden schwächer; an ihre Stelle +trat ein Wimmern — jammervoll, ununterbrochen. Ich +wich nicht von dem kleinen Bett. Wenn ich die Hand +auf das heiße Köpfchen des Kranken legte, schien er für +Augenblicke ruhiger, wenn ich mich ganz dicht an ihn +schmiegte, verlor sein Blick den Ausdruck tiefen Entsetzens. +Einmal glaubte ich schon beglückt, er schliefe. +Da riß er sich ungestüm aus meinen Armen, richtete sich +hoch auf, starrte mich verständnislos an und schrie: +»Mama, — Mama, — warum bist du so weit, — so weit +weg, — ich sehe dich gar nicht mehr —« und in verzweifeltem +Schluchzen bebten seine Schultern. Das Herz +krampfte sich mir zusammen, — und doch hatte ich noch +Kraft genug ihm beruhigend zuzulächeln, während ich +den kleinen Körper wieder in nasse Tücher hüllte. Er +wurde still, er schloß die Augen, er atmete regelmäßiger. +Aber in meinen Ohren dröhnten seine Worte: warum +bist du so weit weg! Er hatte mich angeklagt, — und +ich sprach mich schuldig: War ich nicht Tage, Wochen, +Monde lang von meinem Sohn »weit weg« gewesen?!<a name="Page_503" id="Page_503"></a> +War nicht auf seinen Gedankenwegen mit ihm gegangen, — hatte +nicht mit seinem Herzen gefühlt, — mit seinen +Augen gesehen? Wenn er nun mich verlassen wollte?! +Ich dachte den Gedanken nicht zu Ende. An seinem +Bette sank ich in die Kniee; ich faltete die Hände auf +seinen Kissen; — ich betete. Nicht zu den Schutzengeln, +die mir ein Märchen waren, nicht zu dem Christengott, +den ich nicht kannte. Mein Gebet war voll Frömmigkeit, +ob es auch keine Worte hatte, mein Gebet war +voll Glauben, ob es auch glaubenslos war, mein Gebet +war voll Kraft, denn es richtete sich nicht gen Himmel, — es +brachte dem Heiligtum des Lebens mich selbst zum +Opfer dar ...</p> + +<p>Der grauende Tag kroch durch die Fenster. Mein +Kind schlief mit einem Lächeln um die blassen Lippen. +Ich küßte es leise. Mir war, als wäre ich erst in der +letzten Nacht seine Mutter geworden.</p> + +<p>Draußen läutete es. Es war der Telegraphenbote: +»Wie geht es? Rege dich über Zeitungen nicht auf.« +Ich mußte den zweiten Satz noch einmal lesen; gab +es noch irgend etwas in der Welt, über das ich mich +nach dieser Nacht hätte aufregen können?! Ja so! Der +Parteitag, — ich hatte nichts gelesen. »Otto besser. +Bin ruhig. Wünsche dir das Beste,« antwortete ich.</p> + +<p>Während Berta mich bei dem Kranken vertrat, las +ich die Berichte. Ich erschrak, als ich sah, daß Heinrich +entgegen seiner Absicht, durch den Artikel eines +sächsischen Parteiblattes herausgefordert, in der Diskussion +über die Mitarbeit von Genossen an der bürgerlichen +Presse als Erster gesprochen hatte. Die ganze +Erregung über unser Auseinandergehen, die wachsende<a name="Page_504" id="Page_504"></a> +Sorge um das kranke Kind mußte ihn beherrscht, seine +Stimmung beeinträchtigt haben. Und ich fühlte zwischen +jeder Zeile der Rede die Bitterkeit seines Herzens, die +quälende Angst. Über jenen Mann hatte er gesprochen, +der sich herausnahm im Kampf gegen uns den Ton anzugeben, +der uns um einiger Artikel in einer bürgerlichen +Zeitschrift willen wie Verräter verfolgte; und er +hatte ihn gekennzeichnet, als das, was er war: ein +doppelter Renegat, in der Jugend Sozialdemokrat, gleich +darauf der Verfasser einer der giftigsten Schmähschriften +gegen die Sozialdemokratie, nach wenigen Jahren wieder +Mitglied der Partei, und jetzt: ihr unfehlbarer Sittenrichter. +Keiner, so schien mir, würde sich dem Eindruck +der Rede meines Mannes entzogen haben, wenn nicht +in jedem Ton die Aufregung gezittert hätte, deren Ursache +niemand kannte als ich. Immer wieder hatte ihn +Bebel unterbrochen, mit stets gesteigerter Heftigkeit, und +jeder Zuruf mußte meinen Mann, dessen ganze Seele +wund war, doppelt schmerzhaft treffen. Und dann waren +sie alle über ihn und uns hergefallen, und am tollsten +hatten uns, die freien Schriftsteller — »frei« wie der +Lohnarbeiter, der seinem Verdienst nachgehen muß —, +die Genossen geschmäht, die in sicheren Parteipfründen +saßen. Ein Gefühl von Ekel stieg mir bis zum Hals. +Wie hatte doch Romberg einmal gesagt? »Durch eine +bestimmte Personengruppierung kann eine Sache rettungslos +verloren gehen.« War diese Gesellschaft wütender +Proleten wirklich noch der würdige Träger der menschheitbefreienden +Gedanken des Sozialismus?</p> + +<p>In einem kurzen Brief, den ich von Heinrich erhielt, +hieß es: »... Die Lage der Dinge ist unbeschreiblich.<a name="Page_505" id="Page_505"></a> +Die eingeschlossene Luft in diesem engen halbdunkeln +Saal scheint gefüllt mit Sprengstoff. Das gezwungene +dicht Nebeneinandersitzen erhöht die Reizbarkeit ... Bebel +ist selbst für Freunde, die ihn beruhigen wollen, unnahbar. +Er hat sich stundenlang in sein Hotel zurückgezogen +und hat den Ausdruck eines Rachegottes, wenn +er wieder erscheint. Warum? Niemand weiß es. Er +soll sich während der Wahlkämpfe überanstrengt haben, +sagen die einen; die Erbschaft, die ein bayerischer +Offizier ihm hinterließ, und das, was an Prozessen +mit den Verwandten dieses Offiziers darum und +daran hängt, soll ihn aufregen, meinen die anderen. +Jedenfalls kommt mehr denn je alles auf seine +Haltung an; und sein Benehmen mir gegenüber läßt +wenig Gutes hoffen. Übrigens scheint er auf uns beide +ganz besonders wütend zu sein. Als Wanda Orbin die +Mitarbeit an bürgerlichen Blättern als todeswürdiges +Verbrechen kennzeichnete und dabei von den sündigen +›Genossen‹ sprach, rief er wiederholt mit starker Betonung +dazwischen: ›Und Genossinnen!‹ Damit bist Du +in erster Linie gemeint ... Man spricht von einer +Resolution, durch deren Unannehmbarkeit die Revisionisten +hinausgedrängt werden sollen ...«</p> + +<p>Seltsam, wie kühl, fast gleichgültig ich dieser Möglichkeit +gegenüber blieb.</p> + +<p>Gegen Abend fieberte mein Kind wieder. Es phantasierte +von Riesen, die das Zimmer füllten, und am +Morgen war mir, als ob ich die ganze Nacht mit +ihnen hätte ringen müssen, um sie vom Bett meines +Lieblings fernzuhalten. Ich fühlte mich zu Tode erschöpft.</p> +<p><a name="Page_506" id="Page_506"></a></p> +<p>»Wir sind noch nicht über den Berg,« sagte der Arzt +mit einem ernsten Gesicht, »aber Sie sollten sich trotzdem +schonen —.«</p> + +<p>»Ich bin die Mutter,« unterbrach ich ihn.</p> + +<p>»Gerade darum,« antwortete er.</p> + +<p>Aber wie konnte ich von meinem Sohne weichen, solange +seine Augen sich trübten, wenn ich den Platz an +seinem Bett verließ!</p> + +<p>Während er ein paar Bleisoldaten auf den weißen +Berg seiner Kissen klettern ließ, überflog ich zerstreut +den neuen Parteitagsbericht. Erst Bebels Rede fing +an, mich zu fesseln. Er zählte die Sünden jener Wochenschrift +auf, für die wir fünf Angeklagten geschrieben +hatten: Vor genau zehn Jahren hatte deren Herausgeber +ihn als »rote Primadonna« verulkt. Ich staunte: sollte +Bebel, der große Bebel, von so kleinlicher Empfindlichkeit +sein, daß er dergleichen Nebensächlichkeiten als unauslöschliche +Kränkungen empfand?! Und im vorigen +Jahre während des Zollkampfes hatte derselbe Redakteur +sich gegen die Obstruktionspolitik der Sozialdemokraten +ausgesprochen. War das nicht sein gutes Recht? Sollte +er selbst mit seiner Überzeugung hinter dem Berge halten, +wenn er allen seinen Mitarbeitern die vollste Meinungsfreiheit +gewährte?</p> + +<p>Ich las weiter. Ich rieb mir die Augen, — vielleicht +war ich es jetzt, die fieberte, — der Kopf fing an, mir +zu brennen. Ich las noch einmal. Aber ich irrte mich +nicht. Hier stand es, ganz deutlich, und noch unterstrichen +durch den »stürmischen Beifall«, mit dem es +begrüßt worden war: »Es gibt unter uns Marodeure, +die ein solches Blatt unterstützen —«, »Elemente, die +<a name="Page_507" id="Page_507"></a>moralisch tief gesunken sind —«, »ihnen gebührt nichts +anderes, als ein kräftiges Pfui!«</p> + +<p>Griff mir nicht eine rohe Faust an die Kehle —, traten +die Augen nicht schon aus ihren Höhlen? Und +der Boden unter mir, auf dem ich stand, schwankte er +nicht? — — Meine Familie, meine Freunde, meine +Existenz, — alles hatte ich der Partei geopfert, — und +jetzt kam dieser Mann und beschimpfte mich, weil ich +ein paar literarische Kritiken in ein Blatt geschrieben +hatte, das ihm nicht paßte?! Er, dieser Ritter der +Frauen, hatte den traurigen Mut, mich vor der ganzen +Welt für ehrlos zu erklären?! Ich sprang vom Stuhl, — vergaß +mein krankes Kind, — und lief ins Nebenzimmer. +Dort in der alten Truhe lag sie noch, — meines +Vaters Pistole! Wenn ich ein Mann wäre —! +Meine Hand krampfte sich um ihren Griff, mein Finger +suchte den Hahn. Wenn mein Vater noch lebte! Vor +ihre Mündung würde er den Räuber meiner Ehre fordern!</p> + +<p>»Mama!« rief es von nebenan. Ich strich mit der +Hand über meine heiße Stirn und warf mit einem +spöttischen Achselzucken über die romantische Anwandlung, +die ich eben gehabt hatte, die alte Pistole in die +Truhe zurück. Ich stehe ja nicht allein, dachte ich; mein +Mann, der auf die kleinste Kränkung, die mir angetan +wird, mit hellem Zorn reagiert, hat mich in diesem +Augenblick schon verteidigt, und die anderen alle, die +getroffen wurden, genau wie ich, werden zu flammendem +Protest einmütig zusammenstehen.</p> + +<p>Aber schon, daß die Diskussion ohne Unterbrechung +ihren Fortgang genommen hatte, machte mich stutzig. +Freilich, der eine der Angegriffenen, der eben einen<a name="Page_508" id="Page_508"></a> +Wahlkreis erobert hatte wie wir, verteidigte sich in aufflammender +Empörung.</p> + +<p>»Auch dem Parteiführer, der die Ehre eines Menschen +beschmutzt, gebührt ein Pfui,« rief er aus. Aber mitten +in seiner Rede war er imstande gewesen, mit sentimentaler +Rührung von der Verehrung zu erzählen, die er +für den Beleidiger empfunden hatte! Ich schämte mich, +auch nur mir selbst solch ein Gefühl zuzugeben. Und +als Bebel nachher ein paar väterliche Worte der Anerkennung +für ihn aussprach, bedankte er sich dafür!</p> + +<p>Der andere stimmte seine Rede auf denselben Ton +und sprach von der ganz besonderen Verehrung, die er +für den Veteranen der Partei stets empfunden habe. +Der Dritte endlich brauste zwar in jugendlichem Eifer +auf, hatte aber schon vorher reumütig abgebeten. Ich +schüttelte mich. Wer sich so behandeln ließ, war wert, +daß er so behandelt wurde. Mein Mann, dachte ich +triumphierend, wird anders zu sprechen wissen!</p> + +<p>Jetzt endlich fand ich seinen Namen unter den Rednern. +Unwillkürlich suchte ich zuerst nach den Zwischenrufen, +nach den wilderregten Szenen, die sein Zorn +hervorrufen mußte; — und da stand es ja schon: +»stürmische Unterbrechungen« — »große Unruhe« — »Skandal«. +Aber das bezog sich gar nicht auf eine +Zurückweisung der Beleidigungen Bebels. Meine Hände, +die das Blatt hielten, begannen zu zittern.</p> + +<p>Wie?! Auch was er sagte, klang wie eine halbe +Entschuldigung?!</p> + +<p>»Wir sind entschlossen, an der fraglichen Wochenschrift +nicht mehr mitzuarbeiten, da das Interesse der Partei +es fordert ...« Und dann: »Ich erwarte von Bebel, +<a name="Page_509" id="Page_509"></a>daß er das schwere und bittere Unrecht, das er begangen +hat, einsieht und durch eine Erklärung gut zu machen +sucht.« War das alles? Wirklich alles?! Ich ballte +die Hände und drückte die Nägel ins Fleisch, ich preßte +die Zähne aufeinander, daß sie knirschten. Nur nicht +weinen, nur jetzt nicht weinen, — wiederholte ich immer +wieder. Die große Uhr über dem Schreibtisch tickte +laut und vernehmlich, — meines Vaters Uhr, die ich +vor fremden Händen gerade noch gerettet hatte.</p> + +<p>»Er hat dich nicht verteidigt, — nicht verteidigt —,« +sagte sie unaufhörlich; oder war es des Vaters +Stimme? — »Nicht verteidigt —«</p> + +<p>Ich schrieb an den Vorsitzenden des Parteitags und +forderte ihn auf, Bebel zu einer Rücknahme seiner Beleidigung +zu veranlassen. Mein Wunsch wurde abgelehnt. +Ich verlangte ein Schiedsgericht, das über +meine Ehre entscheiden sollte. »Wegen der Meinungsäußerung +eines Genossen über den anderen kann ein +solches nicht angerufen werden,« lautete die Antwort. +Jetzt also war ich vogelfrei; ausgestoßen aus meiner +alten Welt, als Ehrlose gebrandmarkt in der neuen!</p> + +<p>Ich wurde merkwürdig ruhig. Ich spielte lächelnd +mit meinem Sohn, der sich langsam erholte. Es gab +Stunden, in denen ich dem Schicksal dankbar war, das +mich an diese Stelle zwang, das es mir deutlicher sagte, +als Worte es je vermocht hätten: dein Kind allein ist +deine Welt.</p> + +<p>Fast mechanisch, interesselos, fing ich wieder an, die +Berichte zu lesen.</p> + +<p>Inzwischen war die Abstimmung über die Erklärung +des Parteivorstandes zur Frage der Mitarbeit +<a name="Page_510" id="Page_510"></a>von Genossen an bürgerlichen Preßunternehmungen +vor sich gegangen. Mit überwältigender Mehrheit +war sie zur Annahme gelangt. Ich lachte unwillkürlich +laut auf. So orthodox war bisher nicht einmal +die Kirche gewesen! Sie war viel zu klug dazu; sie +benutzte jede Tribüne, wenn es galt, auch nur eine +Seele zu gewinnen.</p> + +<p>»Nicht darauf kommt es an,<em class="spaced"> wo</em> Parteigenossen +schreiben, sondern<em class="spaced"> was</em> sie schreiben. Je mehr sie mit +ihrer Überzeugung und ihrer Person in die Reihen der +uns noch feindlich Gesinnten eindringen, desto besser ist +es für unsere Sache, denn wir sind keine Sekte, die sich +zu ihrem Gottesdienst in ihrer Kapelle verschließt, sondern +eine Bewegung, die der ganzen Menschheit dienen +und die Welt erobern will ...«</p> + +<p>Das wäre eine unserer sozialistischen Grundsätze würdige +Erklärung gewesen. Niemand beantragte sie. Nur +vierundzwanzig — unter ihnen mein Mann, Göhre, +Vollmar — hatten den Vorstandsbeschluß abgelehnt.</p> + +<p>Und nun stand der zweite Streitpunkt: die Taktik der +Partei, die Vizepräsidenten-Frage, auf der Tagesordnung.</p> + +<p>Bebel referierte. Nach allem Vorhergegangenen erwartete +ich eine wütende Philippika. Aber das, was +er sagte, übertraf jede Erwartung. War das derselbe +Bebel, der in Hannover so klug und so einsichtig gewesen +war?</p> + +<p>»Nie und zu keiner Zeit waren wir in der Partei +uneiniger als jetzt —;« das erklärte er, nachdem wir +eben einmütig den größten politischen Sieg erfochten +hatten! »So geht's nicht weiter, — jetzt müssen wir +endlich reinen Tisch machen,« und: »Wer nicht pariert, +<a name="Page_511" id="Page_511"></a>der fliegt hinaus!« War das noch die Sprache des +Führers einer demokratischen Partei, oder nicht vielmehr +die eines Diktators? Er sprach von den Revisionisten +als von den Leuten, die mit der Bourgeoisie liebäugeln, +und verlangte, daß man sie öffentlich denunzieren +müsse, damit die Genossen sich vor ihnen hüten könnten. +Er erklärte auf der einen Seite, um einen Gewerkschaftsantrag +zu Falle zu bringen, daß es für die Fraktion +viel zu schwierig sei, ganze Gesetzesvorlagen auszuarbeiten, +und versicherte auf der anderen, daß, wenn die Partei +heute zur Herrschaft im Staate käme, sie schon morgen +wissen würde, was sie zu tun habe. Der heimliche Haß +gegen die Akademiker, durch den er die Masse des Proletariats +unzerreißbar mit sich verband, ohne zu fühlen, +daß er dem ersten Grundsatz des Sozialismus dadurch +ins Gesicht schlug, durchglühte seine Rede.</p> + +<p>»Seht Euch die Akademiker dreimal an, ehe Ihr +ihnen Vertrauen schenkt!« »Stürmischer Beifall« stand +daneben. Und doch waren es Akademiker gewesen, die +dem Proletariat die Organisation, seiner Bewegung die +Grundlage und das Ziel gegeben hatten. Schließlich +warnte er noch vor »dem anderen Teil der Revisionisten, +den Proletariern in gehobenen Lebensstellungen«. Und +niemand lachte ihm ins Gesicht, — und niemand +wies mit Fingern auf die, die Beifall jauchzten: Gastwirte, +Redakteure, Parteibeamte, lauter ehemalige Proletarier +in gehobenen Lebensstellungen, — und ihn selbst, +der ein wohlhabender Mann geworden war. Fielen +denn heute lauter Schleier von meinen Augen, oder +war ich nur vorher blind gewesen?</p> + +<p>Nach ihm sprach Vollmar. Er zeigte, wie die Partei +<a name="Page_512" id="Page_512"></a>seit Jahren angesichts der praktischen Forderungen des +Tages ein Vorurteil nach dem anderen habe fallen lassen, +wie zum eisernen Bestand ihrer Taktik geworden sei, +was kurz vorher als hochverräterische Forderung gebrandmarkt +worden war. Dann aber wandte er sich persönlich +gegen Bebel, — der erste und der einzige, der +es mit der Autorität seines Namens zu tun vermochte.</p> + +<p>»Ein ungezügeltes Temperament schadet nicht nur auf +Fürstenthronen, sondern auch auf denen der Partei,« +rief er aus. »... In welchem Ton hat Bebel sich an +die ganze Partei gewandt? ›Ich werde nicht dulden ...‹, +›Ich werde den Kopf waschen ...‹, ›Ich werde Abrechnung +halten‹. Ich, ich, ich — so hat der Lordprotektor +Cromwell zum langen Parlament gesprochen ...«</p> + +<p>Ich atmete tief auf. Auch eine Verteidigung meiner +Ehre war diese Anklage gewesen. Nur eins verstand +ich nicht: er betonte die innere Einheit der Partei mit +derselben Schärfe, wie Bebel sie geleugnet hatte. Wie +konnte er nur?! Wären all die Wutausbrüche dieses +Parteitages möglich gewesen, wenn eine innere Einheit +bestanden hätte? Sie waren doch nichts anderes als +Symptome der Zerrissenheit. Aber die Revisionisten +schienen sich das Wort gegeben zu haben, Vollmars Ansicht +nicht nur zu teilen, sondern zu unterstreichen. Dieselben +Männer, die ständig und, wie mir schien, mit Recht +diese und jene Programmforderungen der Sozialdemokratie +kritisierten und einer Umänderung für bedürftig +hielten, erklärten plötzlich, daß prinzipielle Gegensätze +nicht vorhanden seien. War das Feigheit oder nur +Schwäche? — Schwäche, die in ihren Folgen viel +gefährlicher ist als sie? Und ich befand mich plötzlich +<a name="Page_513" id="Page_513"></a>in Übereinstimmung mit einem der schroffsten Radikalen +in der Partei: »Das ist ja der Jammer des deutschen +Revisionismus, daß er nie mit einem bestimmten Programm +hervorkommt,« sagte Kautsky, nachdem er versucht +hatte, den auch seiner Ansicht nach vorhandenen Gegensatz +als den zwischen der Zusammenbruchs- und der +Evolutionstheorie zu kennzeichnen; »die einen erwarten +die Befreiung von der sozialen Revolution, die anderen +von der allmählichen Entwicklung.«</p> + +<p>Mein Mann schrieb mir noch einmal: »Für die Partei +wird diese traurige Tagung mit ihren zahllosen Hintergründen +von Gemeinheit, Klatsch und Verhetzung +schließlich noch zum guten Ende führen. Der Resolution +des Parteivorstandes zur Frage der Taktik sind ihre +schärfsten Spitzen, auf denen wir gespießt werden sollten, +genommen worden, und ihre einmütige Annahme scheint +danach gesichert, was den Frieden in der Partei wieder +herstellen wird.«</p> + +<p>Ich antwortete umgehend: »Ich verstehe Dich und +die anderen nicht. Selbst wenn die Resolution ihrem +Wortlaut nach annehmbar wäre, so ist sie es ihrem +Sinn nach nicht, und Euer Ja bedeutet keinen Frieden, +sondern Unterwerfung. Ich bedaure, bei der Abstimmung +nicht zugegen zu sein. Ich würde, — und wenn +ich die einzige bliebe, — laut und deutlich Nein sagen.«</p> + +<p>Als ich den Wortlaut der Resolution zu Gesicht bekam, +wurde mir die Haltung der Revisionisten vollends +unverständlich. Wie viele unter ihnen hatten dem Eintritt +des Sozialdemokraten Millerand in das französische +Ministerium zugestimmt, hatten eine allmähliche Eroberung +der Regierungsgewalt überall für möglich, ja für +<a name="Page_514" id="Page_514"></a>wahrscheinlich erklärt, und jetzt beugten sie sich einer +Resolution, in der es hieß: Die Sozialdemokratie kann +einen Anteil an der Regierungsgewalt innerhalb der +bürgerlichen Gesellschaft nicht erstreben. Wie viele verurteilten +laut und leise die lediglich negierende Haltung +der Partei gegenüber der Kolonialpolitik, und jetzt verpflichteten +sie sich selbst zum »energischen Kampf« gegen +sie. Aber daß dreihundert ja sagten, traf mich immer +noch nicht so tief, als daß Heinrich unter ihnen war.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Mein Kind lag noch immer. Den Genesenden +zu beschäftigen, kostete fast noch mehr Zeit +als den Kranken zu pflegen. Herrisch verlangte +der kleine Tyrann immer wieder nach Mama, +wenn Berta mich ablösen wollte. Aber meine Gedanken +waren doch wieder frei, und wenn er zur Ruhe gebracht +worden war, konnte ich, wenn auch mit mattem +Blick und müden Händen, in den Trümmern meines +Lebens suchen, was zu neuem Aufbau noch stark genug +war. Und ich fand eine unerschütterte Grundmauer: +meine politische Überzeugung. Vor der Partei konnte +ein Bebel mich diskreditieren, konnte mir die Arbeit in +ihren Reihen kraft seines Bannfluchs unmöglich machen. +Aber erschöpfte sich denn der Sozialismus in der Partei?</p> + +<p>Mein Verstand war befriedigt, und doch blieb es so +kalt, so leer in mir. Ich sah mich suchend um, — war +die Wärme und die Farbe aus meinem Leben gewichen? +Ach, im Garten meiner Liebe waren alle Blumen geknickt! +Hatte der eine rohe Griff meines Gatten so viel +vernichten können? Oder war es nur ein letzter Herbst<a name="Page_515" id="Page_515"></a>sturm +gewesen, der die schon lange heimlich welken +endgültig von den Stielen riß?</p> + +<p>Eines Abends, ganz plötzlich, öffnete sich die Türe, +und Heinrich stand vor mir. Wie sah er aus! Aschfahl, +die Augen tief in den Höhlen, dunkel umschattet, +die ganze Gestalt gebeugt.</p> + +<p>»Heinz!« schrie ich auf und schlang die Arme um ihn.</p> + +<p>»Wenn du mich nur noch liebst — du,« flüsterte er +und bedeckte mein Antlitz mit Küssen. »Ich fürchtete mich +vor der Heimkehr, weil ich dachte, ich könnte auch dich +verloren haben, — aber nun ist alles gut, — nun mögen +sie mich steinigen. Ich fühle nichts, nichts als Seligkeit, +weil deine Liebe mich unverwundbar macht!«</p> + +<p>Mir stürzten die Tränen aus den Augen, — Tränen +der Reue, des Schmerzes. Er sollte nicht umsonst an +meine Liebe geglaubt haben. War es nicht Liebe, die +wieder erwachte, da er so zerschlagen vor mir stand?</p> + +<p>Ich erfuhr allmählich, was geschehen war. Artikel, +Erklärungen, Briefe legte er mir vor, voll wütender +Angriffe auf ihn, den »Urheber des Dresdener Parteitages«, +den »geistigen Vater eines nie dagewesenen +Parteiskandals«, voll niedriger persönlicher Verleumdungen. +Selbst in unserem Leben wühlten fremde Hände, +und unter ihrem Griff wurde auch das Reinste schmutzig.</p> + +<p>Es war ein grauer Herbstabend mit tiefhängenden +Wolken und langen Schatten in den Zimmern. Ich +kauerte in der Ecke des Sofas, unfähig, mich zu rühren, +wie zerprügelt. Heinrich ging auf und nieder, rastlos, — hie +und da griff er mit der Hand nach seinem Kopf, +als ob er sich vergewissern müsse, daß er noch lebe.</p> + +<p>»Nach meiner ersten Rede schon sagte mir Victor<a name="Page_516" id="Page_516"></a> +Geier: ›Das ist politischer Selbstmord‹. Als ich dann +Bebel antworten wollte, wie es nach seinem Angriff +allein richtig gewesen wäre,« — so hatte mich Heinrich +doch verteidigen wollen! — »da haben sie mich alle bearbeitet, +haben im Namen des Parteiinteresses an mich +appelliert, und ich war so töricht, durch all die widerwärtigen +Szenen so erschöpft, daß ich mich wirklich +unterwarf. Was nützte es?! Nichts! Der Skandal +nahm seinen Fortgang. Und auf der Strecke bleibe +schließlich ich allein!«</p> + +<p>Einige Tage später kam Geier zu uns. Die erste +Nummer der Neuen Gesellschaft war eben in hunderttausend +Exemplaren verbreitet worden.</p> + +<p>»Ich muß mit Ihnen reden, Genossin Brandt,« sagte +er nach einer raschen Begrüßung. »Sie haben sich, +fern von Dresden, hoffentlich so viel kühle Überlegung +bewahrt, um eher Vernunft anzunehmen als Ihr +Mann.«</p> + +<p>Und dann setzte er mir auseinander, was seiner Meinung +nach geschehen müsse. Zunächst habe sich Heinrich +dem Schiedsspruch eines Parteigerichts zu unterwerfen.</p> + +<p>»Vielleicht einem so objektiven Richter wie Bebel —,« +warf ich bitter ein.</p> + +<p>»Stehen Sie erst einmal am Ende der Laufbahn +und müssen zusehen, wie andere den ganzen Gewinn +Ihrer Lebensarbeit in Frage ziehen!« rief Geier heftig, +um sich gleich darauf wieder zur Ruhe zu zwingen. +»Ohne eine Rüge wegen seiner Dresdener Rede wird +es natürlich nicht abgehen,« fuhr er fort, »im übrigen +aber, dafür lege ich jetzt schon meine Hand ins Feuer, +werden sich alle Verleumdungen als solche erweisen, und<a name="Page_517" id="Page_517"></a> +Heinrich wird nachher eine gesichertere Stellung haben +als zuvor.«</p> + +<p>»Du weißt, daß ich die Einsetzung eines Schiedsgerichts +in meinem Wahlkreis bereits selbst veranlaßt +habe,« unterbrach ihn mein Mann, »wozu also das Gerede?! +Komm lieber gleich zur Sache!«</p> + +<p>»Wie du willst,« antwortete Geier ruhig und wandte +sich wieder mir zu. »Er hat Sie, wie es scheint, von +meiner anderen Forderung noch nicht unterrichtet: das +Erscheinen der Neuen Gesellschaft einzustellen.«</p> + +<p>Ich fuhr auf: »In diesem Augenblick sollen wir unsere +einzige Waffe von uns werfen?!«</p> + +<p>»Eine nette Waffe!« höhnte Geier. »Solange das +Dresdener Spektakelstück noch in aller Munde ist, werden +vielleicht ein paar Dutzend Leute euer Blatt kaufen. +Aber über kurz oder lang bleibt euch von der Waffe +nichts mehr als eine zerbrochene Klinge.«</p> + +<p>»Wir haben schon ein kleines Vermögen in die Sache +hineingesteckt —,« murmelte ich mit gepreßter Stimme.</p> + +<p>»Kann mir's denken,« meinte Geier und kräuselte +spöttisch die Lippen; »vorsichtige Geschäftsleute seid +Ihr offenbar nicht. Aber so rettet wenigstens, was zu +retten ist!«</p> + +<p>Heinrichs Gesicht hatte sich mehr und mehr gerötet. +Jetzt blieb er dicht vor Geier stehen.</p> + +<p>»Du benutzt unsere Notlage, um die Partei von einem +revisionistischen Blatt zu befreien,« zischte er ihn an.</p> + +<p>Mit einer heftigen Bewegung sprang Geier vom +Stuhl und hieb mit der Faust auf den Tisch: »Ich +komme nach Berlin gereist, um euch einen Freundschaftsdienst +zu erweisen, und du begegnest mir so —. Stürze +<a name="Page_518" id="Page_518"></a>dich denn meinetwegen kopfüber in dein Verderben —« +Und hinaus war er.</p> + +<p>Wir gingen tagelang schweigsam nebeneinander her. +Inzwischen fanden überall Parteiversammlungen statt, +die sich mit den Dresdener Ereignissen und ihren Folgen +beschäftigten. In den Angriffen auf die Revisionisten, +ganz besonders auf meinen Mann, übertrafen sie noch +den Parteitag. Und stets wurde vor der Zeitschrift +gewarnt, mit der wir uns »auf Kosten der Partei« bereichern +wollten. Es gab keinen Ausweg mehr, als sie +zunächst aufzugeben. Wir hatten die Mittel nicht, um +sie gegen die herrschende Stimmung in der Partei durchzusetzen.</p> + +<p>»Alle freiheitlichen Elemente hatten sich am 16. Juni +um Ihre Fahnen geschart,« schrieb mir Romberg, »weil +sie, von den bürgerlichen Parteien im Stiche gelassen, +bei der Sozialdemokratie den Schutz der Geistesfreiheit, +den Hort des Kulturfortschritts zu finden glaubten. +Dresden hat diesen Wahn zerstört, hat gezeigt, daß der +Dogmatismus, die Verfolgungssucht Andersdenkender, +kurz die ganze Seelenverfassung der Inquisitoren, nirgends +in so krasser Form zu finden ist, als bei den +privilegierten Menschheitsbefreiern. Wir sind nun wieder +vogelfrei. Und Sie?!«</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_519" id="Page_519"></a></p> + +<p>In der Nacht, nachdem unsere zweite und letzte +Nummer erschienen war und wir wieder schlaflos +den huschenden Wolken draußen und der +wachsenden Mondsichel zusahen, sagte Heinrich zu mir: +»Was meinst du, wenn ich ginge?«</p> + +<p>Zuerst verstand ich ihn nicht, — dann aber packte ich +mit aller Kraft seine beiden Hände und sah ihm mit +stummem Entsetzen in das blasse Gesicht.</p> + +<p>»Ich warnte dich schon einmal, — vor Jahren,« fuhr +er leise und langsam fort. »Ich bringe Allen Unglück, — dir, — der +Partei. Mir scheint, ich habe hier nichts +mehr zu tun.«</p> + +<p>Ich stammelte in heller Angst tausend Liebesworte, +ich schmiegte mich an ihn, als ob ihm aus meiner +Lebenswärme Lebensmut zuströmen könnte. Aber er blieb +ernst und fest und wußte immer neue Gründe nicht nur +für die Berechtigung, sondern für die Notwendigkeit +seiner Absicht vorzubringen.</p> + +<p>Nach alter Gewohnheit pochte morgens unser Bub +an die Türe und sprang herein, ohne unsere Aufforderung +abzuwarten. Es war das erstemal nach seiner +Krankheit, daß er so früh schon aufstehen durfte. Er +kletterte eilig auf Heinrichs Bett und sah ihn an, halb +überrascht, halb erschrocken. Mit jenem rätselvollen +Scharfblick des Kindes schien er das Fremde, Dunkle +erkannt zu haben, das von der Seele seines Vaters Besitz +ergriffen hatte. Er legte ihm das Händchen auf +den Kopf; »so hat Mama auch gemacht, wie ich krank +war,« erzählte er wichtig, und dann küßte und streichelte +<a name="Page_520" id="Page_520"></a>er »den lieben, guten Papa«, bis sich doch noch ein +Lächeln um dessen festgeschlossene Lippen stahl.</p> + +<p>»Hast du wirklich hier nichts mehr zu tun?!« fragte +ich leise, als der Kleine wieder davongelaufen war. +»Soll dein Sohn einmal von dir glauben müssen, daß +du dich feige davonstahlst?!«</p> + +<p>Er drückte mir die Hand, fest und lang. Ich wußte: +wenn die Gespenster der Nacht auch nicht auf immer +gebannt waren, so würden sie doch keine Macht mehr +gewinnen über ihn.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Die Schiedsgerichts-Verhandlungen zogen sich +wochenlang hin. Es war eine seelische Folter +für meinen Mann, und wenn er nach Hause +kam, gab ich mir alle Mühe, ihn nicht merken zu lassen, +wie ich selber litt.</p> + +<p>Draußen entwickelte sich wieder in der alten Weise +der politische Kampf: Radikale und Revisionisten arbeiteten +scheinbar einmütig zusammen. Es galt diesmal +den Landtagswahlen. Mich rief niemand zu Hilfe. Zu +keiner der zahllosen Versammlungen forderte man mich +auf. Ich war die Gezeichnete. Und nirgends schien +eine Lücke entstanden, weil ich fehlte. Ich war wie die +Welle, die im Meere aufsteigt und zurücksinkt, ohne eine +Spur zu hinterlassen.</p> + +<p>Zuweilen trafen wir mit unseren politischen Freunden +zusammen, — zufällig nur, denn die Revisionisten schienen +sich nach Dresden noch mehr aus dem Wege zu gehen, +als vorher. Einmal kamen wir in eine ernstere Unter<a name="Page_521" id="Page_521"></a>haltung, +und ich verurteilte unumwunden ihre Annahme +der Dresdener Resolution.</p> + +<p>»Mir ist es sogar fraglich,« sagte ich, »ob ihre Ablehnung +nicht von einem gemeinsamen Austritt aus der +Partei hätte begleitet werden müssen.« Aber ich stieß +auf allgemeinen Widerspruch.</p> + +<p>»Damit hätten die Radikalen erreicht, was sie wollten,« +rief der eine.