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authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 04:53:46 -0700
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+The Project Gutenberg EBook of Phantasten, by Erich von Mendelssohn
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Phantasten
+
+Author: Erich von Mendelssohn
+
+Release Date: June 19, 2006 [EBook #18620]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: UTF-8
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PHANTASTEN ***
+
+
+
+
+Produced by Markus Brenner and the Online Distributed
+Proofreading Team at http://www.pgdp.net
+
+
+
+
+
+ ERICH VON MENDELSSOHN
+
+ PHANTASTEN
+
+ ROMAN
+
+
+
+ BERLIN 1912
+ VERLEGT BEI OESTERHELD & CO.
+
+
+
+ Copyright 1912
+ by Oesterheld & Co. Berlin W. 15
+
+
+
+GESCHRIEBEN IM SOMMER 1911
+
+
+ALEXANDRA JEGOROWNA
+zugeeignet
+
+
+
+
+Vor neun Tagen hatte der Lloyddampfer »Prinzessin Irene« Sidney
+verlassen, und deshalb übte der Anblick des grenzenlosen Wassers keinen
+Reiz mehr auf die Passagiere aus. Am wenigsten an einem Tage wie heute,
+wo ein feiner Staubregen durch alle Kleider drang und einen frösteln
+machte. Für solche Tage hatte man ja in den Salons alle die
+Annehmlichkeiten, die ein moderner Luxusdampfer bietet.
+
+Als Paul Seebeck auf das Deck hinaus trat, schlug er den Kragen seines
+langen, englischen Überziehers hoch und schaute sich um. Ein Augenblick
+genügte ihm, um festzustellen, daß er ganz allein war. Wohl hatte ihm
+der Kapitän ein für allemal die Erlaubnis gegeben, so oft es ihm gefiele
+zu ihm auf die Kommandobrücke zu kommen – denn Seebeck störte nie, am
+wenigsten durch unnötige Fragen, seine Anwesenheit verkürzte dagegen die
+lange Wacht – doch Paul Seebeck scheute sich, die anderen Passagiere auf
+seine bevorzugte Stellung aufmerksam zu machen, um dem Kapitän keine
+Unannehmlichkeiten zu bereiten.
+
+Jetzt stand der große, starke, doch etwas fette Mann neben dem kleinen
+Kapitän auf der Kommandobrücke.
+
+»Schade, daß das Wetter heute so trübe ist«, sagte der Kapitän, »sonst
+könnten wir dort im Nordosten die Santa-Cruz-Inseln sehen.« Er rollte
+die Seekarte auf und wies mit dem zusammengeklappten Zirkel auf den
+Punkt, wo das Schiff sich im Augenblicke befand. »Aber ich glaube, daß
+es bald etwas aufhellen wird.«
+
+Paul Seebeck nahm ein Fernglas, sah erst nach Nordosten und folgte dann
+weiter dem Horizonte.
+
+Der Kapitän fuhr fort:
+
+»Morgen kommen wir sozusagen aus den englischen Gewässern heraus und in
+deutsche hinein.«
+
+Paul Seebeck ließ das Glas sinken:
+
+»Deutsche Gewässer, Herr Kapitän?«
+
+»Nun ja, die des Bismarckarchipels.«
+
+Paul Seebeck hob wieder das Glas und schaute unverwandt nach Norden,
+dann reichte er es dem Kapitän und sah auf den Himmel:
+
+»Sie haben natürlich wieder Recht, es wird wirklich heller. Aber gerade
+dort vor uns liegen dicke Wolken. Sehen Sie mal hin.«
+
+Der Kapitän sah erst durch das Glas in der angegebenen Richtung, dann
+mit bloßen Augen und dann wieder durch das Glas. Schließlich sagte er
+kopfschüttelnd:
+
+»Merkwürdig.«
+
+»Befürchten Sie ein Gewitter, Herr Kapitän?« fragte Paul Seebeck
+gleichmütig.
+
+»Ich weiß gar nicht, was ich aus dem Ding machen soll. Nein, eine
+Gewitterwolke ist es nicht.«
+
+Jetzt wandte sich der Matrose, der das Steuerrad bediente, grinzend
+herum und sagte breit:
+
+»Herr Kapitän, die ist ja von einem Vulkane!«
+
+Der Kapitän war so interessiert, daß er gar nicht daran dachte, den
+Matrosen zurechtzuweisen. Er rollte die Seekarte wieder auf, bestimmte
+die augenblickliche Lage des Schiffes ganz genau, prüfte den Kompaß und
+sagte dann:
+
+»Unmöglich, dort liegt kein Land.«
+
+Eine halbe Stunde verging, und alle schwiegen; der Kapitän und Paul
+Seebeck schauten aber abwechselnd durch das Fernglas auf die schwere,
+dunkelgraue Wolke. Endlich sagte Paul Seebeck:
+
+»Das ist und bleibt ein Vulkan mit der berühmten, pinienartigen
+Rauchsäule, und wenn er nicht auf der Karte steht, ist es ein Fehler der
+Karte, und nicht des Vulkans.«
+
+Der Kapitän schüttelte ungläubig den Kopf:
+
+»Es kann nur eine sonderbar geformte Wolke sein; es ist ganz undenkbar,
+hier mitten auf einer so befahrenen Route eine neue Insel zu entdecken.«
+
+»Aber wenn es eine neu entstandene wäre, Herr Kapitän?« warf Paul
+Seebeck ein. »Denken Sie doch an die große Flutwelle vor zwei Monaten,
+die die ganze nördliche und östliche Küste Australiens überschwemmt
+hat.«
+
+»Donnerwetter!« rief der Kapitän. »Das wäre ja –«
+
+Er wollte das Glas heben, aber jetzt kam von der Seite her ein feiner,
+durchdringender Staubregen, der in wenigen Augenblicken die Aussicht
+verschleierte. Die Herren hüllten sich fester in ihre Mäntel.
+
+Der Regen wurde stärker und stärker, und außerdem brach schnell die
+Nacht herein.
+
+»Kommen Sie in meine Kabine«, sagte endlich der Kapitän. »Ich möchte die
+Sache gern mit dem Ersten Offizier besprechen, und außerdem wird uns
+jetzt ein warmer Punsch ganz gesund sein.«
+
+»Danke, gern.«
+
+Wie der Kapitän dem Ersten Offizier die Möglichkeit andeutete, in der
+Nähe einer neu entstandenen Insel zu sein, eilte dieser sofort auf die
+Kommandobrücke, um selbst Umschau zu halten, kehrte aber bald enttäuscht
+zurück, da er des Dunkels und des Regens wegen nichts hatte wahrnehmen
+können.
+
+Als die drei Herren in der Kajüte bei einem Glase Punsch zusammensaßen
+und der Kapitän mit dem Ersten Offizier alle Eventualitäten und die
+vorzunehmenden Maßnahmen besprach, zog sich Paul Seebeck in eine Ecke
+zurück und schwieg, wobei er doch aufmerksam dem Gespräch lauschte, das
+immer mehr an Fluß verlor und zuletzt ganz aufhörte. Schließlich saßen
+die Drei schweigend da, und jeder hing seinen Gedanken nach.
+
+Endlich sah der Kapitän nach der Uhr:
+
+»Meine Herren, jetzt sind wir schon drei Stunden hier unten. Wie wäre
+es, wenn wir wieder hinaufgingen und nach unserer Wolkeninsel sähen?«
+
+Paul Seebeck lachte laut auf:
+
+»Bravo, Herr Kapitän. Vielleicht hat sie sich schon längst aufgelöst,
+während wir sie hier in aller Ruhe erobern.«
+
+Als sie auf Deck hinaustraten, sahen sie, daß Nebel und Regen völlig
+verschwunden waren, und daß klar der Mond schien. Passagiere gingen
+plaudernd und rauchend auf und ab, oder saßen, in Plaids gehüllt, auf
+Feldstühlen. Paul Seebeck hatte aber seine gewohnte Zurückhaltung völlig
+aufgegeben und folgte zusammen mit dem Ersten Offizier dem Kapitän auf
+die Kommandobrücke.
+
+Jetzt war kein Zweifel mehr möglich: vor ihnen lag, steil dem Meere
+entsteigend, ein Vulkan, über dessen kegelförmiger Spitze – aber ohne
+diese zu berühren – eine ungeheure, blauschwarze Wolke schwebte. Durch
+das Fernglas sah man in einigen Rissen am Krater die Lava glühend
+herabsinken.
+
+Als Erster brach Paul Seebeck das Schweigen:
+
+»Wie weit, Herr Kapitän –?« fragte er. Der Kapitän drehte sich schnell
+herum und betrachtete Paul Seebeck ganz fremd, als ob er seine Gedanken
+erst sammeln müßte. Dann schaute er wieder auf den Vulkan und sagte:
+
+»Sechzig Seemeilen schätze ich.«
+
+»Dann sind wir also in vier Stunden dort?«
+
+»Ja, wenn die Lotungen uns nicht zu lange aufhalten.«
+
+»Ach, Sie glauben, daß sich der ganze Meeresboden gehoben hat?«
+
+»Ich muß wenigstens mit der Möglichkeit rechnen.«
+
+Der Erste Offizier hatte inzwischen unausgesetzt den Vulkan durch das
+Nachtglas angesehen. Jetzt sagte er:
+
+»Herr Kapitän, der Vulkan liegt auf einem ziemlich breiten Hochlande.
+Wir scheinen eine Insel von ganz achtbarer Größe da vor uns zu haben.«
+
+Paul Seebeck senkte den Kopf und sah vor sich hin. Dann ging gleichsam
+ein Ruck durch ihn; er strammte sich auf, sah dem Kapitän fest in die
+Augen und sagte langsam:
+
+»Herr Kapitän, jetzt ist es zehn Uhr; Sie sagten selbst, daß wir vor
+vier Stunden nicht dort sein können, also nicht vor zwei Uhr nachts. Um
+Zwölf wird aber alles elektrische Licht ausgelöscht, so daß dann kein
+Passagier mehr auf sein kann. Sie, der Herr Erste Offizier und ich sind
+die Einzigen, die wissen, daß wir dort eine neu entstandene Insel vor
+uns haben. Die anderen haben nichts gesehen, oder wenn sie die Insel
+gesehen haben, ist sie ihnen nicht weiter aufgefallen. Wollen Sie mich
+um zwei Uhr an Land setzen und Schweigen bewahren?«
+
+Der Kapitän sah ihn überrascht an: »Herr Seebeck – überlegen Sie sich’s
+– eine neuentstandene, vulkanische Insel! Heißer Boden! Ich habe doch
+die Verantwortung, auch für Sie. Und dann – in das Schiffsbuch muß ich
+die Sache doch eintragen.«
+
+Paul Seebeck preßte die Lippen zusammen: »Gewiß, gewiß –«
+
+Nach kurzem Schweigen fuhr er auf. »Herr Kapitän, ich habe nichts
+Unrechtes vor. Ich will die Insel für das Deutsche Reich in Besitz
+nehmen. Machen Sie Ihre Eintragungen in das Schiffsbuch, es wird sie ja
+niemand anders als die Rhederei sehen. Wollen Sie Beide mir aber
+versprechen, das heißt, können Sie mir versprechen, absolutes Schweigen
+zu bewahren, Sie und die Herren in Bremen, die das Schiffsbuch eventuell
+lesen? Absolutes Schweigen nur drei Tage lang zu bewahren? Wenn im Laufe
+dieser drei Tage nicht telegraphisch eine Bitte vom Reichskolonialamt
+eingelaufen ist, länger zu schweigen, sind Sie völlig frei.«
+
+Der Kapitän sah Paul Seebeck an.
+
+»Einem andern würde ich ein solches Versprechen nicht geben, das mir
+meine Stellung kosten kann. Ihnen gebe ich es.«
+
+»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän, Sie werden es nicht zu bereuen haben.«
+
+»Auch ich gebe Ihnen das Versprechen«, fügte der Erste Offizier hinzu.
+
+Paul Seebeck senkte dankend den Kopf.
+
+Nach einer Weile wandte sich der Kapitän wieder Paul Seebeck zu:
+
+»Verstehe ich Sie recht, wollen Sie sofort von Bremen nach Berlin
+fahren?«
+
+Paul Seebeck schaute auf:
+
+»Nein, ich bleibe dort und gebe Ihnen einen Brief an einen Freund mit,
+der alles für mich ordnen wird.«
+
+Der Kapitän schüttelte den Kopf:
+
+»Ich kann Sie nicht an Land setzen lassen, Herr Seebeck. Die
+Verantwortung übernehme ich nicht.«
+
+»Ich werde in meinem eigenen Motorboot hinüberfahren.«
+
+»Ich werde Sie leider daran verhindern müssen.«
+
+»Herr Kapitän! Glauben Sie das verantworten zu können?«
+
+Der Kapitän stutzte einen Augenblick. Dann schlug er Seebeck lachend auf
+die Schulter und sagte:
+
+»Ich kann Sie ja nicht mit Gewalt festhalten, dazu wissen Sie zu genau,
+was Sie wollen. Aber erklären Sie mir doch, wie Sie sich alles denken.«
+
+Wieder sah Paul Seebeck dem Kapitän fest ins Gesicht und sagte ganz
+langsam:
+
+»Ich habe mein Motorboot, mein Zelt und Konserven für zwei Monate. Ich
+werde Sie bitten, mir drei gewöhnliche Feuerwerksraketen zu geben. Sie
+haben sie ja an Bord zur Unterhaltung Ihres Publikums. Wir machen das
+Motorboot mit allem Inhalt klar, so daß wir es in einigen Minuten ins
+Wasser setzen können. Wir kommen ja dicht an der Insel vorbei. Sobald
+wir vom Schiffe aus einen Landungsplatz sehen, setzen Sie mich ins
+Wasser. Sie sind dann so liebenswürdig, mit halber Kraft
+weiterzufahren. Komme ich glücklich ans Land, lasse ich alle drei
+Raketen aufsteigen, und Sie dampfen ruhig weiter. Ich verspreche Ihnen,
+es erst dann zu tun, wenn ich heil und gesund am Lande bin. Lasse ich
+nur zwei Raketen steigen, bedeutet das, daß ich nicht landen kann und
+Sie auf mich warten müssen. Eine Rakete allein heißt, daß ich in Gefahr
+bin, und Sie mir ein Boot zu Hilfe schicken müssen. Einverstanden?«
+
+»Ja, unter der Bedingung, daß Sie sich vom Schiff noch so viele
+Konserven mitnehmen, daß Sie für ein halbes Jahr versorgt sind. Nach
+drei Monaten bin ich zwar wieder hier –«
+
+»Und mein Freund, Jakob Silberland, ist dann mit Ihnen.«
+
+»Der Herr, der zum Kolonialamt gehen soll?«
+
+»Derselbe. Ich danke Ihnen, Herr Kapitän.«
+
+»Sie haben mir nichts zu danken. Ich bitte Sie nur, in meine Kabine zu
+gehen und sich alles noch einmal in Ruhe zu überlegen. Dort können Sie
+auch Ihren Brief schreiben. Lassen Sie sich auch Ihr Abendessen dorthin
+bringen, damit Sie ganz ungestört sind. In einer Stunde komme ich zu
+Ihnen hinunter, und wir können dann alles bis ins Kleinste besprechen.«
+
+Paul Seebeck verließ mit einer leichten Verbeugung die Kommandobrücke.
+
+– – – Drei Stunden nach Mitternacht lag der Dampfer eine Seemeile vor
+dem steil abfallenden, zerrissenen Ufer entfernt, das vom Mondlichte
+schwarz und groß auf das Wasser gezeichnet wurde.
+
+Leise Kommandorufe ertönen – ein Krahn dreht sich, und unter
+Kettengerassel sinkt ein Motorboot auf die kaum gekräuselte
+Wasserfläche. Halblaute Abschiedsrufe, ein Winken und Grüßen, der Motor
+wird eingestellt, und das Boot saust davon. Langsam und schwer brodelt
+es unter der Schraube des Dampfers, und jetzt setzt sich der Koloß in
+Bewegung.
+
+Der Kapitän steht auf der Kommandobrücke und verfolgt mit dem Nachtglase
+das Motorboot. Jetzt verschwindet es hinter einer Klippe, taucht dann
+tief in den Mondschatten, biegt um einen Felsen und ist fort. Eine
+Viertelstunde später steigen drei Raketen fast gleichzeitig in die Luft.
+Aufatmend stellt der Kapitän den Telegraphen auf »Volldampf«.
+
+
+
+
+Als Dr. phil. et jur. Jakob Silberland unter dem Schutze seines
+übermäßig großen Schirmes dem Café Stephanie zueilte, gab es nicht
+Wenige, die trotz des strömenden Regens stehen blieben und ihm
+wohlwollend lächelnd nachblickten. Das war auch nicht wunderlich, denn
+Jakob Silberland bildete eine sonderbare Figur. Auf kurzen Beinchen saß
+ein dicker Leib mit viel zu langen Armen, und im Gesichte bildeten die
+heiteren, offenen Augen einen seltsamen Gegensatz zu der
+scharfgekrümmten Nase und der hohen, ausdrucksvollen Stirn, über die das
+blauschwarze Haar in einigen glänzenden, langen Strähnen fiel.
+
+Sobald Jakob Silberland das Café betreten hatte, holte er sich vom
+Ständer sechs oder acht Zeitungen und legte sie auf einen Tisch am
+Fenster. Dann erst hängte er Schirm und Hut an einen Haken, wobei er
+doch ständig seine Zeitungen im Auge behielt. Als er seinen Mantel
+auszog, wobei ein abgetragener und etwas fleckiger Gehrock sichtbar
+wurde, eilte der Kellner hilfsbereit herbei und sagte:
+
+»Guten Tag, Herr Doktor. Heute früh war der Briefträger mit einem
+eingeschriebenen Brief für den Herrn Doktor da. Ich sagte ihm, er solle
+am Nachmittage wiederkommen, dann wäre der Herr Doktor bestimmt hier.«
+
+Dr. Silberland sagte nur: »Danke« und eilte auf seinen kurzen Beinchen
+zu seinen Zeitungen, in denen eben ein anderer Gast zu blättern begann.
+Als er sich richtig zurechtgesetzt und seine Zeitungen sortiert hatte,
+bestellte er einen Kaffee und begann, die Brust an den Tischrand
+gedrückt, eifrig zu lesen. Gerade als er die Kreuzzeitung mit
+gerunzelter Stirn fortlegte und aufatmend nach dem »Vorwärts« griff,
+erschien, vom Kellner geführt, der Briefträger an seinem Tische und
+übergab ihm einen eingeschriebenen Brief. Silberland erkannte sofort die
+Handschrift seines Freundes Paul Seebeck, schob mit einer energischen
+Armbewegung die Zeitungen zur Seite, quittierte, gab dem Briefträger
+zwanzig Pfennige und öffnete den Brief. Hierbei fiel ein
+zusammengefaltetes Checkformular heraus, das Silberland sofort in seine
+Brieftasche steckte. Der Brief lautete:
+
+
+ »An Bord des Lloyddampfers »Prinzessin Irene«.
+
+ Lieber Jakob!
+
+ Von dem wenig befriedigenden Ausfall meiner australischen
+ Expedition wirst du durch die Zeitungen erfahren haben. Übrigens
+ war der Verlauf viel kläglicher, als die Zeitungsberichte erkennen
+ ließen.
+
+ Ich freue mich aber jetzt, daß ich so mißgestimmt und so
+ unzufrieden mit mir selbst die Rückreise antrat, denn dadurch hatte
+ ich gerade die richtige Disposition zu neuen Dingen, die
+ ernsthafter sind.
+
+ Paß mal auf: wir haben eine neuentstandene, vulkanische Insel
+ entdeckt, und zwar bin ich der erste, der sie sah. Ich bin dort
+ geblieben und habe sie für das Deutsche Reich in Besitz genommen.
+ Die Sache ist Geheimnis, nur der Kapitän und der Erste Offizier von
+ der »Prinzessin Irene« wissen davon, und die schweigen.
+
+ Wo die Insel liegt, usw., kannst du von diesen beiden Herren
+ erfahren.
+
+ Bitte geh sofort nach Berlin, zum Reichskolonialamt, und laß mir
+ eine unbeschränkte Vollmacht als Reichskommissar ausstellen, so daß
+ ich bis auf weiteres mit der Insel machen kann, was ich will. Die
+ Leute sollen aber schweigen, bis erst feststeht, ob die Insel
+ bewohnbar ist oder nicht. Sonst ist die Blamage nachher zu groß. Du
+ gibst natürlich sofort deine alberne Stellung bei den »Neuesten«
+ auf und kommst mit der »Prinzessin Irene« hierher. Ein Scheck auf
+ zehntausend Mark liegt bei: bezahl alle deine Schulden, daß du
+ vollständig unabhängig bist. Mach sonst aber nicht zu viele
+ Ausgaben, denn ich werde hier mein Geld wohl sehr nötig brauchen.
+ Eine Tropenausrüstung mußt du aber haben.
+
+ Du verstehst, was ich will: ich denke an unsere Gespräche über den
+ absolut korrekten Staat, der durch keinerlei Traditionen und
+ Rücksichten gehemmt ist. Wir haben ja oft darüber debattiert, wie
+ ein solcher moderner Staat auszugestalten sei – hier können wir ihn
+ gründen, wenn auch nur in einem kleinen Maßstabe.
+
+ Alle Einzelheiten überlasse ich dir, nur besorge mir die Vollmacht
+ und komm her. Setz dich aber auch mit dem Kapitän in Verbindung.
+ Der Mann ist praktisch und wird dich über Einzelheiten informieren.
+
+ Entschuldige die Kürze. Ich kann dir aber in dieser Eile nicht alle
+ meine Gedanken auseinandersetzen; es ist wohl auch unnötig,
+ eigentlich ergibt sich ja alles von selbst.
+
+ Überlege dir aber jeden Schritt, den du tust.
+
+ Gruß
+ dein Paul S.«
+
+
+Als Jakob Silberland diesen Brief zu Ende gelesen hatte, fuhr er sich
+mehrmals mit der Hand durch das lange, schwarze Haar. Dann rührte er
+bedächtig seinen Kaffee um, der längst kalt geworden war. Gerade, wie er
+ihn trinken wollte, kam der Kellner und sagte:
+
+»Herr Doktor, die Redaktion fragt am Telephon, ob Sie noch hier wären.«
+
+»Sagen Sie, ich wäre gegangen«, gab Silberland zur Antwort, »und bringen
+Sie mir eine Zigarre.«
+
+»Wie gewöhnlich eine zu Zehn?«
+
+»Ja – nein, eine zu Fünfzig!« sagte Jakob Silberland würdevoll. »Und
+besorgen Sie mir ein Auto.«
+
+»Sehr wohl, Herr Doktor«, sagte der Kellner mit der solchen ungewohnten
+Aufwendungen zukommenden Ehrerbietung.
+
+Jakob Silberland aber fuhr, die feine Zigarre in der Hand, im Auto zur
+Dresdener Bank, wo er den Scheck einlöste, und unternahm dann eine
+längere Rundfahrt durch die Stadt, um alle seine kleinen und größeren
+Schulden zu bezahlen, die zusammen kaum zweitausend Mark betrugen.
+Zuletzt begab er sich auf seine Redaktion, wo er gegen Stellung eines
+Vertreters leicht entlassen wurde, da er kein angenehmer Kollege gewesen
+war.
+
+Mit dem Abendschnellzuge fuhr er nach Berlin.
+
+
+
+
+Drei Monate später saßen Paul Seebeck und Jakob Silberland in ihren
+blendend weißen Flanellanzügen auf einem Steinblock am Strande, rauchten
+ihre kurzen, englischen Pfeifen und sahen der langsam verschwindenden
+»Prinzessin Irene« nach. Endlich sagte Jakob Silberland:
+
+»Etwas Urweltliches liegt über der ganzen Insel: der Vulkan, die nackten
+Felsen, der Mangel jeglichen tierischen Lautes – es kommt mir fast vor,
+als ob ich um viele Millionen von Jahren in der Zeit zurückversetzt sei.
+Es würde mich gar nicht wundern, wenn plötzlich ein Ichthyosaurus oder
+sonst irgend ein Ungeheuer aus dem Wasser auftauchte.«
+
+Paul Seebeck hatte nachdenklich seine Pfeife ausklopfend ihm zugehört.
+Jetzt hob er den Kopf und sagte lächelnd:
+
+»Die Ungeheuer wirst du schon noch zu sehen bekommen. Nur etwas Geduld.«
+
+Jakob Silberland lachte:
+
+»Hast du hier eine Ichthyosauren-Farm angelegt? Das Geschäft dürfte doch
+kaum lohnend sein. Sobald die Zoologischen Gärten versorgt sind, würde
+der Weltbedarf gedeckt sein, und was dann?«
+
+Es zuckte um Seebecks Mundwinkel, als ob er mit Mühe ein Lächeln
+unterdrückte.
+
+»Aber wovon wollen wir hier sonst leben, wenn nicht von Ichthyosauren?
+Es gibt ja keinen Grashalm auf der ganzen Insel, keinen Vogel, keinen
+Floh, nichts. Soweit ich als gebildeter geologischer Laie urteilen kann,
+ist auch das Vorkommen von wertvollen Mineralien zum mindesten höchst
+unwahrscheinlich. Da bleiben doch nur die Ichthyosauren übrig. Außerdem
+finde ich den Gedanken sehr ansprechend, daß der modernste aller Staaten
+von urweltlichen Tieren lebt. Damit schließt sich zurückgreifend der
+Ring und löscht die Zeit aus. Anfang und Ende berühren sich.«
+
+Jakob Silberland sprang auf:
+
+»Ist das dein Ernst?«
+
+Seebeck blieb sitzen und sagte gemütlich:
+
+»Du sollst etwas Geduld haben. Ich werde dir meine Saurierfarm schon
+zeigen. Die größte Ichthyomuttersau habe ich übrigens voll Dankbarkeit
+gegen das gütige Schicksal »Prinzessin Irene« getauft.«
+
+Damit stand er auf und ging zu seinem Zelt, das einige Schritte
+rückwärts im Schutze einer schrägen Felswand stand. Er kam mit einigen
+Papierrollen zurück.
+
+»Sieh mal her«, sagte er, indem er die Blätter entfaltete und jedes an
+den vier Ecken mit Steinchen beschwerte, »hier habe ich, so gut ich es
+allein machen konnte, die Insel aufgenommen. Die Küste und diese Bucht
+habe ich recht genau, im Inneren bin ich flüchtiger gewesen und außerdem
+habe ich größere Strecken der heißen Lava wegen nicht betreten können.
+Hier hast du die ganze Insel mit den Schären eins zu dreihunderttausend«,
+fuhr er fort, wobei er sich über das betreffende Blatt beugte, »der
+Flächeninhalt beträgt ungefähr zwölfhundert Quadratkilometer, wovon der
+Vulkan allein fast vierzig bedeckt. Hier ist unsere Bucht eins zu
+zehntausend. Sie ist mit der Nebenbucht dort rechts von uns überhaupt
+die einzige Bucht der ganzen Insel. Ich habe sie bei Tiefebbe
+aufgenommen. Die rote Küstenlinie und die rot gezeichneten Schären
+beziehen sich auf Tiefebbe, die entsprechenden blauen Linien auf
+Hochflut. Du siehst, daß unzählige Schären und Klippen nur bei Tiefebbe
+über die Wasserfläche emporragen. Bei Tiefebbe ist überhaupt nur eine
+einzige, schmale und dabei stark gewundene Rinne selbst für mein
+kleines, flaches Motorboot passierbar. Ich kam glücklicherweise bei
+Hochflut, sonst wäre ich überhaupt nie lebendig hier ans Land
+gekommen.« Mit der Hand aufs Meer weisend, sagte er: »Die äußerste
+Felsenspitze dort links ist etwa siebenhundert Meter hoch und fünf
+Kilometer von uns entfernt, die dort rechts dreihundert Meter hoch und
+vier Kilometer entfernt. Die Entfernung zwischen beiden beträgt drei
+Kilometer. Diese Bucht stellt den einzigen Hafen, überhaupt die einzige
+Landungsmöglichkeit dar. Zwischen der Spitze rechts und dem Kap, das ein
+wenig darüber hervorragt, liegt eine zweite, breite, aber sehr flache
+Bucht mit unzähligen Felsen und Klippen. Dahin kann man zu Wasser, aus
+Gründen, die dir später klar werden, nicht kommen, und vom Lande aus nur
+mit Hilfe eines Seiles. Sogar ich als Bergsteiger habe dort nur schwer
+hinunterklettern können. Diese zweite Bucht habe ich Irenenbucht
+getauft, der einzige Name, den ich bisher hier einer Örtlichkeit gegeben
+habe.« Lächelnd setzte er hinzu: »Dort liegt also meine
+Ichthyosaurenfarm.«
+
+Bevor der überraschte Silberland sich zu einem Worte sammeln konnte,
+fuhr Paul Seebeck fort:
+
+»Denk dir unsern Standort hier als Mittelpunkt eines Kreises mit dem
+Radius von fünf Kilometern, also der Entfernung des Kap dort links. Dann
+bezeichnet der Kreisbogen ziemlich genau die Grenze eines submarinen
+Plateaus, auf dem alle diese Schären liegen. Wie tief der Meeresboden
+außerhalb dieses Plateaus ist, weiß ich nicht; mein Lot ist hundert
+Meter lang und mit ihm habe ich draußen nirgendwo Grund gefunden. Sehr
+tief kann er aber doch nicht sein, denn auch da draußen liegen ja, wie
+du siehst, einige vereinzelte Klippen. Das Plateau bricht aber steil ab;
+ich vermute, der Schären da draußen wegen und auch aus anderen Gründen,
+aber ein zweites, allerdings viel tiefer liegendes, submarines Plateau.
+Der größte Teil der Insel ist eine im großen Ganzen wagerechte
+Hochebene, vier- bis siebenhundert Meter über dem Meeresspiegel, die
+überall fast senkrecht abbricht. Dann – ja, der große Vulkan –
+neunzehnhundert Meter hoch, diese Mulde, mit ihren sechs
+Quadratkilometern Fläche, die stufenweise, amphitheatralisch, wenn du
+willst, bis zur Plateauhöhe emporsteigt – damit ist wohl die Topographie
+der Insel erschöpft. Ich habe sonst nicht viel Bemerkenswertes auf
+meinen Streifzügen entdeckt, höchstens wäre ein seltsames Durcheinander
+von Schluchten erwähnenswert, das am Fußpunkte des Vulkanes liegt und
+mich da am Weiterkommen hinderte.«
+
+»Und wie denkst du dir die Entstehung der Insel?« fragte Jakob
+Silberland.
+
+»Ich bin kein Geologe. Daß die Insel erst jetzt entstanden ist, glaube
+ich nicht. Sie wird schon einmal dagewesen sein, und zwar viel größer
+als jetzt, ist dann unter die Oberfläche des Meeres gesunken und hat
+sich jetzt wieder darüber gehoben, doch nicht bis zu ihrer
+ursprünglichen Höhe. Und zwar glaube ich nicht, daß sie sehr lange unten
+gewesen ist, einige hundert Jahre höchstens.«
+
+»Woher kannst du das wissen?«
+
+»Die Steine sehen mir nicht aus, als ob sie lange Meeresboden gebildet
+hätten.«
+
+Damit stand Paul Seebeck auf, rollte seine Kartenskizzen zusammen und
+brachte sie in sein Zelt. Als er zurückkam, sagte er, vor Jakob
+Silberland stehen bleibend:
+
+»Ist das nicht ein ganz idealer Grund für eine Stadt? Alle Straßenzüge,
+sogar die Plätze der einzelnen Häuser sind von der Natur vorausbestimmt.
+Ich kann mir die ganze Stadt so lebendig vorstellen, wie sie sich den
+Felsen anschmiegt, wie sie in ihrer Struktur den Stufen folgt. Aber wir
+müssen einen Architekten haben, der einen ganz neuen Stil schaffen kann.
+Einen großzügigen Künstler wie Edgar Allan. Dort oben –« und er wies mit
+der Hand auf einen vorspringenden Felsen – »soll mein Haus stehen. Von
+dort aus kann ich alles übersehen.«
+
+»Du fühlst dich schon jetzt als König?«
+
+»König? Nein, nein!« wehrte Paul Seebeck erschrocken ab. Er sah still
+vor sich hin. Dann sagte er, lächelnd wieder aufblickend:
+
+»Komm jetzt. Wir wollen etwas zu Abend essen. Dann werde ich dir meine
+Ichthyosaurenfarm zeigen.«
+
+Da es fast Windstille war, beschlossen sie, vor dem Zelte ihre Mahlzeit
+einzunehmen. Als Jakob Silberland sah, daß Paul Seebeck seinen
+Destillationsapparat aufstellte, und Wasser vom Meere holte, fragte er
+besorgt:
+
+»Gibt es denn gar kein Trinkwasser auf der Insel?«
+
+»Doch, es gibt einen Bach hier in der Nähe, der wohl zur Versorgung
+einer kleinen Stadt ausreichen dürfte, und weiter oben einen großen
+Fluß. Es wird aber nicht leicht sein, ihn einzufangen und hier herunter
+zu leiten, denn er fällt mehrere Kilometer von hier in einem schönen
+Wasserfalle direkt vom Hochplateau aus ins Meer.«
+
+Als sie gegessen hatten – der Kapitän hatte Jakob Silberland einen Korb
+mit frischem Fleisch und Gemüse aus den Vorräten des Schiffes
+mitgegeben, so daß Paul Seebeck nach den vielen Wochen mit
+Konservennahrung endlich einmal etwas anderes bekommen hatte – rief
+Jakob Silberland:
+
+»Aber jetzt will ich nicht länger warten; jetzt mußt du mir deine
+Ichthyosauren vorführen. Ich bin wirklich sehr gespannt, zu erfahren,
+wovon wir hier leben sollen, besonders, was wir von hier exportieren
+können.«
+
+»Schön«, sagte Seebeck. »Komm!«
+
+Sie stiegen langsam in der mit Geröll bedeckten Mulde bergauf, und Paul
+Seebeck erklärte dabei seinem Freunde, wie er sich die Anlage der Stadt
+dachte. Der sonst so redselige Jakob Silberland sprach auch jetzt nur
+wenig; zu sehr beschäftigten seinen Geist die Perspektiven auf die
+Zukunft, die ihm ja tausend Träume zu verwirklichen versprach.
+
+Als sie die Plateauhöhe erreicht hatten, blieb Seebeck stehen und sagte:
+
+»Wenn man nicht ein anständiger Mensch wäre, könnte man bei dem Gedanken
+ganz sentimental werden, daß dieses reine, unberührte Land, das keine
+Geschichte und keine Vorzeit hat, eine Gemeinschaft von Menschen auf
+sich wachsen und blühen sehen wird, die auch jungfräulich frei, ohne
+Verbindung mit der übrigen Menschheit, ohne morsche Traditionen und ohne
+überlieferten Zwang, irrende Sterne im großen Raume sind und die hier
+sich nur auf Grund ihres reinen Menschentums zusammenfinden und hier
+zusammenarbeiten werden. In der Traditionslosigkeit unseres zukünftigen
+Staates sehe ich seine Bedeutung. Daß ich einigen Hundert oder Tausend
+Menschen, die sonst in keinen Rahmen passen, hier freie
+Entwicklungsmöglichkeiten und Glück zu geben vermag, genügt mir nicht.
+Vom ersten Augenblick an war mir dieser Staat ein Begriff, ein
+Kunstwerk, eine formale Befreiung. Ebenso, wie der Künstler durch seine
+reine Darstellung befreit, durch die einseitige, aber dadurch
+abschließende Form Klarheit im Chaos schafft, soll für die übrigen
+Menschen der Gedanke an unsere reine Insel eine geistige Erlösung sein.«
+
+»Du siehst nicht weit genug«, sagte Jakob Silberland, wobei er sich mit
+der Hand durch sein blauschwarzes, strähniges Haar fuhr und erregt mit
+seinen kurzen Beinchen trippelte. »Du sprichst als Künstler. Ich bin
+Praktiker und als solcher sehe ich noch eine Gewißheit: die
+Institutionen, die hier entstehen, die wir hier schaffen werden, werden
+beachtet, nachgeahmt werden, und unser Staat wird das Seinige dazu
+beitragen, daß sich die Menschheit aus den Ketten löst, in die
+Gewalttätigkeit, Dummheit und Herrschsucht sie gelegt haben. Sie wird
+durch uns lernen, frei zu sein, frei in der geschlossenen Gemeinschaft
+zu werden. Man muß ihr nur einmal zeigen, daß es möglich ist.«
+
+Paul Seebeck sah mit seinen großen Augen dem Freunde gerade ins
+Gesicht:
+
+»Ich hoffe, daß es so wird, wie du sagst. Es ist ja auch sehr
+wahrscheinlich. Umsomehr, als wir ja kaum einen bestimmten Ausschnitt
+aus der Menschheit darstellen werden, nicht einen besonderen Typus,
+sondern gerade einen Extrakt aus der ganzen Menschheit. Stelle dir doch
+nur vor, was für Menschen zu uns kommen werden«, fuhr er lebhaft fort,
+wobei er sich in der Richtung auf die Irenenbucht zum Gehen wandte,
+»jedenfalls keine Durchschnittsmenschen, die irgendwo warm und zufrieden
+in ihren Nestern sitzen, sondern die Unzufriedenen, Bedrückten,
+Heimatlosen, alle die von einander entferntesten Extreme, die nur das
+eine verbindet: der Ekel vor der Verlogenheit der Gesellschaft, die
+Sehnsucht nach dem freien, dem wirklichen Menschen, dem Menschen, der
+jeder einzelne sein könnte, wenn ihn nicht die Ketten der Tradition zum
+Herdentiere erniedrigten. Hierher werden sie kommen und nichts
+mitbringen, als ihr innerstes, freies Menschentum, und ihre Gemeinschaft
+wird die Erlösung des Menschen, des Ebenbildes Gottes sein.«
+
+Jetzt standen sie vor dem steilen Abfalle zur Irenenbucht. Paul Seebeck
+blickte noch eine Weile schweigend und mit glänzenden Augen auf das
+Meer. Dann sagte er lächelnd zu seinem Freunde, wobei er auf die Bucht
+unter ihnen mit ihrem Gewirr von Klippen und Sandbänken wies:
+
+»Also dort unten hausen und grausen meine Ichthyosauren.«
+
+Für Jakob Silberland kam dieser Sprung von Paul Seebecks feierlichen
+Worten zum leichten Scherze so überraschend, und außerdem wußte er gar
+nicht, was er aus Paul Seebecks Ichthyosauren machen sollte, daß er
+schweigend seinem Freunde mit Hilfe von Strickleitern, Eisenklammern und
+natürlichen Felszacken in die Tiefe folgte. Da beide geübte Bergsteiger
+waren, ging der Abstieg schnell von statten.
+
+Als sie unten auf einer breiten Felsplatte angekommen waren und auf das
+Wasser sahen, das hier schlammig und voll von grünen Algen war, sagte
+Paul Seebeck:
+
+»Setz dich jetzt hier in den Schatten und verhalte dich ganz ruhig.«
+
+Jakob Silberland tat, wie ihm geheißen. Er sah, daß Paul Seebecks
+umherschweifender Blick immer wieder zu einer tiefen dunklen Spalte in
+der Felsenwand zurückkehrte. Er schaute scharf hin und glaubte, einen
+schweren Körper herausgleiten zu sehen, der kein Fisch sein konnte.
+Ängstlich sah er Paul Seebeck an, aber dieser lächelte nur.
+
+Jetzt hob sich zwanzig Schritte von ihm entfernt, ein riesiger,
+schwarzer Kopf aus dem Wasser, ein breites, zahnloses Maul öffnete
+sich – –
+
+Mit einem Entsetzensschrei sprang Silberland auf. Sofort verschwand der
+Kopf im Wasser. Paul Seebeck aber sagte lachend:
+
+»Du sollst mir meine Tiere nicht scheu machen.«
+
+»Was sind das für Tiere?« fragte Jakob Silberland, noch am ganzen Körper
+zitternd.
+
+»Schildkröten, mein Junge, allerdings reichlich große.«
+
+»Riesenschildkröten?« fragte Jakob Silberland aufatmend.
+
+»Ja. Und zwar sind es reine Wassertiere. Ich habe sie nie länger als für
+Minuten am Lande gesehen. – Sei ruhig, hier können sie nicht
+heraufkrabbeln. – Am Tage sieht man sie immer nur ganz flüchtig. Aber in
+hellen Mondscheinnächten habe ich sie oft viele Stunden lang beobachtet.
+Sie können schwimmen, tun es aber fast nie. Sie kriechen auf dem Boden
+hin. Es gibt unzählige hier. Die größten waren über vier Meter lang.
+
+Ich traute mich nie recht, mit meinem Motorboote vom Meere her in die
+Bucht zu fahren, um die Tiere nicht zu erschrecken. Außerdem würden die
+unzähligen Sandbänke und Klippen, die du siehst, die Sache fast
+unmöglich gemacht haben, ganz abgesehen von den riesigen Algen, die
+meiner Schiffsschraube wohl das Leben gekostet hätten. Aber toll ist es
+hier. Zuweilen habe ich tief unten im Wasser die Leuchtorgane von
+elektrischen Fischen aufblitzen sehen, und bei Tiefebbe liegen die
+phantastischsten Tiefseetiere hier herum. Soviel ich sehen konnte, ist
+der Meeresboden hier auch nicht nackt, wie bei der großen Bucht, sondern
+sieht wie ein submariner Urwald aus, der sich weit hinaus ins Meer
+erstreckt. Meine Auffassung ist, daß sich mit der Hebung der Insel diese
+unterseeische Oase auch gehoben hat. Wie sie in dieses Gestein
+hereinkommt, weiß ich nicht. Vielleicht ruht sie auf Lehm. Jedenfalls
+ist sie da, und die Schildkröten mit ihr.
+
+Wenn wir vernünftig sind und keinen Raubbau treiben, können wir durch
+die Tiere eine dauernde Einnahmequelle haben, die für die ganze Insel
+ausreichen wird. Dazu kommt noch der Fischfang. – Du siehst, unser Staat
+braucht keine Not zu leiden.«
+
+Sie warteten noch eine halbe Stunde, aber kein Tier ließ sich mehr
+blicken. So traten sie den Rückweg an.
+
+
+
+
+Paul Seebeck saß mit seinem Studienfreunde, dem Architekten Edgar Allan
+zusammen im Café Bauer in Berlin. Paul Seebeck war trotz der frühen
+Nachmittagsstunde im Frack, denn er hatte am Vormittage mehrere
+Staatssekretäre und andere höheren Beamte aufgesucht. Jetzt hatte er
+alle offiziellen Schritte getan; da er aber am Abend ins Theater wollte,
+wollte er sich nicht erst die Mühe machen, sich für die wenigen Stunden
+nochmals umzuziehen. Deshalb war er im Frack geblieben, und es störte
+ihn nicht, daß er dadurch etwas Aufsehen erregte.
+
+Edgar Allan war lang und knochig und hatte eine etwas eingefallene
+Brust. Auch in seinem scharfgeschnittenen Gesichte verleugnete sich der
+englische Halbteil seines Blutes nicht.
+
+Paul Seebeck sah durchs Fenster auf die Straße hinaus. Edgar Allan
+stützte seine Ellbogen auf den Tisch und verbarg sein Gesicht in den
+langen, mageren Händen. Als er es nach einigen Minuten wieder erhob, sah
+er, daß Paul Seebeck ihn jetzt mit seinen großen Augen forschend
+anblickte.
+
+Edgar Allan sah ihn erst fremd an, dann verzog sich sein Gesicht. Er
+sagte erregt:
+
+»Ich bin übrigens nicht nur mit meiner Klage vom Reichsgericht
+abgewiesen; das Warenhaus hat mit seiner Widerklage sogar erreicht, daß
+ich zu einer Entschädigung verurteilt wurde. Alle Sachverständigen waren
+darin einig, daß mein Bau nicht den Voraussetzungen des Kontraktes
+entsprach. Fast meine ganzen Ersparnisse habe ich hingeben müssen.« Dann
+fuhr er ruhiger fort: »Die Leute haben aber recht, ich kann kein
+einzelnes Haus bauen; ich verstehe überhaupt nicht, wie jemand das kann.
+Man soll mir einmal den Bau einer ganzen Stadt übertragen, dann werde
+ich schon zeigen, wozu ich tauge.«
+
+Paul Seebeck senkte seine Augen und sah dann wieder zum Fenster hinaus.
+
+Plötzlich legte Edgar Allan seine Hand auf seinen Arm:
+
+»Wollen Sie mich mitnehmen?« fragte er.
+
+Paul Seebeck wandte sich herum und sah ihm gerade in die Augen:
+
+»Ja«, sagte er, »gerade solche Menschen wie Sie suche ich, brauche ich.
+Ich wollte Sie nur aus dem Grunde nicht auffordern, weil ich nicht will,
+daß jemand anders als ganz aus freien Stücken zu uns kommt. Halloh!«
+rief er, aufstehend, einen vorbeigehenden, jungen, blonden,
+hochgewachsenen Herrn zu, der, das »Berliner Tageblatt« in der Hand,
+sich gerade nach einem freien Tische umsah.
+
+»Herrgott bist du plötzlich in Berlin?« fragte der Angesprochene im
+höchsten Grade erstaunt. »Noch dazu im Frack? Ich dachte, du wärst
+Kaffernhäuptling oder Seeräuber oder so etwas ähnliches geworden.«
+
+»Noch nicht«, erwiderte Paul Seebeck. »Aber meine amtliche Bestallung
+als Seeräuber habe ich seit heute Vormittag in der Tasche. Gestatten die
+Herren, daß ich vorstelle: mein Schulkamerad stud. jur. Otto Meyer,
+Architekt Edgar Allan.«
+
+»Referendar Meyer, wenn ich bitten darf«, sagte der junge Mann, wobei er
+Edgar Allan die Hand reichte, die dieser höflich nahm.
+
+Als alle drei wieder saßen, fragte Paul Seebeck seinen Schulkameraden:
+
+»Woher weißt du eigentlich von der ganzen Geschichte?«
+
+»Du mußt mir Diskretion versprechen«, sagte Otto Meyer feierlich.
+
+»Gewiß.«
+
+»Also die Sache steht lang und breit da drin –«, er wies auf die
+Zeitung, die er noch immer in der Linken hielt – »sogar in der
+halbamtlichen Fassung des Wolffschen Bureaus.«
+
+»Zeig doch mal«, sagte Seebeck und griff nach dem Blatte.
+
+»Nein, ich werde es vorlesen, sonst verstehst du es nicht richtig.« Und
+er las:
+
+»Eine Erweiterung des deutschen Kolonialbesitzes?
+
+Durch den Schriftsteller und Forschungsreisenden Paul Seebeck wurde da
+und da eine unbewohnte, vulkanische Insel mit einem Flächenraume von
+zwölfhundert Quadratkilometern entdeckt und für das Deutsche Reich in
+Besitz genommen. Da auf und bei der fraglichen Insel auch nicht das
+allergeringste zu holen ist –«
+
+»Willst du vielleicht die Güte haben, ungefähr das zu lesen, was
+dasteht?« unterbrach Seebeck den Lesenden. »Die Sache interessiert mich
+nämlich.«
+
+Otto Meyer las weiter:
+
+»Da die fragliche Insel augenscheinlich nur als Wohnsitz einiger,
+weniger Menschen in Betracht kommen kann und nicht für eine eigentliche
+Kolonie, ließ der Staatssekretär des Kolonialamtes dem Entdecker der
+Insel, Herrn Paul Seebeck, bis auf weiteres freie Hand in allen Fragen
+der Besiedelung der Insel, wobei er ihn auf Widerruf zum Reichskommissar
+mit allen Rechten und Pflichten eines solchen ernannte.
+
+Diese Ernennung, die selbstverständlich im Einverständnisse mit dem
+Reichskanzler erfolgte, ist als eine Konzession an die durch das
+Scheitern der preußischen Wahlreform verstimmten linksstehenden Parteien
+aufzufassen. Die Konservativen beruhigte der Reichskanzler durch das
+bindende Versprechen, daß die Insel in drei Jahren ebenso still und
+leise verschwinden würde, wie sie aufgetaucht ist –«
+
+Paul Seebeck und Edgar Allan lachten. Otto Meyer reichte Paul Seebeck
+die Zeitung und dieser las die Notiz aufmerksam durch. Als er das Blatt
+fortlegte, fragte Otto Meyer:
+
+»Ist es wirklich dein Ernst, dort eine Republik zu gründen? Eine
+republikanisch regierte, deutsche Kolonie?«
+
+»Ja, machst du mit?«
+
+»Mit Vergnügen, aber nur als Justizminister«, sagte Otto Meyer ruhig.
+
+»Als Justizminister? Hm. Daran hatte ich eigentlich nicht gedacht. Ich
+dachte eher als Staatslausejunge, als offizielles, destruktives
+Element.«
+
+»Du bist furchtbar liebenswürdig«, antwortete Otto Meyer, ohne im
+geringsten beleidigt zu sein. »Aber sag mal, willst du nicht morgen bei
+uns zu Mittag essen? Meine Eltern würden sich doch sehr freuen, dich
+mit australischem Ruhme bedeckt, dazu noch als zukünftigen Imperator Rex
+begrüßen zu können.«
+
+»Schön. Wie früher um Drei?«
+
+»Ja.«
+
+Jetzt erhob sich Edgar Allan und nahm Abschied. Paul Seebeck begleitete
+ihn, so wie er war, in Frack und ohne Hut, auf die Straße hinaus. Als er
+zurückkam, fragte Otto Meyer:
+
+»Was hast du dir denn da für einen steifen Engländer aufgegabelt?«
+
+»Na, er ist mehr Deutscher als Engländer. Deutsche Mutter und in
+Deutschland erzogen. Er ist sonst auch gar nicht steif, hat nur jetzt
+recht unangenehme Sachen durchgemacht. Ich hoffe, daß er mit mir kommt –
+und uns unsere Stadt baut. Er ist gerade der Typus Mensch, den wir
+brauchen; das heißt, er ist gerade kein Typus, sondern ein Mensch.«
+
+»Ich bitte dich, sei nicht so schrecklich geistreich«, sagte Otto Meyer.
+»Sonst bekomme ich Magenschmerzen.«
+
+»Entschuldige mich einen Augenblick«, sagte Paul Seebeck aufstehend und
+ging auf Jakob Silberland zu, der gerade zur Tür hereintrat. Paul
+Seebeck stellte ihm Otto Meyer vor, und als sie wieder Platz genommen
+hatten, sagte er:
+
+»Edgar Allan kommt mit. Noch ein paar Leute, und wir können anfangen.«
+
+»Kommt er? Gut! Da haben wir ja einen ganzen Kerl gewonnen. Ja, du, was
+ich sagen wollte – mir sind noch einige Leute eingefallen – aber man
+kann ja nicht gut jemand auffordern. Und wie soll man es sonst diesen
+Leuten nahelegen?«
+
+»Gar nicht, natürlich«, antwortete Paul Seebeck. »Wer nicht freiwillig,
+aus innerstem Instinkt zu uns kommt, mag fortbleiben. Die brauchen wir,
+die uns zufällig finden, weil sie uns brauchen.«
+
+»Ja, ja«, sagte Jakob Silberland etwas verlegen. »Aber wir müssen doch
+einen Anfang haben. Wir zwei, drei Menschen können uns dort nicht
+festsetzen und auf die anderen warten. Damit würden wir uns nur
+lächerlich machen und gar nichts erreichen.«
+
+»Du irrst. Wir müssen gerade hingehen und uns der Lächerlichkeit
+aussetzen.«
+
+»Ich fürchte nur, daß wir zwei, mit Edgar Allan also drei, unser ganzes
+Leben lang allein auf der Insel hocken werden.«
+
+Otto Meyer, der offenbar fürchtete, Zeuge eines Streites der beiden
+Freunde zu werden, verabschiedete sich, wobei er Seebeck daran
+erinnerte, daß er morgen zum Mittagessen zu kommen versprochen hätte.
+
+Der Streit brach aber nicht aus, im Gegenteil, Paul Seebeck sagte ganz
+ruhig, wobei er seinem Freunde gerade ins Gesicht blickte:
+
+»Ich verstehe dich vollkommen; du willst gleich mit einem gewissen
+Material anfangen. Ich glaube, du machst dir unnötige Sorgen. Es werden
+mehr zu uns kommen, als wir brauchen können. Du wirst sehen, daß viele
+gleich mit uns kommen wollen. Aber jetzt mußt du mich entschuldigen«,
+brach er ab, wobei er auf die Uhr sah. »Ich will ins Theater.«
+
+Als Paul Seebeck gegangen war, setzte sich Jakob Silberland richtig in
+der Ecke zurecht und ließ sich vom Kellner alle Abendblätter bringen und
+las die – je nach der politischen Richtung der betreffenden Zeitung –
+wohlwollenden, abwartenden oder gehässigen Glossen zur halbamtlichen
+Wolff-Nachricht. Nach einer Stunde war er aber müde vom Lesen; er lehnte
+sich zurück und ließ sich sein letztes Gespräch mit Paul Seebeck noch
+einmal durch den Kopf gehen. Je mehr er nachdachte, umsoweniger hielt er
+Paul Seebecks Ansicht für richtig; er glaubte vielmehr, daß man sich
+einen gewissen, soliden Kern sammeln müßte, um den sich dann die
+Gemeinschaft kristallisieren könnte. Aber einfach abwarten – nein.
+Lieber organisieren, aufbauen.
+
+Und als ihm das als das richtige klar vor Augen stand, beschloß er,
+einen Mann aufzusuchen, den er sich als wertvollen Mitarbeiter an der
+Sache denken konnte, nämlich den russischen Flüchtling Nechlidow.
+
+
+
+
+Durch schwere, dunkle Vorhänge gedämpft, fiel das Licht in den Salon,
+in dem die hohe Frauengestalt stand. Das schwarze Schleppkleid ließ Hals
+und Gesicht noch weißer erscheinen, und die großen braunen Augen
+leuchteten.
+
+»Warum kommen Sie erst jetzt zu mir?« fragte Frau von Zeuthen Paul
+Seebeck, der noch Hut und Stock in der Hand haltend vor ihr stand.
+
+»Wie schön Sie sind!« erwiderte Seebeck und küßte ihre Hand.
+»Unveränderlich schön wie ein edles Bild, das Zeiten und Geschehnis
+überdauert.«
+
+Ihr Lächeln war nicht der Art als ob sie seine Worte als Schmeichelei
+auffaßte. Sie sagte:
+
+»Jetzt müssen Sie mir aber alles, alles erzählen. Ich habe die Zeitungen
+gelesen und allerhand gehört. Das will ich jetzt aber vergessen und
+alles neu und rein von Ihnen hören.«
+
+Sie setzte sich auf den Divan und wies mit der Hand auf einen Armstuhl
+neben dem Rauchtischchen, aber Paul Seebeck blieb stehen:
+
+»In Ihrem Hause ist eine Ruhe wie sonst nirgendwo auf der Welt. Sie sind
+einige Jahrhunderte zu spät auf die Welt gekommen, Gabriele. Sie passen
+nicht in unser Zeitalter. Sie gehörten nach Italien zur Zeit der
+Wiedergeburt, und in Ihren Räumen hätten sich die edelsten Männer
+versammelt, um ernst und gewichtig die Fragen zu erörtern –«
+
+»Sie wollten mir doch etwas erzählen«, unterbrach ihn Frau von Zeuthen,
+wobei sie sich zurücklehnte.
+
+Paul Seebeck legte Hut und Stock fort und setzte sich in den Armstuhl.
+
+»Also, ich kam von Sidney zurück –«
+
+»Nicht so schnell. Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche. Aber Sie
+dürfen Australien nicht überspringen.«
+
+»Über Australien kann ich leider nicht viel berichten. Ich kam hin – Sie
+kennen ja meinen Expeditionsplan, er stand ja auch in allen Zeitungen –
+und wie ich dort war, sah ich, daß meine ganze Expedition eigentlich
+überflüssig war. Von dem, was ich als Neuland erforschen wollte, ist der
+größte Teil in seinen großen Zügen schon bekannt, sogar schon
+aufgenommen, und es reizte mich nicht, mich nur mit den Bagatellen
+abzugeben, die natürlich auch von wissenschaftlichem Interesse sind –«
+
+»Da Sie ja mehr Abenteurer als Wissenschaftler sind.«
+
+»Vielleicht, vielleicht liegt der Wert meines Abenteuertums gerade
+darin, daß ich nur große Dinge entdecken kann, nicht Kleinigkeiten
+untersuchen. Ich kann nur die großen Dinge sehen und räume dann gern das
+Feld dem Gelehrten, der dann nach Herzenslust messen und forschen mag.
+Schon am ersten Tage in Sidney, wo ich in der Bibliothek der
+Geographischen Gesellschaft saß und mir das ganze Material durchsah,
+sank mir der Mut. Ich sah wohl, daß da noch unendlich viel zu tun war,
+aber fast nichts für mich.
+
+Ich unternahm die Expedition trotzdem – ich war ja dazu verpflichtet –
+aber ohne Freude. Dadurch kam auch das Sprunghafte, Unsichere herein,
+das manche Zeitungen mit Recht gerügt haben, und kehrte vorzeitig
+zurück.«
+
+»Ich las in der Zeitung, daß die furchtbaren Stürme und
+Überschwemmungen, die der großen Flutwelle folgten, Sie zur Rückkehr
+gezwungen hätten.«
+
+»Ich nahm das mehr als Vorwand. Hätte ich ernstlich gewollt, hätte ich
+schon dort bleiben können. Ich kehrte aber nach Sidney zurück.«
+
+»Und dann?«
+
+»Ja, dann sah ich vom Dampfer aus meine Insel, deren Entstehung
+natürlich die große Flutwelle verursacht hat. Und da beschloß ich, auf
+ihr meinen Staat zu gründen.«
+
+»So schnell?«
+
+»Ja, wissen Sie, Gabriele«, fuhr Paul Seebeck lebhafter fort, »zwischen
+der Entdeckung der Insel und meiner Ankunft lagen ja viele Stunden. Und
+eine Stunde ist lang, wenn man allein auf einem Schiffe steht und ganz
+ungestört seinen Gedanken nachhängen kann. Und unser Plan eines wirklich
+modernen Staates auf breitester, demokratischer Grundlage, aber mit dem
+Prinzipe der größten persönlichen Freiheit war ja schon lange fertig.«
+
+»Wer ist »wir«?«
+
+»Mein Freund Silberland, ein Journalist und radikaler Politiker aus
+München, ein kluger Mensch, der unendlich viel in seinem Leben
+gearbeitet hat und dem es immer schlecht gegangen ist, und ich. In
+meiner Münchener Zeit sind wir oft nächtelang im Café Stephanie gesessen
+oder im Englischen Garten herumgegangen und haben dabei immer nur
+unseren Staat besprochen. Sie werden verstehen, daß zwei Menschen wie er
+und ich sich in einer solchen Frage aufs Glücklichste ergänzen können.«
+
+Frau von Zeuthen nickte und Paul Seebeck fuhr fort:
+
+»Wie ich also die Insel sah und wußte, daß sie herrenloses Land
+darstellte, schrieb ich vom Dampfer aus einige Zeilen an Silberland.
+Ich erinnerte ihn an unsere Träume und bat ihn, hinzukommen. Ich schrieb
+ihm, er solle mir eine Vollmacht als Reichskommissar verschaffen. Er kam
+auch, der gute Kerl, steckte seinen Beruf und seine Stellung auf und
+kam. Aber das Kolonialamt hatte ihm doch nur eine sehr vorsichtige, sehr
+provisorische Vollmacht für mich mitgegeben und verlangte, mich selbst
+zu sehen und zu hören. So mußte ich also nach Berlin kommen.« Und Paul
+Seebeck schwieg, wobei er vor sich auf den Teppich sah.
+
+»War Ihnen denn das so unangenehm?« fragte Frau von Zeuthen.
+
+»Ja. Wenigstens zuerst. Ich hatte schon viele Wochen ganz allein auf
+meiner Felseninsel zugebracht und fühlte mich dort so heimisch, daß es
+mir schwer wurde, sie wieder zu verlassen. Und besonders fürchtete ich,
+sie mit etwas anderen Augen zu sehen, wenn ich nach dem Aufenthalt in
+Europa zu ihr zurückkehrte.«
+
+»Wie denn?« fragte Frau von Zeuthen mit ihrem klugen Lächeln.
+
+Er sah sie an und sagte langsam:
+
+»Ich fürchtete, meine Insel nicht mehr so rein zu empfinden, nicht mehr
+so ganz als Symbol der Unberührtheit, kurz, nicht mehr so persönlich,
+mehr als eine von den vielen, ein Kuriosum, keine Offenbarung – Sie
+verstehen?«
+
+Frau von Zeuthen nickte.
+
+»Und weshalb sind Sie jetzt doch froh, hierher gekommen zu sein?« fragte
+sie nach einer kleinen Pause.
+
+»Weil ich sehe, wie wertvoll es für mich ist, etwas Distanz bekommen zu
+haben – nicht nur aus praktischen Gründen.« Wieder schwieg er und sah
+vor sich hin.
+
+»Dann habe ich hier auch einige Menschen wiedergefunden, die ich für
+meine Arbeit brauche. Und« – hier sank er vom Stuhle und ergriff ihre
+Hand und küßte sie – »eine Frau, die ich immer fragen muß, ob ich auch
+auf dem rechten Wege bin.«
+
+Sie strich ihm mit ihrer schönen, weißen Hand über sein Haar.
+
+»Wollen Sie mir auch diesmal Ihren Segen mitgeben?« fragte er, lächelnd
+zu ihr aufblickend.
+
+»Ja«, sagte sie. »Und wenn Sie mich brauchen, komme ich zu Ihnen.«
+
+Er küßte noch einmal ihre Hand und erhob sich dann. Im Zimmer auf- und
+abgehend, fuhr er lebhaft fort:
+
+»Und wie bezaubernd die Idee wirklichen Neulandes, einer freien
+menschlichen Gemeinschaft ohne alle Traditionen wirkt. Ich kenne von der
+Schule her einen jungen Studenten, jetzt ist er übrigens Referendar, der
+fünf Jahre jünger ist als ich. Einen richtigen Berliner Juden, obwohl er
+nicht so aussieht. Glänzend begabt, daß jede Arbeit für ihn Spielerei
+ist, frech wie ein Dachshund, nie um eine Antwort verlegen, immer witzig
+und nichts auf der Welt ernst nehmend. Dabei ein seelenguter Kerl und
+immer hilfsbereiter Kamerad. Wir treffen uns hier zufällig im Café, und
+er benutzt die Gelegenheit, um tausend dumme Witze über unsere Insel zu
+machen. Am Tage darauf esse ich bei seinen Eltern. Auch dort schont er
+mich durchaus nicht. Wie wir nach dem Essen bei einer Zigarre allein in
+seinem Zimmer sind, sagt er mir plötzlich in vollem Ernste, daß er mit
+uns kommen will, um dann sofort darüber dumme Witze zu machen. Aber ich
+bin überzeugt, daß es ihm im Grunde seines Herzens tiefernst ist, und
+daß er gerade durch seinen absoluten Mangel an Sentimentalität ein sehr
+gesundes Element darstellen wird.«
+
+Er blieb stehen und lauschte, denn auf dem Korridore wurde ein Trampeln
+und eifriges Tuscheln laut. Frau von Zeuthen erhob sich vom Divan.