</p> + +<p>»Wegen einiger Gegensätze in taktischen Fragen werden +wir doch die Partei nicht im Stiche lassen,« sagte der +andere.</p> + +<p>»Es wäre nichts als Fahnenflucht,« erklärte einer +der Gewerkschafter.</p> + +<p>»Und wir würden zurückbleiben, als Offiziere ohne +Armee,« meinte mein Mann. Ich ließ mich nicht überzeugen.</p> + +<p>»Sie haben trotz allem Bekenntnis zum historischen +Materialismus aus der Geschichte nicht allzu viel gelernt,« +entgegnete ich. »Noch immer ist die Entwicklung +die gewesen, daß eine große Bewegung aus sich +heraus neue Bewegungen zeugt, deren Träger zunächst +nichts sind als ein paar Vorläufer, als Offiziere +ohne Armee. Und was nun gar die Gegensätze +betrifft, so glauben Sie doch nicht ernsthaft an ihre Geringfügigkeit.«</p> + +<p>»Nein,« antwortete einer der anderen, »aber ich glaube, +und habe nach unserer bisherigen Entwicklung ein Recht +dazu, daß unsere Ideen sich im Proletariat von unten +herauf durchsetzen. Wir schließen Lohntarif-Verträge +mit den Unternehmern, und niemand zeiht uns deshalb +eines Vertuschens der <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'Kassengegensätze'">Klassengegensätze</ins>; wir arbeiten in +<a name="Page_522" id="Page_522"></a>den Gemeinden, in den Landtagen, und keiner wagt +uns deshalb wegen des Paktierens mit der bürgerlichen +Gesellschaft anzuklagen. Unsere Genossenschaften fangen +an, wie unsere Gewerkschaften zu einer wirtschaftlichen +Macht zu werden, und kein Radikalinski hat uns noch +vorgehalten, daß das gegen die Zusammenbruchstheorie +verstößt und wir damit bis zum großen Kladderadatsch +warten müßten.«</p> + +<p>Ich schwieg. Der Mann der praktischen Arbeit mochte +gegenüber meinen unklaren Theorien doch wohl recht haben.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Kurz vor Weihnachten legte das Schiedsgericht +von Frankfurt-Lebus dem Parteitag des Kreises +die Resultate seiner Untersuchungen vor, und +die Genossen erteilten ihren Abgeordneten daraufhin einstimmig +das Vertrauensvotum.</p> + +<p>»Und du freust dich gar nicht?!« sagte mein Mann, +als er nachts aus Platkow zurückkam, wo die Versammlung +stattgefunden hatte.</p> + +<p>»Gewiß freue ich mich, — aber im Grunde ist doch +das alles selbstverständlich und macht das Geschehene +nicht ungeschehen,« antwortete ich und dachte an die +Zeitschrift, mit der wir unsere Aufgabe, wie mir schien, +geopfert hatten, an die ungesühnte Kränkung, die noch +immer wie eine schwärende Wunde an mir fraß, an +das verstümmelte, beschmutzte Bild der Partei, das einst +in so leuchtenden reinen Farben vor mir gestanden +hatte, an die große Flamme meiner Liebesleidenschaft, +die über dem Aschenhaufen nur noch leise glimmte.</p> + +<p>Aus meines Mannes Wahlkreis wurde ich wieder zu<a name="Page_523" id="Page_523"></a> +Vorträgen aufgefordert. Seltsam genug: es gab noch +Genossen, die mir vertrauten, obwohl der erste unter +ihnen mich für ehrlos erklärt hatte! In diesen Kreisen +schien das Verständnis für eine Empfindung zu fehlen, +die eine Reminiszenz an meine aristokratische Herkunft sein +mochte, und offenbar zu jenen »Eierschalen der Vergangenheit« +gehörte, über die in der Partei so oft gespottet +wurde. Aber wenn auch die anderen alle darüber hinwegsehen +konnten, ich konnte es nicht. Ich lehnte ab. +Meine Zurückhaltung wurde falsch gedeutet. Meine +Bemerkung über den Austritt aus der Partei mochte +irgendwie durchgeackert sein. Ich sah, daß ich die Stellung +meines Mannes, die trotz des Vertrauensvotums +eine schwierige geblieben war, noch mehr erschwerte. +Und ich hatte mir vorgenommen, ihm nach wie vor ein +treuer Kamerad zu bleiben.</p> + +<p>»Sie können wieder über mich verfügen,« schrieb ich +nach Frankfurt und stürzte mich in die Arbeit, von der +ich hoffte, daß sie sich als Morphium für die Schmerzen +meiner Seele erweisen würde. Und so lange ich am +Schreibtisch über den Zeitungen und Broschüren saß, +hielt sie, was ich von ihr erwartet hatte.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Die Ereignisse schienen mit besonderem Eifer +dafür zu sorgen, daß wir nicht im Bruderzwist +aufgehen konnten. Der Riesenstreik +der Textilarbeiter von Crimmitschau, die nun schon seit +Wochen mit einer Ausdauer ohnegleichen um den Zehnstundentag +kämpften und dem lockenden Gold der Unternehmer +ebenso standhielten wie den Verfolgungen der<a name="Page_524" id="Page_524"></a> +Polizei, ließ uns fühlen, daß wir gegen den Feind so +einig waren wie immer. Und die russische Revolution, +die wie ein vom Sturm gepeitschter Brand von einem +Ende des Riesenreichs zum anderen übersprang, entzündete +in uns allen eine Hoffnung, als ginge der Stern +der Menschheitserlösung nun wirklich im Osten auf. +Daß Preußen-Deutschland sich zum Schleppenträger des +Zarismus erniedrigte, daß russische Polizisten im Verein +mit den unseren die russischen Gäste der Hauptstadt verfolgen +konnten, daß ein Minister die Reichstagstribüne +benutzte, um die russischen Studenten der Berliner Universität +samt und sonders als Anarchisten zu verdächtigen +und ihre weiblichen Kollegen der Unsittlichkeit zu +zeihen, daß der Reichskanzler von ihnen als von +»Schnorrern und Verschwörern« sprach, — das löste +einen Schrei der Entrüstung aus. Die Partei stand +wieder auf dem Posten als die einzige, die leidenschaftlichen +Protest erhob. Und wenn die politischen +Ereignisse nicht auszureichen schienen, um das Bewußtsein +ihrer Zusammengehörigkeit in den Genossen +aufs neue zu festigen, so sorgten unsere Gegner dafür. +Sie schufen den Reichsverband zur Bekämpfung der +Sozialdemokratie, aber die Kette, die sie schmiedeten, um +uns damit zu fesseln, verband uns nur.</p> + +<p>Ich sah das alles. Ich schöpfte Hoffnung daraus +nicht nur für den Kampf nach außen, sondern auch für +die innere Entwicklung, die um so kräftiger zu sein +pflegt, je unbeachteter sie ist.</p> + +<p>Aber als ich zum erstenmal wieder in Frankfurt auf +die Rednertribüne trat und all die vielen Augen sich +auf mich richteten, da versagte meine Kraft. Das Blut +<a name="Page_525" id="Page_525"></a>brannte mir in den Wangen; — sahen die Menschen +mir den Schlag nicht an, den ich empfangen hatte?! +Und ich fühlte feindselige Blicke, spöttisches Lächeln, ich +sprach wie gegen ein Tor von Erz. Meine Zuhörer +blieben kalt.</p> + +<p>»Was fehlte dir nur?« fragte Heinrich mich kopfschüttelnd. +Ich gab eine ausweichende Antwort.</p> + +<p>Noch ein paarmal machte ich ähnliche Versuche. Von +nervöser Aufregung geschüttelt, die mir sonst fremd gewesen +war, trat ich schon vor die Versammlung. Und +dann sprach ich, daß ich mich selbst nicht wieder erkannte.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>»Laß mich eine Zeitlang irgendwo zur Ruhe kommen,« +bat ich eines Tages, mit den Tränen +kämpfend, meinen Mann, der in mich drang, +ihm die Ursache meiner tiefen Verstimmung anzuvertrauen. +»Das alles war ein wenig viel für mich ...«</p> + +<p>Er stimmte mir ohne Besinnen zu. »Wenn es nichts +weiter ist, als daß du Ruhe brauchst!« sagte er aufatmend +und entwarf mir die schönsten Reisepläne. »Ich +würde dir den Weg auf den Mond bahnen wollen, +wenn ich sicher wäre, daß meine Alix wieder gesund +und froh würde.« Und in alter Zärtlichkeit zog er mich +an sich.</p> + +<p>Doch ich wollte weder auf den Mond, noch nach +Italien, noch an die See.</p> + +<p>»Ich möchte nach Grainau —,« bat ich zaghaft, denn +ich wußte, es regte sich immer eine leise Eifersucht in +ihm, wenn die Sehnsucht mich dorthin trieb, wo so viele +Erinnerungen geweckt wurden. »Ilse weiß von Tante<a name="Page_526" id="Page_526"></a> +Klotilde, daß sie diesen Sommer in Augsburg bleibt, — die +Bahn ist also frei, und ein Zimmer find' ich schon +irgendwo für mich und den Kleinen.«</p> + +<p>»Der Bub soll mit?« fragte er mißbilligend. »Dann +hast du ja keine Stunde Ruhe!«</p> + +<p>»— Ich hätte keine, wenn er nicht bei mir wäre,« +antwortete ich.</p> + +<p>Eine Woche später fuhren wir den Bergen entgegen. +Ich biß mir die Lippen wund, um die Tränen zu unterdrücken, +als ich im blauen Dunst der Ferne die ersten +weißen Spitzen aufsteigen sah. Wie hatte ich so lange +leben können ohne sie!</p> + +<p>Es war früh im Jahr. In Garmisch fingen sie gerade +an, die Betten zu lüften und die Fenster weit aufzureißen. +Vier Wochen noch, dann kamen erst die Fremden. +Jetzt war's so still! Kein Radler, kein Wanderer begegnete +uns auf dem Wege nach Grainau. Die Wiesen +standen voll bunter Frühlingsblumen, voll goldgrüner +Spitzen die Bäume, und aus dem Walde kam der erste +süße Maiblumenduft.</p> + +<p>Im Dorf, hinter dem Kirchlein, wo der Weg empor +zum Eibsee führt, stand ein neues blitzblankes Haus +mit einer großen himmelblauen Madonna in der Mauernische. +Der Hof vom Bärenbauern sah daneben ganz +alt und griesgrämig aus.</p> + +<p>»Bä-cke-rei,« buchstabierte mein Junge, der auf seine +Lesekünste sehr stolz war; »hurra! — da gibt's immerzu +weiße Brötchen,« rief er und machte einen Luftsprung — Semmeln +waren sein Leibgericht, »— dahin ziehen wir!«</p> + +<p>Und schon lief er am Gartenzaun entlang, mit dem +großen schwarzen Hund dahinter um die Wette. In +<a name="Page_527" id="Page_527"></a>der Tür erschien der Meister, dicht hinter seinem breiten +Rücken lugte neugierig der kleine Lehrling hervor, beide +mehlbestaubt, und an ihnen vorbei trat grüßend, den +gewichtigen Schlüsselbund über der weißen Schürze, die +blonde Hausfrau. Eben erst hatten sie das Haus gebaut, +erzählte sie lebhaft, als wir die blankgescheuerte +Treppe hinaufstiegen, und schon hätten sie die Kundschaft +der ganzen Gegend. An der »feinen« Wohnung +im ersten Stock gingen wir vorüber, trotz der neuen +städtischen Möbel, die sie uns anpries.</p> + +<p>»Hier droben in den Stuben steht halt nur der alte +Bauernkram,« meinte sie entschuldigend und stieß die +Türe auf. Ein blauer Schrank mit roten Herzen darauf, +eine alte Pendeluhr mit blumenbestreutem Zifferblatt +und einem kreuztragenden Christus darüber, eine +breite gewichtige Truhe voll bunter Heiligenbilder lachten +uns an, wie die Wiesen draußen, so farbenfroh. Einem +Vogelnest ähnlich hing ein kleiner Balkon vor der Glastür, +und durch die Fenster guckte der Waxenstein mit +seinem faltigen Felsengesicht.</p> + +<p>»Da bleiben wir,« sagte ich, und mein Junge lief +durchs Haus in den Garten, und den Hügel hinauf +zum Wald und wieder hinunter auf die Wiese, als müsse +er von allem ringsum Besitz ergreifen.</p> + +<p>Wie gut es war, wieder schlafen zu können und die +müden Augen in lauter Grün und Blau gesund zu +baden! Von den Bauern im Dorf erkannte mich keiner. +Nur der Sepp, mein alter Spielkamerad, rückte mit +einem flüchtigen Aufblitzen des Erkennens in den Augen +an seinem verblichenen grünen Hut. Morgens, während +mein Junge sich unten am See aus Moos und Steinen +<a name="Page_528" id="Page_528"></a>einen kunstvollen Hafen baute, saß ich auf der alten +Bank, dem Rosenhaus gegenüber, das sich mit seinen +geschlossenen Läden und blumenlosen Altanen still und +verzaubert im grünen Wasser spiegelte. Alle Rosenbüsche +vor der Terrasse waren fort.</p> + +<p>»Letzten Herbst hat die alte Frau Baronin sie ausgraben +lassen,« erzählte meine Hausfrau. »Sie wird +wohl nimmer wiederkommen,« fügte sie hinzu.</p> + +<p>»Warum nicht?!« fragte ich erstaunt.</p> + +<p>»Schon wie sie wegfuhr, war sie nicht zum Erkennen. +Auch so arg brummig und bös. Der alte Doktor von +Garmisch meint, sie macht's nimmer lang.«</p> + +<p>Ich erschrak. Von ihrer Krankheit wußte ich, aber +nicht, daß es so schlimm um sie stand.</p> + +<p>»Das Fräulein von Kleve ist allweil um sie, Tag +und Nacht,« berichtete die kleine blonde Frau weiter, +die froh war, wenn sie schwatzen konnte, »aber die +Theres', die alte Köchin, hat mir kurz vor der Abreis' +noch erzählt, daß die Frau Baronin Herzweh hat nach +einer anderen,« — dabei traf mich ein neugierig-forschender +Blick — »einer, die sich grad so schreibt, wie Sie —«</p> + +<p>Ich antwortete nicht ... Mit meiner Ruhe war es +wieder vorbei. Alles wurde lebendig, was unter diesen +Buchen, an diesem See, angesichts dieser Berge an Haß +und Liebe, an Sehnsucht und Verzweiflung, an Trennungsweh +und Zukunftshoffnung geweint und gejauchzt, +geseufzt und gelächelt hatte. Ich war nie mehr allein, +und es war nie mehr still um mich. Wo ich ging und +stand, — meine ganze Vergangenheit umringte mich, +und wenn ich schlafen wollte, flüsterte es mir ins Ohr: +anklagend, höhnend, drohend.</p> + +<p><a name="Page_529" id="Page_529"></a>Eines Vormittags, — ich saß wieder am alten Platz, +mit dem Buch im Schoß und sah zu dem toten Haus +hinüber, — kam der Bub vom Bärenbauern mir nachgelaufen:</p> + +<p>»A Depeschen wär da für Sie —« Ich riß sie ihm +aus der Hand, sie bestätigte nur, was ich erwartet +hatte: »Baronin Artern heute morgen verschieden. Ihr +sofortiges Kommen erwünscht.«</p> + +<p>Wir reisten noch am selben Tage nach Augsburg. +Mich erfüllte nur ein Gefühl: daß ich ihr viel zu verdanken +hatte und sie im Kummer um mich gestorben +war.</p> + +<p>In voller Sommerpracht blühte der Garten um das +schöne Haus. Weinend empfing mich die Theres'.</p> + +<p>»Warum sind's bloß nit a Wochen früher gekommen —,« +sagte sie immer wieder. Ich vertraute meinen Sohn +ihrem Schutz. »Du herzig's Buberl,« schluchzte sie, +»wenn die Frau Baronin nur dich gekannt hätt'!« Ich +fing an zu begreifen, und jetzt erst fiel mir ein, daß +der Tod dieser Frau meines Sohnes ganze Zukunft +sichern sollte.</p> + +<p>Einen Augenblick lang fröstelte mich. Aber nein: +wie konnt' ich nur zweifeln, — auch die alte Theres' +sah in ihrer Liebe zu mir nur Gespenster. Meinem +Vater hatte die Tote ihr Wort verpfändet. Ich wandte +mich zur Treppe.</p> + +<p>»Gnä' Frau wollen doch nicht —,« rief die Theres' +und griff nach meinem Arm.</p> + +<p>»Selbstverständlich,« antwortete ich und nahm den +Strauß frischer Maiglöckchen vom Grainauer Wald aus +ihrer Hülle.</p> +<p><a name="Page_530" id="Page_530"></a></p> +<p>»Sie sind alle oben, — die Herren Leutnants und +das Fräulein,« flüsterte sie ängstlich.</p> + +<p>Ich warf den Kopf zurück und richtete mich gerade +auf. »Hier bin ich zu Hause gewesen, nicht sie,« sagte +ich laut und schritt die Stufen empor. Hinter der Türe +des Eßzimmers hörte ich Stimmengewirr.</p> + +<p>»Sie wird nicht kommen —,« sagte einer. Ich trat +ein. Wie vor einer Geistererscheinung sprangen sie von +den Stühlen, meine Vettern und Basen, die sich hier +häuslich niedergelassen hatten. Ich ging ohne Gruß an +ihnen vorüber, durch die Flucht der Zimmer mit ihren +kostbaren Teppichen und seidenen Möbeln, die mir alle +so lebendig schienen, so vollgesogen von Vergangenheit. +Im Musiksaal, vor der letzten Türe zögerte ich. Mir +klang in den Ohren, was die Tote vor Jahrzehnten +aus diesem Flügel hervorgezaubert hatte. Ich war ein +Kind gewesen damals; die Töne waren an mir vorbeigerauscht; +jetzt erst verstand ich sie: wieviel Leidenschaft, +wieviel ungestillte Sehnsucht hatte das Herz der Frau +bewegt, die nun auf immer verstummt war.</p> + +<p>Sie lag aufgebahrt, vom betäubenden Duft unzähliger +Blumen umgeben, auf ihrem Lager. Ich stand wie erstarrt. +Ich konnte nicht in die Kniee sinken und nicht +den Blick losreißen von ihr: das war sie doch gar nicht, — das +war eine Fremde! Nie hatte ich um ihren +Mund diesen grausamen Zug gesehen und auf ihrer +Stirn diese vielen finsteren Falten. Die ich gekannt +hatte, die mich liebte, war eine andere gewesen. Ich +hielt den Strauß Maiglöckchen noch in der Hand, als +ich das Haus verließ.</p> + +<p>Wir geleiteten sie zu Grabe. All jene alten augs<a name="Page_531" id="Page_531"></a>burger +Familien mit den berühmten Namen und unberühmten +Nachkommen folgten ihrem Sarge. Aber vor +der dunkeln Pforte des Erbbegräbnisses der Artern +weinten von allen, die es umgaben, nur zwei: die alte +Theres' und ich. Und von denen, die mir einst nahe +gestanden hatten, grüßte mich nur einer: mein alter +Lehrer, der Pfarrer.</p> + +<p>Er besuchte mich am Nachmittag im Hotel, und erzählte +mir von seinem letzten Zusammensein mit der Verstorbenen. +Vor kaum zwei Monaten war es gewesen; +sie hatte ihn zu sich bitten lassen, um von mir zu sprechen.</p> + +<p>»Sie hat Ihretwegen mehr gelitten, als sie sich merken +ließ,« sagte er.</p> + +<p>»Meinen Sie?!« fragte ich zweifelnd und dachte an +das fremde Gesicht, das ich auf dem Totenbett gesehen hatte.</p> + +<p>»Ich bin dessen sicher,« antwortete er; »sie wird es +Ihnen auch noch beweisen,« fügte er bedeutungsvoll hinzu.</p> + +<p>Dann kam ihr Bankier, um mir über den Zeitpunkt +der Testamentseröffnung Mitteilung zu machen. »Frau +Baronin hat mich ausdrücklich beauftragt, Sie, als ihre +Haupterbin, um Ihre Anwesenheit zu ersuchen,« erklärte er.</p> + +<p>Etwas wie Freude begann heimlich von meinem Herzen +Besitz zu ergreifen, und Dankbarkeit löschte alle Erinnerung +an die grausamen Züge der Toten aus. Sie hatte +mir, da sie lebte, oft bitter weh getan, und nun nahm +sie die schwere Sorgenlast des Lebens auf einmal von mir!</p> + +<p>Es kränkte mich, daß die Theres' mich so mitleidig +ansah.</p> + +<p>»Ich weiß, was ich weiß —,« sagte sie, »die da oben —« +und sie ballte die Faust nach dem Zimmer, wo die Kleves +mit dem Testamentsvollstrecker verhandelten, »— waren +<a name="Page_532" id="Page_532"></a>immer bei ihr, — ich hab' oft genug gehört, wie sie von +Alix Brandt erzählten —.«</p> + +<p>Acht Tage später versammelten sich die Erben zur +Testamentseröffnung im Gerichtsgebäude. Ein nüchterner +Raum mit kahlen Wänden. Kastanienbäume vor den +Fenstern, durch die kein Sonnenstrahl drang. An den +Pulten der grauköpfige Richter, der krumme Schreiber. +Auf den steifen Stühlen wir alle in schwarzen Kleidern. +Zwei Schriftstücke aus verschiedenen Zeiten wurden verlesen. +Das erste entsprach der Mitteilung ihres Bankiers. +Das zweite, — sie hatte es sechs Wochen vor ihrem Tode +auf dem Krankenbett geschrieben, — enthielt nur ein +paar Zeilen: »Hiermit enterbe ich meine Nichte, Frau +Alix Brandt, geborene von Kleve, weil sie in Wort und +Schrift der Umsturzpartei dient.«</p> + +<p>Es wurde ganz still im Zimmer. Die Köpfe all derer, +die neben mir saßen, senkten sich; mich aber überkam +ein Gefühl des Triumphes. Mit fester Hand setzte ich +als Erste meinen Namen unter das Protokoll und verließ +das Zimmer, an den anderen vorbeigehend, die +scheu zur Seite wichen, erhobenen Hauptes.</p> + +<p>Jetzt war meiner Überzeugung auch das letzte zum +Opfer gefallen. Die Schmach von Dresden war ausgewischt. +Das Schicksal selbst zwang mich auf meine +eigenen Füße. Nun war ich stark genug, allein zu +gehen.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_533" id="Page_533"></a></p> +<h2><a name="Funfzehntes_Kapitel" id="Funfzehntes_Kapitel"></a>Fünfzehntes Kapitel</h2> + + +<p>Draußen auf dem Asphalt brannte die Sommersonne. +Ein Geruch von Pech und Staub erfüllte +die gewitterschwere Luft. In dem +dunkelsten Winkel einer jener öden Straßen Berlins, +die keine anderen Farben haben als die grellbunten der +Firmenschilder, die kein neugierig flanierendes Publikum +kennen, weil ihnen die Anziehungskraft glänzender Schaufenster +fehlt, hatte der Sommer sein ganzes Füllhorn +ausgeschüttet: Ein enger Hof war zum Blumenteppich +geworden, eine graue Eingangshalle zum Laubengang. +Und öffnete sich die Doppeltür des hohen Gebäudes dahinter, +so schlug Sommerblumenduft dem Eintretenden +entgegen. War er von der nüchternen Straße in einen +Palast geraten? Zwischen blühenden Büschen standen +weiße Bänke, auf den Tischchen davor rote Rosen in +Gläsern von geschliffenem Kristall. Eine Flucht fürstlicher +Räume schloß sich daran, mit weichen Teppichen +auf dem Estrich und Gobelins an den Wänden und +tiefen Sesseln vor den Kaminen. Frauenbildnisse hingen +in den langen Galerien daneben; ein Rascheln und +Knistern von Frauenkleidern, ein Wispern und Flüstern +von Frauenlippen war darin. In den großen Sälen +saßen dicht gedrängt von früh bis spät lauter Frauen +<a name="Page_534" id="Page_534"></a>und lauschten mit sehnsüchtigen Augen und heißen Wangen +den Rednerinnen, die ihnen vom Kampf und Sieg, vom +Wünschen und Hoffen ihres Geschlechts erzählten.</p> + +<p>Das Weltparlament der Frauen tagte hier. Während +acht Tagen wurde in vier Sektionen zugleich verhandelt. +Kunst und Wissenschaft, Erziehung und Unterricht, +Recht und Sitte — nicht ein Gebiet, das das +Leben des Weibes berührt, blieb unerörtert. Die Großen +sprachen und die Kleinen, die Vorsichtigen und die Draufgänger, +die Weiten und die Engen. Es war eine Revue +der Frauenbestrebungen, ein neutraler Boden für alle +Richtungen, eine freie Bahn, um einander kennen zu +lernen. Nur die Sozialdemokratie Deutschlands hatte +sich selbst ausgeschlossen, obwohl die Leitung des Kongresses +ihr alle Referate über die Arbeiterinnenfrage +hatte überlassen wollen und ihr damit die Gelegenheit +geboten worden wäre, das Elend der Massen zu schildern, +das sonst in diese Säle keinen Eingang fand, und +die Lehren des Sozialismus zu verkünden, die die Hunderte +und Tausende, die hierher kamen, nur in den Zerrbildern +seiner Gegner gesehen hatten.</p> + +<p>Vor acht Jahren hatte ich mich diesem Beschluß gefügt: +die christliche Idee der notwendigen Einheit von +Glaubensdienst und Selbstaufopferung, die ich durch ein +Leben der Selbstbehauptung glaubte überwunden zu +haben, hatte in dem Augenblick wieder von mir Besitz +ergriffen, wo ich mich der Sozialdemokratie anschloß. +Die »Sache« war die mystische Macht gewesen, die über +mir gestanden hatte. Sie war bei mir, wie bei Hunderttausenden +meiner Genossen, — als wolle Gott, der von +uns verlassene, sich an uns rächen, — an seine Stelle +<a name="Page_535" id="Page_535"></a>getreten. Nun aber war der Bann gebrochen. Daß +ich den zur Hochburg der Frauen verwandelten Musikpalast +Berlins betrat, war ein erstes Zeichen innerer +Befreiung.</p> + +<p>Ich sprach überall, wo die Interessen der Arbeiterinnen +zur Debatte standen. Und allmählich strömten die Frauen +mir nach, wenn ich von einem Saal zum anderen ging, +und manche Diskussion, manche persönliche Unterhaltung +bewies mir besser als Beifallssalven, die oft nur der +Freude an der Sensation gelten mochten, daß der Samen +des Sozialismus auf guten Boden gefallen war. Gewiß, +solche Wirkungen lassen sich nicht messen, sie +kommen nicht in den Zahlen der Partei- oder Gewerkschaftsmitglieder +zu sichtbarem Ausdruck, aber auch sie +rufen in Haus und Schule, in Gesellschaft und Staat +jene Kräfte hervor, die von innen heraus an der allmählichen +Umwandlung der Geistesrichtung der Menschen +tätig sind. Während ich hin und herging und +diese und jene hörte, sah ich wie groß die Wandlung +schon war, die die Frauenbewegung im Laufe des letzten +Jahrzehnts durchgemacht hatte.</p> + +<p>Damals hatten sie sich vor mir gefürchtet, als ich +in ihrem Kreise der Sozialdemokratie Erwähnung tat, +heute stimmten die meisten von ihnen in ihren wesentlichen +Gegenwartsforderungen mit denen der Partei +überein. Damals war es innerhalb der bürgerlichen +Frauenbewegung eine vereinzelte Tat gewesen, als ich +das Frauenstimmrecht in öffentlicher Versammlung forderte, +heute wurde in den Mauern Berlins der Bund +für Frauenstimmrecht gegründet So ging es doch vorwärts, +auch da, wo meine Parteigenossen nichts als<a name="Page_536" id="Page_536"></a> +Stillstand sahen, nichts anderes bemerken wollten, weil +sie meinten, den dunkeln Hintergrund einer einheitlichen +Reaktion nötig zu haben, um sich selbst in um so hellerem +Licht zu sehen, statt auch aus leisen Tönen den Siegesmarsch +des Sozialismus herauszuhören. Mein Mann +hatte ein wenig spöttisch den Mund verzogen, — zu +einem wirklichen Lächeln kam es bei ihm kaum mehr, — als +ich an dem Kongreß teilnahm.</p> + +<p>»Du bist ein Trotzkopf,« hatte er gesagt; »du übersiehst +in dem Eifer, mit dem du dich dem Beschluß der +Genossinnen entgegenstemmst, die Folgen, die solch eine +Handlungsweise für dich haben kann. Man wird dich +vollends boykottieren.«</p> + +<p>Ich zuckte die Achseln.</p> + +<p>»Solltest du wirklich schon so weit über den Dingen +stehen?!« fragte er zweifelnd. Ich wandte mich ab. Er +sollte nicht sehen, daß ich schwächer war, als ich mich +zeigte.</p> + +<p>Als ich sichtlich erfrischt aus den Verhandlungen nach +Hause kam, meinte er unmutig: »Vor acht Jahren gefielst +du mir besser als jetzt, wo du dich freust, weil +dieselben Leute dir Beifall klatschen, die damals sittlich +entrüstet waren —«</p> + +<p>Ich unterbrach ihn heftig: »Wie kannst du mich so +mißverstehen! — Gewiß, ich bin nicht von Stein, ich +freue mich, wenn ich höre, wie die Ideen meiner ›Frauenfrage‹ +Verbreitung gefunden haben, ich freue mich, daß +die Mutterschaftsversicherung, daß selbst die Haushaltungs-Genossenschaft +aus dem Stadium des Bewitzelns +in das ernster Erörterung getreten ist, und ich leugne +auch gar nicht, daß Anerkennung mir wohl tut, als +<a name="Page_537" id="Page_537"></a>tröpfle mir jemand ein schmerzstillendes Mittel in eine +unheilbare Wunde, — aber das Alles ist doch nicht die +Ursache meiner Befriedigung. Mein Glaube an die +Entwicklung im Sinne des Sozialismus ist das einzig +Feste, was mir noch nach all dem Zusammenbruch geblieben +ist. Wenn ich nur das Geringste entdecke, was +ihn zu stützen, zu kräftigen vermag, so macht mich das +stärker.«</p> + +<p>»Du bist doch noch sehr jung und sehr bescheiden!« +warf Heinrich ein. Ich unterdrückte einen Seufzer. +Seine morose Stimmung war imstande, jede Spur erwachter +Freudigkeit wieder zu zerstören, wie der Fluß, +wenn er im Frühjahr aus seinen Ufern tritt, mit öder +weiter Wasserfläche die blühenden Wiesen bedeckt. Ich +fühlte, wie auch meine Arbeitskraft darunter litt, wie +Gedanke und Gefühl erstarrten, sobald sie in die eisige +Atmosphäre seiner Deprimiertheit gerieten.</p> + +<p>Leise, unmerklich zunächst und doch von Tag zu Tag +mehr, löste ich mich von ihm. Das Problem der Ehe +wuchs, eine üppige Schlingpflanze, und drohte zu überwuchern, +was noch an Liebe zu blühen verlangte.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Für die Frauenbewegung war der Kongreß neuer +Wind in die Segel gewesen. Alle Fragen, +die sie umfaßte, standen wieder im Mittelpunkt +der öffentlichen Diskussion. Das Für und Wider wurde +leidenschaftlich erörtert, und in der konservativen kirchlichen +Presse erhoben sich lauter als früher die Stimmen +derer, die mit dem Feldgeschrei: Erhaltung der Ehe und +der Familie! den Emanzipationsbewegungen des weib<a name="Page_538" id="Page_538"></a>lichen +Geschlechts gegenübertraten. In einer Versammlung, +die von einem der bürgerlichen Frauenvereine +einberufen worden war, sollte diesen Angriffen begegnet +werden. Ich ging hin. Mehr aus Neugierde, und weil +es mich belustigte, daß lauter ehelose alte Mädchen sich +für berufen hielten, über diese Probleme zu urteilen, als +in der Absicht selbst zu sprechen.</p> + +<p>Die Referentin verteidigte zuerst die Frauenbewegung +als die Begründerin eines neuen, schöneren, festeren +Ehe- und Familienlebens:</p> + +<p>»Gerade der Bund zwischen zwei gleichen, geistig und +sittlich gereiften Menschen ist der glücklichste, dauerndste,« +sagte sie. »Der Mann wird in der Frau nicht mehr +nur die Geliebte, die Mutter seiner Kinder sehen, sondern +eine Kameradin, die seine Interessen teilt und +fördert. Das Familienleben wird sich dadurch erneuern, +denn der Mann braucht nicht mehr außerhalb seines +Hauses geistiger Anregung, geistigem Austausch nachzugehen...«</p> + +<p>Mich reizte der salbungsvolle Ton, mit dem sie sprach, +und die Art, wie sie die Wogen der Frauenbewegung +durch das Öl unbeweisbarer Prophezeiungen zu besänftigen +suchte. Ich meldete mich zum Wort.</p> + +<p>»All Ihre schönen Argumente,« rief ich aus, »beruhen +auf einem Trugschluß: der Instinkt der Sinne ist +doch nicht identisch mit dem geistigen Verständnis! Nichts +gibt die Gewähr dafür, daß zwei geistig reiche Individualitäten, +die einander in heißer Liebe begehren, nun +auch mit all den feinen Regungen ihres Seelen- und +Geisteslebens zusammenstimmen, Regungen, die um +so differenzierter sind, je höher entwickelt der Einzelne +<a name="Page_539" id="Page_539"></a>ist. Und wer vermag zu sagen, ob nicht trotz geistiger +Übereinstimmung die Liebe erkaltet oder sich auf einen +anderen Gegenstand richtet? Denn auch die Liebesgefühle +und das Liebesbegehren ist vielgestaltiger, differenzierter +geworden und nicht mehr so leicht und so unbedingt +zu befriedigen ... Nein, meine Damen, lassen +Sie sich nicht einlullen durch falsche Prophezeiungen, +sammeln Sie vielmehr Ihre Kräfte durch die klare Erkenntnis +neuer Probleme. Mit dem durch die Angst +um die Gefährdung alten geliebten Besitztums geschärften +Spürsinn des Feindes haben die Gegner bald empfunden, +was ihnen droht: Je mehr sich das Weib zur +selbständigen Persönlichkeit entwickelt, mit eigenen Ansichten, +Urteilen und Lebenszielen, desto mehr ist die +alte Form der Ehe bedroht. Ihr Glück beruhte nicht +auf Gleichheit, sondern auf Unterordnung, nicht auf +Arbeitsgemeinschaft, sondern auf Arbeitsteilung. Für +den Mann war die Ehe von einst, an der Seite einer +von den Kämpfen der Zeit unberührten, nur der Sorge +des Hauses lebenden Gattin, der Hafen der Ruhe. +Heute findet er daheim neben der ihm geistig ebenbürtigen +Frau dieselbe Nervosität, dasselbe geistig angespannte +Leben wie draußen. Für die Frau war er +das einzige Symbol alles äußeren Lebens, allein von +ihm empfing sie gläubig die Botschaften der Welt, die +Ansichten und Urteile über sie. Jetzt kennt sie das +Leben aus eigener Anschauung, sie denkt selbständig, sie +übersteht ihn vielfach; sie findet in ihm so wenig den +Schöpfer ihres inneren Lebens, als er in ihr die Quelle +der Ruhe und des Behagens findet. Was früher einte: +das Zusammenleben, kann heute schärfer trennen, als +<a name="Page_540" id="Page_540"></a>jede äußere Trennung es vermag ... Es kommt aber +auch gar nicht darauf an, daß wir mit heißem Bemühen +die Ehe retten; mag sie an der Entwicklung +zerschellen, wie manche andere Lebensform, wenn nur +der Kern erhalten bleibt: die Liebe.«</p> + +<p>Man hatte mir mit steigender Erregung zugehört. +Ich sah, wie eine Frau nach der anderen sich mit hochrotem +Gesicht zum Worte meldete. Sie überfielen mich +förmlich. Als eine Vertreterin der freien Liebe, eine +mit deren Ideen ihre Begebungen nicht das mindeste +zu tun hätten, griffen sie mich an.</p> + +<p>»Ihre Verteidigung nützt Ihnen nichts,« antwortete +ich nochmals. »Die ersten Träger einer Entwicklung +sind nur in seltenen Fällen zugleich die Propheten +ihrer letzten Konsequenzen gewesen. Als Luther seine +93 Thesen an die Schloßkirche zu Wittenberg schlug, +glaubte er, die Zyklopenmauer der katholischen Kirche, +die hier und da abzubröckeln begann, fester aufzubauen. +Als Montesquieu seinen <em class="antiqua">'Esprit des lois'</em> und Rousseau +seinen <em class="antiqua">'Emile'</em> schrieb, glaubten sie einige dunkle Gebiete +des Staats und der Gesellschaft aufzuhellen. Keiner +von ihnen wußte, daß sie die Brandfackel in das ganze +Gebäude warfen. Auch Sie propagieren Reformen und +werden zu Trägern der Revolution...«</p> + +<p>Als ich geendet hatte, kämpfte lautes Zischen mit +vereinzeltem Beifall; als ich aber den Saal verließ, +leuchteten mir aus jungen Gesichtern dankerfüllte Blicke +entgegen; es war nicht nur mein eigenes Erleben gewesen, +das ich in Worte gefaßt hatte.</p> + +<p>An der Türe traf ich meinen Mann, der mir, ohne daß +ich es wußte, gefolgt war. Ich errötete unwillkürlich.</p> +<p><a name="Page_541" id="Page_541"></a></p> +<p>»War das ein Bekenntnis?« fragte er. Ich nickte. +»Wollen wir nicht auch unsere Liebe retten?« fuhr er +leise fort und zog meinen Arm durch den seinen. Mir +wurde warm ums Herz: wie gut er war! Ein tiefes +Schuldbewußtsein bemächtigte sich meiner: Waren es +nicht im Grunde lächerliche Kleinigkeiten, die uns voneinander +entfernten, war es nicht frevelhaft, aus selbstischen +Motiven den großen Schatz der Liebe aufs Spiel +zu setzen? Ein böser Zauber hatte ihn in die Tiefe +versenkt, war er es nicht wert, daß ich ihn durch +meine Hingabe erlöste?</p> + +<p>Ich wußte, was meinen Mann bedrückte, aber ich +hatte es bisher nicht sehen wollen. Je mehr er litt, +desto schweigsamer wurde er; nur an den gefurchten +Zügen, an den finsteren Blicken, und hie und da an +einem hingeworfenen Wort erkannte ich, daß er sich in +selbstquälerischen Vorwürfen verzehrte. Die Schatten +des Dresdener Kongresses fielen noch breit über den +Weg der Partei, — er fühlte sich mitschuldig daran. +Und er hatte in einem Moment fortgeworfen, wodurch +er der Partei wieder hätte helfen können, die Schatten +zu bannen: die Neue Gesellschaft.</p> + +<p>»Das Aufgeben der Zeitschrift war heller Wahnsinn,« +sagte er zuweilen. Aber war nicht der Verkauf des +Archivs schon Wahnsinn gewesen? Und ich hatte ihn +darin bestärkt, ich war mitschuldig, wenn er Schiffbruch +litt! Und in diesem Augenblick hatte ich ihn +im Stiche lassen wollen! Hatte mich bitter gekränkt +gefühlt, weil er seine Stimmung nicht beherrschte, weil +er es an Liebesbeweisen fehlen ließ!</p> + +<p>Ich wußte auch, was ihm helfen würde. Oft genug +<a name="Page_542" id="Page_542"></a>sprach er davon: die Neue Gesellschaft wollte er wieder +erscheinen lassen. Aber wenn er mich dabei fragend +ansah, so schwieg ich, und ein heftiges Wort schwebte +mir jedesmal auf der Zunge. Richtete er eine direkte +Frage an mich, so äußerte ich rücksichtslos meinen +Widerspruch.</p> + +<p>»Nicht drei Monate würden wir mit dem bißchen, +was wir aus dem Zusammenbruch gerettet haben, die +Zeitschrift halten können,« sagte ich, »und ich habe +schon zu viel an Sorgen ertragen, um sehenden Auges +dem vollständigen Ruin entgegenzugehen.«</p> + + + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Wenn Graf Bülow im Reichstag über den Dresdener +»Jungbrunnen« höhnte, wenn jedes +ernste Wort unserer Fraktionsredner im Gelächter +der bürgerlichen Parteien erstickte und die Kraft unserer +81 Abgeordneten lahmgelegt blieb seit Dresden, so +waren das nicht vereinzelte Erscheinungen, sondern Symptome +der allgemeinen Stimmung der Partei gegenüber. +Und ein Wochenblatt sollte imstande sein, sie zu zerstreuen? +Immer deutlicher rückte alles ab von uns, was uns +nahegestanden hatte. Noch kam ich zuweilen in Künstler- und +Literatenkreise, aber ich fühlte sogar ein persönliches +Sichzurückziehen. Das Interesse wandte sich augenscheinlich +ganz anderen Gebieten zu. Die <em class="antiqua">l'art pour l'art</em>-Stimmung +breitete sich aus. Mit dem Verschwinden +der Arme-Leute-Bilder und Dramen verschwand die oppositionelle +Gesinnung. Dichter und Maler, die noch +vor kurzem wenigstens durch lange Haare, Samtjacken +und fliegende Krawatten den Bohemien markiert hatten, +<a name="Page_543" id="Page_543"></a>exzellierten jetzt in tadellos weltmännischen Allüren und +beurteilten den lieben Nächsten nach seinem Schneider. +Wie vor wenigen Jahren noch der Weg ins Volk die +Parole der künstlerisch-literarischen Jugend gewesen war, +so wurde jetzt die Vornehmheit Trumpf. Nicht jene +echte der Bewegung und Gesinnung, die der Gefahr +des Kopiertwerdens nicht ausgesetzt ist, sondern die +müde der Dekadenz, die sich jeder aneignen kann, dessen +Finger genügend lang, dessen Gestalt genügend schmal +und dessen Charakter genügend biegsam ist.</p> + +<p>»Und von diesem dürren Boden glaubst du ernten zu +können?!« fragte ich meinen Mann.</p> + +<p>»Nein,« entgegnete er, »aber ich bin optimistisch genug, +um auch ihn für bearbeitungsfähig zu halten.«</p> + +<p>Wir widersprachen einander immer. Nur wenn die +Ereignisse in der Sozialdemokratie die feindliche Haltung +gegen die Revisionisten gar zu deutlich hervortreten +ließen, kam es vor, daß er selber sagte:</p> + +<p>»Es ist doch vielleicht noch zu früh!«</p> + +<p>Jeder geringfügige Anlaß genügte, um in der Partei +den heftigsten Streit hervorzurufen. So war einem der +in die Dresdener Skandale verwickelten Revisionisten +die Kandidatur eines sächsischen Wahlkreises angeboten +worden. Alle höheren Parteiinstanzen erklärten sich +dagegen; die Vernichtung der bisher geltenden Autonomie +der Wahlkreise war die Folge, und nun entspann +sich eine leidenschaftlich erregte Diskussion in der Presse, +die auch in Volksversammlungen ihr Echo fand.</p> + +<p>»Die Minderheit hat sich der Mehrheit zu fügen,« +hieß es kategorisch auf Seite der Radikalen.</p> + +<p>»Die Sozialdemokratie hat jede Art von Macht<a name="Page_544" id="Page_544"></a>entfaltung, +die die Minderheit in ihrer Existenz bedroht, +zu bekämpfen, also zu allererst die in den eigenen +Reihen. Es ist Despotie und nicht Demokratie, wenn +die Rechte der Minderheit schutzlos sind,« lautete die +Antwort auf Seite der Revisionisten.</p> + +<p>In einem anderen Fall vertrat ein Parteigenosse in +bezug auf die Zollfragen theoretisch von den Ansichten +der Partei abweichende Meinungen. Er wurde einem +hochnotpeinlichen Verhör unterzogen, und sein Ausschluß +aus der Partei war die Forderung vieler. Wortglaube, +nicht Geistesglaube war für die Dogmatiker Voraussetzung +der Parteizugehörigkeit.</p> + +<p>Ich hörte überall dieselbe Dissonanz heraus, die in +mir tönte: Selbstbehauptung gegen Selbsthingabe, — Individualismus +gegen Sozialismus, — dieselbe Dissonanz, +die dem Dresdener Konzert zugrundegelegen und +keine Auflösung gefunden hatte. Ob mein Mann und +mit ihm seine politischen Freunde wohl im Rechte +waren, wenn sie behaupteten, daß die Einheit in der +praktischen Tagespolitik über diese inneren Gegensätze +hinweghelfen würde?</p> + +<p>Wenn ich meine Zweifel äußerte, so war es Reinhard +vor allem, der sie auf Grund seiner Erfahrungen +zu entkräften suchte.</p> + +<p>»Sie sollten bei uns in den Gewerkschaften lernen,« +sagte er; »da besteht diese Einheit tatsächlich und ist die +Grundlage unseres wachsenden Einflusses geworden.«</p> + +<p>Ich erinnerte mich dann der Zeiten, wo er unter den +Politikern der radikalsten einer gewesen war, und ich +konnte mich der Empfindung des Bedauerns nicht erwehren: +damals durchglühten die Ideale des Sozialis<a name="Page_545" id="Page_545"></a>mus +seine Reden, heute schien nicht nur sein Handeln, +sondern auch sein Denken den Horizont des Auges nicht +mehr zu überschreiten. Arbeiterrechte und Freiheiten +rang er mit eiserner Energie dem Unternehmertum ab +und richtete den Blick bei jedem Schritt vorwärts konsequent +nur auf den nächsten Schritt. Darin lag vielleicht +seine Kraft. Aber die Stimmung praktischer +Nüchternheit, die ihn beherrschte, war nicht die Atmosphäre, +in der die umfassenden Ideen der Menschheitsbefreiung +sich entfalten.</p> + +<p>Mein Mann, der gerade in dieser Richtung auf die +Forderungen des Tages das Heilmittel für die inneren +Schäden der Partei zu finden glaubte, beschäftigte sich +viel mit den Gewerkschaften.</p> + +<p>»Das sind die Kerntruppen,« meinte er, »ihre Wünsche +und Bedürfnisse müssen wir kennen, wenn wir einmal +mit unserer Zeitschrift wirken wollen.«</p> + +<p>Wir besuchten ihre Versammlungen. Ruhige Arbeit +herrschte hier. Mit tiefgründiger Kenntnis wurden sozialpolitische +Fragen behandelt, besonders die des Heimarbeiterschutzes, +die damals im Mittelpunkt des Interesses +standen. Es war bezeichnend für den Geist der +Gewerkschaftsbewegung gewesen, daß fast zu gleicher +Zeit, wo die Einladung zum Frauenkongreß von den +Sozialdemokratinnen abgelehnt worden war, die Generalkommission +der Gewerkschaften den Heimarbeiterschutz-Kongreß +einberufen und die Interessenten aus bürgerlichen +Kreisen zur Teilnahme aufgefordert hatte.</p> + +<p>Aber wenn die bewußte Beschränkung der Bewegung +auf der einen Seite einen erstaunlichen Grad von +Wissen, von Energie, von Zielsicherheit zeitigte, so ent<a name="Page_546" id="Page_546"></a>wickelte +sich auf der anderen Seite eine gewisse Engigkeit, +ein Organisationsegoismus, der vom Standesdünkel +alter Zeiten nicht zu weit entfernt war. Ich agitierte +selbst für die Gewerkschaften; ich verfocht in Versammlungen +die Forderungen zum Heimarbeiterschutz, die wir +im Kongreß aufgestellt hatten, ich wußte, wie notwendig +das alles war, aber ich hätte darin nicht aufzugehen +vermocht, und es schien mir nicht unbedenklich, daß so +viele tüchtige Kräfte, von der politischen Bewegung +angewidert, mehr und mehr darin aufgingen. Tönte +nicht der starke Pulsschlag der Zeit nur gedämpft hierher, +wo sich Kräfte und Gedanken im engen Kreis der +Organisationsarbeit, der Sozialreform bewegten? Lagen +hier nicht die Keime einer gefährlichen Entwicklung von +Egoismus gegen Sozialismus?</p> + +<p>Allmählich war's, als öffneten sich mir immer neue +Tore mit weiten Ausblicken auf unbekannte Gebiete der +Arbeiterbewegung. Eine Schulvorlage, die von der +preußischen Regierung schon lange in Aussicht gestellt +war und auf Einführung konfessioneller Schulen hinauslief, +rief in der Presse und in Versammlungen eine +lebhafte Kontroverse über Erziehungsfragen hervor. Der +bloße selbstverständliche Protest dagegen, die bloße Forderung +der Trennung von Schule und Kirche genügte +nicht mehr. Wer sich aus Arbeiterkreisen an den Debatten +beteiligte, der hatte sich auch mit den Details +der Frage beschäftigt, und ein Verlangen nach weiterer +Aufklärung wurde laut. In einer kleinen Versammlung +vor den Toren Berlins hörte ich einen alten Arbeiter +von Pestalozzi sprechen. Er hatte ihn nicht nur +gelesen, sondern in sich aufgenommen und schilderte die<a name="Page_547" id="Page_547"></a> +Arbeitsschule der Zukunft, die an Stelle der »Paukschule« +der Gegenwart treten würde, mit demselben +Enthusiasmus, wie ein anderer sich über den Zukunftsstaat +verbreitet haben würde. Auf solche und ähnliche +Erfahrungen hin wagte ich es, die »pädagogische Provinz«, +Goethes Erziehungsutopie, zum Gegenstand eines +Vortrags zu machen. Ein Riesenauditorium, das nur +aus Arbeitern bestand, folgte mit gespannter Aufmerksamkeit +allem, was ich sagte, und in der Diskussion +zeigte sich nicht nur, daß ich verstanden worden war, +sondern auch wie viele ihren Goethe gelesen hatten. +Jetzt fing ich an, mit erwachtem Interesse den nicht +politischen Versammlungen nachzugehen, und ich entdeckte +mit wachsendem Staunen suchende Menschen, nicht nur +fordernde. Wo religiöse, wo philosophische Fragen angeschnitten +wurden, war das Interesse am stärksten. +Jener brutale philosophische Materialismus, der alles +leugnete, was sich nicht mit Händen greifen ließ, und +für die Masse der Sozialdemokraten um so mehr an +die Stelle kirchlich-dogmatischen Glaubens getreten war, +als sie ihn in naheliegender Begriffsverwirrung mit +dem Grundprinzip des Marxismus, dem historischen +Materialismus, zusammengeworfen hatten, beherrschte +nicht mehr so uneingeschränkt wie früher die Gemüter. +Der Unglaube, der geblieben war und neben alles Unabweisbare +sein Fragezeichen aufrichtete, schien erfüllt +von Sehnsucht und Heimweh.</p> + +<p>Junge und alte Männer begegneten mir, die in ihrer +freien Zeit verschlangen, was ihnen an philosophischen +Schriften erreichbar war: neben Kant und Schopenhauer +das seichteste Gewäsch sogenannter Popularphilo<a name="Page_548" id="Page_548"></a>sophie, +neben Dietzgen, dem Parteiphilosophen, allerhand +theosophische, selbst spiritistische Schriften. In der Qual, +mit der sie immer wieder versuchten, die geistige Vernachlässigung +ihrer Jugendjahre zu überwinden, die +Grundlagen des Denkens und Wissens, die ihnen fehlten, +nachzuholen, lag eine größere Tragik als in der leiblichen +Not.</p> + +<p>»Wir sind alle gute Sozialdemokraten,« sagte mir +einmal ein älterer Mann, der es vom einfachen Arbeiter +zum einflußreichen Gewerkschaftsbeamten gebracht +hatte, »und der Sozialismus ist das, was uns zusammengeschweißt +hat, uns im Kampf gegen die Feinde +unüberwindbar macht; aber nun will doch jeder auch +etwas für sich sein.«</p> + +<p>Das war der Wunsch nach Persönlichkeit, der sich +regte, die Reaktion gegen die geistige Nivellierung, die +die Stärke und die Schwäche des Sozialismus war.</p> + +<p>Und alles Wünschen und Suchen ging in die Irre. +Niemand antwortete darauf, niemand sprang hinzu, um +Taumelnde zu halten, Blinde zu führen. Eintönig, wie +die Zukunftsprophezeiungen der ersten Christen, klang +ihnen aus dem Munde ihrer Führer immer dieselbe +Formel entgegen:</p> + +<p>»Die Überwindung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung +durch den Klassenkampf bringt allen Erlösung.«</p> + +<p>Sie fühlten mehr, als daß es ihnen deutlich zum Bewußtsein +kam: Über die Befreiung von Not und Elend +hinaus muß es ein persönliches Ziel geben, für das die +Erreichung dieses ersten, rohesten nichts als der Ausgangspunkt +ist. Würden sie im Suchen danach nicht +auf Abwege geraten, sich nicht entfernen vom Wege, +<a name="Page_549" id="Page_549"></a>der notwendig zuerst zu jener ersten Etappe führen +mußte?</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>In Rußland warf die Revolution ihre Brandfackel +in Städte und Dörfer. Die Blüte der Jugend, +die geistige Elite des Landes trugen die Fahne +voraus, und die schwerfällige Masse des Riesenvolkes +geriet in eine ungeheure Bewegung. Selbst die Bauern +in ihren einsamen Steppen grüßten das Licht, das sie +flammen sahen, als ihren Befreier. Hunderte fielen, +Hunderte verschwanden im grausigen Dunkel russischer +Zitadellen, Hunderte wurden in Ketten in die Bergwerke +Sibiriens verschleppt, aber Tausende füllten die Lücken +wieder aus, die ihr Verschwinden gerissen hatte. Die +Zeit forderte Helden, und sie wuchsen empor; das Leben +galt ihnen nichts mehr, wo der Tod die Saat der Freiheit +war. Das große Reich, der Hort der europäischen +Reaktion, schien in seinen Grundvesten erschüttert. Vor +Arbeitern und Bauern, vor Studenten und Frauen +streckte der Absolutismus die Waffen. Wir sahen, wie +der Himmel über der Grenze sich rötete. Und vielen, +auf deren Seelen der häßliche Parteizank lastete, die sich +ernüchtert fühlten durch den langen staubigen Weg, den +sie an Stelle des Schlachtfeldes gefunden hatten, wurde +der Glanz zu einem Hoffnungsschimmer.</p> + +<p>Von der Weltenwende der russischen Revolution, +von dem Zusammenbruch des Zarismus sprachen prophetisch +die Redner in unseren politischen Versammlungen.</p> + +<p>»Wir leben in den Tagen der glorreichen russischen<a name="Page_550" id="Page_550"></a> +Revolution —,« damit wurden die Nörgler und Zweifler +niedergeschlagen.</p> + +<p>»Sehen Sie nicht, daß die Zeit gekommen ist, die +Marx voraussah, wo die Evolution in die Revolution +umschlägt —?«</p> + +<p>Daran entflammte sich die Begeisterung der Massen. +Meine Empfindung, meine Phantasie war auf ihrer +Seite, meine Hoffnung entzündete sich daran.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Oft, wenn ich als Kind am Weihnachtsabend +erwartungsvoll im dunkeln Zimmer saß, hatte +der Lichtstrahl, der aus dem Raum daneben, +wo die Mutter den Baum putzte, durch das Schlüsselloch +drang, mir die ganze Seele erhellt und alle Angst vor +der Finsternis um mich vertrieben. So war mir jetzt +zumut: es drang ein Lichtstrahl in das Dunkel. Noch +kannte ich seine Quelle nicht; nur daß er da war, +bannte die Furcht.</p> + +<p>Heinrich hatte recht: es gab für uns nur eine Aufgabe: +die Neue Gesellschaft wieder ins Leben zu rufen, +durch sie zusammenzufassen, was in der Arbeiterbewegung +nach allen Richtungen auseinanderzufließen drohte: den +geistigen Hunger der Massen, die praktische Arbeit der Gewerkschaften +und Genossenschaften, die Schwungkraft der +kämpfenden Partei. Und wie sie auf dem Wege zu einer +neuen tieferen Einheit Richtung geben sollte, so sollte sie im +Kreise der intellektuellen Jugend dem Sozialismus Anhänger +werben. Wir bedurften dieser Jugend, das lehrte +uns Rußland, das predigten uns die stummen Lippen all +der Suchenden, die der geistigen Führer entbehrten.<a name="Page_551" id="Page_551"></a> +»Die Wissenschaft und die Arbeiter«, — ein Kind +dieses Bundes war der Sozialismus gewesen, ihn zu +zerstören und zu verleugnen war der eigentliche Parteiverrat.</p> + +<p>Nun war es nicht mein Mann, nun war ich es, die +zuerst wieder von unserer Zeitschrift sprach. Und was +ich so lange entbehrt hatte, geschah: Heinrichs verdüsterte +Züge erleuchteten sich wie von innen heraus. +Jetzt endlich kamen die Stunden innerer Gemeinschaft +zurück, und im Überschwang der Freude glaubte ich das +Mittel wieder gefunden, das auch die klaffenden Wunden +unserer Ehe schließen würde. In gemeinsamer Arbeit, +mit demselben großen Ziel vor Augen würden wir +enger, unauflöslicher zusammenwachsen.</p> + +<p>Ein Umstand half uns, mit etwas größerer Zuversicht +an die Arbeit zu gehen. Meine Schwester, eine der +sechs Erben der verstorbenen Tante, hatte, empört über +die mir widerfahrene Ungerechtigkeit, versucht, die Annullierung +des letzten Testaments, das meine Enterbung +aussprach, durchzusetzen. Und als die Verwandten einmütig +erklärt hatten, den letzten Willen der Toten respektieren +zu müssen, tat sie allein, was sie von den +anderen verlangt hatte, und verzichtete in Anerkennung +meines Anspruchs auf den sechsten Teil ihres Erbes zu +meinen Gunsten. Es war zunächst nur wenig, was ich +bekam, — der größte Teil des Vermögens lag in Grundstücken +fest, — aber für uns, die wir von Anfang an +mit einer so geringen Summe rechnen mußten, daß +kaum ein anderer daraufhin den Mut gehabt hätte, +eine Zeitschrift zu gründen, war es eine willkommene +Hilfe. Nur ganz flüchtig dachte ich daran, die paar +<a name="Page_552" id="Page_552"></a>tausend Mark für meinen Jungen festlegen zu wollen, — ich +errötete dabei über mich selbst. Drüben, im +Osten, opferten sie ihr Leben ihrer Sache, und ich +könnte mit dem lumpigen Gelde knausern!</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Es war ein frohes Arbeiten damals. Wir fanden +Mitarbeiter im eigenen Lager, die unsere +Ideen teilten, wir fanden aber auch Künstler +und Schriftsteller, die nicht abgestempelte Genossen waren +und mit Freuden die Gelegenheit ergriffen, einmal zum +Volk zu sprechen. Und zuerst leuchteten uns überall die +aus den schwarzen Schornsteinen glutrot aufsteigenden +Flammen der Neuen Gesellschaft entgegen.</p> + +<p>Daß innerhalb der Parteiorganisationen schon gegen +uns gehetzt, vor einem Abonnement unserer Zeitschrift +gewarnt wurde, daß uns die Genossen wieder als »Geschäftssozialisten« +öffentlich an den Pranger stellten, — dafür +hatten wir nur ein Achselzucken. Sie glaubten, +wir wollten wühlen, kritisieren; sie würden sich bald +eines Besseren belehren lassen, denn wir dachten nur +daran, aufzubauen. Am Himmel der Zeit stiegen Sturmwolken +auf, und wer wetterkundig war, der sah dahinter +erfrischte Luft, zu neuem Segen durchtränkte +Erde.</p> + +<p>Der Strom der russischen Revolution, der drüben +alles mit sich riß, schien zuerst an Deutschland vorüberzubrausen, +als wäre die Grenze ein Felsengebirge. Allmählich +aber begannen seine Fluten Tunnel zu bohren, +und die deutsche Reaktion warf angstvoll Wälle auf. +In den Einzelstaaten kam es zu Wahlrechtsverschlech<a name="Page_553" id="Page_553"></a>terungen, +und die Angriffe auf das allgemeine Reichstagswahlrecht +wurden lauter. Unter dem Deckmantel +der scheinbar harmlosen Schulvorlage ging der preußische +Landtag darauf aus, mit den Seelen der Kinder +die Zukunft dem Fortschritt zu entwinden. Doch das +Proletariat lernte von den russischen Freiheitskämpfern. +Zum erstenmal in Deutschland eroberten sich die Arbeiter +die Straße zu gewaltigen Massendemonstrationen. +In Leipzig, in Dresden, in Chemnitz durchzogen Tausende +und Abertausende, dem Polizeiaufgebot trotzend, +die Stadt. Und wenn sie auch der Hartnäckigkeit der +Regierung nichts abzutrotzen vermochten, sie fühlten +sich nicht geschlagen, denn die Siege jenseits der Grenzen +stärkten immer wieder ihren Mut: in dunkeln Massen, +dicht gedrängt, mit einem Schweigen, das mehr als +drohende Rufe von finsterer Entschlossenheit zeugte, war +die wiener Partei vor dem Parlament aufmarschiert, +während in ganz Österreich die Arbeit ruhte, und eroberte +im gleichen Augenblick eine Wahlreform, die vor +wenigen Wochen noch von der Regierung abgelehnt +worden war. Und angesichts der blutgetränkten Straßen +Petersburgs, der rauchenden Trümmer baltischer Schlösser +versprach der russische Zar dem Volke die Verfassung.</p> + +<p>Jetzt galt es auch in Preußen, gegen die Hochburg +der Reaktion Sturm zu laufen: gegen den Landtag. +Wir schürten in unserer Zeitschrift mit allen Mitteln +den Brand.</p> + +<p>»Trotz aller Anerkennung des stark pulsierenden Lebens, +das in den Spalten der Neuen Gesellschaft herrscht,« +schrieb mir Romberg damals, »bleibt Ihre Schornsteinzeitung +mir unsympathisch, — jetzt vollends, wo ich mit +<a name="Page_554" id="Page_554"></a>aufrichtiger Trauer sehe, daß Sie jene Vornehmheit +preisgeben, deren Aufrechterhaltung durch alle Fährnisse +proletarischer Versuchung mir bisher so bewundernswert +erschien. Den ganzen giftigen Zorn der Renegaten +schütten Sie über Ihre eigenen Klassengenossen, die +Junker, aus.«</p> + +<p>»Über Ihren Geschmack streite ich nicht mit Ihnen,« +antwortete ich, »er führt uns, fürchte ich, weit voneinander. +Aber mir die Preisgabe der Vornehmheit vorzuwerfen, +dazu haben Sie kein Recht. Gerade weil ich +Aristokratin war und blieb, weiß ich zu scheiden zwischen +dem Adligen und dem Junker. Die Hutten und Berlichingen, +die Mirabeau und Lafayette, die Struve und +Krapotkin, — das waren Aristokraten, das heißt freie +Herren, keine Fürstenknechte, keine Sklaven des Herkommens. +Ich bin stolz, zu ihnen zu gehören und werde, +wie sie, bis zum letzten Atemzug gegen die Junker, das +heißt die Dienstmannen, kämpfen.«</p> + +<p>Im Abgeordnetenhause erklärte Graf Roon: »Wenn +jemals die Regierung daran denken sollte, uns in +Preußen die geheime Wahl zuzumuten, so würden wir +zur schärfsten Opposition übergehen.«</p> + +<p>»Auf das nachdrücklichste lege ich dagegen Verwahrung +ein, daß das allgemeine geheime Wahlrecht als +Wahlrecht der Zukunft hingestellt wird,« sekundierte ihm +Herr von Manteuffel. Hüben und drüben schlossen sich +die Reihen der Kämpfer. Sollte die Schlacht schon bevorstehen?</p> + +<p>In den Köpfen der Parteigenossen spukte diese Frage, +der die andere auf dem Fuße folgte: wie bereiten wir +uns vor? Das Mittel immer wiederholter Arbeits<a name="Page_555" id="Page_555"></a>einstellungen +hatte sich in Rußland als das eindrucksvollste +erwiesen. Es wurde nun auch in der deutschen +Partei erörtert. Es trennte die Geister nach einem +Schema, auf das die Bezeichnung Revisionisten und +Radikale nicht mehr passen wollte. Mein Temperament +riß mich rückhaltlos auf die Seite derer, die den Massenstreik +verteidigten; mein Mann stand im entgegengesetzten +Lager, wo die Gewerkschafter sich vereinigt hatten. +Auch die Ansichten unserer Mitarbeiter gingen auseinander.</p> + +<p>»Glauben Sie, es läßt sich beschließen, übermorgen +nachmittag um vier in den Massenstreik einzutreten?« +höhnte Reinhard. »Revolutionen sind keine Paraden, die +vorher einexerziert werden.«</p> + +<p>»Aber die Truppen müssen dafür vorbereitet sein +wie für die Kriege,« entgegnete einer unserer Mitarbeiter; +»wir müssen den Gedanken in die Köpfe hämmern, +damit er zur rechten Zeit zur Tat reift.«</p> + +<p>»Von unseren drei Millionen Wählern sind nur viermalhunderttausend +politisch organisiert, und von zwölf +Millionen Arbeitern nur anderthalb Millionen gewerkschaftlich!« +rief Reinhard aus. »Mir scheint, wir müssen +zuerst die Köpfe<em class="spaced"> haben</em>, ehe wir daran denken können, +eine Idee in sie hineinzuhämmern.«</p> + +<p>Das Feuer meiner Begeisterung verflog angesichts des +neu entfachten theoretischen Streites, der bei uns Deutschen +so oft an Stelle des Handelns tritt. Die Demonstrationen +gegen den preußischen Landtag beschränkten +sich auf ein paar große Versammlungen, denen erst das +Aufgebot von Polizei und Militär Bedeutung verlieh. +Die Schulvorlage wurde angenommen. Graf Bülows<a name="Page_556" id="Page_556"></a> +Politik der Ablenkung des Volksinteresses bewährte sich +wieder einmal: die Blicke aller derer, die nicht zu unseren +Kerntruppen gehörten, richteten sich wie hypnotisiert +auf die internationalen Verwickelungen. Von der +feindseligen Verstimmung sprach der Reichskanzler, als +die neue Flottenvorlage dem Reichstag zuging: »Deutschland +muß stark genug sein, sich im Notfall allein behaupten +zu können!«</p> + +<p>Von dem Ernst der Zeit, von der Notwendigkeit, eine +stets schlagbereite Armee zu haben, sprach der Kaiser. +So wurde gegen die revolutionäre die patriotische Stimmung +ausgespielt.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Wir hatten gearbeitet, den Blick krampfhaft +vorwärts gerichtet, besinnungslos. Wir +hatten unser Programm erfüllt, waren +jeder tieferen Volksregung nachgegangen; es hatte an +aufrichtiger Anerkennung nicht gefehlt, und trotz allen +lauten und leisen Wühlens gegen uns war in kurzer +Zeit ein Stamm von Lesern gewonnen <ins class="correction" title="Anmerkung: im vorliegenden Original heißt es 'werden'">worden</ins>. Aber +die Kosten der Zeitschrift überstiegen bei weitem die +Einnahmen. Wir konnten nicht länger die Augen davor +verschließen, daß unsere Mittel auf einen winzigen +Rest zusammengeschmolzen waren.</p> + +<p>»Drei Jahre müssen Sie aushalten können, dann +haben Sie sich durchgesetzt,« sagte uns ein treuer Genosse, +der zugleich ein guter Geschäftsmann war.</p> + +<p>»Drei Jahre!« wiederholte ich in Gedanken. »Wo wir +kein Vierteljahr mehr gesichert sind!«</p> + +<p>»Wir dürfen die Flinte nicht ins Korn werfen, heute +<a name="Page_557" id="Page_557"></a>weniger als je,« erklärte mein Mann; »denn jetzt schädigen +wir dadurch die Sache.«</p> + +<p>Die Furcht flüsterte mir zu: »Gib auf, solang es +noch Zeit ist.«</p> + +<p>»Heinrich ertrüge es nicht,« antwortete die Stimme +meines Herzens.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Um jene Zeit kam meine Schwester nach Berlin +zurück. Sie war in einem Sanatorium +gewesen und hatte dann eine lange +Seereise gemacht.</p> + +<p>»Nun bin ich heil und gesund,« damit trat sie wieder +vor mich hin, »und jetzt komme ich zu dir und will +arbeiten.« Mit ungläubigem Lächeln sah ich sie an. +»Meinst du etwa, ich hielte auf die Dauer solch zweckloses +Leben aus?« schmollte sie, weil ich sie nicht ernst +nehmen wollte.</p> + +<p>»Im Sanatorium war einer mein Tischnachbar, der +ein heimlicher Genosse ist,« fuhr sie zu plaudern fort. +»Er holte nach, was du zu tun versäumtest; gab mir +Bücher und Zeitungen und klärte mich auf. Ich bin +überzeugte Sozialdemokratin.«</p> + +<p>»Aber Ilse!« lachte ich. »Du?! Die Ästhetin?! Du +mit deinem Grauen vor dem Pöbel?!«</p> + +<p>Nun wurde sie wirklich böse. »Ist es so unwahrscheinlich, +daß man sich entwickelt? — Bist du vielleicht +als Genossin auf die Welt gekommen?! — Ich bildete +mir ein, dir mit dieser Nachricht eine besondere Freude +zu machen, und nun glaubst du mir nicht! Aber ich +<a name="Page_558" id="Page_558"></a>werde dir beweisen, wie ernst ich es meine: noch heute +will ich mich dem Vertrauensmann meines Wahlkreises +vorstellen, ich werde sogar Flugblätter austragen, wenn +er mich brauchen kann.«</p> + +<p>Ich war noch ganz benommen von der erstaunlichen +Wandlung meiner Schwester, als Heinrich sie begrüßte. +Er fand sich rascher in die veränderte Situation.</p> + +<p>»Da hätten wir ja eine neue Mitarbeiterin,« sagte +er lebhaft.</p> + +<p>»Ja, — ob ich aber schreiben kann?!« meinte sie +zögernd.</p> + +<p>»Sind nicht alle ihre Briefe druckreifes Manuskript?« +wandte er sich an mich. »Und prädestiniert sie nicht ihre +ganze Vergangenheit, gerade das wichtige, noch so sehr +vernachlässigte Gebiet der künstlerischen Volkserziehung +zu dem ihren zu machen?«</p> + +<p>Alles Fremde, das seit Jahren zwischen uns gestanden +hatte, war jetzt vergessen. Die kleine Ilse war wieder +mein Kind, wie einst, da sie nichts so gerne hörte wie +meine Geschichten, mit nichts spielen mochte als mit +den Spielen, die ich erfand. Ich streckte ihr beide Hände +entgegen:</p> + +<p>»Du brauchst keine Flugblätter auszutragen, um zu +beweisen, daß du zu uns gehörst. In der Partei ist +viel Raum für Kräfte wie die deinen.«</p> + +<p>Am Abend sah ich an Heinrichs grüblerischem Gesichtsausdruck, +daß irgendein Gedanke ihn beschäftigte. +Er ging schweigsam im Zimmer auf und nieder. Endlich +blieb er vor mir stehen: »Was meinst du, wenn +wir Ilse aufforderten, sich an der Neuen Gesellschaft +mit einem Kapital zu beteiligen?«</p> + +<p><a name="Page_559" id="Page_559"></a>Ich hob die Hände, als gelte es einer Gefahr zu +begegnen.</p> + +<p>»Um Gottes willen nicht!« rief ich aus.</p> + +<p>»Du scheinst deiner Schwester wenig zuzutrauen,« +entgegnete er stirnrunzelnd. »Daß wir alles aufs Spiel +setzen, ist dir selbstverständlich; daß Ilse einen Bruchteil +ihres Vermögens opfern soll, kommt dir unmöglich vor. +Und doch könnte das ihr geben, was ihr fehlt: einen +ernsten Lebensinhalt, einen Antrieb zur Arbeit, die mehr +ist als Laune und Spielerei.«</p> + +<p>Ich widersprach auf das heftigste: »Was wir tun +und lassen, ist unsere Sache, aber die Verantwortung +für Ilse dürfen wir nicht auf uns nehmen. Niemals +ertrüg' ich's, sie in unseren Ruin hineinzuziehen!