+
+»Die Kinder«, sagte sie.
+
+Gleich darauf wurde auch die Tür aufgerissen und die dreizehnjährige
+Hedwig stürmte herein. Sobald sie Paul Seebeck erblickte, schlang sie
+beide Arme um seinen Hals und hüpfte vor Freude. Paul Seebeck konnte
+sich nur mit Mühe soweit von ihr befreien, um dem etwas verlegen hinter
+ihr stehenden zwölfjährigen Felix wenigstens flüchtig die Hand drücken
+zu können. Noch halb an Paul Seebeck hängend, begann Hedwig, ihrer
+Mutter übersprudelnd ein Schulerlebnis zu erzählen, doch Frau von
+Zeuthen unterbrach sie:
+
+»Macht euch jetzt schnell zum Mittagsessen fertig, Kinder. Wir essen
+heute früher als sonst. Dann kannst du uns alles erzählen, Hedwig.«
+
+Ein wenig schmollend zog Hedwig ab, Felix wandte sich in der Tür noch
+einmal zögernd um, dann ging er schnell zu Paul Seebeck und flüsterte
+ihm zu:
+
+»Ich habe alles gelesen; ich weiß alles. Ich will zu dir auf deine Insel
+kommen.« Dann lief er tief errötend aus der Tür.
+
+Während die Schritte der Kinder auf dem Korridore verklangen, wandte
+sich Frau von Zeuthen an Paul Seebeck:
+
+»Ich erwarte noch einen Gast –«
+
+»Herrn von Rochow?« fragte Seebeck.
+
+»Rochow? Nein ... Wie kommen Sie auf ihn?«
+
+»Ach, ich bin in den letzten Tagen oft mit ihm zusammen gewesen; er ist
+ja einer von den Unsrigen.«
+
+»So? Das freut mich wirklich.«
+
+»Er war einer von denen, an die ich von Anfang an dachte, und er kam
+auch gleich zu mir. – Ja, und gestern sagte er mir, daß wir uns wohl
+auch bald bei Ihnen treffen würden.«
+
+»Rochow ist immer bei mir willkommen; er kommt vielleicht auch später
+zum Tee zu mir. Wissen Sie übrigens, daß er seinen Abschied nehmen
+mußte?«
+
+»Nein, weshalb denn?«
+
+»Ich weiß es nicht genau. Es handelte sich um eine Soldatenmißhandlung,
+wo Rochow in irgendwelcher inkorrekten Weise zu sehr für den Soldaten
+gegen den schuldigen Leutnant eingetreten ist. Aber jetzt zum
+Mittagessen erwarte ich einen jungen Freund, der Ihnen vielleicht große
+Freude machen wird.«
+
+Es klingelte, und bald darauf stand ein bleicher, junger Mann mit
+tiefliegenden, rotumränderten Augen in der Tür. Man sah seiner Kleidung
+an, daß sie mit großer Mühe ordentlich instand gehalten war. Frau von
+Zeuthen ging auf ihn zu, führte ihn an der Hand zu Seebeck und sagte:
+
+»Da haben Sie meinen Melchior. Seht zu, ob ihr nicht Freunde werden
+könnt.«
+
+Und während die beiden Männer einander forschend und suchend in die
+Augen sahen, öffnete sie die Tür zum anstoßenden Eßzimmer, wo Hedwig und
+Felix bereits ungeduldig warteten.
+
+
+
+
+Auf dem großen Tische in Paul Seebecks Hotelzimmer, der mit Zeitungen,
+Broschüren und Papieren bedeckt war, standen zwei schwere, fünfarmige
+Leuchter und erhellten die Gesichter der kleinen Versammlung. Erst jetzt
+waren sie zum ersten Male offiziell versammelt; so hatte es Paul Seebeck
+gewollt. Mehrere Wochen hatte er ihnen Zeit gelassen, um alles in Ruhe
+zu überlegen und sich einander kennen zu lernen.
+
+Alle sieben waren da: am Tischende saßen Paul Seebeck, Jakob Silberland
+und Hauptmann a. D. von Rochow, dann kamen Edgar Allan und Referendar
+Otto Meyer, zuletzt Nechlidow. Der junge Melchior saß gesenkten Hauptes
+etwas im Hintergrunde und zuweilen hob sich sein bleiches,
+abgearbeitetes Gesicht aus dem Dunkel.
+
+Paul Seebeck stand auf, und aller Augen wandten sich ihm zu. Er sagte:
+
+»Ich habe ungefähr dreihundert Anfragen und Anmeldungen erhalten, habe
+aber Alle gebeten, sich etwas zu gedulden. Wir sind jetzt sieben, und
+das ist vorläufig genug, um die Sache in Gang zu bringen. Sobald wir
+die Umrißlinien gezogen haben, mögen die Anderen kommen, um sie
+auszufüllen oder zu verändern. Nun liegt die Gefahr vor«, fuhr er fort,
+wobei er den Kopf senkte und sich auf die eingezogene Oberlippe biß,
+»daß wir sieben auch in Zukunft eine bevorzugte Stellung einnehmen. Das
+darf natürlich nicht sein. Das wäre eine Oligarchie statt einer
+Demokratie.«
+
+Nechlidow hob den Kopf und rief:
+
+»Was bis zum heutigen Tage noch jede Demokratie gewesen ist, besonders
+in der wahnsinnigen Karrikatur des Parlamentarismus.«
+
+Paul Seebeck sah ihm gerade ins Gesicht:
+
+»Tragen Sie das Ihrige dazu bei, Herr Nechlidow, daß unser Staat nicht
+an dieser Klippe strandet.«
+
+Es ging ein Leuchten durch Nechlidows vergrämtes Gesicht; er sagte
+nichts, nickte nur.
+
+»Nun läßt sich aber nicht leugnen, daß wir sieben Gründer, eben als
+solche, vorläufig eine Sonderstellung einnehmen. Wir müssen nur dafür
+sorgen, daß diese Sonderstellung nicht länger dauert, als unbedingt
+notwendig ist. Ich schlage deshalb folgendes vor: jeder Ansiedler,
+selbstverständlich Mann wie Frau, ist nach einjährigem Aufenthalt auf
+der Insel vollberechtigter Bürger. Wir sieben Gründer bleiben das erste
+Jahr allein auf der Insel und genießen das einzige Vorrecht, in diesem
+Jahre über uns selbst und den Staat, den wir ja allein repräsentieren,
+zu verfügen. Dieses Vorrecht ist natürlich nur ein anderer Ausdruck für
+alle unsere Pflichten und unsere Arbeit. Vom opportunistischen
+Standpunkte aus gesehen also ein Vorrecht, von recht zweifelhaftem
+Werte, vom moralischen Standpunkte ein Recht in der tief innersten
+Bedeutung des Wortes.«
+
+Jetzt konnte Otto Meyer sich nicht mehr beherrschen, er mußte Jakob
+Silberland zuflüstern:
+
+»Daß der Kerl seine geistreichen Bemerkungen nie sein lassen kann.«
+
+Halb verlegen und belustigt, suchte Silberland nach einer Antwort;
+plötzlich aber erhob sich zum allgemeinen Erstaunen Melchior und sagte:
+
+»Darf ich eine Frage stellen? Da ist etwas, was ich nicht verstehe.«
+
+»Bitte«, sagte Seebeck.
+
+Melchior zog die Brauen zusammen und versuchte augenscheinlich seine
+Frage scharf zu formulieren; er sagte dann:
+
+»Nach alledem, was ich verstanden zu haben glaube, soll dieser Staat im
+Großen wie im Kleinen keine willkürliche Konstruktion darstellen,
+ebensowenig eine Gemeinschaft, die nur auf einen bestimmten Typus
+Mensch zugeschnitten ist. Wenn Sie mir den trivialen Ausdruck erlauben
+wollen, soll es nicht nur der ideale, sondern auch der normale Staat
+sein.«
+
+Paul Seebeck nickte. Melchior sah ihn an:
+
+»Ein Staat, oder wohl besser: eine Gemeinschaft, deren Bau aus der Natur
+des Menschen an sich, des zweibeinigen Säugetieres: Mensch, abgeleitet
+ist, nicht wahr?«
+
+Wieder nickte Paul Seebeck, obgleich nicht so ganz zustimmend. Melchior
+war aber so in seinen Gedanken vertieft, daß er nichts um sich her sah.
+Er fuhr fort:
+
+»Sie müssen mich recht verstehen, ich will nicht kritisieren, nur
+fragen. Wie läßt sich die Idee eines solchen Staates damit vereinigen,
+daß erst große Vorarbeiten nötig sind? Daß die Ansiedler sich erst ein
+ganzes Jahr lang akklimatisieren sollen? Würde es nicht genügen, die
+Menschen einfach in die Freiheit zu setzen, so daß sie selbst kraft
+ihrer Menschennatur sich die neue Gemeinschaft schaffen können? Wenn
+ihre Gedanken richtig sind, müßte der so sich selbst aufbauende Staat
+genau ebenso werden, wie der Ihrige, der doch – zunächst wenigstens –
+ein theoretisches, aus den jetzigen Staatsformen abstrahiertes Gebäude
+darstellt; nur mit dem Unterschiede, daß der sich selbst aufbauende
+Staat natürlicher wäre, ohne die Fehlerquellen, die bei dem Ihrigen, der
+theoretischen Grundlage wegen, möglich sind.«
+
+»Bravo!« rief Nechlidow. »Der Mann kann denken.«
+
+»Sie müssen mich richtig verstehen,« fuhr Melchior fast ängstlich fort,
+»ich vertrete gar keinen Standpunkt, ich sehe nur ein Problem und bitte
+Sie, es mir zu lösen. Sie haben natürlich alles das genau bedacht, Herr
+Seebeck?« Er richtete sich ganz auf und sah Seebeck gespannt an. Aber
+plötzlich verzog sich sein Gesicht, es wurde kreidebleich, er schwankte
+etwas, griff rückwärts nach der Stuhllehne, so daß der Stuhl sich auf
+einem Beine drehte, und Melchior sank, die Stuhllehne noch immer in der
+Hand, bewußtlos neben den Stuhl hin, der auf ihn fiel.
+
+Alle sprangen entsetzt auf. Paul Seebeck war mit einigen Schritten bei
+ihm, hob ihn leicht wie ein Kind auf, klingelte nach dem Kellner, ließ
+sich ein freies Zimmer zeigen und bettete den Ohnmächtigen dort. Er
+löste ihm die Kleider auf Brust und Leib und flößte ihm dann Milch ein.
+Melchior schlug schon nach einigen Minuten die Augen wieder auf und sah
+unsicher um sich. Paul Seebeck fragte ihn besorgt:
+
+»Fühlen Sie sich jetzt wieder wohl?«
+
+»Ja, ja«, sagte Melchior zerstreut. »Das hat nichts zu sagen.« Sein
+Blick fiel auf die gefüllte Milchkanne. Mit zitternden Händen schenkte
+er sich ein Glas ein und stürzte es hinunter. Er sah dankbar zu Seebeck
+auf:
+
+»Ich danke Ihnen, Sie sind so gut zu mir.«
+
+»Wünschen Sie irgend etwas?« fragte Seebeck, die Hand schon bei der
+elektrischen Klingel.
+
+»Ja, wenn ich etwas essen dürfte –« antwortete Melchior zögernd. »Ich
+werde zuweilen schwach, wenn ich hungrig bin.«
+
+»Haben Sie denn heute Abend noch nichts gegessen?« fragte Seebeck
+besorgt.
+
+»Heute Abend?« Melchior lächelte schwach. »Gestern und heute habe ich
+nichts gegessen. Wenn ich jetzt nur ein Stückchen Brot haben kann, ist
+mir gleich wieder gut.«
+
+Der Kellner trat ein, und Seebeck bestellte, trotz Melchiors
+verlegen-abwehrender Handbewegungen ein ordentliches Abendessen, doch
+verlangte er nur Speisen, die in wenigen Minuten fertig sein konnten.
+Während dieses kurzen Gespräches schlummerte Melchior ein. Paul Seebeck
+überzeugte sich, daß sein Atem ruhig ging und verließ dann zusammen mit
+dem Kellner das Zimmer.
+
+Als er zu seinen Gästen zurückkehrte, wurde er von allen Seiten nach
+Melchiors Befinden gefragt. Er gab aber nur kurze, sachliche Antworten
+und schlug dann lächelnd vor, wieder zur Arbeit überzugehen. Diesmal
+ergriff er aber nicht das Wort, sondern bat Jakob Silberland, zu
+erklären, wie sie ihren Staat zu finanzieren gedächten.
+
+Jakob Silberland stand eifrig auf, und begann:
+
+»Die finanzielle Grundlage unseres Staates ist als durchaus gesund zu
+bezeichnen. Wir haben Aktiven in den Naturschätzen, die fast ohne
+Betriebskapital zu heben sind. Nach dem Urteil von Sachverständigen
+repräsentiert eine ausgewachsene Riesenschildkröte allein an Schildkrott
+einen Wert von fünfundzwanzigtausend Mark, dazu kommt noch ihr Fleisch
+im Werte von ungefähr dreihundert Mark. Ein genaues Studium muß ergeben,
+wieviele Tiere man im Jahre erlegen darf, ohne Raubbau zu treiben;
+jedenfalls für mehrere Hunderttausende, vielleicht Millionen. Diese
+Einnahmequelle muß dem Staate selbst verbleiben.
+
+Daß der Grund und Boden für immer gemeinsames Eigentum bleiben muß, ist
+ja selbstverständlich, ebenso die auf ihm stehenden Häuser, denn ein
+Privatbesitz an Boden läßt sich nur solange rechtfertigen, wie es
+herrenloses Land in genügender Menge gibt, so daß jeder andere sich
+gleichfalls – wenn er will – einen genügenden Platz sichern kann. Da es
+jetzt – speziell bei uns – herrenloses Land so gut wie nicht mehr gibt,
+oder bald nicht mehr geben wird, ist Privatbesitz am Grund und Boden ein
+Unding.
+
+Wir brauchen nur etwas flüssige Mittel, um die notwendigen Bauten und
+Anlagen ausführen zu können. Wir schlagen vor, das Geld durch eine
+innere Anleihe aufzubringen, die rasch zu amortisieren wäre. Diese
+Anleihe müßte natürlich eine innere sein, um ausländischem Kapital
+keinen Einfluß zu geben ...«
+
+Die Tür knarrte leise; aller Augen wandten sich ihr zu, und Jakob
+Silberland brach ab. Mit schleppenden Schritten kam Melchior herein und
+blieb verlegen stehen. Da sich aber alle Anwesenden Mühe gaben, ihn so
+unbefangen wie möglich zu behandeln, atmete er schnell auf und nahm
+seinen früheren Platz wieder ein. Jakob Silberland räusperte sich und
+wollte in seinem Vortrage fortfahren, konnte aber die Aufmerksamkeit
+nicht mehr sammeln. Paul Seebeck schlug deshalb vor, eine Viertelstunde
+lang zu pausieren. Da niemand widersprach, ließ er Tee und kleine
+Butterbrötchen, sowie auch einige Flaschen Wein kommen, was die Herren,
+auf- und abgehend, zu sich nahmen.
+
+Paul Seebeck trat zu Melchior heran:
+
+»Haben Sie jetzt ordentlich gegessen?« fragte er.
+
+»Ja, ja«, antwortete Melchior, zerstreut auf den Boden blickend. Dann
+schlug er die Augen auf:
+
+»Herr Seebeck«, sagte er, »Sie sind mir noch eine Antwort schuldig.«
+
+Paul Seebeck griff sich unwillkürlich an die Stirn; er verfolgte
+rückläufig die Vorgänge des Abends und kam damit auch auf Melchiors
+Frage.
+
+»Überlegen Sie sich, wie viel die Menschen vergessen müssen, ehe sie
+reif für eine neue Gemeinschaft werden; vergessen, was sie selbst, und
+das, was ihre Vorfahren gelernt haben: die Masseninstinkte. Um die zu
+bekämpfen und zu vergessen, genügt weder die Möglichkeit, noch der Wille
+zur Freiheit – zwei Voraussetzungen, die bei uns glücklicherweise
+gegeben sind – eine große Arbeit jedes einzelnen an sich und an der
+Gemeinschaft ist notwendig. Unterschätzen Sie unser Vorhaben nicht; es
+gilt nichts weniger, als einen neuen Typus Mensch heranzuziehen, einen
+Typus, der eine Gemeinschaft von Individualitäten bilden kann, ohne daß
+diese zu einer homogenen Masse wird.«
+
+»Sie gebrauchen dauernd das Wort: Typus im Sinne von Individuum. Ich
+finde das fast verdächtig.«
+
+»Ach Gott, was ist denn dabei verdächtig?« sagte Paul Seebeck
+gleichmütig. »Typus – Art – was Sie wollen. Sie wissen ja, was ich
+meine, da spielt der Ausdruck doch keine Rolle.«
+
+Melchior schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen zusammen:
+
+»Was Sie meinen, scheint an und für sich so klar zu sein, daß ein etwas
+schiefer Ausdruck keine Unklarheit hereinbringen kann. Ich kann aber
+doch nicht anders, als gerade hinter diesem schiefen Ausdruck ein
+Problem zu sehen, nämlich dieses: daß Sie gar nicht den freien Menschen
+an sich brauchen können und entsprechend heranziehen wollen, sondern nur
+einen ganz bestimmten Typus des freien Menschen.«
+
+Paul Seebeck hatte anfangs lächelnd zugehört, dann wurde er aber ganz
+ernst. Stehenbleibend, sagte er fast feierlich:
+
+»Es gibt keinen Staat und keine Gemeinschaft der Welt, wo der
+Verbrecher, der Kinderschänder Raum fände. Wohl aber läßt sich eine
+Gemeinschaft denken, die dem Verbrechen keinen Nährboden gibt. Was
+stellen Sie sich denn überhaupt unter dem »freien« Menschen vor? – Doch
+nicht den, der ungehindert absonderlichen Gelüsten folgen kann? Gerade
+der in irgend einer Weise perverse Mensch ist im höchsten Grade unfrei.
+Frei sein heißt: von seiner eigenen Vergangenheit frei sein, von
+Traditionen und Vorurteilen frei sein, heißt Rückkehr zu einer Norm, die
+es kaum noch gibt.
+
+In diesem Sinne haben Sie Recht: ich erkenne wirklich nur einen Typus
+des freien Menschen an; aber der ist sehr umfassend, nämlich alle
+einschließend, die in irgend einer Weise für die Gemeinschaft im höheren
+Sinne brauchbar, oder was dasselbe ist, notwendig sind.«
+
+»Ja, ja«, sagte Melchior nachdenklich. »Ich glaube schon, daß ich Ihnen
+zustimmen werde, wenn ich in Ruhe alles richtig bedacht habe.«
+
+Paul Seebeck sah ihm gerade ins Gesicht:
+
+»Beantworten Sie mir bitte eine Frage: weshalb kommen Sie überhaupt zu
+uns? Ich sehe, daß Sie ernst arbeiten und daß Sie aufrichtig sind, uns
+also willkommen sein müssen – aber was wollen Sie von uns?«
+
+Melchior sah mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin:
+
+»Ich muß aus zwei Gründen zu Ihnen. Erstens glaube ich bei Ihnen alle
+sozialen und sozial-psychologischen Phänomene im status nascendi, also
+in reinster und dabei konzentriertester Form zu finden. Also aus
+wissenschaftlichem Interesse. Dann glaube ich dort einmal ein
+Arbeitsfeld zu haben, wo die praktische Arbeit nicht vergeudete Zeit
+bedeutet.«
+
+»Sie werden kein angenehmer Mitarbeiter sein, aber ein wertvoller.« Und
+er drückte Melchiors heiße Hand.
+
+Hinter ihnen erklang ein leises Klirren. Sie wandten sich um und sahen,
+daß Jakob Silberland an sein Glas schlug, augenscheinlich in der
+Absicht, eine Rede zu halten. Er trippelte nervös auf seinen kurzen
+Beinchen hin und her und fuhr sich mehrmals mit der Hand durch sein
+langes, schwarzes Haar. Die anderen Herren saßen um den Tisch herum mit
+aufmerksamen und vielleicht etwas verlegenen Gesichtern. Paul Seebeck
+und Melchior blieben im Hintergrunde stehen.
+
+Melchior sah mit einem Blicke, der fast ein Werben um Liebe enthielt, zu
+Paul Seebeck auf und flüsterte ihm zu, wobei er errötete:
+
+»Sie müssen mir helfen, dann werde ich finden, was ich suche – dort auf
+Ihrer Insel werde ich das Geheimnis der Menschheit finden.«
+
+Paul Seebeck nickte ihm freundlich zu. Er konnte ihm nicht mehr
+antworten, denn Jakob Silberland begann:
+
+»Darf ich einige Worte sagen? Ich will nicht schwulstig sein, obwohl ich
+mich beherrschen muß, es nicht zu werden. Aber ohne jede Übertreibung
+kann man wohl sagen, daß von diesem Tage an eine neue Periode der
+Menschheitsgeschichte ansetzt. Unser Anfang ist bescheiden, aber unsere
+Bestrebungen werden Früchte tragen, deren Größe wir heute noch gar nicht
+übersehen können. Statt grotesker Verzerrungen den wirklichen Staat, die
+wirkliche Gemeinschaft von Menschen.«
+
+»Gegründet auf die menschliche Vernunft«, unterbrach Nechlidow, von
+seinem Stuhle aufspringend, den Redner. »Weg mit den Sentimentalitäten,
+die nur Ausbeutung, Schwäche und Dummheit verschleiern sollen. Laßt uns
+die neue Menschheit auf die Vernunft aufbauen. Vernunft allein kann den
+Menschen weiterbringen. Gefühle erniedrigen ihn zum Tiere. Aber streng
+und ehrlich müssen wir sein.«
+
+Otto Meyer hatte mit einem spöttischen Lächeln den beiden zugehört;
+jetzt aber wurde sein Gesicht ganz ernst. Er machte eine Bewegung, als
+ob er aufstehen wollte, besann sich dann aber wieder. Herr von Rochow
+hatte wohl zu viel Wein getrunken, denn sein Lächeln wurde blöder und
+blöder, und seine treuherzigen, blauen Augen verschwammen immer mehr.
+Edgar Allan hörte nur halb zu; mit einem Bleistiftstumpfe entwarf er auf
+dem weißen Tischtuche Hütten und Häuser in einem Stile, der in
+merkwürdiger Weise eine stark betonte Horizontale mit flachen
+Bogenlinien verknüpfte.
+
+Jetzt trat Paul Seebeck mit einigen raschen Schritten an den Tisch und
+sagte:
+
+»Meine Freunde! Heute Abend ist es zu spät, um noch alle die
+Einzelheiten zu erörtern, die ich gern besprochen hätte. Aber dazu haben
+wir ja die vielen Wochen auf dem Schiffe.
+
+Nur eins: das ist jetzt der Abschied vom behaglichen Leben, von
+Großstadttrubel und den Vergnügungen. Jetzt beginnt für uns die Arbeit.
+Es liegt nur an uns, diese Arbeit so anzufassen, daß sie für Andere und
+uns selbst größeres gestaltet, als sonst je möglich wäre. Eine schwere
+Zukunft liegt vor uns, aber eine große.«
+
+
+
+
+Die Sachverständigen waren nach Sidney zurückgekehrt. Alles war geprüft
+worden: der mutmaßliche Ertrag der anzulegenden Schildkrötenkultur, der
+Fischreichtum des Meeres, die Brauchbarkeit der Steine zum Hausbau, das
+Wasser, die auf der Insel vorkommenden Minerale – und jetzt saß Jakob
+Silberland den ganzen Tag in seinem Zelte an einem Holztische und
+rechnete, wobei er unausgesetzt die kurzen Beinchen bewegte und sich
+nicht selten mit den Händen durch das schwarze, strähnige Haar fuhr. Die
+andern sechs aber arbeiteten draußen in der glühenden Sonne, um erst am
+Abend zu den Zelten zurückzukehren. In den Stunden, wo sie dann am
+Strande lagen und auf das Meer hinaussahen, war manch ein gewichtiges
+Wort gefallen.
+
+Jakob Silberland hatte viel zu tun: die gesamte Korrespondenz lag in
+seinen Händen, ebenso die Buchführung und die Verwaltung der Gelder. Er
+hatte die wöchentliche Verbindung mit Sidney durch einen kleineren
+Dampfer der »Australisch-Neu-Seeländischen Transport-Gesellschaft«
+zustande gebracht, und jetzt galt es für ihn, auf eine geraume Zeit
+hinaus den Bedarf an Geräten, Baumaterial und anderen Dingen
+vorauszusehen und geschickt auf die einzelnen Wochen zu verteilen, damit
+der Verkehr sich für die Gesellschaft lohnte.
+
+Von diesen schwierigen Berechnungen bereitete die schwerste und
+verantwortungsvollste Arbeit – die Verwaltung der Gelder – Jakob
+Silberland den geringsten Kummer. Es war beschlossen worden, eine in
+fünfzehn Jahren zu amortisierende, dreiprozentige innere Anleihe in der
+Höhe von einer Million Mark aufzunehmen. In fünf Jahren hofften sie, mit
+dem größten Teile der Bauten und Anlagen fertig zu sein und wollten dann
+die Anleihe jährlich mit hunderttausend Mark amortisieren. Besondere
+Bestimmungen verhinderten den Handel mit diesen Papieren, um keinem
+Außenstehenden auch nur den geringsten Einfluß zu erlauben. Herr von
+Rochow und Paul Seebeck hatten ihr ganzes Vermögen – eine halbe Million
+und zweihundertfünfzigtausend Mark – in diesen Papieren angelegt, Otto
+Meyer konnte fünfzigtausend beisteuern, und Edgar Allan zwanzigtausend.
+– Jakob Silberland, Nechlidow und Melchior besaßen nichts, konnten also
+auch nicht die fehlenden hundertachtzigtausend aufbringen, etwas, was
+Jakob Silberland in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer sehr
+bedauerte. Bis jetzt war nämlich das Kapital nur in ganz geringem
+Umfange angegriffen, und der weitaus größte Teil des Geldes lag mit
+sechsmonatlicher Kündigung in der Filiale der »Deutschen Bank« zu
+Sidney, wo es viereinhalbes Prozent trug; die Anleihe konnte also auch,
+solange sie nicht verbraucht war, als eine werbende betrachtet werden,
+die anderthalb Prozent Überschuß im Jahre erbrachte.
+
+Aber Jakob Silberland war praktisch und fand einen Weg, um die
+Unterbringung der restlichen hundertachtzigtausend Mark der Anleihe zu
+erzwingen. Es war nämlich festgesetzt worden, daß alle Staatsarbeiter –
+und das waren ja vorläufig alle sieben Gründer – ein jährliches Gehalt
+von fünftausend Mark beziehen sollten. Die spätere, erweiterte
+Gemeinschaft mochte diese Bestimmung bestätigen, abändern oder umstoßen;
+sie galt vorläufig nur für das erste Jahr.
+
+Da jetzt von getrenntem Haushalt noch keine Rede sein konnte, wurden die
+Notdürfte des Lebens gemeinsam bezogen und entsprechend vom Gehalte
+abgezogen. Der Rest sollte bar ausgezahlt werden. Jakob Silberland
+setzte aber durch, daß nur die Hälfte dieses Geldes bar ausgezahlt
+wurde, die andere Hälfte aber in jenen Anleihepapieren, von denen zu
+diesem Zwecke die in Frage stehenden hundertundachtzigtausend Mark in
+Scheinen von je hundert Mark ausgegeben wurden. Sogar gegen den
+Zinsverlust in der Zeit vor Unterbringung der ganzen Summe verstand
+Jakob Silberland die Staatskasse zu schützen, indem er diese Papiere
+nicht zum Nominalwert, sondern mit einem jährlichen Aufschlage von
+anderthalb Prozent ausgab.
+
+Inzwischen arbeiteten die anderen in der heißen Sonne. Ihre erste Sorge
+galt der Zuführung von Trinkwasser, dessen tägliche Herstellung im
+Destillationsapparate zu langwierig war. Man verzichtete vorläufig auf
+die Herstellung einer wirklichen, unterirdischen Wasserleitung, begnügte
+sich vielmehr damit, den kleinen Bach durch Spalten und Rinnen in die
+Bucht zu leiten, wobei zwar ziemlich viele Sprengungen, aber nur wenig
+Mauerungsarbeiten notwendig waren. In den folgenden Wochen arbeitete
+Edgar Allan an dem Stadtplane, während die anderen fünf kleinere, aber
+notwendige Arbeiten ausführten. Es war beschlossen worden, sofort nach
+der Fertigstellung von Allans Plänen an den Häuserbau zu gehen, und zwar
+sollten die Häuser in der Reihenfolge gebaut werden, in der die Gründer
+sich endgiltig zur Übersiedelung auf die Insel bereit erklärt hatten.
+
+
+
+
+Die Sonne war untergegangen, und schon wenige Minuten später umhüllte
+tiefe Nacht die Insel. Nur wenn eine Welle sich am Strande brach,
+leuchtete für eine Sekunde grünlich-weiß der Gischt auf.
+
+Die Sieben lagen, des starken Nachttaues wegen in leichte Decken
+gehüllt, schweigend um das Feuer, das sie der Stimmung wegen entzündet
+hatten, und sahen zum strahlenden Sternenhimmel empor.
+
+Keiner sprach ein Wort.
+
+Viertelstunde auf Viertelstunde verrann; unbeweglich lagen die Männer
+da, nur ihre Gedanken arbeiteten bei dem ewigen Rhythmus des
+Wellenschlages.
+
+Endlich setzte Melchior sich auf. Mit zusammengezogenen Brauen starrte
+er vor sich hin, und das leise flackernde Feuer ließ seine scharfen Züge
+unheimlich erscheinen. Nach einer Weile hob er den Kopf und sagte zu
+Paul Seebeck:
+
+»Herr Seebeck, darf ich auf jenes Gespräch zurückkommen, das wir vor
+mehreren Monaten in Berlin führten?«
+
+Seebeck drehte sich halb herum und sah ihn fragend an. Seine Rechte
+spielte mit einigen Kieseln.
+
+Melchior sagte:
+
+»Unser Gespräch fing so an: ich fragte Sie, weshalb man nicht die
+Menschen ohne weiteres hier hersetzen könnte, damit sich die langsam
+entstehende Gemeinschaft selbst jenen absoluten Staat aufbaue, den wir
+hier künstlich schaffen wollen. Sie antworteten, daß die Menschen so
+vieles zu vergessen hätten, bevor sie reif würden, Sie gebrauchten das
+Wort Masseninstinkte – erinnern Sie sich noch?«
+
+Paul Seebeck nickte. Nechlidow, der an der anderen Seite des Feuers lag,
+war aufgestanden und hatte sich dicht neben Melchior gesetzt. Dieser
+fuhr fort:
+
+»Ich habe darüber nachgedacht und habe zunächst folgende Formel
+gefunden: Sie wollen die tierischen Masseninstinkte durch das
+menschliche Massenbewußtsein ersetzen.«
+
+Paul Seebeck nickte und hörte auf, mit den Steinchen zu spielen.
+Nechlidow beugte sich mit offenem Munde und glänzenden Augen weit
+vornüber. Edgar Allan aber sagte gleichmütig im Hintergrunde:
+
+»Glauben Sie denn wirklich, daß das geht? Wir, die etwas besonderes zu
+sagen haben, haben die Pflicht, uns die besten Bedingungen zu schaffen,
+um das Betreffende zu sagen und können dann mit gutem Gewissen abtreten.
+Denn wir erleben doch nicht, daß die Masse uns versteht; in manchen
+Fällen geschieht es später – meistens wohl überhaupt nicht. Aber wir
+haben die Pflicht, das zu geben, was wir geben können, gleichgiltig, ob
+es genommen wird oder nicht. Auf die Masse warten können wir aber nicht.
+Dazu ist unsere Zeit zu kostbar. Wir müssen es ihr anheimstellen, ob sie
+uns nachhumpeln will oder nicht. Die Geschichte machen wir und nicht die
+Masse.«
+
+Verlegenes Schweigen folgte diesen Worten. Seebeck griff wieder nach
+seinen Steinchen. Jakob Silberland sagte:
+
+»Nein, Herr Allan, Sie begehen den Fehler, überhaupt einen Unterschied
+zwischen Führern und Masse zu konstruieren. Das geht nicht. Ich will
+damit nicht nur sagen, daß es sich hier nur um graduelle, niemals
+prinzipielle Unterschiede handeln kann, da es so unzählige Gebiete gibt,
+auf denen irgend jemand führt; soziale, politische, religiöse,
+literarische, vegetarische, alkoholgegnerische und weiß Gott noch was
+für Führer gehören auf jedem anderen Gebiete wieder zu der geführten
+Masse; es handelt sich also immer nur um eine partielle, niemals um eine
+absolute Führerstellung, und erst die Resultante aller dieser großen
+und kleinen Bewegungen stellt die Geschichte der Menschheit dar,
+sondern –«
+
+Er stand auf und hob dozierend einen Finger:
+
+»Daß die Mitglieder eines heutigen Staates vollständig, die Mitglieder
+der ganzen Menschheit zum großen Teile, dasselbe sind, was die einzelnen
+Teile eines Korallenriffs, die einzelnen Zellen im menschlichen Körper
+sind: Glieder eines größeren Individuums, die durch die Arbeitsteilung
+und die darin liegende Verzichtleistung auf universelle Tätigkeit, als
+Ganzes mehr zu vollbringen vermögen, als das Einzelwesen kann. Kurz und
+gut, wir leben eigentlich schon im sozialistischen Zukunftsstaate, nur
+daß die Staatsformen, der äußere Ausdruck der inneren Organisation,
+immer um einige hundert Jahre zurück sind, ebenso wie der jeweilige
+Stand der Orthographie immer die gesprochene Sprache vor einigen hundert
+Jahren darstellt. Alles Unglück kommt aus dieser Inkongruenz von Form
+und Inhalt – und die wollen wir ja hier abschaffen, indem wir die
+Staatsform einige hundert Jahre Entwicklung überspringen lassen und sie
+genau dem gegenwärtigen Stande der menschlichen Organisation anpassen.«
+
+»Sind die Staatsformen wirklich im Rückstande?« mischte sich Herr von
+Rochow ins Gespräch. »Ich möchte lieber sagen, daß sie eine viel
+vorgeschrittenere, gleichsam idealisierte Menschheit voraussetzen.
+Denken Sie doch an das Institut der Ehe, das die Monogamie voraussetzt,
+die es doch praktisch so gut wie gar nicht gibt.«
+
+Jetzt sprang Melchior auf und streckte flehend die Arme aus. Er rief:
+»Nicht mehr, ich flehe Sie an, heute Abend nicht mehr! Ich sehe jetzt,
+wo das Problem liegt – lassen Sie mir nur etwas Zeit!«
+
+Verwundert und ein wenig gekränkt sahen die anderen ihn an. Seine
+Erregung war aber so echt, seine Stimme so flehend, dabei seine magere
+Gestalt im Feuerscheine so grotesk, daß sich der Ärger bald in Achtung
+und Mitleid verwandelte. Doch hätte die Situation peinlich werden
+können, hätte Otto Meyer sie nicht aufgelöst. Er sagte nämlich
+gemütlich:
+
+»Ja, Kinder, was strengt ihr euch unnötig an, wenn Herr Melchior so
+liebenswürdig ist, alle Denkarbeit für uns zu übernehmen, und für die
+endgiltige Lösung aller Weltprobleme garantiert.«
+
+Alle lachten; nur Melchior hatte nichts gehört. Mit gekrümmtem Rücken
+saß er da und starrte vor sich hin.
+
+Nach einer kleinen Pause sagte Edgar Allan:
+
+»Wir wollen also von der Theorie auf die Praxis übergehen. Ich bin
+nämlich heute mit meinem Stadtplan fertig geworden. Wir können morgen
+vielleicht einen kleinen Rundgang durchs Gelände machen, und ich kann
+Ihnen dann genau erklären, wie ich alles meine. Ich habe natürlich
+versucht, die Natur so genau wie möglich zu verstehen und sie ihrer
+eigenen Struktur entsprechend auszubauen. Die Stadt soll sich der
+Bildung der Felsen eng anschließen; sie darf ja kein Fremdkörper auf der
+Insel sein, sondern ein organischer Teil von ihr, ihre Blüte. Na, das
+sind ja Gemeinplätze«, sagte er aufstehend, »aber ich habe auch einige
+gute Ideen gehabt. In der Sohle unserer Mulde möchte ich die Hauptstraße
+haben, die alle Terrassen verbindet und dann vielleicht später weiter
+auf das Hochland geführt wird. Die achte große Terrasse – Sie wissen,
+die breite, hinter der die Steigung so viel steiler wird, so daß die
+Straße dort in starken Serpentinen weitergeführt werden müßte – möchte
+ich den öffentlichen Gebäuden vorbehalten, einem Volkshause für
+Versammlungen und ähnlichen Dingen.
+
+Am Strande, in der Richtung auf die Irenenbucht zu, könnte eine
+einreihige Straße von Fischerhäuschen liegen; dort rechts, wo die Wand
+ziemlich steil ist, wäre nur Platz für einige, wenige Häuser. Das ist
+eine ganz ideale Stelle für Sonderlinge, die von dort aus höhnisch auf
+die Stadt hinabsehen wollen. Auf solche Käuze müssen wir ja auch
+vorbereitet sein. Vielleicht beschließt sogar einer von uns sein Leben
+dort.«
+
+»Aber jetzt will ich Ihnen meine Hauptgedanken sagen, meine Herren«,
+fuhr er lebhaft fort. »Sehen Sie, der Bach wird auf absehbare Zeit
+hinaus für die Wasserzufuhr völlig ausreichen. Wir müssen aber den
+ganzen Fluß herunter bringen, denn dann können wir hier im Laufe einiger
+Jahre eine Vegetation schaffen, wozu die Natur viele hundert Jahre
+brauchen würde. Und das Überspringen von Zeiträumen ist ja unsere
+Hauptbeschäftigung hier. Die Sache läßt sich ausgezeichnet machen. Ich
+habe alles ganz genau geprüft. Der Fluß muß zunächst in das tiefe Becken
+geleitet werden, das auch sicher früher einen See beherbergt hat – falls
+Seebecks Theorie richtig ist, daß die Insel nur vorübergehend unter das
+Meer gesunken ist. Ebenso sicher ist natürlich auch diese Mulde das
+frühere Flußtal.
+
+Der Wall, der das Becken gegen unser Tal abschließt, ist durchgängig
+höher, als der zum Meere. Besser könnte die Sache überhaupt nicht
+liegen, denn so hat das Staubecken ein natürliches Sicherheitsventil.
+Wir brauchen niemals eine Überschwemmung der Stadt zu befürchten, denn
+das überschüssige Wasser wird immer gleich ins Meer stürzen. Wir müssen
+nur ziemlich tief im Becken eine große Röhre anbringen, die den Wall in
+der Richtung auf die Stadt zu durchbohrt. Dann haben wir, unabhängig von
+dem jeweiligen Wasserstande des Staubeckens, einen gleichmäßigen
+Wasserstrom.
+
+Oben, bei der Terrasse, die ich für die öffentlichen Gebäude reservieren
+will, soll sich der Fluß dann teilen. Der Hauptarm soll der Hauptstraße
+folgen; ich will aber unzählige, kleine Bäche von ihm ableiten, so daß
+fast jedes Haus an fließendem Wasser liegt. – Natürlich wird das
+Trinkwasser davon unabhängig in geschlossenen Röhren geleitet. – So gut
+wie alle Häuser werden ja auf kleinere oder größere Terrassen zu liegen
+kommen, also auf wagerechten Grund. Mit Hilfe des Wassers können wir
+nicht nur öffentliche Anlagen schaffen, sondern jedes Haus kann seinen
+Garten haben. Ich denke dabei nicht nur an die Schönheit, sondern
+besonders an die Regulierung der Atmosphäre.
+
+Wenn wir auf Kloaken verzichten und alle Abfälle den Gärten zugute
+kommen lassen, haben wir schon etwas; aber das genügt vorläufig nicht.
+Wir müssen vielmehr einen ganz energischen Anfang machen. Ich schlage
+einfach vor, irgend eine recht schwere, fruchtbare Lehmerde aus
+Australien hierher transportieren zu lassen und damit die Gartenflächen
+etwa einen Meter hoch zu bedecken. Wenn wir uns dann Bäume mit recht
+starken, tiefgehenden Wurzeln pflanzen, werden die dann schon eine
+allmähliche Lockerung des Bodens besorgen. Es gibt ja Bäume, die
+eigentlich nur einen Halt in einer dünnen Humusschicht brauchen, und
+ihre Kraft aus dem Felsen selbst ziehen: manche Nadelhölzer, auch
+Birkenarten. Das alles müßte natürlich mit einem großzügigen Gärtner
+besprochen werden.
+
+Meine Skizzen zu den Häusern selbst werde ich Ihnen morgen zeigen. Ich
+glaube, jetzt den richtigen Stil gefunden zu haben. Ich habe eine stark
+betonte Horizontale mit flachen Kurven verschmolzen – na ja, das alles
+morgen.
+
+Aber jetzt möchte ich noch etwas sagen: es ist ein schöner Gedanke, hier
+alles aus eigenen Kräften auszuführen; aber eigentlich ist es doch nur
+eine unpraktische Sentimentalität. Wir verschwenden Zeit und Kraft auf
+Dinge, die jeder Kuli machen könnte. Sollten wir nicht lieber einige
+hundert Arbeiter aus Sidney kommen lassen, um diese rein körperlichen
+Arbeiten für uns auszuführen? Dann kämen wir doch viel schneller
+vorwärts. Es ist nur ein Vorschlag –«
+
+Nechlidow sprang auf:
+
+»Nein, nein«, rief er. »Keine Kompromisse! Damit finge die Lüge an, die
+alles durchsetzen würde. Wir müssen unseren Prinzipien treu bleiben.
+Solche scheinbar – und nur scheinbar – praktische Erwägungen haben die
+große Unwahrheit in die Welt hineingebracht. Wenn unser Leben hier einen
+Zweck hat, so ist es der, zu beweisen, daß das strenge Festhalten am
+großen Gedanken, am Menschheitsgedanken auch praktisch am weitesten
+führt.«
+
+»Ich erlaubte mir nur einen Vorschlag«, antwortete Edgar Allan höflich.
+»Da er auf Widerspruch stößt, ziehe ich ihn hiermit zurück.«
+
+Das Feuer war bei Allans Rede langsam zusammengesintert; jetzt war es
+nahe am Verlöschen, aber niemand dachte daran, es wieder anzufachen. In
+ihre Decken gehüllt, lagen die Sieben schweigend da und sahen zum
+glänzenden Sternenhimmel empor.
+
+
+
+
+Als der Tag sich jährte, an dem die sieben Gründer die Insel betreten
+hatten, lag die »Prinzessin Irene« in vollem Flaggenschmuck vor der
+Bucht. Als die Hochflut kam und die Klippen bedeckte, schleppten die
+beiden zierlichen Dampfbarkassen schwere Boote mit Menschen und
+Hausgerät ans Land. Auf der improvisierten Landungsbrücke standen Paul
+Seebeck und Melchior und begrüßten die Ankömmlinge, während die anderen
+Fünf eifrig damit beschäftigt waren, ihnen Unterkunft in den großen
+Schuppen und Zelten zu bereiten, die zu diesem Zwecke errichtet waren.
+Denn die Häuser mußten ja erst gebaut werden und zwar in derselben
+Reihenfolge, in der die endgiltigen Erklärungen eingelaufen waren.
+
+Dreihundertfünfzig erwachsene Personen trafen an diesem Tage ein:
+tüchtige Handwerker mit gesetzten Gesichtern, Kaufleute, die aus irgend
+einem Grunde nicht vorwärts gekommen waren und nicht wenige
+unbestimmbaren oder unsicheren Berufes, die erst hier ihr wirkliches
+Vaterland wußten. –
+
+Es ergab sich von selbst, daß die sieben Gründer nicht mehr wie früher
+selbst Hand an alle Arbeit legen konnten: Organisation und Leitung nahm
+ihre Zeit und ihre Kräfte völlig in Anspruch. Hauptmann a. D. von Rochow
+übernahm die Leitung beim Bau der Straße und der öffentlichen Anlagen;
+Edgar Allan hatte Tag und Nacht als Architekt zu tun; Otto Meyer hatte
+einen Teil von Jakob Silberlands Tätigkeit übernommen, der nur noch die
+Rechnungssachen versah, und Paul Seebeck hatte mit der Oberleitung und
+persönlicher Inanspruchnahme durch die Kolonisten mehr als genug zu tun.
+Nechlidow und Melchior wären den andern als Assistenten willkommen
+gewesen; beide erklärten aber ein für allemal, daß sie einfache Arbeiter
+bleiben wollten.
+
+Bei der fieberhaften Tätigkeit entstand schnell Haus auf Haus, und froh
+vertauschte man Schuppen oder Zelt mit dem festen Dache. Damit wurden
+auch immer mehr Kräfte frei, so daß in immer größerem Maßstabe an den
+Straßen und den öffentlichen Gebäuden gearbeitet werden konnte. Die
+Wasseranlage wurde nach Edgar Allans Plänen durchgeführt, und die
+Dampfer der »Australisch-Neu-Seeländischen Transportgesellschaft« mußten
+halbwöchentlich verkehren und konnten doch kaum die Masse des benötigten
+Materials bewältigen.
+
+Jedesmal, wenn die »Prinzessin Irene« vor der Bucht hielt, brachten
+ihre Boote Dutzende von neuen Ansiedlern auf die Insel.
+
+Als das Jahr verflossen war, stand die Stadt da.
+
+
+
+
+Auf den amphitheatralisch ansteigenden Bänken in der großen,
+flachgewölbten Halle des Volkshauses saßen dreihundertfünfzig Männer und
+Frauen und hinter ihnen drängten sich wohl zweihundert auf den Tribünen.
+An einem langen Tische auf einem kleinen Podium im Brennpunkte des
+Kreisbogens saßen die sieben Gründer.
+
+Nicht zum ersten Male waren die Glieder der Gemeinschaft hier
+versammelt; aber doch zeigten alle Gesichter einen seltsamen Glanz. Vor
+zwei Jahren hatten an diesem Tage die sieben Gründer die Insel betreten,
+und heute waren dreihundertfünfzig Männer und Frauen vollberechtigte
+Bürger geworden. Sie waren heute hier versammelt, um zum ersten Male
+ihre Rechte auszuüben.
+
+Paul Seebeck erhob sich von seinem Stuhle, und sofort trat atemlose
+Stille ein. Er richtete sich hoch auf, warf einen langen Blick über die
+Versammlung und lächelte glücklich. Dann sagte er:
+
+»Meine Damen und Herren!
+
+Im Namen meiner Freunde heiße ich Sie hier willkommen! In der
+gemeinsamen Arbeit dieses Jahres haben wir Werte geschaffen, die uns
+und unsere Enkel überdauern werden. Wir danken Ihnen für Ihre treue
+Mitarbeit.
+
+Bis jetzt sind wir sieben Ihre Führer gewesen, nicht aus Hochmut oder
+Herrschsucht, sondern nur, weil wir anfangs eine größere Sachkenntnis
+hatten.
+
+Jetzt legen wir unsere Mandate in Ihre Hände. Sie mögen prüfen, was Sie
+von den Bestimmungen, die wir getroffen haben, beibehalten wollen und
+was nicht. Vorbehaltlos übergeben wir Ihnen unsere Rechte und Pflichten.
+
+Bevor wir in die Verhandlungen eintreten, müssen wir einen Vorsitzenden
+haben. Als den in solchen Dingen gewandtesten erlaube ich mir, Herrn Dr.
+Silberland vorzuschlagen. Es wird kein anderer Vorschlag laut – also
+bitte ich Herrn Dr. Silberland, den Vorsitz dieser Versammlung zu
+übernehmen.«
+
+Ein erstauntes und verschwommenes Gemurmel wurde laut, als die sechs vom
+Podium herunterschritten und auf der vordersten Bank Platz nahmen.
+
+Jakob Silberland war der Situation durchaus gewachsen; er gab ein kurzes
+Glockenzeichen und sagte:
+
+»Sie werden mir ein Wort des Dankes an Herrn Seebeck erlauben. Ich weiß,
+daß ich im Sinne der ganzen Versammlung spreche, wenn ich sage: in
+diesem Augenblicke, wo Herr Seebeck aufgehört hat, unser offizieller
+Führer zu sein, wollen wir ihm versichern, daß er immer und ewig unser
+geistiger Führer bleiben wird. Denn wir wissen alles, was wir ihm
+schulden: seine Initiative, seine Energie, sein praktischer Blick, sein
+Glaube an den Menschen haben die Errichtung des stolzen Werkes
+ermöglicht, das wir hier vor uns sehen. Und wenn wir alle längst im
+Grabe liegen, wird der Name Paul Seebeck für immer mit goldenen
+Buchstaben im Buche der Menschheit stehen.«
+
+Zögernd hatten sich die Versammelten erhoben; Paul Seebeck war sitzen
+geblieben und starrte in tötlicher Verlegenheit vor sich hin. Jakob
+Silberland sah einen Augenblick lang auf die stehende Versammlung und
+wußte augenscheinlich nicht recht, was er mit ihr anfangen sollte.
+Hilfesuchend sah er Otto Meyer an, der nur mit größter Mühe ein Lachen
+herunterschluckte. Herrn von Rochows Gesicht strahlte. Er ging zu Paul
+Seebeck und drückte ihm die Hand.
+
+Plötzlich bekam Jakob Silberland einen rettenden Gedanken; er griff zur
+Glocke, läutete kurz und sagte, während die Versammlung sich
+geräuschvoll wieder setzte:
+
+»Ich ersuche jetzt Herrn Seebeck als ersten, einen Überblick über die
+verflossenen zwei Jahre zu geben.«
+
+Paul Seebeck trat mit einigen schnellen Schritten auf das Podium und
+sagte:
+
+»Was hier geschehen ist und was wir hier wollen, wissen Sie ja alle, und
+ich brauche nicht mit feierlichen Worten darauf einzugehen. Was ich
+getan habe, glaube ich verantworten zu können.
+
+Nur auf einen Punkt möchte ich hinweisen: ich bin, wie Sie ja alle
+wissen, Reichskommissar mit den Rechten und Pflichten eines solchen. Ich
+habe aber vom Reichskolonialamt die Ermächtigung erwirkt, mein Amt einem
+andern, das heißt, meinem jetzt zu wählenden Nachfolger zu übertragen.
+Sobald die Wahl vor sich gegangen ist, werde ich es tun. Ich deponiere
+hier beim Vorsitzenden der Versammlung eine unterzeichnete und datierte
+offizielle Benachrichtigung an das Reichskolonialamt, wo nur noch der
+Name des neuen Reichskommissars auszufüllen ist.«
+
+Er verbeugte sich kurz und ging zu seinem Platze zurück.
+
+Jakob Silberland gab ein Glockenzeichen und sagte:
+
+»Da ich jetzt selbst das Wort ergreifen möchte, um über die Verwaltung
+der öffentlichen Gelder Rechenschaft abzulegen, bitte ich um Erlaubnis,
+den Vorsitz so lange an Herrn Referendar Meyer abzutreten. – Da kein
+Widerspruch erfolgt, tue ich es hiermit. – Herr Referendar, darf ich
+bitten.«
+
+Otto Meyer schritt gravitätisch auf das Podium und flüsterte Jakob
+Silberland zu:
+
+»Na, Sie werden staunen: zunächst werde ich mal die ganze Zeit durch
+bimmeln, dann kriegen Sie drei Ordnungsrufe, und ich fordere Sie auf,
+den Saal zu verlassen.«
+
+Jakob Silberland sah ihm erschreckt ins Gesicht:
+
+»Um Gotteswillen –«
+
+Er kam nicht weiter, denn Otto Meyer läutete und sagte:
+
+»Herr Dr. Jakob Silberland hat das Wort.«
+
+Jakob Silberland suchte stehend allerhand Papiere zusammen, die auf dem
+Tische lagen und sagte:
+
+»Ich kann jetzt natürlich nur in großen Zügen ein Bild von der
+finanziellen Lage geben; ich werde Sie später bitten, eine Kommission zu
+wählen, um meine Bücher in allen Einzelheiten nachzuprüfen.
+
+Wir sind, wie Sie wissen, mit einer dreiprozentigen inneren Anleihe in
+der Höhe von einer Million Mark belastet. Dieses Geld hat uns, solange
+es noch teilweise auf der Bank lag, einen Zinsenüberschuß von
+zehntausendachthundertdreiundfünfzig Mark und einundsiebzig Pfennigen
+gebracht.
+
+Wir haben zweihundertachtunddreißig Schildkröten verkauft. Sie wissen
+ja, daß wir nach dem Urteile der Sachverständigen dazu gezwungen waren,
+da der Platz für die Tiere nicht ausreichte, und sie sonst einfach
+fortgewandert wären. Dafür haben wir die Summe von fünf Millionen,
+achthundertsechsundvierzigtausend siebenhundert und einundzwanzig Mark
+und elf Pfennigen eingenommen. Wir hatten also sechs Millionen
+achthundertsiebenundfünfzigtausend fünfhundertvierundsiebzig Mark
+zweiundachtzig Pfennig bares Geld zur Verfügung.
+
+Unsere Ausgaben waren folgende: Gehälter: abzüglich der Mietsbeträge
+eine Million siebenhundertachtunddreißigtausend fünfhunderteinundzwanzig
+Mark. Hausbau: drei Millionen achthundertsiebenundfünfzigtausend
+einhundertachtundsechzig Mark und zweiundvierzig Pfennige. Straßenbau,
+Anlage des Bewässerungssystems, Trinkwasserleitung, Hafenanlagen, Erde
+haben zusammen zwei Millionen, sechshunderttausend vierhundertachtundneunzig
+Mark sieben Pfennige gekostet. Verschiedenes kostete zusammen
+zweihundertachttausend neunhundertdreizehn Mark, neunundzwanzig
+Pfennige. Unsere gesamten Ausgaben betrugen also: acht Millionen,
+vierhundertfünftausend einhundert Mark und achtundsiebzig Pfennige. Wir
+schließen diese zweijährige Periode mit einem Defizit von anderthalb
+Millionen, siebenundvierzigtausend fünfhundertfünfundzwanzig Mark und
+sechsundneunzig Pfennigen ab.
+
+Hierzu ist zu bemerken, daß wir dieses Defizit ja jeden Tag aus der
+Irenenbucht decken können; vielleicht sind wir sogar gezwungen, noch
+hundert Schildkröten herauszunehmen, um einen geordneten Zuchtbetrieb
+möglich zu machen. Dann, daß wir in diesen zwei Jahren einen großen Teil
+der Stadtanlage ausgeführt haben, so daß wir in der Zukunft nur einen
+geringen Posten dafür aufzuwenden haben werden. Dann, daß das für den
+Hausbau aufgewendete Geld sich mit neun Prozent verzinst. Die jährliche
+Miete beträgt zwar zehn Prozent der Baukosten, doch stellen wir ein
+Prozent für einen Reparaturfond zurück. Trotz dieses Defizits ist unsere
+finanzielle Stellung also sehr günstig.«
+
+Jakob Silberland setzte sich, und Otto Meyer verließ das Podium. Im
+Hinunterschreiten flüsterte er Jakob Silberland zu:
+
+»Bis an mein Lebensende werde ich nicht begreifen, weshalb ich hier
+heraufkrabbeln mußte. Aber wundervoll war es da oben.«
+
+Jetzt erhielt Edgar Allan das Wort. Er kniff die Lippen zusammen und
+blickte über die Köpfe der Versammlung weg. Er sagte:
+
+»Was ich gemacht habe, kann jeder Mensch sehen; ich hoffe, den hier
+vorherrschenden Geschmack getroffen zu haben. Jedenfalls habe ich alles
+getan, was in meinen Kräften stand.«
+
+Jakob Silberland stand auf, gab wieder ein Glockenzeichen und sagte:
+
+»Wünscht jemand aus der Versammlung das Wort? – Nicht? – Dann können wir
+zur Wahl schreiten. Hierzu ist zu bemerken, daß sich bis jetzt die
+Notwendigkeit von fünf Ämtern ergeben hat und zwar der folgenden: eines
+Vorstehers der Gemeinschaft, eines Schriftführers, eines
+Geschäftsführers, eines Architekten und eines Leiters der öffentlichen
+Anlagen. Zunächst wäre die Frage zu entscheiden, ob diese Ämter in der
+bisherigen Form weiterbestehen sollen. Weiterhin kann ich mitteilen, daß
+die bisherigen Inhaber dieser Ämter die bisher geltenden Bestimmungen
+zusammengefaßt haben. Ihre Nachfolger hätten dazu Stellung zu nehmen und
+ihre eventuellen Änderungsvorschläge der Versammlung zu unterbreiten.
+Ich erlaube mir daher, folgende Geschäftsordnung vorzuschlagen: zunächst
+erfolgt die Feststellung der Ämter, dann die Wahlen zu ihnen. Die so
+gewählten neuen Beamten hätten Stellung zu den bisherigen Gesetzen zu
+nehmen und ihre eventuellen Änderungsvorschläge einer späteren
+Versammlung zur Beschlußfassung zu unterbreiten. Schlägt jemand eine
+andere Geschäftsordnung vor? – Nicht? – Dann schreiten wir zu Punkt
+eins: Debatte über die bisherigen Ämter. Wer wünscht das Wort hierzu?«
+
+Jetzt erhob sich endlich im Hintergrunde ein Mann und sagte grob:
+
+»Ich meine, daß alles gut war, wie es war, und daß dieselben Herren oben
+bleiben sollen, denn die verstehen es doch am besten.«
+
+Aller Augen hatten sich dem Redner zugewandt, der sich jetzt die Stirn
+eifrig mit einem roten Taschentuche rieb.
+
+Jakob Silberland mußte zweimal läuten, bis das beifällige Gemurmel
+verstummte; dann sagte er:
+
+»Der verehrte Herr Vorredner hat sich gleich zu den zwei ersten Punkten
+der Tagesordnung geäußert, und zwar schlägt er Beibehaltung der alten
+Ämter und Wiederwahl der bisherigen Beamten vor. Ist die Versammlung
+damit einverstanden, daß diese beiden Punkte gemeinsam behandelt
+werden?«
+
+Jetzt kam Leben in die Versammlung, und von allen Seiten ertönten
+Beifallsrufe und Zustimmungsäußerungen. Da richtete Jakob Silberland
+sich stolz auf und sagte:
+
+»Die ganz überwiegende Mehrheit wünscht die gemeinsame Behandlung beider
+Punkte. Ich stelle also den Vorschlag des Vorredners zur Abstimmung,
+die bisherigen Beamten zu ihren bisherigen Ämtern wieder zu wählen.«
+
+Jetzt wich die Schüchternheit von der Versammlung. Die Beifallsrufe
+bekamen einen fast animalischen Charakter. Es wurde geschrieen,
+geklatscht und getrampelt.
+
+Edgar Allan beugte sich zu Paul Seebeck und flüsterte ihm zu:
+
+»Sehen Sie, wie sie bei dem Gedanken aufleben, wieder unter die Peitsche
+zu kommen. Wie ein Alp hat die Vorstellung auf ihnen gelastet, daß sie
+frei wären.«
+
+Paul Seebeck seufzte und schwieg.
+
+Endlich war es Jakob Silberland gelungen, mit seiner Glocke den Lärm zu
+übertönen. Sein Gesicht strahlte vor Freude und Stolz.
+
+»Ich bitte diejenigen aufzustehen, die gegen den Vorschlag sind«, sagte
+er lächelnd. Und ebenfalls heiter lächelnd blieb die Versammlung sitzen.
+
+Auf einen Wink von Jakob Silberland kamen Paul Seebeck, Edgar Allan,
+Otto Meyer und Herr von Rochow wieder auf das Podium. Paul Seebeck
+begann mit niedergeschlagenen Augen zu sprechen:
+
+»Im Namen der anderen Herren danke ich Ihnen für Ihr Vertrauen. Die von
+dem Vorsitzenden vorgeschlagene und von Ihnen angenommene
+Geschäftsordnung bestimmt als nächsten Punkt die Vorlegung der bis
+jetzt bestehenden Gesetze samt unseren Vorschlägen. – Da wir der Lage
+der Dinge nach nicht nötig haben, uns mit dem fraglichen Materiale erst
+bekannt zu machen, können wir das jetzt gleich erledigen und brauchen
+keine spätere Versammlung dazu.«
+
+Jakob Silberland reichte ihm einige Papiere. Paul Seebeck blätterte
+etwas in ihnen und sah dann auf:
+
+»Ich will mir erlauben, das folgende Exposé vorzulesen, das wir sieben
+Gründer gemeinsam ausgearbeitet haben. Ich bitte, Änderungsvorschläge
+sofort vorzubringen, damit das, was unwidersprochen bleibt, als
+genehmigt angesehen werden kann. Ich möchte mir vorbehalten, in einigen
+Vorträgen oder in anderer Form die Gesetze vom rein-menschlichen
+Standpunkte aus zu erläutern – hier mögen sie rein praktisch angesehen
+werden.«
+
+Er schwieg einen Augenblick; dann hob er ein Blatt in die Höhe und las:
+
+»Die Gesetze der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel. – Erstens: Die
+Schildkröteninsel ist ein Teil des deutschen Kolonialbesitzes. Der
+jeweilige Vorsteher der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel ist in
+seiner Eigenschaft als Reichskommissar dem Staatssekretariat der
+Kolonien des Deutschen Reiches verantwortlich.
+
+»Es ist dies nur eine Formsache«, erläuterte er aufblickend, »unter der
+selbstverständlichen Voraussetzung, daß der jeweilige Reichskommissar
+nichts gegen die Interessen des deutschen Reiches unternimmt, hat er ja
+– vom Reiche aus – unbeschränkte Vollmacht.
+
+Zweitens: Nach einjährigem Aufenthalte erhält jeder Ansiedler und jede
+Ansiedlerin über einundzwanzig Jahre volles Bürgerrecht.
+
+Drittens: Die Versammlung aller Bürger erläßt alle Gesetze, besetzt
+Ämter, bestimmt Ausgaben und Einnahmen der Gemeinschaft; sie faßt alle
+Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit.
+
+Viertens: Der Gemeinschaft gehören folgende Dinge, die nie Privatbesitz
+werden können: der Grund und Boden mit Gebäuden, Gärten, Straßenanlagen,
+Wasser und Mineralien, dazu der Tierbestand der Irenenbucht. Häuser und
+Gärten, die dem Privatgebrauche bestimmt sind, werden verpachtet, wobei
+die jährliche Pacht zehn Prozent von den Bau- und Anlagekosten beträgt.