«</p> + +<p>Heinrich brauste auf. »Wie kannst du von Ruin +sprechen, wo uns nichts fehlt als die Mittel, noch +einige Zeit auszuhalten, — wo wir in zwei, drei Jahren +über das schlimmste hinaus sein werden! Hast du so +gar keinen Glauben an die eigene Sache?«</p> + +<p>»Ich habe ihn, Heinz, ich hab ihn gewiß —,« meine +Hände preßten sich flehend ineinander, »— aber lieber +will ich mir die Finger blutig schreiben, lieber will ich +von Ort zu Ort gehen, um die Mittel für die Neue +Gesellschaft zusammenzubringen, als daß ich mich an +Ilse wende.«</p> + +<p>Mit gerunzelten Brauen sah Heinrich mich an. »Ich +finde deinen Standpunkt kleinlich, — deiner und deiner +Schwester unwürdig. Sie wird sich freuen, mit einem +Teil ihres Überflusses etwas Nützliches leisten zu können.«</p> + +<p>Aber ich ließ mich nicht überzeugen. »Laß uns wenigstens +noch versuchen, ob sich nicht auf anderem Wege<a name="Page_560" id="Page_560"></a> +Hilfe schaffen läßt,« bat ich. Heinrich schwieg, sichtlich +verletzt.</p> + +<p>Alle Schritte, die er in den nächsten Wochen unternahm, +waren umsonst. Immer näher rückte die Zeit, +die uns vor die letzte Entscheidung stellte. Mich schauderte +im Gedanken daran.</p> + +<p>Als ich ihn eines Abends wieder von einer vergeblichen +Reise zurückkehren sah, — so müde, so gebrochen, +da hielt es mich nicht länger: »Geh zu Ilse,« +sagte ich.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>War es der Leichtsinn der Jugend, war es +die Überzeugungskraft der Reife, die Ilse +ohne einen Augenblick des Überlegens dem +Vorschlag Heinrichs entsprechend handeln ließ? Wie kam +es nur, daß in dem Augenblick, wo sie sich nicht nur +im Denken, sondern auch im Handeln mit mir vereinte, +ein kalter Reif auf die kaum wieder entfaltete Blume +meiner Schwesterliebe fiel? Irgendeine Fessel, die die +freie Bewegung meiner Glieder hemmte, wurde schmerzhaft +angezogen.</p> + +<p>Eine Unrast der Arbeit packte mich, die mich jede +ruhige Stunde als Unterlassungssünde empfanden ließ. +Selbst in den Augenblicken, wo die Sache, der ich diente, +mich ganz zu packen schien, fiel mir ein, daß ich arbeiten +mußte, um das Geld meiner Schwester nicht zu verlieren. +Daß die Arbeitsgemeinschaft mit meinem Mann unsere +Liebe zueinander festigen sollte, — daran dachte ich kaum +<a name="Page_561" id="Page_561"></a>mehr. Kam mir in heißen Nächten nach gehetzten Tagen +die Erinnerung daran, so grauste mich's. Ich saß meinem +Mann gegenüber, tagaus, tagein, über Manuskripte und +Korrekturen gebeugt. Ich hatte keine Gedanken mehr, +mich für den Geliebten zu schmücken, keine Zeit mehr +für das süße Spiel der Liebe, für Suchen und Finden, +Zurückstoßen und Wiedererobern. Nur für mein Kind +stahl ich mir morgens und abends noch eine Stunde; +aus der Frische seines Denkens und Fühlens floß mir +der Tropfen Lebensfreude, den ich brauchte, um weiter +schaffen zu können.</p> + +<p>Meinen kleinen Haushalt überließ ich nun schon +lange der Berta. Zuweilen wunderte ich mich wohl, +daß er bei seiner Einfachheit so kostspielig war. Aber +jede Spur von Mißtrauen lag mir fern. Opferte die +Berta uns nicht ihre ganze Arbeitskraft? War sie es +nicht, die unter Hinweis auf die entstehenden Kosten +jede fremde Hilfe ablehnte und alles allein besorgte?</p> + +<p>Eines Tages sah ich ein goldenes Armband auf ihrem +Nähtisch liegen. »Mein Onkel hat es mir zum Geburtstag +geschenkt,« sagte sie.</p> + +<p>Bald darauf brachte die Portierfrau, als sie abwesend +war, ein Paket für »Fräulein Berta«, die Uhrkette sei +darin, die sie sich durch sie habe besorgen lassen, fügte +sie erklärend hinzu. Ich wurde stutzig und ließ mich in +ein Gespräch mit ihr ein.</p> + +<p>»Auch das Armband hat mein Mann besorgt,« +schwatzte sie, »es kostete nur sechzig Mark. Und Fräulein +Berta kann sich wohl mal was selber gönnen, +nachdem sie immer das viele Geld nach Hause schickt.«</p> + +<p>Nach Hause?! dachte ich verblüfft, ihr Vater war +<a name="Page_562" id="Page_562"></a>doch, wie sie oft genug erzählt hatte, in behäbiger +Lage. Nun verfolgte ich erst aufmerksam ihr Tun +und Lassen. Im Lauf einer Woche hatte ich alle Beweise +in der Hand: seit Jahren war ich von ihr betrogen +worden. Im ersten Gefühl der Empörung wollte +ich ihre Unterschlagungen zur Anzeige bringen. Aber +dann schämte ich mich. War ich nicht die Schuldige +gewesen? Ich, die ich dem einfachen Bauernmädchen +eine Freiheit gelassen, eine Selbständigkeit aufgebürdet +hatte, der sie geistig und moralisch nicht gewachsen war; +ich, die ich sie aus Dankbarkeit mit Geschenken überhäuft +hatte, die ihre Eitelkeit, ihre Habsucht erwecken +mußten? Sie war für die Lebenssphäre, in die sie +zurücktreten mußte, bei mir und durch mich verdorben +worden.</p> + +<p>Ich entließ sie; ich bekannte meinem Mann meine +Schuld. Von nun an mußte ich mich um die täglichen +Sorgen des Haushalts kümmern, mußte vor allem die +Zeit erübrigen, um mit meinem Buben ins Freie zu +gehen. Ich war viel zu ängstlich, um ihn sich selbst +zu überlassen. Wie müde fühlte ich mich, wenn ich +abends schlafen ging! Wie zerschlagen, wenn ich +morgens erwachte! Wie lange noch würde ich aushalten +können?!</p> + +<p>Und mehr denn je verlangte unsere Arbeit die ganze +Nervenkraft, die volle Anspannung des Willens. Ein +neuer Parteiskandal forderte gebieterisch unsere Stellungnahme. +Die Auseinandersetzungen über den Massenstreik +hatten in einem Teil unserer Tagespresse wieder +die Formen persönlichen Gezänks, gegenseitiger Verdächtigungen +angenommen. Zur Empörung der radi<a name="Page_563" id="Page_563"></a>kalen +Berliner vertrat das Zentralorgan der Partei den +Standpunkt der Gewerkschaften, und obwohl der Jenaer +Parteitag eine wenigstens äußere Verständigung zwischen +beiden Richtungen herbeiführte und auch die Preßfehde +zu schlichten schien, ließ sich Groll und Mißtrauen nicht +durch Resolutionen beseitigen. Trotz aller gegenseitigen +Versicherungen blieb die Mehrheit der Vorwärts-Redaktion, +die ihre Ansichten weder dem Votum der Masse +unterwerfen, noch sich zu einem Inquisitions-Tribunal +hergeben wollte, des Revisionismus verdächtig. Kaum +war der Parteitag vorüber, als der Parteivorstand mit +den Berlinern in Verhandlungen eintrat, deren Resultat +die Entlassung und der Ersatz eines oder mehrerer Redakteure +und die Neugestaltung der Mitarbeiterschaft +über den Kopf der Redaktion hinweg sein sollte. Hinter +verschlossenen Türen, mit strengstem Schweigegebot für +die Teilnehmer und — unter Ausschluß der Angeklagten +ging das alles vor sich. Ein Fehmgericht nach demselben +Prinzip wie das, dem ich einmal seitens der +Frauen unterworfen worden war. Wo war hier die +Gleichheit, wo die Brüderlichkeit?! Als die Redaktion +trotz aller Vorsichtsmaßregeln von den Vorgängen erfuhr +und der Parteivorstand ihren Protest gegen ein +allen Grundsätzen der Demokratie hohnsprechendes Verhalten +schroff zurückwies, handelte sie, wie organisierte +Arbeiter handeln, wenn der Unternehmer ihre Kameraden +ohne sie zu hören mit Aussperrung bedroht: sie +erklärte sich in ihrer Mehrheit solidarisch, reichte ihre +Entlassung ein und begründete ihre Handlungsweise +vor der Öffentlichkeit. Mit gezückten Schwertern standen +einander nun wieder zwei Richtungen in der Partei +<a name="Page_564" id="Page_564"></a>gegenüber. Aber die Masse vertrat nicht die Prinzipien +der Demokratie, sondern die der Despotie.</p> + +<p>»Wie können wir noch mit freier Stirn unsere Ideale +gegenüber der Willkürherrschaft monarchischen Absolutismus +verteidigen,« schrieben wir in der Neuen Gesellschaft, +»wie können wir die Selbstherrlichkeit des +Unternehmertums, seinen rücksichtslosen Herrenstandpunkt +gegenüber dem Arbeiter angreifen, wenn der Gegner +uns mit den eigenen Waffen zu schlagen vermag? Wie +können wir an den endlichen Sieg unserer Sache glauben +und uns unterfangen, andere davon überzeugen zu wollen, +wenn die Ansichten einzelner, — hier des Parteivorstands, +ganz besonders die Bebels, — zum Kredo erhoben +werden und jeder Andersgläubige der Ketzerei +beschuldigt wird, — ungehört, wie bei den Hexenprozessen? ... +Die Redakteure haben ihre Schuldigkeit getan, +tun wir die unsere! ...«</p> + +<p>Wie der Stein, der in den Teich geworfen wird, +nicht nur weite und immer weitere Kreise zieht, sondern +auch den Grund aufwühlt, sodaß dieser plötzlich +in das klare Wasser schwarz und schlammig emporsteigt, +so war es hier. Man hatte vergessen, den +Grund zu säubern und auszumauern, ehe der frische +Quell des Sozialismus hineingeleitet wurde. Die +Moral der bürgerlichen Gesellschaft, die ihr das Christentum +mit Feuer und Schwert und Verfolgung eingeimpft +hatte, beherrschte alles menschliche Denken +und Fühlen.</p> + +<p>»Besser unrecht leiden, als unrecht tun,« predigten +salbungsvoll unsere Parteiblätter; also sich beugen, sich +der Macht unterwerfen, Demut und Unterwürfigkeit für +<a name="Page_565" id="Page_565"></a>der Tugenden größte erklären, — konnte, durfte das die +Ethik des Sozialismus bleiben?</p> + +<p>Ich empfand das alles nur dumpf, wie einen Traum; +ich hatte keine Zeit, Gedanken zu formen; ich hatte +auch keine Kraft.</p> + +<p>Sonderbar, wie elend ich mich fühlte. Als stünde +mir eine große Krankheit bevor. Ich ballte die Hände, +sodaß die Nägel mich in der Handfläche schmerzten: ich +durfte nicht krank werden. Oft wenn ich mit meinem +Sohn durch die Straßen ging, überfiel mich ein +Schwindel. Dann lehnte ich mich an irgend eine +Mauer, und er blieb vor mir stehen, die großen ernsten +Augen ängstlich auf mich gerichtet. Und wenn ich +abends mit irgend einer notwendigen Näharbeit bei +ihm war, und er mir mit all dem überzeugten Pathos +des Kindes vorlas, — Märchen und Gedichte, die +feierlichsten am liebsten, — dann brauste es mir vor +den Ohren, sodaß ich kaum seine Stimme noch hörte. +Was war das nur?</p> + +<p>Meinem Mann verschwieg ich meinen Zustand. Mein +Junge war mein Vertrauter und mein Verbündeter zugleich. +Er hatte mir versprechen müssen, dem Vater +nichts zu sagen.</p> + +<p>»Papachen hat soviel Ärger, er soll sich nicht auch +noch um mich Sorge machen!« — Und dies erste Zeichen +eines freundschaftlichen Vertrauens seiner Mutter hatte +ihn sichtlich reifer gemacht.</p> + +<p>Aber dann kam ein grauer Tag; der Regen klatschte +unaufhörlich an die Scheiben; um meinen Kopf lag es +wie ein Band von Eisen. Plötzlich aber mußte ich vom +Stuhle springen, auf dem ich zusammengekauert gesessen +<a name="Page_566" id="Page_566"></a>hatte; ein Gedanke traf mich, blendend wie ein Blitz. +Wie hatte ich nur so lange fragen können, was mir +fehlte: ich war guter Hoffnung. »Guter« Hoffnung?! +Sehnsüchtig hatte ich mir oft noch ein Kind gewünscht, +hatte, wenn ich meinen Buben ansah, es fast als ein +Naturgebot empfunden, mehr seinesgleichen zu gebären. +Und jetzt? Wie anders fühlte ich mich, als da ich ihn +unter dem Herzen trug: schwach, schwermütig, arbeitsunfähig. +Und ich mußte doch arbeiten!</p> + +<p>Seit wir in dem letzten Parteikampf so energisch die +Rechte der Minderheit vertreten hatten, regnete es Angriffe +auf das »parteischädigende Treiben der Neuen +Gesellschaft«. Auf wessen Tisch die rotleuchtende Flammenschrift +unseres Blattes entdeckt wurde, der erschien schon +verdächtig.</p> + +<p>Wenn meine Schwester kam, wurde mir heiß und +kalt. Etwas wie Schuldbewußtsein machte mich ihr +gegenüber immer scheuer. Wir mußten uns durchsetzen, — um +jeden Preis! — Und ich biß die Zähne zusammen +und trug schweigend meine Qual, bis ich nicht +mehr konnte.</p> + +<p>Meine Ärztin machte ein ernstes Gesicht: »Sie müssen +sich vollkommen ruhig halten, sich vor jeder Aufregung +hüten,« sagte sie mit scharfer Betonung.</p> + +<p>Ich verzog den Mund zu einem Lächeln und ging +heim, als schleppte ich eine Zentnerlast mit mir. Und +wenn ich mich in irgend einen Erdenwinkel hätte verkriechen +können, sie würde weiter drückend auf mir liegen. +Wen einmal die Sorge umstrickt, den hält sie fest.</p> + +<p>Eine krankhafte Angst bemächtigte sich meiner. Ich +fürchtete mich vor dem keimenden Leben in mir wie +<a name="Page_567" id="Page_567"></a>vor einem Mörder. Ich malte mir in dunkeln Nachtstunden +den Augenblick schreckhaft aus, wo der Ruin +vor der Türe stand.</p> + +<p>Und dann brach ich zusammen. Ehe das Kind in +meinem Schoß Leben gewesen war, starb es. Während +der langen dunkeln Stunden, die ich nun regungslos +auf dem Rücken lag, richtete das Ungeborene +zwei starre Augen auf mich, anklagend, richtend. Und +ich beweinte es, als hätte es schon in meinen Armen +gelegen.</p> + +<p>Als ich wieder aufstehen durfte, nahm ich aus meiner +Großmutter Zeichenmappe ein kleines, in zarten Farben +gemaltes Bild: ein Köpfchen mit weißen Rosen bekränzt, — ihr +jüngstes Kind, das gestorben war, ehe seine +Lippen das erste »Mutter« zu lallen vermochten. Ich +stellte es auf den Schreibtisch vor mich hin. Es sollte +mich zu jeder Stunde daran erinnern, daß mein Kind +zum Opfer gefallen war.</p> + +<p>Ich erholte mich schwer. Mir fehlte der Wille zur +Kraft.</p> + +<p>Eines Abends saß ich mit meinem Sohne zusammen +unter der grünumschirmten Lampe. Er war in das +Buch vertieft, das aufgeschlagen vor ihm auf dem +Tische lag.</p> + +<p>»Das mußt du hören, Mama,« rief er aus; seine +Augen glänzten vor Entzücken.</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Nun geht in grauer Frühe<br /></span> +<span class="i0">Der scharfe Märzenwind,<br /></span> +<span class="i0">Und meiner Qual und Mühe<br /></span> +<span class="i0">Ein neuer Tag beginnt ...«<br /></span> +</div></div> + +<p>las er. In den Stuhl zurückgelehnt, hörte ich ihm zu.</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"><p><a name="Page_568" id="Page_568"></a></p> +<span class="i0">»Kein Dräuen soll mir beugen<br /></span> +<span class="i0">Den Hochgemuten Sinn;<br /></span> +<span class="i0">Ausduldend will ich zeugen,<br /></span> +<span class="i0">Von welchem Stamm ich bin..«<br /></span> +</div></div> + +<p>Ich richtete mich auf. »Ausduldend will ich zeugen, +von welchem Stamm ich bin,« wiederholte ich leise, +nahm meines Kindes Kopf zwischen beide Hände und +küßte ihn auf die Stirn. Es war ein Gelöbnis.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_569" id="Page_569"></a></p> +<h2><a name="Sechzehntes_Kapitel" id="Sechzehntes_Kapitel"></a>Sechzehntes Kapitel</h2> + + +<p>»Wie die Hasen auf der Treibjagd werden die +Revolutionäre von den Soldaten zusammengeschossen,« — »fünfzehntausend +Gefallene +bedecken Straßen und Barrikaden —,« so meldete der +Telegraph aus Moskau; »die Regierung hat uns betrogen! +Der Zar hat sein Versprechen gebrochen! Die +Knute der Kosaken herrscht wieder über uns,« — so +klangen die Verzweiflungsschreie der Freiheitskämpfer +über die Grenze. Und schwer und dumpf grüßten die +Glocken das Jahr 1906.</p> + +<p>Auf den eroberten Gebieten des Absolutismus halten +unsere russischen Brüder ihre Siegeszeichen aufgepflanzt, +und an ihnen waren die üppigen Ranken unserer Hoffnung +wuchernd emporgewachsen. Jetzt lagen sie am +Boden. Die Soldaten der Reaktion traten darauf.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Und doch bedurften wir in dem Kampf, den +wir führten, der Siegeszuversicht. Ein <em class="antiqua">rocher +de bronce</em> war Preußen noch immer, dem +er galt, denn als die Frage der Abänderung des Dreiklassenwahlrechts +im Landtag endlich zur Besprechung +kam, da erklärte die Regierung: das Reichstagswahl<a name="Page_570" id="Page_570"></a>recht +ist unannehmbar, und fügte der Absage durch den +Mund des Ministers von Bethmann Hollweg die versteckte +Drohung hinzu: »das Gefühl der Unlust besteht +ja auch im Reiche, wo wir noch dieses angeblich ideale +Wahlrecht besitzen.« Noch! — Wir hatten achtzig Abgeordnete +im Parlament, und doch würde Preußens Reaktion +sie mit einer Handbewegung beiseite schieben. Es +klang wie ein Hohn unserer Ohnmacht, wenn der Kanzler +die Machtmittel des Staats für ausreichend erklärte, +um »Pöbelexzesse zu verhindern.« Er hatte recht. Es +kam zu keinen Exzessen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Die Einführung des Zolltarifs stand vor der +Türe. Mit neuen Steuern und Abgaben +drohte eine Reichsfinanzreform. Im Hintergrund +lauerte das Raubtier des Kriegs, und die Diplomaten, +die mondelang in Algeciras beisammensaßen, um +es in Ketten zu legen, schienen es statt dessen groß zu +füttern. Für neue Kriegsschiffe agitierten die Regierungsparteien +und malten den Weltbrand glutrot auf +die leere Leinwand der Zukunft. Aber das Volk hörte +gleichgültig zu, als ginge es das alles nichts an. Wo +es im Laufe der letzten Jahre bei Nachwahlen zum +Reichstag um sein Verdikt gefragt worden war, hatte +es Junkern und Junkergenossen das Feld überlassen.</p> + +<p>»Mir ist eine kleine Schar überzeugter Genossen +lieber, als eine große Menge unsicherer Mitläufer,« +hatte Bebel wiederholt gesagt. Das sollte ein Trost +sein und war bei Licht besehen nur die Konstatierung +einer Tatsache, denn der Zuzug aus bürgerlichen Kreisen +<a name="Page_571" id="Page_571"></a>hatte sich verlaufen. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, — das +war der Trunk gewesen, an dem sich deutsche +Träumer von jeher berauscht hatten. Diesmal war er +von der Sozialdemokratie kredenzt worden. Als sie +aber erwachten und die Welt noch immer nicht ihren +Dichteridealen entsprach, und die Genossen die Ritter +vom heiligen Gral nicht waren, die sie in ihnen gesehen +hatten, da versanken sie wieder in politische Gleichgültigkeit.</p> + +<p>In die Maienpracht junger Hoffnungen war der Reif +der Enttäuschung gefallen. Es schien fast, als ob alle +Knospen daran sterben sollten.</p> + +<p>An jenem »roten Sonntag«, der in ganz Preußen +der Demonstration gegen das Dreiklassenwahlrecht gewidmet +war, sprach ich in einem kleinen Fabrikort +Brandenburgs. Es war ein trüber Abend; der Saal +lag abseits zwischen hohen Mauern in einem feuchten +Grunde. Mein Appell an die Begeisterung, an die +Widerstandskraft verhallte wirkungslos. Und es war +nicht nur meine Schuld, daß das Feuer nicht brennen +wollte. Regenschauer hatten das Holz naß gemacht, so +daß es nur knisterte. Wir protestierten gemeinsam gegen +die preußische und gegen die russische Reaktion, aber +mir schien, als stünde hinter diesem Protest nicht der +Wille zur Tat, sondern ein resigniertes Gefühl der +Ohnmacht.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_572" id="Page_572"></a></p> + +<p>Die Neue Gesellschaft führte die Sprache der +Kraft. War sie nicht mehr die der Massen, +daß sie sie nicht hören wollten?</p> + +<p>Frühling und Sommer zogen an unseren Fenstern +vorbei. Wir saßen gebückt am Schreibtisch und wagten +nicht, einander in das Antlitz zu schauen. Zuweilen war +mir wie einem, der in eine Hütte mit blinden Scheiben +gesperrt ist und nichts sieht als den Staub und die +Dürftigkeit der nächsten Nähe. Dann durstete ich so +sehr nach Luft und Sonne, daß ich jeden Hauch, der +durch die Türe drang, jeden Strahl, der sich hinein +verirrte, wie einen Boten der Erlösung begrüßte.</p> + +<p>Meine Schwester hatte sich verlobt.</p> + +<p>»Jetzt erst weiß ich, was Liebe ist,« hatte sie mir mit +glühenden Wangen und heißen Augen zugeflüstert. Das +Leben war ihr viel schuldig geblieben, darum glaubte +ich freudig daran, und ihr Glück ließ mich ihr gegenüber +freier atmen, darum unterdrückte ich jeden Zweifel. +Sie führte uns ihren Verlobten zu, einen jungen +Arzt, hinter dessen auffallender Schweigsamkeit ich den +Menschen zu sehen mich zwang, den sie lieben konnte. +Sie heirateten bald. Auf den Höhen der Schwäbischen +Alb übernahm er die Leitung eines Sanatoriums. Sie +schrieb Briefe, die ein einziger Jubel waren, und sandte +Bilder mit Bergen und Wäldern und weiten Blicken +über friedliche Täler. Aber es fiel auf meine Seele +nur wie ein Sonnenstrahl aus dem Gewölk, das sich +danach nur noch dichter und dunkler zusammenzog.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_573" id="Page_573"></a></p> + +<p>Um jene Zeit erging von einem aus den Anhängern +der verschiedensten Parteien bestehenden +englischen Komitee, dem unter anderen +auch eine große Zahl englischer Parlamentsmitglieder +angehörte, an die Zeitungen aller deutschen Parteien +die Einladung zu einem Besuch nach England. Angesichts +der gewissenlosen Hetze und der Kriegstreiberei +höfisch-militärischer Kreise und ihrer Werkzeuge in der +Presse sollte diese Veranstaltung dazu dienen, die wahre +Gesinnung des englischen Volkes kennen zu lernen und +die freundschaftlichen Beziehungen der beiden Länder +wieder fördern zu helfen. Keir Hardie, der Führer der +englischen Arbeiterpartei, hatte die Einladung mit unterzeichnet. +Auch bei der Redaktion der Neuen Gesellschaft +lief sie ein, von einem Brief meines alten +Freundes Stead begleitet, der die Hoffnung aussprach, +wir würden ihr Folge leisten.</p> + +<p>England! Wieviel Erinnerungen wurden in mir +wach! Es war mir das Sprungbrett des neuen Lebens +gewesen. Vielleicht, daß es mich nun aus seinem Labyrinth +wieder ins Freie zu führen vermöchte! Meine +Hoffnung sah einen Weg aus der Not und der Enge +heraus, — und wenn's nur ein flüchtiges Aufatmen +wäre in freier Luft! Mein Mann legte die Einladung +beiseite wie etwas selbstverständlich Abgetanes.</p> + +<p>»Meinst du nicht, daß ich sie annehmen könnte, — in +unserem Namen,« fragte ich zögernd. »Ich möchte +fort, — hinaus, ein einziges Mal nur!« —</p> + +<p>Er sah verwundert von der Arbeit auf. »Wenn dir +<a name="Page_574" id="Page_574"></a>soviel daran liegt, bedarf es gar nicht der tragischen +Gebärde!« antwortete er ruhig.</p> + +<p>Nun erschien mir mein Wunsch doch im Lichte sträflicher +Vergnügungssucht. Ich mußte mich und ihn beruhigen, +der nicht anders denken mochte: »Ich werde +Berichte schreiben, — neue Beziehungen anknüpfen. +Vielleicht verschaffe ich mir sogar bei der Gelegenheit +die Korrespondenz für ein englisches Blatt.«</p> + +<p>Der Gedanke besonders elektristerte mich: das wäre +doch eine Sicherheit, wenn die Neue Gesellschaft zusammenbräche.</p> + +<p>Kurz vor meiner Abreise besuchte uns Reinhard. »Ich +lese Ihren Namen unter denen der Journalisten, die +nach England fahren,« begann er erregt.</p> + +<p>»Gewiß,« entgegnete ich, »und was haben Sie dagegen? +Keine der berühmten bindenden Parteitagsresolutionen +hindert mich daran!«</p> + +<p>»Aber Ihr Gefühl müßte es tun,« brach er los; +wollen Sie sich denn gewaltsam jeden Vertrauens berauben?! +Kein Genosse wird es begreifen, daß Sie mit einer +Reihe unserer ärgsten Gegner gemeinsame Sache machen!«</p> + +<p>»Schlimm genug, wenn dem wirklich so sein sollte!« +rief ich aus. »Haben wir nicht auf dem Heimarbeiterschutzkongreß +mit Gegnern zusammen gearbeitet, tun wir +es nicht dauernd im Parlament? Und mir sollte es verdacht +werden, wenn ich mich an einer Reise beteilige, +deren Zweck durchaus im Interesse der Partei liegt? +Wir Mitreisenden sollen uns doch nicht untereinander +verbrüdern; uns wird nichts als die Gelegenheit geboten, +es mit aufrichtigen Friedensfreunden in England +zu tun.«</p> +<p><a name="Page_575" id="Page_575"></a></p> +<p>»Das mag alles so sein, wie Sie sagen,« antwortete +er, »trotzdem dürfen Sie — gerade Sie, deren Stellung +doch schon schwierig genug ist — nicht als einzelne der +Empfindung der Massen entgegenhandeln.«</p> + +<p>Ich warf den Kopf zurück. Jetzt erst wußte ich, daß +diese Reise nicht nur meine persönliche Angelegenheit +war. »Ich verstehe Ihre gute Absicht,« sagte ich, »aber +wenn etwas mich in meinem Vorhaben noch bestärken +könnte, so sind es die Gründe, durch die Sie mich davon +abbringen wollen. Nichts ist mir von jeher so verächtlich +gewesen wie Lakaiengesinnung, gleichgültig ob +sie vor dem einzelnen oder vor der Masse zum Ausdruck +kommt —«.</p> + +<p>»Ich mute Ihnen doch nicht Lakaiengesinnung zu!« +unterbrach er mich heftig.</p> + +<p>»Was ist es anderes, wenn Sie verlangen, ich sollte +mich der Empfindung der Masse beugen, nicht weil sie +die rechte, sondern weil sie die herrschende ist?! Wir +kommen nie vom Fleck, wenn wir unsere bessere Einsicht +nicht zur Geltung bringen; wir erziehen dadurch +im Volk nur einen noch beschränkteren, noch despotischeren +Herrscher, als unsere Fürsten es sind.«</p> + +<p>»Im Grunde bin ich ja Ihrer Meinung,« lenkte er ein; +»es handelt sich doch in diesem Fall nur um eine kleine +Konzession, für die Sie größere Werte eintauschen werden.«</p> + +<p>Ich lachte spöttisch auf: »Meinen Sie?! Man wird +mir nicht mehr vertrauen und mich nicht weniger verleumden, +wenn ich auf die Reise verzichte. Aber man +wird wissen, daß ich kein Zeug zum Demagogen habe, +wenn ich auf meinen Entschluß beharre, — auch jetzt, +wo mir die Folgen klar sind.«</p> + +<p><a name="Page_576" id="Page_576"></a>Reinhard verabschiedete sich kühl und fremd. Er war +einer der Besten und Selbständigsten unter den Genossen. +»Ich fürchte, wir haben ihn verloren,« sagte mein Mann. +Ich unterdrückte einen schweren Seufzer.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Mitte Juni reisten wir ab. Schon im Zuge, +der uns nach Bremerhaven führte, freute ich +mich der Gegenwart Theodor Barths; — ein +freier Mensch und ein Gentleman, also einer der Seltenen, +mit denen sich über alle trennenden Schranken +der Politik verkehren läßt. Auf dem Schiff fanden sich +die übrigen Reisegefährten ein: neunundvierzig Journalisten, +unter denen ich die einzige Frau war. Ich +empfand, wie meine Anwesenheit sie beunruhigte. Sollten +sie mich als Dame oder als Sozialdemokratin behandeln? +Sie entschlossen sich in der Mehrzahl, ihrer politischen +Gesinnung auch auf dem neutralen Boden unseres +Dampfers unverfälschten Ausdruck zu geben. Offenbar +störte es sie nur, daß ich ihnen durch mein Benehmen +keinen besseren Anlaß dazu bot.</p> + +<p>Ich kümmerte mich wenig um sie; mit durstigen Zügen +atmete ich die frische Salzluft ein, und mit jeder Meile, +die wir uns von der Küste entfernten, fiel mehr und +mehr von mir ab, was lastend und quälend mein Herz +bedrückte. Ich stand lange am Zwischendeck, wo sie beieinander +hockten, all die Männer, Frauen und Kinder, +die das Vaterland ausgestoßen hatte. In dem Antlitz +der meisten blitzte etwas wie Zukunsfshoffnung auf. Fast +dünkte es mich beneidenswert: das alte Leben hinter +<a name="Page_577" id="Page_577"></a>sich zu lassen und nur mit dem leichten Bündel unter +dem Arm einem neuen entgegen zu gehen.</p> + +<p>In London hatte Beerbohm Tree in seinem Theater +für die deutschen Gäste den ersten Empfang bereitet. +Ich ging nicht hin; unsere heimische Bühnenkunst hat +uns den Geschmack für ein Komödiantentum verdorben, +das vielleicht vor fünfzig Jahren auch bei uns noch das +herrschende war. Ich erwartete statt dessen Stratfords +Besuch.</p> + +<p>»Wissen Sie noch, wie wir damals voneinander +gingen?« fragte er nach der ersten Begrüßung.</p> + +<p>Ich nickte lächelnd: »Ein Mann, wie Sie, gehört der +Sache des Sozialismus, sagte ich Ihnen.«</p> + +<p>»Wären nur nicht der Fesseln so viele, antwortete +ich, und Sie riefen mir zu: ›wir werden sie beide zerbrechen +müssen‹ — nun haben wir sie zerbrochen!«</p> + +<p>Überrascht sah ich ihn an.</p> + +<p>»Ich kandidiere als Vertreter der Arbeiterpartei für +das Parlament,« fügte er mit einem Aufleuchten in den +hellen Augen hinzu.</p> + +<p>Ich drückte ihm die Hand.</p> + +<p>Er schien einen Ausdruck größerer Freude erwartet +zu haben. »Haben Sie das Kettenbrechen bereut?!« +fragte er zweifelnd.</p> + +<p>»Nein, lieber Freund,« antwortete ich mit starker +Betonung, »nein! Ich erinnerte mich nur der wunden +Hände, die es kostet.«</p> + +<p>Am nächsten Morgen sprach ich John Burns auf der +Themseterrasse des Parlaments. Mir schien, als sei es +gestern gewesen, daß er mir auf den Marmortisch die Situation +der deutschen Sozialdemokratie aufgezeichnet hatte.</p> +<p><a name="Page_578" id="Page_578"></a></p> +<p>»Habe ich nicht recht behalten?« fragte er im Laufe +des Gesprächs.</p> + +<p>»Nicht ganz,« entgegnete ich; »der Druck von außen +preßt uns zwar zusammen, aber er hindert nicht nur +die Wirkung über seinen Ring hinaus, er trägt auch +dazu bei, daß wir unsere Kräfte im gegenseitigen Kleinkrieg +verzetteln.«</p> + +<p>»Sie übertreiben,« meinte er leichthin. »Jeder Kampf +ist Leben und weckt Leben! Sie sind wie der Akteur +auf der Bühne, der das Ganze nicht übersehen kann, +während wir, die Zuschauer, von fern mit unserem +Opernglas Handlung und Szenerien begreifen. Der +deutsche Revisionismus siegt nicht nur, — er hat schon +gesiegt.«</p> + +<p>Ich lächelte ein wenig von oben herab zu seinen +apodiktischen Sätzen und lenkte die Unterhaltung auf +sein eigenes Wirken.</p> + +<p>»Ich bin nach wie vor Sozialist, gerade weil mich +keine Arbeit schreckt, wenn es gilt, meiner Überzeugung +auch nur einen Fuß breit Boden zu gewinnen,« sagte er, +»ich scheue nichts, wenn der Preis dafür mehr Macht +ist. Wer immer nur zuschaut und schimpft und kritisiert +und dazwischen moralische Bomben wirft, ist in +meinen Augen Anarchist.«</p> + +<p>Einer der deutschen Englandfahrer näherte sich in +respektvoller Haltung. Unser langes Gespräch setzte ihn +offenbar in Erstaunen. Er wartete darauf, vorgestellt +zu werden. Und erst jetzt fiel mir ein: der John Burns +von heute war ja Minister!</p> + +<p>Der Gastfreundschaft, mit der uns die Engländer +empfingen, entzog ich mich von da an nur selten. Ich +<a name="Page_579" id="Page_579"></a>hatte meine leise Freude an den verblüfften Gesichtern +meiner Reisegefährten, die allmählich einsahen, daß im +Lande alter Kultur nur die Erziehung, nicht aber die +politische Stellung des Einzelnen gesellschaftliche Unterschiede +herbeiführt, und ich merkte erst jetzt, wo ich einmal +wieder als Gleiche von Gleichen behandelt wurde, +wieviel ich entbehrt hatte.</p> + +<p>Eines Vormittags besichtigten wir den Tower. Schon +als ich aus dem Hotel trat, war mir aufgefallen, daß +die photographischen Kameras der englischen Reporter +sich plötzlich auf mich richteten.</p> + +<p>Auf dem Wege kam Bernard Shaw mir entgegen +und reichte mir mit einem sarkastischen: »Da haben Sie +wieder einmal ein unverfälschtes Zeugnis der deutschen +Sozialdemokratie,« ein englisches Morgenblatt.</p> + +<p>Es enthielt ein Telegramm aus Berlin: »Der ›Vorwärts‹ +beschuldigt Frau Alix Brandt, die einzige Vertreterin +der sozialdemokratischen Presse bei der Englandreise +deutscher Journalisten, des Parteiverrats und kündigt +ihr an, daß sie ihres unbotmäßigen Verhaltens +wegen zur Rechenschaft gezogen werden würde.«</p> + +<p>Ich ballte das Blatt Papier heftig zusammen und +schleuderte es zu Boden. »Das glaube ich nicht,« stieß +ich zornig hervor.</p> + +<p>Shaw lachte: »Und doch ist nichts gewisser, weil +nichts folgerichtiger ist! Die deutsche Partei ist von +nichts freier als von — Freiheit. Sie ist die konservativste, +die respektabelste, die moralischste und die bürgerlichste +Partei Europas. Sie ist keine rohe Partei +der Tat, sondern eine Kanzel, von der herab Männer +mit alten Ideen eindrucksvolle Moralpredigten halten.<a name="Page_580" id="Page_580"></a> +Mit Millionen von Stimmen zu ihrer Verfügung, widersteht +sie den Lockungen des Ehrgeizes und denen realer +Vorteile, die ein öffentliches Amt mit sich bringt, und +bezeichnet denjenigen, der sich von den Freuden tugendhafter +Entrüstung zu den Arbeiten praktischer Verwaltung +wendet oder auch nur an einer allgemeinen Veranstaltung +in öffentlichem Interesse teilnimmt, als einen +Abtrünnigen und Verräter. Freiheit vom Dogmenglauben +ist eines der Grundprinzipien des echten Sozialismus, — die +Deutschen sind dogmatischer als die +Kirchenväter. Der Wille zur Macht ist ein anderes, — die +Deutschen machen den Willen zur Phrase daraus. +Die Herrschaft des Geistes ist ein letztes, im Gegensatz +zur Herrschaft des Kapitals, — die Deutschen stellen +das auf den Kopf und verlangen die Unterwerfung unter +die Herrschaft der Masse.«</p> + +<p>Ich hatte seinen raschen Redefluß, den der Zorn diktierte, +nicht unterbrochen. Ich hörte den gleichen Ton +heraus wie bei den Worten von Burns, und in mir +begann eine Saite, die schon lange leise tönte, lebhaft +mitzuschwingen.</p> + +<p>Noch am selben Abend bekam ich einen Brief von +Keir Hardie.</p> + +<p>»... Ich bin ganz außerstande, zu begreifen, welches +der Grund sein konnte, Ihre Teilnahme an der Englandreise +zu verurteilen,« hieß es darin. »Es ist für +uns Sozialisten in England eine selbstverständliche Gewohnheit, +gelegentlich mit Nichtsozialisten zusammenzugehen, +wenn es im Interesse der Förderung einer +großen und guten Sache gelegen ist. Unsere Erfahrung +hat uns bewiesen, daß der Sozialismus dadurch nur +<a name="Page_581" id="Page_581"></a>gestärkt werden kann. Ich will damit nicht behaupten, +daß unsere deutschen Genossen unserem Beispiel unbedingt +folgen müßten, aber im vorliegenden Fall bleibt +ihre Haltung Ihnen gegenüber mir vollständig unverständlich ...«</p> + +<p>Ich stand nun plötzlich im Mittelpunkt des Interesses +und wurde von Interviewern belagert, die von der +ganzen Sache keine andere Auffassung hatten, als daß +die große deutsche Arbeiterpartei sich dadurch dem Gelächter +der Welt ausgesetzt habe. Und ich gab ihnen +stets die gleiche Antwort: »Die Sozialdemokratie, der +ich stolz bin anzugehören, hat mit den Quertreibereien +einzelner von preußischem Polizeigeist durchseuchter Genossen +nichts zu tun.« Als aber mein Mann mir die +Zeitungen schickte, — nicht nur den ›Vorwärts‹, sondern +eine ganze Anzahl anderer Parteiblätter, — da +schämte ich mich und ging den Interviewern so weit +als möglich aus dem Wege, um nicht reden zu müssen. +Und doch war es weniger die beleidigende Form der +Angriffe, die mich verletzte, als die Gehässigkeit, +die dabei zum Ausdruck kam. Wie stark mußte +sie sein, um alle Klugheit, alle Rücksicht auf das Ansehen +der Partei beiseite zu schieben? Oder gab es +etwas Lächerlicheres, als meine Reise, — gleichgültig, ob +man sie verurteilte oder nicht, — zu einem Parteiskandal +aufzubauschen? Nur eine tiefe, innere Krankheit konnte +solche Symptome zeitigen. Ich kämpfte noch mit mir, +ob es nicht meiner unwürdig wäre, mich gegen Ausbrüche +der Pöbelgesinnung zu verteidigen, als ich die +Antwort erhielt, die mein Mann der Parteipresse hatte +zugehen lassen. Das waren Rutenstreiche, — es blieb +<a name="Page_582" id="Page_582"></a>mir nichts zu sagen übrig. Seltsam nur, daß die Ritterlichkeit, +mit der er für mich eintrat, eine alte Wunde +aufs neue bluten machte, statt sie zu schließen.</p> + +<p>Der Schatten, der sich mir über Englands schöne +Sommertage breitete, wich nicht mehr.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Ich hatte immer gegen Massen-Museumsführungen, +gegen Gesellschaftsreisen und dergleichen eine ausgesprochene +Abneigung gehabt. Wem Kunst und +Natur mehr sein soll als ein Gesprächsthema, der muß +ihnen Auge in Auge still und allein gegenüberstehen. Und +wer vor den Heiligtümern der Menschheit seine Andacht +verrichten will, der kann es nur in Gegenwart derer, +die seine Nächsten sind.</p> + +<p>Wir traten zusammen an Shakespeares Grab, — es +war wie ein Sakrileg. Wir kamen in sein Geburtshaus +und in die blumenumrankte, strohgedeckte Hütte +seiner Liebsten, — aber Shakespeares Geist floh vor uns.</p> + +<p>Wir kamen nach Cambridge, jener alten Universität, +die sich den Typus der mittelalterlichen Klosterstadt noch +erhalten hat. Wer ihre Säulenhallen um alte Gärten +allein betreten könnte, dem müßten die Bäume in den +Weisen derer rauschen und flüstern, die hier dichteten: +eines Marlowe, Milton, Byron. Und wer sich still an +einen alten Pfeiler lehnen und in die dämmernden +Bogengänge blicken dürfte, dem würde aus dunkel geschnitzten +Pforten Erasmus von Rotterdam entgegentreten, +und Cromwell, und Newton.</p> + +<p>Wir sahen nur freundliche Professoren und Photographen +und hörten Reden und Tellergeklapper.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_583" id="Page_583"></a></p> + +<p>Als die Mehrzahl der Geladenen England wieder +verlassen hatte, sprach ich meinen Freund Stead, +der als Reisemarschall der Gäste unaufhörlich +in Anspruch genommen gewesen war, zum erstenmal allein.</p> + +<p>»Ihnen geht es gut,« sagte er, als wir einander in +seinem Heim gegenüber saßen.</p> + +<p>»Woher wissen Sie das?« fragte ich mit einem bitteren +Gefühl im Herzen.</p> + +<p>»Sollten Sie etwa noch den alten Glücksbegriffen +huldigen?« fragte er dagegen.</p> + +<p>»Jeder hat seine persönlichen,« antwortete ich ausweichend.</p> + +<p>»Und sollte nur einen haben, aus dem sich alle +anderen entwickeln: leistungsfähig zu sein,« ergänzte er. +War ich schon so alt, daß er mir solch einen Glücksbegriff +zumutete, der mir nur mit äußerster Selbstverleugnung +Hand in Hand zu gehen schien?</p> + +<p>»Sie mißverstehen mich,« meinte er. »Ich begreife +darunter die stärkste Selbstbehauptung: die Entwicklung +aller Fähigkeiten zum äußersten Maß ihrer Leistungskraft ...« +Wir wurden unterbrochen; es war gut so, +denn um so stärker prägten sich mir seine Worte ein.</p> + +<p>Nun blieb mir noch übrig, ehe ich heimfuhr, zu +erreichen, was ich mir vorgenommen hatte. Ich +verhandelte mit verschiedenen Redaktionen wegen der +Übernahme einer deutschen Korrespondenz. In den +Briefen meines Mannes spürte ich immer deutlicher den +schweren Atem der Sorgen. Um irgend eine ihrer +Lasten erleichtert, mußte ich nach Hause kommen. Aber +so oft ich auch durch die glutheißen Straßen Londons +<a name="Page_584" id="Page_584"></a>von einem Bureau zum anderen ging, meine Abreise +immer wieder aufschiebend, weil eine neue leise Hoffnung +mich festhielt, das Ergebnis blieb ein negatives. +Inzwischen war auch die bürgerliche Presse Deutschlands +meiner Reise wegen über mich hergefallen, — die +vereinzelten Stimmen der Verteidigung waren im +Chor der Schreier verhallt, — das mochte die höflich +ablehnende Haltung mit verursachen. Ich mußte mich +entschließen, mit leeren Händen zurückzukehren. Nur +einer Einladung wollte ich noch Folge leisten.</p> + +<p>In Warwick, einem Städtchen am Avon, das von den +dicken Türmen einer uralten Burg überragt wird, fand eines +jener historischen Festspiele statt, an denen sich alljährlich +in den verschiedenen Gegenden Englands die ganze +Bevölkerung beteiligt. Ich fuhr hin und sah im Park +des Schlosses die Darstellung jenes glanzumflossenen +Teiles der englischen Geschichte, von der seine Mauern +noch erzählen. Auf der weiten, von mächtigen Bäumen +zu beiden Seiten abgeschlossenen Rasenfläche, mit dem +Fluß in der Mitte, der zwischen blühenden Rosenbüschen +und hängenden Weiden lautlos vorüberzieht, und dem +Hintergrund einer sanft verschwimmenden Hügellandschaft +zogen Jahrhunderte vorüber. Und zuletzt vereinigten +sich noch einmal zweitausend Menschen zu Fuß +und zu Pferde in den Rüstungen und Gewändern aller +Zeiten. Nun kommt die Schlußapotheose, dachte ich, +mit der Büste des Königs und einem »Rule Britannia« +aus allen Kehlen. Ich erhob mich, um zu gehen.</p> + +<p>Aber da sah ich, wie die Ritter und Edeldamen, die +Fürsten und Könige langsam und leise hinter Bäumen +und Büschen verschwanden. Nur einer blieb zurück, +<a name="Page_585" id="Page_585"></a>allein, weltbeherrschend, als wäre die jahrhundertelange +Entwicklung nur notwendig gewesen, um diesen einen +hervorzubringen, der größer ist als alle: William Shakespeare.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Der Wille zur Macht, — die höchstmögliche +Entwicklung der Persönlichkeit als Ziel des +einzelnen, — der Übermensch als Ziel der +Menschheit —: zu einem einzigen vollen Akkord vereinigten +sich plötzlich die Klänge, die mir diesmal in +England entgegengetönt hatten. Mein Herz schlug zum +Zerspringen wie das eines Gefangenen, dem die Ketten +vom Fuße gelöst werden und die Pforten sich öffnen +zur freien Wanderschaft. Er sieht nichts wieder als die +alte vertraute Welt seiner Jugend, und doch erscheint +sie ihm wie ein Wunder so neu. Ein halbes Kind war +ich gewesen, als ich aus Nietzsches Fröhlicher Wissenschaft +den ersten Ruf persönlicher Befreiung vernahm: +»Das Leben sagt: Folge mir nicht nach; sondern dir! +sondern dir!« — Galt nicht derselbe Ruf heute der +Menschheit?</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Am letzten Tage meines londoner Aufenthalts +traf ich auf der Straße eine Kapitänin der +Heilsarmee, die mich herzlich begrüßte.</p> + +<p>»Sie kennen mich wohl nicht mehr?« fragte sie lächelnd; +»aber der Nacht in Whitechapel vor elf Jahren erinnern +Sie sich gewiß.«</p> + +<p>Im Augenblick sah ich das Weib wieder vor mir, +<a name="Page_586" id="Page_586"></a>die, von den Gefährten ihres Jammers umringt, im +Schmutz der Gasse geboren hatte. Ich streckte meiner +einstigen Führerin erschüttert die Hand entgegen.</p> + +<p>»Sie würden mir heute, nach all den Reformen des +Grafschaftsrats, nichts Ähnliches zeigen können,« sagte ich.</p> + +<p>»Man hat aufgeräumt, — gewiß,« antwortete sie +ruhig, »und an Stelle mancher elenden Häuser neue gebaut, +aber das Elend ist immer dasselbe. Die einen +sterben, andere wandern zu ...«</p> + +<p>»Entsetzlich!« rief ich aus. »Wie können Sie das nur +ertragen?! Erscheint Ihnen nicht Ihre ganze Arbeit +hoffnungslos?!«</p> + +<p>Sie lächelte freundlich: »Ich habe viele Seelen gewonnen, +denen für allen Erdenjammer der Himmel +offen steht.«</p> + +<p>Noch nie war mir der Christenglaube so grausam erschienen +als in diesem Augenblick. Wie eine Zyklopenmauer +richtete er sich auf zwischen den Menschen und +ihrer Erlösung. Ich verabschiedete mich rasch. Den +vollen Akkord, den ich eben noch vernommen hatte, +durchtönte eine schrille Dissonanz. Ich war der schaffende +Künstler nicht, der die einheitliche Lösung hätte finden +können. Als ich aber dann heimwärts fuhr, beherrschte +mich nicht mehr jene niederdrückende Empfindung, mit +leeren Händen zu kommen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_587" id="Page_587"></a></p> + +<p>Mein Mann empfing mich mit wehmütiger Zärtlichkeit, +sodaß ich ihm angstvoll forschend ins +Auge sah. »Es ist nichts, Kind, nichts!« +wehrte er in nervöser Erregung ab. »Ich bin nur abgespannt, — nur +müde.« Aber allmählich erfuhr ich +doch, was geschehen war: eine Gruppe von Parteigenossen +seines Wahlkreises forderte von ihm die Niederlegung +seines Mandats, weil — ich mich an der Englandreise +beteiligt hatte, und ein außerordentlicher Kreistag +sollte darüber entscheiden.</p> + +<p>Glühende Sommerhitze brütete über der Mark; an +den Bäumen in den Straßen hingen die Blätter schon +gelb und tot; kein Lüftchen rührte sich, und doch umgaben +dichte Staubwolken den Wagen, der uns von +Gusow nach Platkow führte. In dem kleinen Saal +herrschte unerträgliche Schwüle. Er war schon gefüllt, +als wir kamen: von lauter schweigenden Menschen mit +harten Zügen und finsteren Blicken. Unsere alten Kampfgefährten +rührten kaum an die Mütze bei unserem Eintritt. +Einen Augenblick lang umklammerte ich den Arm +meines Mannes, — außer ihm hatte ich hier keinen +Freund mehr. Die Anklage wurde verlesen. Es war +die Sprache des »Vorwärts«, den sie führte. »Das hat +Berlin diktiert!« rief Heinrich. Die Falten auf der +Stirn unserer Richter vertieften sich.</p> + +<p>Mein Mann antwortete zuerst. Er erinnerte daran, +wie häufig schon hervorragende Parteigenossen sich mit +politischen Gegnern zu gemeinsamer Arbeit vereinigt +hätten, wie es auch an Beispielen für das harmlosere +Zusammensein zu geselligen Zwecken nicht gefehlt habe.<a name="Page_588" id="Page_588"></a> +Und als einer wütend dazwischen schrie: »Die Monarchentoaste!« +erklärte er, daß die Teilnahme an dieser Form +internationaler Höflichkeit um so weniger als eine Verleugnung +der republikanischen Gesinnung angesehen +werden könne, nachdem wir uns den viel ernsteren Treueiden +der Landtagsabgeordneten unterwerfen müßten. +Als er geendet hatte, hoben sich ein paar Hände zu +schüchternem Applaus; die Mehrzahl der Genossen aber +verharrte weiter in finsterem Schweigen. Die nach ihm +sprachen, hatten ihre Reden alle auf einen Ton gestimmt: +daß die Partei durch uns geschädigt worden sei.</p> + +<p>»Für uns jibt's nur ein rechts und links,« rief +der Maurer Merten; »die Akademiker, die nich Fleisch +sind von unserem Fleisch, die zieht's eben immer wieder +zu den Bourgeois. Ich aber sage Euch, Jenossen« — dabei +hieb er mit der breiten Faust auf den Tisch — »sowas +dürfen wir uns nich länger gefallen lassen, am +wenigsten von unserem Abgeordneten. Was wäre verloren, +wenn die Jenossin Brandt nich nach England jefahren +wäre?! Es wäre ooch noch so! Nu aber, wo +sie hinfuhr, sehen wir, daß sie kein proletarisches Bewußtsein +hat; daß sie den Klassenkampf in Harmonieduselei +verwandeln möchte und statt gegen die Gegner +neben uns zu stehen mit ihnen bei Schampagner un +Braten techtelmechtelt ...«</p> + +<p>»Bravo, Bravo« — klang es von allen Seiten, während +mein Mann wütend vom Stuhl sprang und ein +»Unverschämt!« zwischen den Zähnen hervorstieß. Mich +packte ein jäher Schreck, als habe sich plötzlich vor mir +die Erde gespalten: standen wir allein auf der einen +Seite und jenseits die selbsterwählten Gefährten?!</p> +<p><a name="Page_589" id="Page_589"></a></p> +<p>»Die Genossin Brandt hat das Wort,« hörte ich wie +von weit her sagen. Ich sammelte mich rasch. Aller +Augen sah ich auf mich gerichtet.</p> + +<p>»Mein Vorredner,« begann ich, »hat einen konsequenten +Standpunkt vertreten, er hätte nur hinzufügen +müssen, warum bei uns zum Verbrechen gestempelt wird, +was anderen kein Härchen krümmte: wir sind des Revisionismus +verdächtig. Das Schauspiel, das Sie hier +aufführen, wäre noch kläglicher, als es so wie so schon +ist, wenn nicht im Hintergrund tiefere Differenzen +schliefen. Sie stehen auf dem Boden des Klassenkampfes, — wir +auch; Sie hassen die kapitalistische +Wirtschaftsordnung, — wir auch. Aber ihrer selbst unbewußt, +führen Sie den Klassenkampf im Sinne des +Krieges; Sie wollen den Gegner niederzwingen, Sie +wollen sein Land erobern. Sie, die Sie seit Jahrtausenden +die Lastträger der Menschheit sind, würden +es schon als gerecht empfinden, wenn nur die Rollen +der Unterdrücker und Unterdrückten vertauscht würden. +Sie sehen in jedem Vertreter der herrschenden Gesellschaft +einen Feind, weil Sie ihm als die Abhängigen, +Unfreien gegenüberstehen, weil Sie ihm schon das bloße +Sattsein neiden müssen. Wir können Ihren von der +Bitterkeit des eigenen Herzens genährten Haß nicht mitfühlen, +denn nicht persönliches Leiden machte uns zu +Ihren Genossen. Uns ist das Ziel des Kampfes nicht +die veränderte Herrschaft von Menschen über Menschen, +sondern die uneingeschränkte Herrschaft der Menschheit +über die Natur. Die Erde wollen wir erobern, um +gleiche Entwicklungsbedingungen für alle zu schaffen, +nicht Feindesland, das Unterworfene beackern sollen ...«</p> + +<p><a name="Page_590" id="Page_590"></a>Ein unwilliges Gemurmel erhob sich. Im Saal fing +es an zu dämmern. Ich unterschied nur noch die Zunächstsitzenden. +Sonst war alles eine schwarze Masse, +aus der nur hie und da ein kahler, breiter Schädel, +ein weißer Bart, der glühende Punkt einer Zigarre herausleuchtete.</p> + +<p>»Die Diktatur des Proletariats!« klang es mit tiefer +Stimme drohend aus dem dunkelsten Winkel.</p> + +<p>Die Jakobiner! antwortete es in meinem Innern. Ich +fühlte, die Luft war geladen mit Sprengstoff gegen mich.</p> + +<p>Den Faden meiner Rede hatte ich verloren, und unsicher +und leise fuhr ich fort: »Ich habe Schulter an +Schulter mit Ihnen gekämpft, — was bedeutet das +gegenüber der Tatsache, daß ich mit politischen Gegnern +auf demselben Schiff nach England fuhr! Wir haben +zusammen diesen Wahlkreis erobert, und in jener Nacht, +da die alte rote Fahne als Zeichen des Sieges über +uns flatterte, hat uns ein starkes Gefühl, wie ich glaubte, +auf immer verbunden, — aber was bedeutet das gegenüber +dem Verbrechen der Kaisertoaste! Der Zweck der +Reise war nichts anderes, als was im Interesse des +Sozialismus gelegen ist, — was bedeutet das gegenüber +der Sünde, mit Nichtsozialisten an einem Tische gesessen +zu haben! Dafür ist's nicht genug, daß unsere Presse +mich beschimpfte, wie kein bürgerliches Blatt jemals zuvor, — nein, +es muß auch noch ein Exempel statuiert +werden: der Genosse Brandt muß fallen! ... Nicht um +unsertwillen, denn nicht wir sind die Unterlegenen, wenn +Sie den vorliegenden Antrag annehmen, sondern im Interesse +der Partei erwarte ich von Ihnen seine Ablehnung. +Leisten Sie ihm Folge, so enthüllen Sie eine +<a name="Page_591" id="Page_591"></a>schwärende Wunde, und das in einem Augenblick, wo +die bürgerliche Welt gierig darauf wartet, uns bei einer +Schwäche ertappen zu können ...«</p> + +<p>Keine Hand rührte sich. Die Petroleumlampe, die +von einem roten Papierschirm umgeben, von der Decke +herabhing, flammte auf und warf ein unsicher flackerndes +Licht über heiße Gesichter.</p> + +<p>Mein Mann sprach noch einmal, — kalt, zornig. +»Ich verlange nicht nur, daß Sie den Antrag ablehnen, +sondern daß Sie ihn zurückziehen,« sagte er.</p> + +<p>Der Geruch der qualmenden Lampe machte mich +schwindeln. Während der Pause, die die Genossen zur +internen Beratung anberaumt hatten, verließen wir den +Saal. Draußen empfing uns die stille, mondhelle Nacht. +Das Armenhaus gegenüber warf einen breiten, schwarzen +Schatten auf den Sand.</p> + +<p>»Der Antrag, den Genossen Brandt zur Niederlegung +seines Mandats zu veranlassen, ist zurückgezogen,« erklärte +der Vorsitzende, als wir wieder eintraten.</p> + +<p>Die Versammlung ging ruhig auseinander. Wir verabschiedeten +uns mit einem förmlichen Gruß. Auf unserem +Wege nach der Station geleitete uns niemand.</p> + +<p>Kaum waren wir ein paar Tage lang in unsere Arbeit +wieder vertieft, als ich erfuhr, daß die Berliner +Parteileitung mich aus der offiziellen Rednerliste der +Partei gestrichen habe. Ich legte Protest ein und verlangte, +gehört zu werden.</p> + +<p>Man lud mich vor. Rings um den Saal saßen +die Männer, in der Mitte an einer langen Tafel +die Frauen, Wanda Orbin an ihrer Spitze. Sie +waren meine Ankläger gewesen. Martha Bartels war +<a name="Page_592" id="Page_592"></a>der Staatsanwalt. Sie zählte alle meine Sünden +auf, von einer Agitationsreise an, die ich vor vier +Jahren hatte absagen müssen, bis zur Englandfahrt. +Aber auch meine Verteidigung war eine Anklage: +ich verschwieg nichts. Mitten in meiner Rede +erhob sich Wanda Orbin ungestüm von ihrem Platz; +ich sah, wie ein Zittern ihren Körper durchlief, wie der +Zorn ihre Züge verzerrte. Im nächsten Augenblick stand +sie vor mir und erhob die Faust, — einer der zunächst +sitzenden Genossen sprang dazwischen.</p> + +<p>»So diskutieren wir nicht!« rief er empört.</p> + +<p>Der Beschluß, meinen Namen von der Rednerliste zu +entfernen, wurde aufgehoben. Das Verhalten Wanda +Orbins mochte die Genossen stutzig gemacht haben. +Trotzdem war mein Sieg nur ein scheinbarer; in seinen +Folgen blieb der Beschluß bestehen.</p> + +<p>Eine tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigte sich meiner. +Jeder Kampf um Ideen wirkt erfrischend, selbst wenn +er mit den schärfsten Waffen geführt wird. Aber was ich +erlebte, war so eng, so klein, hinterließ einen so arm, +mit einem so bitteren Geschmack auf der Zunge. Nicht +Gewitterschwüle war's, die lastend auf mir ruhte und +die Hoffnung auf Blitz und Wolkenbruch weckt, sondern +feuchtwarmer Nebel, ganz dichter, undurchdringlicher. +Und er umschlang mit seinen langen Armen, die sich +nicht greifen, noch weniger zurückstoßen lassen, die ganze +Partei.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_593" id="Page_593"></a></p> + +<p>Unter dem Zeichen der siegreichen russischen Revolution +hatte der Jenaer Parteitag gestanden, +eine tiefe Erregung, die nach Taten +schrie, hatte sich aller bemächtigt; die Resolution zum +Massenstreik hatte angesichts dieser Stimmung, so vorsichtig +sie gefaßt war, wie eine Fanfare geklungen. +Und nun war der Rausch vorüber; die Ernüchterung +allein blieb. In kleinlichem Hader, in gegenseitigen +Vorwürfen machte sie sich Luft.</p> + +<p>Mit steigendem Mißbehagen empfanden die Nur-Politiker +den leisen Hohn, mit dem die Gewerkschafter +ihnen begegneten. Sie hatten von jeher dem Theoretisieren +über den Massenstreik skeptisch gegenübergestanden, +und auf ihrem Kongreß in Köln sprachen sie sich rückhaltlos +aus; von der Unfruchtbarkeit der Partei, von +dem stagnierenden Sumpf der gegenwärtigen Situation, +von der kläglichen Lage, in die wir durch die wirkungslos +verpuffte Landtagswahldemonstration gekommen seien, +von dem Mißverhältnis zwischen Worten und Taten +war viel die Rede. Nicht ohne berechtigten Stolz wiesen +sie darauf hin, daß die anderthalb Millionen gewerkschaftlich +Organisierter eine stärkere Macht repräsentierten +als die viermalhunderttausend Mitglieder der +sozialdemokratischen Wahlvereine.</p> + +<p>»Ich habe die Möglichkeit einer Spaltung der Partei +immer weit von mir gewiesen,« sagte einer der gewerkschaftlichen +Führer; »aber wenn die Dinge sich weiter +entwickeln wie jetzt, dann reißt uns, weiß Gott, die +Geduld! Die Radikalen, die, wenn man den Firnis +abkratzt, nichts sind als gewöhnliche Spießer, bilden +<a name="Page_594" id="Page_594"></a>sich ein, wir tanzen nach ihrer Pfeife, bloß weil sie so +laut ist. Sie sollen sich wundern!«</p> + +<p>Auf dem Parteitag zu Mannheim kam es zu einem +Duell zwischen Bebel und Legien. Keiner war unbestrittener +Sieger, Wunden trugen beide davon, die +sogenannte Einigungsresolution war nichts als ein +Pflaster. Und die schweren Nebelschwaden senkten sich +tiefer.</p> + +<p>Plötzlich aber erhob sich ein Sturm, den kein Wetterkundiger +vorausgesehen hatte: die Regierung forderte +einen Nachtragsetat für den Krieg gegen die Hereros, +der im Verhältnis zu den Millionen, die die Reichstagsmehrheit +bisher für die Kolonien bewilligt hatte, +eine Lappalie war. Von den Rednern des Zentrums +und der Sozialdemokratie wurde dabei die ganze Kolonialpolitik +mit ihren Gewaltmaßregeln, ihren Grausamkeiten +aufgerollt, und zu allgemeiner Überraschung wurde +der Kredit für Südwest-Afrika abgelehnt. Das erschien +der Regierung als der geeignete Moment, dem Volke +durch die Tat zu beweisen, daß der Konstitutionalismus +in Deutschland nur auf dem Papiere steht: nicht der +Kanzler und die Minister danken ab, wenn die Volksvertreter +sie desavouieren, sondern die Volksvertreter +werden mit einem Fußtritt hinausgeworfen, wenn sie +das persönliche Regiment nicht jasagend anerkennen.</p> + +<p>Wir erfuhren die Nachricht der Reichstagsauflösung, +als wir mit Romberg im Kaffee des Kaiserhofs saßen. +Und hier, wo eine Anzahl der politischen Berichterstatter +größerer Zeitungen zu verkehren pflegten, rief +sie einen Aufruhr hervor, wie ihn Berlin sonst nicht +kannte.</p> +<p><a name="Page_595" id="Page_595"></a></p> +<p>»Eine unglaubliche Dummheit der Regierung!« rief +der eine stirnrunzelnd, der andere frohlockend.</p> + +<p>»Nun geht's in den Kampf —« Ich mußte an mich +halten, um es nicht jubelnd herauszustoßen. Ich sah +wieder entwölkten Himmel, weiten Horizont.</p> + +<p>»Wenn die Partei sich selbst zerfleischt, so ist noch +immer die Regierung zugesprungen, um die Wunden zu +heilen,« sagte mein Mann. Romberg zuckte die Achseln:</p> + +<p>»Die Kolonialfrage als Wahlparole?! Ich fürchte, +Sie täuschen sich über ihre Bedeutung.«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Der Winter war ungewöhnlich hart damals. +Gerade die Not, die ihn zum Gefolge hat, +macht ihn zu unserem Agitator, dachte ich. +Alle unsere Gegner, an ihrer Spitze der Reichsverband +gegen die Sozialdemokratie und der Flottenverein, rüsteten +sich bis an die Zähne wider uns. Ich war überzeugt: +das steigere nur unsere Kampflust und festige unsere +Einigkeit wieder. Fürst Bülow selbst trat auf das +Schlachtfeld und rief die staatserhaltenden Kräfte gegen +die Sozialdemokratie auf. Dieses Eingreifen des höchsten +Staatsbeamten wird selbst unsere lauen Anhänger zu +hellem Zorn entflammen, — dessen war ich gewiß.</p> + +<p>Und der Kampf begann. Über knirschenden Schnee +flog der Schlitten, der mich von einem Dorf zum anderen +trug. Oft bestieg ich ihn, glühheiß von der eben +gehaltenen Rede, und die Luft, die mir den Atem am +Munde gefrieren ließ, schien mir eine Wohltat. In +den niedrigen Sälen fanden sich die Menschen ein wie +sonst, aber der Sturm, der in den Schornsteinen heulte, +<a name="Page_596" id="Page_596"></a>der Schnee, der in dichten Flocken gegen die Fenster +flog, trieb ihnen kühle Schauer über den Rücken.</p> + +<p>Je näher der Tag der Entscheidung rückte, desto +fieberhafter arbeiteten wir. Den Husten, der mir des +Nachts den Körper erschütterte, suchte ich zu ersticken, +meine Stimme, die versagen wollte, zwang ich unter +meinen Willen. Wir glaubten an den Sieg. Und +in Augenblicken selbstvergessener Hoffnung, wo die bösen +Geister der Sorge vor unserer Zuversicht die Flucht ergriffen, +wo alle Furcht sich verkroch wie Schakale vor +der aufgehenden Sonne, da fühlte ich, wie mein Herz +heiß wurde und der Aberglaube Gewalt über mich +bekam: von der Entscheidung hängt auch unsere Zukunft +ab.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Wieder, wie vor vier Jahren, saßen wir am +Abend der Wahl im Gewerkschaftshaus zu +Frankfurt. Und wieder hatte die Gärtnersfrau +den Korb voll roter Nelken neben sich, und die +Fahne lehnte eingerollt an der Wand. Aber die Genossen, +die sich allmählich hereindrängten, machten ernste +Gesichter, und die Boten, die kamen, brachten lauter +Hiobsposten. Kein Ort, ohne einen Rückgang unserer +Stimmen! Dazwischen die Depeschen aus anderen Kreisen: +Verlust um Verlust. Noch ehe die letzten Nachrichten +gekommen waren, leerte sich die Straße unter unseren +Fenstern, und aus dem Saal schlich sich leise einer nach +dem anderen. Es schlug Mitternacht, — die Nelken +welkten schon im Korbe. Wir waren nur noch ein Häuf<a name="Page_597" id="Page_597"></a>lein +in dem großen öden Raum, — wir wollten uns +nichts ersparen: die Schlacht war endgültig verloren.</p> + +<p>Wenige Tage später — in der Nacht nach den Stichwahlen — gingen +wir durch die Straßen Berlins: da +kamen sie in langen Zügen, unsere Überwinder — kein +Polizeisäbel, kein Schutzmannskordon hielt sie auf. Vor +dem Königsschloß sammelten sie sich in schwarzen Massen. +»Heil dir im Siegerkranz —« brausend stiegen die Töne +durch die klare Winterluft zu dem hellen Fenster empor, +an dem der sich zeigte, der heute in Wahrheit der +Sieger war: der Kaiser.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_598" id="Page_598"></a></p> +<h2><a name="Siebzehntes_Kapitel" id="Siebzehntes_Kapitel"></a>Siebzehntes Kapitel</h2> + + +<p>Vor einem halben Menschenalter war's. Ich +stand allein auf Bergesspitze im Gewittersturm. +Dicht über mir hingen die Wolken, aus denen +das Wasser brausend in die Tiefe schoß, unter mir +ballten sie sich zusammen und verdeckten jeden Ausblick +auf stille Dörfer und freundliche Heimstätten. Der +Donner rollte; die Berge antworteten ihm, — ein Gelächter +der Riesen über das kleine Menschengeschlecht. +Jeder Blitz öffnete die Wolkenwand; das Himmelsgewölbe +dahinter stand in Flammen.</p> + +<p>Ich aber konnte nicht vor, — nicht zurück. Ich mußte +mich dem Wetter preisgeben, — und ich fürchtete +mich — —</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Wir lagen nächtelang wach. Jeder tat, als +schliefe er, aus Schonung für den anderen. +Unsere Arbeit lähmte Hoffnungslosigkeit. +Wir lächelten, als wären wir froh, um dem +anderen nicht wehe zu tun.</p> + +<p>»Ilse meldet sich an —,« sagte Heinrich, als er +eines Morgens die Post durchsah.</p> + +<p>»Jetzt?!« rief ich erschrocken. Sie kam schon am +<a name="Page_599" id="Page_599"></a>nächsten Tage, hatte einen seltsam verängstigten Zug +im Gesicht und ein erzwungen leichtsinniges Lächeln um +die Lippen.</p> + +<p>»Ich muß einmal wieder Großstadtluft atmen,« meinte +sie; »die Stille bei uns ist oft schaurig.«</p> + +<p>Mir schien, als zittere sie dabei. Von nun an war +der Telegraphenbote unser häufigster Gast. Zuerst glaubte +ich, ihres Mannes besorgte, sehnsüchtige Liebe käme +in diesem Depeschenwechsel zum Ausdruck. Warum hatte +sie denn nur jedesmal rote Augen, wenn ein Telegramm +gekommen war?</p> + +<p>Da, eines Morgens, stürmte einer in unser +Zimmer, die Haare zerzaust, die Augen rot unterlaufen, — der +Gatte meiner Schwester. Vor seinen Verfolgern +sollten wir ihn schützen, schrie er verzweifelt und barg +den dunkeln Kopf in Ilsens Schoß, die mit erloschenem +Blick auf ihn niedersah, die kleinen schwachen Hände +auf seinem Haar. Noch am selben Tage kam er ins +Irrenhaus. Er war tobsüchtig. Dann brach auch Ilse +zusammen; aber sie weinte nicht, sie sprach nicht über +ihr Schicksal, sie war nur wie erstarrt. Auch als sich +herausstellte, daß ein großer Teil ihres Vermögens +am Sanatorium ihres Mannes verloren gegangen war, +zuckte sie nur die Achseln.</p> + +<p>Um so furchtbarer traf es uns. Bisher wäre der +Verlust des Geldes, mit dem sie sich an der Neuen Gesellschaft +beteiligt hatte, keine ernste Frage für sie gewesen. +Jetzt war sie es. Hatte ich vor ihrem Kommen +geglaubt, zusammenzubrechen, jetzt kam mir die Kraft +zurück, eine des Fiebers.