+Die Instandhaltung erfolgt auf Kosten der Gemeinschaft. Die Pacht ist
+unkündbar, solange der Pächter seinen Verpflichtungen nachkommt.
+
+Fünftens: Alle Beamten und Arbeiter der Gemeinschaft beziehen ein
+jährliches Gehalt von fünftausend Mark und werden auf mindestens ein
+Jahr angestellt.
+
+Sechstens: Schule, Krankenpflege, Alters- und
+Arbeitsunfähigkeitsunterstützung ist Sache der Gemeinschaft.
+
+Siebentens: Jeder Bürger hat das unbeschränkbare Recht der freien
+Meinungsäußerung. –
+
+Achtens –«
+
+Er hielt einen Augenblick inne und sah auf die Versammlung, die sich
+ganz still verhielt. Dann legte er die Papiere auf den Tisch und sagte:
+
+»Heute muß ein Schritt von großer Bedeutung unternommen werden. Bis
+jetzt sind wir alle Beamte gewesen; von heute ab ist es weder notwendig,
+noch wünschenswert. Wir brauchen vorläufig nur etwa ein Drittel der
+bisherigen Arbeitskräfte für den Dienst in der Gemeinschaft; die anderen
+zwei Drittel können sich jetzt freie Berufe ergreifen. Diejenigen, die
+auf ein weiteres Jahr im Dienste der Gemeinschaft stehen wollen, können
+sich später bei unserem Schriftführer, Herrn Otto Meyer, melden.«
+
+Er sah mit leuchtenden Augen geradeaus:
+
+»Ich bin kein Freund der Phrase. Aber ich darf wohl sagen, daß der
+heutige Tag in der Geschichte der Menschheit unvergeßlich bleiben kann.
+Helfen Sie mir dazu.«
+
+Und die Verhandlungen nahmen ihren Fortgang.
+
+
+
+
+Am Abend desselben Tages standen die sieben Gründer auf dem Balkon von
+Paul Seebecks Haus und sahen auf die Stadt hinunter. Wie leuchtende
+Perlenschnüre zogen sich die Reihen der Straßenlaternen durch das samtne
+Dunkel und zeigten hier deutlich, dort verschwommen die Silhouetten der
+Häuser. Und diese wiederum warfen aus ihren Fenstern einige scharfe und
+harte Lichtbündel in die Nacht.
+
+»Unsere Gründung«, sagte Herr von Rochow und bewegte wie segnend die
+Arme, »unser großes Kind, das wir geboren haben, und das so traut und
+doch wieder so fremd dort unter uns liegt. Ein eigener, lebendiger
+Körper.«
+
+»Und was sind wir in diesem Körper?« fragte Paul Seebeck, die Arme über
+der Brust verschränkt haltend.
+
+»Doch wohl das Gehirn«, sagte Nechlidow ruhig.
+
+»Und eben so fremd dem Körper, wie das Gehirn dem menschlichen Körper,
+der seine eigenen Wege geht, ohne sich um sein Gehirn zu kümmern«, fügte
+Edgar Allan hinzu.
+
+Melchior griff sich mit der Linken an die Stirn.
+
+»Der Körper lebt nach eigenen Gesetzen, kümmert sich nicht um das
+Gehirn, und die Menschheit ein Körper, ein lebendiger Körper, mit
+eigener Seele«, murmelte er. »Da liegt es ja!« schrie er auf.
+
+Otto Meyer schlug ihn begütigend auf die Schulter:
+
+»Nehmen Sie die Sache nur mit Ruhe. Sie brauchen die Welträtsel noch
+nicht heute abend zu lösen. Lassen Sie sich noch einige Tage Zeit. Die
+übrige Menschheit hat ja einige Tausend Jahre über sie nachgedacht, ohne
+sie zu lösen.«
+
+Melchior sah dem Spötter ins Gesicht. Am ganzen Leibe vor Erregung
+zitternd, sagte er:
+
+»Nicht die Welträtsel; aber das Problem des Menschen. Ich sehe jetzt, wo
+es liegt, sehe es klarer und klarer.«
+
+
+
+
+Gabriele, jetzt brauche ich Sie. Helfen Sie mir, die Menschen zur
+Freiheit zu erziehen. Sie wollen das Bewußtsein der Freiheit haben, aber
+wagen nicht, sie zu gebrauchen.
+
+Ich glaubte, die Elite der Menschen hier zu versammeln; ich sah die
+starken, freien Gesichter, die kühnen, rücksichtslosen Augen – und setzt
+man sie zusammen, wärmen sie sich wie eine Herde Schafe aneinander.
+
+Und wir sieben stehen draußen, unverstanden und unverstehend.
+
+Kommen Sie, die Mutter, kommen Sie und seien Sie ein Bindeglied zwischen
+uns und jenen, zwischen unserem Werke und unseren Gedanken.
+
+ Seebeck.
+
+
+
+
+Trotz des Regens war Paul Seebeck in seinem Motorboote zur »Prinzessin
+Irene« hinausgefahren, um Frau von Zeuthen noch am Deck zu begrüßen.
+
+Im Rauchsalon des Dampfers erwartete sie ihn mit ihren Kindern. Alle
+drei waren schon im Mantel.
+
+Als sie sich begrüßt und eine halbe Stunde zusammen geplaudert hatten,
+sagte Frau von Zeuthen:
+
+»Ich habe Ihnen wieder einen Menschen mitgebracht. Seien Sie lieb zu
+ihm, dann wird er wertvoll für Sie und Ihr Werk sein. – Felix, bitte
+Herrn de la Rouvière herzukommen.«
+
+Felix sprang hinaus. Paul Seebeck erhob sich und blieb erwartungsvoll
+stehen. Unwillkürlich zuckte er aber zusammen, als er Herrn de la
+Rouvière sah, denn dieser war ein Krüppel. Er war nicht größer wie ein
+achtjähriger Knabe und hatte auch das Gesicht eines solchen. Seine Beine
+waren dick und kurz, seine Arme und die schwarzbehaarten Hände aber wohl
+noch größer, als die eines erwachsenen Mannes. Er blieb bescheiden im
+Türrahmen stehen.
+
+Frau von Zeuthen sagte:
+
+»Seine Vorfahren hat der Pöbel aus Frankreich vertrieben, und derselbe
+Pöbel machte dem Urenkel das Leben in Deutschland unmöglich. Nur hat er
+sich andere Waffen gewählt, die aber nicht weniger verletzen. Bei Ihnen
+sucht er eine Heimat, Seebeck!«
+
+Seebeck trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand, die der Krüppel fast
+schmerzhaft fest drückte:
+
+»Seien Sie hier willkommen«, sagte er herzlich und sah ihm gerade ins
+Gesicht. Aber sein Lächeln erstarrte, als er in de la Rouvières Augen
+blickte. Sie schienen ihm plötzlich einen fast tierischen Ausdruck von
+Hunger zu bekommen. Aber im nächsten Augenblicke war dieser Ausdruck
+verschwunden, und der Krüppel stand wieder so bescheiden wie vorher da.
+
+Im Augenblick vermochte Paul Seebeck nicht mehr mit ihm zu sprechen; er
+wandte sich daher an Frau von Zeuthen, die zusammen mit ihren Kindern
+etwas in den Hintergrund getreten war, und sagte:
+
+»Darf ich Ihnen ein Amt anbieten, Gabriele? Ich kann doch wohl
+voraussetzen, daß Sie sich auch in äußerem Sinne nützlich machen
+wollen?«
+
+Frau von Zeuthen trat lächelnd heran:
+
+»Ich habe noch nie in meinem Leben ein Amt verwaltet. Vielleicht kann
+ich es hier. Wozu wollen Sie mich denn machen?«
+
+»Zur Archivarin«, sagte Paul Seebeck. »Bis jetzt hat die Sekretärin, die
+ich mir habe geben lassen, auch das Archiv verwaltet. Aber die Arbeit
+wird ihr zu viel, und außerdem paßt sie nicht recht dazu.«
+
+Gabriele dachte einen Augenblick nach; dann sagte sie:
+
+»Ich danke Ihnen und freue mich auf diese Arbeit. Ich kann jetzt nur
+unklar sehen, worin sie besteht, und die Dame wird mich erst in die
+Einzelheiten einführen müssen. Ich stelle es mir schön vor, im stillen
+Zimmer zu sitzen und das unbegreiflich große und bunte Leben durch die
+festen Formen zu ahnen, in denen es sich grob und kalt niedergeschlagen
+hat.«
+
+Paul Seebeck nickte ihr zu. Dann wandte er sich an Herrn de la Rouvière:
+
+»Und wie denken Sie sich Ihre Zukunft hier? Wünschen Sie einen freien
+Beruf zu ergreifen, oder denken Sie an ein Amt?«
+
+»Darf ich meine Zukunft nicht in Ihre Hände legen, Herr Seebeck?«
+antwortete der Krüppel und sah ihn treu und gut an.
+
+»Wenn Sie mir soviel Vertrauen schenken wollen«, erwiderte Paul Seebeck
+und sah ihm gerade ins Gesicht.
+
+»Aber was soll ich machen, Paul?« sagte Hedwig und ergriff
+einschmeichelnd seine Hand.
+
+»Du? Ich glaube, wir werden dich als Kindergärtnerin brauchen können;
+unser Erziehungswesen liegt überhaupt recht im argen und muß erst
+gründlich organisiert werden«, fügte er, zu Frau von Zeuthen gewandt,
+erläuternd hinzu. Dann sah er sich nach Felix um; aber dieser sagte
+nichts, starrte ihn aber mit seinen großen, glänzenden Augen unverwandt
+an.
+
+Frau von Zeuthen brach das sekundenlange Schweigen:
+
+»Wie steht’s aber um die Dienstboten?«
+
+»Dafür haben wir gesorgt; die jungen Leute zwischen sechzehn und
+einundzwanzig sind verpflichtet, sich irgendwie nützlich zu machen.
+Unsere jungen Damen sind Dienstmädchen, Krankenpflegerinnen oder
+Kinderfräuleins, die Jungen sind Laufburschen oder Hilfsarbeiter. Dafür
+bekommen sie etwas Taschengeld. Sie sehen, wir haben auch unsere
+allgemeine Wehrpflicht. Dispens wird nur erteilt, wenn Lust und Begabung
+zu selbständiger Tätigkeit vorliegt.«
+
+»Und was machen Sie mit Ihren Verbrechern, Seebeck?« fragte Frau von
+Zeuthen wieder.
+
+»Verbrechen sind noch nicht vorgekommen und werden wohl auch nie
+vorkommen. Einige geringfügige Übertretungen haben wir mit Geldstrafen
+belegt. – Dagegen haben wir »bürgerliche Rechtsstreitigkeiten«, wie Otto
+Meyer sich ausdrückt, in überraschend großer Anzahl, und da standen wir
+vor einer Schwierigkeit. Es war eine starke Stimmung vorhanden, ein
+Gesetzbuch auszuarbeiten, oder wenigstens einen unserer Juristen als
+Richter einzusetzen. Ich wollte natürlich nicht ein starres, eiskaltes
+Gesetzbuch in unser flutendes Leben werfen, und ebensowenig einen
+unserer, in ihrem Fach trotz allem verknöcherten Juristen anstellen.
+Schließlich setzte ich durch, daß die Monatsversammlungen alle
+Streitigkeiten durch Beschluß entscheiden.«
+
+Frau von Zeuthen nickte und schwieg. Dann fragte sie:
+
+»Wo sollen wir eigentlich wohnen?«
+
+»Oh, dafür habe ich gesorgt,« antwortete Paul Seebeck schnell. »Ich habe
+Ihnen ein fünfzimmriges Haus reservieren lassen; wenn es Ihnen nicht
+gefällt, baue ich Ihnen ein anderes. Ich erlaubte mir, die
+ordnungsgemäße Reihe etwas zu durchbrechen«, fügte er lächelnd hinzu.
+
+Frau von Zeuthen drohte scherzend mit dem Finger:
+
+»Ihr Prinzip haben Sie durchbrochen? Diese Schandtat hätte ich Ihnen
+nicht zugetraut.«
+
+»Durfte ich Ihretwegen nicht eine Ausnahme machen?« gab Paul Seebeck
+zurück.
+
+»Aber was werden die andern dazu sagen?«
+
+»Die andern? Ach Gott, Gabriele, die Verwaltung bringt es mit sich, daß
+wir so viele Dinge selbständig machen müssen – nachträglich wird dann
+alles gut geheißen.«
+
+»Aber doch nicht, wenn Sie die grundlegenden Prinzipien verletzen.«
+
+»Doch nur den Buchstaben, nicht den Sinn. – Ich scheue mich nicht ein
+Prinzip zu verletzen, wenn ich mir dadurch endlose Umwege spare und auf
+kürzerem Wege gerade das Ziel, den Sinn jenes Prinzips erfülle.«
+
+»Aber betreten Sie damit nicht einen gefährlichen Boden? Wäre es nicht
+vielleicht doch besser, jene Umwege zu machen?«
+
+»Nicht so lange ich so genau weiß, was ich will, und so klar mein Ziel
+vor Augen sehe. – Und hier liegt die Sache ja so klar: Ihre Mitarbeit
+ist für uns alle so ungeheuer wichtig, daß es meine Pflicht ist, Ihnen
+so schnell wie möglich volle Arbeitsmöglichkeit zu schaffen. Ob Fischer
+Petersen einige Wochen länger in der Baracke leben muß, erscheint mir,
+dagegen gehalten, als von geringerer Bedeutung.«
+
+»Wenn aber Fischer Petersen sein Recht verlangt?«
+
+»Wenn er es doch täte, Gabriele! Helfen Sie mir, ihn dazu zu erziehen!
+Und auch Sie, Herr de la Rouvière, müssen mir dazu helfen.«
+
+
+
+
+»Fräulein Erhardt«, meldete das Dienstmädchen, und Frau von Zeuthen
+erhob sich vom Divan, auf dem sie in halb liegender Stellung ein Buch
+gelesen hatte.
+
+Ein dunkellockiges Mädchen mit schwarzen, träumerischen Augen trat ein.
+Sie trug ein loses Reformkleid, das den Hals frei ließ. Unter dem Arme
+hatte sie eine schwarze dicke Aktenmappe, die einen ungraziösen
+Widerspruch zu der lieblichen Erscheinung des Mädchens darstellte.
+
+»Gnädige Frau«, sagte sie und sank halb in die Knie.
+
+Frau von Zeuthen war auf sie zugetreten, hatte sie bei der Hand
+ergriffen und fragte erstaunt:
+
+»Sind Sie wirklich Herrn Seebecks Privatsekretärin?«
+
+»Gewiß«, antwortete Fräulein Erhardt. »Schon seit drei Monaten.«
+
+Frau von Zeuthen nahm ihr die Aktenmappe ab und legte diese auf einen
+Tisch. Dann bat sie Fräulein Erhardt, im tiefen Ledersessel Platz zu
+nehmen, setzte sich selbst auf den Divan und lehnte sich halb zurück.
+
+»Erzählen Sie«, sagte sie dann.
+
+»Ich habe nicht viel zu erzählen, gnädige Frau«, sagte Fräulein Erhardt.
+»Wie manche andere kam ich mit vielen unklaren Erwartungen und
+Hoffnungen hierher. In den ersten Tagen fühlte ich mich recht
+unglücklich hier in all der Geschäftigkeit und wußte gar nicht, was ich
+selbst beginnen sollte. Da verlangte Herr Seebeck von der Gemeinschaft
+eine Privatsekretärin – die anderen Herren hatten schon längst
+irgendwelche Hilfe bekommen – und ich meldete mich zu der Stellung. Das
+ist alles, gnädige Frau«, sagte sie und strich ihr Kleid glatt.
+
+»Und wie war es in Ihrer Stellung?« fragte Frau von Zeuthen.
+
+Über Fräulein Erhardts bleiches Gesicht glitt etwas Farbe. Sie sagte
+lebhaft:
+
+»Es ist wunderschön, mit Herrn Seebeck zusammenzuarbeiten. Nur verlangt
+er von den anderen Menschen ebensoviel wie von sich selbst. Und so viel
+Wissen und Arbeitskraft hat doch kein anderer Mensch.«
+
+Die Tür wurde aufgerissen, und naß und zerzaust stürmte Felix herein.
+
+»Weißt du Mutter, was Paul Herrn de la Rouvière vorgeschlagen hat? Er
+soll hier eine Zeitung gründen und außerdem die Protokolle der
+Versammlungen führen.«
+
+»Schön, schön mein Junge«, sagte sie aufstehend. Erst jetzt gewahrte
+Felix Fräulein Erhardt, die gleichfalls aufgestanden und etwas
+zurückgetreten war. Er wurde glühend rot im Gesicht.
+
+Frau von Zeuthen legte ihm den Arm um die Schulter und führte ihn
+Fräulein Erhardt zu.
+
+»Mein Sohn Felix«, sagte sie.
+
+Felix verbeugte sich ungeschickt und reichte Fräulein Erhardt die Hand,
+die jene einen Augenblick lang festhielt.
+
+»Entschuldigen Sie, ich hatte Sie nicht gesehen«, sagte er.
+
+Fräulein Erhardt schüttelte langsam den Kopf:
+
+»Das tut nichts«, sagte sie und sah Felix mit ihren großen, schwarzen
+Augen an.
+
+Frau von Zeuthen sah die Beiden aufmerksam an; dann wandte sie sich dem
+Tisch zu, auf den sie die Aktenmappe gelegt hatte, und sagte:
+
+»Willst du etwas bei uns bleiben, mein Junge? Fräulein Erhardt und ich
+haben allerlei zu besprechen, was dich wohl auch interessiert. Sie will
+mich in meinen neuen Beruf als Reichsarchivarin einführen.«
+
+»Bleiben Sie doch, Herr von Zeuthen«, sagte Fräulein Erhardt bittend,
+und Felix setzte sich bescheiden in eine Ecke.
+
+Fräulein Erhardt aber öffnete die Aktenmappe und erklärte Frau von
+Zeuthen, wie sie das Archiv bisher verwaltet hatte.
+
+
+
+
+In der nächsten Sitzung der Vorsteherschaft brachte Paul Seebeck auch
+die Schulfrage zur Sprache und legte einen Schulplan vor, den er
+gemeinsam mit Frau von Zeuthen ausgearbeitet hatte. Die anderen fanden
+nur wenig daran auszusetzen, und bald hatte der Plan die Form gefunden,
+in der er der Gemeinschaft vorgelegt werden sollte. Als die Arbeit
+beendet war, bat Paul Seebeck die anderen Herren, bei ihm zum Abendessen
+zu bleiben und teilte gleichzeitig mit, daß er auch Frau von Zeuthen,
+Nechlidow und Melchior eingeladen hätte.
+
+Bei Tisch fragte Frau von Zeuthen nach dem Schicksale des Entwurfs, und
+Paul Seebeck machte sie mit den geringfügigen Änderungen bekannt.
+
+»Es ist doch fast eine Vergewaltigung«, sagte Edgar Allan plötzlich,
+»daß man so einem armen Wurme tausend Dinge beibringt, auf die es von
+selbst nie verfallen wäre – lauter fertige, geprägte Begriffe, ein
+fertiges Weltbild, eine fertige Sprache. Nichts darf sich das Kind
+selber bilden, muß alles das gläubig hinnehmen, was die früheren
+Generationen ihm vorgekaut haben.«
+
+»Na, wissen Sie was«, sagte Otto Meyer. »Wollen Sie die Kinder gleich
+nach der Geburt in die Wüste schicken, um sich Sprache und Bildung ganz
+aus eigener Kraft zu bauen? Ich glaube, Sie würden zu Ihrer Überraschung
+einige entzückende Orang-Utans vorfinden.«
+
+Aber Edgar Allan hatte sich in seinem Gedanken festgebissen und ließ
+sich nicht beirren. Sein Mund verzog sich nur ein wenig spöttisch, als
+er Melchiors heißes Gesicht sah. Er wandte sich Otto Meyer zu und sagte
+ungewöhnlich lebhaft:
+
+»Doch nicht, Herr Referendar. Die Kinder würden doch eine gewisse
+Disposition im Gehirn von ihren kultivierten Eltern mitbekommen haben,
+die sie eben doch auf eine etwas höhere Stufe als den Orang-Utan stellen
+würde.«
+
+»Aha!« sagte Otto Meyer. »Da setzen Sie aber die kultivierten Eltern
+voraus. Seien Sie jetzt aber etwas radikaler in Ihren Gedanken und
+setzen Sie den Fall, daß alle Kinder von Weltbeginn an in die Wüste
+geschickt worden wären. Dann hätten sie keine kultivierten Eltern,
+mithin hätten die Kinder eben auch nicht jene Kultur-Disposition im
+Gehirn, wären also doch reine Orang-Utans.«
+
+Edgar Allan lehnte sich in seinem Stuhle zurück und legte Messer und
+Gabel hin.
+
+»Sie wollen mich aufs Glatteis führen, Herr Referendar, und sprechen
+dabei nur meinen Gedanken aus.«
+
+Jetzt hielten alle mit dem Essen ein. Ganz leise klirrte es, als die
+Eßgeräte auf die Teller und Messerbänke gelegt wurden. Edgar Allan sah
+sich im Kreise um und sagte lächelnd:
+
+»Ich weiß wirklich nicht, ob mein Gedanke eine so ungeteilte
+Aufmerksamkeit verdient. Er ist nicht viel mehr als ein logisches
+Experiment, doch scheint er mir wert zu sein, zu Ende gedacht zu werden.
+– Sehen Sie, meine Herren, und Sie, gnädige Frau, die so liebenswürdig
+sind, zuzuhören. Ich meine folgendes: eine gewisse Disposition zur
+Weiterentwicklung muß schon im Menschenaffen gelegen haben, der unser
+aller Stammvater ist, und zwar schon lange vor der Sprache, mithin vor
+Logik, geformten Begriffen und Möglichkeit einer Fortentwicklung anders
+als durch die Vererbung jener Kulturdisposition. Die Entwicklung ging
+ungeheuer langsam, aber sie schritt fort. Da kommt mit der Sprache ein
+ganz neues Element herein, ein völlig unnatürliches: die Erfahrungen
+werden nicht nur durch Vererbung jener Kulturdisposition den folgenden
+Geschlechtern überliefert, sondern in rein abstrakter Form, sie werden
+gesagt, und das Kind lernt sie als etwas zunächst Fremdes, ihm
+unnatürlich Hohes. Und so geht das weiter. Mit Hilfe der Sprache
+bekommen die Begriffe ein eigenes Leben, eine selbsttätige Existenz, und
+immer größer wird die Kluft zwischen dem natürlichen Menschen, der ja
+auch immer mit einer, eine Nuance höheren, Kulturdisposition geboren
+wird, und dem, zu dem die Sprache mit allen ihren Anhängseln uns macht.
+Wenn wir unseren Kindern weder Sprache noch sonst etwas mitgeben würden,
+als nur unsere Kulturdisposition, würden sie kurz gesagt harmonische und
+glückliche Menschen sein und nicht jenen Zwist zwischen dem eigenen und
+dem angelernten Ich in sich tragen, der uns alle verzehrt.« – Nach einer
+kurzen Pause fuhr er fort: »Stellen Sie sich einen Eskimo vor, den man
+aus Grönland nach Berlin gebracht hat, und der sich dort im Laufe
+einiger Monate akklimatisiert hat. Er trägt unsere Kleidung, benimmt
+sich korrekt, aber trotz alles angelernten Anstandes, den das Milieu ihm
+aufdrängt, in dem er sich gezwungenermaßen befindet, gehen seine
+Gedanken und Triebe ganz andere, viel primitivere, brutalere Wege. Er
+spielt dauernd Theater. Statt der rauhen Prosa, die ihm natürlich wäre,
+muß er unausgesetzt hohe Verse sprechen und diese mit einstudierten
+Gesten und Mienen begleiten. Der gute Mann hat im Laufe einiger Monate
+oder Jahre eine Entwicklung, die naturgemäß Tausende von Jahren
+gebraucht hätte, überspringen müssen, und seine ganze Existenz wird zu
+einer einzigen Lüge. Seien wir einmal ehrlich: ist das nicht ganz genau
+unsere Lage? – Ich überlasse Ihnen, die Parallele zwischen der
+Eingewöhnung des Eskimos in unsere Kultur und unserer Erziehung zu
+ziehen.«
+
+Minutenlanges Schweigen folgte. Dann ergriff Herr von Rochow das Wort:
+
+»Ich finde Ihren Gedanken wundervoll und unwiderleglich. Und doch, sehe
+ich die Sache von einer anderen Seite an, komme ich zu einem ganz
+anderen Resultat. Wenn ich mir nämlich einfach den jetzigen Menschen und
+seine Sprache vorstelle, würde ich sagen, daß Sprache und Begriffe nicht
+mit ihm Schritt gehalten haben, sondern zurückgeblieben sind und
+tatsächlich nicht das auszudrücken vermögen, was wir denken und fühlen.
+Und doch finde ich Ihre Gedanken unwiderleglich.«
+
+Er schwieg; Edgar Allan sah sich im Kreise um, als erwartete er weitere
+Meinungsäußerungen. Sein Blick blieb an Melchior haften, der ihn mit
+aufgerissenen Augen und offenem Munde anstarrte.
+
+Jakob Silberland räusperte sich und sagte:
+
+»Wie sonderbar. Vor einigen Jahren, als wir sieben noch ganz allein hier
+auf der Insel waren, führten wir ein Gespräch über Staatsformen im
+Verhältnis zum Menschen. Und auch dort stießen wir auf denselben
+Widerspruch, daß sie sowohl als fortgeschritten, wie auch als
+zurückgeblieben in bezug auf den Menschen angesehen werden könnten.«
+
+»Seltsam, daß derselbe Widerspruch heute in ganz anderem Zusammenhange
+wieder auftaucht. Ach, ich entsinne mich deutlich jenes Gespräches«,
+sagte Herr von Rochow.
+
+»Na, das Problem ist doch ganz dasselbe«, sagte Otto Meyer. »Formen, die
+die Menschen im Zusammenspiele schaffen, in ihrem Verhältnisse zum
+einzelnen Menschen. Apropos »Problem«, Herr Melchior, haben Sie es
+gelöst?«
+
+Aber Melchior hörte ihn nicht.
+
+Edgar Allan ergriff wieder das Wort: »Ich finde etwas Niederdrückendes
+darin, daß die Arbeit des Einzelnen durch diese geistigen Verkehrsmittel
+zum Allgemeingut werden. Jeder Idiot schmarotzt an uns, saugt unsere
+Gedanken aus, verwässert sie bis zur Karrikatur – siehe die christliche
+Kirche im Verhältnis zu ihrem Gründer – und ist dann stolz auf seine
+Eigenschaft als Kulturmensch. Ich sehe darin eine Ungerechtigkeit.«
+
+»Nein«, sagte Jakob Silberland, »Sie irren. Sie gehen von einer längst
+abgetanen Weltanschauung aus. Sie vergessen den springenden Punkt: es
+gäbe keinen großen Menschen, wenn es nicht ein Milieu gegeben hätte,
+das ihn zeugte. Die großen Menschen schulden ihre Existenz der Masse,
+und diese wiederum ihnen. Das ist ein ewiges Wechsel- und Zusammenspiel;
+eine natürliche Funktion des großen Organismus Menschheit.«
+
+»Sie haben viel gelernt, verehrter Herr Doktor Silberland,« sagte Edgar
+Allan mit leichtem Spotte. »Außer den Begriffsbrillen, die die gütige
+Menschheit so liebenswürdig ist, uns in den ersten Jahren unserer
+Kindheit auf unsere Nase zu setzen, haben Sie auch noch einige grüne und
+blaue und seltsam gestrichelte aus eigener Initiative aufgesetzt. Ich
+beneide Sie um Ihr geordnetes Weltbild, bezweifle aber doch, daß es sich
+mit der Wirklichkeit deckt. Wenn ich von dem mir Eingeprägten absehe,
+wenn ich unbefangen auf die Wirklichkeit sehe – etwas, wozu Sie als
+gebildeter Mensch überhaupt nicht mehr imstande sind – sehe ich statt
+unserer fiktiven Ordnung in der Welt nur ein ungeheures, rätselhaftes
+Chaos.
+
+Alle unsere Moralbegriffe, Staatsformen, Sprache, Gedanken sind doch nur
+ganz schwache, ganz schiefe Reflexe der inneren Entwicklungsgesetze der
+Menschheit, die wir nicht kennen und nie kennen werden. Denn diese
+kindlichen Abstraktionen haben nicht nur ein eigenes Leben bekommen und
+entfernen sich demnach mehr und mehr von den Realitäten, sie werden
+auch als primär angesehen, und man soll sich nach ihnen richten. Das ist
+nicht das Problem der Menschheit, aber der Wahnsinn der Menschheit. Und
+jeder Einzelne von uns hat keine andere Aufgabe, als soviel wie möglich
+das Gelernte zu vergessen und in die Tiefen des eigenen Ichs
+herabzusteigen, zu seinem eigenen Wesen, und sich dort über seine
+Stellung im Chaos zu orientieren. Auf irgend einem, noch so kleinen
+Gebiete wird er sich Meister wissen, dort seine Arbeit ausführen und die
+übrige Menschheit ihrem Schicksal überlassen. Wenn jeder so dächte,
+kämen wir vielleicht wieder in eine gesunde Entwicklung hinein. Wenn wir
+auf das forzierte Tempo verzichten, was die Menschheit bis jetzt
+angewendet hat, und uns einige millionenmal langsamer entwickeln, wird
+vielleicht noch einmal etwas aus den Menschen statt der Schattenwesen,
+die wir jetzt darstellen. Was meinen Sie, Seebeck?«
+
+»Ich finde den Gedankengang sehr interessant. Auch sehr wertvoll. Es
+ergeben sich aus ihm aber so viele Perspektiven, daß man Zeit braucht,
+um zu ihm Stellung zu nehmen. So im Augenblicke kann ich es nicht. Ich
+werde darüber nachdenken.«
+
+Jetzt sprang Nechlidow mit einer solchen Heftigkeit auf, daß der Stuhl
+umfiel, auf dem er gesessen hatte. Er schrie:
+
+»Es wird ja immer toller; jetzt ist es aber wirklich genug. Ich
+wenigstens habe keine Lust mehr, länger an der Komödie mitzuspielen. Wir
+kamen hierher, um die großen Menschheitsgedanken zu verwirklichen, die
+große, ruhige Linie auszufüllen. Und was geschieht? Hier ein
+Kompromißchen und dort ein Kompromißchen; überall Halbheiten, nichts
+Ganzes. Alles Wankelmütigkeit und Wunsch nach dem behaglichen, ruhigen
+Fahrwasser, nur um Gotteswillen keinen energischen Schritt. Was ist aus
+den Idealen geworden, mit denen wir hierherzogen? Phrasen, Worte,
+Andeutungen, keine Tat, keine Wirklichkeit.
+
+Und heute kommt die Krone des Ganzen. Hier im Kreise der Gründer stellt
+Herr Allan seine logischen Experimente an, die weiter nichts sind, als
+eine Beschimpfung der menschlichen Vernunft, eine Erniedrigung der
+Sozietät. Wenn Herr Allan den dummen Orang-Utan wirklich so viel höher
+stellt, als den vernünftigen Menschen, mag er zu den Orang-Utans gehen.
+Aber statt ihn zurechtzuweisen, hören Sie sein kindisches und frivoles
+Geschwätz ernsthaft an, antworten ihm sogar, wollen sich die Sache sogar
+noch genauer überlegen.
+
+Ich aber glaube an die menschliche Vernunft, die vielleicht sogar einmal
+in Allans Nachkommen die Sehnsucht zum Affen ertöten und volle Menschen
+aus ihnen machen wird.
+
+Euch gebe ich auf; aber noch nicht die Sache, mit der ihr nur noch
+spielt. Ich werde versuchen, ob ich sie noch aus dem Schlamme retten
+kann, in dem ihr sie festgefahren habt.«
+
+Er verließ das Zimmer und schlug die Tür mit Gewalt hinter sich zu.
+
+
+
+
+Edgar Allan und Felix waren am Ende der Straße an der linken Seite der
+Bucht angelangt. Vor ihnen lag die ziemlich steile Felswand, wo es nur
+an einigen, und ziemlich weit von einander abliegenden Plätzen möglich
+war, Häuser zu bauen.
+
+Beide trugen, des strömenden Regens wegen, dicke Gummimäntel und hohe
+Stiefel.
+
+»Sehen Sie, Felix«, sagte Edgar Allan stehen bleibend und wandte sein
+scharfes Gesicht dem Knaben zu. »Hier ist der gebahnte Weg zu Ende, und
+die Steine fangen an. Hinter uns liegt die behagliche Wärme der Masse.«
+Die hagere, sehnige Gestalt hoch aufrichtend, sagte er, »ich bin der
+Erste, der hier hinaus zieht, aber glauben Sie mir, die andern sechs
+werden mir hierher folgen. Auch Nechlidow, obgleich er mich ermorden
+könnte, wenn ich es ihm jetzt sagte.«
+
+Felix sah dem starken und einsamen Manne halb bewundernd und halb
+zweifelnd ins Gesicht. Er antwortete nichts.
+
+Dann stiegen sie weiter, über die Felsblöcke und durch die schäumenden
+Regenbäche, und suchten einen Platz für Allans neues Haus.
+
+
+
+
+In diesem Jahre war die Regenzeit heftiger als je vorher und machte
+fast jede Beschäftigung außer dem Hause unmöglich. Es war ein Glück, daß
+Edgar Allan bei der Stadtanlage so genau alle Eventualitäten berechnet
+hatte; sonst wäre wohl manches der kleinen Gärtchen fortgeschwemmt
+worden.
+
+Paul Seebeck benutzte die Zeit der allgemeinen Untätigkeit zur
+Durchführung eines Planes, den er schon lange gehegt hatte.
+Allwöchentlich fanden jetzt im Volkshause Vorträge statt, die dann in
+der nächsten Nummer der von Herrn de la Rouvière mit Geschick geleiteten
+»Inselzeitung« gedruckt wurden.
+
+Paul Seebeck selbst hatte den ersten Vortrag gehalten; ihm folgte Jakob
+Silberland mit einem ganzen Zyklus volkswirtschaftlicher Vorträge, und
+nach ihm behandelte Herr von Rochow verschiedene schöngeistige Gebiete.
+
+Die »Inselzeitung« erwies sich nicht nur als notwendig, sondern auch als
+Machtfaktor: der Krüppel hatte der öffentlichen Kritik einen breiten
+Raum geschaffen, und mancher sprach lieber hier unter dem Schutze des
+Redaktionsgeheimnisses seine Meinung aus, als in den Versammlungen der
+Gemeinschaft. Herr de la Rouvière versah die Eingesandts mit
+zustimmenden oder abfälligen Glossen, und deshalb galt es, sich mit ihm
+gut zu stellen, wenn man einen Erfolg wünschte. Und Herr de la Rouvière
+empfing die Besucher an seinem Schreibtische, der so niedrige Beine wie
+der eines Knaben hatte, und besprach stundenlang mit dem Besucher dessen
+Anliegen, so daß jener mit der Gewißheit davon ging, daß seine Sache in
+guten Händen lag.
+
+Gelegentlich suchte Herr de la Rouvière Frau von Zeuthen auf, und dort
+traf er zuweilen um die Teestunde Paul Seebeck, der einige freundliche
+Fragen an ihn richtete, die er bescheiden beantwortete, worauf er
+gewöhnlich bald fortging.
+
+Als Frau von Zeuthen und Paul Seebeck so eines Tages allein geblieben
+waren, sagte sie:
+
+»Ist es nicht eine Freude, zu sehen, wie er sich hier entwickelt. Da
+haben Sie wieder einem Menschen freie Entfaltungsmöglichkeit gegeben,
+einen Nährboden, wo er Wurzeln schlagen kann.«
+
+Paul Seebeck antwortete nicht; Frau von Zeuthen sah ihn mit ihren
+großen, strahlenden Augen an und sagte:
+
+»Sie stehen so sehr im Tagesbetriebe, müssen sich zu sehr mit
+widerwärtigen Kleinigkeiten herumschlagen. Hätten Sie etwas mehr Distanz
+– was Sie der Natur der Sache nach im Augenblicke nicht haben können –
+würden Sie sehen, wieviel Sie schon erreicht haben. Selbst in Nechlidows
+Überspanntheit liegt so viel Größe, die geweckt zu haben Ihr Verdienst
+ist.«
+
+Paul Seebeck war aufgestanden und ging nervös im Zimmer auf und ab. Dann
+blieb er vor Frau von Zeuthen stehen:
+
+»Es gibt Augenblicke«, sagte er, »wo ich meine, daß Nechlidow recht hat.
+Wenn ich aber dann an meinem Schreibtische sitze, meine Papiere
+heraussuche und mich frage, was ich denn hätte anders machen sollen,
+dann finde ich nichts. Es gibt so viele Gegenstände bei der Verwaltung
+eines Staates, die einfach in einer ganz bestimmten Weise und nicht
+anders erledigt werden müssen, ganz gleichgiltig, ob man konservativ
+oder liberal oder sonst etwas ist. Vom grünen Tische sehen manche Dinge
+eben ganz anders aus, als in der Praxis, und besonders für den, der die
+Verantwortung trägt.
+
+Ich verstehe jetzt so gut eine Erscheinung, die mich früher so oft
+erstaunt hat: wenn in einem parlamentarisch regierten Lande die
+bisherige Oppositionspartei ans Ruder kommt und ihre bisherigen Führer
+Minister werden, erfolgt fast immer ein Bruch zwischen ihnen und ihrer
+eigenen Partei, die ihnen den Verrat an den Parteiprinzipien vorwirft.
+Die Sache liegt natürlich einfach so, daß unzählige Dinge – namentlich
+in der Verwaltung – mit Prinzipien gar nichts zu tun haben und ihrer
+Natur nach erledigt werden müssen. – Ich habe mir schon früher das
+gedacht, aber jetzt begreife ich es erst wirklich.
+
+Hier kann man natürlich keine Grenze ziehen; es ist aber doch ein
+Unterschied, ob man überhaupt ein Ziel vor Augen hat, oder, auf ein paar
+bequeme Schlagwörter gestützt, alles ruhig fortwursteln läßt. In dieser
+Beziehung habe ich ein reines Gewissen.«
+
+Paul Seebeck blieb stehn; er biß sich auf die Lippen und sagte:
+
+»Wissen Sie, Gabriele, was ich mir selbst in jenen einsamen Stunden
+sage, wo man ehrlich gegen sich selbst ist? Ich will es Ihnen bekennen:
+wir schaffen hier nicht die realen Werte, die wir schaffen wollten, und
+unser ganzes Werk war vom ersten Augenblick an eine Unmöglichkeit. Das
+unendliche Leben läßt sich überhaupt nur in einem Sinne formen, und das
+ist in der Kunst, die immer einseitig und beschränkt und deshalb
+vollkommen ist. Silberland hat mich einmal einen Künstler genannt, und
+ich fühle, daß er recht hat, obwohl ich weder dichte noch male. Aber wie
+jeder schaffende Künstler hatte ich ein starres, unvollkommenes
+Material, in das ich den rauschenden Strom des Lebens zwängen wollte.
+Das waren die staatlichen Begriffe. – Wie hat doch Edgar Allan recht,
+und wie Nechlidow! – Aber statt zu sagen: als Künstler gebe ich eine
+ganz einseitige Stilisierung des Lebens, aber ich forme nimmermehr das
+Leben selbst, sagte ich: hier ist das Leben in seinen natürlichen
+Formen. Ich habe die unendliche Mannigfaltigkeit des Lebens unterschätzt
+und sehe, daß es an sich weder begreiflich noch faßbar ist, wenn man es
+eben nicht als Künstler einseitig stilisiert, und es in seinem Reichtum
+vorbeifluten läßt.
+
+Und sehen Sie, Gabriele, dann sage ich mir: wir schufen hier nicht den
+Staat, und er wird nie geschaffen werden, wenn er sich nicht selbst
+aufbaut, wir schufen nur eine Fiktion des Staates, lassen die andern ein
+Theaterstück aufführen, dessen Autoren und Regisseure wir sind. Aber sie
+spielen nur so lange Theater, wie sie in unserem Bannkreise sind, nicht
+eine Minute länger! Dann gehen sie nach Hause und führen ein Leben, von
+dem wir nichts wissen, und das uns auch nicht interessiert.
+
+Aber dann, Gabriele, dann sehe ich Menschen wie Silberland, die ohne zu
+zweifeln, arbeiten und an die Vollendung glauben. Und dann glaube ich
+auch selbst wieder daran, daß aus der Komödie Wahrheit werde.«
+
+Er setzte sich in den tiefen Ledersessel, stützte das Kinn in die Hand
+und sah vor sich in den Raum. Frau von Zeuthen stand auf, trat vor ihn
+hin und legte ihre beiden Hände ihm auf die Schultern:
+
+»Seebeck, ich gab Ihnen meinen Segen zu diesem Werke; ich gebe ihn Ihnen
+noch einmal zu seiner Vollendung.«
+
+Er sank vor ihr nieder und umschlang mit solcher Heftigkeit ihre Knie,
+daß die hohe Frau schwankte. Da faßte er ihre Hände und drückte sie an
+sein Gesicht:
+
+»Gabriele«, sagte er, »ich bin so einsam, so fürchterlich einsam. Und
+die Nächte sind so lang. Wenn alle die quälenden Gedanken kommen, dann
+sehne ich mich nach Ihnen, Gabriele, nach dir, du Hohe, Reine. Komm zu
+mir mit deinen kühlen, weißen Händen. Ich bin so fürchterlich allein.«
+
+Sie hob ihn auf und zog ihn an sich. Er lehnte seinen Kopf an ihre Brust
+und schluchzte.
+
+Langsam führte sie ihn zum Divan. Aber da sank Seebeck aufs neue vor ihr
+hin und barg sein Gesicht in ihren Schoß. Der große, starke Mann bebte
+am ganzen Körper, sie strich ihm lind über das Haar.
+
+»Mut, Mut!« flüsterte sie ihm zu. »Ich kann nicht zu dir kommen; jetzt
+kann ich nicht zu dir kommen. Du würdest dein Werk vergessen und das
+darfst du nicht. Diese Insel ist der Inhalt deines Lebens; ihr mußt du
+leben, wenn es nötig ist, mußt – wirst du für sie zu sterben verstehen.
+Ihretwegen mußt du das Opfer deines Menschentums bringen.« Sie beugte
+sich tief zu ihm hinab und legte ihre kühle Wange an seine heiße:
+
+»Glaubst du denn nicht, in wieviel schweren Nächten ich mich nach dir
+gesehnt habe, du starker, du guter Mann. Aber ich weiß, daß ich dich
+deinem Werke entziehen würde, statt es zu fördern. Und das darf nicht
+sein. Was ist das Liebesglück zweier armseliger Menschlein im Vergleich
+mit deinem Werke! Sei stark,« sagte sie, während sie sich wieder
+aufrichtete, »dazu will ich dir helfen. Aber deine Einsamkeit ist dein
+größtes Gut, sie gebar die neue Gemeinschaft, sie wird sie zur Höhe
+erziehen. Aber du darfst kein armer, schwacher Mensch werden: mehr wie
+ein Mensch mußt du sein.«
+
+Da erhob Paul Seebeck den Kopf aus Frau von Zeuthens Schoß. Seine Augen
+wurden groß und starr. Langsam und schwer sprach er die Worte:
+
+»Und ich schwöre Ihnen, Gabriele, von dieser Stunde an nur meinem Werke
+zu leben, und wenn es nötig ist, dafür zu sterben.«
+
+Er stand schnell auf und trat ans Fenster. Durch den strömenden Regen
+blinkten einige Lichter, einige erleuchtete Fenster. Langsam drehte er
+sich herum und sah erst jetzt, daß das Zimmer fast dunkel war. Nur im
+Umriß sah er Frau von Zeuthen auf dem Divan sitzen. Mit gesenktem Haupte
+und schleppenden Schritten trat er auf sie zu, ergriff ihre Hand, die
+sie ihm nicht entzog, hielt sie lange in der seinen und zog sie dann
+langsam an seine Lippen.
+
+Da erhob sich Frau von Zeuthen:
+
+»Geh jetzt«, sagte sie fast hart, »geh zu deiner Arbeit.«
+
+Er neigte kaum merklich den Kopf und verließ mit schnellen Schritten das
+Zimmer.
+
+
+
+
+Der niederströmende Regen wurde schwächer. Man sah statt des ewig
+gleichmäßigen Graus am Himmel wieder Wolken, die langsam und schwer
+weiterzogen. Zuweilen blickte sogar ein blaues Stückchen Himmel aus
+ihnen hervor. Und endlich, endlich war der Himmel wieder rein, und die
+Sonne schien.
+
+Ein schwerer, warmer Brodem stieg von den Gärten auf und lag wie ein
+Dunst von Leben und Fruchtbarkeit über der Stadt. Die Wasserrinnen an
+den Abhängen versiegten, in wenigen Tagen waren die Straßen wieder
+trocken.
+
+Da wollte Paul Seebeck Frau von Zeuthens Kindern eine Freude machen und
+ließ sich zwei kräftige Pferdchen mit dicken, behaarten Beinen kommen.
+
+An einem Sonntage machten sich Hedwig und Felix auf, um das Innere der
+Insel zu erforschen. In den Satteltaschen hatten sie Essen für sich mit,
+und auf den Rücken der Pferdchen hatten sie Heu aufgeschnallt.
+
+Sie ritten langsam die Hauptstraße hinauf; als sie aber die Plattform
+erreichten, auf der das Volkshaus stand, stiegen sie ab, um die Tiere
+nicht zu überanstrengen, und führten sie am Zügel die Serpentinen
+hinauf. Als sie auf dem Hochplateau standen, sahen sie die Pyramide des
+Vulkans riesenhaft und scharf in die Höhe ragen. Ein ganz dünnes
+Wölkchen – kaum mehr als ein Schleier – schwebte über seiner Spitze.
+
+»Da müssen wir hinauf«, sagte Felix und half Hedwig wieder in den
+Sattel, »was meinst du?«
+
+Hedwig gab mit der Peitsche ihrem Pferdchen einen kleinen Schlag:
+
+»Komm«, rief sie und galoppierte voran.
+
+Sie waren immer noch auf dem gebahnten Wege, der der Arbeit am
+Staubecken wegen angelegt worden war, und nach einer halben Stunde
+hatten sie dieses erreicht. Sie sprangen von den Pferden, an denen der
+Schweiß herunterrann und setzten sich auf einige Steinblöcke.
+
+Vor ihnen lag ruhig der See, aber von dem Meere her klang ein donnerndes
+Getöse zu ihnen hin.
+
+»Weißt du, was Allan mir erzählt hat?« fragte Felix. »Er will im See
+einen künstlichen Schlammboden machen und Fische hineinsetzen. Er sagte,
+das wäre gar nicht so schlimm, er wüßte nur nicht, wie er verhindern
+sollte, daß die Fische mit dem Wasserfalle ins Meer gerissen würden.
+Aber das findet er sicher auch noch heraus!«
+
+»Fische? Wie nett. Aber dann soll er auch Vögel hierherbringen.«
+
+»Daran hat er auch schon gedacht; er will überhaupt alle möglichen Tiere
+hier wild aussetzen. Er weiß nur noch nicht welche. Aber er sagte, daß
+nach zehn Jahren die Insel alle möglichen Pflanzen und Tiere haben wird.
+Ich soll ihm bei der Arbeit helfen. Du, das wird wundervoll!« rief er.
+
+»Aber wie sollen hier Tiere leben?« fragte Hedwig zweifelnd und sah sich
+in der öden Steinwüste um.
+
+»Das geht schon. Allan sagte, das schwerste wären die Säugetiere. Mit
+den Fischen ist es nicht so schlimm, er will Tang massenhaft aus dem
+Meere hierherbringen und dann Süßwasserpflanzen hineinstecken. Wenn das
+alles richtig in Gang gekommen ist, bringt er Insekten und zuletzt die
+Fische. – Und mit den Vögeln, sagt er, wäre die Sache einfacher: einige
+Möven brüten ja schon. Man sollte nur an irgend einer Stelle, die so
+weit von der Stadt weg ist, daß der Gestank nicht hinkommt, regelmäßig
+tote Fische hinlegen, aber furchtbar viele natürlich, und dann würden
+die Vögel schon kommen. Aber wie er das mit den Säugetieren machen will,
+weiß er noch nicht recht; er sagt, es könnten zunächst nur Tiere sein,
+die von Fischen oder Vögeln leben. – Und bei der ganzen Arbeit soll ich
+ihm helfen, ist das nicht wundervoll?« rief er.
+
+Hedwig sah voll Neid ihren Bruder an. Aber dann veränderte sich ihr
+Gesicht. Fast furchtsam fragte sie:
+
+»Du Felix, sag mal, glaubst du, daß alles noch gut geht?«
+
+»Weshalb soll es denn nicht gut gehen?«
+
+»Ja, siehst du, ich ging neulich etwas mit Herrn de la Rouvière
+spazieren, und da kam Nechlidow, und die beiden sprachen zusammen.
+Nechlidow war ganz wütend und sagte immer wieder, daß Paul alles
+zerstört hätte. Dann sagte er auch etwas zu mir, was ich nicht
+verstand –«
+
+»Nechlidow ist ein Idiot!« unterbrach sie Felix mit Nachdruck. »Allan
+sagt, daß gerade jetzt alles gut gehen wird, seitdem Paul eingesehen
+hat, daß er alles allein machen muß und nicht mehr darauf hört, was alle
+die da sagen.«
+
+Aus irgend einem Grunde war es Hedwig peinlich, dies Gespräch
+fortzusetzen. Sie sagte, während sie ihrem Pferdchen den dicken Hals
+streichelte:
+
+»Sollen wir nicht jetzt zum Wasserfall reiten? Er ist sicher
+wunderschön.«
+
+Dagegen hatte Felix nichts einzuwenden, und so bestiegen sie ihre Pferde
+und ritten dem Staubecken entlang auf das Meer zu. Bald schob sich ein
+breiter Steinwall zwischen sie und das Becken und warf einen tiefen und
+kühlen Schatten auf sie. Sie trieben ihre Pferde zum Galopp an und
+standen plötzlich einige Schritte vor dem steilen Abfall zum Meere. Sie
+hörten ein Donnern, Zischen und Brausen, konnten den Wasserfall aber
+nicht sehen. Rasch entschlossen sprangen sie von den Pferden, ließen sie
+stehen und kletterten an dem Steinwalle empor. Er war höher, als sie
+sich ihn vorgestellt hatten, aber endlich standen sie doch oben. Sie
+sahen sich um: hinter ihnen streckten sich die drei Vorgebirge ins Meer,
+zwischen denen die Stadt und die Irenenbucht eingebettet lagen, und vor
+ihnen das große Wasserbecken, das in seiner ganzen Breitseite zum Meere
+hinab überfloß. Sie sahen die Wasserfläche in ruhigem Zuge bis zum Rande
+gleiten und dort entsetzt, verzweifelt, mit wahnsinnigem Schmerzgeheul
+in die Tiefe stürzen, hier auf einem Vorsprung aufprallend, dort an
+einer Klippe zerschellend, daß der Riese in tausend und abertausend
+glitzernde Tropfen zersprang, die erschrocken versuchten, sich wieder
+zusammenzufinden, und sich doch erst wieder im großen Meere trafen, das
+weit hinaus mit weißem Schaum bedeckt war.
+
+Als sie sich satt gesehen hatten, traten sie langsam den Rückweg zu
+ihren Pferden an und ritten in scharfem Galopp im Schatten. Erst als der
+Steinwall sich wieder abflachte, und sie in den brennenden Sonnenschein
+hinauskamen, mäßigten sie ihr Tempo. Sie kamen an die Stelle, wo durch
+die große unterirdische Röhre das Wasser zur Stadt abfloß; dumpf dröhnte
+es da unter den Hufen der Pferde. Sie ritten weiter am Becken entlang
+bis dorthin, wo der Fluß hereintrat und folgten diesem weiter in der
+Richtung auf den Vulkan zu. Oft mußten sie den Fluß verlassen, weil
+Steinblöcke im Wege lagen, aber sie trafen doch immer wieder auf ihn.
+Zuweilen floß er breit und behäbig dahin, zuweilen rauschte er
+unheimlich an einer schmalen Stelle, oder teilte sich auch mitunter in
+viele Zweige, die sich aber immer wieder bald vereinigten. Hedwig und
+Felix kamen über breite Streifen feinen Sandes, in dem die Pferde bis
+über die Hufe einsanken.
+
+Nach mehreren Stunden hielten sie an, sprangen von den Pferden, gaben
+ihnen von dem mitgebrachten Heu zu fressen und nahmen ihnen auch die
+Sättel ab. Dann hielten sie Umschau: so weit sie sehen konnten, umgab
+sie graublau und gelb die Steinwüste, aus der sich nur flache Rücken
+emporhoben. Und vor ihnen lag, kaum merklich in seiner Größe gewachsen,
+der Vulkan. Und die Sonne brannte heiß auf sie nieder und gab den
+Steinen einen blendenden Schimmer, der die Augen schmerzen machte.
+
+Da setzte sich Hedwig plötzlich auf einen Stein und begann zu
+schluchzen: sie konnte die große Einsamkeit nicht ertragen, ihr war es
+zu viel des Schweigens. Felix fragte nicht; er verstand sie und fühlte
+dieselbe Angst wie sie, aber er beherrschte sich. Doch zitterten seine
+Hände, als er die Pferde wieder sattelte; er sagte aber ruhig:
+
+»Der Vulkan ist ja viel weiter, als ich dachte; wir können heute nicht
+mehr hinkommen. Wollen wir nicht wieder nach Hause reiten?«
+
+Hedwig nickte; sie konnte nicht sprechen. Und so schnell es die Hitze
+erlaubte, ritten sie nach Hause, zu den Menschen, zur Stadt.
+
+
+
+
+Wieder war der Jahrestag der Gründung herangekommen, und die
+Gemeinschaft war versammelt. Die Vorsteher hatten Rechenschaft über das
+verflossene Jahr abgelegt. Es sollte jetzt zur Neuwahl geschritten
+werden.
+
+»Wünscht jemand das Wort?« fragte Jakob Silberland, der wie immer den
+Vorsitz innehatte. »Nicht? Dann –«
+
+»Ich bitte um das Wort«, rief Nechlidow überlaut und ging auf’s Podium.
+Die Versammlung verharrte in eisigem Schweigen. Jakob Silberland sah
+überrascht Paul Seebeck an; aber dessen Gesicht war hart und
+verschlossen. Auf der Tribüne aber beugte sich ein Mädchenkopf mit
+glänzenden, braunen Augen über die Brüstung.
+
+Nechlidow richtete sich straff auf, verschränkte die Arme über der Brust
+und sagte:
+
+»Es tut mir leid, daß ich die hier übliche gemütliche Handhabung der
+Geschäfte ein wenig störe. Hätte ich mich jetzt nicht zum Worte
+gemeldet, wäre die Wiederwahl des bisherigen Vorstehers wohl glatt
+erfolgt. Ich aber möchte verhindern, daß sie überhaupt erfolgt.«
+
+Er sah Paul Seebeck an, und dieser erwiderte starr den Blick. Dann ließ
+Nechlidow seine Augen wieder über die Versammlung gleiten und fuhr fort:
+
+»Wenn jetzt nicht ein energischer Schritt getan wird, verläuft die mit
+solchem Pathos angelegte Sache kläglich im Sumpf.
+
+Hier geht zwar alles gut, ich fürchte fast zu gut; niemand hungert und
+jeder hat ein Dach über seinem Kopf – aber deswegen kamen wir nicht
+hierher.
+
+Wir kamen hierher, um der Lüge zu entfliehen, die unser gesamtes
+Gesellschaftsleben durchzieht und sind jetzt dabei, eine ärgere und
+verabscheuungswürdigere Lüge zu stiften.
+
+Hier kann nur eines helfen: das felsenfeste Vertrauen auf die
+menschliche Vernunft und das Abschütteln jener Herren, die den Ursprung
+alles Übels in der menschlichen Vernunft sehen. Wir müssen die großen
+und klaren Gesetze befolgen, die sich an der menschlichen Vernunft
+ergeben und dürfen sie nicht verwischen und im geheimen verspotten, wie
+es Herr Seebeck und seine Kreaturen tun.
+
+Fragen Sie sich: was hat unsere Gemeinschaft neues gebracht als neue
+Phrasen? Ist hier wirklich ein neuer Geist? Wer wagt die Frage zu
+bejahen! Ist nicht vielmehr das Umgekehrte geschehen, daß einige,
+wenige Männer durch Worte und Scheingesetze, die sie nur äußerlich, in
+gröbstem Sinne befolgen, gestützt, einfach ihren Launen folgen, tun und
+lassen, was ihnen gefällt? Wer wagt die Frage zu verneinen!
+
+Die Gemütlichkeit und die persönliche Rücksichtnahme – dieses ganze
+Spinngewebe von Gefühlsduseleien, das uns zu ersticken droht, muß fort.
+
+Ich verkenne nicht, daß wir Paul Seebeck großen Dank schulden; aber
+unsere Dankbarkeit darf uns nicht hindern, kalt und klar zu sehen. Und
+wenn wir das tun, können wir nur eins sagen: Seebecks Zeit ist vorbei.
+Er ist ein großer Gründer, aber ein schlechter Ausbauer.
+
+Ich bitte die Versammlung, nicht Paul Seebeck sondern mich zum Vorsteher
+zu wählen; mich treibt kein Ehrgeiz, sondern nur die Liebe zur Sache.
+Und ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, daß ich keine Sentimentalitäten
+und persönlichen Rücksichten kenne.«
+
+Mit zusammengekniffenen Lippen verließ Nechlidow das Podium. Jakob
+Silberland sah ihm verstört nach.
+
+In der eisigen Stille dort unten entstand eine ganz leise Bewegung, ein
+Rücken auf den Bänken, ein Murmeln, ein Flüstern und zuletzt klang ein
+Gewirr von Worten, Namen –
+
+Edgar Allan hatte mehrmals von der Seite her forschend in Paul Seebecks
+Gesicht geblickt und jedesmal hatte er zufrieden gelächelt, wenn er
+Seebecks starre Züge sah.
+
+Jetzt erhob sich im Hintergrunde die schwere Gestalt eines Handwerkers:
+
+»Wenn wir Herrn Seebeck nicht wieder wählen dürfen, dann doch lieber den
+Herrn Rouvière. Den kennen wir, der versteht seine Sache.«
+
+Edgar Allan drehte sich herum; freundlich lächelnd rief er dem Sprecher
+zu:
+
+»Sie dürfen Seebeck wieder wählen, guter Freund. Sie brauchen nicht
+immer das zu tun, was der letzte Redner gesagt hat.«
+
+Aber seine Worte verloren sich; de la Rouvières Name hatte gezündet; von
+allen Seiten erscholl er, gerufen, gebrüllt.
+
+Kreidebleich im Gesichte stand der Krüppel auf:
+
+»Ich bitte Sie um Gotteswillen, wählen Sie mich nicht! Das geht nicht.«
+
+Stille trat ein. Aber eine grobe Stimme zerriß sie:
+
+»Weshalb denn nicht? So war’s doch ausgemacht.«
+
+Jetzt hatte Jakob Silberland seine Ruhe wiedergefunden. Er läutete
+energisch und sagte:
+
+»Wer meldet sich zum Worte?«
+
+Paul Seebeck gab ein leichtes Zeichen mit der Hand und ging auf das
+Podium. Ruhig und geschäftsmäßig sagte er:
+
+»Ich möchte nur einige Worte zur Klärung der Situation sagen. Es sind
+als Gegenkandidaten zwei Herren genannt worden, von denen allerdings der
+eine die Absicht zu haben scheint, eine eventuelle Wahl nicht
+anzunehmen. Bei aller Hochachtung vor den persönlichen Eigenschaften der
+beiden Herren und der Überzeugung von der absoluten Lauterkeit ihrer
+Absichten, glaube ich nicht, daß einer von ihnen imstande ist, das
+verantwortungsvolle Amt eines Vorstehers der Gemeinschaft zu verwalten.
+Ich glaube nicht, daß die Herren auch nur eine Ahnung von den
+Schwierigkeiten dieser Stellung haben; ihre Wahl würde nicht einen
+Fortschritt, sondern den Ruin unserer ganzen jahrelangen Arbeit
+bedeuten.
+
+Nun kann ich Sie allerdings nicht daran hindern, einen der beiden Herren
+zu wählen; Sie können mich aber nicht zwingen, dem Gewählten meine
+Stellung als Reichskommissar zu übergeben. Die werde ich beibehalten und
+werde von den unbeschränkten Vollmachten Gebrauch machen, die sie mir
+gibt, sobald ich sehe, daß die Dinge eine Wendung nehmen, die ich für
+unrichtig halte. Wenn Sie aber einen Nachfolger wählen, der wirklich
+imstande ist, mein Amt zu übernehmen, gehe ich gern.«
+
+Er verbeugte sich leicht und ging zu seinem Platz zurück.
+
+»Bravo!« rief Edgar Allan, und dieser Ruf wurde von einem vielstimmigen
+»Pfui!« beantwortet. Nechlidow sprang auf und schrie:
+
+»Das ist die Revolution! Jetzt wissen wir, was wir von dem Manne zu
+erwarten haben.«
+
+Jakob Silberland läutete und läutete, aber erst nach mehreren Minuten
+gelang es ihm, den Sturm zu übertönen. Ganz heiser sagte er, während der
+Schweiß ihm in zwei Rinnen die Wangen entlang lief:
+
+»Wünscht jemand noch das Wort? Herr Nechlidow, bitte!«
+
+Nechlidow sprach von seinem Platze aus:
+
+»Nachdem der bisherige Vorsteher offen den Bruch der Verfassung erklärt
+hat, behalten wir uns alle Schritte vor, wie auch die Abstimmung
+ausfallen mag.«
+
+Unter steigendem Gemurmel wurden die Stimmzettel verteilt und wieder
+eingesammelt. Als Otto Meyer Jakob Silberland die Urne überreichte,
+trat lautloses Schweigen ein. Einen Zettel nach dem anderen öffnete
+Jakob Silberland und rief laut den darauf stehenden Namen. Otto Meyer
+notierte die einzelnen Stimmen und zählte sie dann zusammen. Dann
+verkündete Jakob Silberland das Resultat:
+
+»Die Stimmen verteilen sich wie folgt:
+
+Herr Seebeck zweihundertdreiundachtzig Stimmen;
+
+Herr Nechlidow zweihundertsiebenunddreißig Stimmen;
+
+Herr de la Rouvière einhundertachtundsiebzig Stimmen.
+
+Elf Zettel sind blank.
+
+Demnach ist Herr Seebeck ordnungsgemäß zum Vorsteher der Gemeinschaft
+wiedergewählt worden.«
+
+»Aber von einer Minorität!« brüllte Nechlidow. »Ich verlange Stichwahl
+zwischen ihm und mir.«
+
+»Herr Seebeck ist verfassungsgemäß gewählt worden«, donnerte Jakob
+Silberland ihm entgegen.