</p> + +<p>»Wir müssen aushalten, Heinz, wir müssen!« sagte +<a name="Page_600" id="Page_600"></a>ich, und wenn eine seiner vielen Bemühungen, Hilfe zu +schaffen, wieder vergeblich gewesen war, so trieb ich ihn zu +immer neuen Versuchen an. Und hie und da glückten +sie. Für ein paar Monate konnten wir weiter schaffen, +konnten leben. Aber jedesmal, wenn wir Hoffnung +schöpften, erschien sicherlich irgendein Hetzartikel in der +Parteipresse gegen uns, oder in den Wahlvereinen +wurden wir von radikalen Genossen einer neuen Ketzerei +beschuldigt, oder der alte Vorwurf des Geschäftssozialismus +wurde laut. Wir spürten das alles an der Abnahme +der Abonnenten.</p> + +<p>Wie kann ich Geld schaffen, — wie?! Die Frage +beherrschte meine Gedanken immer mehr. Ein »freier« +Schriftsteller war ich, — einer von den Tausenden, die +ausziehen, ihre Feder zu führen wie ein Schwert. Aber +die Not heftet sich an ihre Füße, zuerst ein Zwerg, +und dann ein Riese, der sie in seine Dienste zwingt.</p> + +<p>»Lieber sterben!« stöhnte ich.</p> + +<p>Doch dann sah ich mein Kind, — wie es blaß war, +welch forschende Augen es auf mich richtete! Ich riß +es in meine Arme:</p> + +<p>»Unter jedes Joch beuge ich meinen Nacken für dich,« +dachte ich verzweifelt.</p> + +<p>Ich beschloß, Vorträge zu halten gegen Entree. Das +war nichts Erniedrigendes. Jeder Dozent an der Universität +bekommt ein Honorar für die wissenschaftlichen +Erkenntnisse, die er den Hörern vermittelt. Trotzdem +widerstrebte es mir. Ein Gefühl grenzenloser Scham +trieb mir den Angstschweiß jedesmal auf die Stirn, +wenn ich die Rednertribüne betrat. Ich hatte immer +einen vollen Saal. Ich »zog«, — ich war eine Sen<a name="Page_601" id="Page_601"></a>sation. +Wie ein gezähmter Löwe im Zirkus. Gegen +ein paar Mark Eintritt konnte sich nun die beste Gesellschaft, +ohne sich etwas zu vergeben, die berüchtigte +Sozialdemokratin ansehen, — mit dem Opernglas sogar. +Meine Zuhörer trugen rauschende Kleider und viele +Brillanten an den weißen Händen, mit denen sie Beifall +klatschten, um zu erzwingen, daß ich mich vor ihnen +verbeugte.</p> + +<p>»Unglaublich von einer Genossin, in diesem goldstrotzenden +Saal zu reden und sich von diesem Publikum +bezahlen zu lassen —,« sagte eine Besucherin, als ich +gerade an ihr vorüber ins Freie trat. Ich preßte die +Lippen zusammen, um nicht heftig aufzufahren —.</p> + +<p>Sobald ich sprach, erschrak ich vor der Stimme, die +nicht mehr die meine war. Im letzten Wahlkampf +hatte sie ihren Klang verloren, war heiser und rauh +geworden. Und ich hatte sie geliebt, weil sie meine +Worte so leicht und willig bis in jeden Winkel trug. +Doch: — was bedeutete das jetzt?! Es war mehr verloren +gegangen als der helle Ton meiner Stimme.</p> + +<p>Ich fing an zu reisen; von einer Stadt in die andere. +Zuweilen auf die Einladung irgendeines literarischen +Vereines hin. In Hannover sagte mir der Vorsitzende:</p> + +<p>»Nicht wahr, Sie richten sich darauf ein, daß Offiziere +unter unseren Mitgliedern sind.«</p> + +<p>In Köln hieß es: »Wir rechnen darauf, daß Sie +auf unsere jungen Mädchen Rücksicht nehmen.«</p> + +<p>Hätte ich ihnen doch den Rücken kehren können!</p> + +<p>Wenn ich nach Hause kam, umklammerte mich mein +Sohn mit überströmender Zärtlichkeit. Wie ich ihm +fehlte! Niemand hatte Zeit für ihn! Und doch be<a name="Page_602" id="Page_602"></a>durfte +er immer mehr der Freundschaft der Eltern! +Über hundert Rätselfragen des Daseins begann er in +seinen vielen einsamen Stunden nachzugrübeln. Und +seine Phantasie, deren üppige Ranken ohne Stütze +blieben, ohne die Hand des Gärtners, der sie zur +rechten Zeit zu beschneiden versteht, überwucherten sein +Gefühl. Er fürchtete sich oft vor seinen eigenen +Träumen, so daß ich ihn des Nachts zu mir betten +mußte.</p> + +<p>»Du verzärtelst den Jungen —,« sagte Heinrich dann +ärgerlich. Und für übertriebene Sentimentalität hielt +er es, wenn ich von der Atmosphäre des Unglücks +sprach, die sichtlich auf des Kindes Seele lastete. So +lernte ich schweigen, auch über das, was mir am tiefsten +das Herz bewegte. Und in sehr dunkeln Stunden bemächtigte +sich meiner ein fremdes, böses Gefühl. Dann +häufte ich auf meinen Mann alle Schuld.</p> + +<p>In solch einer Stimmung traf mich Romberg. Er +war voll aufrichtiger Teilnahme.</p> + +<p>»Lange halte ich es nicht mehr aus,« sagte ich, den +Kopf in den Händen vergraben. Er sollte nicht sehen, +daß meine Kraft nicht einmal mehr ausreichte, um die +Tränen zurückzuhalten.</p> + +<p>»Ich wüßte eine Hilfe,« begann er dann langsam, +»eine, durch die Sie frei würden und sorgenlos.«</p> + +<p>Ich hob den Kopf; alles Blut strömte mir zum +Herzen. Eine Hilfe! Er zögerte. Dann sah er mich +an mit einem festen warmen Blick, der die Freundschaft +langer Jahre in sich schloß und sagte, jedes Wort +betonend:</p> + +<p>»Trennen Sie sich von Ihrem Mann.«</p> + +<p><a name="Page_603" id="Page_603"></a>Als Minuten vergingen, ohne daß ich antwortete, erhob +er sich.</p> + +<p>»Zürnen Sie mir?« fragte er.</p> + +<p>»Nein,« antwortete ich, ihm die Hand entgegenstreckend. +Dann überliefs mich kalt. Auch jetzt lag die +seine schlaff und kraftlos zwischen meinen Fingern.</p> + +<p>Ich überlegte seinen Rat und erschrak nicht einmal +vor der kühlen Ruhe, mit der ich es zu tun vermochte. +Er hatte recht: allein mit meinem Sohn, der Last der +Zeitschrift ledig, die das meiste verschlang, was ich verdiente, +würde ich, wenn auch noch so bescheiden, von +meiner Arbeit leben können. Und ich wäre frei, — frei! +Unwillkürlich streckte ich die Arme weit aus, als +gelte es, die Welt zu umfassen. Aber dann sah ich +ihn: meinen Mann, meinen Kampfgefährten, meinen +Leidensgenossen, — den Vater meines Kindes! Ich +fing an, ihn zu beobachten. Wie er leiden mußte. +Und wie er mich liebte!</p> + +<p>Er brachte mir täglich ein paar Blumen mit, und +wenn es nur wenige Veilchen waren. Das schlimmste +suchte er mir aus dem Wege zu räumen, so lange es +ging. Er hatte eine ritterliche, zurückhaltende Zärtlichkeit +für mich. Und mein Junge hing an dem +Vater.</p> + +<p>»Ich kann nicht, lieber Freund,« sagte ich mit einem +wehen Lächeln, als Romberg wiederkam. Er runzelte +die Stirn und wandte sich ab. Ich legte ihm die Hand +auf den Arm.</p> + +<p>»Sie müssen versuchen, mich zu verstehen, Sie vor +allem!« bat ich. »Haben Sie mich nicht selbst verspottet, +als ich einmal die freie Liebe predigte, weil +<a name="Page_604" id="Page_604"></a>ich überzeugt war, das Eheproblem dadurch lösen +zu können? Heute weiß ich, daß der Zettel auf +dem Standesamt nicht die stärkste Fessel ist, die sie +unfrei macht. Ich habe Frauen gesehen, die sich +voll Idealismus dem Mann ihrer Wahl vermählten, +ohne ihren Bund nach außen sanktionieren zu lassen. +Nach kurzer Zeit sind sie bedauernswertere Sklavinnen +geworden als die staatlich abgestempelten Ehefrauen. +Ihre und ihres Kindes Existenz war von ihrem Manne +abhängig, und jeden Tag konnte er sie verlassen. Darum +klammerten sie sich an ihn, unterwarfen sich ihm, ertrugen +seine Brutalität, seine Launen, seine Treulosigkeiten. +Ich erkannte, daß die wirtschaftliche Selbständigkeit +der Frau die Voraussetzung des freien Liebesbundes +sein muß..«</p> + +<p>»Nun — und sind Sie etwa wirtschaftlich abhängig?! +Sie, mit Ihrer Begabung, Ihrer Arbeitskraft?« unterbrach +er mich heftig.</p> + +<p>»Nein, gewiß nicht,« entgegnete ich; »diese Fessel +trag' ich nicht mehr, und keine Frau brauchte ihre +Menschenwürde von ihr erdrosseln zu lassen, wenn sie +arbeiten gelernt hat. Aber es gibt andere Fesseln, — zart +und weich wie Seide, — die unzerreißbar sind. +Mein Sohn liebt seinen Vater. Wie kann ich sein +Kinderherz verwunden, solch einen Zwiespalt in seine +Seele tragen?«</p> + +<p>»Ein Kind überwindet rasch,« antwortete Romberg +mit einer wegwerfenden Handbewegung.</p> + +<p>Ich verstummte. Er, der mir so nahe gewesen war, +rückte plötzlich weit, weit von mir ab. Ihm von Heinrichs +Liebe, von seinem Unglück und den anderen für +<a name="Page_605" id="Page_605"></a>mich unzerreißbaren Fesseln zu reden, wäre mir wie eine +Preisgabe vorgekommen.</p> + +<p>Und doch: irgend etwas mußte geschehen.</p> + +<p>»Bald, — bald reise ich nicht mehr fort ohne dich,« +hatte ich immer wieder beim Abschiednehmen mein Kind +getröstet.</p> + +<p>»Wann bleibst du wieder bei mir, Mamachen?« fragte +es, und jedesmal wurde der Ausdruck seines Gesichtchens +quälender.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Meine nächste Vortragsreise führte mich nach +Leipzig. Dort wohnte einer jener stillen Genossen, +der für den Revisionismus eine offene +Hand zu haben pflegte. Als mein Mann sich im Interesse +der Neuen Gesellschaft einmal schriftlich an ihn +gewandt hatte, war seine Antwort ein unfreundliches +glattes Nein gewesen. Trotzdem hoffte ich noch auf die +Wirkung einer persönlichen Unterredung. Es galt einen +letzten verzweifelten Versuch.</p> + +<p>Ich werde die Reise nie vergessen, nie den Augenblick, +wo ich, zitternd vor Scham und Angst, in des reichen +Mannes Zimmer trat. Er mochte ahnen, daß ich als +Bittende kam. Es dauerte Sekunden, ehe er mich zum +Sitzen nötigte. Vielleicht würde er es gar nicht getan +haben, wenn er nicht gesehen hätte, daß mir die Kniee +bebten. Ich hatte einen Mantel an. Während der +Zeit, die ich bei ihm war, nahm er ihn mir +nicht ab. Er ließ mich reden, ohne eine Miene zu verziehen. +Und dann sprach er — langsam, jedes Wort +betonend, sodaß es mir weh tat, wie lauter Schläge:<a name="Page_606" id="Page_606"></a> +»Ihr Mann ist ein guter Redakteur; das hat er am +Archiv bewiesen. Aber er ist ein schlechter Geschäftsmann, +sonst hätte er das prosperierende Archiv, das ihm +eine sichere und angesehene Stellung bot, nicht hingegeben, +um ein aussichtsloses Unternehmen zu beginnen. +Ich mag nicht Wasser in ein hohles Faß schöpfen.«</p> + +<p>»Und doch erkannten Sie, wie ich hörte, selber an, +daß die neue Aufgabe, die er sich stellte, wichtig, ja +notwendig war,« wandte ich ein.</p> + +<p>»Ja. Für einen Mann, der ausreichende Mittel hat, +um die Sache durchzuführen.« Damit erhob er sich.</p> + +<p>Ich war entlassen. Mir klebte die Zunge am Gaumen. +Nun war der Moment, der einzige, der mir noch blieb. +Ich war ja nicht gekommen, um einen Rechtsanspruch +durchzusetzen, — ich mußte bitten — bitten. Ich fühlte die +Tränen der Aufregung mir heiß die Augen füllen. Nur +nicht weinen, — jetzt nicht weinen, dachte ich und biß +die Zähne aufeinander. Da aber sah ich plötzlich mein +Kind vor mir — ganz deutlich: mit dem ernsten Blick +und der sehnsüchtigen Frage auf den Lippen. Mein +Kind! Glühende Schweißtropfen bedeckten meine Stirn, +der Atem stockte. Mit einer raschen Bewegung warf +ich den schweren Mantel von mir und riß das Fenster +rücksichtslos weit auf. Ein konvulsivisches Schluchzen, +dessen ich nicht Herr werden konnte, erschütterte meinen +Körper. Dann wandte ich mich um und hob den Mantel +von der Erde auf.</p> + +<p>»So will ich gehen —,« kam es tonlos über meine +Lippen, — ich konnte nicht bitten, ich konnte nicht!</p> + +<p>»Setzen Sie sich!« — Es war wie ein Kommando. Die Erschöpfung, +nicht der Gehorsam zwang mich, ihm zu folgen.</p> +<p><a name="Page_607" id="Page_607"></a></p> +<p>»Ich werde Ihnen helfen, — Ihnen persönlich, — dieses +eine Mal —«</p> + +<p>Ich kehrte zum Hotel zurück. Plötzlich fiel mir ein, +daß ich die kühle Hand mit meinen Fingern dankend +umschlossen hatte. Die Hand des Mannes, vor dem ich +mich so erniedrigt hatte!</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Und nun ging es zu Ende. Unweigerlich. Trotzdem +ich noch hergab, was ich eben empfangen +hatte. Ein einziges Mal noch stieg unsere Hoffnung +hoch auf, wie eine Leuchtkugel. Heinrich erhielt +von einem, der helfen konnte, ein festes Versprechen. Er +schloß darauf hin aufs neue mit dem Drucker ab und +mit dem Papierlieferanten. — Aber die Leuchtkugel zerplatzte, +und es wurde ganz, ganz dunkel.</p> + +<p>Ich verlangte Klarheit von meinem Mann, — rückhaltlose. +Er gab sie mir mit einer Ruhe, von der ich +glaubte, daß sie eine erzwungene sei: Alles war verloren. +Da wir den Konkurs vermeiden wollten, blieb uns eine +Schuldenlast, an der wir Jahre zu tragen haben würden. +Um die allernächsten Zahlungen leisten und selbst leben +zu können, gab es nur einen Ausweg.</p> + +<p>»Wir verpfänden unsere Möbel —,« sagte Heinrich, +mit einem Ton, als spräche er von dem Gleichgültigsten +von der Welt.</p> + +<p>Bisher hatte ich zusammengekauert auf dem großen +Stuhl gesessen, der mir immer wie etwas Lebendiges gewesen +war, weil seine Lehne den müden Kopf stützte, +seine Arme sich schützend an mich schmiegten.</p> + +<p>Jetzt fuhr ich auf. »Das Letzte soll ich hergeben?!<a name="Page_608" id="Page_608"></a> +Und du meinst, ich täte das so kaltblütig wie du es aussprichst?!« +rief ich, vor Entrüstung am ganzen Körper +zitternd. »Das hier ist der Rest Heimat, den ich +habe. Fast jedes Stück erinnert mich an den Vater, — die +Großmutter, — an Georg, an meine Jugend —« +Tränen erstickten meine Stimme.</p> + +<p>Mein Mann maß mich mit einem kühl-erstaunten +Blick. »Stellung, Vermögen, Familie, — alles hast du +geopfert ohne ein Wort der Klage, und nun jammerst +du um diesen Trödel,« sagte er kopfschüttelnd. Mein +Verstand gab ihm recht, aber mein Herz blutete, als +wäre ihm die schwerste Wunde geschlagen worden.</p> + +<p>In der Nacht darauf öffnete sich die Tür zu meines +Sohnes Zimmer, er stürzte auf mich zu, umschlang +meinen Hals und schluchzte verzweifelt: »Warum weinst +du nur so? Warum weinst du nur so?!«</p> + +<p>In diesem Augenblick wußte ich, daß ich ein Opfer +bringen mußte wie keines zuvor. Ich weinte nicht +mehr. Ich war ganz still und ganz entschlossen. »Otto +darf den Zusammenbruch nicht mit erleben,« sagte ich +zu meinem Mann. »Schon jetzt ist er wie vergiftet, — gar +kein Kind mehr —«</p> + +<p>Ich erwartete eine heftige Szene.</p> + +<p>Statt dessen erhellten sich Heinrichs Züge. »Nun bist +du wieder meine tapfere Alix« — damit drückte er mir +die Hand, so herzlich wie seit Monden nicht — »natürlich +ist das für alle Teile das Beste. Wir beide bauen +ungehindert ein neues Leben auf, und er wird irgendwo +auf dem Land wieder ein starker, froher Junge ...«</p> + +<p>Ich hörte seine Stimme nur noch wie ein fernes +Brausen. So nahm er auf, wovon ich nie gesunden +<a name="Page_609" id="Page_609"></a>würde: — fast froh! Ich starrte ihn an; die schreckliche +Erregung verzerrte mir sein Bild, als hätte ich ihn noch +nie gesehen. Mit diesem Mann hatte ich mein Leben +verknüpft, — und eben noch den Gedanken an eine +Trennung weit, weit von mir gewiesen?! Mir schien, +als wäre die Trennung vollzogen, lange schon, sonst hätte +er in dieser Stunde, da mein ganzes Leben zusammenbrach, +so nicht zu mir sprechen können, — so nicht!</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Ich schrieb an einen Freund Egidys, den ich seit +der Zeit, da ich ihn in dessen Hause traf, hie +und da wiedergesehen hatte. So selten das gewesen +war, mit einem Gefühl warmer gegenseitiger Anteilnahme +waren wir uns immer begegnet. Jetzt leitete +er eine Schule hoch oben im Thüringer Wald. Ich +sprach ihm rückhaltlos von der Lage, in der wir uns +befanden. »Mein Sohn leidet darunter, halb unbewußt, +und ich will ihm das Schlimmste ersparen, will seine +Jugend nicht hineinreißen in den Strudel unseres künftigen +Lebens. Sie sehen, es ist ein Freundschaftsopfer +das ich von Ihnen erwarte —,« hier zitterte mir die +Hand und versagte den Dienst.</p> + +<p>Er antwortete umgehend, mit einem zarten Takt, der +mir wohltat: »Ihr Sohn soll uns von Herzen willkommen +sein. Und kein drückendes Gefühl darf Ihnen +daraus entspringen. Überlassen Sie ruhig der Zukunft +die materielle Seite der Sache. Da er Ihr Kind ist, +wird er unserer Schule mehr geben, als er erhält und +sich durch Gold aufwiegen läßt..«</p> + +<p>Zu Ostern wollte ich ihn hinbringen, aber ich verschob +<a name="Page_610" id="Page_610"></a>es von Tag zu Tag, mit ihm davon zu sprechen; er war +so glücklich, daß ich auf einmal immer bei ihm war, +mit ihm spielte, mit ihm spazieren ging, ihm Geschichten +erzählte wie in der schönen alten Zeit.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Indessen erschien die letzte Nummer der Neuen +Gesellschaft, mit einem kurzen Abschiedswort +an die Leser. Keiner von unseren Gesinnungsgenossen +hatte ein Wort des Bedauerns dafür, niemand +von denen, für deren Überzeugung sie gekämpft hatte, +ohne sich durch gehässige Angriffe und gemeine Verleumdungen +vom Wege ablenken zu lassen, der ihr als +der rechte erschien, kümmerte sich um uns. Keinem +konnte es ein Geheimnis sein, daß wir alles verloren +hatten, aber kaum ein einziger hatte auch nur eine teilnehmende +Frage danach. Wir waren abgetan, — fertig. +Die Genossen gingen über uns hinweg wie die Soldaten +im Krieg über die gefallenen Kameraden auf dem +Schlachtfeld.</p> + +<p>Damals hatte ich dafür nur eine verächtliche Gebärde. +Große Schmerzen sind ein Palliativmittel gegen +die kleinen.</p> + +<p>Nur eins erfüllte mich mit tiefer Bitterkeit: daß +auch Romberg nicht wiederkam. Er hatte eine Auseinandersetzung +mit meinem Mann gehabt, bei der +seine lange im stillen herrschende Feindschaft gegen ihn +zu offenem Ausbruch gekommen war. Ich erfuhr +nicht viel davon. Aber um mich mochte sich's gehandelt +haben und darum, daß Romberg meinem Mann +vorwarf, unser Unglück verschuldet zu haben, und dieser +<a name="Page_611" id="Page_611"></a>sich jede Einmischung in unser Tun und Lassen verbat. +War das Grund genug, um mich gerade jetzt im Stich +zu lassen? Und an seine aufrichtige Freundschaft hatte +ich geglaubt!</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Ein Ostermorgen war es, hell und leuchtend. Ein +Auferstehungsfest, das die geflügelten Musikanten +der Natur mit hundertstimmigem Gesang +begrüßten. Mit lauter lustigen goldgelben Flecken +bedeckte die Sonne den Erdboden unter den Kieferstämmen. +Wir gingen durch den Grunewald nach +Schildhorn, mein Sohn und ich. Wie er sich freute! +Jedes armselige Blümlein, das der karge Sand hervorsprießen +ließ, bewunderte er. Und die Luft, die ein +Odem erwachenden Lebens war, sog er ein mit tiefen +durstigen Zügen.</p> + +<p>»Ich hasse die Stadt,« sagte er mit der ganzen Energie +seiner zehn Jahre. »Warum können wir nicht auf dem +Lande leben?«</p> + +<p>Das war der rechte Augenblick, um ihm von Waltershof +zu sprechen, der Schule im Thüringer Wald. Mit +stockender Stimme begann ich, und erzählte von dem +freien Leben dort und den vielen Kindern.</p> + +<p>Seine Augen glänzten. »Das denke ich mir riesig +fein!« rief er.</p> + +<p>»Möchtest du am Ende gar selber hingehen?« fragte +ich zögernd.</p> + +<p>Er machte einen Luftsprung. »Natürlich! Aus der +scheußlichen Stadt heraus auf die Berge, — was gibt +es Schöneres!«</p> + +<p><a name="Page_612" id="Page_612"></a>Ich hätte mich freuen müssen, — aber die Tränen +traten mir in die Augen. So würde ihm der Abschied +nicht allzu schwer werden!</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Ein paar Tage später reisten wir ab. Er war +wie umgewandelt; in leuchtenden Farben +malte er sich das Leben aus, das seiner wartete. +Zuweilen schien er zu stutzen, wenn er mich +ansah.</p> + +<p>»Und du besuchst mich oft, sehr oft, nicht wahr, +Mamachen? Und zu den Ferien komme ich immer +nach Haus?« sagte er dann, im Gefühl, mich trösten +zu müssen.</p> + +<p>Von der Station fuhren wir mit dem Wagen bergauf +durch dichte Tannenwälder. Mein Sohn verstummte +und schmiegte sich an mich. Ob ihn nun der Abschiedsschmerz +packen würde? Das Herz klopfte mir erwartungsvoll. +»Ein bißchen geniere ich mich doch vor den fremden +Jungens,« meinte er.</p> + +<p>Oben auf der Hochebene, wo der Wind über freie +Felder strich und mit den kleinen runden Frühlingswölkchen +spielte wie ein Kind mit dem Fangball, verlor +er seine scheue Stimmung wieder.</p> + +<p>»Wie wunder — wunderschön das ist,« sagte er mit +einem Blick in die Ferne.</p> + +<p>In stiller großer Einsamkeit reihte sich Berg an Berg; +die kleinen grauen Menschenwohnungen verschwanden in +den tiefen Tälern.</p> + +<p>Der Direktor begrüßte uns wie vertraute Freunde. +Die Schüler betrachteten aus gemessener Entfernung +<a name="Page_613" id="Page_613"></a>den Ankömmling. Er umfaßte wie schutzsuchend meine +Hand. Jetzt, — jetzt wird er bei mir zu bleiben +verlangen! — Da trat ein brauner Bursche aus der +Schar.</p> + +<p>»Sieh mal die Wiese dort,« sagte er zu meinem +Jungen und wies auf den gelbblühenden Abhang, der +sich hinter dem Hause in die Tiefe senkte; »willst du da +hinunter mit mir um die Wette laufen?«</p> + +<p>Und im selben Augenblick, — kaum daß er Zeit +gefunden hatte, mir Mantel und Mütze zuzuwerfen, — flog +er mit ihm davon. Wie heller Sonnenschein +tanzten ihm die blonden Locken um den Kopf. Ich +starrte ihnen nach. Mir gingen dabei die Augen über. +Hinter den Fichtenstämmen, — weit, weit im Tal, erloschen +sie.</p> + +<p>»Er wird sich rasch zu Hause fühlen,« sagte der Direktor.</p> + +<p>Er wird sich rasch zu Hause fühlen —!</p> + +<p>Ich verließ Waltershof schon am nächsten Morgen. +Jede Stunde, die ich blieb, kam wie ein verschlagener +Räuber und stahl mir stückweise mein Liebstes.</p> + +<p>Ehe ich in den Wagen stieg, umarmte mich mein +Sohn mit stürmischer Heftigkeit. Nun endlich wird es +ihn übermannen —! Ich preßte ihn an mich, ich hielt +ihn fest. Dieser Schoß hat dich geboren, an diesem +Herzen wuchsest du empor, — schrie es in mir, — nur +ein Wort der Liebe sag mir, ein Wort der Sehnsucht, +und ich verteidige deinen Besitz gegen Hölle und Himmel! +Aber er schwieg. Seine Augen blieben hell. Ringsum +standen die Lehrer und die Schüler —. Ich nahm +seinen Kopf zwischen meine Hände und küßte ihn. Ich +<a name="Page_614" id="Page_614"></a>grüßte noch einmal lächelnd nach rechts und links. Dann +zogen die Pferde an —</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Damals, vor einem halben Menschenalter, als +ich im Gewittersturm auf dem Berge stand, +dem Wetter preisgegeben, fürchtete ich den Tod. +Was hätte ich jetzt noch fürchten können?</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_615" id="Page_615"></a></p> +<h2><a name="Achtzehntes_Kapitel" id="Achtzehntes_Kapitel"></a>Achtzehntes Kapitel</h2> + + +<p>In Schleier aus durchsichtigem Silber gewoben +hüllte sich der blaue Frühlingshimmel. Milde +lächelnd glänzte sein großes Sonnenauge. Und +die kleinen weißen Wolken standen ganz still wie erwartungsvoll +staunende Kinder, ehe der Vorhang vor +dem Märchenspiel aufgeht. Die Luft streichelte mit +weichen Händen die Erde, als wäre sie sehr, sehr krank.</p> + +<p>Jetzt trugen sie den letzten Hausrat aus der alten +Wohnung. Der große gelbe Wagen vor der Tür wartete +darauf, ihn in die neue hinüberzufahren.</p> + +<p>Ich sah mich um in den leeren Räumen: auf dem +Boden lag Papier und Stroh und Scherben, in den +Winkeln Staub in großen grauen Flocken. Zögernd, +als hielte eine unsichtbare Hand mich zurück, öffnete ich +die Tür zu meines Sohnes Zimmer. Von seinen unruhigen +Füßchen war die Diele zertreten. Dunkel zeichnete +sich der Platz am Boden ab, wo sein Bett gestanden +hatte; — wie oft, seitdem er fort war, hatte +ich den Kopf in die leeren Kissen vergraben —</p> + +<p>Eine Hand berührte meine Schulter.</p> + +<p>»Komm, Alix,« sagte Heinrichs weiche, tiefe Stimme +hinter mir. Auf seinen Arm gestützt, mit tief gebeugtem<a name="Page_616" id="Page_616"></a> +Nacken ging ich die Treppen hinab. Auf der Straße +versagte mir der Atem; mein Begleiter hatte einen so +raschen, elastischen Schritt, daß ich ihm nicht zu folgen +vermochte. Er trug auch den Kopf ganz hoch, wie +einer, der noch als Eroberer ins Leben tritt. Und +waren wir nicht Geschlagene?! Ich hatte meinen Gedanken +laut werden lassen. Heinrich blieb stehen.</p> + +<p>»Hast du die Waffen gestreckt?!« fragte er stirnrunzelnd +mit scharfer Betonung. »Ich nicht! Was uns +nicht umbringt, das macht uns stärker.«</p> + +<p>Ich senkte den Kopf noch tiefer; eine jähe Röte schoß +mir in die Schläfen.</p> + +<p>Er hatte die Türe zu unserer neuen Wohnung mit +Blumen bekränzen lassen. Daß ich sie nicht abriß, geschah +nur, um ihm nicht wehe zu tun. Drinnen empfingen +uns schon die stummen vertrauten Gefährten +unseres Lebens. Aber an dem großen Schreibtisch stand +jetzt nur noch ein Stuhl. Ich hatte ein eigenes kleines +Zimmer.</p> + +<p>»Das ist der erste Schritt zur Ehetrennung,« lächelte +mein Mann, mit einem Blick auf mich, in dem eine +ernste Frage lag. Ich blieb ihm die Antwort schuldig.</p> + +<p>»Freust du dich denn gar nicht, daß all der Kram +dir nun doch erhalten blieb?!« sagte er nach einer +Pause in einem erzwungen leichten Ton. »Wie hast du +darum gezittert, du armer Angsthase du!« Und wieder +stieg mir das Blut ins Gesicht. Ich schämte mich, daß +ich so hatte empfinden können.</p> + +<p>»Dem, der mir dazu verhalf, werde ich immer dankbar +sein,« sagte ich leise, — es war keiner der alten +Freunde, keiner der offiziellen Vertreter der »Brüder<a name="Page_617" id="Page_617"></a>lichkeit« +gewesen! — »Aber mehr darum, weil ich doch +noch einen Menschen mit warmem Herzen gefunden +habe, als um der Stühle und Schränke und Kisten und +Kasten willen ...«</p> + +<p>Heinrich drückte mir die Hand. Dann nahm er eine +der letzten Nummern der Neuen Gesellschaft aus dem +Bücherschrank.</p> + +<p>»'Solchen Menschen, welche mich etwas angehen, +wünsche ich Leiden, Verlassenheit, Mißhandlung, Entwürdigung, — ich +wünsche, daß ihnen das Elend der +Überwundenen nicht unbekannt bleibt: ich habe kein +Mitleid mit ihnen, weil ich ihnen das einzige wünsche, +was heute beweisen kann, ob Einer Wert hat, oder +nicht, — daß er standhält ...'« las er. »Diese Worte +Nietzsches habe ich abgedruckt, weil sie meine eigene tiefe +Überzeugung aussprechen.«</p> + +<p>Seine Kraft verletzte mich fast. Ich wollte nicht +überwinden. Es kam mir wie ein Verrat an meinem +Kinde vor, wenn auch mich ein Gefühl ergriff, als ginge +ich gestärkt einem neuen Leben entgegen. Ich pflegte +mein Leid mit selbstquälerischer Wollust. Ich liebte es.</p> + +<p>Aber — seltsam —: Je länger es neben mir herging, +desto mehr wandelte sich sein gräßliches Medusenhaupt +in das stille, ernste Antlitz eines Freundes. Es +nahm mich bei der Hand und führte mich langsam, +Schritt vor Schritt, — mein Herz ertrug es nicht anders, — einen +hohen Berg hinauf. Und von da oben sah +ich in das Tal meines Lebens. Ich erkannte seine +großen Umrisse und geraden Linien, aber all die Hindernisse +auf den Wegen — den Unrat auf den Straßen — sah +ich nicht mehr.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_618" id="Page_618"></a></p> + +<p>Eines Tages trat mein Mann mit einem großen +Strauß duftender Rosen in mein Zimmer.</p> + +<p>»Zum Zeichen, daß ich dir wieder Blumen +bringen kann,« sagte er lächelnd. Nun erfuhr ich +erst von seiner Arbeit, von den Plänen, die ihrer Verwirklichung +entgegengingen, — rein geschäftlichen Unternehmungen, +denen er neben seiner literarischen Tätigkeit +all seine Kräfte widmete, ohne sich eine Stunde +der Ruhe, eine Pause der Erholung zu gönnen, — nur +das eine Ziel im Auge: die drückenden Schulden zu +zahlen, uns eine Existenz zu gründen und — er sprach +es so leise aus, als ob er sich scheue, daran zu rühren — »dir +dein Kind zurückzugeben.«</p> + +<p>»Heinz!« rief ich, — die Tränen stürzten mir aus +den Augen, — ich griff nach seinen beiden Händen und +drückte sie zwischen den meinen.</p> + +<p>»Was meinst du, wenn du den Buben holen gingst?!« +Und vorsichtig, als wäre ich etwas sehr Zerbrechliches, +zog sein Arm mich an sich.</p> + +<p>Ich fuhr schon am nächsten Morgen nach Waltershof. +Wie langsam schlich der Zug durch die blühende +Sommerpracht, wie endlos hielt er sich an all den +vielen Stationen auf! Endlich, endlich kam ich an. +Droben auf der Höhe, wo jetzt das Korn in hohen +Garben stand und alle Ähren grüßten und nickten, als +wüßten sie um mein Glück, kam mir mein Junge entgegengelaufen — —</p> + +<p>Wie groß und wie braun, und wie stark und wie +froh er war! Sonderbar, daß irgend etwas dabei mich +schmerzte. Er küßte und herzte mich immer wieder, — aber<a name="Page_619" id="Page_619"></a> +nicht mit dem Bedürfnis nach Schutz, nach Anlehnung, +wie die kleinen Kinder, wenn sie sich an die +Mutter schmiegen. Ich sah ihn dann im Kreise der +Kameraden auf der grünen Wiese, im Tannenwald: wie +er seine Kräfte an den ihren maß. Ich dachte an +unsere Straße, unsere enge Wohnung; — ich wagte +noch nicht, ihm zu sagen, warum ich gekommen war. +Und als ich am nächsten Vormittag dem Unterricht +beiwohnte, in Klassen, wo kaum mehr als zehn +Kinder beieinandersaßen und der Lehrer imstande war, +sich mit jedem einzelnen zu beschäftigen, auf seine Interessen +und Fähigkeiten einzugehen, — da dachte ich +an die überfüllten städtischen Gymnasien mit all ihrem +Gefolge von Krankheit und Laster und Stumpfsinn; ihre +unglückseligen Opfer fielen mir ein, die den Martern +des Geistes und Körpers den Tod vorzogen. Mich +schauderte: hatte ich ein Recht, über mein Kind zu verfügen +nach meinem Gefallen? Kein Zweifel: sein Instinkt +hatte für Freiheit und Natur entschieden.</p> + +<p>»Ich komme morgen nach Haus, und komme — allein,« +schrieb ich an meinen Mann. »Otto ist ein +selbständiger Mensch geworden, und ich habe hier gelernt, +was keine pädagogische Buchweisheit mir hätte +beibringen können: daß auch die Kinder sich selbst gehören, +nicht uns; daß die Kindheit einen Wert an sich +hat. Es mußte so sein, wie es ist. Wenn unser Sohn +stark genug ist, um auch neben uns ein Eigener zu +bleiben, wird er vielleicht freiwillig zurückkehren ... +Ich schreibe das Alles so hin, und die Worte sehen aus, +als kosteten sie mich nichts. Ich glaube, ich brauche Dir +nicht erst zu sagen, was ich überwinden mußte. Es +<a name="Page_620" id="Page_620"></a>wird noch lange dauern, bis ich von meiner Mutterliebe +abgestreift haben werde, was jeder Liebe eigentümlich +ist: den Willen zum Besitz. Seitdem Du mich +fühlen ließest, daß auch Du unser Kind entbehrst, weiß +ich: Du wirst Geduld mit mir haben.«</p> + +<p>Jetzt erst wurde ich mir der ganzen Leere meines +Lebens bewußt: war ich schon so alt, um nur noch in +philosophischer Ruhe seine Resultate zu ziehen? Um abseits +zu stehen wie Zuschauer am Schlachtfeld?