+
+Jetzt erhob sich ein so unbeschreiblicher Lärm, daß Jakob Silberland
+nicht mehr Ruhe stiften konnte. Er setzte deshalb seinen Hut auf und
+deutete damit an, daß die Sitzung unterbrochen sei. Als auch das noch
+keinen Eindruck machte, verließ er mit seinen Freunden den Saal, gefolgt
+von der Mehrzahl der Versammelten. Zurückblickend sah er, daß Nechlidow
+auf dem Podium stand und eifrig auf die Zurückgebliebenen einredete.
+
+
+
+
+Frau von Zeuthen stand in einem ausgeschnittenen schwarzen
+Schleppkleide hochaufgerichtet vor dem Krüppel, der die langen Arme mit
+den schwarzbehaarten Händen demütig hängen ließ:
+
+»Sagen Sie mir, Herr de la Rouvière, was hatte das zu bedeuten, daß man
+Sie als Seebecks Nachfolger vorschlug?«
+
+»Gnädige Frau, es ist mir selbst vollständig unerklärlich. Ich habe
+nicht die geringste Veranlassung dazu gegeben. Wie sollte ich auch nur
+auf den Gedanken kommen!«
+
+»Aber Herr de la Rouvière, wenn Sie, trotz Ihrer Erklärung, mehrere
+hundert Stimmen erhielten, so zeigt das, daß viele Sie für den
+designierten Nachfolger Seebecks hielten und Ihre Erklärung nur für ein
+Scheinmanöver ansahen. Wir stehen da vor einem System von Intriguen, an
+dem das Mißtrauen, das Nechlidow aussät, nur zum Teil Schuld haben kann.
+Sie müssen doch mindestens eine Vermutung haben, wie dieser seltsame
+Mißgriff geschehen konnte.«
+
+Sie sah mit großen, braunen Augen ernst auf ihn nieder, und unter diesem
+Blicke wurde der Krüppel gleichsam noch kleiner:
+
+»Gnädige Frau«, stieß er hervor. »Ich habe nicht gegen Herrn Seebeck
+intriguiert; im Gegenteil, ich habe den geringen Einfluß, den meine
+Stellung mir gab, nur dazu benutzt, die keimende Unzufriedenheit zu
+beruhigen und in vernünftige und sachliche Bahnen zu leiten. Und die
+Resultate meiner Tätigkeit liegen ja offen zutage.« Er wies auf eine
+Nummer der »Inselzeitung«, die sich auf dem Tische befand.
+
+Frau von Zeuthen schüttelte den Kopf:
+
+»Diese Erklärung genügt mir nicht; sie verschleiert nur. Ich will mehr
+wissen.«
+
+Herr de la Rouvière trat einen Schritt zurück und hob gleichzeitig die
+langen Arme:
+
+»Gnädige Frau, Sie, die hoch oben stehen, wo wir niemals hinkommen
+können – können Sie nicht verstehen, daß wir uns nach der Höhe sehnen?«
+
+Frau von Zeuthen setzte sich auf den Divan; ein Schleier legte sich über
+ihre Augen, aber sie sagte nichts. Herr de la Rouvière trat etwas näher
+und hielt sich an einer Stuhllehne fest.
+
+»Verspottet oder bemitleidet habe ich mein Leben verbracht; niemand
+wollte mich als vollen Menschen anerkennen. Dann brachten Sie mich
+hierher, und hier fand ich zum ersten Male in meinem Leben ein
+Arbeitsfeld. Ich wurde ein Mensch unter Menschen. Ich dachte an Sie und
+wollte Ihnen Ehre machen, wollte Sie, die Unerreichbare, erreichen.«
+
+Frau von Zeuthen senkte den Kopf; ihr Blick ruhte unbeweglich auf ihren
+beiden weißen Händen.
+
+»Die Menschen kamen zu mir, und ich kam ihnen entgegen. Viele haben mich
+um Rat gefragt, und ich habe ihnen nach bestem Gewissen geantwortet. Ich
+genoß Vertrauen, aber ich habe es nicht mißbraucht. Ich wollte nur
+helfen, dem Einzelnen und der Gemeinschaft helfen. Die anderen aber
+haben mich mißverstanden; sie glaubten, ich wollte sie beherrschen. Und
+das wurde mir erst gestern klar.«
+
+Frau von Zeuthen erhob sich:
+
+»Ich kann Ihnen heute nicht antworten«, sagte sie, »ich muß Sie bitten,
+mich jetzt allein zu lassen.«
+
+Er ließ den Stuhl los, an dem er sich festgeklammert hatte und trat
+dicht an sie heran:
+
+»Schicken Sie mich nicht so fort! Sagen Sie, daß Sie mich verstanden
+haben!«
+
+»Ich glaube Sie zu verstehen«, sagte sie langsam, aber sie nahm nicht
+die Hand, die er nach ihr ausstreckte. »Aber gehen Sie jetzt; ich muß
+allein sein.«
+
+Und Herr de la Rouvière ging.
+
+
+
+
+Felix schämte sich doch, seine damalige Forschungsreise so kurz
+abgebrochen zu haben, und ohne die geringsten Entdeckungen zurückgekehrt
+zu sein. Obgleich er den größten Teil der Schuld seiner Schwester
+zuschob, konnte er sich doch nicht vergeben, nicht mehr Standhaftigkeit
+gezeigt zu haben. Andererseits sagte er sich auch, daß sie viel zu
+planlos losgezogen seien, so unvorbereitet, daß sie nicht einmal die
+Entfernung des Vulkans gekannt hatten.
+
+Jetzt saß er fast jeden Nachmittag bei Paul Seebeck und studierte dessen
+Karten und Pläne, von denen fast alle – bis auf diejenigen, die die
+nächste Umgebung und die künstlichen Anlagen betrafen – noch aus der
+Zeit stammten, wo Paul Seebeck ganz allein auf der Insel geweilt hatte.
+
+Paul Seebeck gab ihm alle Hilfsmittel, über die er verfügte, darunter
+auch mehrere Lehrbücher der Geologie und der verwandten Wissenschaften,
+und unterstützte ihn auch soweit mit Erklärungen, wie seine knappe Zeit
+es erlaubte. Fast immer freilich verliefen diese Nachmittage so, daß
+Paul Seebeck, mit der Zigarre in der Hand im Zimmer auf- und abgehend,
+Fräulein Erhardt Briefe diktierte, die diese stenographierte, um sie
+dann später auf der Schreibmaschine zu übertragen, während Felix, über
+sein Material gebeugt, still in einer Ecke saß. War Paul Seebeck mit dem
+Diktate fertig, ging er zu Felix, machte ihn auf einige besondere Dinge
+aufmerksam oder löste dem Knaben Zweifel, soweit er dazu imstande war,
+und verließ dann das Zimmer. Gewöhnlich packte Felix dann bald seine
+Sachen zusammen und ging nach Hause, denn es war ihm unangenehm, mit
+Fräulein Erhardt allein zu sein.
+
+Aber als er wieder einmal mit einem kurzen Abschiedswort fortgehen
+wollte, drehte Fräulein Erhardt sich auf ihrem Rundsessel herum und
+fragte ihn:
+
+»Sind Sie jetzt bald mit Ihren Plänen fertig, Herr von Zeuthen? Wann
+ziehen Sie los?«
+
+Felix besann sich einen Augenblick, dann sagte er:
+
+»Eigentlich bin ich schon fertig. Ich will nur warten, bis es etwas
+kühler geworden ist. Aber das wird es wohl schon in den allernächsten
+Tagen werden.«
+
+Fräulein Erhardt faltete die Hände über den Knieen und beugte sich nach
+vorn; sie fragte:
+
+»Darf ich Sie auf Ihrer Reise begleiten, Herr von Zeuthen?«
+
+Felix sah sie überrascht an:
+
+»Ja, wenn es Ihnen Freude macht, natürlich. Aber sie wird wenigstens
+eine Woche dauern.«
+
+Fräulein Erhardt stand auf und reichte ihm die Hand:
+
+»Ich danke Ihnen.«
+
+Felix war etwas verwirrt, und um seine Ratlosigkeit zu verdecken, küßte
+er Fräulein Erhardts Hand. Sie ließ die ihre einen Augenblick in der
+seinen ruhen. Dann trat er an den Tisch zurück und suchte eine von
+Seebecks ersten Kartenskizzen heraus.
+
+»Sehen Sie«, sagte er, »bis an den Fuß des Vulkans geht die Hochebene.
+Die kenne ich jetzt, und da ist nichts zu holen. Steinplatten, Geröll
+und zuweilen Sandstrecken. Und dasselbe sagt Paul; er ist da überall
+gewesen und hat nichts gefunden. Ich kann mir auch nicht denken, daß da
+irgend etwas sein sollte. Aber dort am Fuße des Vulkans, hier, wo Paul
+die Striche gemacht hat, sagt er, wäre eine Masse von Schluchten. Er ist
+nicht weiter gekommen, weil er keine Zeit hatte. Dort ist der Boden auch
+zuweilen so heiß gewesen, daß er ihn nicht betreten konnte. Da müßten
+wir also hin. Ich dachte, an einem Tage direkt bis zu den Schluchten zu
+reiten – Sie können doch reiten, Fräulein Erhardt?«
+
+»Ja, aber ich habe kein Pferd.«
+
+»Das tut nichts, Sie können das von Hedwig nehmen. – Ja, und dann
+müssen wir sehen, was wir da oben finden. Natürlich müssen wir auch auf
+den Vulkan steigen.«
+
+»Ich werde Herrn Seebeck bitten, mir jetzt meinen Urlaub zu geben«,
+sagte Fräulein Erhardt. »Ich freue mich sehr auf die Reise, Herr von
+Zeuthen.«
+
+Felix verbeugte sich etwas ungeschickt und ging.
+
+Schon in den nächsten Tagen nahm die Hitze ab; kühle Winde strichen über
+die Insel und führten leichte, graue Wolkenzüge mit; ja, gelegentlich
+fielen sogar einige Regentropfen. Jetzt, zwischen Sommerhitze und
+Regenperiode, war die geeignete Zeit für einen längeren Ausflug
+gekommen.
+
+Am Tage vor ihrem Aufbruch hatte sich Paul Seebeck mehrere Stunden von
+seiner Arbeit frei gemacht und half den beiden bei ihren Vorbereitungen.
+Er sorgte dafür, daß sie Proviant für vierzehn Tage, und auch sonst
+alles Notwendige, doch nichts Überflüssiges mit hatten. Was die Pferde
+anging, riet Seebeck, sie nach der Ankunft einfach loszulassen; sie
+würden dann ohne weiteres nach Hause laufen. Felix und Fräulein Erhardt
+müßten dann allerdings zu Fuß heimkehren. Auf dem Hinwege brauchten sie
+aber unbedingt die Pferde, des Transportes ihrer Sachen wegen.
+
+Noch vor der Morgendämmerung brachen sie auf, und gerade, als sie das
+Volkshaus erreichten, hob sich die Sonne über den Horizont. Der Nachttau
+verschwand bald von den Steinen, aber trotz des wolkenlosen Himmels
+wurde es nicht heiß. Die Spitze des Vulkans lag vollkommen frei von
+Wolken und Schleiern vor ihnen.
+
+Sie ritten in langsamem Trabe an dem Staubecken vorbei und kamen auch zu
+der Stelle, wo sich Felix und Hedwig damals zur Umkehr entschlossen
+hatten. Erst zur Mittagsstunde stiegen sie von den Pferden. Felix
+öffnete einige Konservenbüchsen und bot Fräulein Erhardt vom Inhalte an.
+Als sie gegessen hatten, warf er sich auf den Boden, zog eine seiner
+Kartenskizzen hervor und bemühte sich, sich über ihren gegenwärtigen
+Standort zu orientieren. Fräulein Erhardt saß inzwischen auf einem Stein
+und schaute abwechselnd auf ihren Reisegenossen und auf die starre
+Steinwüste. Nach zweistündiger Rast brachen sie wieder auf. Sie hielten
+streng die Richtung auf den Vulkan ein, mußten aber immer größere Umwege
+machen, um tiefe Spalten im Boden zu umreiten. Das Gelände wurde auch
+immer welliger, und gleichzeitig trat mehr und mehr Geröll und Grus auf.
+Das Geräusch vom Flusse her war vollkommen verstummt, aber immer höher
+und breiter reckte sich der Vulkan. Aus dem regelmäßigen Kegel lösten
+sich immer größere Vorsprünge heraus, und tiefe Einschnitte zeigten sich
+an seinen Wänden.
+
+Auch das ganze Bild der Gegend hatte sich verändert. Es gab keine Ebene
+mehr, aus der sich plötzlich scharf umgrenzt der Vulkan erhob. Ebene und
+Vulkan kamen einander entgegen, verwischten in ihrer zunehmenden
+Zerklüftung ihre Gegensätze und verschmolzen zuletzt zu einem wilden
+Körper.
+
+Fräulein Erhardt und Felix ritten an hohen Felsblöcken vorbei, mußten
+oft im Zickzackwege an steilen Geröllhalden hinab- und hinaufreiten. Das
+Traben war unmöglich geworden, und im mühsamen Schreiten wiegten die
+kleinen, starken Pferdchen rhythmisch die Köpfe.
+
+Die Spitze des Vulkans war zurückgetreten und zuletzt ganz hinter einer
+hohen Felswand versunken. Und hier hielten die beiden an, um im Schutze
+der Felswand die Nacht zu verbringen. Sie nahmen das Gepäck von den
+Pferden, gaben ihnen den letzten Rest des mitgebrachten Heus zu fressen,
+nahmen ihnen dann das Zaumzeug ab und banden es an den Sätteln fest. Die
+klugen Tierchen blieben erst schnuppernd stehen, gingen einige Schritte
+heimwärts und wandten dann wieder die Köpfe nach Felix zurück. Da dieser
+aber keine Miene machte, sie zurückzuhalten, setzten sie sich in
+langsamen Trott und waren bald hinter den Felsen verschwunden.
+
+Während Fräulein Erhardt und Felix fast schweigend ihr Abendessen
+einnahmen, wurden die Schatten unheimlich lang und kalt, krochen an den
+Felswänden empor, hier und da leuchtete noch eine Spitze, ein
+Vorsprung –
+
+Wenige Minuten später war es dunkel, und sofort legte sich ein schwerer
+Tau auf Gesicht und Kleider.
+
+Felix zündete eine kleine Lampe an und ordnete in ihrem schwachen
+Lichtscheine die mitgebrachten Sachen. Er rollte die Schlafsäcke auf und
+stellte die Konserven in eine kleine Spalte, die er – um sie vor den
+Sonnenstrahlen zu schützen – noch mit einem flachen Steine zudeckte.
+Dann kroch er in seinen Schlafsack, gähnte, wünschte Fräulein Erhardt
+eine gute Nacht und schlief fest ein. Fräulein Erhardt aber blieb noch
+lange auf ihrem Steinblock sitzen; zuweilen bewegte sie fröstelnd die
+Schultern. Zuletzt ging sie vorsichtig zu Felix, kniete neben den
+Schläfer hin, beugte ihr bleiches Gesicht über ihn und küßte ihn leise
+auf die Stirn. Felix rührte sich nicht. Da ging Fräulein Erhardt
+gesenkten Hauptes zurück und legte sich endlich zur Ruhe.
+
+Als sie am Morgen aufwachte, war Felix fort. Sie sprang schnell auf und
+brachte ihre zerdrückten Kleider, so gut es sich machen ließ, in
+Ordnung. Felix kam erst nach einer Stunde. Er war beim Flusse gewesen
+und hatte Wasser geholt. Er setzte das Wasser über den Spirituskocher
+und sagte:
+
+»Wissen Sie, was ich herausgefunden habe, Fräulein Erhardt? Wir sind vom
+Wege ein tüchtiges Stück nach links abgekommen. Die Spalten, von denen
+Paul mir erzählt hat, habe ich sehn können, wie ich zum Fluß ging. Hier
+ist sicher überhaupt noch nie ein Mensch gewesen. Am liebsten möchte ich
+die Spalten in Frieden lassen und noch weiter nach links, also nach
+Süden, gehn.«
+
+Er stürzte in großer Hast seinen Tee hinunter und ging dann zum nächsten
+Hügel, wo er eine mächtige Steinpyramide errichtete.
+
+»So, jetzt können wir unsere Sachen immer wieder finden«, sagte er.
+»Sind Sie fertig?«
+
+Fräulein Erhardt war fertig und bereit, ihm zu folgen.
+
+Sie gingen an der Felswand entlang und kamen nach einer halben Stunde an
+eine Geröllhalde. Hier stiegen sie höher hinauf, bis sie an einen Absatz
+kamen, von dem aus sie Umschau halten wollten. Aber sie konnten nicht
+weit sehen; hätten sie nicht gewußt, daß sie sich am Abhange des Vulkans
+befanden, der sich hoch über die Ebene reckte – hier hätten sie es nicht
+feststellen können, denn an allen Seiten sahen sie nur ein Gewirr von
+Felsen und Schutthügeln, das jede Aussicht versperrte. Nur an einem
+einzigen Punkte, gerade zwischen zwei Basaltfelsen, konnten sie die
+Ebene und sogar ein Streifchen des hellschimmernden Meeres sehn.
+
+Sie gingen weiter; Felix immer zwanzig Schritte voraus. Das Gefälle war
+jetzt viel geringer, und das Geröll wurde oft durch Strecken von
+graublauem Sande und Lehm unterbrochen, aus dem oft kleine Quellen
+entsprangen, die aber alle bald wieder im Gerölle verschwanden.
+Plötzlich schrie Felix leicht auf: er war mit dem einen Bein bis zum
+Knie in ein Schlammloch gesunken. Fräulein Erhardt eilte erbleichend zu
+ihm, aber er hatte sich schon wieder beruhigt und zeigte ihr lachend das
+schmutzige Bein und das Loch, in dem sich jetzt gurgelnd trübes Wasser
+ansammelte. Aber Felix war durch den Vorfall vorsichtiger geworden; er
+umging die immer häufiger auftretenden feuchten, dunklen Strecken, bis
+sie endlich wieder auf festen Basaltgrund kamen. Hier sah Felix auf die
+Uhr: sie waren schon drei Stunden ununterbrochen gestiegen. Dann setzte
+er sich auf einen Stein, um Fräulein Erhardt zu erwarten, nahm sich
+einen Stein und kratzte den Schmutz vom Strumpf und Stiefel.
+Naserümpfend warf er den Stein fort, denn das Zeug hatte einen widrigen,
+fauligen Geruch.
+
+Als Fräulein Erhardt neben ihm stand, reichte er ihr eine Tafel
+Schokolade und rückte gleichzeitig etwas auf seinem Steine zur Seite, um
+auch ihr Platz zu machen. Aber sie bemerkte es nicht; nachdenklich
+knabberte sie an der Schokolade und blickte dabei vor sich auf den
+Boden.
+
+Etwas gelangweilt und mißvergnügt sah Felix sie an; aber dann wurden
+seine Züge plötzlich weich, und er wandte sich ab.
+
+»Sehen Sie doch, wie schön es hier ist«, sagte er und streckte die Hand
+aus.
+
+Fräulein Erhardt sah erst ihn mit ihren großen, schwarzen Augen an, dann
+drehte sie sich ganz langsam umher. Jetzt waren die Felsen, die ihnen
+vorher den Blick versperrt hatten, tief unten versunken. Sie hoben sich
+kaum merkbar über die Ebene, die breit und flach dort unten lag. Ein
+schmales Silberband – der Fluß – zog sich in Windungen hindurch; dort
+lag ein kleiner hell spiegelnder Fleck – das Staubecken, und hinten,
+weit hinten, das Meer –
+
+Fräulein Erhardt hatte die Hand auf Felix’ Schulter gelegt, und er
+empfand wohlig den leichten Druck. Aber dann merkte er ihre Wärme durch
+seine Kleider dringen, und das verursachte ihm ein unbehagliches Gefühl.
+Er stand auf:
+
+»Wir haben keine Zeit, Fräulein Erhardt, wenn wir heute noch hinauf
+wollen«, sagte er.
+
+»Dann lassen Sie uns weitergehn«, antwortete sie einfach und schlug die
+Augen nieder.
+
+Sie stiegen weiter. Plötzlich blieb Felix stehen.
+
+»Riechen Sie nichts, Fräulein Erhardt?« fragte er.
+
+Sie sog die Luft ein:
+
+»Ja, das ist doch Meergeruch!« sagte sie erstaunt.
+
+Felix schüttelte den Kopf:
+
+»Ich finde es auch. Aber das ist doch ganz unmöglich. Wir sind doch ganz
+weit vom Meere, und außerdem so hoch –«
+
+Aber je höher sie kamen, um so stärker wurde der unverkennbare
+Tanggeruch. Außerdem waren immer wieder große, feuchte Lehmflecke
+zwischen den Felsen. Um sie zu umgehn, mußten sie mehrmals an den
+zackigen Felsen emporklettern.
+
+Auf einmal lag wieder die Spitze des Vulkans in ihrer bekannten Form vor
+ihnen, nur daß sie jetzt in der Nähe scharf und zackig aussah. Aber
+zwischen dem Vulkane und ihnen lag in einem langen und breiten Becken
+grünlich und fett schimmernd ein großer See. Jetzt nach dem heißen
+Sommer war der Wasserspiegel weit zurückgetreten, und die lehmigen Ufer
+waren mit ungeheuren Massen von Tang und vertrockneten Algen bedeckt.
+
+Skelette von Fischen lagen zu Tausenden herum, ebenso die Reste von
+großen Seesternen und Krebsen.
+
+Jetzt kam ein Windhauch und trieb Fräulein Erhardt und Felix den Gestank
+ins Gesicht. Trotzdem machte sich Felix an den Abstieg, während Fräulein
+Erhardt oben blieb. Sie sah ihm nach, wie er von Stein zu Stein
+hinuntersprang und dann unten am Rande des Wassers entlang ging. Nach
+einer Weile kam er, hochrot im Gesicht, den Abhang wieder
+hinaufgestürmt.
+
+»Wissen Sie was, Fräulein Erhardt?« rief er, noch ganz atemlos. »Im
+Wasser wimmelt es von Fischen und Krebsen! Es sieht genau so aus, wie in
+der Irenenbucht.«
+
+Sie gingen einige Schritte zurück, so daß sie der Geruch nicht mehr so
+belästigte. Dann fragte Fräulein Erhardt:
+
+»Wie wollen Sie diese sonderbare Erscheinung erklären, Herr von
+Zeuthen?«
+
+Felix dachte nach.
+
+»Paul glaubt ja, daß die ganze Insel in etwas anderer Form schon früher
+da war, untersank und dann jetzt bei der Bildung des großen Vulkans
+wieder aufstieg. Es wäre ja möglich, daß wir hier den früheren Krater
+vor uns haben, in dem sich unter dem Meere alle die Tiere und Pflanzen
+angesiedelt haben. Wie die Insel aufstieg, hat sich diese ganze
+abflußlose Schüssel mit ihrem ganzen Inhalte mit gehoben und bildet
+jetzt tausend Meter über dem Meere einen Salzsee. Das muß ich Allan
+erzählen, der wird gleich etwas großartiges daraus machen.« Und Felix
+begann gleich Fräulein Erhardt großzügige Pläne zu entwickeln, wie man
+durch eine regulierte Wasserzufuhr verhindern könnte, daß der Spiegel
+sich in der Trockenheit senkte. Die konstante Höhe des Wassers wäre die
+erste Grundlage für weitere Arbeiten. Dann müßte man Fische
+hineinbringen, die sowohl im Meere wie in Flüssen leben könnten und die
+sich dann dem langsamen, aber unvermeidlichen, allmählichen Salzverluste
+des Wassers anpassen würden. Und ebensolche Pflanzen. Dann Vögel
+herlocken, den überflüssigen Tang als Dünger für Anlagen verwenden – oh,
+es würde schon alles gehn; Allan würde hier mitten in der Steinwüste ein
+Paradies schaffen.
+
+Sie gingen weiter, des Geruches wegen immer so, daß ein Wall zwischen
+ihnen und dem See lag. Zuweilen konnten sie es sich doch nicht versagen,
+die paar Schritte hinaufzulaufen, um sich das Wasser wieder anzusehen,
+das sich mehr und mehr zur Seite schob. Gleichzeitig versank die Spitze
+des Vulkans wieder hinter vorspringenden Felsen. Nun konnten Fräulein
+Erhardt und Felix wieder höher steigen, aber nur schräg aufwärts, so daß
+sie immer mehr nach rechts gerieten. Jetzt befanden sie sich ungefähr
+über ihrem Schlafplatze, eine halbe Stunde über der Quelle des Flusses
+und dann über jenem Gewirre von Schluchten und Rissen. Der See war
+vollkommen verschwunden.
+
+Plötzlich hielt Felix an; er faßte erregt Fräulein Erhardts Hand:
+
+»Sehn Sie dort unten, was ist jetzt das?«
+
+Fräulein Erhardt sah hin: in etwas geringerer Höhe, als in der, wo sie
+standen, lagen rötlich-gelbe Erdwellen, aus denen Dampf entstieg, hier
+als verteilter Dunst, dort in kleinen, festen Strahlen.
+
+»Wollen Sie hingehn?« fragte Fräulein Erhardt.
+
+»Natürlich, da müssen wir hin.«
+
+»Aber dann kommen wir heute nicht mehr auf den Vulkan.«
+
+»Dann gehn wir morgen hin. Wir haben ja Zeit. Aber das da muß ich
+untersuchen.«
+
+Und er ging so schnell, lief lange Strecken, daß Fräulein Erhardt ihm
+nicht zu folgen vermochte. Als sie erst die halbe Strecke zurückgelegt
+hatte, kam ihr Felix schon wieder entgegen.
+
+»Sehen Sie, was ich hier habe!« rief er und zeigte ihr einige
+grobkörnige, gelbliche Steinbrocken.
+
+»Ist das nicht Schwefel?« fragte sie erstaunt.
+
+»Ja, alle die gelben Hügel da unten bestehen aus Schwefelbrei und Lehm.
+Man muß vorsichtig sein, daß man da nicht versinkt. Und überall sind
+heiße Quellen, die entsetzlich nach Schwefelwasserstoff riechen. Gott,
+wie schön ist das alles.«
+
+Fräulein Erhardt sah erst dem Knaben in das heiße, strahlende Gesicht
+und wandte sich dann langsam ab. Sie ließ den Blick über die weite Ebene
+schweifen, die, vom vielfach gewundenen Flusse durchzogen, dort unter
+ihnen lag. Sie folgte mit dem Auge der großen Linie des Horizontes, wo
+Meer und lichtblauer Himmel sich trafen, sie sah auf die starren
+Steinblöcke um sich, sah die Spitze des Vulkans in die Höhe ragen –
+
+»Ist es nicht prachtvoll, daß es hier so etwas gibt?« sagte Felix
+ungeduldig und etwas ärgerlich.
+
+Mit einem gütigen Lächeln wandte sie sich ihm zu.
+
+»Gewiß ist das schön«, sagte sie. »Glauben Sie, daß es eine praktische
+Bedeutung hat?«
+
+Felix wurde eifrig. Natürlich müßte man hier Schwefelminen anlegen –
+
+Ob es ihm nicht leid täte, die Unberührtheit der Natur zu zerstören? Oh,
+Allan würde es so machen, daß es eine Verschönerung, eine Funktion der
+Natur würde, eine natürliche Fortentwicklung, wie das Wachsen des Mooses
+auf den Felsen.
+
+»Allan und immer wieder Allan!« dachte Fräulein Erhardt und sah zu
+Boden. »Hat er denn keinen Gedanken mehr für andere Menschen übrig?«
+
+»Was machen wir jetzt?« sagte Felix. »Auf die Spitze können wir nicht
+mehr kommen. Es ist ja schon vier Uhr. Wir können noch gerade vor der
+Dunkelheit unten sein. Dann haben wir aber morgen wieder dieselbe
+Geschichte. Ich glaube, es wäre am vernünftigsten, einfach hier zu
+übernachten. Ich habe noch drei große Konservenbüchsen mit Fleisch und
+eine ganze Masse Schokolade in meinem Rucksack. Damit können wir, wenn
+wir etwas sparen, gut noch zwei Tage auskommen.
+
+Sobald wir dann wieder unten sind, können wir uns wieder satt essen. Was
+meinen Sie dazu?«
+
+Fräulein Erhardt sah sich um und suchte sich vorzustellen, wie man hier
+auf den nackten Steinen schlafen sollte.
+
+»Ja«, sagte sie etwas zögernd.
+
+»Gut, dann steigen wir jetzt noch so hoch wir können. Vielleicht können
+wir dann schon morgen Abend wieder unten sein.«
+
+Sie stiegen noch zwei Stunden. Der Weg bot keine besonderen
+Schwierigkeiten mehr, so daß sie im Gehen wirklich die immer großartiger
+werdende Aussicht genießen konnten.
+
+Als sich die Sonne dem Horizonte näherte, sahen sie, daß sie nur noch
+wenige Stunden bis zum Gipfel brauchen würden. Eine kleine Terrasse mit
+Lehmboden und einem kleinen Wässerchen wählten sie als Schlafplatz.
+Felix knöpfte seine Jacke zu, steckte die Hände in die Hosentaschen,
+wünschte Fräulein Erhardt eine gute Nacht und schloß die Augen. Sie sah
+ihn mit ihren großen Augen an, sah im rasch fortschreitenden Dunkel
+seine Knabengestalt undeutlicher und undeutlicher werden. Sie fröstelte,
+sie zitterte; Angst und Sehnsucht überfielen sie. Mit einem Aufschrei
+warf sie sich auf den Schläfer und küßte ihm Augen und Mund.
+
+Felix erwachte wieder, machte eine Bewegung, wie um sie abzuschütteln
+und zog sie dann tief aufatmend an sich.
+
+
+
+
+Die Nachricht von Felix’ Entdeckungen erweckte naturgemäß großes
+Interesse in der Stadt. Paul Seebeck schlug ihm vor, er solle im
+Volkshause einen Vortrag über seine Reise mit Fräulein Erhardt halten;
+aber dazu ließ sich Felix nicht bereit finden.
+
+»Ich habe die Sache schon so oft erzählt; ich kann sie nicht noch einmal
+erzählen«, sagte er.
+
+Dabei hatte er sie mit allen Einzelheiten – doch nicht denen rein
+persönlicher Natur – und allen seinen Gedanken, die sich an das
+Geschehene knüpften, nur einem Einzigen ordentlich erzählt, und das war
+Edgar Allan. Und wenige Tage darauf – der Architekt hatte nur einige
+dringende Arbeiten fertig gemacht – ritten er und Felix, trotz des
+feinen, aber ständigen Regens, der die Regenzeit einleitete, zum
+Vulkane.
+
+Als sie nach einigen Tagen zurückgekehrt waren, bewahrten sie absolutes
+Stillschweigen über die Resultate ihrer genauen Untersuchungen. Aber die
+beiden, der Mann und der Knabe, saßen täglich stundenlang zusammen.
+
+Erst nach zwei Wochen waren sie so weit, daß sie die Vorsteher ins
+Vertrauen zogen, und gleichzeitig erschien eine kleine Notiz in der
+»Inselzeitung« des Inhalts, daß sich die Schwefellager als abbauwert
+erwiesen hätten.
+
+In der nächsten Monatsversammlung der Gemeinschaft legte dann Jakob
+Silberland die von Edgar Allan und Felix ausgearbeiteten und von der
+Vorsteherschaft gutgeheißenen Pläne vor. Es handelte sich um nichts
+weniger, als die Errichtung einer zweiten Stadt dort auf halber Höhe des
+Vulkans; einer Stadt, die sich gleicherweise um das Schwefelgebiet wie
+den See gruppieren sollte. Die Schwefelminen sollten abgebaut, die
+Quellen aber zu Heilzwecken verwendet werden. Am Seeufer sollten die
+Wohnhäuser liegen. Otto Meyer verteilte Vervielfältigungen von Edgar
+Allans Skizze, aus denen in großen Zügen die geplante Verbindung von
+Minenstadt und Bade- und Luftkurort zu ersehen war.
+
+Die Kredite, die zur Durchführung notwendig waren, waren nicht groß;
+Edgar Allan verlangte nur die Anlage einer für Lastautomobile fahrbaren
+Straße zum Vulkane und die Anschaffung der wenigen Maschinen, die zur
+Hebung des fast an der Oberfläche liegenden Schwefels dienen sollten.
+Die späteren Anlagen sollten aus der Hälfte der Erträgnisse der
+Schwefelminen bestritten werden, wobei die andere Hälfte der
+Gemeinschaft zufallen sollte. Und diese Kredite wurden natürlich ohne
+Widerspruch bewilligt.
+
+Darauf bat Jakob Silberland um Urlaub aus seinem Amte bis zur nächsten
+Jahresversammlung, wo er sich über die endgiltige Niederlage seines
+Mandats entscheiden würde. Vorläufig wollte er die geschäftliche Leitung
+des neuen Unternehmens übernehmen. Der erbetene Urlaub wurde ihm
+gewährt, und als sein Stellvertreter wurde der durch Zuruf
+vorgeschlagene Herr de la Rouvière gewählt, der die Wahl mit einigen
+Dankesworten annahm.
+
+
+
+
+Dr. Jakob Silberland hatte Otto Meyer aufgesucht, mit dem er ein
+Gesetzbuch für die Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel entwarf, und
+jetzt standen sie von ihrer Arbeit auf. Der Nationalökonom reckte sich
+und sagte:
+
+»Sie sind eigentlich der Einzige hier, der eine wirklich gemütliche
+Wohnung hat; Ihre wunderschönen, orientalischen Teppiche und die dunklen
+Möbel –«
+
+»Na, wissen Sie was, Doktor. Die schöne Frau wohnt doch noch ganz
+anders.«
+
+Jakob Silberland zuckte die Achseln:
+
+»Weiß nicht. Sie hat ja alles sehr nett und sehr geschmackvoll
+eingerichtet, aber ich kann bei ihr nun mal nicht warm werden. Ich
+glaube, sie hat zu viel Luft in ihren Zimmern.«
+
+Der lange, blonde, jüdische Referendar lachte:
+
+»Ja, da haben Sie wieder mal recht; nichts auf der Welt macht eine
+Wohnung so gemütlich, wie Staub und alter Tabaksrauch – ein Lehrsatz,
+den man übrigens auch gut und gern auf die große Welt übertragen kann.
+Finden Sie es vielleicht hier in unserem reinlichen und korrekten Staat
+gemütlich? Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich mich zuweilen
+nach den ehrwürdigen, europäischen Spinngeweben sehne.«
+
+Jakob Silberland war ernst geworden; er dachte einen Augenblick nach,
+dann sagte er eifrig:
+
+»Sie können nicht so die Parallele zwischen Zimmer und Welt ziehen. Was
+im Zimmer erlaubt ist, kann draußen ein Verbrechen sein. Im Gegenteil
+fürchte ich, daß wir schon einige Spinnen hier haben, und wir müssen für
+einen kräftigen Besen sorgen, um die Gewebe wegzufegen.«
+
+Otto Meyer klopfte ihm auf die Schulter:
+
+»Nehmen Sie die Geschichte nicht so tragisch. So war es nicht gemeint.«
+
+»Das weiß ich schon; Sie wollten nur einen Witz machen. Aber gerade im
+Witze sagt man oft Dinge, die man sonst nicht auszusprechen wagt.«
+
+»Aber liebster Doktor, Sie brauchen meine Worte nicht als Bibelweisheit
+aufzufassen. Ich kann Ihnen versichern, daß ich kein Philosoph bin.«
+
+»Gerade deshalb – Halloh!«
+
+Es hatte geklingelt und Melchior war eingetreten. Er war augenscheinlich
+ohne Mantel gekommen, denn er triefte von Wasser.
+
+»Guten Tag, Herr wissenschaftlich gebildeter Bauarbeiter!« Mit diesen
+Worten begrüßte ihn Otto Meyer und schüttelte ihm die Hand.
+
+»Störe ich?« fragte Melchior und blieb an der Türe stehen.
+
+»Durchaus nicht«, sagte Jakob Silberland und ging auf ihn zu. »Im
+Gegenteil, Sie sind uns sehr willkommen. Nachher kommt auch Seebeck. Wir
+wollten später zu Ihnen gehn; wir haben Wichtiges mit Ihnen zu
+besprechen.«
+
+»Einen Augenblick«, sagte Otto Meyer und ging in sein Schlafzimmer, aus
+dem er mit einem großen, rosa Bademantel zurückkehrte, den er mit
+ernsthaftem Gesicht um Melchiors Schultern hängte. Er stülpte ihm auch
+die Kapuze über den Kopf.
+
+»So«, sagte er, »jetzt werden Sie sich nicht erkälten.«
+
+Melchior ließ sich alles ruhig gefallen. Er setzte sich, und seine
+heißen, tiefliegenden Augen wanderten zwischen den Beiden hin und her.
+
+»Was wollen Sie von mir?« fragte er.
+
+Otto Meyer zog die Hängelampe herunter, nahm Kuppel und Zylinder ab,
+putzte den Docht und zündete ihn dann an. Dabei sagte er:
+
+»Ich soll ein neues Amt übernehmen, und da wollten wir Sie fragen, ob
+Sie an meine Stelle rücken wollten.«
+
+Melchior schüttelte langsam den Kopf:
+
+»Das geht nicht«, sagte er, »das wissen Sie ja.«
+
+»Hören Sie mal«, sagte Jakob Silberland. »Wir wissen ja alle, aus
+welchen Motiven Sie bisher die Übernahme eines Amtes abgelehnt haben und
+einfacher Arbeiter geblieben sind. Sie wollten Studien machen und dabei
+Ihrem Studienobjekte so nah wie möglich sein. Das ist nicht nur
+verständlich, sondern sogar sehr vernünftig. Jetzt liegen sie aber so,
+daß wir Ihre Mitarbeit brauchen, dringend brauchen, und deshalb bitten
+wir Sie, aus dem Zuschauerraum auf die Bühne zu steigen.«
+
+Melchior schüttelte den Kopf:
+
+»Wir gingen von der Voraussetzung aus, daß alle Arbeit gleichwertig sei;
+deshalb muß es gleichgiltig sein, ob ich Vorsteher der Gemeinschaft oder
+Maurer bin.«
+
+»Nein, da irren Sie sich gewaltig«, sagte Jakob Silberland mit
+hochgezogenen Brauen und ging nervös im Zimmer auf und ab. »Allerdings
+betrachten wir alle Arbeit als gleichwertig, was sich schon darin
+äußert, daß alle Arbeiter den gleichen Lohn beziehen. Doch ist dabei
+selbstverständliche Voraussetzung, daß jeder an dem richtigen Platze
+steht. Es ist eine doppelte Verschwendung menschlicher Energie, den
+geistigen Arbeiter an die körperliche Arbeit zu stellen, die er doch
+nicht so versehen kann, wie der Muskelmensch. Das ist doch die Grundlage
+einer jeden vernünftigen Gesellschaftsordnung, daß jeder ganz genau die
+Arbeit tut, zu der er am besten geeignet ist. Das ist doch gerade der
+Wahnsinn der üblichen Gesellschaftsordnungen, daß die Angehörigen
+gewisser Familien geistige Berufe ergreifen müssen, wenn sie auch
+tausendmal besser zu Handwerkern paßten, während der geborene geistige
+Arbeiter aus der Unterklasse nur in Ausnahmefällen auf den ihm seiner
+natürlichen Anlage nach zukommenden Platz kommt.«
+
+Melchior war aufgesprungen. Erregt wollte er seinen Arm ausstrecken,
+aber der verfing sich in den Falten des Bademantels, ein Vorgang, der
+Otto Meyer ein Schmunzeln entlockte. Er verbiß es aber und sagte:
+
+»Und dann noch eins, Herr Melchior: Sie haben ja Ihr berühmtes Problem,
+auf dessen Lösung wir alle gespannt sind. Schaun Sie mal, bis jetzt
+haben Sie die Geschichte von unten angesehn, wie wäre es, wenn Sie sie
+auch einmal von oben ansähen? Glauben Sie nicht, daß Ihnen dann manche
+Dinge klarer würden? Das wäre doch auch ein Gesichtspunkt, nicht wahr?«
+
+Melchior hatte den Bademantel abgestreift.
+
+»Oh Gott, oh Gott, was sagen Sie mir da alles, darüber werde ich
+nachdenken. Aber ich glaube, Sie haben Recht, meine Herren.«
+
+»Na also«, sagte Otto Meyer und unterdrückte ein Gähnen.
+
+Melchior war dicht an ihn herangetreten.
+
+»Aber ich begreife die Menschen noch nicht, mit denen ich jetzt
+jahrelang tagtäglich zusammenarbeite. Wäre es nicht besser, solange bei
+ihnen zu bleiben, bis ich wirklich die Gesetze ihres Lebens kennte?«
+
+Otto Meyer machte ein nachdenkliches Gesicht:
+
+»Vielleicht, ja wahrscheinlich, werden Sie die Sache dann gerade besser
+verstehen können, wenn Sie etwas Abstand gewinnen. Sie können ja dann
+später mit neuen Gesichtspunkten an dieselben Probleme gehen.«
+
+Melchior setzte sich wieder und starrte vor sich hin. Dann hob er die
+Augen und sah den blonden Juden an.
+
+»Sehen Sie, Herr Referendar«, sagte er langsam, »deswegen kam ich zu
+Ihnen. Ich wollte Sie um Ihre Meinung fragen. Sie erinnern sich doch
+gewiß noch an jene Gespräche, besonders an das letzte, wo Herr Edgar
+Allan seine Theorie vortrug. Sie haben natürlich auch darüber
+nachgedacht. Sehen Sie, die eine, sehr interessante Frage, weshalb man
+die staatlichen Formen im weitesten Sinne, das, was Herr Edgar Allan
+kurz die Begriffe nennt, sowohl als fortgeschrittener, wie auch als
+zurückgebliebener in bezug auf den tatsächlichen Zustand der Menschheit
+ansehen könnte, möchte ich beiseite lassen. Denn mir scheint – ich bitte
+Sie, passen Sie auf, meine Herren – daß jene Begriffe mit den Gesetzen,
+nach denen die Menschheit tatsächlich lebt und sich entwickelt,
+überhaupt nichts zu tun haben.«
+
+»Donnerwetter!« rief Jakob Silberland und fuhr sich mit der Hand durch
+das lange, blauschwarze Haar.
+
+»Herr Doktor Silberland, ich bitte Sie, sich folgendes zu überlegen:
+stellen Sie sich doch eine chinesische Millionenstadt ohne Verwaltung,
+ohne Gesetze und ohne Polizei vor, die trotzdem lebt, wie ein geordneter
+Organismus lebt, nur durch die ungeschriebenen, inneren Gesetze
+erhalten –«
+
+»Wie lange waren Sie in China, Herr Melchior?« fragte Otto Meyer
+interessiert.
+
+»Ich? Ich war nie da, aber ich kann mir doch vorstellen, wie das ist.«
+
+»Hm. Ich meine, wenn Sie China nicht so genau kennen, es wäre doch
+immerhin möglich, wenigstens denkbar, daß die chinesischen Städte auch
+wie die unserigen eine geordnete Verwaltung hätten.«
+
+Melchior schwieg und dachte nach. Dann sagte er:
+
+»Aber dann denken Sie doch bitte an einen Ameisenhaufen, der doch wohl
+die geordnetste Organisation auf der Welt darstellt – wo ist da
+Verwaltung und Regierung? Und doch geht alles in der besten Ordnung.«
+
+Melchior sah, daß es um Otto Meyers Mund zuckte, und er fürchtete eine
+indiskrete Frage nach dem Ursprung seiner Kenntnisse der Ameisen.
+Deshalb fuhr er schnell fort:
+
+»Die Beispiele tun gar nichts zur Sache. Tag für Tag habe ich diese
+ungeschriebenen Gesetze herausgefühlt und ich weiß, daß ich deshalb mit
+meinen Arbeitskollegen keine wirkliche Fühlung gewinnen konnte, weil ich
+diese instinktiven Gesetze intellektuell suchte.«
+
+»Sie suchen Probleme, wo es keine gibt«, sagte Jakob Silberland. »Die
+ungeschriebenen Gesetze, die Sie sehr richtig als die instinktiven
+bezeichnen, sind die, die sich aus den natürlichen, animalischen
+Bedürfnissen des Menschen: Hunger, Liebestrieb und so weiter ergeben.
+Die geschriebenen Gesetze dagegen stellen eine recht hilflose
+Kodifikation dieser aus den animalischen Bedürfnissen im weitesten Sinne
+sich ergebenden praktischen Folgerungen für die Sozietät dar, die immer
+in ihrem tatsächlichen Zustande die genaueste Abwägung der realen
+Stärke- und Bedürfnisverhältnisse darstellt. Die Gesetze hinken
+natürlich immer nach. Und das ist ja unser Bestreben hier, so wenig wie
+irgend möglich mit festen Gesetzen zu arbeiten, sondern alles so fluid
+zu lassen, wie es geht. Gesetze stellen in ihrer starren Abstraktion
+immer einen Fremdkörper im zuckenden, lebendigen Organismus der
+menschlichen Gesellschaft dar.«
+
+Melchior ließ die Hand schlaff auf die Stuhllehne fallen:
+
+»Da sitzen wir wieder fest. Aber Dr. Allan scheint doch recht zu haben,
+wenn er sagt, daß die Begriffe ein eigenes, lebensfremdes Dasein führen.
+Und wie ist das möglich, daß sie gleichzeitig ein höheres und ein
+tieferes Niveau als die Menschheit darstellen! In diesem Rätsel liegt
+doch der Schlüssel zum Problem verborgen.«
+
+Otto Meyer räusperte sich:
+
+»Wahrscheinlich ist die Sache einfach so, daß man sie, von zwei
+verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtend, verschieden sieht. Vom
+Tale aus gesehen sind sie hoch, vom Berge aus erscheinen sie tief, weil
+sie eben auf halber Höhe liegen.«
+
+Melchior sprang auf. Seine Augen waren aufgerissen:
+
+»Ich bitte Sie, mehr! Wie ist Ihr Gedankengang?«
+
+Otto Meyer lachte:
+
+»Um Gotteswillen beruhigen Sie sich. Ich habe gar keinen Gedankengang.
+Ich meinte nur ganz harmlos, daß wenn Sie behaupten, daß der Teppich
+grün ist, Silberland ihn dagegen für gelb hält, er vermutlich auf der
+einen Seite grün und auf der anderen gelb ist.«
+
+Melchior sah ihn verständnislos an; dann sank er gleichsam in sich
+zusammen. Nach einer Weile sagte er leise:
+
+»Ich weiß, daß Sie mich verspotten, und doch haben Sie mir damit
+geholfen. Ich sehe jetzt wieder den Weg vor mir. Ich danke Ihnen.«
+
+»Bitte, bitte, gern geschehen«, sagte Otto Meyer und stand auf. Er hatte
+draußen Schritte gehört. Es war Paul Seebeck.
+
+»Ah, Melchior, Sie«, sagte er eintretend. »Schön, daß ich Sie hier
+treffe. Dann können wir die Sache ja gleich besprechen. Ich habe nämlich
+fast gar keine Zeit. – Grüß Gott, Jakob.«
+
+»Wir haben Herrn Melchior schon die Sache vorgetragen; er ist auch
+einverstanden«, erklärte Jakob Silberland.
+
+»So? Schön. Es handelt sich also darum«, sagte Paul Seebeck, sich
+setzend, »daß das bisherige Verfahren, bei dem alle Streitigkeiten von
+der Monatsversammlung geschlichtet werden, auf die Dauer nicht
+durchführbar ist. In Zukunft soll die Monatsversammlung nur noch
+Berufungsinstanz sein, vielleicht sogar erst dritte Instanz. Zunächst
+sollen alle Sachen jedenfalls von einem Richter entschieden werden, vor
+allem die reinen Bagatellsachen. Ob wir als nächste Instanz die
+Vorstandschaft nehmen, oder gleich die Monatsversammlung, müssen wir uns
+noch überlegen. Praktisch kommt es ja auf dasselbe hinaus, da die
+Versammlung ja fast immer gemäß den Vorschlägen der Vorstandschaft
+beschließt. Na, wir werden sehen, wie sich das am besten formulieren
+läßt. Jedenfalls soll Otto Meyer der Richter sein. Und Sie würden wir
+bitten, seine Stellung zu übernehmen. Wenn Sie einverstanden sind, würde
+ich Ihnen vorschlagen, bis zur nächsten Jahresversammlung als Otto
+Meyers Gehilfe zu arbeiten, um mit den Geschäften vertraut zu werden.
+Auf der Jahresversammlung lassen wir dann entsprechend beschließen. Die
+Sache wird uns natürlich ohne weiteres genehmigt; die Leute sind ja nur
+froh, wenn wir ihnen wieder ein Stück Denkarbeit abnehmen. Sind Sie
+einverstanden?«
+
+»Ja, Herr Seebeck, ich würde ja gern ein Amt übernehmen, seitdem ich
+eingesehen habe, daß meine Anschauungen einseitig bleiben müssen,
+solange ich nur einfacher Arbeiter bin. Aber hinter dem, was Sie jetzt
+sagten, liegt noch so viel verborgen, was ich erst durchdenken muß.
+Wollen Sie mir nicht einige Tage Bedenkzeit lassen?«
+
+»Ich kann es nicht, lieber Melchior. Es ist unmöglich. Ich habe alles
+aufs Genaueste durchdacht und weiß, daß es richtig ist. Ich bitte Sie,
+sich jetzt sofort zu entscheiden.« Seebeck hatte seine Augen kalt und
+streng auf Melchior gerichtet, und dieser krümmte sich unter dem Blick.
+Endlich sagte er:
+
+»Herr Seebeck, ich vertraute Ihnen, als ich hierherkam. Ich tue es auch
+jetzt noch, obgleich ich Sie nicht mehr verstehe. Ich nehme Ihren
+Vorschlag an.«
+
+»Ich danke Ihnen«, sagte Seebeck aufstehend. »Aber jetzt muß ich wieder
+an meine Arbeit.«
+
+Er ging aber nicht nach Hause, sondern an den Strand. Dort saß er, trotz
+des strömenden Regens, lange auf einem Steine und sah zu, wie ein Licht
+nach dem andern erlosch. Zuletzt auch die Straßenlaternen. Da erhob er
+sich, und der große, starke Mann ging langsam, mit schleppenden
+Schritten wie ein Kranker, die Straße hinauf. Vor Frau von Zeuthens Haus
+blieb er stehen; nur die verhängten Fenster ihres Schlafzimmers waren
+erleuchtet. Wie er weitergehen wollte, hörte er bei ihrer Haustüre ein
+Geräusch. Schnell trat er etwas zur Seite und sah hin. Die Tür wurde
+geöffnet, und eine dunkle Gestalt trat heraus, sah sich scheu um und
+kam dann mit seltsamen Schritten näher. Paul Seebeck sah den kurzen
+Oberleib mit den langen Armen. Kein Zweifel: es war der Krüppel.
+
+Das Licht in Frau von Zeuthens Schlafzimmer erlosch.
+
+Paul Seebeck ließ Herrn de la Rouvière vorbei gehen und im Dunkel
+verschwinden. Dann richtete er sich stramm auf, biß die Zähne zusammen
+und ging nach Hause.
+
+Auf seinem Schreibtisch stand Frau von Zeuthens Bild; er nahm es, sah
+ihm lange in die Augen, küßte es und setzte sich dann an seine Arbeit.
+
+
+
+
+Schon als die Schwefelquellen erst notdürftig eingefaßt waren, und die
+ersten Baracken am See standen, bildete der »Vulkan«, wie die
+entstehende Stadt kurz genannt wurde, einen beliebten Ausflugsort. Die
+schweren Lastautomobile waren auch zur Mitnahme einiger Personen
+eingerichtet, aber das genügte bald nicht mehr. Sobald die Straße
+gebrauchsfertig war, ließ Jakob Silberland als Geschäftsführer einige
+Personenautomobile kommen, die den täglich anwachsenden Verkehr kaum zu
+bewältigen vermochten. Natürlich war es unmöglich, in der Schnelligkeit
+genügende Unterkunftshäuser zu schaffen, aber da fand Edgar Allan einen
+Ausweg. In den Schluchten am Fuße des Vulkans ließen sich mit ganz
+geringer Mühe mit Hilfe von Segeltuchdächern und Fußmatten Wohnstätten
+improvisieren, die im warmen, regenlosen Sommer ausreichten.
+
+Es kamen auch Fremde zum »Vulkan«; die Durchreisenden, die oft einige
+Tage oder Wochen auf der in Deutschland natürlich vielbesprochenen
+Schildkröteninsel verweilten, versäumten nicht, die neuentstandene
+zweite Stadt zu besuchen, und nachdem erst die großen Schwefelbäder in
+ordnungsmäßen Betrieb gesetzt worden waren, wurden sie nicht zum
+geringsten Teil von den Besuchern der Insel benutzt.
+
+Einer der ersten Besucher war übrigens ein Herr von Hahnemann, ein bei
+Neu-Guinea stationierter Marineoffizier, der auf der Schildkröteninsel
+seinen Urlaub verbrachte. Dieser Herr von Hahnemann fiel eigentlich
+besonders durch seine Wißbegierde auf; man sah ihn oft stundenlang mit
+einfachen Arbeitern im Gespräch. Auch hatte er bei den Vorstehern und
+einigen anderen hervortretenden Persönlichkeiten, wie Nechlidow, Herren
+de la Rouvière und Frau von Zeuthen Besuche gemacht und wurde auch von
+diesen gelegentlich eingeladen.
+
+Einige Tage vor seiner Abreise kam Herr von Hahnemann zu Paul Seebeck,
+um sich zu verabschieden. Paul Seebeck empfing ihn, wie er schon so
+manchen derartigen Besucher empfangen hatte, mit dem sehnlichen Wunsche,
+daß dieser ihn bald wieder allein ließe. Da Herr von Hahnemann aber
+blieb, fragte er ihn nach Verlauf einer Stunde:
+
+»Haben Sie vielleicht ein besonderes Anliegen? Wenn ich Ihnen irgend
+eine besondere Aufklärung geben könnte –?«
+
+»Sie sind außerordentlich liebenswürdig«, antwortete der Offizier mit
+einer leichten Verbeugung. »Entschuldigen Sie die etwas indiskrete
+Frage mit meinem großen Interesse: wie denken Sie sich die Zukunft, Herr
+Seebeck?«
+
+Paul Seebeck sah ihn zweifelnd an. Dann stand er auf und ging zum
+Fenster.
+
+»Ich verstehe Ihre Frage nicht recht. Wir werden so weiterarbeiten wie
+bisher.« Und dabei sah er seinem Besucher gerade in die Augen.
+
+»Pardon, gewiß. Ich meinte aber, wie denken Sie sich in Zukunft Ihre
+persönliche Stellung zu der Sache?«
+
+»Solange ich das Vertrauen der Mehrheit habe«, sagte Paul Seebeck
+ziemlich schroff, »bleibe ich hier auf meinem Posten.«
+
+Herr von Hahnemann stand auf:
+
+»Aber die haben Sie ja nicht mehr. Auf der letzten Jahresversammlung
+sind Sie von einer Minorität nur deshalb gewählt worden, weil sich die
+oppositionellen Stimmen auf zwei Kandidaten verteilten.«
+
+»Herr von Hahnemann«, sagte Seebeck und trat dicht vor ihn hin. »Ich bin
+ordnungsgemäß gewählt worden, und damit ist dieser Punkt erledigt. Im
+Übrigen bedauere ich, mich mit einem Außenstehenden nicht über innere
+Verhältnisse unserer Gemeinschaft aussprechen zu können.«
+
+»Herr Seebeck, ich verstehe Ihre Erregung über meine taktlosen Fragen
+durchaus. Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, daß ich – nicht
+nur als Privatmann hier bin.«
+
+Seebeck setzte sich an seinen Schreibtisch und fragte ganz ruhig:
+
+»Sie sind im Auftrage der Reichsregierung hier?«
+
+»Ja«, sagte Herr von Hahnemann. »Es war eine Klage eingelaufen, und ich
+wurde hierher geschickt, um ihre Grundlagen zu prüfen. Zu meinem
+Bedauern fand ich sie bestätigt.«
+
+»Darf ich Sie fragen, wer außer Nechlidow die Klage unterzeichnet hat,
+deren Inhalt ich mir denken kann«, fragte Paul Seebeck zwischen den
+Zähnen.
+
+»Ich bedaure, Ihnen darauf die Antwort verweigern zu müssen. Sie sagen
+selbst, daß Sie sich den Inhalt der Klageschrift denken können, damit
+erübrigt sich, auf die einzelnen Punkte einzugehn. Ich bin völlig
+unbefangen hierhergekommen und habe alles mit eigenen Augen geprüft,
+besonders das Protokoll jener Sitzung. Da ich mich leider von der
+Stichhaltigkeit jener Klage überzeugen mußte, sehe ich mich zu meinem
+Bedauern genötigt, von meinen Vollmachten Gebrauch zu machen. Sie müssen
+die Reichsregierung verstehen, Herr Seebeck. Wenn hier nur einige
+Idealisten auf einem unfruchtbaren Felseneilande säßen, könnte man sie
+ja in Gottes Namen machen lassen, was sie wollten, und ihre Experimente
+mit Wohlwollen und Interesse betrachten. Da es sich jetzt aber schon um
+Hunderte handelt, die Zahl der Ansiedler wahrscheinlich noch bedeutend
+steigen wird, und ferner das Interesse des Reichs an diesem Teile seines
+Kolonialbesitzes durch die Schwefelfunde noch erhöht ist, ist es nicht
+nur das gute Recht, sondern die Pflicht des Reiches, hier absolut
+korrekte Zustände zu schaffen.«
+
+Er machte eine Pause, als erwartete er eine Antwort; aber Paul Seebeck
+sagte nichts, sah ihm nur ruhig ins Gesicht. Der Offizier wurde nervös
+unter diesem Blicke; er holte aus seiner Brusttasche einige Papiere,
+sowie ein kleines Etui hervor.
+
+»Herr Seebeck, auch für den Fall, daß sich jene Klage als stichhaltig
+erweisen sollte, will die Reichsregierung in Anbetracht Ihrer
+unbestreitbaren großen Verdienste Ihnen auch nur den Schatten einer
+Demütigung ersparen. Sie verlangt nichts, als daß Sie Ihr Mandat als
+Reichskommissar niederlegen, und wird dann von sich aus einen neuen
+ernennen. Was wir gesprochen haben, bleibt unter uns. Und hier haben Sie
+noch einen ausdrücklichen Gnadenbeweis.« Dabei legte er das kleine Etui
+auf den Schreibtisch.
+
+»Das Ding enthält vermutlich einen Orden«, sagte Paul Seebeck
+aufstehend. »Bitte stecken Sie ihn wieder ein. Wollen Sie so
+liebenswürdig sein, mir eine Frage zu beantworten: Was wird geschehen
+wenn ich mich jetzt weigere, das Reichskommissariat freiwillig
+niederzulegen?«
+
+Der Offizier war aufgesprungen:
+
+»Überlegen Sie sich, was Sie sagen.«
+
+»Ich habe es mir überlegt.«
+
+»Das ist ein Affront.«
+
+Seebeck zuckte die Achseln:
+
+»Nicht gegen Sie, verehrter Herr von Hahnemann. Sie sind ja nur
+Werkzeug. Sie spielen in einer Komödie mit, glauben Regisseur zu sein
+und sind nur Puppe. Soll ich Ihnen sagen, weshalb ich gehen soll? Nicht,
+weil es hier schlecht geht, nicht weil ich meine Stellung mißbraucht
+habe, sondern weil alles gut geht, besser geht, als es sich die Herren
+dort in Berlin je träumen ließen. Weil wir mit unserer Arbeit vorwärts
+kommen. Wir haben hier etwas Brauchbares geschaffen, haben die
+Durchführbarkeit gewisser Utopieen erwiesen, und das ist der springende
+Punkt. Alles andere ist ja nur Vorwand. Einige kleine Schwierigkeiten,
+die die Durchführung einer großen Sache naturgemäß mit sich führt, die
+Nörgeleien und Quertreibereien irgendwelcher Personen, die gar nicht
+verstehen, worum es sich hier handelt, geben den bequemen Vorwand, um
+alles zu vernichten. Ein Reichskommissar aus Berlin hier, hier in meinem
+Werke! Nein mein Freund. Nehmen Sie Ihr Ding da mit und schämen Sie
+sich, bei einer so unwürdigen Komödie mitzuwirken. Erzählen Sie den
+Herren in Berlin, daß Paul Seebeck nicht für einen lausigen Orden sein
+Lebenswerk verkauft. Das Reichskommissariat lege ich nicht nieder.«
+
+»Ich will – durchaus gegen meine Gewohnheit – die Spitze überhört haben,
+die meine Person betrifft, um die unerhörte Beschuldigung
+zurückzuweisen, die Sie gegen die Reichsregierung gerichtet haben. Sie
+fühlen sich in einer schwachen Position und sehen deshalb voll
+ungerechtfertigter Bitterkeit auf alle anderen. Überlegen Sie sich doch:
+die Reichsregierung hat Sie mit dem größten Wohlwollen behandelt; was
+soll die Regierung aber anders tun, als Ihnen in schonendster Form den
+Abschied nahezulegen, wenn sich die Mehrzahl Ihrer eigenen Bürger gegen
+Sie erklärt? Und mehr, wenn die Klage sich als berechtigt erweist? Sie
+selbst tragen allein Schuld an dieser Wendung der Dinge, jetzt müssen
+Sie auch die Konsequenzen ziehen. Legen Sie das Reichskommissariat
+nieder!«
+
+»Ich tue es nicht!«
+
+»Dann wird man Sie dazu zwingen!«
+
+»Versuchen Sie es!« sagte Paul Seebeck und ging in sein Schlafzimmer,
+dessen Tür er hinter sich zuschlug.
+
+
+
+
+Sobald die »Prinzessin Irene« mit Herrn von Hahnemann an Bord die Anker
+gelichtet hatte, berief Paul Seebeck die Vorsteher der Gemeinschaft zu
+sich und zwar die offiziellen Inhaber der Ämter, nicht ihre ständigen
+Stellvertreter. Das war auffällig, denn die ständigen Stellvertreter,
+wie zum Beispiele Herr de la Rouvière, pflegten sonst immer zu den
+Sitzungen zugezogen zu werden. Paul Seebeck schickte auch Fräulein
+Erhardt fort, die gewöhnlich bei den Sitzungen das Protokoll geführt
+hatte, und schloß aufs Sorgfältigste alle Türen und Fenster seines
+Arbeitszimmers. Seine Freunde sahen erstaunt seinem Tun zu; als er ihnen
+aber dann seine Unterredung mit Herrn von Hahnemann erzählt hatte, die
+schon drei Tage zurücklag, über die beide Teilnehmer aber bisher
+völliges Stillschweigen bewahrt hatten, begriffen sie ihn. Ein langes
+Schweigen folgte seinem Berichte.
+
+Als erster ergriff Herr von Rochow das Wort:
+
+»Man kann Nechlidow nicht einmal einen Vorwurf machen; er hat nur aus
+den reinsten Motiven heraus gehandelt, freilich ohne die Tragweite
+seines Vorgehens auch nur im Entferntesten zu übersehen.«
+
+»Ach wissen Sie was, Herr von Rochow«, unterbrach ihn Paul Seebeck
+müde, »es mußte einmal so kommen. Ob Nechlidow oder ein anderer nun den
+entscheidenden Schritt tat. Aber bei Gott«, rief er aufstehend, »ich
+lasse mir mein Werk nicht zerstören. Und was würde es helfen, daß die
+Leute einen von unseren Leuten zum Kommissar machen; sie werden schon
+dafür sorgen, daß es ein richtiger Eunuche ist, der ihren Willen tut.
+Was eine unfähige Verwaltung aus lebenskräftigen Kolonien machen kann,
+sieht man ja deutlich genug aus unseren afrikanischen Kolonien.«
+
+»Besonders, wenn man an die englischen Nachbarkolonien denkt«, sagte
+Jakob Silberland.
+
+»Gehen wir doch zu England«, sagte Otto Meyer gemütlich; »die werden uns
+schon in Frieden lassen; die Engländer wissen, daß die Kolonieen von
+Männern gemacht werden und nicht von Korpsstudenten.«
+
+Seebeck sah ihn starr an.
+
+»Bitte«, sagte er.
+
+»Ich meine«, sagte Otto Meyer, »wir haben keinen Grund, das positive
+Resultat unserer Arbeit zerstören zu lassen, bloß weil einige Geheimräte
+im Kolonialamt Bauchschmerzen haben. Wenn die Deutschen eine anständige
+Kolonie nicht haben können, erklären wir uns für autonom und lassen uns
+dann von England annektieren. Sowas läßt sich doch machen, deswegen
+braucht man doch nicht gleich tragisch zu werden.«
+
+»Das wäre Revolution«, sagte Hauptmann a. D. von Rochow ernst.
+
+Paul Seebeck dachte nach; dann fuhr er heftig auf:
+
+»Ist das unsere Schuld? Was gehen wir das Reich an? Wir haben den Leuten
+nicht einen Pfennig gekostet; alles haben wir allein gemacht, mit
+unserer Arbeit, unserem Gelde. Jetzt wo die Sache nahezu vollendet ist,
+wollen sie es nicht etwa übernehmen, um es in unserem Sinne
+fortzuführen, sondern sie wollen es zerstören. Ich bitte Sie, stellen
+Sie sich doch hier einen Berliner Gouverneur vor! Oder noch schlimmer,
+einen hiesigen Idioten, der die Puppe der Herren da oben ist! Aber das
+erlaube ich nie! Vorläufig bin ich hier.«
+
+»Also, erwäge doch meinen Vorschlag. Ich glaube, das ist der einzige
+Ausweg.«
+
+Jakob Silberland stand auf und trippelte auf seinen kurzen Beinchen im
+Zimmer auf und ab:
+
+»Wir wollen doch zunächst mal überlegen, was jetzt geschehen wird. Vom
+nächsten Hafen aus telegraphiert der Mann nach Berlin, daß Seebeck sich
+weigert, freiwillig zurückzutreten; die Antwort lautet wahrscheinlich,
+daß Herr von Hahnemann Vollmacht erhält, Seebeck abzusetzen, und
+entweder er oder ein anderer wird vorläufig Reichskommissar hier, bis
+sie den richtigen Idioten herausgefunden haben. Hahnemann kann vor einem
+Monat überhaupt nicht wieder hier sein; das wäre das allerfrühste.
+Vorläufig kann man Seebeck nichts tun. Daß er sich weigert, freiwillig
+seinen Abschied zu nehmen, ist kein Verbrechen. Kritisch wird die Sache
+erst, wenn ihm das Reichskommissariat entzogen wird, und er sich nicht
+darum kümmert. Dann kommt ein Kriegsschiff und nimmt ihn als Aufrührer
+mit. Bis dahin würde aber mindestens ein zweiter Monat vergehen. In
+diesen zwei Monaten müßte alles entschieden sein; denn wenn wir offenen
+Aufruhr begehen und uns nicht durchsetzen, sind wir verloren.«
+
+Seebeck hatte sich wieder gesetzt; ruhig sagte er:
+
+»Kinder, ihr beide wißt Bescheid im Staatsrecht. Existiert denn
+überhaupt eine Möglichkeit, sich von England annektieren zu lassen?«
+
+»Gewiß, die Möglichkeit ist da. Einer von uns müßte mit dem nächsten
+Schiffe nach Sidney und sehen, was er dort ausrichten kann«, sagte Jakob
+Silberland eifrig.
+
+»Wenn Herr von Rochow als Fachmann mir helfen will, baue ich Ihnen in
+sechs Wochen Befestigungen auf, die dem Kriegsschiff eine harte Nuß zu
+knacken geben werden. Eine Landung zu verhindern, ist bei unserem Hafen
+eine Kleinigkeit, einige Seeminen genügen«, fügte der hagere Architekt
+hinzu.
+
+»Ich beschwöre Sie, meine Herren, überlegen Sie sich, was Sie tun
+wollen! Revolution, Vaterlandsverrat!« rief Herr von Rochow.
+
+»Das Vaterland hat uns verraten, nicht wir das Vaterland«, sagte Paul
+Seebeck scharf. »Aber ich will Sie zu nichts verleiten, was Ihrem
+Gewissen widerspricht. Noch ist es Zeit für Sie alle, sich
+zurückzuziehen. Ich aber bleibe hier ...«
+
+»Und ich bleibe bei Ihnen«, sagte Herr von Rochow und ergriff Seebecks
+Hand. »Ich bleibe bei Ihnen, was auch kommen mag.«
+
+»Ich auch«, sagte Otto Meyer und zündete sich eine Zigarette an.
+
+»Wo bekommen wir aber das Geld her?« fragte Jakob Silberland. »Es
+handelt sich doch jedenfalls um Hunderttausende.«
+
+»Wir müssen es uns natürlich ganz korrekt bewilligen lassen«, erklärte
+Otto Meyer, »sonst wird die Sache zu deutlich. Wir sagen einfach, daß
+bei der dauernden Spannung zwischen England und Deutschland die
+Befestigung unvermeidlich ist. Und da wir ja leider Spione im Lande
+haben, können wir sagen, daß die Bewahrung militärischer Geheimnisse in
+einem kleinen Kreise – hier also in der Vorsteherschaft – eine absolute
+Notwendigkeit ist. Übrigens wäre es am besten, in aller Heimlichkeit so
+viel zu bauen, wie nur irgend geht und sich die Kredite nachträglich
+bewilligen zu lassen. Denn wenn man draußen erfährt, daß wir
+befestigten, wird das Kriegsschiff mit Windeseile angerannt kommen.«
+
+Paul Seebeck war ans Fenster getreten und blickte hinaus:
+
+»Schade, schade, daß es so kommen mußte.« sagte er.
+
+»Was brauchen wir eigentlich,« wandte sich Otto Meyer an Herrn von
+Rochow, »eine Strandbatterie und –«
+
+Hauptmann a. D. von Rochow schüttelte den Kopf:
+
+»Eine Strandbatterie hat gar keinen Sinn; die schießt ein Kriegsschiff
+in einer Viertelstunde zusammen. Nein, ein schweres Festungsgeschütz und
+einige Maschinengewehre hier oben für alle Eventualitäten genügen. Das
+Hauptgewicht müssen wir auf die Seeminen legen. Die natürlich mit
+elektrischer Zündung von hier oben aus.«
+
+»Ist das nun alles eine Kette von Zufällen oder war es eine
+Notwendigkeit? Mußte es so kommen?« sagte Seebeck, noch immer am Fenster
+stehend und hinausblickend.
+
+»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, sagte Otto Meyer und klopfte ihm
+auf die Schulter, »die Probleme sind dem tüchtigen Melchior reserviert.
+Wir können ja handeln, brauchen also nicht nachzudenken.«
+
+»Bravo!« rief Edgar Allan.
+
+Und dann begannen die Vorsteher der Gemeinschaft, die zu unternehmenden
+Schritte bis in die kleinste Einzelheit zu beraten. Erst bei Tagesgrauen
+trennten sie sich, und da war alles beschlossen.
+
+
+
+
+Wie schon oft in der letzten Zeit holte Nechlidow seine junge Freundin
+um fünf Uhr vom Kindergarten ab, nachdem Hedwig ihre kleinen Schützlinge
+entlassen hatte.
+
+Die beiden gingen schweigend durch die lange, einreihige Fischerstraße
+bis zur letzten Landspitze, die die bewohnte Bucht von der Irenenbucht
+schied.
+
+»Wissen Sie, Hedwig, was Herr von Hahnemann mitgenommen hat?« fragte
+Nechlidow, als sie dort auf einer gewaltigen Klippe saßen, »Paul
+Seebecks Abschiedsgesuch.«
+
+Hedwig sah ihn erschreckt an:
+
+»Woher wissen Sie das?«
+
+»Ja, ich weiß es. Herr von Hahnemann war hier, um die Richtigkeit meiner
+Klagen zu prüfen; er hat mir selbst gesagt, daß er sie in allen Punkten
+berechtigt gefunden hätte. Ich sprach ihn, gerade als er zu Herrn
+Seebeck hinaufgehen wollte. Ja, jetzt ist es mit Seebecks
+Selbstherrschaft vorbei – jetzt werden wir die Sache wieder in Ordnung
+bringen.«
+
+»Sind Sie ganz sicher, daß Sie Recht haben?« fragte Hedwig leise.
+
+»Seien Sie nicht traurig, liebe Hedwig. Es tut mir selbst um Seebeck
+leid, denn ich achte ihn als Menschen. Aber die Sache geht vor. Und
+Seebeck ist schwach, viel zu schwach, um sie durchzuführen. Seien Sie
+aufrichtig, was ist von den Idealen übrig geblieben, mit denen wir
+hierher kamen? Wodurch unterscheidet sich unsere »Gemeinschaft« von
+irgend einem beliebigen Staate? Nur durch Phrasen. In Wirklichkeit ist
+alles genau dasselbe. Sehen Sie, Hedwig, in jener entscheidenden Sitzung
+in Berlin sagte ich zu Paul Seebeck, daß es nur ein Mittel gäbe, um
+nicht in die Verlogenheit aller anderen Staaten hineinzugeraten, und daß
+dieses das absolute Festhalten an der menschlichen Vernunft sei. Er gab
+mir recht, er ist intelligent genug, das einzusehen, aber zu schwach, es
+durchzuführen. Der Todfeind aller Kultur, aller Fortentwicklung der
+Menschheit, die Sentimentalität liegt ihm so tief im Blute, daß sie
+stärker als alle Vernunft ist. Hier brauchen wir Männer, klare,
+vernünftige Männerköpfe, Kerle wie Herrn de la Rouvière, aber keine
+träumerischen, weibischen Dichter wie Seebeck.«
+
+Hedwig hatte ihm ängstlich zugehört:
+
+»Aber Paul ist doch so gut.«
+
+»Eben deshalb muß er fort. Das ist ja gerade sein Fehler. Güte, Liebe –
+was sind das für Begriffe. Mißverstandene Naturtriebe. Heutzutage
+lieben Männer einander; was ist das für ein Unsinn! Oder ein Mann und
+eine Frau lieben einander, aber kommen aus irgend einem Grunde nicht
+zusammen. Denken Sie doch nur alle die kindischen Romane. Liebe ist der
+Wunsch nach dem Kinde, also ist sie nur dort wahr und nicht verlogen, wo
+zwei Menschen zusammen ein Kind haben wollen, sonst nicht. Seitdem wir
+aber das wissen, brauchen wir doch keine Dichter und keine Gefühle mehr.
+Wir haben doch die Vernunft, und die verirrt sich nie; wie oft tun das
+aber die unklaren, mystischen Gefühle. Sehen Sie doch, was so ein Gefühl
+für Bocksprünge macht: aus dem Triebe nach dem Kinde wird die Liebe, die
+alles mögliche verbindet, was mit dem Wunsche nach dem Kinde, nach der
+Zukunft der Menschheit, nicht das Geringste mehr zu schaffen hat; aus
+der Liebe wird die Güte und aus Güte und Rücksichtnahme nach allen
+Seiten ruiniert Seebeck diesen Staat, der eine neue Menschheit hätte
+gebären können. Ach was hätte hier werden können, wenn Seebeck stark
+gewesen wäre.«
+
+»Aber hier geht alles doch so gut –« unterbrach ihn Hedwig schüchtern.
+
+»Ungeheure Lügen sind hier gebaut, und die florieren glänzend, das ist
+wahr.«
+
+Hedwig war aufgestanden und wandte sich langsam der Stadt zu. Nechlidow
+ging ihr nach und faßte sie bei der Hand:
+
+»Liebe Hedwig« – sagte er bittend.
+
+Aber sie riß sich los. Aus ihren großen, braunen Augen quollen Tränen.
+
+»Ich will kein Kind von Ihnen haben, Herr Nechlidow«, sagte sie mit
+zuckenden Lippen. Dann machte sie sich schnell von ihm los und lief der
+Stadt zu.
+
+Nechlidow folgte ihr langsam.
+
+
+
+
+Als die Kredite für die in Hinblick auf die Spannung zwischen England
+und Deutschland notwendigen Befestigungen bewilligt wurden, war nicht
+viel mehr zu tun, als das Festungsgeschütz zu montieren, das zusammen
+mit den beiden Maschinengeschützen in der bombensicheren Kasematte im
+Felsen unter Seebecks Haus Platz finden sollte. Denn Hauptmann von
+Rochow hatte als Fachmann diese Stelle als die geeignetste gewählt, ganz
+abgesehen davon, daß sich nur hier die Arbeiten in völliger Heimlichkeit
+hatten vornehmen lassen. Ein mit Stahlplatten bedeckter Schacht führte
+von Paul Seebecks Kohlenkeller mehrere Meter tief hinab, und dort unten
+war ein Gewölbe ausgehauen, in dem die Geschütze stehen sollten.
+
+Nur drei lange, schmale Schießscharten führten hinaus, und die lagen
+gerade über den Dächern der auf der nächsten Terrasse stehenden
+doppelten Häuserreihe, so daß diese fast mit Sicherheit die den
+Geschützen zugedachten Schüsse auffangen würde.
+
+Die Seeminen hatten die Vorsteher in mehreren Nächten allein versenkt,
+und ihr Lageplan war in den Händen der Archivarin gut aufgehoben. Es
+war nicht so schwer, diese Arbeiten in voller Heimlichkeit auszuführen,
+als vielmehr gleichzeitig auch den Ausbau des »Vulkans« zu versehen, zum
+mindesten scheinbar, damit die plötzliche Arbeitseinstellung dort oben
+kein Mißtrauen erweckte.
+
+Aber es ging. Die vier Männer arbeiteten mit eiserner Energie Tag und
+Nacht – nur vier waren sie jetzt, denn Jakob Silberland weilte in
+Sidney, wie es hieß, um größere Abschlüsse über den gewonnenen Schwefel
+zu erreichen. Und auf den riesigen Kisten, die die Geschützteile und die
+Munition enthielten, stand harmlos das Wort: »Maschinen«.
+
+Sechs Wochen nach seiner Abreise kam Herr von Hahnemann wieder zur
+»Schildkröteninsel«. Diesmal auf einem Torpedoboot. In Paradeuniform
+stieg er ans Land und begab sich eine Stunde später zu Paul Seebeck.
+Dieser empfing ihn mit gelassener Höflichkeit und bat ihn, Platz zu
+nehmen. Der Offizier dankte mit einer Verbeugung, blieb aber stehen,
+während Paul Seebeck sich an seinen Schreibtisch setzte.
+
+»Sie bringen mir meine Abberufung, Herr von Hahnemann?« fragte er ruhig.
+
+»Herr Seebeck, bei der großen persönlichen Achtung, die ich für Sie
+hege, erlaubte ich mir, in meinem Berichte unsere letzte Unterredung
+wohl wahrheitsgetreu, doch – etwas harmloser zu schildern, als sie sich
+zugetragen hat. Es steht Ihnen noch heute frei, freiwillig das
+Reichskommissariat niederzulegen; trotz allem.«
+
+»Ich tue es nicht«, antwortete Paul Seebeck und sah ihm gerade ins
+Gesicht.
+
+»Ist das Ihr letztes Wort?«
+
+»Ja.«
+
+»Dann habe ich hiermit die Ehre, Ihnen kraft meiner Vollmachten Ihr
+Abberufungsschreiben zu überreichen«, sagte der Offizier und legte ein
+versiegeltes Kuvert auf den Schreibtisch. »Wollen Sie die
+Liebenswürdigkeit haben, mir den Empfang zu bestätigen.«
+
+»Mit Vergnügen«, antwortete Paul Seebeck, entnahm einer Schublade einen
+Briefbogen und schrieb einige Zeilen darauf. »Ist es so recht?« Und er
+reichte dem Offizier das Blatt, das dieser aufmerksam las und es dann in
+seine Brieftasche schob.
+
+»Gewiß, Herr Seebeck. Ich danke Ihnen. Damit ist die Sache erledigt. Ich
+verstehe aber nicht, weshalb Sie es so weit kommen ließen.«
+
+»Ich pflege einem Briefträger nicht die Unterschrift für einen
+eingeschriebenen Brief zu verweigern – wozu soll ich dem nichtsahnenden
+Manne Schwierigkeiten machen. Er erfüllt ja nur seine Pflicht. Jetzt ist
+also der Brief ordnungsgemäß mein Eigentum geworden, und ich kann damit
+machen, was ich will.« Damit nahm er das versiegelte Kuvert und zerriß
+es mit seinem Inhalt in kleine Fetzen, die er in seinen Papierkorb warf.
+Dann wandte er sich wieder dem Offiziere zu und sah ihm ruhig ins
+Gesicht.
+
+Herr von Hahnemann trat einen Schritt zurück; sein Gesicht war
+kreidebleich.
+
+»Wissen Sie, was das heißt?« rief er.
+
+»Ja«, sagte Paul Seebeck, »das heißt Aufruhr.«
+
+»Wollen Sie sich denn dem aussetzen, daß man Sie mit Waffengewalt
+zwingt, den Willen der Reichsregierung anzuerkennen?«
+
+»Was wollen Sie damit sagen, Herr von Hahnemann?« fragte Paul Seebeck
+freundlich.
+
+Der Offizier hatte sich wieder etwas gefaßt. Seine Stimme bekam etwas
+vom scharfen Kommandoklang, als er sagte:
+
+»Ein Kriegsschiff wird kommen und Sie als Gefangenen mitnehmen.«
+
+»Ach so einfach ist die Sache? Aber wenn ich mich nun mit Gewalt der
+Gewalt widersetze?«
+
+»Dann werden Sie standrechtlich erschossen.«
+
+Paul Seebeck stand auf; er überlegte einen Augenblick. Dann ging er an
+dem Offizier vorbei zur Wand, hob ein Gemälde vom Nagel, wobei eine
+Stahlplatte sichtbar wurde, die der Tür eines in die Mauer
+eingelassenen Geldschrankes ähnlich war. Dann zog er einen Schlüsselbund
+aus der Tasche und blickte auf:
+
+»Sie sind Marineoffizier, nicht wahr?«
+
+Herr von Hahnemann neigte bejahend den Kopf.
+
+»Dann sind sie auch natürlich imstande, Entfernungen auf dem Wasser
+abzuschätzen. Darf ich Sie bitten, hier ans Fenster zu treten? Danke.
+Sehen Sie die letzte flache Klippe dort rechts? Schön. Sehen Sie in
+gerader Richtung drei Kilometer weiter. Bitte halten Sie den Punkt im
+Auge.«
+
+Seebeck war an den Schrank getreten und öffnete das Geheimschloß. Bei
+dem Geräusch wandte sich der Offizier unwillkürlich wieder nach ihm um
+und sah, daß der Schrank ein Tastbrett wie das einer Schreibmaschine
+enthielt.
+
+»Ich habe Sie ersucht, jenen Punkt im Auge zu behalten«, sagte Paul
+Seebeck scharf. Der Offizier kniff die Lippen zusammen und blickte
+wieder hinaus. Paul Seebeck drückte rasch auf einen der Knöpfe und
+schlug dann die Stahltür zu. Im selben Augenblick erhob sich bei dem
+angegebenen Punkte auf dem Meere eine gewaltige Wasserpyramide, blieb
+einige Sekunden stehen und brach dann in sich zusammen. Erst eine halbe
+Minute später klang ein dumpfes Grollen herüber. Der mit Schaum bedeckte
+Wasserspiegel war in wilde Bewegung geraten. Selbst im Hafen
+schaukelten die Schiffe.
+
+Herr von Hahnemann sah Seebeck stumm an; dann verbeugte er sich und
+verließ das Zimmer.
+
+Er ging so schnell er konnte die Straße hinunter, an allen denen vorbei,
+die ihn wieder erkannten und ansprechen wollten, und stand eine
+Viertelstunde später in Herrn de la Rouvières Haus.
+
+Der Krüppel bestürmte ihn mit Fragen, aber Herr von Hahnemann schüttelte
+nur unwillig den Kopf. Er fragte:
+
+»Wissen Sie, daß die Insel befestigt ist?«
+
+Herr de la Rouvière fuhr erstaunt auf:
+
+»Daß sie befestigt ist? Das ist doch unmöglich. Erst vorgestern wurde
+doch die Befestigung beschlossen.«
+
+Herr von Hahnemann lachte kurz auf:
+
+»Herr Seebeck scheint keine große Achtung vor der Monatsversammlung zu
+haben. Jedenfalls ist die Insel schon befestigt, und die Versammlung hat
+etwas zu bauen beschlossen, was faktisch schon da ist. Er wird es wohl
+schon oft so gemacht haben. Ich will Ihnen etwas sagen«, fuhr er fort,
+wobei er dicht an den Krüppel herantrat, »ich habe Herrn Seebeck die
+Enthebung aus seinem Amte mitgeteilt, die er aber ignoriert. Er muß also
+mit Gewalt entfernt werden. Hier ist kein anderer Ausweg tunlich. Bei
+den Befestigungen ist es aber ohne Blutvergießen nicht möglich, und das
+zu verhindern ist meine Pflicht. – Sie haben sich ja Ihres großen
+Einflusses und Ihrer Verbindungen hier gerühmt; beweisen Sie mir jetzt,
+daß Sie wahr gesprochen haben. Und dann – die Reichsregierung kann Herrn
+Nechlidow als früherem, russischem Flüchtling kein Amt übergeben, aber
+Ihnen, dem Träger eines alten Adelsnamens, der Sie außerdem hier
+praktisch in die Geschäfte eingearbeitet sind, könnte ich das
+Reichskommissariat übertragen. Die Vollmacht dazu habe ich. Die
+Reichsregierung will unter keinen Umständen einen Kommissar von Berlin
+hierher senden; sie hat mich beauftragt, einer hiesigen geeigneten
+Persönlichkeit das Kommissariat zu übergeben, um jeden Schein eines
+gewaltsamen Eingriffes zu vermeiden. Also schaffen Sie mir die
+Befestigungspläne und Sie sind Reichskommissar!«
+
+Die Augen des Krüppels glänzten:
+
+»Das wird nicht schwer sein, Herr von Hahnemann. Wenn Sie so
+liebenswürdig sein wollen, eine halbe Stunde hier zu warten, komme ich
+mit den Plänen.«
+
+»Wissen Sie denn, wo sie sind?«
+
+»Jedenfalls doch im Archiv; und Frau von Zeuthen ist meine gute
+Freundin.«
+
+»Ah!« Über das Gesicht des Marineoffiziers glitt ein gemeines Lächeln.
+
+»Sie verstehen, Herr von Hahnemann? Eine Frau kann aus Edelmut sterben,
+aber sie kann sich keinem Skandal aussetzen. Am wenigsten sie, die
+Keusche, Reine, sie, die Unerreichbare, die ich doch erreichen konnte –
+wie alles andere auch.«
+
+Der Offizier war wieder ganz ernst geworden:
+
+»Wie Sie das machen, ist Ihre Sache. Aber nicht die Originale selbst,
+die könnten später vermißt werden, sondern Sie müssen die Pläne
+kopieren, verstehen Sie? Und Niemand darf etwas davon erfahren, dafür
+müssen Sie sorgen. Sonst wird die Sache einfach verändert, und wir
+sitzen da.«
+
+»Keine Sorge, Herr von Hahnemann, bleiben Sie nur ruhig hier; ich bin
+bald wieder zurück.«
+
+Und die langen Arme schlenkernd und eifrig vor sich hinmurmelnd,
+stolperte der Krüppel die Hauptstraße hinauf. Bei Frau von Zeuthens Haus
+angekommen, sagte er dem Dienstmädchen, er käme in Geschäften und wurde
+natürlich sofort eingelassen.
+
+Mit Siegermiene trat er in Frau von Zeuthens Arbeitszimmer, aber er sank
+gleichsam in sich zusammen, als er in ihre strahlenden, braunen Augen
+blickte. Er wollte sich ihr nähern, aber sie hob abweisend die Hand. Da
+blieb er bescheiden an der Türe stehn.
+
+»Geschäfte, Herr de la Rouvière?« fragte sie ruhig.
+
+»Ja, gnädige Frau. Ich muß Sie um die Befestigungspläne bitten, die Sie
+ja als Archivarin in Verwahrung haben.«
+
+»Nein«, sagte Frau von Zeuthen, »die Pläne habe ich allerdings. Sie gehn
+aber nur die Vorsteher an. Und so weit haben Sie es doch noch nicht
+gebracht.«
+
+Mit eingezogenem Kopfe sah er sie von unten an.
+
+»Gnädige Frau, ich bin – Reichskommissar an Paul Seebecks Stelle.«
+
+Frau von Zeuthen lachte laut auf und sah ihm belustigt ins Gesicht.
+
+Der Krüppel biß die Zähne zusammen.
+
+»Gnädige Frau«, sagte er drohend.
+
+»Wenn Ihre Geschäfte so sonderbarer Natur sind, brauchen wir sie nicht
+länger zu diskutieren. Gehen Sie, Herr Reichskommissar.« Damit drehte
+sie ihm den Rücken zu und setzte sich an ihren Schreibtisch.
+
+Mit leisen, schleichenden Schritten näherte er sich ihr. Sie stand auf
+und wandte sich ihm zu. Mit beiden Händen hielt sie sich rückwärts am
+Schreibtische fest.
+
+»Weshalb gehen Sie nicht«, sagte sie herrisch, aber ihre Stimme zitterte
+dabei.
+
+»Ich muß die Pläne haben«, sagte er, dicht bei ihr, und hob dabei die
+langen Arme mit den schwarzbehaarten Händen.
+
+»Aber ich gebe sie Ihnen nicht und damit gut. Gehen Sie! Jetzt bestätigt
+sich also meine Vermutung, daß Sie zu den Verrätern gehören. Gehen Sie,
+mit Ihnen bin ich fertig.«
+
+»Gnädige Frau«, die Stimme des Krüppels war ganz sanft, »Sie scheinen
+sehr leicht zu vergessen!« Er schritt auf die Tür zu, faßte die Klinke
+und drehte sich wieder nach Frau von Zeuthen um. »Soll ich wirklich
+allen Leuten erzählen, was in einer gewissen Nacht zwischen uns
+vorgefallen ist?« Er richtete sich auf und sagte kameradschaftlich:
+»Geben Sie mir doch lieber die Pläne.«
+
+Frau von Zeuthen ging zu ihrem großen Schranke, öffnete diesen aber
+nicht, sondern holte aus dem Winkel zwischen ihm und der Wand Felix’
+Reitpeitsche hervor. Sie wog sie prüfend in der Hand, trat dann schnell
+auf Herrn de la Rouvière zu und schlug sie ihm zweimal mit aller Kraft
+durchs Gesicht. Dann warf sie die Peitsche fort und blieb hoch
+aufgerichtet vor ihm stehn. Er sah sie eine Weile ganz verständnislos
+an, griff dann mit beiden Händen an sein schmerzendes Gesicht und
+taumelte hinaus.
+
+Vor der Haustüre blieb er stehn und nickte bedächtig mit dem Kopfe. Dann
+ging er langsam, sehr langsam, die Hauptstraße hinauf, am Volkshause
+vorbei und weiter am Flusse entlang zum Staubecken. Er ging dorthin, wo
+der Fluß in das Becken eintrat, sah lange auf das Wasser und stieg dann
+langsam und fröstelnd hinein. Er glitt aus, schrie auf, sah auf der
+Straße das Lastautomobil halten, sah ihm Leute entsteigen, die ihm
+zuwinkten, zuriefen; er wollte ans Ufer zurück, aber schon hatte ihn die
+Oberströmung erfaßt. Langsam führte sie ihn fort; er hörte das Brausen
+des Wasserfalles näher und näher, die Strömung wurde stärker, immer
+stärker, das Brausen kam näher, näher, jetzt –
+
+Sechshundert Meter war die Felswand hoch, von der das Wasser senkrecht
+in das Meer stürzte.
+
+Und am selben Abende verließ Herr von Hahnemann auf seinem Torpedoboot
+unverrichteter Sache die Schildkröteninsel.
+
+
+
+
+Eine außerordentliche Versammlung der Gemeinschaft – das war noch nie
+dagewesen. Und doch war niemand erstaunt, als die Vorsteherschaft durch
+Maueranschlag zu dieser einlud; es lag so viel ungelöste Spannung in der
+Luft, soviele Vermutungen waren nur halb ausgesprochen, von Mund zu Mund
+gegangen, daß alle es als eine Erleichterung empfanden, eine klare
+Darstellung aller jener unverständlichen Vorgänge zu erhalten. Und das
+galt nicht nur von der Bürgerschaft – gerade die Vorsteher fühlten
+stärker als je die Kluft, die sie von den Anderen trennte, und wollten
+auch Kenntnis von allen dunklen Strömungen erhalten, von denen sie nur
+den letzten Wellenschlag gefühlt hatten.
+
+Erst als die Gemeinschaft vollzählig versammelt war, betraten die
+Vorsteher den großen Saal des Volkshauses. Otto Meyer übernahm als
+Stellvertreter des abwesenden Jakob Silberland den Vorsitz. Sogleich,
+nachdem auf ein Glockenzeichen Ruhe eingetreten war, mehr als Ruhe:
+Totenstille, erhob sich Paul Seebeck. Sein Gesicht war bleich,
+erschreckend bleich, und seine Augen lagen schwarz umrändert tief in den
+Höhlen.
+
+»Liebe Freunde«, sagte er, »jetzt ist die ernsteste Stunde gekommen,
+die wir bis jetzt hier erlebt haben. Jetzt handelt es sich um ein klares
+Ja oder Nein. Jetzt muß entschieden werden, ob der Staat, den wir alle
+in treuer Zusammenarbeit errichtet haben, zerstört werden darf oder
+nicht. Wir können das Unglück noch abwenden. Noch können wir unser Werk
+uns und unseren Kindern erhalten. Aber ein mutiger Schritt ist dazu
+notwendig.
+
+Wir haben Verräter im eigenen Lager gehabt, gemeine Schurken, die, um
+sich selbst vorwärts zu bringen, die Zukunft der Gemeinschaft opferten,
+und wieder andere, die aus einem falschen, kurzsichtigen Idealismus
+heraus, in bester Absicht, den Feind ins Land riefen. Vielleicht sehen
+sie jetzt ein, wie unverantwortlich leichtsinnig sie gehandelt haben und
+benutzen jetzt die Gelegenheit, ihr Unrecht wieder gutzumachen. Aber
+auch sie waren nur Werkzeuge, boten nur den erwünschten Vorwand zur
+Vernichtung unseres Werkes etwas früher, als es sonst geschehen wäre.
+Was geschah, mußte geschehen, früher oder später, und deshalb hat es
+keinen Zweck, Betrachtungen über Verschuldungen anzustellen oder
+Vorwürfe zu erheben. Jetzt muß gehandelt werden. Die Sache liegt so: das
+Deutsche Reich will uns nicht mehr unsere Freiheit lassen, man sieht
+dort, daß wir hier die Durchführbarkeit freier Ideen beweisen und
+fürchtet die Einwirkung dieser Ideen auf die eigenen, innerpolitischen
+Verhältnisse. Jemand, der die gegenwärtig in Deutschland herrschende
+ultrareaktionäre Strömung kennt, versteht diese Furcht der zur Zeit
+regierenden Clique nur zu gut. Das wäre aber doch für uns nur ein Grund
+mehr, sollte ich meinen, unser Werk bis zum letzten Punkte
+durchzuführen, statt uns einfach vor Beschränktheit oder Bosheit zu
+ducken. Jetzt kommt aber eine große, große Frage, die ich Sie in aller
+Ruhe zu überlegen bitte: wenn wir uns hierher einen schnoddrigen
+Berliner Assessor setzen lassen, ist zwar unsere Arbeit vernichtet, und
+wir haben hier Zustände wie im schwärzesten Preußen, aber Sie haben
+Ruhe. Wenn wir uns aber das nicht gefallen lassen, sind wir Aufrührer
+und damit rechtlos, nach den heute üblichen Anschauungen nicht viel mehr
+wie wilde Tiere. Und da wird nicht gefragt weshalb wir uns nicht beugen,
+die Tatsache, daß wir es nicht tun, genügt. Kein Mensch in dem dumpfen
+Berliner Ministerium wird verstehen, daß man Menschheitsideale über
+hündischen Gehorsam stellt. Solche Gedanken sind uns reserviert.
+
+Ich bin aber nicht so verblendet, Sie zu einem nutzlosen Widerstande zu
+verleiten, der nur den sicheren Untergang von uns allen bedeuten würde.
+Es gibt einen Ausweg, und das ist dieser: wir erklären uns autonom und
+lassen uns dann von England annektieren. Als englische Kolonie können
+wir sicher sein, völlig ungestört weiter arbeiten zu können. Dazu haben
+wir noch einige Wochen Zeit; Herr Doktor Silberland ist gegenwärtig in
+Sidney, und ich werde nachher die Versammlung um die Ermächtigung
+bitten, Herrn Doktor Silberland zur Vornahme der notwendigen Schritte zu
+beauftragen.
+
+Was ich bis jetzt getan habe, geht nur mich selbst an und kann für
+keinen anderen Bürger der Gemeinschaft nachteilige Folgen haben, solange
+sich die Gemeinschaft nicht solidarisch mit mir erklärt. Sie brauchen
+also nicht zu fürchten, daß ich Sie in irgend eine schwere Situation
+hineingebracht habe. Sie können ganz frei beschließen.
+
+Wenn Ihnen unsere Sache aber lieb ist«, und Paul Seebecks müde Augen
+bekamen Glanz und Feuer, »wenn Sie als Männer für Ihr Werk eintreten
+wollen, dann können wir es retten. Bevor ein Kriegsschiff hier ist,
+können wir unsere Befestigungen vollenden und können uns halten, bis wir
+unter englischem Schutze stehen.
+
+Ich mag darüber nichts mehr sagen, ich will Sie zu keinem folgenschweren
+Entschlusse überreden, den Sie später bereuen. Überlegen Sie es sich in
+Ruhe.«
+
+Das eiskalte Schweigen, mit dem Paul Seebecks Rede angehört worden war,
+dauerte noch fort, als er wieder auf seinem Platze saß. Dann erklang
+hinter ihm eine Stimme:
+
+»Nechlidow soll antworten; wo steckt er?«
+
+Eine andere Stimme antwortete:
+
+»Der kommt nie mehr zu den Versammlungen.«
+
+Und schwer und hart sagte eine dritte Stimme:
+
+»Nechlidow ist ein Lump, mag er sich ersäufen wie der andere. Ich halte
+zu Herrn Seebeck.«
+
+Jetzt wich die Starre von der Versammlung; man redete, schrie
+durcheinander, die Gesichter wurden rot, Arme wurden bewegt, der Lärm
+stieg und stieg –
+
+Paul Seebeck trat wieder auf das Podium, aber er konnte nicht sprechen.
+Die Leute verließen ihre Plätze, umdrängten ihn, drückten seine Hände,
+jeder, jeder einzelne wollte ihm Treue geloben.
+
+Paul Seebeck wollte reden, wollte ihnen danken, aber er stammelte nur
+einige Worte und sank dann bewußtlos um. Er hörte nur noch Edgar Allans
+schneidend scharfe Stimme:
+
+»Aber jetzt bitte nicht nur Worte, Leute, auch Taten.«
+
+Paul Seebeck wurde in ein anstoßendes Zimmer getragen und Frau von
+Zeuthen und Otto Meyer übernahmen seine Pflege.
+
+Inzwischen wurden die Verhandlungen unter Herrn von Rochows Vorsitz
+fortgesetzt. Paul Seebecks Vorschläge wurden einstimmig genehmigt,
+obwohl sich manche recht zögernd von den Sitzen erhoben. Unter dem
+brausenden Beifall der Versammlung verkündete Herr von Rochow darauf die
+Autonomie der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel.
+
+
+
+
+Noch immer keine Entscheidung von Sidney. Bei der immer stärkeren
+Spannung zwischen England und Deutschland wäre der Ausbruch eines
+Krieges in der allernächsten Zeit höchst wahrscheinlich, schrieb Jakob
+Silberland. Dann wäre die Annektion selbstverständlich. Bis dahin müßte
+man sich halten.
+
+Und mit allen Kräften wurde gearbeitet. Fünfzig unverheiratete Männer
+wurden vom Hauptmann von Rochow im Gewehrschießen eingedrillt. Die
+Vorsteher und außer ihnen Felix und Melchior übten sich an den
+Geschützen, und manche Klippe da draußen im Meere war von den schweren
+Granaten des Festungsgeschützes bei Schießübungen getroffen, in die Luft
+geflogen.
+
+Der »Vulkan« wurde inzwischen zur Aufnahme aller Nichtkämpfer
+eingerichtet. Welchem Zwecke die Gebäude dort auch ursprünglich bestimmt
+waren, jetzt wurde alles zu Wohnstätten eingerichtet, sogar die
+Umkleidezellen des Schwefelbades. Ein Fieber hatte alle ergriffen, ein
+Freiheitsrausch, und als sich nach fünf Wochen am Horizonte die
+Rauchsäule des Kreuzers zeigte, wurde er von den kampffrohen Männern mit
+Jubel begrüßt. Man war bereit, ihn zu empfangen. Vor Seebecks Haus
+standen in Reih und Glied die Infanteristen mit ihren Mausergewehren,
+die Stahlläden vor den Geschützscharten in Seebecks Keller waren
+aufgeklappt und die Geschütze nach vorn gerollt. Vier Meter ragte der
+hellgraue Lauf des Festungsgeschützes heraus. Es wurde von Edgar Allan
+und Felix bedient, während Otto Meyer und Melchior an den beiden
+Maschinengewehren standen.
+
+Oben in Paul Seebecks Arbeitszimmer standen er und Frau von Zeuthen. Vor
+ihnen auf dem Schreibtische lag der Lageplan der Seeminen; die Stahltür
+an der Wand stand offen und zeigte die sechzig weißen Tasten.
+
+»Wie weit ist das Schiff jetzt?« fragte Frau von Zeuthen.
+
+Paul Seebeck sah prüfend durch sein Fernglas:
+
+»Zehn Kilometer, schätze ich es jetzt.«
+
+Einige Minuten später hielt der Kreuzer an. Ein weißes Wölkchen erhob
+sich und eine halbe Minute später rollten drei dumpfe Schüsse über die
+Stadt.
+
+»Die waren blind!« rief Hauptmann von Rochow herauf.
+
+»Noch zwei Kilometer, und das Schiff kommt in den Bereich unserer
+Minen.«
+
+Aber der Kreuzer drehte sich auf der Stelle und wandte der Stadt seine
+Breitseite zu.
+
+»Ja, da draußen konnten wir leider keine Minen legen, es ist zu tief«,
+sagte Paul Seebeck. »Aber hierher kommen können sie doch nicht. Und
+Silberland wird ja bald kommen; er weiß ja, daß in diesen Tagen der
+Kreuzer kommen mußte. Solange müssen wir uns eben halten. Das können wir
+auch.«
+
+»Und wenn es nichts wird?«
+
+Es zuckte um Paul Seebecks Mundwinkel, als er sagte:
+
+»Sie wissen, daß ich für mein Werk sterben kann.«
+
+Das Haustelephon, das den Keller mit Paul Seebecks Arbeitszimmer
+verband, klingelte. Seebeck nahm das Hörrohr:
+
+»Ja.«
+
+»Hier Allan. Was meinen Sie, sollen wir nicht den Salut beantworten? Es
+ist doch unhöflich, einen Gruß nicht zu erwidern.«
+
+»Schön, aber blind. Wir wollen nicht anfangen.«
+
+Das Haus bebte in seinen Fugen, als der Schuß krachte.
+
+Einige Minuten später kam die Antwort: im Hafen stieg eine Wassersäule
+auf, der ein doppelter Knall folgte.
+
+»Was jetzt?« – telephonierte Allan herauf.
+
+»Abwarten, ob sie wirklich ernst machen. Je mehr Zeit wir gewinnen,
+desto besser«, gab Paul Seebeck zurück.
+
+Aber Minute auf Minute verrann, eine Stunde, eine zweite, und nichts
+geschah.
+
+»Die Herren erwarten wohl, daß wir die bewußte weiße Fahne aufziehen«,
+sagte Paul Seebeck zu Frau von Zeuthen.
+
+Da hüllte sich plötzlich der Kreuzer in eine einzige Rauchwolke. Im
+Hafen erhob sich eine ungeheure Wasser- und Staubwolke, der ein
+donnerndes, krachendes Getöse folgte. Wie sich die Wolke verzogen hatte,
+sah man, daß alle Hafenanlagen mit der Landungsbrücke und den
+Lagerhäusern in Trümmern lagen. Die am Quai liegenden Fischerboote waren
+fast sämtliche verschwunden. Aber das wild wogende Meer war mit Trümmern
+und Balken bedeckt.
+
+Und Schuß auf Schuß folgte, aber alle galten nur dem Hafen.
+
+»Sie wollen uns so lange schonen, wie es geht, und das gefällt mir sehr,
+damit gewinnen wir Zeit«, sagte Paul Seebeck zu Frau von Zeuthen. Dann
+telephonierte er zu Allan:
+
+»Wir dürfen erst schießen, wenn sie die Stadt selbst beschießen. Nicht
+vorher.«
+
+Von unten her klangen Rufe, die man bei dem Getöse nicht verstehen
+konnte. Frau von Zeuthen trat ans Fenster und sah hinunter.
+
+Auf ihrem völlig erschöpften Pferdchen ritt Hedwig die Hauptstraße
+hinunter, drängte sich durch die Infanteristen und stürmte die Treppe
+hinauf:
+
+»Der Dampfer von Sidney liegt da hinten, dicht an der Insel; man kann
+ihn vom Vulkane aus sehen. Herr Silberland ist in einem Ruderboote vom
+Dampfer abgestoßen, ich konnte ihn ganz deutlich erkennen. Der Dampfer
+fuhr dann wieder weg.«
+
+Paul Seebeck war aufgesprungen:
+
+»Wo liegt der Dampfer? Wo?«
+
+Hedwig beschrieb ihm die Stelle.
+
+»Hierher rudern! War er allein?«
+
+»Ja.«
+
+»Um Gotteswillen, das sind ja über dreißig Kilometer. Wenn er das
+aushält. Wann war das?«
+
+»Ich mußte zuerst herunterlaufen und mein Pferd holen. Ich bin so
+schnell geritten, wie ich konnte. Aber drei Stunden ist es mindestens
+her.«
+
+»Dann kann er in zwei Stunden hier sein.«
+
+Frau von Zeuthen strich ihrer Tochter über das erhitzte Gesicht:
+
+»Leg dich etwas auf Pauls Bett, mein Kind, und ruh dich aus. Aber dann
+mußt du wieder zurückreiten, hörst du?«
+
+»Darf ich nicht hier bleiben, Mutter?«
+
+»Nein, das geht nicht, Kind.«
+
+»Aber Fräulein Erhardt kommt auch, sie geht sogar zu Fuß, ich habe sie
+überholt.«
+
+»Wenn du ihr auf dem Rückwege wieder begegnest, sag ihr, daß sie
+umkehren soll«, sagte Paul Seebeck. »Aber geh jetzt Kind und ruh dich
+etwas aus. Oder willst du etwas zu essen haben?«
+
+Hedwig schüttelte schmollend den Kopf und ging in Paul Seebecks
+Schlafzimmer.
+
+»Also nur noch zwei Stunden, dann wissen wir Bescheid«, sagte Paul
+Seebeck aufatmend. »Wenn Silberland es nur aushält.«
+
+Hedwig war in Paul Seebecks Schlafzimmer gegangen, aber sie legte sich
+nur für einige Minuten auf sein Bett. Leise öffnete sie dann die Tür zum
+Badezimmer, schlüpfte durch dieses in die Küche und ging die
+Hintertreppe hinunter. Mit einigen Sprüngen hatte sie unbemerkt die
+nächsten Häuser erreicht und ging jetzt durch die kleinen Gäßchen, die
+die einzelnen Terrassen mit einander verbanden, zum Meere hinunter. In
+kurzen Zwischenräumen schlugen noch immer die Granaten in den Hafen.
+
+Hedwig ging zu Nechlidows Häuschen, das gerade am Anfang der
+Fischerstraße lag. Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Türe und trat
+ein.
+
+Es war still im ganzen Hause. Hedwig trat ins Wohnzimmer ein. Hier war
+es fast dunkel, denn die Fenstervorhänge waren dicht zugezogen.
+
+Nechlidow erhob sich von seinem flachen Sofa zu einer halbsitzenden
+Stellung.
+
+»Sie kommen zu mir, dem Verfehmten? Wird man Sie nicht steinigen, wenn
+man das erfährt?«
+
+Ein scharfer Knall in der Nähe, dem ein anhaltendes Prasseln und Krachen
+von niederstürzenden Mauerteilen folgte, ließ ihn aufstehen. Er trat zum
+Fenster und zog die Vorhänge zurück. Das gegenüberliegende Haus hatte
+sich in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandelt.
+
+Nechlidow lachte bitter auf:
+
+»Meine Schuld, nicht wahr?«
+
+»Herr Nechlidow«, sagte Hedwig bittend und trat an ihn heran. »Glauben
+Sie nicht doch, daß Paul recht gehandelt hat?«
+
+»Bei Gott, er hatte nicht recht, und wenn ich tausendmal daran Schuld
+trage, daß jetzt alles zusammenbricht. Ich habe das nicht gewollt. Ich
+habe nicht vorausgesehen, daß es so kommen würde. Aber es ist besser,
+daß diese riesige Lüge zusammengeschossen wird, als daß sie weiter lebt.
+Wer weiß, vielleicht kommen die englischen Schiffe noch rechtzeitig,
+und dann baue ich die Stadt wieder auf. Und wenn sie nicht kommen, um so
+besser, dann ist eine Halbheit weniger auf der Welt.«
+
+»Sind Sie wirklich schuld daran?« fragte Hedwig schüchtern.
+
+Nechlidow legte ihr beide Hände auf die Schultern und sah ihr in die
+braunen Augen:
+
+»Weshalb kommen Sie mit dieser Frage zu mir?«
+
+»Weil ich wissen will, was Sie sind.«
+
+»Nein, Hedwig, es ist nicht meine Schuld. Die Leute sind daran schuld,
+sie sind ja alle behext, haben ihr bischen Vernunft ganz verloren. Wenn
+Seebeck aus lauter Sentimentalität die Dummheit begeht, seine Entlassung
+zu verweigern, weshalb ihm dann zustimmen, weshalb es zur Revolution
+kommen lassen! Wir hätten alles so glatt machen können, Seebeck hätte
+gehen müssen, Rouvière wäre Reichskommissar geworden. Aber da kam wieder
+der sinnlose Selbstmord von Rouvière dazwischen, und damit war alles
+verloren. Denn Rouvière hatte die Leute in der Tasche. Ja, und jetzt
+gehen mir dieselben Menschen, die unsere Klageschrift unterschrieben
+haben, wie einem Pestkranken aus dem Wege und lassen sich Seebecks
+schöner Augen wegen von ihm in den Tod führen. Eine Kette von
+unbegreiflichen Sentimentalitäten war wie immer der Grund alles
+Unglücks. Mein Fehler war nur, daß ich auf die Vernunft der Menschen
+vertraute. Das ist die Wahrheit, Hedwig.«
+
+»Aber was soll jetzt kommen? Was werden Sie tun?«
+
+»Ich? Ich warte, bis meine Zeit gekommen ist. Die da drüben mögen sich
+gegenseitig zerfleischen, wenn sie noch nicht reif für die Vernunft
+sind. Ich glaube an sie und an ihren endlichen Sieg. Ich glaube an die
+Menschheit.«
+
+Hedwig sah vor sich hin. Dann schüttelte sie ihren Lockenkopf:
+
+»Wollen wir nicht noch einmal zu unserer Landspitze hinausgehen? Wer
+weiß, wann wir wieder zusammen sein können.«
+
+Und sie gingen Hand in Hand die Treppe hinunter und traten auf die
+Straße. Da schoß dicht vor ihnen auf der Straße ein blendend weißes
+Licht auf. Nechlidow taumelte zurück. Hedwig stieß einen leichten Schrei
+aus und fiel flach auf das Gesicht.
+
+Nechlidow sprang auf sie zu, hob sie auf, drückte sie an seine Brust –
+sie schlug die Augen auf, lächelte noch einmal, wollte die Hand heben,
+aber ließ sie schlaff wieder fallen. Ihr Haupt sank zurück –
+
+ * * * * *
+
+Ein Ruderboot wandte sich um die Landspitze, die die bewohnte Bucht von
+der Irenenbucht schied.
+
+»Das ist Silberland«, rief Paul Seebeck Frau von Zeuthen zu.
+
+Er lief die Treppe hinunter, auf die Straße, schrie Hauptmann von Rochow
+zu:
+
+»Bleiben Sie hier. Handeln Sie nach Ihrem Gutdünken!« und stürzte dem
+Hafen zu. Mehrere Granaten schlugen in seiner Nähe ein und bedeckten ihn
+mit Staub. Unten angekommen, sah er um sich. Alles lag schon in
+Trümmern. In der Fischerstraße standen nur noch einige Häuser. Und
+horch! das Prasseln auf den Steinen, das Klirren an Fensterscheiben, die
+kleinen Springbrunnen auf dem Meere. Also hatten sie schon die
+Maschinengewehre in Tätigkeit gesetzt.
+
+Da kam das Ruderboot. Jakob Silberland stand auf und rief etwas, was
+Seebeck des Lärmes wegen nicht verstehen konnte. Jakob Silberland setzte
+sich wieder an die Ruder. Jetzt war er nur noch zwanzig Schritte vom
+Strande entfernt. Wieder stand er auf. Sein Gesicht war verzerrt, Blut
+floß von seinen Händen herunter. Er schrie:
+
+»Entente cordiale zwischen England und Deutschland; damit ist der
+Weltfriede endgiltig gesichert.«
+
+Klack, klack, klack klang es im Boote und im Wasser – Jakob Silberland
+fuhr sich mit der Hand ins lange schwarze Haar und brach dann auf der
+Bootsbank zusammen. Langsam füllte sich das durchlöcherte Boot mit
+Wasser und sank.
+
+Paul Seebeck blieb mit verschränkten Armen stehn und sah das Boot
+versinken.
+
+Da legte sich eine Hand auf seine Schulter und er sah in Nechlidows
+bleiches Gesicht. An den Kleidern hatte er große Blutflecke. Er fragte:
+
+»Darf ich zusammen mit Ihnen sterben, Herr Seebeck?«
+
+Seebeck reichte ihm die Hand:
+
+»Lassen Sie uns zusammen sterben, Sie für Ihre Idee, ich für mein Werk.«
+
+Nechlidow schüttelte den Kopf:
+
+»Ich sehe nichts mehr, weiß von keiner Vernunft mehr. Ich sehe nur noch
+einen Strom, dessen Wellen uns in die Höhe hoben, als wir ihn zu leiten
+glaubten, und der uns jetzt mitleidlos wieder in seine Strudel zieht.
+Aber ich sehe nicht, wohin er geht. Ich sehe nur noch Sie und will mit
+Ihnen zusammen sterben.«
+
+»Kommen Sie«, sagte Seebeck. »Wir wollen den anderen sagen, daß wir alle
+sterben müssen.«
+
+Aber auch oben hatte man Jakob Silberlands Untergang gesehen.
+
+»Jetzt ist es genug!« rief Edgar Allan Hauptmann von Rochow zu. Dieser
+nickte. Und einige Minuten später donnerte das schwere Festungsgeschütz,
+begleitet vom Knattern der beiden Maschinengewehre.
+
+Dies war aber nur ein Signal für den Kreuzer, seinerseits das Feuer zu
+verstärken. Und jetzt galten seine Schüsse nicht mehr dem Hafen. Überall
+schlugen die Granaten in die obere Stadt. An vielen Stellen brannten die
+Häuser.
+
+Da kamen Paul Seebeck und Nechlidow zusammen die Straße herauf. Die
+Leute umdrängten sie, fragten, aber die beiden gingen hinauf in das
+Seebecksche Arbeitszimmer. Dort trat Paul Seebeck ans Fenster, wartete,
+bis das Feuer für einen Augenblick verstummte und rief dann mit scharfer
+klarer Stimme:
+
+»Wir bekommen keine Hilfe von England. Wer ist bereit, mit uns für unser
+Werk zu sterben?«
+
+Die Gesichter dort unten wurden groß. Wutschreie ertönten. Drohende
+Fäuste wurden emporgereckt. Aus dem Gebrülle waren nur einzelne Worte
+verständlich:
+
+»Wir wollen uns nicht hinschlachten lassen!«
+
+»Wir sind verraten.«
+
+»Wir wollen die da oben ausliefern und uns ergeben ...«
+
+»Drehen Sie die Geschichte herum«, sagte Edgar Allan zu Felix, und der
+gehorchte. Die noch rauchende Mündung des Festungsgeschützes war auf die
+Infanteristen gerichtet.
+
+Da liefen sie, warfen die Gewehre fort, liefen, was sie konnten, nur
+fort, dem sicheren Hochlande, dem Leben, der Zukunft zu. Nur einer
+drehte sich um und feuerte einen Schuß ab, bevor er den anderen gleich
+sein Gewehr fortwarf.
+
+Edgar Allan brach, ins Herz getroffen, lautlos zusammen.
+
+An seine Stelle trat Nechlidow. Niemand fragte ihn, weshalb er gekommen
+sei, niemand machte ihm Vorwürfe. Man drückte ihm die Hand, und
+schweigend trat er an das Geschütz.
+
+Hauptmann von Rochow warf noch einen Blick auf seine fliehenden
+Soldaten, dann ging er zu Seebeck hinauf.
+
+Seebeck konnte ihm nur flüchtig zunicken, denn jetzt geschah draußen
+etwas Sonderbares: der Kreuzer stellte sein Feuern ein, und die
+Dampfbarkasse wurde ins Wasser gesenkt. Von der anderen Seite kam ein
+bemanntes Boot, das die Barkasse in Schlepptau nahm.
+
+»Hört mit dem Schießen auf«, telephonierte Seebeck hinunter. »Vielleicht
+kommen die in friedlicher Absicht.« Aber so scharf er auch hinsah, er
+konnte keine weiße Fahne bemerken.
+
+»Sind denn die Leute wahnsinnig? Sie wissen doch, daß Seeminen da
+draußen liegen!« rief Seebeck.
+
+Die Dampfbarkasse nahm aber nicht den Weg nach dem Hafen zu, sondern
+fuhr auf die Landspitze bei der Irenenbucht zu.
+
+»Die glauben, daß da keine Minen liegen und wollen da landen. Herr von
+Rochow, ich bitte Sie!« Hauptmann von Rochow stürzte zum Tastbrett, und
+Paul Seebeck beugte sich über den Plan. Die Barkasse kam näher, war
+jetzt bei der flachen Klippe –
+
+Fragend sah Herr von Rochow Seebeck an, der mit verschränkten Armen und
+zusammengepreßten Lippen ans Fenster getreten war.
+
+»Siebenunddreißig, achtunddreißig, zweiundvierzig«, sagte er kurz und
+scharf.
+
+Wie um einen Akkord zu spielen, drückte Hauptmann von Rochow die drei
+Tasten nieder, und draußen schoß ein ungeheurer Wasserberg in die Luft
+und stürzte dann mit donnerndem Gebrüll zusammen. Boote und Klippe waren
+verschwunden.
+
+Herr von Rochow griff sich mit beiden Händen taumelnd an den Kopf:
+
+»Deutsche, deutsche Soldaten«, murmelte er wie irrsinnig. Dann richtete
+er sich kerzengerade auf, zog einen Revolver aus der Tasche und schoß
+sich in die Schläfe.
+
+Seebeck wandte sich beim Knalle um; spöttisch lächelnd sah er auf die
+Leiche.
+
+Frau von Zeuthen war entsetzt aufgesprungen. Dann setzte sie sich
+wieder auf ihren Stuhl. Seebeck trat auf sie zu:
+
+»Gehen Sie jetzt, Gabriele. Denn dem, was jetzt kommen wird, sind die
+Nerven keiner Frau gewachsen. Gehen Sie, Sie müssen sich Ihren Kindern
+erhalten.«
+
+Sie stand auf und schüttelte energisch den Kopf:
+
+»Ich bleibe bei Ihnen, meinetwegen –«
+
+»Nichts geschieht Ihretwegen«, unterbrach sie Seebeck schroff. Dann
+setzte er aber sanft hinzu: »Denken Sie an Ihre Kinder, Gabriele. Sie
+haben noch eine Aufgabe auf dieser Welt, wir nicht mehr. Und nehmen Sie
+Felix mit; wozu soll er sich hier verbluten. Sie können ihm nach zehn
+Jahren erzählen, was sich hier alles vor seinen Augen abgespielt hat.
+Dann wird er es verstehen und davon lernen. Und grüßen Sie Ihre kleine
+Hedwig von mir.«
+
+Da sank Frau von Zeuthen vor ihm nieder und küßte seine Hände. Er hob
+sie auf und zog sie an seine Brust. Draußen krachten wieder die
+Granaten, und unten donnerte das Festungsgeschütz, begleitet vom
+Knattern der beiden Maschinengewehre.
+
+Frau von Zeuthen riß sich los:
+
+»Felix muß bei Ihnen bleiben, Seebeck! Das Opfer muß ich Ihnen bringen.
+Er ist ein Mann. Er soll Ihr Geschick teilen. Ich gehe zu Hedwig.«
+
+Paul Seebeck trat ans Telephon.
+
+»Felix soll herauf kommen.«
+
+Das schwere Geschütz verstummte und Felix kam herauf.
+
+»Was gibt’s?«
+
+»Du mußt deine Mutter zum Vulkane zurückbegleiten.«
+
+»Aber Paul!«
+
+»Du mußt! Hol dein Pferd für deine Mutter.«
+
+»Paul, ich will bei dir bleiben.«
+
+»Felix, es hat keinen Sinn mehr. Denk was für ein Leben du noch haben
+kannst und denk an deine Mutter.« Er legte den Arm um Felix Schulter und
+führte ihn Frau von Zeuthen zu:
+
+»Wollen Sie wirklich Ihren Jungen hier lassen?«
+
+Da schlang die Mutter die Arme um ihr Kind, unter strömenden Tränen rief
+sie:
+
+»Felix, komm mit mir!«
+
+Er entwand sich ihren Armen und sah Paul Seebeck an. Dieser sagte:
+
+»Du sollst mein Erbe sein, Felix; sieh zu, ob du mein Werk fortführen
+kannst, und das mit mehr Glück. Geh meines Werkes wegen.«
+
+Felix kämpfte mit sich. Dann sah er mit seinen strahlenden, braunen
+Augen Paul Seebeck an und sagte:
+
+»Aber das verspreche ich dir, Paul, ich werde mich ebenso halten wie
+du.«
+
+Paul Seebeck strich ihm über das Haar.
+
+»Gut, mein Junge. – Aber geh jetzt und hol dein Pferd.«
+
+Jetzt ging die Sonne unter, und der Kreuzer stellte sein Feuern ein.
+Wenige Minuten später war es dunkle Nacht, in der hier und da die
+Flammen von den brennenden Häusern emporloderten.
+
+Da hob sich riesengroß die rotgelbe Scheibe des Vollmondes über den
+Horizont, beleuchtete den Kreuzer und sein Werk. Schaurig sahen im
+kalten Lichte die Trümmer aus. Und nun begann der Kreuzer wieder zu
+feuern; unter donnerndem Krachen stürzte das große Volkshaus zusammen.
+
+»Kommen Sie, Gabriele, jetzt ist keine Zeit mehr zu verlieren.« Er
+begleitete sie bis zur Hauptstraße und weiter bis zu den rauchenden
+Trümmern des Volkshauses. Da tauchte ein Schatten hinter ihnen auf, und
+Felix holte sie auf seinem Pferde ein.
+
+»Ich möchte nur noch schnell von den anderen Abschied nehmen, geh nur
+voraus, Mutter!« rief er und galoppierte zurück.
+
+»Leben Sie wohl, Gabriele. Mein Versprechen habe ich gehalten, nicht
+wahr?« Und dann wandte er sich schnell ab und ging hinunter.
+
+Frau von Zeuthen ging langsam den Berg hinauf und weiter auf der Straße
+hin. Als sie das Staubecken erreichte, schrak sie zusammen, denn vor ihr
+erhob sich eine dunkle Gestalt. Aber der Mond erleuchtete ein bekanntes
+Gesicht.
+
+»Fräulein Erhardt?«
+
+»Ja, gnädige Frau!«
+
+»Wollen Sie zur Stadt?«
+
+»Ich kann nicht mehr gehen, ich bin so müde. Wo ist Felix?«
+
+»Er ist in einigen Minuten hier. Ist Ihnen nicht Hedwig begegnet?«
+
+Fräulein Erhardt schüttelte den Kopf:
+
+»Nein, aber ich glaube, ich habe mehrmals auf dem Wege geschlafen. Sie
+wird an mir vorbeigeritten sein, ohne daß ich sie bemerkte. Aber Felix
+kommt, mein Felix!«
+
+Frau von Zeuthen hatte sich neben sie gesetzt und strich ihr sanft über
+den Leib. Da schlang Fräulein Erhardt die Arme um ihren Hals und
+flüsterte ihr zu:
+
+»Ich habe ja ein Kind von ihm.«
+
+Frau von Zeuthen küßte sie:
+
+»Liebe Tochter«, sagte sie.
+
+Dann schwiegen sie beide, saßen im bleichen Lichte des Vollmondes einsam
+auf der Ebene und warteten, warteten – –
+
+Als Paul Seebeck von der Hauptstraße wieder auf sein Haus zu einbog,
+blieb er wie erstarrt stehen, denn aus dem Kellerfenster schoß eine
+Stichflamme, der ohrenbetäubender Knall folgte. Paul Seebeck griff sich
+an die Stirn und stürzte dann hin. Dichter, beißender Rauch quoll aus
+den Fenstern, verhüllte die Läufe der drei Geschütze –
+
+Er sprang die Treppe hinunter, von unten klang ihm leises Wimmern
+entgegen. Die Lampe war verlöscht, aber das weiche Dämmerlicht der
+Mondnacht erfüllte den Raum.