</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Als mir von seiten der Gewerkschaften die Aufforderung +zuging, einige ausschließlich Bildungszwecken +dienende Vorträge im internen Kreise organisierter +Arbeiter zu übernehmen, ergriff ich die Gelegenheit, von +der ich glaubte, daß sie mir wenigstens eine befriedigende +Tätigkeit eröffnen würde. Seit dem Jahre 1906 hatten +die Partei und die Gewerkschaften, einem Beschluß des +Mannheimer Parteitags folgend, den Bildungsbestrebungen +tatkräftigeres Interesse zugewandt. Außer der +Partei- und Gewerkschaftsschule in Berlin und ähnlichen +Einrichtungen in den größeren Provinzstädten, +wo eine beschränkte Zahl ausgewählter Schüler systematischen +historischen und nationalökonomischen Kursen +regelmäßig folgte, wurden Referate gehalten, die Allen +zugänglich waren, die ihre Mitgliedschaft zu einer Arbeiterorganisation +nachweisen konnten. Die Lehrer der +Parteischule waren Radikale strengster Observanz. Sie +sprachen von »bürgerlicher« Wissenschaft, »bürgerlicher« +Kunst, zu der die vom Zukunftsstaat zu erwartende in +scharfem Gegensatz stünden. Sie waren Geist vom Geist +<a name="Page_621" id="Page_621"></a>des preußischen Kultusministers, der einen Privatdozenten +abgesetzt hatte, weil er Sozialdemokrat war. In ihrem +Kreise waren die kühnen Sätze gefallen, daß die Philosophie +eine ideologische Begleiterscheinung der Klassenkämpfe +und ihre Geschichte eine Geschichte bürgerlichen +Denkens sei.</p> + +<p>Die Gewerkschaften standen zu ihnen in einem leisen +aber darum nicht weniger starken Gegensatz, der auch +in der Wahl ihrer Referenten zum Ausdruck kam. Schon +als ich zum erstenmal sprach, — vor einer Zuhörerschaft +von ein paar hundert Arbeiterinnen, — wurde mir erzählt, +wie empört die führenden Genossinnen seien, daß +man mich dazu aufgefordert habe.</p> + +<p>Durch Fragen, durch Bitten um Ratschläge für ihre +selbständige Fortbildung, durch Bücher, die ich auslieh, +und die mir persönlich zurückgebracht wurden, kam ich +in Berührung mit Männern und Frauen, die noch nicht +zu den »gehobenen Existenzen« gehörten. In der Nüchternheit +des Alltagslebens, fern der Begeisterung, die Feste +und Kämpfe entzünden, lernte ich ihr Leben, ihr Denken +und Fühlen kennen. Es stand fast ausnahmslos unter +dem Zeichen der Unzufriedenheit, des Mangels an einem +Inhalt, der über die Misere des Daseins hinaus stark +und hoffnungsfroh macht. Eine gewisse seelische Leere +kam vielen zum Bewußtsein, etwa wie ein Gefühl +dauernden Frierens. Die Ideale des Sozialismus +hatten, da ihre Verwirklichung so fern gerückt war, für +das persönliche Leben viel von ihrem Feuer verloren.</p> + +<p>Aber gerade in der zum Ausdruck kommenden Unzufriedenheit +mit den äußeren Erfolgen und den inneren +Werten der Partei lag eine starke latente Kraft, die +<a name="Page_622" id="Page_622"></a>bereit war, jeden Augenblick alles Lastende, Hindernde +fortzuschieben, wenn nur irgendwo der Weg ins Freie +sich zeigte.</p> + +<p>Nach einer meiner Versammlungen begrüßte mich +Reinhard. Er war zuerst ein wenig verlegen, als ich +aber harmlos und freundlich blieb, taute er auf. Ich +erzählte ihm von meinen Beobachtungen. »Ich bilde mir +natürlich nicht ein, daß sie maßgebend sind, aber ich +halte sie doch für Symptome.«</p> + +<p>Er gab mir recht. »Wir befinden uns zweifellos in +einer inneren Krisis,« sagte er, »die sich immer wieder +nach außen bemerkbar macht. Jetzt beginnt der Zank +schon wieder. Diesmal um die Frage der Budgetbewilligung. +Sobald wir versuchen durch eine Politik, +die immer mehr oder weniger auf Konzessionen beruht, +Schritte nach vorwärts zu tun, Vorteile oder Einfluß +zu gewinnen, kommen die anderen und schwenken mit +Geschrei die angeblich von uns verratene Fahne des +Prinzips. Ich möchte wissen, was geschehen soll, wenn +wir einmal in den Parlamenten eine Vertretung haben, +mit der gerechnet werden muß? Ob wir dann das +prinzipienfeste Neinsagen unseren Wählern gegenüber +verantworten können? — Ich sehe schwarz in die Zukunft, +Genossin Brandt, sehr schwarz! Ich fürchte, wenn +erst einmal unsere Alten tot sind, dann fällt die Partei +auseinander.«</p> + +<p>»Und wäre das wirklich so fürchterlich?« wandte ich ein. +Er fuhr auf. Seine Augen blitzten mich an wie früher.</p> + +<p>»Genossin Brandt!« rief er entrüstet. »Sollten die +Leute recht haben, die von Ihnen behaupten, daß Sie +nicht mehr die unsere sind?!«</p> +<p><a name="Page_623" id="Page_623"></a></p> +<p>»So —,« sagte ich gedehnt, »das also erzählt man +von mir?! Und Ihnen erscheint es möglich, weil ich +eine Spaltung der Partei nicht für den schrecklichsten der +Schrecken halte?! Es zeugt für ein sehr geringes Vertrauen +in die Notwendigkeit der Entwicklung zum Sozialismus, +wenn wir annehmen wollten, daß solch ein +Ereignis einen mehr als vorübergehenden Nachteil nach +sich zöge. Unser Ziel bleibt doch unverändert dasselbe, in +wie viel Heerscharen wir ihm auch entgegenmarschieren!«</p> + +<p>Reinhards Gesicht färbte sich dunkelrot. »Sie scheinen +ja ein solches Unglück fast zu wünschen!« sagte er mit +verbissenem Grimm.</p> + +<p>»Davon bin ich ebensoweit entfernt wie Sie,« +antwortete ich. »Ich suche nur, Sie und mich von +der Angst davor zu befreien. Dabei frage ich mich, ob +es nicht viel korrumpierender für den einzelnen und +lähmender für die Aktion der Masse ist, wenn immer +wieder um der äußeren Einheit willen Resolutionen +angenommen werden, die für sehr viele nur auf dem +Papiere stehen, und das Erfurter Programm krampfhaft +aufrecht erhalten wird, obwohl immer weitere Kreise +von Genossen ganze Sätze daraus für unrichtig halten. +Die Radikalen, die in der Form des Ausschlusses aus +der Partei eigentlich nichts anderes wollen als eine +Spaltung, gehen dabei von einer ganz richtigen Empfindung +aus: daß die innere Einheit die Voraussetzung +der äußeren sein muß. Nur daß sie wie Kurpfuscher +an den Symptomen herumkurieren.«</p> + +<p>»Und Sie wüßten ein Mittel, die Krankheit zu +heilen?« Dabei sah Reinhard mich an, als erwartete +er eine Offenbarung von mir.</p> + +<p><a name="Page_624" id="Page_624"></a>Ich lachte. »Wenn ich ein Mittel wüßte, glauben +Sie, ich hätte es nicht schon längst auf allen Gassen +ausgeschrien?! Nur einen Weg dahin glaube ich zu +wissen. Die Übel, unter denen wir leiden, lassen sich +alle auf eine Ursache zurückführen: die fehlende richtige +Grundlage unserer Bewegung. Was bisher als solche +galt, hat sich zu einem Teil als falsch oder nicht ausreichend +erwiesen.«</p> + +<p>Er machte ein enttäuschtes Gesicht: »Also ein neues +Programm! Wenn es weiter nichts ist!«</p> + +<p>»Ich las gestern in einem Brief von Hegel einen +Satz, der sich mir ins Gedächtnis geprägt hat,« fuhr ich +fort, »'die theoretische Arbeit bringt mehr in der Welt +zustande als die praktische; ist das Reich der Vorstellung +revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht stand'. Gerade +wir Revisionisten haben diese tiefe Wahrheit fast +vergessen. Sie auch, wie ich sehe. Und doch glaube +ich, hätten wir ein Programm, das alle inzwischen +zweifelhaft gewordenen Theorien beiseite ließe, alle praktischen +Forderungen den Entscheidungen des Tages anheimgäbe +und nur den Ausgangspunkt feststellte, — den +Klassenkampf, — und das Ziel, — die Aufhebung des +Privateigentums an Produktionsmitteln; wir würden +weniger zerrüttende Kämpfe in unseren Reihen haben, +und Millionen Außenstehender würden nicht Mitläufer, +sondern Parteigenossen werden.«</p> + +<p>»Ich wundere mich, daß Sie bei Ihrem gründlichen +Aufräumen den Klassenkampf nicht auch zum Fenster +hinauswerfen,« spottete Reinhard mit einem Anflug von +Ärger.</p> + +<p>»Sie sind hellsehend, lieber Genosse,« entgegnete ich,<a name="Page_625" id="Page_625"></a> +»denn die Form, in die er vor einem halben Jahrhundert +gezwängt wurde, ist freilich unbrauchbar geworden. +Leute wie ich zum Beispiel haben keinen +Platz in ihr. Man redet uns ein, und wir glaubten +es, daß wir aus reinem selbstlosen Edelmut in die Partei +eintraten; wir blieben infolgedessen, als nicht recht dazu +gehörig, unsichere Kantonisten in den Augen der geborenen +Klassenkämpfer. Ich bin inzwischen schon für +mich allein von dem Kothurn dieses Edelmuts herabgestiegen +und habe gefunden, daß ich mit demselben +Recht wie der Arbeiter im Klassenkampf stehe. War ich +nicht, mittellos, auf meine Arbeit angewiesen? War ich +nicht abhängig von meiner Familie, also unfrei? +Der hungernde Arbeiter sucht freilich in erster Linie +Brot; aber das könnte ihm auch eine vernünftige bürgerliche +Sozialreform sicherstellen. Er ist Sozialdemokrat, +weil er mehr will: Freiheit. Genau dasselbe, wonach +ich verlangte, als es mich in die Partei trieb; genau +dasselbe, wonach Hunderttausende sich sehnen, — lauter +Abhängige, — lauter geborene Klassenkämpfer, die die +Partei mit ihrem engen: ›die Befreiung der Arbeiter +kann nur das Werk der Arbeiter selbst sein‹, mit der +›Diktatur des Proletariats‹ als notwendiges Befreiungsmittel +zurückstößt, im besten Falle nur duldet ...«</p> + +<p>Wir waren vor der Tür meiner Wohnung angekommen.</p> + +<p>»Selbst wenn Sie recht hätten, — was ich nicht +weiß —,« sagte Reinhard; »die radikale Tradition ist viel +zu stark innerhalb der Arbeiterschaft, als daß solch eine +Programmänderung möglich wäre. Mir scheint auch, +es würde immer noch etwas fehlen —«</p> + +<p><a name="Page_626" id="Page_626"></a>Ich nickte. »Es fehlt noch immer etwas, — ja —,« +meinte ich nachdenklich. Dann trennten wir uns.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Als mein Vortragskursus zu Ende war, bekam +ich keine Aufforderungen mehr. An meinen +Zuhörern lag das nicht; ihr regelmäßiges Erscheinen, +ihr wachsendes Interesse zeugte dafür. Aber +der Einfluß der Zionswächter des Radikalismus war +stärker als sie.</p> + +<p>»Nun haben sie dich wieder an der Arbeit verhindert,« +sagte mein Mann ärgerlich.</p> + +<p>»Es ist vielleicht für mich das beste,« meinte ich. »Zuviel +Zweifelfragen sind in mir wach geworden. Jahrelang +hat das Fieber der Tagesforderungen sie immer +wieder unterdrückt. Jeder denkende Mensch sollte eigentlich +die Möglichkeit haben, sich hie und da von der +Welt zurückziehen zu können, um zu sich selbst zu kommen. +Trappistenklöster für Ungläubige, — das wäre eine erlösende +Einrichtung.«</p> + +<p>»Möchtest du den Schleier nehmen?!« fragte er, — etwas +wie Besorgnis sprach sich in seiner Frage aus.</p> + +<p>»Für ein paar Monate, ja!« entgegnete ich. »Um +als ein starkes und frohes Weltkind zurückzukehren.«</p> + +<p>Aber wenn ich ihn ansah, schämte ich mich, solche +Wünsche zu haben. Er war abgespannt und müde. +Er bedurfte mehr als ich einer Zeit der Ruhe. So +wenig er von sich selber sprach, ich erfuhr doch, daß das +Mißlingen sich mit grausamer Hartnäckigkeit an seine +Fersen heftete.</p> + +<p>Die Sorgen, die er hatte von unserer Türe fern<a name="Page_627" id="Page_627"></a>halten +wollen, krochen durch die Fenster herein; aber +wenn ich sah, wie er ruhig blieb, wie neue Hindernisse +nur immer neue Widerstände in ihm entwickelten, dann +überkam mich das Bedürfnis, mich an ihn zu schmiegen, +ganz dicht, geschlossenen Auges, voll tiefen Vertrauens ...</p> + +<p>Im Herbst begann ich meine Vortragsreisen wieder. +Ich mußte Geld verdienen. Und was dies Publikum verlangte: +ein wenig Anregung, ein wenig Sensation, war +ich fähig zu geben. Es wurde mir diesmal leichter als +sonst. Viele Menschen kreuzten meinen Weg, und was +mir bei den Proletariern begegnet war, das fand ich in +anderer Form wieder: wer nicht im Genußleben ertrank +oder im Kampf ums Dasein zerrieben wurde, den beherrschte +ein Gefühl brennender Unzufriedenheit, ein unbestimmtes +Suchen.</p> + +<p>Es war die Zeit, wo Fürst Bülow, in der Hoffnung +auf diese Weise die Steuerforderungen der Regierung +durchzusetzen, die unnatürliche Verbindung zwischen Liberalen +und Konservativen herbeigeführt hatte. Wer noch +vom echten Liberalismus einen Blutstropfen in sich +fühlte, mußte sich dieser Paarung schämen.</p> + +<p>Die besten Elemente des Bürgertums waren politisch +obdachlos. Ihr steuerloses Schiff näherte sich unwillkürlich +wieder der Flut des Sozialismus.</p> + +<p>»Den Kulturwert der Arbeiterbewegung erkennt wohl +jeder von uns an,« sagte mir ein junger Gelehrter in +einer kleinen Universitätsstadt. »Und daß ihr ökonomisches +Streben zugleich ein sittliches ist, wird kein objektiv +Denkender bestreiten. Sie ist im Kampf gegen +die Reaktion auch die Hoffnung derer, die nur zusehen +müssen.«</p> + +<p><a name="Page_628" id="Page_628"></a>Der Kreis der modernen Snobisten, die aus der Erkenntnis +der Notwendigkeit sauberer Wäsche und reiner +Nägel eine Weltanschauung konstruiert und Rombergs +Ausspruch, daß Bildung und Politik unvereinbare Begriffe +wären, zu dem ihren gemacht hatten, schrumpfte +sichtlich zusammen.</p> + +<p>Und auch auf anderen Gebieten geistiger Interessen +wuchs die Innerlichkeit, der Ernst. Aus einer Spielerei +müßiger Stunden wurde die Kunst zu einer Angelegenheit +persönlichen Lebens, — eine Kunst, die von den +Göttern und Madonnen zur Erde herabgestiegen war, +die den charakteristischen Stempel innerer Notwendigkeit +allem aufprägte, — vom geringfügigen Gebrauchsgegenstand +bis zum hamburger Bismarckdenkmal. Aus +einer Tradition, der man sich nur an jedem Feiertag +erinnerte, wurde die Religion zu einer die Gemüter erregenden +Bewegung; daneben drängten pädagogische und +sexuelle Probleme sich mehr und mehr in den Vordergrund, +und neben den alten Werten der Schule, der +Ehe, der Familie, erschienen wie aus Flammen gebildet +riesengroße Fragezeichen.</p> + +<p>Als eine reaktionäre Masse wurde die Bourgeoisie +nach altem Rezept von der Partei bezeichnet. Die +Wirklichkeit strafte sie Lügen. Was ich sah, war +wie ein Strom, dessen Wassermassen der alten +Dämme zu spotten schienen und sich nun wahllos, +ziellos ausbreiteten. Es fehlte nur das neue Bett, +um ihre große Kraft zu vereinen und nutzbar zu +machen.</p> + +<p>Ich fühlte, wie ich froh wurde angesichts der neuen +Erkenntnis, wie meine Hoffnung ihre Flügel regte und<a name="Page_629" id="Page_629"></a> +Überzeugungen, die im Sturm der Zweifel geschwankt +hatten, nur noch tiefere Wurzeln schlugen.</p> + +<p>Aber es war, als stünde unser Leben unter einem +bösen Zauber: Sahen junge Triebe der Freude mit +einem hellen Frühlingslächeln aus dem Erdboden hervor, +so prasselten Hagelkörner vom Himmel und schlugen +sie grausam nieder.</p> + +<p>Mitten in einer Vortragsreise versagte meine Stimme +völlig. Was die Ärzte schon lange vorausgesagt hatten, +geschah: von einer Tätigkeit wie der bisherigen konnte +keine Rede sein.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Was nun? Ich saß vor meinem Schreibtisch, — einem +ganz alten aus hellem +Birnbaumholz mit schwarzen Säulchen, +der früher irgendwo in einem Winkel gestanden hatte, — und +lehnte mich müde in den tiefen Stuhl zurück. +Großmutters Stuhl! Mir war, als sähe ich sie +vor mir: das schmale, dunkle Gesicht mit den großen +Augen, und einem Lächeln um die feinen Lippen, das +über alles Erdenleid zu triumphieren schien. Viel, viel +zu früh hatte ich sie verloren! Plötzlich fielen mir die +Papiere ein, die ich von ihr besaß: Briefe, Tagebuchnotizen, +Stammbücher. Sie hatte sie mir hinterlassen, +mir allein. Als ob sie mir sich selbst habe schenken +wollen. Ich suchte sie hervor und las und las. Aus +den vergilbten Blättern duftete der Frühling berauschend, +und die Sonne schien bis tief hinein in das winterstarre +Herz, und aus schweren dunkeln Wolken strömte +<a name="Page_630" id="Page_630"></a>warmer Regen, segenspendender. Und eine weiche Hand +streichelte mich, als wäre auch ich krank, sehr krank.</p> + +<p>Ihr Leben war voll stiller Kämpfe gewesen, und aus +einem jeden war sie stärker hervorgegangen. Es hatte +ihr den Geliebten ihrer Jugend, hatte ihr Freunde und +Kinder geraubt, und ihr Herz war bei jedem Verlust +nur reicher geworden an Kraft und Liebe. Dann war +sie einsam zurückgeblieben, zwischen lauter Fremden, und +war doch nicht bitter geworden, und verstand auch den +Fernsten und den Ärmsten. Nur eins überwand sie nie: +das unverschuldete Elend in der Welt —.</p> + +<p>Ich ging jeder Regung ihrer Seele, jeder Spur ihres +Daseins nach. Dabei entdeckte ich ein Gewebe feiner +Fäden, das sich von ihr bis zu mir herüberspann, eine +ununterbrochene Folge von Ursache und Wirkung, eine +eherne Gesetzmäßigkeit.</p> + +<p>Nun schrieb ich das Buch von ihr, weil ich es schreiben +mußte. Von früh bis spät arbeitete ich. Es war dabei +sehr still um mich und in mir. Nur wenn ein +Brief von meinem Kinde kam, — einer jener kurzen, +frohen, lebensprühenden Zeichen seiner Jugendkraft, — nahmen +meine Gedanken eine andere Richtung an. Aber +sie trieben mir nicht mehr die Tränen in die Augen: +denn mein Sohn lebte, mein Sohn blieb mir nah, auch +wenn er fern war. Meiner Großmutter Kinder waren +ihr fern gewesen, wenn sie sie mit Händen hatte greifen, +mit Augen hatte sehen können. Und auch daran war sie +nicht zugrunde gegangen. Sie hatte standgehalten.</p> + +<p>Ich schrieb wie im Fieber. Die Arbeit war wie eine +Wünschelrute. Sie schloß in meinem Innern lauter +verschüttete Quellen auf.</p> + +<p><a name="Page_631" id="Page_631"></a>Von dem glühenden Abendhimmel der klassischen Periode +Weimars war der Großmutter Jugend umstrahlt +gewesen; die geistigen Heroen des neunzehnten Jahrhunderts +hatten auf ihren Lebensweg breite Schatten +geworfen. Je deutlicher mir der geistige Werdegang +der Vergangenheit entgegentrat, zu desto klareren Bildern +schoben sich die scheinbar wirr durcheinanderlaufenden +Zeichen der Gegenwart zusammen. Unter dem +Gesetz dieses großen Entwicklungsprozesses stand auch +ihr Leben; das gab ihm seine Bedeutung, so eng, so +still es an sich auch gewesen war.</p> + +<p>Mein Buch erschien. Und plötzlich schien die Großmutter +nicht nur für mich lebendig geworden. Sie +stand da, mitten in der Welt und redete mit den Menschen. +Selbst aus den verstimmten Instrumenten der Seelen +lockte sie wie einst Melodien hervor. Viele kamen und +dankten mir, als ob ich sie geschaffen hätte!</p> + +<p>Nur in der Parteipresse gab es Leute, die mich beschimpften; +es war in dem Buch auch von Fürsten +und Aristokraten die Rede, die keine Schufte waren. +Als ich es las und mein Herz dabei nicht einmal schneller +klopfte, erschrak ich: Sollte ich so stumpf geworden sein? +Oder stand ich den alten Genossen so fern? Erst allmählich +fing ich an, mich selbst zu verstehen.</p> + +<p>»Geht es dir so nahe, daß du nicht darüber zu sprechen +vermagst?« fragte mich mein Mann.</p> + +<p>»Es ärgert mich nicht einmal,« antwortete ich.</p> + +<p>Sein Gesicht leuchtete auf: »So stehst du endlich über +den Dingen und wertest die Menschen, wie sie es verdienen.«</p> + +<p>»Du verstehst mich nicht ganz,« wandte ich ein. »Nicht +<a name="Page_632" id="Page_632"></a>nur weil ich weiß, daß sie mir in Wahrheit nichts anhaben +können, gräme ich mich nicht mehr über Urteile +wie diese, sondern weil ich sie verstehe —«</p> + +<p>Er sah mich ungläubig lächelnd an.</p> + +<p>»Ja, ich verstehe sie,« wiederholte ich. »Uns trennt +ein unüberbrückbarer Abgrund: der der inneren Kultur. +Wie die Genossinnen sich ständig über mein Äußeres +ärgerten, — weil ich eben anders war als sie, — so +muß der Durchschnitt der Genossen an meinem Wesen +Anstoß nehmen.«</p> + +<p>»Hm —,« machte mein Mann, »das klingt —«</p> + +<p>»Sehr hochmütig,« vollendete ich. »Ganz gewiß! +Und doch ist es weit von jedem Hochmut entfernt. Was +ich wurde, bin ich anderen schuldig: Nicht nur meinen +Vorfahren, sondern auch den vielen Tausenden, die deren +gesicherte Existenz, deren geistige Entwicklung durch ihr +sklavisches Arbeitsleben erst möglich machten.«</p> + +<p>»Folgerst du nun aus deiner Behauptung, daß Menschen +wie du sich von der Partei fern halten müßten? Daß +also der Satz: ›Die Befreiung der Arbeiterklasse kann +nur ein Werk der Arbeiterklasse selbst sein‹ im Sinne +der radikalen Genossen, die heute jeden Überläufer +zurückweisen möchten, aufgefaßt werden darf?« fragte +Heinrich interessiert.</p> + +<p>»Damit würde ich mich selbst negieren,« rief ich lebhaft. +»Ich folgere zunächst etwas rein Persönliches: daß +ich den Genossen unrecht tat, wenn ich ihnen ihre Feindseligkeit +zum Vorwurf machte; daß es himmelblauer, +allen realen Erfahrungen spottender Idealismus war, +wenn ich von ihnen Anerkennung, Verständnis, Anteilnahme +erwartete. Sind sie uns denn in ihrer Masse +<a name="Page_633" id="Page_633"></a>persönlich anziehend? Stören uns nicht schon eine Menge +bloßer Äußerlichkeiten? Verstehen wir sie denn so gut?«</p> + +<p>»Du vergißt, wie mir scheint,« warf Heinrich ein, +»daß eine Reihe Akademiker ganz im Proletariat aufging —«</p> + +<p>»Ich glaube es nicht, so demagogisch sie sich auch gebärden +mögen, um den Anschein zu erwecken, es wäre +so,« entgegnete ich. »Wenn ihre Kultur nicht nur +Tünche ist, so rächt sich ihre Heuchelei in stillen Stunden +bitter an ihnen. Weißt du —,« fügte ich langsam hinzu, +»sobald ich mir Wanda Orbins früh gealterte, durchfurchte +Züge vergegenwärtige, bin ich gewiß, daß sie +empfindlich darunter leidet —«</p> + +<p>Heinrich runzelte die Stirn: »Du gehst denn doch ein +wenig weit in deinem Mitgefühl. Willst du vielleicht +auch ihr Verhalten gegen dich beschönigen?«</p> + +<p>»Beschönigen — nein; erklären — ja! Sie muß +herrschen, um die Preisgabe der inneren Freiheit ertragen +zu können. Infolgedessen beseitigt sie jeden, der +ihr im Wege steht, — ganz abgesehen davon, daß ich +ihrem fanatischen Radikalismus als Schädling erscheinen +mußte!«</p> + +<p>»Das Endresultat deiner Erwägungen,« sagte mein +Mann mit einem leisen Spott im Ton der Stimme, »ist +demnach ein erhaben christliches: Liebet eure Feinde, +segnet, die euch fluchen —«</p> + +<p>Ich hob abwehrend beide Hände. »Nein, nein, +nein!« rief ich aus und stand auf, um mit raschen +Schritten im Takt meines Herzschlages auf und ab zu +gehen. »Vom Christentum bin ich weiter entfernt denn +je. Die tief eingewurzelte christliche Auffassungsweise ist +<a name="Page_634" id="Page_634"></a>es ja, die uns zu so falscher Stellungnahme getrieben +hat. Da ist zunächst die christliche Idee der Selbstaufopferung. +Keiner von uns Überläufern, mich selbst eingeschlossen, +hat sich nicht zuweilen mit einer Art pfäffischer +Selbstzufriedenheit an seinem eigenen Opfermut berauscht, +hat sich nicht innerlich vorgerechnet, was er alles um der +Sache willen aufgab, hat sich nicht das Leben in dem +Gefühl verbittert, daß die Genossen dieses Opfer nicht zu +würdigen verstehn. Wenn ich schon als Kind außerstande +war, den Opfertod Christi als solchen zu empfinden, — nicht +nur, weil er als Gottessohn die Gewißheit +ewigen Lebens besaß, sondern weil es mir nicht +so heldenhaft erschien, in der Ekstase des Glaubens für +die Erlösung der ganzen Menschheit zu sterben, — so +weiß ich jetzt, daß unser Opfer gar kein Opfer ist, +sondern im Gegenteil Selbstbehauptung. Es wäre ein +Opfer gewesen, — und eine Sünde wider den Geist +wie jedes ›Opfer‹, — wenn ich mich nicht zum Sozialismus +bekannt hätte. Seiner Überzeugung nicht folgen, +die Stimmen seines Innern nicht hören wollen, — das +allein sind Opferungen; die sie bringen, sind arme +Lebensschwache. Auch ich habe mich solcher Sünden +schuldig gemacht: als ich mich einmal Wanda Orbin +unterwarf, als ich Forderungen meines Geistes und +Herzens zum Schweigen brachte.«</p> + +<p>»Auch des Herzens?« unterbrach mich mein Mann.</p> + +<p>»Weißt du nicht mehr, — damals, — als meine +Sehnsucht nach dir rief — und ich sie unterdrückte!«</p> + +<p>Er nickte mit gesenktem Kopf. »Ich habe mir +schweren Schaden getan,« bekannte ich, als spräche ich +jetzt nur mit mir selber, »die Liebe ist eine Quelle der<a name="Page_635" id="Page_635"></a> +Kraft. Daß so viele Frauen so klein sind und so armselig, +liegt wohl nur daran, daß sie sich selbst verurteilen, +daneben zu stehn, während die anderen die freien Glieder +in ihrem brausenden Strome baden.«</p> + +<p>Heinrich sah auf. Sein Blick forschte in meinen +Zügen. »Hast du — noch andere Opfer gebracht? +Herzensopfer — meine ich,« fragte er langsam. Ich +preßte die Handflächen krampfhaft aneinander.</p> + +<p>»Mein Kind —,« kam es mühsam über meine Lippen.</p> + +<p>Wir schwiegen beide. Ich mußte mir ein paarmal +mit der Hand über die Stirne streichen; mit schweren, +grauen Schwingen strichen die Vögel meiner Schmerzen +mir um das Haupt.</p> + +<p>»Ich habe dich aus deinem Gedankengang gerissen, — verzeih!« +knüpfte Heinrich das Gespräch nach einer langen +Pause wieder an. »Von der christlichen Idee der Selbstaufopferung +gingst du aus —«</p> + +<p>»Mit ihr haben wir nur immer uns selbst irre geführt,« +fuhr ich fort, »aber mit den anderen führen wir +die Massen irre: mit der Gleichheit aller im Sinne +gleichen Wertes und gleicher Entwicklungsfähigkeit, mit +der Brüderlichkeit im Sinne gegenseitigen Verständnisses. +Als ob die Natur, die jeden Grashalm vom anderen +unterschied, den Menschen nicht eine noch reichere Mannigfaltigkeit +ermöglichen sollte; — als ob wahre Brüderlichkeit +nicht immer seltener, dafür aber immer tiefer würde, +je mehr wir uns entwickeln! Natürliche Schranken +respektieren, statt sie niederzureißen, — Distanzen anerkennen, +statt sie mit Phrasen zu überbrücken, — kurz, im +Sinne der Entwicklung handeln, die stets vom Einförmigen +zum Vielfachen schreitet, — das wäre unsere Aufgabe!<a name="Page_636" id="Page_636"></a> +Statt dessen ziehen wir unter der Maske der Brüderlichkeit +den Dünkel groß, rotten die Ehrfurcht vor den +Heroen des Geistes aus, so daß schließlich jeder Hans +Narr einen Goethe Bruder nennt. Von dem Dreigestirn +der Forderungen, das die Revolution vom Christentum +übernahm und der Sozialismus von beiden, wird +nur eins übrig bleiben: die Freiheit!«</p> + +<p>Es wurde wieder sekundenlang still zwischen uns. +»Vielleicht begegnen wir einander allmählich in unseren +Gedankengängen und könnten dann wenigstens noch zu +jener seltenen Brüderlichkeit gelangen —,« sagte Heinrich +schließlich.</p> + +<p>Mit einer raschen Bewegung näherte ich mich ihm +und legte den Arm um seinen Hals. Der Klang +seiner Stimme tat mir zu weh. Er löste sich sanft +aus der Umschlingung. »Nicht so, Alix —,« sagte +er leise; »weißt du noch, wie du einmal zu mir sagtest: +der Stunde sollten wir warten, der wir gehorchen +müssen?! — Ich fürchte, sie ist noch fern —!« Und in +ruhigem Gesprächston fuhr er fort: »Du wirst dich darüber +in keiner Täuschung befinden: Alles, was du sagtest, +ist für die heutige Sozialdemokratie Ketzerei.« Ich nickte.</p> + +<p>»Noch kennt sie niemand als du. Aber sollten die +losen Gedanken sich zur Kette zusammenschieben, so werde +ich den Schatz nicht in meine Truhe legen.«</p> + +<p>»Auch wenn sie dich bezichtigen, falsches Gold zu +fabrizieren?!«</p> + +<p>Ich warf den Kopf zurück. Ein heißes Gefühl der +Kampflust strömte mir durch die Adern und bewies mir, +daß ich lebte. »Auch dann!«</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_637" id="Page_637"></a></p> + +<p>Das Erbe meiner Großmutter befreite mich von +einem gut Teil äußerer Sorgen. Und jetzt +erst, da die Not, dieser Sklavenhalter, nicht +mehr hinter mir stand, fühlte ich alle Striemen, mit +denen ihre Peitschenschläge meinen Körper gezeichnet +hatten. Ich sah die Blässe meiner Wangen, die Falten +um meinen Mund, die müden Augen. Und doch +wollte ich nicht alt sein, denn noch lag ein Leben vor +mir, und ich wollte nicht häßlich sein, denn eine tiefe, +tiefe Sehnsucht trieb mir heißes Blut durch die Adern.</p> + +<p>Ich ging in ein Sanatorium in die Nähe von Dresden, +um gesund zu werden. Unter dem Menschenschwarm +aus der alten und neuen Welt, der sich dort ein Stelldichein +zu geben schien, traf ich auch einen Bekannten: +Hessenstein. Meinen alten Tänzer, einen der +glänzendsten Kavaliere der Westfälischen Gesellschaft, +hätte ich in dem grauhaarigen Mann mit dem gebeugten +Rücken kaum wiedererkannt.</p> + +<p>»Merkwürdig,« sagte er nach der ersten Begrüßung, +»Sie sind immer noch Alix von Kleve! — Eben las +ich Ihr Buch. Daraus erfuhr ich, daß Sie auch innerlich +noch Alix von Kleve sind, oder — besser gesagt — daß +Sie heimkehrten.«</p> + +<p>»Wie meinen Sie das?« fragte ich lächelnd. »Ich +brauchte nicht heimzukehren, denn ich war immer bei +mir!«</p> + +<p>»Auch als Sie noch zu den Singer, Stadthagen, +Luxemburg, und wie die Zierden der Partei alle heißen +mögen, gehörten?!«</p> + +<p>»Ich war und bin Sozialdemokratin, — damit gehöre +<a name="Page_638" id="Page_638"></a>ich meiner Überzeugung, nicht den Menschen,« antwortete +ich merklich kühler werdend.</p> + +<p>»Wie, Sie sind nicht aus der Partei ausgetreten und +konnten dies schreiben —,« er zog das Buch von der +Großmutter aus der Tasche, »— das Werk eines vollendeten +Aristokraten —«</p> + +<p>»Sie haben einmal andere Ansichten gehabt, Herr +von Hessenstein,« unterbrach ich ihn.</p> + +<p>»Wer von uns hätte nicht törichten Träumen nachgehangen?!« +meinte er.</p> + +<p>Wir sahen einander oft, und es tat mir wohl, einem +teilnehmenden Menschen von meinem Leben zu erzählen.</p> + +<p>An einem kühlen Herbsttag, — dem letzten vor meiner +Abreise, wanderten wir auf die Heide hinaus. »Ich +liebe sie,« sagte Hessenstein, »sie geht mit so stiller +Würde dem Winter entgegen, ohne sich durch überflüssige +Stürme über die Hoffnungslosigkeit der Situation aufzuregen.«</p> + +<p>»Nun weiß ich endlich, warum ich sie nicht liebe,« +antwortete ich; »diese Ergebung in das Schicksal wird +mir immer fremd sein. Ich würde mich an den Sommer +klammern, wenn es Winter werden wollte.«</p> + +<p>Er sah mich kopfschüttelnd an: »Nach all Ihren Erfahrungen +diese Lebenskraft?! Nachdem all Ihre Opfer +nutzlos waren?!«</p> + +<p>Ich schwieg betroffen still. Die Frage, ob ich genutzt +hatte oder nicht, hatte ich mir selbst nie gestellt. Ich +überlegte: all die Reformen, für die ich in hartem +Kampf gegen die Genossen eingetreten war, kamen mir +jetzt, aus der Vogelperspektive, nicht mehr so welterschütternd +vor. Aber immerhin; sie hatten sich durch<a name="Page_639" id="Page_639"></a>gesetzt. +Die Dienstbotenbewegung war im Gang, die +Mutterschaftsversicherung war zur Forderung der Partei +geworden; die Haushaltungsgenossenschaft stand wenigstens +auf dem Diskussionsprogramm; selbst jene Zentralstelle +der Arbeiterinnenbewegung, deren Forderung mir +fast den Hals gekostet hatte, war vor ein paar Jahren +geschaffen worden und funktionierte vortrefflich. Und +wie viele mochte ich dem Sozialismus gewonnen haben? +Ich sah wieder glänzende Augen auf mich gerichtet, +fühlte den Druck schwieliger Hände, hörte den Siegesjubel +mich umbrausen —.