+
+Auf dem Boden lag Nechlidow in den letzten Zügen, der ganze Leib war ihm
+aufgerissen. Über den Verschluß des Geschützes gebeugt lag Felix. Paul
+Seebeck hob ihn auf. Felix schlug die Augen auf und lächelte:
+
+»Du, Paul, ich wollte Nechlidow doch wieder helfen; er konnte das
+Geschütz nicht allein bedienen.«
+
+Paul Seebeck betastete ihn. Auf der rechten Brustseite war ein kleiner
+nasser Fleck. Seebeck riß die Kleider auf; das Blut strömte.
+
+»Muß ich sterben, Paul? Dann grüß die andern.«
+
+»Nein, nein du bleibst leben. Hab keine Angst. Schlaf jetzt nur etwas.«
+
+»Ja«, sagte Felix, »ich bin so müde.«
+
+Und Paul Seebeck bettete den sterbenden Knaben so gut er konnte auf den
+Boden.
+
+Unter seinem Maschinengeschütz lag Otto Meyer, ein Granatsplitter hatte
+ihm den Oberschenkel zerfetzt. Er reichte Seebeck die Hand:
+
+»Du, sag mal, kannst du mir nicht irgend einen passenden Ausspruch
+empfehlen? Ich kann doch nicht so ganz klanglos sterben. »Ich sterbe für
+die Freiheit«, oder etwas ähnliches?«
+
+»Du stirbst, weil du ein anständiger Kerl bist.«
+
+»Also gut: ich sterbe, damit die Anständigkeit lebe! Bravo. Schluß. – Es
+war so schön, mit dir zusammenzuarbeiten, Seebeck. Ich danke dir dafür.«
+
+Dann sank er zurück.
+
+Paul Seebeck trat an Melchior heran, der bewußtlos in einer Blutlache an
+der Wand lag. Wie er ihn untersuchte, schlug er die Augen auf:
+
+»Herr Seebeck, Sie? Gut, daß Sie kommen. Ich habe es gefunden!«
+
+»Was haben Sie gefunden?«
+
+»Das Problem der Menschheit habe ich gefunden. Hören Sie!« Er versuchte
+sich aufzurichten, aber sank wieder zusammen.
+
+»Das Problem der Menschheit!« Seebeck lachte auf. »Da draußen haben Sie
+das Problem der Menschheit!« Und er wies auf das Kriegsschiff hinaus,
+das jetzt langsam sein Feuern einstellte.
+
+»Seebeck, schämen Sie sich! Wer wird einen Spezialfall verallgemeinern.
+Hören Sie, ich habe nicht mehr viel Zeit, glaube ich.«
+
+Paul Seebeck verschränkte die Arme und sah dem Sterbenden gerade ins
+Gesicht.
+
+»Ich höre«, sagte er.
+
+»Sie erinnern sich noch an alle unsere Gespräche? Sie alle haben am
+Problem mitgearbeitet, Sie alle haben mir Bausteine gegeben. Jetzt habe
+ich aber die Formel gefunden. Sie erinnern sich, daß alle Fragen immer
+wieder auf denselben toten Punkt kamen, daß man die Begriffe
+gleichzeitig als fortgeschrittener, wie auch als rückständig in den
+Bezug auf den realen Stand der Menschheit ansehen kann. Da kam Herr Otto
+Meyer mit dem Einfall, daß sie von zwei verschiedenen Gesichtspunkten
+aus betrachtet sein müßten, um verschieden zu erscheinen. Lebt er noch?«
+
+»Nein, er ist tot.«
+
+»Schade, es hätte ihn sicher interessiert. Sehen Sie, Herr Seebeck,
+jetzt habe ich die beiden Standpunkte; den niedrigen des einzelnen
+Menschen und den hohen der gesamten Menschheit. Wenn sich aus uns allen
+kleinen gleichgiltigen Einzelwesen jetzt das ungeheure Individuum der
+Menschheit aufbaut – solange ich selbst unter den Arbeitern lebte, habe
+ich diese Kristallisation gefühlt, aber nicht begriffen, ich fühlte, wie
+sich die Zellen instinktiv zusammenschlossen, obwohl sich jede einzelne
+krampfhaft dagegen wehrte – dann müssen ja unsere Gedanken klein sein,
+die der Menschheit sind aber groß, für uns ebenso unbegreiflich groß,
+wie die Zelle in unserem Körper nichts von unseren Gedanken versteht,
+und doch baut sie Körper und Leben auf.
+
+Aber da haben wir als Ausgleich jene Begriffe, halb einzel-menschlich,
+halb universal-menschlich, dem Menschen zu hoch, der Menschheit zu
+niedrig. Sie zeigen weder den Standpunkt des Menschen, noch den der
+Menschheit, sondern gerade die noch ungelöste Spannung zwischen beiden
+Teilen.
+
+Prüfen Sie es doch nur an irgend einem Beispiele: denken Sie an die Ehe.
+Dem einzelnen Menschen ein praktisch fast unerreichbares Ideal, für die
+Menschheit veraltet. Denn vom hohen Standpunkte der Menschheit aus
+gesehen, gleichen sich die im Einzelfalle eintretenden Hindernisse aus;
+und für den Gesamtdurchschnitt wird dann die Ehe nicht zu hoch, sondern
+zu niedrig.
+
+Oder denken Sie an die Orthographie einer Sprache, die zwar scheinbar
+rückständig ist, in Wirklichkeit aber die großen, ewigen Gesetze und
+Wandlungen der Sprache, dieses Gutes nicht eines Einzelnen, sondern der
+Menschheit wiedergibt.«
+
+»Und wie erklären Sie dieses Beispiel hier?« fragte Paul Seebeck und
+wies auf die Leichen um sie her.
+
+»Ach was hat das zu sagen, daß einige Zellen absterben. Ein kleiner
+Entzündungsprozeß im Körper der Menschheit, weiter nichts.«
+
+»Ja, ja«, sagte Paul Seebeck.
+
+»Und sehen Sie doch, daß die großen Taten nie vom einzelnen ausgeführt
+werden, sondern nur von der Masse, vom Individuum Menschheit. Das ist ja
+auch selbstverständlich, denn der Natur der Dinge nach muß die auf einer
+millionenmal höheren Stufe stehende Menschheit auch höhere Gedanken
+haben. Wie selten opfert sich ein einzelner für eine Idee, und wie
+leicht tun es tausende zusammen, weil nicht mehr der Einzelne denkt,
+sondern die Masse an sich.«
+
+»Aber hat uns nicht hier die Masse verraten, und bleiben nicht wir
+einzelne zurück?«
+
+»Kommt das nicht auch in unserem Körper vor, in dem sich die einzelnen
+Blutkörperchen gegenseitig auffressen, statt zusammen zum höheren Zwecke
+als dem ihrer Einzelexistenz zu wirken? Krankheitserscheinungen, weiter
+nichts. Und eben so, wie trotz aller Krankheiten der menschliche Körper
+sich weiter entwickelt, so wird es auch die Menschheit tun, um später
+wieder Zelle eines neuen, unermeßlich hohen Individuums zu werden. Bis
+sich schließlich das Universum in einem unendlich weiteren Sinne, als
+wir armselige Einzelzellchen es heute begreifen können, zu einem großen
+Organismus zusammenschließt. Und da wird die Erlösung sein, der Zweck
+des Daseins. Ich sterbe«, fuhr er mit schwächerer Stimme fort, »aber Sie
+leben ja noch. Gehen Sie zu den Menschen und sagen Sie ihnen, daß ich
+ihr Geheimnis gelöst habe.«
+
+Paul Seebeck schüttelte langsam den Kopf:
+
+»Ich gehe nicht mehr zu den Menschen, Melchior.«
+
+Jetzt richtete sich der Sterbende mit seiner letzten Kraft auf:
+
+»Sie müssen, Seebeck, sonst habe ich das alles umsonst gedacht. Das darf
+doch nicht sein!«
+
+»Nein«, sagte Paul Seebeck hart, »Sie sollen das alles umsonst gedacht
+haben. Mag Ihr Leben verschwendet sein, wie das von uns allen.«
+
+Da brach Melchior zusammen.
+
+Nun fiel das bleiche Mondlicht durch die Fenster und beleuchtete die
+vier Leichen und die Geschütze. Sinnend blieb Paul Seebeck stehen. Er
+schaute auf das Meer hinaus, das so friedlich dalag. Aber dort in der
+Ferne das Ungeheuer, jetzt nicht mehr feuerspeiend.
+
+Paul Seebeck setzte sich neben Felix’ Leiche hin und wartete. Aber ihm
+war keine Granate bestimmt. Da küßte er des Knaben eiskalte Stirn und
+ging hinaus. Er ging an den Trümmern des Volkshauses vorbei, die sich
+gespenstig in die Höhe reckten, zur Irenenbucht hinunter. Langsam stieg
+er die Stufen hinab und setzte sich unten auf die Felsplatte. Er sah die
+breiten Rücken der Riesenschildkröten feucht im Mondlichte glänzen, sah
+sie die Köpfe erheben –
+
+Da ließ er sich langsam ins Wasser gleiten. Die Tiere tauchten
+erschreckt unter. Er wollte schwimmen, weiter hinaus ins Meer wollte er,
+aber er verfing sich in den langen Schlingpflanzen. Er kämpfte, um sich
+zu befreien, aber sie ließen ihn nicht los. Da gab er nach und ließ sich
+vom Wasser tragen. Es umfing ihn so lau und weich. Aber wie er sich
+nicht mehr bewegte, beruhigten sich die Tiere wieder. Er sah ihre
+glänzenden Rücken herankommen, dicht vor ihm tauchte ein riesiger,
+schwarzer Kopf aus dem Wasser auf, schob sich langsam näher, ein
+breites, zahnloses Maul öffnete sich – –
+
+
+
+
+IM GLEICHEN VERLAGE ERSCHIEN:
+
+HANS FRANCK
+THIES UND PETER
+DER ROMAN EINER FREUNDSCHAFT
+
+PREIS BROSCH. M. 3.50, GEBUNDEN IN LEINEN M. 4.50
+
+_Neue Freie Presse_: In der Freundschaft sind Fehler Verbrechen! Davon
+handelt der Roman. Es ist die Tragödie restlos angestrebter
+Freundesvereinigung, jener Freundschaft, die in der völligen
+Umklammerung und Einschließung des geliebten Wesens dessen Menschenrecht
+mit Füßen tritt, die sich selbst mordet. »Thieß und Peter« ist ein
+Bekenntnisbuch, warm und sprudelnd vom Herzen gespeist. So ist Hans
+Francks schöpferischer Erstling eine starke Hoffnung, die am schönsten
+eingelöst scheint auf gleichem Weg. Hebbels unerbittlicher Geist und
+Otto Ludwigs eherne Erzählerkunst scheinen hier in einem bewegten Kopfe
+unserer Zeit wiedergeboren zu sein, der reiche bleibende Früchte
+verspricht. Die Sprache ist von elastischer Härte und bringt großartige
+Bilder von starker Energie.
+
+_Saale-Zeitung_: Oft, hundertmal, ist die Liebe zweier Männer besungen,
+zerstört, angegriffen worden, niemals in der intensiven Art wie hier.
+Hans Franck ist es gelungen, sein Thema restlos zu durchleben, zu
+erfassen, in sich aufzunehmen, es in die Form der Kunst zu gießen und
+geläutert herauszuschälen. Das Thema selbst hat Franck restlos
+erschöpft, ohne auch nur die geringsten Seitensprünge zu machen. Hatte
+sein Name auch zuvor schon einen guten Klang, so ist Franck mit diesem
+Roman in die Reihe unserer ersten deutschen Dichter gerückt. Der Roman
+wird in der Geschichte des deutschen Romans noch eine Rolle spielen.
+
+
+IM GLEICHEN VERLAG ERSCHIEN FERNER:
+
+GRETE MEISEL-HESS
+DIE INTELLEKTUELLEN
+ROMAN
+
+PREIS BROSCHIERT M. 5–, ELEGANT IN LEINW. M. 6–
+
+_Anna Croissant-Rüst_: Die Disziplin in ihrem Roman und der Aufbau sind
+bewundernswert. Die Helden des Romans, Olga, Stanislaus sind in allen
+Konturen und Linien ungeheuer scharf gezeichnet und wohl geraten. Dr.
+Emmerich, auch Koszinsky sind sehr gute Typen, überhaupt ist ein
+Reichtum von Personen und Ideen in dem Roman, daß sich manche von den
+herkömmlichen Romanmodeschneiderinnen 10 Romane daraus zurechtschneidern
+könnten. Das quillt alles nur so über und ist doch in straffen Banden
+gehalten.
+
+_Neue Freie Presse_. Manfred Wallentin ist in ihr der vorgeahnte Typus
+des Menschen der Zukunft und der Schönheit, der Typus des moralischen
+Übermenschen, im Sinne einer Herrennatur, die Beladene und Bedrückte
+führend durch das Leben geleitet. Die anderen Figuren des Romanes,
+strebende, wankende, strauchelnde und wieder sich erhebende Männer und
+Frauen, verkörpern den Geist dieser Gruppe der Intellektuellen in
+mannigfacher Gestalt. Zu klarem Relief sind die verschiedenen Charaktere
+gearbeitet, ein jeder stellt ein Beispiel – das Typische seiner Art.
+Nirgends groteske Verzerrung oder leichtfertiges Fertigwerden mit
+komplizierten Gedanken. Philosophische, theosophische, soziale
+Erörterungen kommen in streng geführten Dialogen zur Diskussion, wandeln
+sich hier in poetisch wohltuend gemäßigter Form zu pulsendem Leben.
+
+_Neues Wiener Tageblatt_. Frau Meisel-Heß hat sich schon durch ein Werk
+über »Die sexuelle Krise« in die Scharen der sozialreformatorischen
+Streiter gestellt, während sie in ihrer »Stimme«, das ihr feinstes Buch
+bleibt, eine individualistisch vertiefte Studie gibt – jeder
+nachdenkliche moderne Mensch wird den Roman mit großem Interesse lesen.
+
+A. E. FISCHER, Buch- und Kunstdruckerei, GERA-R.
+
+
+
+[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
+Grundlage der 1912 bei Oesterheld erschienenen Ausgabe erstellt. Die
+nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem
+Originaltext vorgenommenen Korrekturen.
+
+p 019: steigen drei Reketen -> Raketen
+p 022: Zeitungsberichte erkennen liessen. -> ließen
+p 027: [Komma ergänzt] Blatt beugte, »der Flächeninhalt
+p 030: Einen grosszügigen Künstler -> großzügigen
+p 031: lächend wieder aufblickend -> lächelnd
+p 033: dadurch abschliessende Form -> abschließende
+p 035: Paul Seebecks Ichtyosauren -> Ichthyosauren
+p 041: [Anführungszeichen entfernt] »Durch den Schriftsteller -> Durch
+p 044: [Komma ergänzt] daran erinnerte, daß
+p 045: du willst gleieh -> gleich
+p 050: [Vereinheitlicht] im Cafe Stephanie gesessen -> Café
+p 052: auf und abgehend -> auf- und abgehend
+p 054: [Punkt ergänzt] Dann lief er tief errötend aus der Tür.
+p 055: [Anführungszeichen korrigiert] einer von den Unsrigen.«
+p 059: [Zeichen ergänzt] also [ ]in Vorrecht -> ein
+p 058: fuhr erfort[ ], -> er fort,
+p 062: fragte Seebeck die Hand -> fragte Seebeck, die Hand
+p 063: ausgewachene Riesenschildkröte -> ausgewachsene
+p 063: Das es jetzt ... nicht mehr gibt, -> Da
+p 065: bilden kann, ohne das -> daß
+p 067: alle sozialen und sozial-psychologischen Phänomen -> Phänomene
+p 069: Schwäche und Dumheit -> Dummheit
+p 072: Jacob Silberland den geringsten Kummer -> Jakob
+p 075: Rhytmus -> Rhythmus
+p 076: [Anführungszeichen korrigiert] erinnern Sie sich noch?«
+p 089: an Herren Seebeck erlauben -> Herrn
+p 090: Denn wir wissen alles, was wir ihm schulden -> alle
+p 090: [Punkt ergänzt] im Buche der Menschheit stehen.«
+p 092: allerhand Papier zusammen, die -> Papiere
+p 093: [Komma entfernt] fünfhunderteinundzwanzig, Mark.
+p 097: geklatscht und gestrampelt -> getrampelt
+p 106: antworetete der Krüppel -> antwortete
+p 108: [Komma ergänzt] Rechtsstreitigkeiten«, wie [...] ausdrückt
+p 108: alle Steitigkeiten durch -> Streitigkeiten
+p 116: [Vereinheitlicht] Orang-Utans vorfinden«. -> vorfinden.«
+p 122: Arbeit ausführen nnd -> und
+p 122: die wir jetzt darstellen, -> darstellen.
+p 139: [Punkt ergänzt] Schatten auf sie.
+p 145: stand der Krüppel auf; -> auf:
+p 151: [Punkt ergänzt] die sich auf dem Tische befand.
+p 156: Proviant für viezehn Tage -> vierzehn
+p 167: [Anführungszeichen korrigiert] praktische Bedeutung hat?«
+p 183: [Vereinheitlicht] der Vorstandsschaft -> Vorstandschaft
+p 201: [Anführungszeichen korrigiert] »Woher wissen Sie das?«
+p 213: [Vereinheitlicht] Herr Reichkommissar -> Reichskommissar
+p 214: Reipeitsche -> Reitpeitsche
+p 227: ihr auf den Rückwege -> dem
+p 233: [Anführungszeichen korrigiert] »Wir sind verraten.«
+p 233: [Ellipse ergänzt] ausliefern und uns ergeben .. « -> ...«
+p 241: [Punkt ergänzt] Gut, daß Sie kommen.
+p 245: der menschlichen Körper sich -> menschliche
+p 247: Neue Freie Prese -> Presse
+p 248: ERSCHIEN FENRER -> FERNER
+
+Die Originalschreibweise wurde prinzipiell beibehalten, insbesondere bei
+folgenden Wörtern:
+
+p 011: grinzend
+p 058: Karrikatur
+p 074, 172: endgiltig
+p 178: kennte ]
+
+
+
+[Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from the Oesterheld
+edition, published around 1912. The table below lists all corrections
+applied to the original text.
+
+p 019: steigen drei Reketen -> Raketen
+p 022: Zeitungsberichte erkennen liessen. -> ließen
+p 027: [added comma] Blatt beugte, »der Flächeninhalt
+p 030: Einen grosszügigen Künstler -> großzügigen
+p 031: lächend wieder aufblickend -> lächelnd
+p 033: dadurch abschliessende Form -> abschließende
+p 035: Paul Seebecks Ichtyosauren -> Ichthyosauren
+p 041: [removed quotes] »Durch den Schriftsteller -> Durch
+p 044: [added comma] daran erinnerte, daß
+p 045: du willst gleieh -> gleich
+p 050: [unified] im Cafe Stephanie gesessen -> Café
+p 052: auf und abgehend -> auf- und abgehend
+p 054: [added period] Dann lief er tief errötend aus der Tür.
+p 055: [corrected quotes] einer von den Unsrigen.«
+p 059: [added character] also [ ]in Vorrecht -> ein
+p 058: fuhr erfort[ ], -> er fort,
+p 062: fragte Seebeck die Hand -> fragte Seebeck, die Hand
+p 063: ausgewachene Riesenschildkröte -> ausgewachsene
+p 063: Das es jetzt ... nicht mehr gibt, -> Da
+p 065: bilden kann, ohne das -> daß
+p 067: alle sozialen und sozial-psychologischen Phänomen -> Phänomene
+p 069: Schwäche und Dumheit -> Dummheit
+p 072: Jacob Silberland den geringsten Kummer -> Jakob
+p 075: Rhytmus -> Rhythmus
+p 076: [corrected quotes] erinnern Sie sich noch?«
+p 089: an Herren Seebeck erlauben -> Herrn
+p 090: Denn wir wissen alles, was wir ihm schulden -> alle
+p 090: [added period] im Buche der Menschheit stehen.«
+p 092: allerhand Papier zusammen, die -> Papiere
+p 093: [removed comma] fünfhunderteinundzwanzig, Mark.
+p 097: geklatscht und gestrampelt -> getrampelt
+p 106: antworetete der Krüppel -> antwortete
+p 108: [added comma] Rechtsstreitigkeiten«, wie [...] ausdrückt
+p 108: alle Steitigkeiten durch -> Streitigkeiten
+p 116: [unified] Orang-Utans vorfinden«. -> vorfinden.«
+p 122: Arbeit ausführen nnd -> und
+p 122: die wir jetzt darstellen, -> darstellen.
+p 139: [added period] Schatten auf sie.
+p 145: stand der Krüppel auf; -> auf:
+p 151: [added period] die sich auf dem Tische befand.
+p 156: Proviant für viezehn Tage -> vierzehn
+p 167: [corrected quotes] praktische Bedeutung hat?«
+p 183: [unified] der Vorstandsschaft -> Vorstandschaft
+p 201: [corrected quotes] »Woher wissen Sie das?«
+p 213: [unified] Herr Reichkommissar -> Reichskommissar
+p 214: Reipeitsche -> Reitpeitsche
+p 227: ihr auf den Rückwege -> dem
+p 233: [corrected quotes] »Wir sind verraten.«
+p 233: [completed ellipsis] ausliefern und uns ergeben .. « -> ...«
+p 241: [added period] Gut, daß Sie kommen.
+p 245: der menschlichen Körper sich -> menschliche
+p 247: Neue Freie Prese -> Presse
+p 248: ERSCHIEN FENRER -> FERNER
+
+The original spelling has been maintained throughout the book,
+particularly for the following words:
+
+p 011: grinzend
+p 058: Karrikatur
+p 074, 172: endgiltig
+p 178: kennte ]
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Phantasten, by Erich von Mendelssohn
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PHANTASTEN ***
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+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
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+works. See paragraph 1.E below.
+
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+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
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+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
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+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
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+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at http://pglaf.org
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+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
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+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
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+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit http://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ http://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
diff --git a/18620-0.zip b/18620-0.zip
new file mode 100644
index 0000000..d7fa1da
--- /dev/null
+++ b/18620-0.zip
Binary files differ
diff --git a/18620-8.txt b/18620-8.txt
new file mode 100644
index 0000000..2e0ab64
--- /dev/null
+++ b/18620-8.txt
@@ -0,0 +1,6162 @@
+The Project Gutenberg EBook of Phantasten, by Erich von Mendelssohn
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Phantasten
+
+Author: Erich von Mendelssohn
+
+Release Date: June 19, 2006 [EBook #18620]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PHANTASTEN ***
+
+
+
+
+Produced by Markus Brenner and the Online Distributed
+Proofreading Team at http://www.pgdp.net
+
+
+
+
+
+ ERICH VON MENDELSSOHN
+
+ PHANTASTEN
+
+ ROMAN
+
+
+
+ BERLIN 1912
+ VERLEGT BEI OESTERHELD & CO.
+
+
+
+ Copyright 1912
+ by Oesterheld & Co. Berlin W. 15
+
+
+
+GESCHRIEBEN IM SOMMER 1911
+
+
+ALEXANDRA JEGOROWNA
+zugeeignet
+
+
+
+
+Vor neun Tagen hatte der Lloyddampfer »Prinzessin Irene« Sidney
+verlassen, und deshalb übte der Anblick des grenzenlosen Wassers keinen
+Reiz mehr auf die Passagiere aus. Am wenigsten an einem Tage wie heute,
+wo ein feiner Staubregen durch alle Kleider drang und einen frösteln
+machte. Für solche Tage hatte man ja in den Salons alle die
+Annehmlichkeiten, die ein moderner Luxusdampfer bietet.
+
+Als Paul Seebeck auf das Deck hinaus trat, schlug er den Kragen seines
+langen, englischen Überziehers hoch und schaute sich um. Ein Augenblick
+genügte ihm, um festzustellen, daß er ganz allein war. Wohl hatte ihm
+der Kapitän ein für allemal die Erlaubnis gegeben, so oft es ihm gefiele
+zu ihm auf die Kommandobrücke zu kommen - denn Seebeck störte nie, am
+wenigsten durch unnötige Fragen, seine Anwesenheit verkürzte dagegen die
+lange Wacht - doch Paul Seebeck scheute sich, die anderen Passagiere auf
+seine bevorzugte Stellung aufmerksam zu machen, um dem Kapitän keine
+Unannehmlichkeiten zu bereiten.
+
+Jetzt stand der große, starke, doch etwas fette Mann neben dem kleinen
+Kapitän auf der Kommandobrücke.
+
+»Schade, daß das Wetter heute so trübe ist«, sagte der Kapitän, »sonst
+könnten wir dort im Nordosten die Santa-Cruz-Inseln sehen.« Er rollte
+die Seekarte auf und wies mit dem zusammengeklappten Zirkel auf den
+Punkt, wo das Schiff sich im Augenblicke befand. »Aber ich glaube, daß
+es bald etwas aufhellen wird.«
+
+Paul Seebeck nahm ein Fernglas, sah erst nach Nordosten und folgte dann
+weiter dem Horizonte.
+
+Der Kapitän fuhr fort:
+
+»Morgen kommen wir sozusagen aus den englischen Gewässern heraus und in
+deutsche hinein.«
+
+Paul Seebeck ließ das Glas sinken:
+
+»Deutsche Gewässer, Herr Kapitän?«
+
+»Nun ja, die des Bismarckarchipels.«
+
+Paul Seebeck hob wieder das Glas und schaute unverwandt nach Norden,
+dann reichte er es dem Kapitän und sah auf den Himmel:
+
+»Sie haben natürlich wieder Recht, es wird wirklich heller. Aber gerade
+dort vor uns liegen dicke Wolken. Sehen Sie mal hin.«
+
+Der Kapitän sah erst durch das Glas in der angegebenen Richtung, dann
+mit bloßen Augen und dann wieder durch das Glas. Schließlich sagte er
+kopfschüttelnd:
+
+»Merkwürdig.«
+
+»Befürchten Sie ein Gewitter, Herr Kapitän?« fragte Paul Seebeck
+gleichmütig.
+
+»Ich weiß gar nicht, was ich aus dem Ding machen soll. Nein, eine
+Gewitterwolke ist es nicht.«
+
+Jetzt wandte sich der Matrose, der das Steuerrad bediente, grinzend
+herum und sagte breit:
+
+»Herr Kapitän, die ist ja von einem Vulkane!«
+
+Der Kapitän war so interessiert, daß er gar nicht daran dachte, den
+Matrosen zurechtzuweisen. Er rollte die Seekarte wieder auf, bestimmte
+die augenblickliche Lage des Schiffes ganz genau, prüfte den Kompaß und
+sagte dann:
+
+»Unmöglich, dort liegt kein Land.«
+
+Eine halbe Stunde verging, und alle schwiegen; der Kapitän und Paul
+Seebeck schauten aber abwechselnd durch das Fernglas auf die schwere,
+dunkelgraue Wolke. Endlich sagte Paul Seebeck:
+
+»Das ist und bleibt ein Vulkan mit der berühmten, pinienartigen
+Rauchsäule, und wenn er nicht auf der Karte steht, ist es ein Fehler der
+Karte, und nicht des Vulkans.«
+
+Der Kapitän schüttelte ungläubig den Kopf:
+
+»Es kann nur eine sonderbar geformte Wolke sein; es ist ganz undenkbar,
+hier mitten auf einer so befahrenen Route eine neue Insel zu entdecken.«
+
+»Aber wenn es eine neu entstandene wäre, Herr Kapitän?« warf Paul
+Seebeck ein. »Denken Sie doch an die große Flutwelle vor zwei Monaten,
+die die ganze nördliche und östliche Küste Australiens überschwemmt
+hat.«
+
+»Donnerwetter!« rief der Kapitän. »Das wäre ja -«
+
+Er wollte das Glas heben, aber jetzt kam von der Seite her ein feiner,
+durchdringender Staubregen, der in wenigen Augenblicken die Aussicht
+verschleierte. Die Herren hüllten sich fester in ihre Mäntel.
+
+Der Regen wurde stärker und stärker, und außerdem brach schnell die
+Nacht herein.
+
+»Kommen Sie in meine Kabine«, sagte endlich der Kapitän. »Ich möchte die
+Sache gern mit dem Ersten Offizier besprechen, und außerdem wird uns
+jetzt ein warmer Punsch ganz gesund sein.«
+
+»Danke, gern.«
+
+Wie der Kapitän dem Ersten Offizier die Möglichkeit andeutete, in der
+Nähe einer neu entstandenen Insel zu sein, eilte dieser sofort auf die
+Kommandobrücke, um selbst Umschau zu halten, kehrte aber bald enttäuscht
+zurück, da er des Dunkels und des Regens wegen nichts hatte wahrnehmen
+können.
+
+Als die drei Herren in der Kajüte bei einem Glase Punsch zusammensaßen
+und der Kapitän mit dem Ersten Offizier alle Eventualitäten und die
+vorzunehmenden Maßnahmen besprach, zog sich Paul Seebeck in eine Ecke
+zurück und schwieg, wobei er doch aufmerksam dem Gespräch lauschte, das
+immer mehr an Fluß verlor und zuletzt ganz aufhörte. Schließlich saßen
+die Drei schweigend da, und jeder hing seinen Gedanken nach.
+
+Endlich sah der Kapitän nach der Uhr:
+
+»Meine Herren, jetzt sind wir schon drei Stunden hier unten. Wie wäre
+es, wenn wir wieder hinaufgingen und nach unserer Wolkeninsel sähen?«
+
+Paul Seebeck lachte laut auf:
+
+»Bravo, Herr Kapitän. Vielleicht hat sie sich schon längst aufgelöst,
+während wir sie hier in aller Ruhe erobern.«
+
+Als sie auf Deck hinaustraten, sahen sie, daß Nebel und Regen völlig
+verschwunden waren, und daß klar der Mond schien. Passagiere gingen
+plaudernd und rauchend auf und ab, oder saßen, in Plaids gehüllt, auf
+Feldstühlen. Paul Seebeck hatte aber seine gewohnte Zurückhaltung völlig
+aufgegeben und folgte zusammen mit dem Ersten Offizier dem Kapitän auf
+die Kommandobrücke.
+
+Jetzt war kein Zweifel mehr möglich: vor ihnen lag, steil dem Meere
+entsteigend, ein Vulkan, über dessen kegelförmiger Spitze - aber ohne
+diese zu berühren - eine ungeheure, blauschwarze Wolke schwebte. Durch
+das Fernglas sah man in einigen Rissen am Krater die Lava glühend
+herabsinken.
+
+Als Erster brach Paul Seebeck das Schweigen:
+
+»Wie weit, Herr Kapitän -?« fragte er. Der Kapitän drehte sich schnell
+herum und betrachtete Paul Seebeck ganz fremd, als ob er seine Gedanken
+erst sammeln müßte. Dann schaute er wieder auf den Vulkan und sagte:
+
+»Sechzig Seemeilen schätze ich.«
+
+»Dann sind wir also in vier Stunden dort?«
+
+»Ja, wenn die Lotungen uns nicht zu lange aufhalten.«
+
+»Ach, Sie glauben, daß sich der ganze Meeresboden gehoben hat?«
+
+»Ich muß wenigstens mit der Möglichkeit rechnen.«
+
+Der Erste Offizier hatte inzwischen unausgesetzt den Vulkan durch das
+Nachtglas angesehen. Jetzt sagte er:
+
+»Herr Kapitän, der Vulkan liegt auf einem ziemlich breiten Hochlande.
+Wir scheinen eine Insel von ganz achtbarer Größe da vor uns zu haben.«
+
+Paul Seebeck senkte den Kopf und sah vor sich hin. Dann ging gleichsam
+ein Ruck durch ihn; er strammte sich auf, sah dem Kapitän fest in die
+Augen und sagte langsam:
+
+»Herr Kapitän, jetzt ist es zehn Uhr; Sie sagten selbst, daß wir vor
+vier Stunden nicht dort sein können, also nicht vor zwei Uhr nachts. Um
+Zwölf wird aber alles elektrische Licht ausgelöscht, so daß dann kein
+Passagier mehr auf sein kann. Sie, der Herr Erste Offizier und ich sind
+die Einzigen, die wissen, daß wir dort eine neu entstandene Insel vor
+uns haben. Die anderen haben nichts gesehen, oder wenn sie die Insel
+gesehen haben, ist sie ihnen nicht weiter aufgefallen. Wollen Sie mich
+um zwei Uhr an Land setzen und Schweigen bewahren?«
+
+Der Kapitän sah ihn überrascht an: »Herr Seebeck - überlegen Sie sich's
+- eine neuentstandene, vulkanische Insel! Heißer Boden! Ich habe doch
+die Verantwortung, auch für Sie. Und dann - in das Schiffsbuch muß ich
+die Sache doch eintragen.«
+
+Paul Seebeck preßte die Lippen zusammen: »Gewiß, gewiß -«
+
+Nach kurzem Schweigen fuhr er auf. »Herr Kapitän, ich habe nichts
+Unrechtes vor. Ich will die Insel für das Deutsche Reich in Besitz
+nehmen. Machen Sie Ihre Eintragungen in das Schiffsbuch, es wird sie ja
+niemand anders als die Rhederei sehen. Wollen Sie Beide mir aber
+versprechen, das heißt, können Sie mir versprechen, absolutes Schweigen
+zu bewahren, Sie und die Herren in Bremen, die das Schiffsbuch eventuell
+lesen? Absolutes Schweigen nur drei Tage lang zu bewahren? Wenn im Laufe
+dieser drei Tage nicht telegraphisch eine Bitte vom Reichskolonialamt
+eingelaufen ist, länger zu schweigen, sind Sie völlig frei.«
+
+Der Kapitän sah Paul Seebeck an.
+
+»Einem andern würde ich ein solches Versprechen nicht geben, das mir
+meine Stellung kosten kann. Ihnen gebe ich es.«
+
+»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän, Sie werden es nicht zu bereuen haben.«
+
+»Auch ich gebe Ihnen das Versprechen«, fügte der Erste Offizier hinzu.
+
+Paul Seebeck senkte dankend den Kopf.
+
+Nach einer Weile wandte sich der Kapitän wieder Paul Seebeck zu:
+
+»Verstehe ich Sie recht, wollen Sie sofort von Bremen nach Berlin
+fahren?«
+
+Paul Seebeck schaute auf:
+
+»Nein, ich bleibe dort und gebe Ihnen einen Brief an einen Freund mit,
+der alles für mich ordnen wird.«
+
+Der Kapitän schüttelte den Kopf:
+
+»Ich kann Sie nicht an Land setzen lassen, Herr Seebeck. Die
+Verantwortung übernehme ich nicht.«
+
+»Ich werde in meinem eigenen Motorboot hinüberfahren.«
+
+»Ich werde Sie leider daran verhindern müssen.«
+
+»Herr Kapitän! Glauben Sie das verantworten zu können?«
+
+Der Kapitän stutzte einen Augenblick. Dann schlug er Seebeck lachend auf
+die Schulter und sagte:
+
+»Ich kann Sie ja nicht mit Gewalt festhalten, dazu wissen Sie zu genau,
+was Sie wollen. Aber erklären Sie mir doch, wie Sie sich alles denken.«
+
+Wieder sah Paul Seebeck dem Kapitän fest ins Gesicht und sagte ganz
+langsam:
+
+»Ich habe mein Motorboot, mein Zelt und Konserven für zwei Monate. Ich
+werde Sie bitten, mir drei gewöhnliche Feuerwerksraketen zu geben. Sie
+haben sie ja an Bord zur Unterhaltung Ihres Publikums. Wir machen das
+Motorboot mit allem Inhalt klar, so daß wir es in einigen Minuten ins
+Wasser setzen können. Wir kommen ja dicht an der Insel vorbei. Sobald
+wir vom Schiffe aus einen Landungsplatz sehen, setzen Sie mich ins
+Wasser. Sie sind dann so liebenswürdig, mit halber Kraft
+weiterzufahren. Komme ich glücklich ans Land, lasse ich alle drei
+Raketen aufsteigen, und Sie dampfen ruhig weiter. Ich verspreche Ihnen,
+es erst dann zu tun, wenn ich heil und gesund am Lande bin. Lasse ich
+nur zwei Raketen steigen, bedeutet das, daß ich nicht landen kann und
+Sie auf mich warten müssen. Eine Rakete allein heißt, daß ich in Gefahr
+bin, und Sie mir ein Boot zu Hilfe schicken müssen. Einverstanden?«
+
+»Ja, unter der Bedingung, daß Sie sich vom Schiff noch so viele
+Konserven mitnehmen, daß Sie für ein halbes Jahr versorgt sind. Nach
+drei Monaten bin ich zwar wieder hier -«
+
+»Und mein Freund, Jakob Silberland, ist dann mit Ihnen.«
+
+»Der Herr, der zum Kolonialamt gehen soll?«
+
+»Derselbe. Ich danke Ihnen, Herr Kapitän.«
+
+»Sie haben mir nichts zu danken. Ich bitte Sie nur, in meine Kabine zu
+gehen und sich alles noch einmal in Ruhe zu überlegen. Dort können Sie
+auch Ihren Brief schreiben. Lassen Sie sich auch Ihr Abendessen dorthin
+bringen, damit Sie ganz ungestört sind. In einer Stunde komme ich zu
+Ihnen hinunter, und wir können dann alles bis ins Kleinste besprechen.«
+
+Paul Seebeck verließ mit einer leichten Verbeugung die Kommandobrücke.
+
+- - - Drei Stunden nach Mitternacht lag der Dampfer eine Seemeile vor
+dem steil abfallenden, zerrissenen Ufer entfernt, das vom Mondlichte
+schwarz und groß auf das Wasser gezeichnet wurde.
+
+Leise Kommandorufe ertönen - ein Krahn dreht sich, und unter
+Kettengerassel sinkt ein Motorboot auf die kaum gekräuselte
+Wasserfläche. Halblaute Abschiedsrufe, ein Winken und Grüßen, der Motor
+wird eingestellt, und das Boot saust davon. Langsam und schwer brodelt
+es unter der Schraube des Dampfers, und jetzt setzt sich der Koloß in
+Bewegung.
+
+Der Kapitän steht auf der Kommandobrücke und verfolgt mit dem Nachtglase
+das Motorboot. Jetzt verschwindet es hinter einer Klippe, taucht dann
+tief in den Mondschatten, biegt um einen Felsen und ist fort. Eine
+Viertelstunde später steigen drei Raketen fast gleichzeitig in die Luft.
+Aufatmend stellt der Kapitän den Telegraphen auf »Volldampf«.
+
+
+
+
+Als Dr. phil. et jur. Jakob Silberland unter dem Schutze seines
+übermäßig großen Schirmes dem Café Stephanie zueilte, gab es nicht
+Wenige, die trotz des strömenden Regens stehen blieben und ihm
+wohlwollend lächelnd nachblickten. Das war auch nicht wunderlich, denn
+Jakob Silberland bildete eine sonderbare Figur. Auf kurzen Beinchen saß
+ein dicker Leib mit viel zu langen Armen, und im Gesichte bildeten die
+heiteren, offenen Augen einen seltsamen Gegensatz zu der
+scharfgekrümmten Nase und der hohen, ausdrucksvollen Stirn, über die das
+blauschwarze Haar in einigen glänzenden, langen Strähnen fiel.
+
+Sobald Jakob Silberland das Café betreten hatte, holte er sich vom
+Ständer sechs oder acht Zeitungen und legte sie auf einen Tisch am
+Fenster. Dann erst hängte er Schirm und Hut an einen Haken, wobei er
+doch ständig seine Zeitungen im Auge behielt. Als er seinen Mantel
+auszog, wobei ein abgetragener und etwas fleckiger Gehrock sichtbar
+wurde, eilte der Kellner hilfsbereit herbei und sagte:
+
+»Guten Tag, Herr Doktor. Heute früh war der Briefträger mit einem
+eingeschriebenen Brief für den Herrn Doktor da. Ich sagte ihm, er solle
+am Nachmittage wiederkommen, dann wäre der Herr Doktor bestimmt hier.«
+
+Dr. Silberland sagte nur: »Danke« und eilte auf seinen kurzen Beinchen
+zu seinen Zeitungen, in denen eben ein anderer Gast zu blättern begann.
+Als er sich richtig zurechtgesetzt und seine Zeitungen sortiert hatte,
+bestellte er einen Kaffee und begann, die Brust an den Tischrand
+gedrückt, eifrig zu lesen. Gerade als er die Kreuzzeitung mit
+gerunzelter Stirn fortlegte und aufatmend nach dem »Vorwärts« griff,
+erschien, vom Kellner geführt, der Briefträger an seinem Tische und
+übergab ihm einen eingeschriebenen Brief. Silberland erkannte sofort die
+Handschrift seines Freundes Paul Seebeck, schob mit einer energischen
+Armbewegung die Zeitungen zur Seite, quittierte, gab dem Briefträger
+zwanzig Pfennige und öffnete den Brief. Hierbei fiel ein
+zusammengefaltetes Checkformular heraus, das Silberland sofort in seine
+Brieftasche steckte. Der Brief lautete:
+
+
+ »An Bord des Lloyddampfers »Prinzessin Irene«.
+
+ Lieber Jakob!
+
+ Von dem wenig befriedigenden Ausfall meiner australischen
+ Expedition wirst du durch die Zeitungen erfahren haben. Übrigens
+ war der Verlauf viel kläglicher, als die Zeitungsberichte erkennen
+ ließen.
+
+ Ich freue mich aber jetzt, daß ich so mißgestimmt und so
+ unzufrieden mit mir selbst die Rückreise antrat, denn dadurch hatte
+ ich gerade die richtige Disposition zu neuen Dingen, die
+ ernsthafter sind.
+
+ Paß mal auf: wir haben eine neuentstandene, vulkanische Insel
+ entdeckt, und zwar bin ich der erste, der sie sah. Ich bin dort
+ geblieben und habe sie für das Deutsche Reich in Besitz genommen.
+ Die Sache ist Geheimnis, nur der Kapitän und der Erste Offizier von
+ der »Prinzessin Irene« wissen davon, und die schweigen.
+
+ Wo die Insel liegt, usw., kannst du von diesen beiden Herren
+ erfahren.
+
+ Bitte geh sofort nach Berlin, zum Reichskolonialamt, und laß mir
+ eine unbeschränkte Vollmacht als Reichskommissar ausstellen, so daß
+ ich bis auf weiteres mit der Insel machen kann, was ich will. Die
+ Leute sollen aber schweigen, bis erst feststeht, ob die Insel
+ bewohnbar ist oder nicht. Sonst ist die Blamage nachher zu groß. Du
+ gibst natürlich sofort deine alberne Stellung bei den »Neuesten«
+ auf und kommst mit der »Prinzessin Irene« hierher. Ein Scheck auf
+ zehntausend Mark liegt bei: bezahl alle deine Schulden, daß du
+ vollständig unabhängig bist. Mach sonst aber nicht zu viele
+ Ausgaben, denn ich werde hier mein Geld wohl sehr nötig brauchen.
+ Eine Tropenausrüstung mußt du aber haben.
+
+ Du verstehst, was ich will: ich denke an unsere Gespräche über den
+ absolut korrekten Staat, der durch keinerlei Traditionen und
+ Rücksichten gehemmt ist. Wir haben ja oft darüber debattiert, wie
+ ein solcher moderner Staat auszugestalten sei - hier können wir ihn
+ gründen, wenn auch nur in einem kleinen Maßstabe.
+
+ Alle Einzelheiten überlasse ich dir, nur besorge mir die Vollmacht
+ und komm her. Setz dich aber auch mit dem Kapitän in Verbindung.
+ Der Mann ist praktisch und wird dich über Einzelheiten informieren.
+
+ Entschuldige die Kürze. Ich kann dir aber in dieser Eile nicht alle
+ meine Gedanken auseinandersetzen; es ist wohl auch unnötig,
+ eigentlich ergibt sich ja alles von selbst.
+
+ Überlege dir aber jeden Schritt, den du tust.
+
+ Gruß
+ dein Paul S.«
+
+
+Als Jakob Silberland diesen Brief zu Ende gelesen hatte, fuhr er sich
+mehrmals mit der Hand durch das lange, schwarze Haar. Dann rührte er
+bedächtig seinen Kaffee um, der längst kalt geworden war. Gerade, wie er
+ihn trinken wollte, kam der Kellner und sagte:
+
+»Herr Doktor, die Redaktion fragt am Telephon, ob Sie noch hier wären.«
+
+»Sagen Sie, ich wäre gegangen«, gab Silberland zur Antwort, »und bringen
+Sie mir eine Zigarre.«
+
+»Wie gewöhnlich eine zu Zehn?«
+
+»Ja - nein, eine zu Fünfzig!« sagte Jakob Silberland würdevoll. »Und
+besorgen Sie mir ein Auto.«
+
+»Sehr wohl, Herr Doktor«, sagte der Kellner mit der solchen ungewohnten
+Aufwendungen zukommenden Ehrerbietung.
+
+Jakob Silberland aber fuhr, die feine Zigarre in der Hand, im Auto zur
+Dresdener Bank, wo er den Scheck einlöste, und unternahm dann eine
+längere Rundfahrt durch die Stadt, um alle seine kleinen und größeren
+Schulden zu bezahlen, die zusammen kaum zweitausend Mark betrugen.
+Zuletzt begab er sich auf seine Redaktion, wo er gegen Stellung eines
+Vertreters leicht entlassen wurde, da er kein angenehmer Kollege gewesen
+war.
+
+Mit dem Abendschnellzuge fuhr er nach Berlin.
+
+
+
+
+Drei Monate später saßen Paul Seebeck und Jakob Silberland in ihren
+blendend weißen Flanellanzügen auf einem Steinblock am Strande, rauchten
+ihre kurzen, englischen Pfeifen und sahen der langsam verschwindenden
+»Prinzessin Irene« nach. Endlich sagte Jakob Silberland:
+
+»Etwas Urweltliches liegt über der ganzen Insel: der Vulkan, die nackten
+Felsen, der Mangel jeglichen tierischen Lautes - es kommt mir fast vor,
+als ob ich um viele Millionen von Jahren in der Zeit zurückversetzt sei.
+Es würde mich gar nicht wundern, wenn plötzlich ein Ichthyosaurus oder
+sonst irgend ein Ungeheuer aus dem Wasser auftauchte.«
+
+Paul Seebeck hatte nachdenklich seine Pfeife ausklopfend ihm zugehört.
+Jetzt hob er den Kopf und sagte lächelnd:
+
+»Die Ungeheuer wirst du schon noch zu sehen bekommen. Nur etwas Geduld.«
+
+Jakob Silberland lachte:
+
+»Hast du hier eine Ichthyosauren-Farm angelegt? Das Geschäft dürfte doch
+kaum lohnend sein. Sobald die Zoologischen Gärten versorgt sind, würde
+der Weltbedarf gedeckt sein, und was dann?«
+
+Es zuckte um Seebecks Mundwinkel, als ob er mit Mühe ein Lächeln
+unterdrückte.
+
+»Aber wovon wollen wir hier sonst leben, wenn nicht von Ichthyosauren?
+Es gibt ja keinen Grashalm auf der ganzen Insel, keinen Vogel, keinen
+Floh, nichts. Soweit ich als gebildeter geologischer Laie urteilen kann,
+ist auch das Vorkommen von wertvollen Mineralien zum mindesten höchst
+unwahrscheinlich. Da bleiben doch nur die Ichthyosauren übrig. Außerdem
+finde ich den Gedanken sehr ansprechend, daß der modernste aller Staaten
+von urweltlichen Tieren lebt. Damit schließt sich zurückgreifend der
+Ring und löscht die Zeit aus. Anfang und Ende berühren sich.«
+
+Jakob Silberland sprang auf:
+
+»Ist das dein Ernst?«
+
+Seebeck blieb sitzen und sagte gemütlich:
+
+»Du sollst etwas Geduld haben. Ich werde dir meine Saurierfarm schon
+zeigen. Die größte Ichthyomuttersau habe ich übrigens voll Dankbarkeit
+gegen das gütige Schicksal »Prinzessin Irene« getauft.«
+
+Damit stand er auf und ging zu seinem Zelt, das einige Schritte
+rückwärts im Schutze einer schrägen Felswand stand. Er kam mit einigen
+Papierrollen zurück.
+
+»Sieh mal her«, sagte er, indem er die Blätter entfaltete und jedes an
+den vier Ecken mit Steinchen beschwerte, »hier habe ich, so gut ich es
+allein machen konnte, die Insel aufgenommen. Die Küste und diese Bucht
+habe ich recht genau, im Inneren bin ich flüchtiger gewesen und außerdem
+habe ich größere Strecken der heißen Lava wegen nicht betreten können.
+Hier hast du die ganze Insel mit den Schären eins zu dreihunderttausend«,
+fuhr er fort, wobei er sich über das betreffende Blatt beugte, »der
+Flächeninhalt beträgt ungefähr zwölfhundert Quadratkilometer, wovon der
+Vulkan allein fast vierzig bedeckt. Hier ist unsere Bucht eins zu
+zehntausend. Sie ist mit der Nebenbucht dort rechts von uns überhaupt
+die einzige Bucht der ganzen Insel. Ich habe sie bei Tiefebbe
+aufgenommen. Die rote Küstenlinie und die rot gezeichneten Schären
+beziehen sich auf Tiefebbe, die entsprechenden blauen Linien auf
+Hochflut. Du siehst, daß unzählige Schären und Klippen nur bei Tiefebbe
+über die Wasserfläche emporragen. Bei Tiefebbe ist überhaupt nur eine
+einzige, schmale und dabei stark gewundene Rinne selbst für mein
+kleines, flaches Motorboot passierbar. Ich kam glücklicherweise bei
+Hochflut, sonst wäre ich überhaupt nie lebendig hier ans Land
+gekommen.« Mit der Hand aufs Meer weisend, sagte er: »Die äußerste
+Felsenspitze dort links ist etwa siebenhundert Meter hoch und fünf
+Kilometer von uns entfernt, die dort rechts dreihundert Meter hoch und
+vier Kilometer entfernt. Die Entfernung zwischen beiden beträgt drei
+Kilometer. Diese Bucht stellt den einzigen Hafen, überhaupt die einzige
+Landungsmöglichkeit dar. Zwischen der Spitze rechts und dem Kap, das ein
+wenig darüber hervorragt, liegt eine zweite, breite, aber sehr flache
+Bucht mit unzähligen Felsen und Klippen. Dahin kann man zu Wasser, aus
+Gründen, die dir später klar werden, nicht kommen, und vom Lande aus nur
+mit Hilfe eines Seiles. Sogar ich als Bergsteiger habe dort nur schwer
+hinunterklettern können. Diese zweite Bucht habe ich Irenenbucht
+getauft, der einzige Name, den ich bisher hier einer Örtlichkeit gegeben
+habe.« Lächelnd setzte er hinzu: »Dort liegt also meine
+Ichthyosaurenfarm.«
+
+Bevor der überraschte Silberland sich zu einem Worte sammeln konnte,
+fuhr Paul Seebeck fort:
+
+»Denk dir unsern Standort hier als Mittelpunkt eines Kreises mit dem
+Radius von fünf Kilometern, also der Entfernung des Kap dort links. Dann
+bezeichnet der Kreisbogen ziemlich genau die Grenze eines submarinen
+Plateaus, auf dem alle diese Schären liegen. Wie tief der Meeresboden
+außerhalb dieses Plateaus ist, weiß ich nicht; mein Lot ist hundert
+Meter lang und mit ihm habe ich draußen nirgendwo Grund gefunden. Sehr
+tief kann er aber doch nicht sein, denn auch da draußen liegen ja, wie
+du siehst, einige vereinzelte Klippen. Das Plateau bricht aber steil ab;
+ich vermute, der Schären da draußen wegen und auch aus anderen Gründen,
+aber ein zweites, allerdings viel tiefer liegendes, submarines Plateau.
+Der größte Teil der Insel ist eine im großen Ganzen wagerechte
+Hochebene, vier- bis siebenhundert Meter über dem Meeresspiegel, die
+überall fast senkrecht abbricht. Dann - ja, der große Vulkan -
+neunzehnhundert Meter hoch, diese Mulde, mit ihren sechs
+Quadratkilometern Fläche, die stufenweise, amphitheatralisch, wenn du
+willst, bis zur Plateauhöhe emporsteigt - damit ist wohl die Topographie
+der Insel erschöpft. Ich habe sonst nicht viel Bemerkenswertes auf
+meinen Streifzügen entdeckt, höchstens wäre ein seltsames Durcheinander
+von Schluchten erwähnenswert, das am Fußpunkte des Vulkanes liegt und
+mich da am Weiterkommen hinderte.«
+
+»Und wie denkst du dir die Entstehung der Insel?« fragte Jakob
+Silberland.
+
+»Ich bin kein Geologe. Daß die Insel erst jetzt entstanden ist, glaube
+ich nicht. Sie wird schon einmal dagewesen sein, und zwar viel größer
+als jetzt, ist dann unter die Oberfläche des Meeres gesunken und hat
+sich jetzt wieder darüber gehoben, doch nicht bis zu ihrer
+ursprünglichen Höhe. Und zwar glaube ich nicht, daß sie sehr lange unten
+gewesen ist, einige hundert Jahre höchstens.«
+
+»Woher kannst du das wissen?«
+
+»Die Steine sehen mir nicht aus, als ob sie lange Meeresboden gebildet
+hätten.«
+
+Damit stand Paul Seebeck auf, rollte seine Kartenskizzen zusammen und
+brachte sie in sein Zelt. Als er zurückkam, sagte er, vor Jakob
+Silberland stehen bleibend:
+
+»Ist das nicht ein ganz idealer Grund für eine Stadt? Alle Straßenzüge,
+sogar die Plätze der einzelnen Häuser sind von der Natur vorausbestimmt.
+Ich kann mir die ganze Stadt so lebendig vorstellen, wie sie sich den
+Felsen anschmiegt, wie sie in ihrer Struktur den Stufen folgt. Aber wir
+müssen einen Architekten haben, der einen ganz neuen Stil schaffen kann.
+Einen großzügigen Künstler wie Edgar Allan. Dort oben -« und er wies mit
+der Hand auf einen vorspringenden Felsen - »soll mein Haus stehen. Von
+dort aus kann ich alles übersehen.«
+
+»Du fühlst dich schon jetzt als König?«
+
+»König? Nein, nein!« wehrte Paul Seebeck erschrocken ab. Er sah still
+vor sich hin. Dann sagte er, lächelnd wieder aufblickend:
+
+»Komm jetzt. Wir wollen etwas zu Abend essen. Dann werde ich dir meine
+Ichthyosaurenfarm zeigen.«
+
+Da es fast Windstille war, beschlossen sie, vor dem Zelte ihre Mahlzeit
+einzunehmen. Als Jakob Silberland sah, daß Paul Seebeck seinen
+Destillationsapparat aufstellte, und Wasser vom Meere holte, fragte er
+besorgt:
+
+»Gibt es denn gar kein Trinkwasser auf der Insel?«
+
+»Doch, es gibt einen Bach hier in der Nähe, der wohl zur Versorgung
+einer kleinen Stadt ausreichen dürfte, und weiter oben einen großen
+Fluß. Es wird aber nicht leicht sein, ihn einzufangen und hier herunter
+zu leiten, denn er fällt mehrere Kilometer von hier in einem schönen
+Wasserfalle direkt vom Hochplateau aus ins Meer.«
+
+Als sie gegessen hatten - der Kapitän hatte Jakob Silberland einen Korb
+mit frischem Fleisch und Gemüse aus den Vorräten des Schiffes
+mitgegeben, so daß Paul Seebeck nach den vielen Wochen mit
+Konservennahrung endlich einmal etwas anderes bekommen hatte - rief
+Jakob Silberland:
+
+»Aber jetzt will ich nicht länger warten; jetzt mußt du mir deine
+Ichthyosauren vorführen. Ich bin wirklich sehr gespannt, zu erfahren,
+wovon wir hier leben sollen, besonders, was wir von hier exportieren
+können.«
+
+»Schön«, sagte Seebeck. »Komm!«
+
+Sie stiegen langsam in der mit Geröll bedeckten Mulde bergauf, und Paul
+Seebeck erklärte dabei seinem Freunde, wie er sich die Anlage der Stadt
+dachte. Der sonst so redselige Jakob Silberland sprach auch jetzt nur
+wenig; zu sehr beschäftigten seinen Geist die Perspektiven auf die
+Zukunft, die ihm ja tausend Träume zu verwirklichen versprach.
+
+Als sie die Plateauhöhe erreicht hatten, blieb Seebeck stehen und sagte:
+
+»Wenn man nicht ein anständiger Mensch wäre, könnte man bei dem Gedanken
+ganz sentimental werden, daß dieses reine, unberührte Land, das keine
+Geschichte und keine Vorzeit hat, eine Gemeinschaft von Menschen auf
+sich wachsen und blühen sehen wird, die auch jungfräulich frei, ohne
+Verbindung mit der übrigen Menschheit, ohne morsche Traditionen und ohne
+überlieferten Zwang, irrende Sterne im großen Raume sind und die hier
+sich nur auf Grund ihres reinen Menschentums zusammenfinden und hier
+zusammenarbeiten werden. In der Traditionslosigkeit unseres zukünftigen
+Staates sehe ich seine Bedeutung. Daß ich einigen Hundert oder Tausend
+Menschen, die sonst in keinen Rahmen passen, hier freie
+Entwicklungsmöglichkeiten und Glück zu geben vermag, genügt mir nicht.
+Vom ersten Augenblick an war mir dieser Staat ein Begriff, ein
+Kunstwerk, eine formale Befreiung. Ebenso, wie der Künstler durch seine
+reine Darstellung befreit, durch die einseitige, aber dadurch
+abschließende Form Klarheit im Chaos schafft, soll für die übrigen
+Menschen der Gedanke an unsere reine Insel eine geistige Erlösung sein.«
+
+»Du siehst nicht weit genug«, sagte Jakob Silberland, wobei er sich mit
+der Hand durch sein blauschwarzes, strähniges Haar fuhr und erregt mit
+seinen kurzen Beinchen trippelte. »Du sprichst als Künstler. Ich bin
+Praktiker und als solcher sehe ich noch eine Gewißheit: die
+Institutionen, die hier entstehen, die wir hier schaffen werden, werden
+beachtet, nachgeahmt werden, und unser Staat wird das Seinige dazu
+beitragen, daß sich die Menschheit aus den Ketten löst, in die
+Gewalttätigkeit, Dummheit und Herrschsucht sie gelegt haben. Sie wird
+durch uns lernen, frei zu sein, frei in der geschlossenen Gemeinschaft
+zu werden. Man muß ihr nur einmal zeigen, daß es möglich ist.«
+
+Paul Seebeck sah mit seinen großen Augen dem Freunde gerade ins
+Gesicht:
+
+»Ich hoffe, daß es so wird, wie du sagst. Es ist ja auch sehr
+wahrscheinlich. Umsomehr, als wir ja kaum einen bestimmten Ausschnitt
+aus der Menschheit darstellen werden, nicht einen besonderen Typus,
+sondern gerade einen Extrakt aus der ganzen Menschheit. Stelle dir doch
+nur vor, was für Menschen zu uns kommen werden«, fuhr er lebhaft fort,
+wobei er sich in der Richtung auf die Irenenbucht zum Gehen wandte,
+»jedenfalls keine Durchschnittsmenschen, die irgendwo warm und zufrieden
+in ihren Nestern sitzen, sondern die Unzufriedenen, Bedrückten,
+Heimatlosen, alle die von einander entferntesten Extreme, die nur das
+eine verbindet: der Ekel vor der Verlogenheit der Gesellschaft, die
+Sehnsucht nach dem freien, dem wirklichen Menschen, dem Menschen, der
+jeder einzelne sein könnte, wenn ihn nicht die Ketten der Tradition zum
+Herdentiere erniedrigten. Hierher werden sie kommen und nichts
+mitbringen, als ihr innerstes, freies Menschentum, und ihre Gemeinschaft
+wird die Erlösung des Menschen, des Ebenbildes Gottes sein.«
+
+Jetzt standen sie vor dem steilen Abfalle zur Irenenbucht. Paul Seebeck
+blickte noch eine Weile schweigend und mit glänzenden Augen auf das
+Meer. Dann sagte er lächelnd zu seinem Freunde, wobei er auf die Bucht
+unter ihnen mit ihrem Gewirr von Klippen und Sandbänken wies:
+
+»Also dort unten hausen und grausen meine Ichthyosauren.«
+
+Für Jakob Silberland kam dieser Sprung von Paul Seebecks feierlichen
+Worten zum leichten Scherze so überraschend, und außerdem wußte er gar
+nicht, was er aus Paul Seebecks Ichthyosauren machen sollte, daß er
+schweigend seinem Freunde mit Hilfe von Strickleitern, Eisenklammern und
+natürlichen Felszacken in die Tiefe folgte. Da beide geübte Bergsteiger
+waren, ging der Abstieg schnell von statten.
+
+Als sie unten auf einer breiten Felsplatte angekommen waren und auf das
+Wasser sahen, das hier schlammig und voll von grünen Algen war, sagte
+Paul Seebeck:
+
+»Setz dich jetzt hier in den Schatten und verhalte dich ganz ruhig.«
+
+Jakob Silberland tat, wie ihm geheißen. Er sah, daß Paul Seebecks
+umherschweifender Blick immer wieder zu einer tiefen dunklen Spalte in
+der Felsenwand zurückkehrte. Er schaute scharf hin und glaubte, einen
+schweren Körper herausgleiten zu sehen, der kein Fisch sein konnte.
+Ängstlich sah er Paul Seebeck an, aber dieser lächelte nur.
+
+Jetzt hob sich zwanzig Schritte von ihm entfernt, ein riesiger,
+schwarzer Kopf aus dem Wasser, ein breites, zahnloses Maul öffnete
+sich - -
+
+Mit einem Entsetzensschrei sprang Silberland auf. Sofort verschwand der
+Kopf im Wasser. Paul Seebeck aber sagte lachend:
+
+»Du sollst mir meine Tiere nicht scheu machen.«
+
+»Was sind das für Tiere?« fragte Jakob Silberland, noch am ganzen Körper
+zitternd.
+
+»Schildkröten, mein Junge, allerdings reichlich große.«
+
+»Riesenschildkröten?« fragte Jakob Silberland aufatmend.
+
+»Ja. Und zwar sind es reine Wassertiere. Ich habe sie nie länger als für
+Minuten am Lande gesehen. - Sei ruhig, hier können sie nicht
+heraufkrabbeln. - Am Tage sieht man sie immer nur ganz flüchtig. Aber in
+hellen Mondscheinnächten habe ich sie oft viele Stunden lang beobachtet.
+Sie können schwimmen, tun es aber fast nie. Sie kriechen auf dem Boden
+hin. Es gibt unzählige hier. Die größten waren über vier Meter lang.
+
+Ich traute mich nie recht, mit meinem Motorboote vom Meere her in die
+Bucht zu fahren, um die Tiere nicht zu erschrecken. Außerdem würden die
+unzähligen Sandbänke und Klippen, die du siehst, die Sache fast
+unmöglich gemacht haben, ganz abgesehen von den riesigen Algen, die
+meiner Schiffsschraube wohl das Leben gekostet hätten. Aber toll ist es
+hier. Zuweilen habe ich tief unten im Wasser die Leuchtorgane von
+elektrischen Fischen aufblitzen sehen, und bei Tiefebbe liegen die
+phantastischsten Tiefseetiere hier herum. Soviel ich sehen konnte, ist
+der Meeresboden hier auch nicht nackt, wie bei der großen Bucht, sondern
+sieht wie ein submariner Urwald aus, der sich weit hinaus ins Meer
+erstreckt. Meine Auffassung ist, daß sich mit der Hebung der Insel diese
+unterseeische Oase auch gehoben hat. Wie sie in dieses Gestein
+hereinkommt, weiß ich nicht. Vielleicht ruht sie auf Lehm. Jedenfalls
+ist sie da, und die Schildkröten mit ihr.
+
+Wenn wir vernünftig sind und keinen Raubbau treiben, können wir durch
+die Tiere eine dauernde Einnahmequelle haben, die für die ganze Insel
+ausreichen wird. Dazu kommt noch der Fischfang. - Du siehst, unser Staat
+braucht keine Not zu leiden.«
+
+Sie warteten noch eine halbe Stunde, aber kein Tier ließ sich mehr
+blicken. So traten sie den Rückweg an.
+
+
+
+
+Paul Seebeck saß mit seinem Studienfreunde, dem Architekten Edgar Allan
+zusammen im Café Bauer in Berlin. Paul Seebeck war trotz der frühen
+Nachmittagsstunde im Frack, denn er hatte am Vormittage mehrere
+Staatssekretäre und andere höheren Beamte aufgesucht. Jetzt hatte er
+alle offiziellen Schritte getan; da er aber am Abend ins Theater wollte,
+wollte er sich nicht erst die Mühe machen, sich für die wenigen Stunden
+nochmals umzuziehen. Deshalb war er im Frack geblieben, und es störte
+ihn nicht, daß er dadurch etwas Aufsehen erregte.
+
+Edgar Allan war lang und knochig und hatte eine etwas eingefallene
+Brust. Auch in seinem scharfgeschnittenen Gesichte verleugnete sich der
+englische Halbteil seines Blutes nicht.
+
+Paul Seebeck sah durchs Fenster auf die Straße hinaus. Edgar Allan
+stützte seine Ellbogen auf den Tisch und verbarg sein Gesicht in den
+langen, mageren Händen. Als er es nach einigen Minuten wieder erhob, sah
+er, daß Paul Seebeck ihn jetzt mit seinen großen Augen forschend
+anblickte.
+
+Edgar Allan sah ihn erst fremd an, dann verzog sich sein Gesicht. Er
+sagte erregt:
+
+»Ich bin übrigens nicht nur mit meiner Klage vom Reichsgericht
+abgewiesen; das Warenhaus hat mit seiner Widerklage sogar erreicht, daß
+ich zu einer Entschädigung verurteilt wurde. Alle Sachverständigen waren
+darin einig, daß mein Bau nicht den Voraussetzungen des Kontraktes
+entsprach. Fast meine ganzen Ersparnisse habe ich hingeben müssen.« Dann
+fuhr er ruhiger fort: »Die Leute haben aber recht, ich kann kein
+einzelnes Haus bauen; ich verstehe überhaupt nicht, wie jemand das kann.
+Man soll mir einmal den Bau einer ganzen Stadt übertragen, dann werde
+ich schon zeigen, wozu ich tauge.«
+
+Paul Seebeck senkte seine Augen und sah dann wieder zum Fenster hinaus.
+
+Plötzlich legte Edgar Allan seine Hand auf seinen Arm:
+
+»Wollen Sie mich mitnehmen?« fragte er.
+
+Paul Seebeck wandte sich herum und sah ihm gerade in die Augen:
+
+»Ja«, sagte er, »gerade solche Menschen wie Sie suche ich, brauche ich.
+Ich wollte Sie nur aus dem Grunde nicht auffordern, weil ich nicht will,
+daß jemand anders als ganz aus freien Stücken zu uns kommt. Halloh!«
+rief er, aufstehend, einen vorbeigehenden, jungen, blonden,
+hochgewachsenen Herrn zu, der, das »Berliner Tageblatt« in der Hand,
+sich gerade nach einem freien Tische umsah.
+
+»Herrgott bist du plötzlich in Berlin?« fragte der Angesprochene im
+höchsten Grade erstaunt. »Noch dazu im Frack? Ich dachte, du wärst
+Kaffernhäuptling oder Seeräuber oder so etwas ähnliches geworden.«
+
+»Noch nicht«, erwiderte Paul Seebeck. »Aber meine amtliche Bestallung
+als Seeräuber habe ich seit heute Vormittag in der Tasche. Gestatten die
+Herren, daß ich vorstelle: mein Schulkamerad stud. jur. Otto Meyer,
+Architekt Edgar Allan.«
+
+»Referendar Meyer, wenn ich bitten darf«, sagte der junge Mann, wobei er
+Edgar Allan die Hand reichte, die dieser höflich nahm.
+
+Als alle drei wieder saßen, fragte Paul Seebeck seinen Schulkameraden:
+
+»Woher weißt du eigentlich von der ganzen Geschichte?«
+
+»Du mußt mir Diskretion versprechen«, sagte Otto Meyer feierlich.
+
+»Gewiß.«
+
+»Also die Sache steht lang und breit da drin -«, er wies auf die
+Zeitung, die er noch immer in der Linken hielt - »sogar in der
+halbamtlichen Fassung des Wolffschen Bureaus.«
+
+»Zeig doch mal«, sagte Seebeck und griff nach dem Blatte.
+
+»Nein, ich werde es vorlesen, sonst verstehst du es nicht richtig.« Und
+er las:
+
+»Eine Erweiterung des deutschen Kolonialbesitzes?
+
+Durch den Schriftsteller und Forschungsreisenden Paul Seebeck wurde da
+und da eine unbewohnte, vulkanische Insel mit einem Flächenraume von
+zwölfhundert Quadratkilometern entdeckt und für das Deutsche Reich in
+Besitz genommen. Da auf und bei der fraglichen Insel auch nicht das
+allergeringste zu holen ist -«
+
+»Willst du vielleicht die Güte haben, ungefähr das zu lesen, was
+dasteht?« unterbrach Seebeck den Lesenden. »Die Sache interessiert mich
+nämlich.«
+
+Otto Meyer las weiter:
+
+»Da die fragliche Insel augenscheinlich nur als Wohnsitz einiger,
+weniger Menschen in Betracht kommen kann und nicht für eine eigentliche
+Kolonie, ließ der Staatssekretär des Kolonialamtes dem Entdecker der
+Insel, Herrn Paul Seebeck, bis auf weiteres freie Hand in allen Fragen
+der Besiedelung der Insel, wobei er ihn auf Widerruf zum Reichskommissar
+mit allen Rechten und Pflichten eines solchen ernannte.
+
+Diese Ernennung, die selbstverständlich im Einverständnisse mit dem
+Reichskanzler erfolgte, ist als eine Konzession an die durch das
+Scheitern der preußischen Wahlreform verstimmten linksstehenden Parteien
+aufzufassen. Die Konservativen beruhigte der Reichskanzler durch das
+bindende Versprechen, daß die Insel in drei Jahren ebenso still und
+leise verschwinden würde, wie sie aufgetaucht ist -«
+
+Paul Seebeck und Edgar Allan lachten. Otto Meyer reichte Paul Seebeck
+die Zeitung und dieser las die Notiz aufmerksam durch. Als er das Blatt
+fortlegte, fragte Otto Meyer:
+
+»Ist es wirklich dein Ernst, dort eine Republik zu gründen? Eine
+republikanisch regierte, deutsche Kolonie?«
+
+»Ja, machst du mit?«
+
+»Mit Vergnügen, aber nur als Justizminister«, sagte Otto Meyer ruhig.
+
+»Als Justizminister? Hm. Daran hatte ich eigentlich nicht gedacht. Ich
+dachte eher als Staatslausejunge, als offizielles, destruktives
+Element.«
+
+»Du bist furchtbar liebenswürdig«, antwortete Otto Meyer, ohne im
+geringsten beleidigt zu sein. »Aber sag mal, willst du nicht morgen bei
+uns zu Mittag essen? Meine Eltern würden sich doch sehr freuen, dich
+mit australischem Ruhme bedeckt, dazu noch als zukünftigen Imperator Rex
+begrüßen zu können.«
+
+»Schön. Wie früher um Drei?«
+
+»Ja.«
+
+Jetzt erhob sich Edgar Allan und nahm Abschied. Paul Seebeck begleitete
+ihn, so wie er war, in Frack und ohne Hut, auf die Straße hinaus. Als er
+zurückkam, fragte Otto Meyer:
+
+»Was hast du dir denn da für einen steifen Engländer aufgegabelt?«
+
+»Na, er ist mehr Deutscher als Engländer. Deutsche Mutter und in
+Deutschland erzogen. Er ist sonst auch gar nicht steif, hat nur jetzt
+recht unangenehme Sachen durchgemacht. Ich hoffe, daß er mit mir kommt -
+und uns unsere Stadt baut. Er ist gerade der Typus Mensch, den wir
+brauchen; das heißt, er ist gerade kein Typus, sondern ein Mensch.«
+
+»Ich bitte dich, sei nicht so schrecklich geistreich«, sagte Otto Meyer.
+»Sonst bekomme ich Magenschmerzen.«
+
+»Entschuldige mich einen Augenblick«, sagte Paul Seebeck aufstehend und
+ging auf Jakob Silberland zu, der gerade zur Tür hereintrat. Paul
+Seebeck stellte ihm Otto Meyer vor, und als sie wieder Platz genommen
+hatten, sagte er:
+
+»Edgar Allan kommt mit. Noch ein paar Leute, und wir können anfangen.«
+
+»Kommt er? Gut! Da haben wir ja einen ganzen Kerl gewonnen. Ja, du, was
+ich sagen wollte - mir sind noch einige Leute eingefallen - aber man
+kann ja nicht gut jemand auffordern. Und wie soll man es sonst diesen
+Leuten nahelegen?«
+
+»Gar nicht, natürlich«, antwortete Paul Seebeck. »Wer nicht freiwillig,
+aus innerstem Instinkt zu uns kommt, mag fortbleiben. Die brauchen wir,
+die uns zufällig finden, weil sie uns brauchen.«
+
+»Ja, ja«, sagte Jakob Silberland etwas verlegen. »Aber wir müssen doch
+einen Anfang haben. Wir zwei, drei Menschen können uns dort nicht
+festsetzen und auf die anderen warten. Damit würden wir uns nur
+lächerlich machen und gar nichts erreichen.«
+
+»Du irrst. Wir müssen gerade hingehen und uns der Lächerlichkeit
+aussetzen.«
+
+»Ich fürchte nur, daß wir zwei, mit Edgar Allan also drei, unser ganzes
+Leben lang allein auf der Insel hocken werden.«
+
+Otto Meyer, der offenbar fürchtete, Zeuge eines Streites der beiden
+Freunde zu werden, verabschiedete sich, wobei er Seebeck daran
+erinnerte, daß er morgen zum Mittagessen zu kommen versprochen hätte.
+
+Der Streit brach aber nicht aus, im Gegenteil, Paul Seebeck sagte ganz
+ruhig, wobei er seinem Freunde gerade ins Gesicht blickte:
+
+»Ich verstehe dich vollkommen; du willst gleich mit einem gewissen
+Material anfangen. Ich glaube, du machst dir unnötige Sorgen. Es werden
+mehr zu uns kommen, als wir brauchen können. Du wirst sehen, daß viele
+gleich mit uns kommen wollen. Aber jetzt mußt du mich entschuldigen«,
+brach er ab, wobei er auf die Uhr sah. »Ich will ins Theater.«
+
+Als Paul Seebeck gegangen war, setzte sich Jakob Silberland richtig in
+der Ecke zurecht und ließ sich vom Kellner alle Abendblätter bringen und
+las die - je nach der politischen Richtung der betreffenden Zeitung -
+wohlwollenden, abwartenden oder gehässigen Glossen zur halbamtlichen
+Wolff-Nachricht. Nach einer Stunde war er aber müde vom Lesen; er lehnte
+sich zurück und ließ sich sein letztes Gespräch mit Paul Seebeck noch
+einmal durch den Kopf gehen. Je mehr er nachdachte, umsoweniger hielt er
+Paul Seebecks Ansicht für richtig; er glaubte vielmehr, daß man sich
+einen gewissen, soliden Kern sammeln müßte, um den sich dann die
+Gemeinschaft kristallisieren könnte. Aber einfach abwarten - nein.
+Lieber organisieren, aufbauen.
+
+Und als ihm das als das richtige klar vor Augen stand, beschloß er,
+einen Mann aufzusuchen, den er sich als wertvollen Mitarbeiter an der
+Sache denken konnte, nämlich den russischen Flüchtling Nechlidow.
+
+
+
+
+Durch schwere, dunkle Vorhänge gedämpft, fiel das Licht in den Salon,
+in dem die hohe Frauengestalt stand. Das schwarze Schleppkleid ließ Hals
+und Gesicht noch weißer erscheinen, und die großen braunen Augen
+leuchteten.
+
+»Warum kommen Sie erst jetzt zu mir?« fragte Frau von Zeuthen Paul
+Seebeck, der noch Hut und Stock in der Hand haltend vor ihr stand.
+
+»Wie schön Sie sind!« erwiderte Seebeck und küßte ihre Hand.
+»Unveränderlich schön wie ein edles Bild, das Zeiten und Geschehnis
+überdauert.«
+
+Ihr Lächeln war nicht der Art als ob sie seine Worte als Schmeichelei
+auffaßte. Sie sagte:
+
+»Jetzt müssen Sie mir aber alles, alles erzählen. Ich habe die Zeitungen
+gelesen und allerhand gehört. Das will ich jetzt aber vergessen und
+alles neu und rein von Ihnen hören.«
+
+Sie setzte sich auf den Divan und wies mit der Hand auf einen Armstuhl
+neben dem Rauchtischchen, aber Paul Seebeck blieb stehen:
+
+»In Ihrem Hause ist eine Ruhe wie sonst nirgendwo auf der Welt. Sie sind
+einige Jahrhunderte zu spät auf die Welt gekommen, Gabriele. Sie passen
+nicht in unser Zeitalter. Sie gehörten nach Italien zur Zeit der
+Wiedergeburt, und in Ihren Räumen hätten sich die edelsten Männer
+versammelt, um ernst und gewichtig die Fragen zu erörtern -«
+
+»Sie wollten mir doch etwas erzählen«, unterbrach ihn Frau von Zeuthen,
+wobei sie sich zurücklehnte.
+
+Paul Seebeck legte Hut und Stock fort und setzte sich in den Armstuhl.
+
+»Also, ich kam von Sidney zurück -«
+
+»Nicht so schnell. Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche. Aber Sie
+dürfen Australien nicht überspringen.«
+
+Ȇber Australien kann ich leider nicht viel berichten. Ich kam hin - Sie
+kennen ja meinen Expeditionsplan, er stand ja auch in allen Zeitungen -
+und wie ich dort war, sah ich, daß meine ganze Expedition eigentlich
+überflüssig war. Von dem, was ich als Neuland erforschen wollte, ist der
+größte Teil in seinen großen Zügen schon bekannt, sogar schon
+aufgenommen, und es reizte mich nicht, mich nur mit den Bagatellen
+abzugeben, die natürlich auch von wissenschaftlichem Interesse sind -«
+
+»Da Sie ja mehr Abenteurer als Wissenschaftler sind.«
+
+»Vielleicht, vielleicht liegt der Wert meines Abenteuertums gerade
+darin, daß ich nur große Dinge entdecken kann, nicht Kleinigkeiten
+untersuchen. Ich kann nur die großen Dinge sehen und räume dann gern das
+Feld dem Gelehrten, der dann nach Herzenslust messen und forschen mag.
+Schon am ersten Tage in Sidney, wo ich in der Bibliothek der
+Geographischen Gesellschaft saß und mir das ganze Material durchsah,
+sank mir der Mut. Ich sah wohl, daß da noch unendlich viel zu tun war,
+aber fast nichts für mich.
+
+Ich unternahm die Expedition trotzdem - ich war ja dazu verpflichtet -
+aber ohne Freude. Dadurch kam auch das Sprunghafte, Unsichere herein,
+das manche Zeitungen mit Recht gerügt haben, und kehrte vorzeitig
+zurück.«
+
+»Ich las in der Zeitung, daß die furchtbaren Stürme und
+Überschwemmungen, die der großen Flutwelle folgten, Sie zur Rückkehr
+gezwungen hätten.«
+
+»Ich nahm das mehr als Vorwand. Hätte ich ernstlich gewollt, hätte ich
+schon dort bleiben können. Ich kehrte aber nach Sidney zurück.«
+
+»Und dann?«
+
+»Ja, dann sah ich vom Dampfer aus meine Insel, deren Entstehung
+natürlich die große Flutwelle verursacht hat. Und da beschloß ich, auf
+ihr meinen Staat zu gründen.«
+
+»So schnell?«
+
+»Ja, wissen Sie, Gabriele«, fuhr Paul Seebeck lebhafter fort, »zwischen
+der Entdeckung der Insel und meiner Ankunft lagen ja viele Stunden. Und
+eine Stunde ist lang, wenn man allein auf einem Schiffe steht und ganz
+ungestört seinen Gedanken nachhängen kann. Und unser Plan eines wirklich
+modernen Staates auf breitester, demokratischer Grundlage, aber mit dem
+Prinzipe der größten persönlichen Freiheit war ja schon lange fertig.«
+
+»Wer ist »wir«?«
+
+»Mein Freund Silberland, ein Journalist und radikaler Politiker aus
+München, ein kluger Mensch, der unendlich viel in seinem Leben
+gearbeitet hat und dem es immer schlecht gegangen ist, und ich. In
+meiner Münchener Zeit sind wir oft nächtelang im Café Stephanie gesessen
+oder im Englischen Garten herumgegangen und haben dabei immer nur
+unseren Staat besprochen. Sie werden verstehen, daß zwei Menschen wie er
+und ich sich in einer solchen Frage aufs Glücklichste ergänzen können.«
+
+Frau von Zeuthen nickte und Paul Seebeck fuhr fort:
+
+»Wie ich also die Insel sah und wußte, daß sie herrenloses Land
+darstellte, schrieb ich vom Dampfer aus einige Zeilen an Silberland.
+Ich erinnerte ihn an unsere Träume und bat ihn, hinzukommen. Ich schrieb
+ihm, er solle mir eine Vollmacht als Reichskommissar verschaffen. Er kam
+auch, der gute Kerl, steckte seinen Beruf und seine Stellung auf und
+kam. Aber das Kolonialamt hatte ihm doch nur eine sehr vorsichtige, sehr
+provisorische Vollmacht für mich mitgegeben und verlangte, mich selbst
+zu sehen und zu hören. So mußte ich also nach Berlin kommen.« Und Paul
+Seebeck schwieg, wobei er vor sich auf den Teppich sah.
+
+»War Ihnen denn das so unangenehm?« fragte Frau von Zeuthen.
+
+»Ja. Wenigstens zuerst. Ich hatte schon viele Wochen ganz allein auf
+meiner Felseninsel zugebracht und fühlte mich dort so heimisch, daß es
+mir schwer wurde, sie wieder zu verlassen. Und besonders fürchtete ich,
+sie mit etwas anderen Augen zu sehen, wenn ich nach dem Aufenthalt in
+Europa zu ihr zurückkehrte.«
+
+»Wie denn?« fragte Frau von Zeuthen mit ihrem klugen Lächeln.
+
+Er sah sie an und sagte langsam:
+
+»Ich fürchtete, meine Insel nicht mehr so rein zu empfinden, nicht mehr
+so ganz als Symbol der Unberührtheit, kurz, nicht mehr so persönlich,
+mehr als eine von den vielen, ein Kuriosum, keine Offenbarung - Sie
+verstehen?«
+
+Frau von Zeuthen nickte.
+
+»Und weshalb sind Sie jetzt doch froh, hierher gekommen zu sein?« fragte
+sie nach einer kleinen Pause.
+
+»Weil ich sehe, wie wertvoll es für mich ist, etwas Distanz bekommen zu
+haben - nicht nur aus praktischen Gründen.« Wieder schwieg er und sah
+vor sich hin.
+
+»Dann habe ich hier auch einige Menschen wiedergefunden, die ich für
+meine Arbeit brauche. Und« - hier sank er vom Stuhle und ergriff ihre
+Hand und küßte sie - »eine Frau, die ich immer fragen muß, ob ich auch
+auf dem rechten Wege bin.«
+
+Sie strich ihm mit ihrer schönen, weißen Hand über sein Haar.
+
+»Wollen Sie mir auch diesmal Ihren Segen mitgeben?« fragte er, lächelnd
+zu ihr aufblickend.
+
+»Ja«, sagte sie. »Und wenn Sie mich brauchen, komme ich zu Ihnen.«
+
+Er küßte noch einmal ihre Hand und erhob sich dann. Im Zimmer auf- und
+abgehend, fuhr er lebhaft fort:
+
+»Und wie bezaubernd die Idee wirklichen Neulandes, einer freien
+menschlichen Gemeinschaft ohne alle Traditionen wirkt. Ich kenne von der
+Schule her einen jungen Studenten, jetzt ist er übrigens Referendar, der
+fünf Jahre jünger ist als ich. Einen richtigen Berliner Juden, obwohl er
+nicht so aussieht. Glänzend begabt, daß jede Arbeit für ihn Spielerei
+ist, frech wie ein Dachshund, nie um eine Antwort verlegen, immer witzig
+und nichts auf der Welt ernst nehmend. Dabei ein seelenguter Kerl und
+immer hilfsbereiter Kamerad. Wir treffen uns hier zufällig im Café, und
+er benutzt die Gelegenheit, um tausend dumme Witze über unsere Insel zu
+machen. Am Tage darauf esse ich bei seinen Eltern. Auch dort schont er
+mich durchaus nicht. Wie wir nach dem Essen bei einer Zigarre allein in
+seinem Zimmer sind, sagt er mir plötzlich in vollem Ernste, daß er mit
+uns kommen will, um dann sofort darüber dumme Witze zu machen. Aber ich
+bin überzeugt, daß es ihm im Grunde seines Herzens tiefernst ist, und
+daß er gerade durch seinen absoluten Mangel an Sentimentalität ein sehr
+gesundes Element darstellen wird.«
+
+Er blieb stehen und lauschte, denn auf dem Korridore wurde ein Trampeln
+und eifriges Tuscheln laut. Frau von Zeuthen erhob sich vom Divan.
+
+»Die Kinder«, sagte sie.
+
+Gleich darauf wurde auch die Tür aufgerissen und die dreizehnjährige
+Hedwig stürmte herein. Sobald sie Paul Seebeck erblickte, schlang sie
+beide Arme um seinen Hals und hüpfte vor Freude. Paul Seebeck konnte
+sich nur mit Mühe soweit von ihr befreien, um dem etwas verlegen hinter
+ihr stehenden zwölfjährigen Felix wenigstens flüchtig die Hand drücken
+zu können. Noch halb an Paul Seebeck hängend, begann Hedwig, ihrer
+Mutter übersprudelnd ein Schulerlebnis zu erzählen, doch Frau von
+Zeuthen unterbrach sie:
+
+»Macht euch jetzt schnell zum Mittagsessen fertig, Kinder. Wir essen
+heute früher als sonst. Dann kannst du uns alles erzählen, Hedwig.«
+
+Ein wenig schmollend zog Hedwig ab, Felix wandte sich in der Tür noch
+einmal zögernd um, dann ging er schnell zu Paul Seebeck und flüsterte
+ihm zu:
+
+»Ich habe alles gelesen; ich weiß alles. Ich will zu dir auf deine Insel
+kommen.« Dann lief er tief errötend aus der Tür.
+
+Während die Schritte der Kinder auf dem Korridore verklangen, wandte
+sich Frau von Zeuthen an Paul Seebeck:
+
+»Ich erwarte noch einen Gast -«
+
+»Herrn von Rochow?« fragte Seebeck.
+
+»Rochow? Nein ... Wie kommen Sie auf ihn?«
+
+»Ach, ich bin in den letzten Tagen oft mit ihm zusammen gewesen; er ist
+ja einer von den Unsrigen.«
+
+»So? Das freut mich wirklich.«
+
+»Er war einer von denen, an die ich von Anfang an dachte, und er kam
+auch gleich zu mir. - Ja, und gestern sagte er mir, daß wir uns wohl
+auch bald bei Ihnen treffen würden.«
+
+»Rochow ist immer bei mir willkommen; er kommt vielleicht auch später
+zum Tee zu mir. Wissen Sie übrigens, daß er seinen Abschied nehmen
+mußte?«
+
+»Nein, weshalb denn?«
+
+»Ich weiß es nicht genau. Es handelte sich um eine Soldatenmißhandlung,
+wo Rochow in irgendwelcher inkorrekten Weise zu sehr für den Soldaten
+gegen den schuldigen Leutnant eingetreten ist. Aber jetzt zum
+Mittagessen erwarte ich einen jungen Freund, der Ihnen vielleicht große
+Freude machen wird.«
+
+Es klingelte, und bald darauf stand ein bleicher, junger Mann mit
+tiefliegenden, rotumränderten Augen in der Tür. Man sah seiner Kleidung
+an, daß sie mit großer Mühe ordentlich instand gehalten war. Frau von
+Zeuthen ging auf ihn zu, führte ihn an der Hand zu Seebeck und sagte:
+
+»Da haben Sie meinen Melchior. Seht zu, ob ihr nicht Freunde werden
+könnt.«
+
+Und während die beiden Männer einander forschend und suchend in die
+Augen sahen, öffnete sie die Tür zum anstoßenden Eßzimmer, wo Hedwig und
+Felix bereits ungeduldig warteten.
+
+
+
+
+Auf dem großen Tische in Paul Seebecks Hotelzimmer, der mit Zeitungen,
+Broschüren und Papieren bedeckt war, standen zwei schwere, fünfarmige
+Leuchter und erhellten die Gesichter der kleinen Versammlung. Erst jetzt
+waren sie zum ersten Male offiziell versammelt; so hatte es Paul Seebeck
+gewollt. Mehrere Wochen hatte er ihnen Zeit gelassen, um alles in Ruhe
+zu überlegen und sich einander kennen zu lernen.
+
+Alle sieben waren da: am Tischende saßen Paul Seebeck, Jakob Silberland
+und Hauptmann a. D. von Rochow, dann kamen Edgar Allan und Referendar
+Otto Meyer, zuletzt Nechlidow. Der junge Melchior saß gesenkten Hauptes
+etwas im Hintergrunde und zuweilen hob sich sein bleiches,
+abgearbeitetes Gesicht aus dem Dunkel.
+
+Paul Seebeck stand auf, und aller Augen wandten sich ihm zu. Er sagte:
+
+»Ich habe ungefähr dreihundert Anfragen und Anmeldungen erhalten, habe
+aber Alle gebeten, sich etwas zu gedulden. Wir sind jetzt sieben, und
+das ist vorläufig genug, um die Sache in Gang zu bringen. Sobald wir
+die Umrißlinien gezogen haben, mögen die Anderen kommen, um sie
+auszufüllen oder zu verändern. Nun liegt die Gefahr vor«, fuhr er fort,
+wobei er den Kopf senkte und sich auf die eingezogene Oberlippe biß,
+»daß wir sieben auch in Zukunft eine bevorzugte Stellung einnehmen. Das
+darf natürlich nicht sein. Das wäre eine Oligarchie statt einer
+Demokratie.«
+
+Nechlidow hob den Kopf und rief:
+
+»Was bis zum heutigen Tage noch jede Demokratie gewesen ist, besonders
+in der wahnsinnigen Karrikatur des Parlamentarismus.«
+
+Paul Seebeck sah ihm gerade ins Gesicht:
+
+»Tragen Sie das Ihrige dazu bei, Herr Nechlidow, daß unser Staat nicht
+an dieser Klippe strandet.«
+
+Es ging ein Leuchten durch Nechlidows vergrämtes Gesicht; er sagte
+nichts, nickte nur.
+
+»Nun läßt sich aber nicht leugnen, daß wir sieben Gründer, eben als
+solche, vorläufig eine Sonderstellung einnehmen. Wir müssen nur dafür
+sorgen, daß diese Sonderstellung nicht länger dauert, als unbedingt
+notwendig ist. Ich schlage deshalb folgendes vor: jeder Ansiedler,
+selbstverständlich Mann wie Frau, ist nach einjährigem Aufenthalt auf
+der Insel vollberechtigter Bürger. Wir sieben Gründer bleiben das erste
+Jahr allein auf der Insel und genießen das einzige Vorrecht, in diesem
+Jahre über uns selbst und den Staat, den wir ja allein repräsentieren,
+zu verfügen. Dieses Vorrecht ist natürlich nur ein anderer Ausdruck für
+alle unsere Pflichten und unsere Arbeit. Vom opportunistischen
+Standpunkte aus gesehen also ein Vorrecht, von recht zweifelhaftem
+Werte, vom moralischen Standpunkte ein Recht in der tief innersten
+Bedeutung des Wortes.«
+
+Jetzt konnte Otto Meyer sich nicht mehr beherrschen, er mußte Jakob
+Silberland zuflüstern:
+
+»Daß der Kerl seine geistreichen Bemerkungen nie sein lassen kann.«
+
+Halb verlegen und belustigt, suchte Silberland nach einer Antwort;
+plötzlich aber erhob sich zum allgemeinen Erstaunen Melchior und sagte:
+
+»Darf ich eine Frage stellen? Da ist etwas, was ich nicht verstehe.«
+
+»Bitte«, sagte Seebeck.
+
+Melchior zog die Brauen zusammen und versuchte augenscheinlich seine
+Frage scharf zu formulieren; er sagte dann:
+
+»Nach alledem, was ich verstanden zu haben glaube, soll dieser Staat im
+Großen wie im Kleinen keine willkürliche Konstruktion darstellen,
+ebensowenig eine Gemeinschaft, die nur auf einen bestimmten Typus
+Mensch zugeschnitten ist. Wenn Sie mir den trivialen Ausdruck erlauben
+wollen, soll es nicht nur der ideale, sondern auch der normale Staat
+sein.«
+
+Paul Seebeck nickte. Melchior sah ihn an:
+
+»Ein Staat, oder wohl besser: eine Gemeinschaft, deren Bau aus der Natur
+des Menschen an sich, des zweibeinigen Säugetieres: Mensch, abgeleitet
+ist, nicht wahr?«
+
+Wieder nickte Paul Seebeck, obgleich nicht so ganz zustimmend. Melchior
+war aber so in seinen Gedanken vertieft, daß er nichts um sich her sah.
+Er fuhr fort:
+
+»Sie müssen mich recht verstehen, ich will nicht kritisieren, nur
+fragen. Wie läßt sich die Idee eines solchen Staates damit vereinigen,
+daß erst große Vorarbeiten nötig sind? Daß die Ansiedler sich erst ein
+ganzes Jahr lang akklimatisieren sollen? Würde es nicht genügen, die
+Menschen einfach in die Freiheit zu setzen, so daß sie selbst kraft
+ihrer Menschennatur sich die neue Gemeinschaft schaffen können? Wenn
+ihre Gedanken richtig sind, müßte der so sich selbst aufbauende Staat
+genau ebenso werden, wie der Ihrige, der doch - zunächst wenigstens -
+ein theoretisches, aus den jetzigen Staatsformen abstrahiertes Gebäude
+darstellt; nur mit dem Unterschiede, daß der sich selbst aufbauende
+Staat natürlicher wäre, ohne die Fehlerquellen, die bei dem Ihrigen, der
+theoretischen Grundlage wegen, möglich sind.«
+
+»Bravo!« rief Nechlidow. »Der Mann kann denken.«
+
+»Sie müssen mich richtig verstehen,« fuhr Melchior fast ängstlich fort,
+»ich vertrete gar keinen Standpunkt, ich sehe nur ein Problem und bitte
+Sie, es mir zu lösen. Sie haben natürlich alles das genau bedacht, Herr
+Seebeck?« Er richtete sich ganz auf und sah Seebeck gespannt an. Aber
+plötzlich verzog sich sein Gesicht, es wurde kreidebleich, er schwankte
+etwas, griff rückwärts nach der Stuhllehne, so daß der Stuhl sich auf
+einem Beine drehte, und Melchior sank, die Stuhllehne noch immer in der
+Hand, bewußtlos neben den Stuhl hin, der auf ihn fiel.
+
+Alle sprangen entsetzt auf. Paul Seebeck war mit einigen Schritten bei
+ihm, hob ihn leicht wie ein Kind auf, klingelte nach dem Kellner, ließ
+sich ein freies Zimmer zeigen und bettete den Ohnmächtigen dort. Er
+löste ihm die Kleider auf Brust und Leib und flößte ihm dann Milch ein.
+Melchior schlug schon nach einigen Minuten die Augen wieder auf und sah
+unsicher um sich. Paul Seebeck fragte ihn besorgt:
+
+»Fühlen Sie sich jetzt wieder wohl?«
+
+»Ja, ja«, sagte Melchior zerstreut. »Das hat nichts zu sagen.« Sein
+Blick fiel auf die gefüllte Milchkanne. Mit zitternden Händen schenkte
+er sich ein Glas ein und stürzte es hinunter. Er sah dankbar zu Seebeck
+auf:
+
+»Ich danke Ihnen, Sie sind so gut zu mir.«
+
+»Wünschen Sie irgend etwas?« fragte Seebeck, die Hand schon bei der
+elektrischen Klingel.
+
+»Ja, wenn ich etwas essen dürfte -« antwortete Melchior zögernd. »Ich
+werde zuweilen schwach, wenn ich hungrig bin.«
+
+»Haben Sie denn heute Abend noch nichts gegessen?« fragte Seebeck
+besorgt.
+
+»Heute Abend?« Melchior lächelte schwach. »Gestern und heute habe ich
+nichts gegessen. Wenn ich jetzt nur ein Stückchen Brot haben kann, ist
+mir gleich wieder gut.«
+
+Der Kellner trat ein, und Seebeck bestellte, trotz Melchiors
+verlegen-abwehrender Handbewegungen ein ordentliches Abendessen, doch
+verlangte er nur Speisen, die in wenigen Minuten fertig sein konnten.
+Während dieses kurzen Gespräches schlummerte Melchior ein. Paul Seebeck
+überzeugte sich, daß sein Atem ruhig ging und verließ dann zusammen mit
+dem Kellner das Zimmer.
+
+Als er zu seinen Gästen zurückkehrte, wurde er von allen Seiten nach
+Melchiors Befinden gefragt. Er gab aber nur kurze, sachliche Antworten
+und schlug dann lächelnd vor, wieder zur Arbeit überzugehen. Diesmal
+ergriff er aber nicht das Wort, sondern bat Jakob Silberland, zu
+erklären, wie sie ihren Staat zu finanzieren gedächten.
+
+Jakob Silberland stand eifrig auf, und begann:
+
+»Die finanzielle Grundlage unseres Staates ist als durchaus gesund zu
+bezeichnen. Wir haben Aktiven in den Naturschätzen, die fast ohne
+Betriebskapital zu heben sind. Nach dem Urteil von Sachverständigen
+repräsentiert eine ausgewachsene Riesenschildkröte allein an Schildkrott
+einen Wert von fünfundzwanzigtausend Mark, dazu kommt noch ihr Fleisch
+im Werte von ungefähr dreihundert Mark. Ein genaues Studium muß ergeben,
+wieviele Tiere man im Jahre erlegen darf, ohne Raubbau zu treiben;
+jedenfalls für mehrere Hunderttausende, vielleicht Millionen. Diese
+Einnahmequelle muß dem Staate selbst verbleiben.
+
+Daß der Grund und Boden für immer gemeinsames Eigentum bleiben muß, ist
+ja selbstverständlich, ebenso die auf ihm stehenden Häuser, denn ein
+Privatbesitz an Boden läßt sich nur solange rechtfertigen, wie es
+herrenloses Land in genügender Menge gibt, so daß jeder andere sich
+gleichfalls - wenn er will - einen genügenden Platz sichern kann. Da es
+jetzt - speziell bei uns - herrenloses Land so gut wie nicht mehr gibt,
+oder bald nicht mehr geben wird, ist Privatbesitz am Grund und Boden ein
+Unding.
+
+Wir brauchen nur etwas flüssige Mittel, um die notwendigen Bauten und
+Anlagen ausführen zu können. Wir schlagen vor, das Geld durch eine
+innere Anleihe aufzubringen, die rasch zu amortisieren wäre. Diese
+Anleihe müßte natürlich eine innere sein, um ausländischem Kapital
+keinen Einfluß zu geben ...«
+
+Die Tür knarrte leise; aller Augen wandten sich ihr zu, und Jakob
+Silberland brach ab. Mit schleppenden Schritten kam Melchior herein und
+blieb verlegen stehen. Da sich aber alle Anwesenden Mühe gaben, ihn so
+unbefangen wie möglich zu behandeln, atmete er schnell auf und nahm
+seinen früheren Platz wieder ein. Jakob Silberland räusperte sich und
+wollte in seinem Vortrage fortfahren, konnte aber die Aufmerksamkeit
+nicht mehr sammeln. Paul Seebeck schlug deshalb vor, eine Viertelstunde
+lang zu pausieren. Da niemand widersprach, ließ er Tee und kleine
+Butterbrötchen, sowie auch einige Flaschen Wein kommen, was die Herren,
+auf- und abgehend, zu sich nahmen.
+
+Paul Seebeck trat zu Melchior heran:
+
+»Haben Sie jetzt ordentlich gegessen?« fragte er.
+
+»Ja, ja«, antwortete Melchior, zerstreut auf den Boden blickend. Dann
+schlug er die Augen auf:
+
+»Herr Seebeck«, sagte er, »Sie sind mir noch eine Antwort schuldig.«
+
+Paul Seebeck griff sich unwillkürlich an die Stirn; er verfolgte
+rückläufig die Vorgänge des Abends und kam damit auch auf Melchiors
+Frage.
+
+»Überlegen Sie sich, wie viel die Menschen vergessen müssen, ehe sie
+reif für eine neue Gemeinschaft werden; vergessen, was sie selbst, und
+das, was ihre Vorfahren gelernt haben: die Masseninstinkte. Um die zu
+bekämpfen und zu vergessen, genügt weder die Möglichkeit, noch der Wille
+zur Freiheit - zwei Voraussetzungen, die bei uns glücklicherweise
+gegeben sind - eine große Arbeit jedes einzelnen an sich und an der
+Gemeinschaft ist notwendig. Unterschätzen Sie unser Vorhaben nicht; es
+gilt nichts weniger, als einen neuen Typus Mensch heranzuziehen, einen
+Typus, der eine Gemeinschaft von Individualitäten bilden kann, ohne daß
+diese zu einer homogenen Masse wird.«
+
+»Sie gebrauchen dauernd das Wort: Typus im Sinne von Individuum. Ich
+finde das fast verdächtig.«
+
+»Ach Gott, was ist denn dabei verdächtig?« sagte Paul Seebeck
+gleichmütig. »Typus - Art - was Sie wollen. Sie wissen ja, was ich
+meine, da spielt der Ausdruck doch keine Rolle.«
+
+Melchior schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen zusammen:
+
+»Was Sie meinen, scheint an und für sich so klar zu sein, daß ein etwas
+schiefer Ausdruck keine Unklarheit hereinbringen kann. Ich kann aber
+doch nicht anders, als gerade hinter diesem schiefen Ausdruck ein
+Problem zu sehen, nämlich dieses: daß Sie gar nicht den freien Menschen
+an sich brauchen können und entsprechend heranziehen wollen, sondern nur
+einen ganz bestimmten Typus des freien Menschen.«
+
+Paul Seebeck hatte anfangs lächelnd zugehört, dann wurde er aber ganz
+ernst. Stehenbleibend, sagte er fast feierlich:
+
+»Es gibt keinen Staat und keine Gemeinschaft der Welt, wo der
+Verbrecher, der Kinderschänder Raum fände. Wohl aber läßt sich eine
+Gemeinschaft denken, die dem Verbrechen keinen Nährboden gibt. Was
+stellen Sie sich denn überhaupt unter dem »freien« Menschen vor? - Doch
+nicht den, der ungehindert absonderlichen Gelüsten folgen kann? Gerade
+der in irgend einer Weise perverse Mensch ist im höchsten Grade unfrei.
+Frei sein heißt: von seiner eigenen Vergangenheit frei sein, von
+Traditionen und Vorurteilen frei sein, heißt Rückkehr zu einer Norm, die
+es kaum noch gibt.
+
+In diesem Sinne haben Sie Recht: ich erkenne wirklich nur einen Typus
+des freien Menschen an; aber der ist sehr umfassend, nämlich alle
+einschließend, die in irgend einer Weise für die Gemeinschaft im höheren
+Sinne brauchbar, oder was dasselbe ist, notwendig sind.«
+
+»Ja, ja«, sagte Melchior nachdenklich. »Ich glaube schon, daß ich Ihnen
+zustimmen werde, wenn ich in Ruhe alles richtig bedacht habe.«
+
+Paul Seebeck sah ihm gerade ins Gesicht:
+
+»Beantworten Sie mir bitte eine Frage: weshalb kommen Sie überhaupt zu
+uns? Ich sehe, daß Sie ernst arbeiten und daß Sie aufrichtig sind, uns
+also willkommen sein müssen - aber was wollen Sie von uns?«
+
+Melchior sah mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin:
+
+»Ich muß aus zwei Gründen zu Ihnen. Erstens glaube ich bei Ihnen alle
+sozialen und sozial-psychologischen Phänomene im status nascendi, also
+in reinster und dabei konzentriertester Form zu finden. Also aus
+wissenschaftlichem Interesse. Dann glaube ich dort einmal ein
+Arbeitsfeld zu haben, wo die praktische Arbeit nicht vergeudete Zeit
+bedeutet.«
+
+»Sie werden kein angenehmer Mitarbeiter sein, aber ein wertvoller.« Und
+er drückte Melchiors heiße Hand.
+
+Hinter ihnen erklang ein leises Klirren. Sie wandten sich um und sahen,
+daß Jakob Silberland an sein Glas schlug, augenscheinlich in der
+Absicht, eine Rede zu halten. Er trippelte nervös auf seinen kurzen
+Beinchen hin und her und fuhr sich mehrmals mit der Hand durch sein
+langes, schwarzes Haar. Die anderen Herren saßen um den Tisch herum mit
+aufmerksamen und vielleicht etwas verlegenen Gesichtern. Paul Seebeck
+und Melchior blieben im Hintergrunde stehen.
+
+Melchior sah mit einem Blicke, der fast ein Werben um Liebe enthielt, zu
+Paul Seebeck auf und flüsterte ihm zu, wobei er errötete:
+
+»Sie müssen mir helfen, dann werde ich finden, was ich suche - dort auf
+Ihrer Insel werde ich das Geheimnis der Menschheit finden.«
+
+Paul Seebeck nickte ihm freundlich zu. Er konnte ihm nicht mehr
+antworten, denn Jakob Silberland begann:
+
+»Darf ich einige Worte sagen? Ich will nicht schwulstig sein, obwohl ich
+mich beherrschen muß, es nicht zu werden. Aber ohne jede Übertreibung
+kann man wohl sagen, daß von diesem Tage an eine neue Periode der
+Menschheitsgeschichte ansetzt. Unser Anfang ist bescheiden, aber unsere
+Bestrebungen werden Früchte tragen, deren Größe wir heute noch gar nicht
+übersehen können. Statt grotesker Verzerrungen den wirklichen Staat, die
+wirkliche Gemeinschaft von Menschen.«
+
+»Gegründet auf die menschliche Vernunft«, unterbrach Nechlidow, von
+seinem Stuhle aufspringend, den Redner. »Weg mit den Sentimentalitäten,
+die nur Ausbeutung, Schwäche und Dummheit verschleiern sollen. Laßt uns
+die neue Menschheit auf die Vernunft aufbauen. Vernunft allein kann den
+Menschen weiterbringen. Gefühle erniedrigen ihn zum Tiere. Aber streng
+und ehrlich müssen wir sein.«
+
+Otto Meyer hatte mit einem spöttischen Lächeln den beiden zugehört;
+jetzt aber wurde sein Gesicht ganz ernst. Er machte eine Bewegung, als
+ob er aufstehen wollte, besann sich dann aber wieder. Herr von Rochow
+hatte wohl zu viel Wein getrunken, denn sein Lächeln wurde blöder und
+blöder, und seine treuherzigen, blauen Augen verschwammen immer mehr.
+Edgar Allan hörte nur halb zu; mit einem Bleistiftstumpfe entwarf er auf
+dem weißen Tischtuche Hütten und Häuser in einem Stile, der in
+merkwürdiger Weise eine stark betonte Horizontale mit flachen
+Bogenlinien verknüpfte.
+
+Jetzt trat Paul Seebeck mit einigen raschen Schritten an den Tisch und
+sagte:
+
+»Meine Freunde! Heute Abend ist es zu spät, um noch alle die
+Einzelheiten zu erörtern, die ich gern besprochen hätte. Aber dazu haben
+wir ja die vielen Wochen auf dem Schiffe.
+
+Nur eins: das ist jetzt der Abschied vom behaglichen Leben, von
+Großstadttrubel und den Vergnügungen. Jetzt beginnt für uns die Arbeit.
+Es liegt nur an uns, diese Arbeit so anzufassen, daß sie für Andere und
+uns selbst größeres gestaltet, als sonst je möglich wäre. Eine schwere
+Zukunft liegt vor uns, aber eine große.«
+
+
+
+
+Die Sachverständigen waren nach Sidney zurückgekehrt. Alles war geprüft
+worden: der mutmaßliche Ertrag der anzulegenden Schildkrötenkultur, der
+Fischreichtum des Meeres, die Brauchbarkeit der Steine zum Hausbau, das
+Wasser, die auf der Insel vorkommenden Minerale - und jetzt saß Jakob
+Silberland den ganzen Tag in seinem Zelte an einem Holztische und
+rechnete, wobei er unausgesetzt die kurzen Beinchen bewegte und sich
+nicht selten mit den Händen durch das schwarze, strähnige Haar fuhr. Die
+andern sechs aber arbeiteten draußen in der glühenden Sonne, um erst am
+Abend zu den Zelten zurückzukehren. In den Stunden, wo sie dann am
+Strande lagen und auf das Meer hinaussahen, war manch ein gewichtiges
+Wort gefallen.
+
+Jakob Silberland hatte viel zu tun: die gesamte Korrespondenz lag in
+seinen Händen, ebenso die Buchführung und die Verwaltung der Gelder. Er
+hatte die wöchentliche Verbindung mit Sidney durch einen kleineren
+Dampfer der »Australisch-Neu-Seeländischen Transport-Gesellschaft«
+zustande gebracht, und jetzt galt es für ihn, auf eine geraume Zeit
+hinaus den Bedarf an Geräten, Baumaterial und anderen Dingen
+vorauszusehen und geschickt auf die einzelnen Wochen zu verteilen, damit
+der Verkehr sich für die Gesellschaft lohnte.
+
+Von diesen schwierigen Berechnungen bereitete die schwerste und
+verantwortungsvollste Arbeit - die Verwaltung der Gelder - Jakob
+Silberland den geringsten Kummer. Es war beschlossen worden, eine in
+fünfzehn Jahren zu amortisierende, dreiprozentige innere Anleihe in der
+Höhe von einer Million Mark aufzunehmen. In fünf Jahren hofften sie, mit
+dem größten Teile der Bauten und Anlagen fertig zu sein und wollten dann
+die Anleihe jährlich mit hunderttausend Mark amortisieren. Besondere
+Bestimmungen verhinderten den Handel mit diesen Papieren, um keinem
+Außenstehenden auch nur den geringsten Einfluß zu erlauben. Herr von
+Rochow und Paul Seebeck hatten ihr ganzes Vermögen - eine halbe Million
+und zweihundertfünfzigtausend Mark - in diesen Papieren angelegt, Otto
+Meyer konnte fünfzigtausend beisteuern, und Edgar Allan zwanzigtausend.
+- Jakob Silberland, Nechlidow und Melchior besaßen nichts, konnten also
+auch nicht die fehlenden hundertachtzigtausend aufbringen, etwas, was
+Jakob Silberland in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer sehr
+bedauerte. Bis jetzt war nämlich das Kapital nur in ganz geringem
+Umfange angegriffen, und der weitaus größte Teil des Geldes lag mit
+sechsmonatlicher Kündigung in der Filiale der »Deutschen Bank« zu
+Sidney, wo es viereinhalbes Prozent trug; die Anleihe konnte also auch,
+solange sie nicht verbraucht war, als eine werbende betrachtet werden,
+die anderthalb Prozent Überschuß im Jahre erbrachte.
+
+Aber Jakob Silberland war praktisch und fand einen Weg, um die
+Unterbringung der restlichen hundertachtzigtausend Mark der Anleihe zu
+erzwingen. Es war nämlich festgesetzt worden, daß alle Staatsarbeiter -
+und das waren ja vorläufig alle sieben Gründer - ein jährliches Gehalt
+von fünftausend Mark beziehen sollten. Die spätere, erweiterte
+Gemeinschaft mochte diese Bestimmung bestätigen, abändern oder umstoßen;
+sie galt vorläufig nur für das erste Jahr.
+
+Da jetzt von getrenntem Haushalt noch keine Rede sein konnte, wurden die
+Notdürfte des Lebens gemeinsam bezogen und entsprechend vom Gehalte
+abgezogen. Der Rest sollte bar ausgezahlt werden. Jakob Silberland
+setzte aber durch, daß nur die Hälfte dieses Geldes bar ausgezahlt
+wurde, die andere Hälfte aber in jenen Anleihepapieren, von denen zu
+diesem Zwecke die in Frage stehenden hundertundachtzigtausend Mark in
+Scheinen von je hundert Mark ausgegeben wurden. Sogar gegen den
+Zinsverlust in der Zeit vor Unterbringung der ganzen Summe verstand
+Jakob Silberland die Staatskasse zu schützen, indem er diese Papiere
+nicht zum Nominalwert, sondern mit einem jährlichen Aufschlage von
+anderthalb Prozent ausgab.
+
+Inzwischen arbeiteten die anderen in der heißen Sonne. Ihre erste Sorge
+galt der Zuführung von Trinkwasser, dessen tägliche Herstellung im
+Destillationsapparate zu langwierig war. Man verzichtete vorläufig auf
+die Herstellung einer wirklichen, unterirdischen Wasserleitung, begnügte
+sich vielmehr damit, den kleinen Bach durch Spalten und Rinnen in die
+Bucht zu leiten, wobei zwar ziemlich viele Sprengungen, aber nur wenig
+Mauerungsarbeiten notwendig waren. In den folgenden Wochen arbeitete
+Edgar Allan an dem Stadtplane, während die anderen fünf kleinere, aber
+notwendige Arbeiten ausführten. Es war beschlossen worden, sofort nach
+der Fertigstellung von Allans Plänen an den Häuserbau zu gehen, und zwar
+sollten die Häuser in der Reihenfolge gebaut werden, in der die Gründer
+sich endgiltig zur Übersiedelung auf die Insel bereit erklärt hatten.
+
+
+
+
+Die Sonne war untergegangen, und schon wenige Minuten später umhüllte
+tiefe Nacht die Insel. Nur wenn eine Welle sich am Strande brach,
+leuchtete für eine Sekunde grünlich-weiß der Gischt auf.
+
+Die Sieben lagen, des starken Nachttaues wegen in leichte Decken
+gehüllt, schweigend um das Feuer, das sie der Stimmung wegen entzündet
+hatten, und sahen zum strahlenden Sternenhimmel empor.
+
+Keiner sprach ein Wort.
+
+Viertelstunde auf Viertelstunde verrann; unbeweglich lagen die Männer
+da, nur ihre Gedanken arbeiteten bei dem ewigen Rhythmus des
+Wellenschlages.
+
+Endlich setzte Melchior sich auf. Mit zusammengezogenen Brauen starrte
+er vor sich hin, und das leise flackernde Feuer ließ seine scharfen Züge
+unheimlich erscheinen. Nach einer Weile hob er den Kopf und sagte zu
+Paul Seebeck:
+
+»Herr Seebeck, darf ich auf jenes Gespräch zurückkommen, das wir vor
+mehreren Monaten in Berlin führten?«
+
+Seebeck drehte sich halb herum und sah ihn fragend an. Seine Rechte
+spielte mit einigen Kieseln.
+
+Melchior sagte:
+
+»Unser Gespräch fing so an: ich fragte Sie, weshalb man nicht die
+Menschen ohne weiteres hier hersetzen könnte, damit sich die langsam
+entstehende Gemeinschaft selbst jenen absoluten Staat aufbaue, den wir
+hier künstlich schaffen wollen. Sie antworteten, daß die Menschen so
+vieles zu vergessen hätten, bevor sie reif würden, Sie gebrauchten das
+Wort Masseninstinkte - erinnern Sie sich noch?«
+
+Paul Seebeck nickte. Nechlidow, der an der anderen Seite des Feuers lag,
+war aufgestanden und hatte sich dicht neben Melchior gesetzt. Dieser
+fuhr fort:
+
+»Ich habe darüber nachgedacht und habe zunächst folgende Formel
+gefunden: Sie wollen die tierischen Masseninstinkte durch das
+menschliche Massenbewußtsein ersetzen.«
+
+Paul Seebeck nickte und hörte auf, mit den Steinchen zu spielen.
+Nechlidow beugte sich mit offenem Munde und glänzenden Augen weit
+vornüber. Edgar Allan aber sagte gleichmütig im Hintergrunde:
+
+»Glauben Sie denn wirklich, daß das geht? Wir, die etwas besonderes zu
+sagen haben, haben die Pflicht, uns die besten Bedingungen zu schaffen,
+um das Betreffende zu sagen und können dann mit gutem Gewissen abtreten.
+Denn wir erleben doch nicht, daß die Masse uns versteht; in manchen
+Fällen geschieht es später - meistens wohl überhaupt nicht. Aber wir
+haben die Pflicht, das zu geben, was wir geben können, gleichgiltig, ob
+es genommen wird oder nicht. Auf die Masse warten können wir aber nicht.
+Dazu ist unsere Zeit zu kostbar. Wir müssen es ihr anheimstellen, ob sie
+uns nachhumpeln will oder nicht. Die Geschichte machen wir und nicht die
+Masse.«
+
+Verlegenes Schweigen folgte diesen Worten. Seebeck griff wieder nach
+seinen Steinchen. Jakob Silberland sagte:
+
+»Nein, Herr Allan, Sie begehen den Fehler, überhaupt einen Unterschied
+zwischen Führern und Masse zu konstruieren. Das geht nicht. Ich will
+damit nicht nur sagen, daß es sich hier nur um graduelle, niemals
+prinzipielle Unterschiede handeln kann, da es so unzählige Gebiete gibt,
+auf denen irgend jemand führt; soziale, politische, religiöse,
+literarische, vegetarische, alkoholgegnerische und weiß Gott noch was
+für Führer gehören auf jedem anderen Gebiete wieder zu der geführten
+Masse; es handelt sich also immer nur um eine partielle, niemals um eine
+absolute Führerstellung, und erst die Resultante aller dieser großen
+und kleinen Bewegungen stellt die Geschichte der Menschheit dar,
+sondern -«
+
+Er stand auf und hob dozierend einen Finger:
+
+»Daß die Mitglieder eines heutigen Staates vollständig, die Mitglieder
+der ganzen Menschheit zum großen Teile, dasselbe sind, was die einzelnen
+Teile eines Korallenriffs, die einzelnen Zellen im menschlichen Körper
+sind: Glieder eines größeren Individuums, die durch die Arbeitsteilung
+und die darin liegende Verzichtleistung auf universelle Tätigkeit, als
+Ganzes mehr zu vollbringen vermögen, als das Einzelwesen kann. Kurz und
+gut, wir leben eigentlich schon im sozialistischen Zukunftsstaate, nur
+daß die Staatsformen, der äußere Ausdruck der inneren Organisation,
+immer um einige hundert Jahre zurück sind, ebenso wie der jeweilige
+Stand der Orthographie immer die gesprochene Sprache vor einigen hundert
+Jahren darstellt. Alles Unglück kommt aus dieser Inkongruenz von Form
+und Inhalt - und die wollen wir ja hier abschaffen, indem wir die
+Staatsform einige hundert Jahre Entwicklung überspringen lassen und sie
+genau dem gegenwärtigen Stande der menschlichen Organisation anpassen.«
+
+»Sind die Staatsformen wirklich im Rückstande?« mischte sich Herr von
+Rochow ins Gespräch. »Ich möchte lieber sagen, daß sie eine viel
+vorgeschrittenere, gleichsam idealisierte Menschheit voraussetzen.
+Denken Sie doch an das Institut der Ehe, das die Monogamie voraussetzt,
+die es doch praktisch so gut wie gar nicht gibt.«
+
+Jetzt sprang Melchior auf und streckte flehend die Arme aus. Er rief:
+»Nicht mehr, ich flehe Sie an, heute Abend nicht mehr! Ich sehe jetzt,
+wo das Problem liegt - lassen Sie mir nur etwas Zeit!«
+
+Verwundert und ein wenig gekränkt sahen die anderen ihn an. Seine
+Erregung war aber so echt, seine Stimme so flehend, dabei seine magere
+Gestalt im Feuerscheine so grotesk, daß sich der Ärger bald in Achtung
+und Mitleid verwandelte. Doch hätte die Situation peinlich werden
+können, hätte Otto Meyer sie nicht aufgelöst. Er sagte nämlich
+gemütlich:
+
+»Ja, Kinder, was strengt ihr euch unnötig an, wenn Herr Melchior so
+liebenswürdig ist, alle Denkarbeit für uns zu übernehmen, und für die
+endgiltige Lösung aller Weltprobleme garantiert.«
+
+Alle lachten; nur Melchior hatte nichts gehört. Mit gekrümmtem Rücken
+saß er da und starrte vor sich hin.
+
+Nach einer kleinen Pause sagte Edgar Allan:
+
+»Wir wollen also von der Theorie auf die Praxis übergehen. Ich bin
+nämlich heute mit meinem Stadtplan fertig geworden. Wir können morgen
+vielleicht einen kleinen Rundgang durchs Gelände machen, und ich kann
+Ihnen dann genau erklären, wie ich alles meine. Ich habe natürlich
+versucht, die Natur so genau wie möglich zu verstehen und sie ihrer
+eigenen Struktur entsprechend auszubauen. Die Stadt soll sich der
+Bildung der Felsen eng anschließen; sie darf ja kein Fremdkörper auf der
+Insel sein, sondern ein organischer Teil von ihr, ihre Blüte. Na, das
+sind ja Gemeinplätze«, sagte er aufstehend, »aber ich habe auch einige
+gute Ideen gehabt. In der Sohle unserer Mulde möchte ich die Hauptstraße
+haben, die alle Terrassen verbindet und dann vielleicht später weiter
+auf das Hochland geführt wird. Die achte große Terrasse - Sie wissen,
+die breite, hinter der die Steigung so viel steiler wird, so daß die
+Straße dort in starken Serpentinen weitergeführt werden müßte - möchte
+ich den öffentlichen Gebäuden vorbehalten, einem Volkshause für
+Versammlungen und ähnlichen Dingen.
+
+Am Strande, in der Richtung auf die Irenenbucht zu, könnte eine
+einreihige Straße von Fischerhäuschen liegen; dort rechts, wo die Wand
+ziemlich steil ist, wäre nur Platz für einige, wenige Häuser. Das ist
+eine ganz ideale Stelle für Sonderlinge, die von dort aus höhnisch auf
+die Stadt hinabsehen wollen. Auf solche Käuze müssen wir ja auch
+vorbereitet sein. Vielleicht beschließt sogar einer von uns sein Leben
+dort.«
+
+»Aber jetzt will ich Ihnen meine Hauptgedanken sagen, meine Herren«,
+fuhr er lebhaft fort. »Sehen Sie, der Bach wird auf absehbare Zeit
+hinaus für die Wasserzufuhr völlig ausreichen. Wir müssen aber den
+ganzen Fluß herunter bringen, denn dann können wir hier im Laufe einiger
+Jahre eine Vegetation schaffen, wozu die Natur viele hundert Jahre
+brauchen würde. Und das Überspringen von Zeiträumen ist ja unsere
+Hauptbeschäftigung hier. Die Sache läßt sich ausgezeichnet machen. Ich
+habe alles ganz genau geprüft. Der Fluß muß zunächst in das tiefe Becken
+geleitet werden, das auch sicher früher einen See beherbergt hat - falls
+Seebecks Theorie richtig ist, daß die Insel nur vorübergehend unter das
+Meer gesunken ist. Ebenso sicher ist natürlich auch diese Mulde das
+frühere Flußtal.
+
+Der Wall, der das Becken gegen unser Tal abschließt, ist durchgängig
+höher, als der zum Meere. Besser könnte die Sache überhaupt nicht
+liegen, denn so hat das Staubecken ein natürliches Sicherheitsventil.
+Wir brauchen niemals eine Überschwemmung der Stadt zu befürchten, denn
+das überschüssige Wasser wird immer gleich ins Meer stürzen. Wir müssen
+nur ziemlich tief im Becken eine große Röhre anbringen, die den Wall in
+der Richtung auf die Stadt zu durchbohrt. Dann haben wir, unabhängig von
+dem jeweiligen Wasserstande des Staubeckens, einen gleichmäßigen
+Wasserstrom.
+
+Oben, bei der Terrasse, die ich für die öffentlichen Gebäude reservieren
+will, soll sich der Fluß dann teilen. Der Hauptarm soll der Hauptstraße
+folgen; ich will aber unzählige, kleine Bäche von ihm ableiten, so daß
+fast jedes Haus an fließendem Wasser liegt. - Natürlich wird das
+Trinkwasser davon unabhängig in geschlossenen Röhren geleitet. - So gut
+wie alle Häuser werden ja auf kleinere oder größere Terrassen zu liegen
+kommen, also auf wagerechten Grund. Mit Hilfe des Wassers können wir
+nicht nur öffentliche Anlagen schaffen, sondern jedes Haus kann seinen
+Garten haben. Ich denke dabei nicht nur an die Schönheit, sondern
+besonders an die Regulierung der Atmosphäre.
+
+Wenn wir auf Kloaken verzichten und alle Abfälle den Gärten zugute
+kommen lassen, haben wir schon etwas; aber das genügt vorläufig nicht.
+Wir müssen vielmehr einen ganz energischen Anfang machen. Ich schlage
+einfach vor, irgend eine recht schwere, fruchtbare Lehmerde aus
+Australien hierher transportieren zu lassen und damit die Gartenflächen
+etwa einen Meter hoch zu bedecken. Wenn wir uns dann Bäume mit recht
+starken, tiefgehenden Wurzeln pflanzen, werden die dann schon eine
+allmähliche Lockerung des Bodens besorgen. Es gibt ja Bäume, die
+eigentlich nur einen Halt in einer dünnen Humusschicht brauchen, und
+ihre Kraft aus dem Felsen selbst ziehen: manche Nadelhölzer, auch
+Birkenarten. Das alles müßte natürlich mit einem großzügigen Gärtner
+besprochen werden.