</p> + +<p>»Nein,« sagte ich hell und laut, »meine Arbeit ist +nicht nutzlos gewesen! Es gibt kein Wort, das nicht +die Luft in Schwingung versetzt, keinen Gedanken, der +sich nicht weiterpflanzt! — Und daß ich in der Partei +aushalte?! Meinen Sie denn, es würde an +meiner Überzeugung irgend etwas geändert werden, +wenn ich ihr nicht offiziell angehörte, oder wenn sie, — was +ich nicht für unmöglich halte, — mich noch +einmal gehen heißt? Gewiß, ich zweifle an der Richtigkeit +mancher ihrer Programmforderungen, ich halte +ihre Taktik sehr oft für falsch, ich sehe, daß sie +von hundert Schönheitsfehlern behaftet ist, — aber all +das vermag die Hauptsache nicht zu erschüttern. Der +Sozialismus ist das einzige Mittel, um die Menschheit +aus dem Zustand der Barbarei auf die erste Stufe der +Kultur zu erheben —«</p> + +<p>Er legte beschwichtigend seine schmale, blaugeäderte +Hand auf die meine. »Sie sind in keiner Volksversammlung,« +sagte er; »sie brauchen nicht so starke Farben +aufzutragen —«</p> +<p><a name="Page_640" id="Page_640"></a></p> +<p>»Ich trage sie nicht auf. Ich spreche in ruhigster +Überlegung,« fuhr ich fort. »Oder ist es etwa keine +Barbarei, daß die überwiegende Masse der Menschheit, +daß Millionen, viele Millionen, von Kindheit an bis +zum Greisenalter zu härtestem Frondienst verurteilt sind, +daß sie von dem einzigen Sinn des Lebens, der Entfaltung +der Persönlichkeit zur höchsten Potenz ihrer +Leistungs- und Genußkraft, durch den Zufall der Geburt +und des Besitzes ausgeschlossen sind?! Die Befreiung des +Menschen von den blinden Gesetzen des Schicksals, die +vollkommene Unterjochung der Materie unter den Geist, — das +ist uns das Ziel; einer fernen Zukunft aber +wird es zweifellos erst als der Anfang der Menschheitsentwicklung +erscheinen.«</p> + +<p>Mein Begleiter blieb stumm. Erst als wir droben +von der Heide in den herbstbunten Wald schritten, sprach +er wieder. »Ich bewundere Ihren Glauben. Sollte +wirklich die Vergesellschaftung der Produktionsmittel +solchem Ziel entgegenführen?! Dann wäre es allerdings +sträflich, sich ihrer Durchsetzung entgegenzustemmen!«</p> + +<p>»Ich sehe zunächst kein anderes,« antwortete ich. »Freilich: +ein aktuelles Problem ist sie nicht. Aber so etwas +wie eine regulative Idee. Im übrigen: ich schwöre ja +nicht darauf. Ich kann mir vorstellen, daß sie einmal +durch andere Forderungen ergänzt werden müßte. Aber +das Ziel ist für mich unverrückbar.«</p> + +<p>Wir näherten uns wieder dem Sanatorium. »Sie +gehen nach Java zurück?« fragte ich, ehe wir uns trennten. +»Nein,« entgegnete er. »Dreizehn Jahre habe ich da +unten gelebt, — eine böse Zahl! — Ich bin dabei ein +reicher Mann geworden. Aber kein glücklicher. Jetzt +<a name="Page_641" id="Page_641"></a>will ich —,« er schürzte in bitterer Selbstverhöhnung die +Lippen, »— mein Leben als Europäer genießen. Sie +sehen: Ihre ersehnte Beherrschung der Materie ist keine +zuverlässige Grundlage des Glücks.«</p> + +<p>»Glücklichsein — im Sinne der Befriedigung unserer +Triebe ist doch auch nur ein Herdenideal. Wessen Leben +es ausfüllt, der ist entweder ein Schwächling oder ein +Greis —«</p> + +<p>Er drückte mir die Hand. »Sie sind eine merkwürdige +Frau. Vielleicht komme ich nach Berlin und lerne auf +meine alten Tage noch leben. Nur eins geben Sie +mir bitte jetzt schon auf den Weg: Sind Sie so kalt, +daß Sie das Glück ganz auszuschalten vermögen, und — wenn +nicht — was verstehen Sie darunter?«</p> + +<p>Ich atmete tief auf. Ich sah mich an einem Tage +wie diesem mit dem Geliebten im Wald, — die Sehnsucht +packte mich, so heiß, so stark, daß ich erschauerte. +Aber dem fremden Mann, der erwartungsvoll vor mir +stand, hätte ich nicht sagen können, was mich bewegte. +»Kampf, — Kraftentfaltung, — Widerstände beseitigen, — sie +aufsuchen, wenn sie sich nicht von selbst ergeben, — darin +kulminiert das Lebensgefühl der Starken,« sagte ich.</p> + +<p>Er verabschiedete sich. Ich sah ihn im Hause verschwinden, +mit gebeugtem Rücken, sehr müde.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Auf der Heimfahrt klopfte mir das Herz unruhiger +als sonst. Ich dachte an Heinrich. Seine Lebensauffassung +war's, der ich Worte geliehen, an +der ich mich selbst zuerst aufgerichtet hatte, und die +nun wie ein Fluidum in meine Seele geströmt war.<a name="Page_642" id="Page_642"></a> +Ein Gefühl tiefer Zusammengehörigkeit überkam mich, +das ich noch nie empfunden hatte, — am wenigsten +dann, als wir, an den gleichen Pflug gespannt, unzertrennlich +waren. Vielleicht, daß Freunde so miteinander +leben und arbeiten können; — Liebende nicht, sicher nicht! +Aber sind es nicht die besten Ehen, die zur Freundschaft +werden? Oder ist das nicht auch eine jener alle Natürlichkeit +knechtenden Anschauungen, die wir armen Menschen uns von +der Moral des Christentums einpauken ließen, einer Moral, +für die die Sinne und die Sünde identisch waren, der +ihre Überwindung als der Tugend Krone erschien?! Ehe +ist der Bund zweier Liebenden; wo sie zur bloßen Freundschaft +wurde, sind die Sinne tot oder äugen sehnsüchtig +nach anderer Befriedigung.</p> + +<p>Die Ehe von einst beruhte auf der Autorität des +Mannes gegenüber der Frau, der Autorität der Eltern +gegenüber den Kindern, — ein Staat im kleinen mit +Herren und Knechten. Jetzt aber stehen Individualitäten +einander gegenüber. Das Leben von einst läßt +sich ihnen wohl noch aufzwingen, aber sie zerbrechen +daran. Zur Herdflamme wird die Liebe nicht mehr. +Aber zum lodernden Opferbrand an den hohen Festen +des Lebens!</p> + +<p>Für die Liebe ist der sicherste Tod die Unfreiheit. +Sie wächst mit dem Pathos der Distanz.</p> + +<p>Wie ein kleines Mädchen, das zum ersten Male liebt, +wagte ich kaum mir selbst zu gestehen, was ich fühlte. +Als mein Mann mich am Bahnhofe empfing und mir +die Hand küßte, errötete ich. Und abends ertappte ich +mich dabei, wie ich im Spiegel forschend meine Züge +musterte und die Haare anders zu stecken versuchte. — Er<a name="Page_643" id="Page_643"></a> +war jetzt immer so förmlich, so ritterlich zu mir! +Ob ich am Ende zu alt war: — Zweiundvierzig Jahre! +In Paris hatte ich Frauen gesehen, die älter waren als +ich und doch noch schön. Freilich: das Leben hatte +mich gezeichnet! — Ganz heimlich — ich hätte mich +sonst vor ihm zu sehr geschämt! — fing ich an, mich mehr +zu pflegen als sonst, die Farbe meiner Kleider, die +Form meiner Hüte sorgfältiger auszuwählen. Ich verschwendete +fast. Ganz, ganz in der Ferne sah ich +einen neuen Sommer voll Glanz und Glut. Noch +lag er im Zauberschlaf, tief unten in der winterstarren +Erde. Aber meine Sehnsucht trog mich nicht: er mußte +kommen.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><a name="Page_644" id="Page_644"></a></p> +<h2><a name="Neunzehntes_Kapitel" id="Neunzehntes_Kapitel"></a>Neunzehntes Kapitel</h2> + + +<p>In Eis gepanzert, einen langen Mantel von Schnee +um die Schultern, trat das neue Jahr seine +Herrschaft an. Gleichgültig sahen seine kalten +Augen über die Menge hinweg, die jammernd die Arme +zu seinem Thron erhob.</p> + +<p>Die Not war groß. Brot und Fleisch waren teuer, +und für die Menschenkraft, die sich billig anbot, gab es +keine Arbeit. Der Winter trieb die Arbeitslosen in +Scharen in die Wärmehallen; vom frühen Nachmittag +an drängten sich die Obdachsuchenden vor den Asylen. +Wer in ihre Nähe kam, den trafen Blicke, in denen +der Haß gegen die Herrschenden, der Groll mit dem +Schicksal flammte. Das waren keine Almosen heischenden +Bettler mehr, keine in ein gottgewolltes Geschick +Ergebenen.</p> + +<p>Das Proletariat füllte den ganzen Winter über die +Säle, um gegen eine Politik zu protestieren, die zwar +mit den Insignien des Konstitutionalismus prunkte, aber +nur ein Werkzeug des Absolutismus war. Es wußte +von den Millionen neuer Steuern, die drohten, es +hatte erfahren, daß es gegen die geeinte Reaktion +machtlos war, daß die eiserne Hand Preußens auf ihm +ruhte, wenn es sich aufrichten wollte. Es erkannte, daß +<a name="Page_645" id="Page_645"></a>es Mauern und Gräben zu bewältigen galt, ehe die +feste Burg, der Staat, ihm zufiele. Junker und Pfaffen +hielten sie besetzt, bereit, nur über ihre Leichen den Weg +frei zu geben.</p> + +<p>Der erste Akt des Dramas begann.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Vor dem Abgeordnetenhaus in Berlin eine dichtgedrängte +Menschenmasse. Polizisten zu Fuß und +zu Pferd, den Revolver im gelben Gürtel, halten +die Zufahrt frei. Und hinter ihnen stehen Tausende, +Männer, Frauen, Kinder. Sie warten. Sie besetzen die +Auffahrt des gegenüberliegenden Kunstgewerbemuseums. +Sie halten Umschau von oben. Und plötzlich biegt in +scharfem Trabe eine Karosse um die Ecke der Prinz +Albrechtstraße. »Der Reichskanzler!« gellt es laut. Die +Menge flutet ihm entgegen, ihm nach, eine einzige +dunkle Welle. Und brausend tönt es um ihn: »Hoch +das freie Wahlrecht!« Dann wieder Stille. Sie wartet +weiter.</p> + +<p>Und auf der Rednertribüne des Abgeordnetenhauses +erscheint Fürst Bülow zur Beantwortung des freisinnigen +Antrags: Einführung des allgemeinen, gleichen und +direkten Wahlrechts mit geheimer Stimmabgabe für den +preußischen Landtag. Mit unterschlagenen Armen, +ruhig und selbstbewußt, den harten Ausdruck geborener +Herrscher auf den Zügen, sitzt die Mehrheit vor ihm. +Sie weiß, was sie zu erwarten hat; dieser Mann ist +ein Erwählter des Kaisers, nicht des Volkes, und der +Kaiser ist der Ihre.</p> + +<p>»... Für die Königliche Staatsregierung steht es +<a name="Page_646" id="Page_646"></a>nach wie vor fest, daß die Übertragung des Reichstagswahlrechts +auf Preußen dem Staatswohl nicht entspricht +und daher abzulehnen ist. Auch kann die Königliche +Staatsregierung die Ersetzung der öffentlichen Stimmabgabe +durch die geheime nicht in Ansicht stellen.«</p> + +<p>Scharf, ohne die liebenswürdigen Floskeln des Weltmannes, +ohne das verbindliche Lächeln des Diplomaten, +klingt die Erklärung durch den Saal.</p> + +<p>Das Volk draußen wartet. Da nahen neue Schutzmannspatrouillen; +hart schlägt ihr Tritt auf den Asphaltboden +auf, Pferdehufe klappern dazwischen, — die Begleitung +zum Text des Kanzlerliedes.</p> + +<p>Das Volk zieht sich zurück.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Zwei Tage später. Ein heller Wintersonntag. +Mittags Unter den Linden das gleiche Bild wie +immer: flanierende Damen und Herren, Offiziere +und Studenten, hinter den Spiegelscheiben der Kaffees +neugierige Sonntagsbummler.</p> + +<p>Wir gehen langsam dem Schloßplatz entgegen. Schutzleute +erscheinen. Aus allen Nebenstraßen blitzen ihre +Helmspitzen auf. Im Zeughaus, vor dem Museum, am +Dom und rings um das Schloß — lauter Pickelhauben. +Mit klingendem Spiel zieht die Wache auf, bunt und +glänzend, eine Augenweide für alle Farbenfrohen. An +der Kreuzung der Friedrichstraße stockt der Zug der +Soldaten, ein anderer überschreitet seinen Weg, ein +einförmig dunkler: Arbeiter, die aus dem Innern der +Stadt kommen, wo heute die Wahlrechtsversammlungen +<a name="Page_647" id="Page_647"></a>tagen. Schweigend zieht er vorüber. Es ist, als ob +er auf alle Gesichter seinen Schatten geworfen habe.</p> + +<p>Da — Signaltöne aus der Hupe. Die Spaziergänger +stutzen; drei gelbe Automobile rasen vorbei, dem Schlosse +zu. Der Kaiser. Kein Hurra, kein Gruß, alles bleibt +still, — wie benommen.</p> + +<p>Und plötzlich, als hätte die Erde sie ausgespieen, +wimmelt es auf der breiten Straße von Menschen; im +selben Augenblick bildet sich vor dem Schloß eine +Mauer von Polizistenleibern. Die Menge mißt ihre +Gegner mit dem spöttischen Blick der Überlegenheit: +Wenn wir wollten —! Aber sie wollen nicht. Sie +haben stärkere Mauern zu stürmen.</p> + +<p>Aus der Ferne klingen Töne, wie Donnerrollen. Sie +schwellen an. Sie begleiten den gleichmäßigen Tritt +Tausender: — soweit das Auge die Friedrichstraße hinunter +gen Süden reicht — ein Meer von Menschen. +Es überflutet die Linden. Rechts und links weichen die +Spaziergänger zurück. Noch nie hat die Allee der Fürstentriumphe +solch einen Aufzug gesehen! Eine Schwadron +Berittener sprengt den Demonstranten entgegen, mitten +in ihren Zug hinein. Ein Aufkreischen ängstlicher Weiberstimmen, — dann +gewitterschwangere Stille.</p> + +<p>Einsam liegt das Königsschloß. Leer gefegt ist der +weite Raum ringsum. Schwer hängt die Kaiserstandarte +in der unbewegten Luft. Hier hält das Leben seinen +Atem an.</p> + +<p>Aber ringsum, von Norden und Osten, von Süden +und Westen, strömen sie jetzt herbei in hellen Scharen. +Sie singen. Niemand hat den Taktstock geschwungen, +sie sehen einander nicht einmal, und doch ist es dasselbe<a name="Page_648" id="Page_648"></a> +Lied, das aus den Kehlen aller dringt, das die Bastille +gestürmt hat und die Barrikaden: die Marseillaise. Es +schlägt gegen die Mauern der Kirchen und der Paläste, — und +ihr Echo muß es wiedergeben. Es braust sieghaft +hinweg über die Ketten der Hüter der Ordnung. +Hoch über dem Königsschloß fluten seine Töne zusammen, — es +klingt wie das Klirren scharfer Klingen, — wie +Wotans gespenstisches Heer.</p> + +<p>Und nun hüllt der Abend die Stadt in seinen dunkeln +Mantel. Der Gesang verstummt. Das Pferdegetrappel +der Polizisten, das Geschrei der Verfolgten tönt nur +noch von weit her.</p> + +<p>Mir aber ist, als sähe ich in einen unermeßlichen +Saal. An seinen Wänden prangen die Bilder verflossener +Jahrhunderte: die Geschichten von den Königen +und den Kriegen; Marmorstatuen stehen ringsum: Feldherrn +und Fürsten, Priester und Propheten. In der +Mitte aber auf goldenem Stuhl thront Er. Um das +Haupt den Krönungsreif wie einen Heiligenschein; die +Finger der Linken um den Reichsapfel gespannt, — die +Weltenkugel; in der rechten das Zepter, — eine Peitsche, +um Nacken zu beugen, Widerspenstige zu zähmen; auf +der Brust ein großes leuchtendes Kreuz. Ich staune +ihn an: Alles Vergangene lebt in ihm. Alles, was uns +tot ist, umgibt ihn. Gegen die Nacht, die nur sein +Glanz erhellt, erscheint das Licht des Tages grau und kalt.</p> + +<p>Er ist kein einzelner. Er ist die Welt, die wir überwinden +müssen.</p> + +<hr style='width: 45%;' /><p><a name="Page_649" id="Page_649"></a></p> + +<p>Eine kleine Gruppe von Parteigenossen fand sich +in einem Restaurant der Friedrichstadt in der +Nacht nach den Wahldemonstrationen zufällig +zusammen. Die Erregung, die in allen noch nachzitterte, +verscheuchte jede Müdigkeit. Große Ereignisse lösen die +Lippen. Auch die Kühlen waren warm geworden. Man +diskutierte lebhaft: über die heutige Eroberung der +Straße, über die künftige Entwickelung der Bewegung, +über die Möglichkeit, in diesem Augenblick, wo es sich +nicht um die Aufrichtung des Zukunftsstaates, sondern +um die Niederwerfung der Junkerherrschaft handelte, +das liberale Bürgertum und alle Schmollenden, die unsicher +abseits standen, mobil zu machen. »Ein Riesenkampf +gegen die Reaktion, — das ist's, was die stagnierenden +Gewässer in Fluß bringen würde!« sagte einer.</p> + +<p>»Er würde die Geister scheiden, wie nichts zuvor —,« +ergänzte enthusiastisch ein anderer.</p> + +<p>»Sie glauben wirklich, daß das Ziel des allgemeinen +Wahlrechts für den preußischen Landtag solch weltbewegende +Kräfte entfesseln könnte?« fragte ich. Mein +Spott rötete die Gesichter der Begeisterten noch mehr.</p> + +<p>»Und gerade Sie waren vor einer Stunde bis zur +Stummheit ergriffen!« meinte vorwurfsvoll mein Nachbar.</p> + +<p>»Ich bin es noch,« antwortete ich; »mir war, als +hätte ich wirklich den Flügelschlag der neuen Zeit gefühlt. +Ich fürchte nur, sie rauscht an uns vorüber.«</p> + +<p>»Das aber liegt doch an uns!« rief über den Tisch +herüber ein jungem Literat, der darauf brannte, sich die +politischen Sporen zu verdienen. »Wir müssen sie fest<a name="Page_650" id="Page_650"></a>halten, +wir müssen das Eisen schmieden, solange es +warm ist.«</p> + +<p>»Womit, wenn ich fragen darf?« —</p> + +<p>Die Antworten schwirrten von allen Seiten durcheinander: +»Durch die Aussicht auf eine wahrhaft liberaldemokratische +Ära,« — »auf wirtschaftliche Reformen +großen Stils,« — »Verminderung der Steuern,« — »der +Militärlasten,« — »Trennung von Kirche und +Staat —«</p> + +<p>»Lauter Einzelforderungen, die große, heute noch indifferente +Massen kaum begeistern, die heterogene Elemente +nicht zusammenschweißen werden, die, vor allen +Dingen, kein sicher wirkendes Scheidewasser sind,« sagte +ich ruhig.</p> + +<p>»So nennen Sie es, wenn Sie es wissen!«</p> + +<p>Ich sah mich scheu im Kreise um. Sobald ein Gespräch +Fragen berührte, die mir sehr nahe gingen, überkam +mich oft eine gewisse verlegene Unbeholfenheit. +»Stünde ich vor einer Volksversammlung, so würde es +mir leichter werden als vor all Ihren forschenden, erwartungsvollen +und — lächelnden Mienen,« meinte ich.</p> + +<p>»So wollen wir streng parlamentarisch verfahren,« +sagte mein Nachbar sichtlich belustigt; »wir sind die +letzten Gäste, beherrschen also im Moment die Situation. +Silentium, meine Herren! Frau Alix Brandt hat das +Wort.«</p> + +<p>Ich sah zu meinem Mann hinüber. Er nickte mir zu. +Ich klammerte meinen Blick an den seinen und erhob +mich. Was mir diese Nacht zum erstenmal klar vor +Augen gestanden hatte, das sollte ich in Worte fassen. — Mir +war die Kehle wie zugeschnürt. Und doch fühlte +<a name="Page_651" id="Page_651"></a>ich, es mußte sein. Nicht um dieser Tafelrunde willen, — sondern +meinetwegen. Der Gedanke zerflattert, wenn +er nicht in die Form der Sprache gepreßt wird.</p> + +<p>»Mir scheint,« begann ich zögernd, »daß es nicht so +sehr darauf ankommt, einzelne praktische Ziele zu setzen. +Das haben die Parteien schon längst getan und sind +über die Verschiedenheit ihrer Einzelforderungen in +Gruppen und Grüppchen auseinander gefallen. Alle +großen entscheidenden Weltbewegungen sind von<em class="spaced"> einem</em> +Geist getragen worden —« »Und die materialistische +Geschichtsauffassung?!« unterbrach mich ein Genosse.</p> + +<p>»Von<em class="spaced"> einem</em> Geist —,« fuhr ich unbeirrt fort, »der +sich selbstverständlich erst aus den allgemeinen wirtschaftlichen +und sozialen Verhältnissen heraus entwickeln +konnte und immer erst dann entstand, wenn der Widerspruch +der Gegenwart zur Vergangenheit überall schmerzhaft +fühlbar geworden war. Das gilt für das Christentum, — den +Muhamedanismus —« »die Revolution,« +rief einer dazwischen.</p> + +<p>»Nein,« antwortete ich. »Es gibt Zeiten, in denen +der Geist der Verneinung, wie ich ihn einmal nennen +will, nicht zu reinem, vollem Ausdruck kommt, wo er +nur beschränkte Schichten des Volkes ergreift, — wie +zur Zeit der Renaissance, der Revolution, — und wo er +darum schließlich gezwungen wird, mit dem Geist der +Vergangenheit zu paktieren. So baute die Renaissance +christliche Kirchen, und die Revolution übernahm die +Phraseologie des Christentums. Auch wir versuchen mit +jener Geistesfaulheit, die sich scheut, zu Ende zu denken, +neuen Wein in alte Schläuche zu gießen. Ich erinnere +an die Bemühungen, die Kirche zu modernisieren, an +<a name="Page_652" id="Page_652"></a>das Bestreben, in der Partei die Ethik Kants für den +Sozialismus in Anspruch zu nehmen.«</p> + +<p>Hier unterbrach mich mein Nachbar, ein begeisterter +Kantianer, und vergaß im Eifer des Widerspruches +die von ihm selbst gewollte parlamentarische Ordnung.</p> + +<p>»Der kategorische Imperativ, von seiner transzendentalen +Herkunft losgelöst, ist tatsächlich der dirigierende +Geist, auf den Sie offenbar hinauswollen,« rief er.</p> + +<p>»Das bestreite ich. Schon weil er sich von dieser +transzendentalen Herkunft nicht loslösen läßt, weil er +Geist vom Geist des Christentums ist, weil wir auf +Grund unserer Kenntnis der historischen Entwicklung +und Umwandlung sittlicher Ideale wissen, daß es ein +allgemein gleiches, verpflichtendes Sittengesetz nicht gibt, +weil nicht einmal zwischen Einzelindividualitäten eine +Äquivalenz der Handlungen besteht —«</p> + +<p>»Ich höre Alix Brandt, und es ist Friedrich Nietzsche!« +spottete jemand. Die anderen lächelten vielsagend.</p> + +<p>»Sie haben mir vorgegriffen,« entgegnete ich ruhig. +»Ich hätte den Namen des Mannes genannt, der zwar +nicht der Erlöser, wohl aber sein Prophet sein kann.«</p> + +<p>»Aber, Genossin Brandt, Sie verirren sich,« hörte +ich entrüstet rufen; »wie vermögen Sie Ihre sozialdemokratische +Gesinnung mit dem Nachbeten Nietzschescher +Lehren zu vereinigen?! Denken Sie doch an seine Vergötterung +der ›Herrenmenschen‹, an seine Verhöhnung +jedes ›Sklavenaufstands‹!«</p> + +<p>»Diesen Einwand mußte ich erwarten. Ich erinnere +Sie demgegenüber zunächst nur daran, daß es derselbe +Nietzsche war, der anerkannte, daß die einzelne starke +Individualität am leichtesten in einer demokratischen Ge<a name="Page_653" id="Page_653"></a>sellschaft +sich erhalten und entwickeln könne. Aber diese +Idee ist zwischen uns, wie ich glaube, schon so sehr zum +unbestreitbaren Gemeinplatz geworden, daß ich nicht +weiter darauf einzugehen brauche. Natürlich gebe +<em class="spaced"> den</em> Nietzsche preis, der unsere große soziale Bewegung +weder kannte, noch kennen wollte. Und ich kann das +um so leichter, weil er unbewußt selbst im Flusse dieser +Bewegung schwamm, weil er dem Sozialismus das gab, +was wir brauchen: eine ethische Grundlage.«</p> + +<p>Von allen Seiten wurde mir heftig widersprochen, +aber jetzt, da ich mir selbst immer klarer wurde, störte +mich das nicht mehr.</p> + +<p>»Alle seine großen Ideen leben in uns: der Trieb +zur Persönlichkeit, die Umwertung aller Werte, das Jasagen +zum Leben, der Wille zur Macht. Wir brauchen +die blitzenden Waffen aus seiner Rüstkammer nur zu +nehmen, — und wir sollten es tun. Mit dem Ziel des +größten Glücks der größten Anzahl, — an das ich +glaubte, wie Sie alle, — schaffen wir eine Gesellschaft +behäbiger Kleinbürger.... Und spüren Sie den Geist der +Verneinung nicht in allem, was heute lebenskräftig ist +und vorwärts will? Kunst und Literatur, Wissenschaft +und Politik setzen ihr Nein der Vergangenheit entgegen, +die noch Gegenwart sein will. Was ihr Tugend war, — Unterwürfigkeit, +Demut, Ergebung in das Schicksal, +Ungehorsam gegen sich selbst, wenn der Gehorsam gegen +Obere es fordert, — erscheint uns mindestens als Schwäche, +wenn nicht als Unrecht. Der Glaube an die gottgewollten +Zustände von Armut und Reichtum, von Herrschaft +und Dienstbarkeit ist weit über die Kreise der +Partei hinaus zerstört. Und mit alledem, das wir un<a name="Page_654" id="Page_654"></a>bewußt +und bewußt von uns geworfen haben, panzert +sich der Riese der Reaktion. Vor neunzehnhundert +Jahren unterwarf die Moral des Christentums die heidnische +Welt. Vergebens hat die Renaissance und die +Revolution sich gegen sie empört, — die Zeit war noch +nicht reif. Heute aber ist sie es; der Sozialismus hat +ihr den Boden bereitet. Wäre ihre Fahne voll entfaltet, +so würden sich vor ihr die Feigen von den Mutigen, +die Schwachen von den Starken sondern, und alles +würde ihr zuströmen, was jungen Geistes ist, was Zukunft +in sich hat. Den Weg zu unserem Ziel finden +wir nur, wenn die Idee der ethischen Revolution der +Idee der ökonomischen Umwälzung Flügel verleiht....«</p> + +<p>Die Türe ging auf. Ein verschlafener Kellner musterte +mißmutig die seßhaften Gäste. Ich erwachte wie aus +einem Traum. Die anderen blieben stumm. Ob aus +Überraschung, aus Empörung, aus Müdigkeit? »Ich +möchte heim,« sagte ich leise zu meinem Mann. Wir +gingen allein und schweigsam nach Hause.</p> + +<p>Ich hörte danach, daß man mich verspottete: Die +Sozialdemokratin und Verkünderin der »Herrenmoral«! +Mir schien, als gingen mir die Genossen noch mehr als +sonst aus dem Wege. Aber es kränkte mich nicht.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Ein feuchter Märzwind strich durch die Straßen. +Die Bäume und Büsche zitterten in seiner Umarmung, +denn er flüsterte ihnen vom Frühling +die frohe Botschaft zu. Auch um meine Stirne wehte sein +weicher Atem. Hatte ich nicht geglaubt, daß ich den Lenz wie +alte Leute grüßen würde: versunken in Erinnerungen? —</p> + +<p><a name="Page_655" id="Page_655"></a>Ich saß am Fenster und las meines Sohnes Briefe. +Seit einiger Zeit schrieb er mir oft: Seiten und Seiten +voller Fragen und erregter Geständnisse. Zum erstenmal +stand sein junger Geist in offenem Kampf mit der Wahrheit +und den Autoritäten. Und er unterwarf sich nicht. +Er war mein Kind.</p> + +<p>Noch immer hatte ich mich gescheut, Heinrich zu +zeigen, was er schrieb. Wir waren früher heftig aneinander +geraten, weil ich schon des kleinen Kindes +Selbständigkeit respektierte. Und jetzt hatte ich mehr zu +fürchten als nur den väterlichen Zorn. Ein Prüfstein +würde es sein auch für unsere Beziehungen. Ich liebte +meinen Mann. Viel mehr, viel tiefer als zu jener Zeit, +da ich mich ihm zuerst verband. Denn damals kannte +ich ihn nicht. Aber meine Liebe war zu groß, um +Unterwerfung ertragen zu können. Wenn er das Kind +nicht verstand, so würde er auch mich nicht verstehen. +Wieder aneinander gebunden sein, so daß jeder selbständige +Schritt des einen den anderen ins Fleisch +schneiden muß; die Blume der Liebe, die nichts als der +Persönlichkeit reichste Entfaltung ist, abpflücken, nur +damit sie die Brust des anderen schmückt, zu frühem +Welken verurteilt, — das vermochte ich nicht mehr —</p> + +<p>Es läutete draußen, lang und heftig. Ich sprang +auf, beide Hände auf das wild klopfende Herz gepreßt. +Wer lärmte zu früher Morgenstunde so ungeduldig an +der Türe? Wer?! Schon sprang sie auf, und ins +Zimmer flog es herein wie ein Wirbelwind, und zwei +Arme umschlangen mich, und ein glühendes Gesicht mit +zwei glänzenden Augen hob sich zu mir empor. »Mein +Kind! Mein Kind!« —</p> + +<p><a name="Page_656" id="Page_656"></a>Der Rucksack flog im Bogen von den Schultern. »Davongelaufen +bin ich — bei Nacht und Nebel, — ich hielt's +nicht länger aus,« sprudelte es hervor, atemlos, triumphierend.</p> + +<p>Ich hörte kaum, was er sprach, ich sah nur, daß er +da war, wirklich da war!</p> + +<p>Ein fester Tritt auf dem Flur weckte mich aus meiner +Versunkenheit. »Der Vater!« rief ich angstvoll und legte +wie schützend den Arm um meinen Sohn. Der aber +riß sich los, lachte mich an und lief mit einem: »Ich +fürchte mich nicht!« dem Kommenden entgegen.</p> + +<p>Ich stand wie angewurzelt. Ich hörte einen Wortwechsel, +dann ein langes, ernstes Gespräch. Frage und +Antwort. Hand in Hand kamen sie zu mir ins Zimmer. +»Nun werden wir den Schlingel doch wohl behalten +müssen,« lächelte mein Mann, »und heute soll für uns +drei ein Feiertag sein.«</p> + +<p>Wir gingen durch den Wald nach Paulsborn. Die +Kiefern standen schwarz gegen den hellen Himmel, und +lichtgrün schmiegten sich die Büsche ihnen zu Füßen. +Auf dem See tanzten die Sonnenstrahlen. Und weit +voraus sprang unser Sohn.</p> + +<p>»Weißt du noch?!« sagte Heinrich.</p> + +<p>»Ich weiß! Damals schüttelte der Sturm die Bäume. +Mich fror, und du schlugst deinen Mantel um mich —«</p> + +<p>»Und habe dich doch nicht schützen können —«</p> + +<p>»Ich danke es dir, denn dadurch wurde ich stark.«</p> + +<p>»So stark, daß du allein zu gehen vermagst —,« seine +Stimme schwankte dabei. Mich traf's wie blendendes +Licht, — ich sah auf dem Wasser nichts mehr als die +goldene, schimmernde Sonnenstraße.</p> +<p><a name="Page_657" id="Page_657"></a></p> +<p>»Damals warnte ich dich vor mir,« fuhr er fort.</p> + +<p>»Ich aber ließ dich nicht —«</p> + +<p>»Und heute?! —«</p> + +<p>»Du siehst: ich gehe auf eigenen Füßen, aber neben +dir —«</p> + +<p>Wo die dunkle Allee sich der weiten, sonnenbeglänzten +Wiese öffnet, tauchte die schlanke Gestalt unseres Sohnes +auf. Er hielt einen Zweig jungen Grüns in der hochgehobenen +Hand. Der wehte über ihm wie eine Fahne.</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Und dann kam das Leben wieder und der Alltag, +und sein Pfad blieb rauh. Aber ich hatte +ihn freiwillig gewählt, und meines Herzens +Glut schützte mich vor dem Frost. Er blieb einsam. +Aber ich wußte vorher: wer eigene Wege sucht, findet +wenig Gefährten. Und über das Donnern der Sturzbäche +hinweg flog siegreich hin und her der Gruß der Liebe.</p> + +<p>Einmal, als der Föhn mich umheulte und die Steine +meine Füße verwundeten, sah ich forschend zurück. Und +ich erkannte, daß ich nicht irre gegangen war.</p> + + + + + + + + +<pre> + + + + + +End of Project Gutenberg's Memoiren einer Sozialistin, by Lily Braun + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK MEMOIREN EINER SOZIALISTIN *** + +***** This file should be named 16302-h.htm or 16302-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + https://www.gutenberg.org/1/6/3/0/16302/ + +Produced by richyfourtytwo and the Online Distributed +Proofreading Team at https://www.pgdp.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at https://www.pglaf.org. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +https://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact +information can be found at the Foundation's web site and official +page at https://pglaf.org + +For additional contact information: + Dr. Gregory B. Newby + Chief Executive and Director + gbnewby@pglaf.org + + +Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation + +Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide +spread public support and donations to carry out its mission of +increasing the number of public domain and licensed works that can be +freely distributed in machine readable form accessible by the widest +array of equipment including outdated equipment. Many small donations +($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt +status with the IRS. + +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United +States. 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Donations are accepted in a number of other +ways including including checks, online payments and credit card +donations. To donate, please visit: https://pglaf.org/donate + + +Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic +works. + +Professor Michael S. Hart was the originator of the Project Gutenberg-tm +concept of a library of electronic works that could be freely shared +with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project +Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. + + +Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. +unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + https://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. + + +</pre> + +</body> +</html> diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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