+
+Meine Skizzen zu den Häusern selbst werde ich Ihnen morgen zeigen. Ich
+glaube, jetzt den richtigen Stil gefunden zu haben. Ich habe eine stark
+betonte Horizontale mit flachen Kurven verschmolzen - na ja, das alles
+morgen.
+
+Aber jetzt möchte ich noch etwas sagen: es ist ein schöner Gedanke, hier
+alles aus eigenen Kräften auszuführen; aber eigentlich ist es doch nur
+eine unpraktische Sentimentalität. Wir verschwenden Zeit und Kraft auf
+Dinge, die jeder Kuli machen könnte. Sollten wir nicht lieber einige
+hundert Arbeiter aus Sidney kommen lassen, um diese rein körperlichen
+Arbeiten für uns auszuführen? Dann kämen wir doch viel schneller
+vorwärts. Es ist nur ein Vorschlag -«
+
+Nechlidow sprang auf:
+
+»Nein, nein«, rief er. »Keine Kompromisse! Damit finge die Lüge an, die
+alles durchsetzen würde. Wir müssen unseren Prinzipien treu bleiben.
+Solche scheinbar - und nur scheinbar - praktische Erwägungen haben die
+große Unwahrheit in die Welt hineingebracht. Wenn unser Leben hier einen
+Zweck hat, so ist es der, zu beweisen, daß das strenge Festhalten am
+großen Gedanken, am Menschheitsgedanken auch praktisch am weitesten
+führt.«
+
+»Ich erlaubte mir nur einen Vorschlag«, antwortete Edgar Allan höflich.
+»Da er auf Widerspruch stößt, ziehe ich ihn hiermit zurück.«
+
+Das Feuer war bei Allans Rede langsam zusammengesintert; jetzt war es
+nahe am Verlöschen, aber niemand dachte daran, es wieder anzufachen. In
+ihre Decken gehüllt, lagen die Sieben schweigend da und sahen zum
+glänzenden Sternenhimmel empor.
+
+
+
+
+Als der Tag sich jährte, an dem die sieben Gründer die Insel betreten
+hatten, lag die »Prinzessin Irene« in vollem Flaggenschmuck vor der
+Bucht. Als die Hochflut kam und die Klippen bedeckte, schleppten die
+beiden zierlichen Dampfbarkassen schwere Boote mit Menschen und
+Hausgerät ans Land. Auf der improvisierten Landungsbrücke standen Paul
+Seebeck und Melchior und begrüßten die Ankömmlinge, während die anderen
+Fünf eifrig damit beschäftigt waren, ihnen Unterkunft in den großen
+Schuppen und Zelten zu bereiten, die zu diesem Zwecke errichtet waren.
+Denn die Häuser mußten ja erst gebaut werden und zwar in derselben
+Reihenfolge, in der die endgiltigen Erklärungen eingelaufen waren.
+
+Dreihundertfünfzig erwachsene Personen trafen an diesem Tage ein:
+tüchtige Handwerker mit gesetzten Gesichtern, Kaufleute, die aus irgend
+einem Grunde nicht vorwärts gekommen waren und nicht wenige
+unbestimmbaren oder unsicheren Berufes, die erst hier ihr wirkliches
+Vaterland wußten. -
+
+Es ergab sich von selbst, daß die sieben Gründer nicht mehr wie früher
+selbst Hand an alle Arbeit legen konnten: Organisation und Leitung nahm
+ihre Zeit und ihre Kräfte völlig in Anspruch. Hauptmann a. D. von Rochow
+übernahm die Leitung beim Bau der Straße und der öffentlichen Anlagen;
+Edgar Allan hatte Tag und Nacht als Architekt zu tun; Otto Meyer hatte
+einen Teil von Jakob Silberlands Tätigkeit übernommen, der nur noch die
+Rechnungssachen versah, und Paul Seebeck hatte mit der Oberleitung und
+persönlicher Inanspruchnahme durch die Kolonisten mehr als genug zu tun.
+Nechlidow und Melchior wären den andern als Assistenten willkommen
+gewesen; beide erklärten aber ein für allemal, daß sie einfache Arbeiter
+bleiben wollten.
+
+Bei der fieberhaften Tätigkeit entstand schnell Haus auf Haus, und froh
+vertauschte man Schuppen oder Zelt mit dem festen Dache. Damit wurden
+auch immer mehr Kräfte frei, so daß in immer größerem Maßstabe an den
+Straßen und den öffentlichen Gebäuden gearbeitet werden konnte. Die
+Wasseranlage wurde nach Edgar Allans Plänen durchgeführt, und die
+Dampfer der »Australisch-Neu-Seeländischen Transportgesellschaft« mußten
+halbwöchentlich verkehren und konnten doch kaum die Masse des benötigten
+Materials bewältigen.
+
+Jedesmal, wenn die »Prinzessin Irene« vor der Bucht hielt, brachten
+ihre Boote Dutzende von neuen Ansiedlern auf die Insel.
+
+Als das Jahr verflossen war, stand die Stadt da.
+
+
+
+
+Auf den amphitheatralisch ansteigenden Bänken in der großen,
+flachgewölbten Halle des Volkshauses saßen dreihundertfünfzig Männer und
+Frauen und hinter ihnen drängten sich wohl zweihundert auf den Tribünen.
+An einem langen Tische auf einem kleinen Podium im Brennpunkte des
+Kreisbogens saßen die sieben Gründer.
+
+Nicht zum ersten Male waren die Glieder der Gemeinschaft hier
+versammelt; aber doch zeigten alle Gesichter einen seltsamen Glanz. Vor
+zwei Jahren hatten an diesem Tage die sieben Gründer die Insel betreten,
+und heute waren dreihundertfünfzig Männer und Frauen vollberechtigte
+Bürger geworden. Sie waren heute hier versammelt, um zum ersten Male
+ihre Rechte auszuüben.
+
+Paul Seebeck erhob sich von seinem Stuhle, und sofort trat atemlose
+Stille ein. Er richtete sich hoch auf, warf einen langen Blick über die
+Versammlung und lächelte glücklich. Dann sagte er:
+
+»Meine Damen und Herren!
+
+Im Namen meiner Freunde heiße ich Sie hier willkommen! In der
+gemeinsamen Arbeit dieses Jahres haben wir Werte geschaffen, die uns
+und unsere Enkel überdauern werden. Wir danken Ihnen für Ihre treue
+Mitarbeit.
+
+Bis jetzt sind wir sieben Ihre Führer gewesen, nicht aus Hochmut oder
+Herrschsucht, sondern nur, weil wir anfangs eine größere Sachkenntnis
+hatten.
+
+Jetzt legen wir unsere Mandate in Ihre Hände. Sie mögen prüfen, was Sie
+von den Bestimmungen, die wir getroffen haben, beibehalten wollen und
+was nicht. Vorbehaltlos übergeben wir Ihnen unsere Rechte und Pflichten.
+
+Bevor wir in die Verhandlungen eintreten, müssen wir einen Vorsitzenden
+haben. Als den in solchen Dingen gewandtesten erlaube ich mir, Herrn Dr.
+Silberland vorzuschlagen. Es wird kein anderer Vorschlag laut - also
+bitte ich Herrn Dr. Silberland, den Vorsitz dieser Versammlung zu
+übernehmen.«
+
+Ein erstauntes und verschwommenes Gemurmel wurde laut, als die sechs vom
+Podium herunterschritten und auf der vordersten Bank Platz nahmen.
+
+Jakob Silberland war der Situation durchaus gewachsen; er gab ein kurzes
+Glockenzeichen und sagte:
+
+»Sie werden mir ein Wort des Dankes an Herrn Seebeck erlauben. Ich weiß,
+daß ich im Sinne der ganzen Versammlung spreche, wenn ich sage: in
+diesem Augenblicke, wo Herr Seebeck aufgehört hat, unser offizieller
+Führer zu sein, wollen wir ihm versichern, daß er immer und ewig unser
+geistiger Führer bleiben wird. Denn wir wissen alles, was wir ihm
+schulden: seine Initiative, seine Energie, sein praktischer Blick, sein
+Glaube an den Menschen haben die Errichtung des stolzen Werkes
+ermöglicht, das wir hier vor uns sehen. Und wenn wir alle längst im
+Grabe liegen, wird der Name Paul Seebeck für immer mit goldenen
+Buchstaben im Buche der Menschheit stehen.«
+
+Zögernd hatten sich die Versammelten erhoben; Paul Seebeck war sitzen
+geblieben und starrte in tötlicher Verlegenheit vor sich hin. Jakob
+Silberland sah einen Augenblick lang auf die stehende Versammlung und
+wußte augenscheinlich nicht recht, was er mit ihr anfangen sollte.
+Hilfesuchend sah er Otto Meyer an, der nur mit größter Mühe ein Lachen
+herunterschluckte. Herrn von Rochows Gesicht strahlte. Er ging zu Paul
+Seebeck und drückte ihm die Hand.
+
+Plötzlich bekam Jakob Silberland einen rettenden Gedanken; er griff zur
+Glocke, läutete kurz und sagte, während die Versammlung sich
+geräuschvoll wieder setzte:
+
+»Ich ersuche jetzt Herrn Seebeck als ersten, einen Überblick über die
+verflossenen zwei Jahre zu geben.«
+
+Paul Seebeck trat mit einigen schnellen Schritten auf das Podium und
+sagte:
+
+»Was hier geschehen ist und was wir hier wollen, wissen Sie ja alle, und
+ich brauche nicht mit feierlichen Worten darauf einzugehen. Was ich
+getan habe, glaube ich verantworten zu können.
+
+Nur auf einen Punkt möchte ich hinweisen: ich bin, wie Sie ja alle
+wissen, Reichskommissar mit den Rechten und Pflichten eines solchen. Ich
+habe aber vom Reichskolonialamt die Ermächtigung erwirkt, mein Amt einem
+andern, das heißt, meinem jetzt zu wählenden Nachfolger zu übertragen.
+Sobald die Wahl vor sich gegangen ist, werde ich es tun. Ich deponiere
+hier beim Vorsitzenden der Versammlung eine unterzeichnete und datierte
+offizielle Benachrichtigung an das Reichskolonialamt, wo nur noch der
+Name des neuen Reichskommissars auszufüllen ist.«
+
+Er verbeugte sich kurz und ging zu seinem Platze zurück.
+
+Jakob Silberland gab ein Glockenzeichen und sagte:
+
+»Da ich jetzt selbst das Wort ergreifen möchte, um über die Verwaltung
+der öffentlichen Gelder Rechenschaft abzulegen, bitte ich um Erlaubnis,
+den Vorsitz so lange an Herrn Referendar Meyer abzutreten. - Da kein
+Widerspruch erfolgt, tue ich es hiermit. - Herr Referendar, darf ich
+bitten.«
+
+Otto Meyer schritt gravitätisch auf das Podium und flüsterte Jakob
+Silberland zu:
+
+»Na, Sie werden staunen: zunächst werde ich mal die ganze Zeit durch
+bimmeln, dann kriegen Sie drei Ordnungsrufe, und ich fordere Sie auf,
+den Saal zu verlassen.«
+
+Jakob Silberland sah ihm erschreckt ins Gesicht:
+
+»Um Gotteswillen -«
+
+Er kam nicht weiter, denn Otto Meyer läutete und sagte:
+
+»Herr Dr. Jakob Silberland hat das Wort.«
+
+Jakob Silberland suchte stehend allerhand Papiere zusammen, die auf dem
+Tische lagen und sagte:
+
+»Ich kann jetzt natürlich nur in großen Zügen ein Bild von der
+finanziellen Lage geben; ich werde Sie später bitten, eine Kommission zu
+wählen, um meine Bücher in allen Einzelheiten nachzuprüfen.
+
+Wir sind, wie Sie wissen, mit einer dreiprozentigen inneren Anleihe in
+der Höhe von einer Million Mark belastet. Dieses Geld hat uns, solange
+es noch teilweise auf der Bank lag, einen Zinsenüberschuß von
+zehntausendachthundertdreiundfünfzig Mark und einundsiebzig Pfennigen
+gebracht.
+
+Wir haben zweihundertachtunddreißig Schildkröten verkauft. Sie wissen
+ja, daß wir nach dem Urteile der Sachverständigen dazu gezwungen waren,
+da der Platz für die Tiere nicht ausreichte, und sie sonst einfach
+fortgewandert wären. Dafür haben wir die Summe von fünf Millionen,
+achthundertsechsundvierzigtausend siebenhundert und einundzwanzig Mark
+und elf Pfennigen eingenommen. Wir hatten also sechs Millionen
+achthundertsiebenundfünfzigtausend fünfhundertvierundsiebzig Mark
+zweiundachtzig Pfennig bares Geld zur Verfügung.
+
+Unsere Ausgaben waren folgende: Gehälter: abzüglich der Mietsbeträge
+eine Million siebenhundertachtunddreißigtausend fünfhunderteinundzwanzig
+Mark. Hausbau: drei Millionen achthundertsiebenundfünfzigtausend
+einhundertachtundsechzig Mark und zweiundvierzig Pfennige. Straßenbau,
+Anlage des Bewässerungssystems, Trinkwasserleitung, Hafenanlagen, Erde
+haben zusammen zwei Millionen, sechshunderttausend vierhundertachtundneunzig
+Mark sieben Pfennige gekostet. Verschiedenes kostete zusammen
+zweihundertachttausend neunhundertdreizehn Mark, neunundzwanzig
+Pfennige. Unsere gesamten Ausgaben betrugen also: acht Millionen,
+vierhundertfünftausend einhundert Mark und achtundsiebzig Pfennige. Wir
+schließen diese zweijährige Periode mit einem Defizit von anderthalb
+Millionen, siebenundvierzigtausend fünfhundertfünfundzwanzig Mark und
+sechsundneunzig Pfennigen ab.
+
+Hierzu ist zu bemerken, daß wir dieses Defizit ja jeden Tag aus der
+Irenenbucht decken können; vielleicht sind wir sogar gezwungen, noch
+hundert Schildkröten herauszunehmen, um einen geordneten Zuchtbetrieb
+möglich zu machen. Dann, daß wir in diesen zwei Jahren einen großen Teil
+der Stadtanlage ausgeführt haben, so daß wir in der Zukunft nur einen
+geringen Posten dafür aufzuwenden haben werden. Dann, daß das für den
+Hausbau aufgewendete Geld sich mit neun Prozent verzinst. Die jährliche
+Miete beträgt zwar zehn Prozent der Baukosten, doch stellen wir ein
+Prozent für einen Reparaturfond zurück. Trotz dieses Defizits ist unsere
+finanzielle Stellung also sehr günstig.«
+
+Jakob Silberland setzte sich, und Otto Meyer verließ das Podium. Im
+Hinunterschreiten flüsterte er Jakob Silberland zu:
+
+»Bis an mein Lebensende werde ich nicht begreifen, weshalb ich hier
+heraufkrabbeln mußte. Aber wundervoll war es da oben.«
+
+Jetzt erhielt Edgar Allan das Wort. Er kniff die Lippen zusammen und
+blickte über die Köpfe der Versammlung weg. Er sagte:
+
+»Was ich gemacht habe, kann jeder Mensch sehen; ich hoffe, den hier
+vorherrschenden Geschmack getroffen zu haben. Jedenfalls habe ich alles
+getan, was in meinen Kräften stand.«
+
+Jakob Silberland stand auf, gab wieder ein Glockenzeichen und sagte:
+
+»Wünscht jemand aus der Versammlung das Wort? - Nicht? - Dann können wir
+zur Wahl schreiten. Hierzu ist zu bemerken, daß sich bis jetzt die
+Notwendigkeit von fünf Ämtern ergeben hat und zwar der folgenden: eines
+Vorstehers der Gemeinschaft, eines Schriftführers, eines
+Geschäftsführers, eines Architekten und eines Leiters der öffentlichen
+Anlagen. Zunächst wäre die Frage zu entscheiden, ob diese Ämter in der
+bisherigen Form weiterbestehen sollen. Weiterhin kann ich mitteilen, daß
+die bisherigen Inhaber dieser Ämter die bisher geltenden Bestimmungen
+zusammengefaßt haben. Ihre Nachfolger hätten dazu Stellung zu nehmen und
+ihre eventuellen Änderungsvorschläge der Versammlung zu unterbreiten.
+Ich erlaube mir daher, folgende Geschäftsordnung vorzuschlagen: zunächst
+erfolgt die Feststellung der Ämter, dann die Wahlen zu ihnen. Die so
+gewählten neuen Beamten hätten Stellung zu den bisherigen Gesetzen zu
+nehmen und ihre eventuellen Änderungsvorschläge einer späteren
+Versammlung zur Beschlußfassung zu unterbreiten. Schlägt jemand eine
+andere Geschäftsordnung vor? - Nicht? - Dann schreiten wir zu Punkt
+eins: Debatte über die bisherigen Ämter. Wer wünscht das Wort hierzu?«
+
+Jetzt erhob sich endlich im Hintergrunde ein Mann und sagte grob:
+
+»Ich meine, daß alles gut war, wie es war, und daß dieselben Herren oben
+bleiben sollen, denn die verstehen es doch am besten.«
+
+Aller Augen hatten sich dem Redner zugewandt, der sich jetzt die Stirn
+eifrig mit einem roten Taschentuche rieb.
+
+Jakob Silberland mußte zweimal läuten, bis das beifällige Gemurmel
+verstummte; dann sagte er:
+
+»Der verehrte Herr Vorredner hat sich gleich zu den zwei ersten Punkten
+der Tagesordnung geäußert, und zwar schlägt er Beibehaltung der alten
+Ämter und Wiederwahl der bisherigen Beamten vor. Ist die Versammlung
+damit einverstanden, daß diese beiden Punkte gemeinsam behandelt
+werden?«
+
+Jetzt kam Leben in die Versammlung, und von allen Seiten ertönten
+Beifallsrufe und Zustimmungsäußerungen. Da richtete Jakob Silberland
+sich stolz auf und sagte:
+
+»Die ganz überwiegende Mehrheit wünscht die gemeinsame Behandlung beider
+Punkte. Ich stelle also den Vorschlag des Vorredners zur Abstimmung,
+die bisherigen Beamten zu ihren bisherigen Ämtern wieder zu wählen.«
+
+Jetzt wich die Schüchternheit von der Versammlung. Die Beifallsrufe
+bekamen einen fast animalischen Charakter. Es wurde geschrieen,
+geklatscht und getrampelt.
+
+Edgar Allan beugte sich zu Paul Seebeck und flüsterte ihm zu:
+
+»Sehen Sie, wie sie bei dem Gedanken aufleben, wieder unter die Peitsche
+zu kommen. Wie ein Alp hat die Vorstellung auf ihnen gelastet, daß sie
+frei wären.«
+
+Paul Seebeck seufzte und schwieg.
+
+Endlich war es Jakob Silberland gelungen, mit seiner Glocke den Lärm zu
+übertönen. Sein Gesicht strahlte vor Freude und Stolz.
+
+»Ich bitte diejenigen aufzustehen, die gegen den Vorschlag sind«, sagte
+er lächelnd. Und ebenfalls heiter lächelnd blieb die Versammlung sitzen.
+
+Auf einen Wink von Jakob Silberland kamen Paul Seebeck, Edgar Allan,
+Otto Meyer und Herr von Rochow wieder auf das Podium. Paul Seebeck
+begann mit niedergeschlagenen Augen zu sprechen:
+
+»Im Namen der anderen Herren danke ich Ihnen für Ihr Vertrauen. Die von
+dem Vorsitzenden vorgeschlagene und von Ihnen angenommene
+Geschäftsordnung bestimmt als nächsten Punkt die Vorlegung der bis
+jetzt bestehenden Gesetze samt unseren Vorschlägen. - Da wir der Lage
+der Dinge nach nicht nötig haben, uns mit dem fraglichen Materiale erst
+bekannt zu machen, können wir das jetzt gleich erledigen und brauchen
+keine spätere Versammlung dazu.«
+
+Jakob Silberland reichte ihm einige Papiere. Paul Seebeck blätterte
+etwas in ihnen und sah dann auf:
+
+»Ich will mir erlauben, das folgende Exposé vorzulesen, das wir sieben
+Gründer gemeinsam ausgearbeitet haben. Ich bitte, Änderungsvorschläge
+sofort vorzubringen, damit das, was unwidersprochen bleibt, als
+genehmigt angesehen werden kann. Ich möchte mir vorbehalten, in einigen
+Vorträgen oder in anderer Form die Gesetze vom rein-menschlichen
+Standpunkte aus zu erläutern - hier mögen sie rein praktisch angesehen
+werden.«
+
+Er schwieg einen Augenblick; dann hob er ein Blatt in die Höhe und las:
+
+»Die Gesetze der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel. - Erstens: Die
+Schildkröteninsel ist ein Teil des deutschen Kolonialbesitzes. Der
+jeweilige Vorsteher der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel ist in
+seiner Eigenschaft als Reichskommissar dem Staatssekretariat der
+Kolonien des Deutschen Reiches verantwortlich.
+
+»Es ist dies nur eine Formsache«, erläuterte er aufblickend, »unter der
+selbstverständlichen Voraussetzung, daß der jeweilige Reichskommissar
+nichts gegen die Interessen des deutschen Reiches unternimmt, hat er ja
+- vom Reiche aus - unbeschränkte Vollmacht.
+
+Zweitens: Nach einjährigem Aufenthalte erhält jeder Ansiedler und jede
+Ansiedlerin über einundzwanzig Jahre volles Bürgerrecht.
+
+Drittens: Die Versammlung aller Bürger erläßt alle Gesetze, besetzt
+Ämter, bestimmt Ausgaben und Einnahmen der Gemeinschaft; sie faßt alle
+Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit.
+
+Viertens: Der Gemeinschaft gehören folgende Dinge, die nie Privatbesitz
+werden können: der Grund und Boden mit Gebäuden, Gärten, Straßenanlagen,
+Wasser und Mineralien, dazu der Tierbestand der Irenenbucht. Häuser und
+Gärten, die dem Privatgebrauche bestimmt sind, werden verpachtet, wobei
+die jährliche Pacht zehn Prozent von den Bau- und Anlagekosten beträgt.
+Die Instandhaltung erfolgt auf Kosten der Gemeinschaft. Die Pacht ist
+unkündbar, solange der Pächter seinen Verpflichtungen nachkommt.
+
+Fünftens: Alle Beamten und Arbeiter der Gemeinschaft beziehen ein
+jährliches Gehalt von fünftausend Mark und werden auf mindestens ein
+Jahr angestellt.
+
+Sechstens: Schule, Krankenpflege, Alters- und
+Arbeitsunfähigkeitsunterstützung ist Sache der Gemeinschaft.
+
+Siebentens: Jeder Bürger hat das unbeschränkbare Recht der freien
+Meinungsäußerung. -
+
+Achtens -«
+
+Er hielt einen Augenblick inne und sah auf die Versammlung, die sich
+ganz still verhielt. Dann legte er die Papiere auf den Tisch und sagte:
+
+»Heute muß ein Schritt von großer Bedeutung unternommen werden. Bis
+jetzt sind wir alle Beamte gewesen; von heute ab ist es weder notwendig,
+noch wünschenswert. Wir brauchen vorläufig nur etwa ein Drittel der
+bisherigen Arbeitskräfte für den Dienst in der Gemeinschaft; die anderen
+zwei Drittel können sich jetzt freie Berufe ergreifen. Diejenigen, die
+auf ein weiteres Jahr im Dienste der Gemeinschaft stehen wollen, können
+sich später bei unserem Schriftführer, Herrn Otto Meyer, melden.«
+
+Er sah mit leuchtenden Augen geradeaus:
+
+»Ich bin kein Freund der Phrase. Aber ich darf wohl sagen, daß der
+heutige Tag in der Geschichte der Menschheit unvergeßlich bleiben kann.
+Helfen Sie mir dazu.«
+
+Und die Verhandlungen nahmen ihren Fortgang.
+
+
+
+
+Am Abend desselben Tages standen die sieben Gründer auf dem Balkon von
+Paul Seebecks Haus und sahen auf die Stadt hinunter. Wie leuchtende
+Perlenschnüre zogen sich die Reihen der Straßenlaternen durch das samtne
+Dunkel und zeigten hier deutlich, dort verschwommen die Silhouetten der
+Häuser. Und diese wiederum warfen aus ihren Fenstern einige scharfe und
+harte Lichtbündel in die Nacht.
+
+»Unsere Gründung«, sagte Herr von Rochow und bewegte wie segnend die
+Arme, »unser großes Kind, das wir geboren haben, und das so traut und
+doch wieder so fremd dort unter uns liegt. Ein eigener, lebendiger
+Körper.«
+
+»Und was sind wir in diesem Körper?« fragte Paul Seebeck, die Arme über
+der Brust verschränkt haltend.
+
+»Doch wohl das Gehirn«, sagte Nechlidow ruhig.
+
+»Und eben so fremd dem Körper, wie das Gehirn dem menschlichen Körper,
+der seine eigenen Wege geht, ohne sich um sein Gehirn zu kümmern«, fügte
+Edgar Allan hinzu.
+
+Melchior griff sich mit der Linken an die Stirn.
+
+»Der Körper lebt nach eigenen Gesetzen, kümmert sich nicht um das
+Gehirn, und die Menschheit ein Körper, ein lebendiger Körper, mit
+eigener Seele«, murmelte er. »Da liegt es ja!« schrie er auf.
+
+Otto Meyer schlug ihn begütigend auf die Schulter:
+
+»Nehmen Sie die Sache nur mit Ruhe. Sie brauchen die Welträtsel noch
+nicht heute abend zu lösen. Lassen Sie sich noch einige Tage Zeit. Die
+übrige Menschheit hat ja einige Tausend Jahre über sie nachgedacht, ohne
+sie zu lösen.«
+
+Melchior sah dem Spötter ins Gesicht. Am ganzen Leibe vor Erregung
+zitternd, sagte er:
+
+»Nicht die Welträtsel; aber das Problem des Menschen. Ich sehe jetzt, wo
+es liegt, sehe es klarer und klarer.«
+
+
+
+
+Gabriele, jetzt brauche ich Sie. Helfen Sie mir, die Menschen zur
+Freiheit zu erziehen. Sie wollen das Bewußtsein der Freiheit haben, aber
+wagen nicht, sie zu gebrauchen.
+
+Ich glaubte, die Elite der Menschen hier zu versammeln; ich sah die
+starken, freien Gesichter, die kühnen, rücksichtslosen Augen - und setzt
+man sie zusammen, wärmen sie sich wie eine Herde Schafe aneinander.
+
+Und wir sieben stehen draußen, unverstanden und unverstehend.
+
+Kommen Sie, die Mutter, kommen Sie und seien Sie ein Bindeglied zwischen
+uns und jenen, zwischen unserem Werke und unseren Gedanken.
+
+ Seebeck.
+
+
+
+
+Trotz des Regens war Paul Seebeck in seinem Motorboote zur »Prinzessin
+Irene« hinausgefahren, um Frau von Zeuthen noch am Deck zu begrüßen.
+
+Im Rauchsalon des Dampfers erwartete sie ihn mit ihren Kindern. Alle
+drei waren schon im Mantel.
+
+Als sie sich begrüßt und eine halbe Stunde zusammen geplaudert hatten,
+sagte Frau von Zeuthen:
+
+»Ich habe Ihnen wieder einen Menschen mitgebracht. Seien Sie lieb zu
+ihm, dann wird er wertvoll für Sie und Ihr Werk sein. - Felix, bitte
+Herrn de la Rouvière herzukommen.«
+
+Felix sprang hinaus. Paul Seebeck erhob sich und blieb erwartungsvoll
+stehen. Unwillkürlich zuckte er aber zusammen, als er Herrn de la
+Rouvière sah, denn dieser war ein Krüppel. Er war nicht größer wie ein
+achtjähriger Knabe und hatte auch das Gesicht eines solchen. Seine Beine
+waren dick und kurz, seine Arme und die schwarzbehaarten Hände aber wohl
+noch größer, als die eines erwachsenen Mannes. Er blieb bescheiden im
+Türrahmen stehen.
+
+Frau von Zeuthen sagte:
+
+»Seine Vorfahren hat der Pöbel aus Frankreich vertrieben, und derselbe
+Pöbel machte dem Urenkel das Leben in Deutschland unmöglich. Nur hat er
+sich andere Waffen gewählt, die aber nicht weniger verletzen. Bei Ihnen
+sucht er eine Heimat, Seebeck!«
+
+Seebeck trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand, die der Krüppel fast
+schmerzhaft fest drückte:
+
+»Seien Sie hier willkommen«, sagte er herzlich und sah ihm gerade ins
+Gesicht. Aber sein Lächeln erstarrte, als er in de la Rouvières Augen
+blickte. Sie schienen ihm plötzlich einen fast tierischen Ausdruck von
+Hunger zu bekommen. Aber im nächsten Augenblicke war dieser Ausdruck
+verschwunden, und der Krüppel stand wieder so bescheiden wie vorher da.
+
+Im Augenblick vermochte Paul Seebeck nicht mehr mit ihm zu sprechen; er
+wandte sich daher an Frau von Zeuthen, die zusammen mit ihren Kindern
+etwas in den Hintergrund getreten war, und sagte:
+
+»Darf ich Ihnen ein Amt anbieten, Gabriele? Ich kann doch wohl
+voraussetzen, daß Sie sich auch in äußerem Sinne nützlich machen
+wollen?«
+
+Frau von Zeuthen trat lächelnd heran:
+
+»Ich habe noch nie in meinem Leben ein Amt verwaltet. Vielleicht kann
+ich es hier. Wozu wollen Sie mich denn machen?«
+
+»Zur Archivarin«, sagte Paul Seebeck. »Bis jetzt hat die Sekretärin, die
+ich mir habe geben lassen, auch das Archiv verwaltet. Aber die Arbeit
+wird ihr zu viel, und außerdem paßt sie nicht recht dazu.«
+
+Gabriele dachte einen Augenblick nach; dann sagte sie:
+
+»Ich danke Ihnen und freue mich auf diese Arbeit. Ich kann jetzt nur
+unklar sehen, worin sie besteht, und die Dame wird mich erst in die
+Einzelheiten einführen müssen. Ich stelle es mir schön vor, im stillen
+Zimmer zu sitzen und das unbegreiflich große und bunte Leben durch die
+festen Formen zu ahnen, in denen es sich grob und kalt niedergeschlagen
+hat.«
+
+Paul Seebeck nickte ihr zu. Dann wandte er sich an Herrn de la Rouvière:
+
+»Und wie denken Sie sich Ihre Zukunft hier? Wünschen Sie einen freien
+Beruf zu ergreifen, oder denken Sie an ein Amt?«
+
+»Darf ich meine Zukunft nicht in Ihre Hände legen, Herr Seebeck?«
+antwortete der Krüppel und sah ihn treu und gut an.
+
+»Wenn Sie mir soviel Vertrauen schenken wollen«, erwiderte Paul Seebeck
+und sah ihm gerade ins Gesicht.
+
+»Aber was soll ich machen, Paul?« sagte Hedwig und ergriff
+einschmeichelnd seine Hand.
+
+»Du? Ich glaube, wir werden dich als Kindergärtnerin brauchen können;
+unser Erziehungswesen liegt überhaupt recht im argen und muß erst
+gründlich organisiert werden«, fügte er, zu Frau von Zeuthen gewandt,
+erläuternd hinzu. Dann sah er sich nach Felix um; aber dieser sagte
+nichts, starrte ihn aber mit seinen großen, glänzenden Augen unverwandt
+an.
+
+Frau von Zeuthen brach das sekundenlange Schweigen:
+
+»Wie steht's aber um die Dienstboten?«
+
+»Dafür haben wir gesorgt; die jungen Leute zwischen sechzehn und
+einundzwanzig sind verpflichtet, sich irgendwie nützlich zu machen.
+Unsere jungen Damen sind Dienstmädchen, Krankenpflegerinnen oder
+Kinderfräuleins, die Jungen sind Laufburschen oder Hilfsarbeiter. Dafür
+bekommen sie etwas Taschengeld. Sie sehen, wir haben auch unsere
+allgemeine Wehrpflicht. Dispens wird nur erteilt, wenn Lust und Begabung
+zu selbständiger Tätigkeit vorliegt.«
+
+»Und was machen Sie mit Ihren Verbrechern, Seebeck?« fragte Frau von
+Zeuthen wieder.
+
+»Verbrechen sind noch nicht vorgekommen und werden wohl auch nie
+vorkommen. Einige geringfügige Übertretungen haben wir mit Geldstrafen
+belegt. - Dagegen haben wir »bürgerliche Rechtsstreitigkeiten«, wie Otto
+Meyer sich ausdrückt, in überraschend großer Anzahl, und da standen wir
+vor einer Schwierigkeit. Es war eine starke Stimmung vorhanden, ein
+Gesetzbuch auszuarbeiten, oder wenigstens einen unserer Juristen als
+Richter einzusetzen. Ich wollte natürlich nicht ein starres, eiskaltes
+Gesetzbuch in unser flutendes Leben werfen, und ebensowenig einen
+unserer, in ihrem Fach trotz allem verknöcherten Juristen anstellen.
+Schließlich setzte ich durch, daß die Monatsversammlungen alle
+Streitigkeiten durch Beschluß entscheiden.«
+
+Frau von Zeuthen nickte und schwieg. Dann fragte sie:
+
+»Wo sollen wir eigentlich wohnen?«
+
+»Oh, dafür habe ich gesorgt,« antwortete Paul Seebeck schnell. »Ich habe
+Ihnen ein fünfzimmriges Haus reservieren lassen; wenn es Ihnen nicht
+gefällt, baue ich Ihnen ein anderes. Ich erlaubte mir, die
+ordnungsgemäße Reihe etwas zu durchbrechen«, fügte er lächelnd hinzu.
+
+Frau von Zeuthen drohte scherzend mit dem Finger:
+
+»Ihr Prinzip haben Sie durchbrochen? Diese Schandtat hätte ich Ihnen
+nicht zugetraut.«
+
+»Durfte ich Ihretwegen nicht eine Ausnahme machen?« gab Paul Seebeck
+zurück.
+
+»Aber was werden die andern dazu sagen?«
+
+»Die andern? Ach Gott, Gabriele, die Verwaltung bringt es mit sich, daß
+wir so viele Dinge selbständig machen müssen - nachträglich wird dann
+alles gut geheißen.«
+
+»Aber doch nicht, wenn Sie die grundlegenden Prinzipien verletzen.«
+
+»Doch nur den Buchstaben, nicht den Sinn. - Ich scheue mich nicht ein
+Prinzip zu verletzen, wenn ich mir dadurch endlose Umwege spare und auf
+kürzerem Wege gerade das Ziel, den Sinn jenes Prinzips erfülle.«
+
+»Aber betreten Sie damit nicht einen gefährlichen Boden? Wäre es nicht
+vielleicht doch besser, jene Umwege zu machen?«
+
+»Nicht so lange ich so genau weiß, was ich will, und so klar mein Ziel
+vor Augen sehe. - Und hier liegt die Sache ja so klar: Ihre Mitarbeit
+ist für uns alle so ungeheuer wichtig, daß es meine Pflicht ist, Ihnen
+so schnell wie möglich volle Arbeitsmöglichkeit zu schaffen. Ob Fischer
+Petersen einige Wochen länger in der Baracke leben muß, erscheint mir,
+dagegen gehalten, als von geringerer Bedeutung.«
+
+»Wenn aber Fischer Petersen sein Recht verlangt?«
+
+»Wenn er es doch täte, Gabriele! Helfen Sie mir, ihn dazu zu erziehen!
+Und auch Sie, Herr de la Rouvière, müssen mir dazu helfen.«
+
+
+
+
+»Fräulein Erhardt«, meldete das Dienstmädchen, und Frau von Zeuthen
+erhob sich vom Divan, auf dem sie in halb liegender Stellung ein Buch
+gelesen hatte.
+
+Ein dunkellockiges Mädchen mit schwarzen, träumerischen Augen trat ein.
+Sie trug ein loses Reformkleid, das den Hals frei ließ. Unter dem Arme
+hatte sie eine schwarze dicke Aktenmappe, die einen ungraziösen
+Widerspruch zu der lieblichen Erscheinung des Mädchens darstellte.
+
+»Gnädige Frau«, sagte sie und sank halb in die Knie.
+
+Frau von Zeuthen war auf sie zugetreten, hatte sie bei der Hand
+ergriffen und fragte erstaunt:
+
+»Sind Sie wirklich Herrn Seebecks Privatsekretärin?«
+
+»Gewiß«, antwortete Fräulein Erhardt. »Schon seit drei Monaten.«
+
+Frau von Zeuthen nahm ihr die Aktenmappe ab und legte diese auf einen
+Tisch. Dann bat sie Fräulein Erhardt, im tiefen Ledersessel Platz zu
+nehmen, setzte sich selbst auf den Divan und lehnte sich halb zurück.
+
+»Erzählen Sie«, sagte sie dann.
+
+»Ich habe nicht viel zu erzählen, gnädige Frau«, sagte Fräulein Erhardt.
+»Wie manche andere kam ich mit vielen unklaren Erwartungen und
+Hoffnungen hierher. In den ersten Tagen fühlte ich mich recht
+unglücklich hier in all der Geschäftigkeit und wußte gar nicht, was ich
+selbst beginnen sollte. Da verlangte Herr Seebeck von der Gemeinschaft
+eine Privatsekretärin - die anderen Herren hatten schon längst
+irgendwelche Hilfe bekommen - und ich meldete mich zu der Stellung. Das
+ist alles, gnädige Frau«, sagte sie und strich ihr Kleid glatt.
+
+»Und wie war es in Ihrer Stellung?« fragte Frau von Zeuthen.
+
+Über Fräulein Erhardts bleiches Gesicht glitt etwas Farbe. Sie sagte
+lebhaft:
+
+»Es ist wunderschön, mit Herrn Seebeck zusammenzuarbeiten. Nur verlangt
+er von den anderen Menschen ebensoviel wie von sich selbst. Und so viel
+Wissen und Arbeitskraft hat doch kein anderer Mensch.«
+
+Die Tür wurde aufgerissen, und naß und zerzaust stürmte Felix herein.
+
+»Weißt du Mutter, was Paul Herrn de la Rouvière vorgeschlagen hat? Er
+soll hier eine Zeitung gründen und außerdem die Protokolle der
+Versammlungen führen.«
+
+»Schön, schön mein Junge«, sagte sie aufstehend. Erst jetzt gewahrte
+Felix Fräulein Erhardt, die gleichfalls aufgestanden und etwas
+zurückgetreten war. Er wurde glühend rot im Gesicht.
+
+Frau von Zeuthen legte ihm den Arm um die Schulter und führte ihn
+Fräulein Erhardt zu.
+
+»Mein Sohn Felix«, sagte sie.
+
+Felix verbeugte sich ungeschickt und reichte Fräulein Erhardt die Hand,
+die jene einen Augenblick lang festhielt.
+
+»Entschuldigen Sie, ich hatte Sie nicht gesehen«, sagte er.
+
+Fräulein Erhardt schüttelte langsam den Kopf:
+
+»Das tut nichts«, sagte sie und sah Felix mit ihren großen, schwarzen
+Augen an.
+
+Frau von Zeuthen sah die Beiden aufmerksam an; dann wandte sie sich dem
+Tisch zu, auf den sie die Aktenmappe gelegt hatte, und sagte:
+
+»Willst du etwas bei uns bleiben, mein Junge? Fräulein Erhardt und ich
+haben allerlei zu besprechen, was dich wohl auch interessiert. Sie will
+mich in meinen neuen Beruf als Reichsarchivarin einführen.«
+
+»Bleiben Sie doch, Herr von Zeuthen«, sagte Fräulein Erhardt bittend,
+und Felix setzte sich bescheiden in eine Ecke.
+
+Fräulein Erhardt aber öffnete die Aktenmappe und erklärte Frau von
+Zeuthen, wie sie das Archiv bisher verwaltet hatte.
+
+
+
+
+In der nächsten Sitzung der Vorsteherschaft brachte Paul Seebeck auch
+die Schulfrage zur Sprache und legte einen Schulplan vor, den er
+gemeinsam mit Frau von Zeuthen ausgearbeitet hatte. Die anderen fanden
+nur wenig daran auszusetzen, und bald hatte der Plan die Form gefunden,
+in der er der Gemeinschaft vorgelegt werden sollte. Als die Arbeit
+beendet war, bat Paul Seebeck die anderen Herren, bei ihm zum Abendessen
+zu bleiben und teilte gleichzeitig mit, daß er auch Frau von Zeuthen,
+Nechlidow und Melchior eingeladen hätte.
+
+Bei Tisch fragte Frau von Zeuthen nach dem Schicksale des Entwurfs, und
+Paul Seebeck machte sie mit den geringfügigen Änderungen bekannt.
+
+»Es ist doch fast eine Vergewaltigung«, sagte Edgar Allan plötzlich,
+»daß man so einem armen Wurme tausend Dinge beibringt, auf die es von
+selbst nie verfallen wäre - lauter fertige, geprägte Begriffe, ein
+fertiges Weltbild, eine fertige Sprache. Nichts darf sich das Kind
+selber bilden, muß alles das gläubig hinnehmen, was die früheren
+Generationen ihm vorgekaut haben.«
+
+»Na, wissen Sie was«, sagte Otto Meyer. »Wollen Sie die Kinder gleich
+nach der Geburt in die Wüste schicken, um sich Sprache und Bildung ganz
+aus eigener Kraft zu bauen? Ich glaube, Sie würden zu Ihrer Überraschung
+einige entzückende Orang-Utans vorfinden.«
+
+Aber Edgar Allan hatte sich in seinem Gedanken festgebissen und ließ
+sich nicht beirren. Sein Mund verzog sich nur ein wenig spöttisch, als
+er Melchiors heißes Gesicht sah. Er wandte sich Otto Meyer zu und sagte
+ungewöhnlich lebhaft:
+
+»Doch nicht, Herr Referendar. Die Kinder würden doch eine gewisse
+Disposition im Gehirn von ihren kultivierten Eltern mitbekommen haben,
+die sie eben doch auf eine etwas höhere Stufe als den Orang-Utan stellen
+würde.«
+
+»Aha!« sagte Otto Meyer. »Da setzen Sie aber die kultivierten Eltern
+voraus. Seien Sie jetzt aber etwas radikaler in Ihren Gedanken und
+setzen Sie den Fall, daß alle Kinder von Weltbeginn an in die Wüste
+geschickt worden wären. Dann hätten sie keine kultivierten Eltern,
+mithin hätten die Kinder eben auch nicht jene Kultur-Disposition im
+Gehirn, wären also doch reine Orang-Utans.«
+
+Edgar Allan lehnte sich in seinem Stuhle zurück und legte Messer und
+Gabel hin.
+
+»Sie wollen mich aufs Glatteis führen, Herr Referendar, und sprechen
+dabei nur meinen Gedanken aus.«
+
+Jetzt hielten alle mit dem Essen ein. Ganz leise klirrte es, als die
+Eßgeräte auf die Teller und Messerbänke gelegt wurden. Edgar Allan sah
+sich im Kreise um und sagte lächelnd:
+
+»Ich weiß wirklich nicht, ob mein Gedanke eine so ungeteilte
+Aufmerksamkeit verdient. Er ist nicht viel mehr als ein logisches
+Experiment, doch scheint er mir wert zu sein, zu Ende gedacht zu werden.
+- Sehen Sie, meine Herren, und Sie, gnädige Frau, die so liebenswürdig
+sind, zuzuhören. Ich meine folgendes: eine gewisse Disposition zur
+Weiterentwicklung muß schon im Menschenaffen gelegen haben, der unser
+aller Stammvater ist, und zwar schon lange vor der Sprache, mithin vor
+Logik, geformten Begriffen und Möglichkeit einer Fortentwicklung anders
+als durch die Vererbung jener Kulturdisposition. Die Entwicklung ging
+ungeheuer langsam, aber sie schritt fort. Da kommt mit der Sprache ein
+ganz neues Element herein, ein völlig unnatürliches: die Erfahrungen
+werden nicht nur durch Vererbung jener Kulturdisposition den folgenden
+Geschlechtern überliefert, sondern in rein abstrakter Form, sie werden
+gesagt, und das Kind lernt sie als etwas zunächst Fremdes, ihm
+unnatürlich Hohes. Und so geht das weiter. Mit Hilfe der Sprache
+bekommen die Begriffe ein eigenes Leben, eine selbsttätige Existenz, und
+immer größer wird die Kluft zwischen dem natürlichen Menschen, der ja
+auch immer mit einer, eine Nuance höheren, Kulturdisposition geboren
+wird, und dem, zu dem die Sprache mit allen ihren Anhängseln uns macht.
+Wenn wir unseren Kindern weder Sprache noch sonst etwas mitgeben würden,
+als nur unsere Kulturdisposition, würden sie kurz gesagt harmonische und
+glückliche Menschen sein und nicht jenen Zwist zwischen dem eigenen und
+dem angelernten Ich in sich tragen, der uns alle verzehrt.« - Nach einer
+kurzen Pause fuhr er fort: »Stellen Sie sich einen Eskimo vor, den man
+aus Grönland nach Berlin gebracht hat, und der sich dort im Laufe
+einiger Monate akklimatisiert hat. Er trägt unsere Kleidung, benimmt
+sich korrekt, aber trotz alles angelernten Anstandes, den das Milieu ihm
+aufdrängt, in dem er sich gezwungenermaßen befindet, gehen seine
+Gedanken und Triebe ganz andere, viel primitivere, brutalere Wege. Er
+spielt dauernd Theater. Statt der rauhen Prosa, die ihm natürlich wäre,
+muß er unausgesetzt hohe Verse sprechen und diese mit einstudierten
+Gesten und Mienen begleiten. Der gute Mann hat im Laufe einiger Monate
+oder Jahre eine Entwicklung, die naturgemäß Tausende von Jahren
+gebraucht hätte, überspringen müssen, und seine ganze Existenz wird zu
+einer einzigen Lüge. Seien wir einmal ehrlich: ist das nicht ganz genau
+unsere Lage? - Ich überlasse Ihnen, die Parallele zwischen der
+Eingewöhnung des Eskimos in unsere Kultur und unserer Erziehung zu
+ziehen.«
+
+Minutenlanges Schweigen folgte. Dann ergriff Herr von Rochow das Wort:
+
+»Ich finde Ihren Gedanken wundervoll und unwiderleglich. Und doch, sehe
+ich die Sache von einer anderen Seite an, komme ich zu einem ganz
+anderen Resultat. Wenn ich mir nämlich einfach den jetzigen Menschen und
+seine Sprache vorstelle, würde ich sagen, daß Sprache und Begriffe nicht
+mit ihm Schritt gehalten haben, sondern zurückgeblieben sind und
+tatsächlich nicht das auszudrücken vermögen, was wir denken und fühlen.
+Und doch finde ich Ihre Gedanken unwiderleglich.«
+
+Er schwieg; Edgar Allan sah sich im Kreise um, als erwartete er weitere
+Meinungsäußerungen. Sein Blick blieb an Melchior haften, der ihn mit
+aufgerissenen Augen und offenem Munde anstarrte.
+
+Jakob Silberland räusperte sich und sagte:
+
+»Wie sonderbar. Vor einigen Jahren, als wir sieben noch ganz allein hier
+auf der Insel waren, führten wir ein Gespräch über Staatsformen im
+Verhältnis zum Menschen. Und auch dort stießen wir auf denselben
+Widerspruch, daß sie sowohl als fortgeschritten, wie auch als
+zurückgeblieben in bezug auf den Menschen angesehen werden könnten.«
+
+»Seltsam, daß derselbe Widerspruch heute in ganz anderem Zusammenhange
+wieder auftaucht. Ach, ich entsinne mich deutlich jenes Gespräches«,
+sagte Herr von Rochow.
+
+»Na, das Problem ist doch ganz dasselbe«, sagte Otto Meyer. »Formen, die
+die Menschen im Zusammenspiele schaffen, in ihrem Verhältnisse zum
+einzelnen Menschen. Apropos »Problem«, Herr Melchior, haben Sie es
+gelöst?«
+
+Aber Melchior hörte ihn nicht.
+
+Edgar Allan ergriff wieder das Wort: »Ich finde etwas Niederdrückendes
+darin, daß die Arbeit des Einzelnen durch diese geistigen Verkehrsmittel
+zum Allgemeingut werden. Jeder Idiot schmarotzt an uns, saugt unsere
+Gedanken aus, verwässert sie bis zur Karrikatur - siehe die christliche
+Kirche im Verhältnis zu ihrem Gründer - und ist dann stolz auf seine
+Eigenschaft als Kulturmensch. Ich sehe darin eine Ungerechtigkeit.«
+
+»Nein«, sagte Jakob Silberland, »Sie irren. Sie gehen von einer längst
+abgetanen Weltanschauung aus. Sie vergessen den springenden Punkt: es
+gäbe keinen großen Menschen, wenn es nicht ein Milieu gegeben hätte,
+das ihn zeugte. Die großen Menschen schulden ihre Existenz der Masse,
+und diese wiederum ihnen. Das ist ein ewiges Wechsel- und Zusammenspiel;
+eine natürliche Funktion des großen Organismus Menschheit.«
+
+»Sie haben viel gelernt, verehrter Herr Doktor Silberland,« sagte Edgar
+Allan mit leichtem Spotte. »Außer den Begriffsbrillen, die die gütige
+Menschheit so liebenswürdig ist, uns in den ersten Jahren unserer
+Kindheit auf unsere Nase zu setzen, haben Sie auch noch einige grüne und
+blaue und seltsam gestrichelte aus eigener Initiative aufgesetzt. Ich
+beneide Sie um Ihr geordnetes Weltbild, bezweifle aber doch, daß es sich
+mit der Wirklichkeit deckt. Wenn ich von dem mir Eingeprägten absehe,
+wenn ich unbefangen auf die Wirklichkeit sehe - etwas, wozu Sie als
+gebildeter Mensch überhaupt nicht mehr imstande sind - sehe ich statt
+unserer fiktiven Ordnung in der Welt nur ein ungeheures, rätselhaftes
+Chaos.
+
+Alle unsere Moralbegriffe, Staatsformen, Sprache, Gedanken sind doch nur
+ganz schwache, ganz schiefe Reflexe der inneren Entwicklungsgesetze der
+Menschheit, die wir nicht kennen und nie kennen werden. Denn diese
+kindlichen Abstraktionen haben nicht nur ein eigenes Leben bekommen und
+entfernen sich demnach mehr und mehr von den Realitäten, sie werden
+auch als primär angesehen, und man soll sich nach ihnen richten. Das ist
+nicht das Problem der Menschheit, aber der Wahnsinn der Menschheit. Und
+jeder Einzelne von uns hat keine andere Aufgabe, als soviel wie möglich
+das Gelernte zu vergessen und in die Tiefen des eigenen Ichs
+herabzusteigen, zu seinem eigenen Wesen, und sich dort über seine
+Stellung im Chaos zu orientieren. Auf irgend einem, noch so kleinen
+Gebiete wird er sich Meister wissen, dort seine Arbeit ausführen und die
+übrige Menschheit ihrem Schicksal überlassen. Wenn jeder so dächte,
+kämen wir vielleicht wieder in eine gesunde Entwicklung hinein. Wenn wir
+auf das forzierte Tempo verzichten, was die Menschheit bis jetzt
+angewendet hat, und uns einige millionenmal langsamer entwickeln, wird
+vielleicht noch einmal etwas aus den Menschen statt der Schattenwesen,
+die wir jetzt darstellen. Was meinen Sie, Seebeck?«
+
+»Ich finde den Gedankengang sehr interessant. Auch sehr wertvoll. Es
+ergeben sich aus ihm aber so viele Perspektiven, daß man Zeit braucht,
+um zu ihm Stellung zu nehmen. So im Augenblicke kann ich es nicht. Ich
+werde darüber nachdenken.«
+
+Jetzt sprang Nechlidow mit einer solchen Heftigkeit auf, daß der Stuhl
+umfiel, auf dem er gesessen hatte. Er schrie:
+
+»Es wird ja immer toller; jetzt ist es aber wirklich genug. Ich
+wenigstens habe keine Lust mehr, länger an der Komödie mitzuspielen. Wir
+kamen hierher, um die großen Menschheitsgedanken zu verwirklichen, die
+große, ruhige Linie auszufüllen. Und was geschieht? Hier ein
+Kompromißchen und dort ein Kompromißchen; überall Halbheiten, nichts
+Ganzes. Alles Wankelmütigkeit und Wunsch nach dem behaglichen, ruhigen
+Fahrwasser, nur um Gotteswillen keinen energischen Schritt. Was ist aus
+den Idealen geworden, mit denen wir hierherzogen? Phrasen, Worte,
+Andeutungen, keine Tat, keine Wirklichkeit.
+
+Und heute kommt die Krone des Ganzen. Hier im Kreise der Gründer stellt
+Herr Allan seine logischen Experimente an, die weiter nichts sind, als
+eine Beschimpfung der menschlichen Vernunft, eine Erniedrigung der
+Sozietät. Wenn Herr Allan den dummen Orang-Utan wirklich so viel höher
+stellt, als den vernünftigen Menschen, mag er zu den Orang-Utans gehen.
+Aber statt ihn zurechtzuweisen, hören Sie sein kindisches und frivoles
+Geschwätz ernsthaft an, antworten ihm sogar, wollen sich die Sache sogar
+noch genauer überlegen.
+
+Ich aber glaube an die menschliche Vernunft, die vielleicht sogar einmal
+in Allans Nachkommen die Sehnsucht zum Affen ertöten und volle Menschen
+aus ihnen machen wird.
+
+Euch gebe ich auf; aber noch nicht die Sache, mit der ihr nur noch
+spielt. Ich werde versuchen, ob ich sie noch aus dem Schlamme retten
+kann, in dem ihr sie festgefahren habt.«
+
+Er verließ das Zimmer und schlug die Tür mit Gewalt hinter sich zu.
+
+
+
+
+Edgar Allan und Felix waren am Ende der Straße an der linken Seite der
+Bucht angelangt. Vor ihnen lag die ziemlich steile Felswand, wo es nur
+an einigen, und ziemlich weit von einander abliegenden Plätzen möglich
+war, Häuser zu bauen.
+
+Beide trugen, des strömenden Regens wegen, dicke Gummimäntel und hohe
+Stiefel.
+
+»Sehen Sie, Felix«, sagte Edgar Allan stehen bleibend und wandte sein
+scharfes Gesicht dem Knaben zu. »Hier ist der gebahnte Weg zu Ende, und
+die Steine fangen an. Hinter uns liegt die behagliche Wärme der Masse.«
+Die hagere, sehnige Gestalt hoch aufrichtend, sagte er, »ich bin der
+Erste, der hier hinaus zieht, aber glauben Sie mir, die andern sechs
+werden mir hierher folgen. Auch Nechlidow, obgleich er mich ermorden
+könnte, wenn ich es ihm jetzt sagte.«
+
+Felix sah dem starken und einsamen Manne halb bewundernd und halb
+zweifelnd ins Gesicht. Er antwortete nichts.
+
+Dann stiegen sie weiter, über die Felsblöcke und durch die schäumenden
+Regenbäche, und suchten einen Platz für Allans neues Haus.
+
+
+
+
+In diesem Jahre war die Regenzeit heftiger als je vorher und machte
+fast jede Beschäftigung außer dem Hause unmöglich. Es war ein Glück, daß
+Edgar Allan bei der Stadtanlage so genau alle Eventualitäten berechnet
+hatte; sonst wäre wohl manches der kleinen Gärtchen fortgeschwemmt
+worden.
+
+Paul Seebeck benutzte die Zeit der allgemeinen Untätigkeit zur
+Durchführung eines Planes, den er schon lange gehegt hatte.
+Allwöchentlich fanden jetzt im Volkshause Vorträge statt, die dann in
+der nächsten Nummer der von Herrn de la Rouvière mit Geschick geleiteten
+»Inselzeitung« gedruckt wurden.
+
+Paul Seebeck selbst hatte den ersten Vortrag gehalten; ihm folgte Jakob
+Silberland mit einem ganzen Zyklus volkswirtschaftlicher Vorträge, und
+nach ihm behandelte Herr von Rochow verschiedene schöngeistige Gebiete.
+
+Die »Inselzeitung« erwies sich nicht nur als notwendig, sondern auch als
+Machtfaktor: der Krüppel hatte der öffentlichen Kritik einen breiten
+Raum geschaffen, und mancher sprach lieber hier unter dem Schutze des
+Redaktionsgeheimnisses seine Meinung aus, als in den Versammlungen der
+Gemeinschaft. Herr de la Rouvière versah die Eingesandts mit
+zustimmenden oder abfälligen Glossen, und deshalb galt es, sich mit ihm
+gut zu stellen, wenn man einen Erfolg wünschte. Und Herr de la Rouvière
+empfing die Besucher an seinem Schreibtische, der so niedrige Beine wie
+der eines Knaben hatte, und besprach stundenlang mit dem Besucher dessen
+Anliegen, so daß jener mit der Gewißheit davon ging, daß seine Sache in
+guten Händen lag.
+
+Gelegentlich suchte Herr de la Rouvière Frau von Zeuthen auf, und dort
+traf er zuweilen um die Teestunde Paul Seebeck, der einige freundliche
+Fragen an ihn richtete, die er bescheiden beantwortete, worauf er
+gewöhnlich bald fortging.
+
+Als Frau von Zeuthen und Paul Seebeck so eines Tages allein geblieben
+waren, sagte sie:
+
+»Ist es nicht eine Freude, zu sehen, wie er sich hier entwickelt. Da
+haben Sie wieder einem Menschen freie Entfaltungsmöglichkeit gegeben,
+einen Nährboden, wo er Wurzeln schlagen kann.«
+
+Paul Seebeck antwortete nicht; Frau von Zeuthen sah ihn mit ihren
+großen, strahlenden Augen an und sagte:
+
+»Sie stehen so sehr im Tagesbetriebe, müssen sich zu sehr mit
+widerwärtigen Kleinigkeiten herumschlagen. Hätten Sie etwas mehr Distanz
+- was Sie der Natur der Sache nach im Augenblicke nicht haben können -
+würden Sie sehen, wieviel Sie schon erreicht haben. Selbst in Nechlidows
+Überspanntheit liegt so viel Größe, die geweckt zu haben Ihr Verdienst
+ist.«
+
+Paul Seebeck war aufgestanden und ging nervös im Zimmer auf und ab. Dann
+blieb er vor Frau von Zeuthen stehen:
+
+»Es gibt Augenblicke«, sagte er, »wo ich meine, daß Nechlidow recht hat.
+Wenn ich aber dann an meinem Schreibtische sitze, meine Papiere
+heraussuche und mich frage, was ich denn hätte anders machen sollen,
+dann finde ich nichts. Es gibt so viele Gegenstände bei der Verwaltung
+eines Staates, die einfach in einer ganz bestimmten Weise und nicht
+anders erledigt werden müssen, ganz gleichgiltig, ob man konservativ
+oder liberal oder sonst etwas ist. Vom grünen Tische sehen manche Dinge
+eben ganz anders aus, als in der Praxis, und besonders für den, der die
+Verantwortung trägt.
+
+Ich verstehe jetzt so gut eine Erscheinung, die mich früher so oft
+erstaunt hat: wenn in einem parlamentarisch regierten Lande die
+bisherige Oppositionspartei ans Ruder kommt und ihre bisherigen Führer
+Minister werden, erfolgt fast immer ein Bruch zwischen ihnen und ihrer
+eigenen Partei, die ihnen den Verrat an den Parteiprinzipien vorwirft.
+Die Sache liegt natürlich einfach so, daß unzählige Dinge - namentlich
+in der Verwaltung - mit Prinzipien gar nichts zu tun haben und ihrer
+Natur nach erledigt werden müssen. - Ich habe mir schon früher das
+gedacht, aber jetzt begreife ich es erst wirklich.
+
+Hier kann man natürlich keine Grenze ziehen; es ist aber doch ein
+Unterschied, ob man überhaupt ein Ziel vor Augen hat, oder, auf ein paar
+bequeme Schlagwörter gestützt, alles ruhig fortwursteln läßt. In dieser
+Beziehung habe ich ein reines Gewissen.«
+
+Paul Seebeck blieb stehn; er biß sich auf die Lippen und sagte:
+
+»Wissen Sie, Gabriele, was ich mir selbst in jenen einsamen Stunden
+sage, wo man ehrlich gegen sich selbst ist? Ich will es Ihnen bekennen:
+wir schaffen hier nicht die realen Werte, die wir schaffen wollten, und
+unser ganzes Werk war vom ersten Augenblick an eine Unmöglichkeit. Das
+unendliche Leben läßt sich überhaupt nur in einem Sinne formen, und das
+ist in der Kunst, die immer einseitig und beschränkt und deshalb
+vollkommen ist. Silberland hat mich einmal einen Künstler genannt, und
+ich fühle, daß er recht hat, obwohl ich weder dichte noch male. Aber wie
+jeder schaffende Künstler hatte ich ein starres, unvollkommenes
+Material, in das ich den rauschenden Strom des Lebens zwängen wollte.
+Das waren die staatlichen Begriffe. - Wie hat doch Edgar Allan recht,
+und wie Nechlidow! - Aber statt zu sagen: als Künstler gebe ich eine
+ganz einseitige Stilisierung des Lebens, aber ich forme nimmermehr das
+Leben selbst, sagte ich: hier ist das Leben in seinen natürlichen
+Formen. Ich habe die unendliche Mannigfaltigkeit des Lebens unterschätzt
+und sehe, daß es an sich weder begreiflich noch faßbar ist, wenn man es
+eben nicht als Künstler einseitig stilisiert, und es in seinem Reichtum
+vorbeifluten läßt.
+
+Und sehen Sie, Gabriele, dann sage ich mir: wir schufen hier nicht den
+Staat, und er wird nie geschaffen werden, wenn er sich nicht selbst
+aufbaut, wir schufen nur eine Fiktion des Staates, lassen die andern ein
+Theaterstück aufführen, dessen Autoren und Regisseure wir sind. Aber sie
+spielen nur so lange Theater, wie sie in unserem Bannkreise sind, nicht
+eine Minute länger! Dann gehen sie nach Hause und führen ein Leben, von
+dem wir nichts wissen, und das uns auch nicht interessiert.
+
+Aber dann, Gabriele, dann sehe ich Menschen wie Silberland, die ohne zu
+zweifeln, arbeiten und an die Vollendung glauben. Und dann glaube ich
+auch selbst wieder daran, daß aus der Komödie Wahrheit werde.«
+
+Er setzte sich in den tiefen Ledersessel, stützte das Kinn in die Hand
+und sah vor sich in den Raum. Frau von Zeuthen stand auf, trat vor ihn
+hin und legte ihre beiden Hände ihm auf die Schultern:
+
+»Seebeck, ich gab Ihnen meinen Segen zu diesem Werke; ich gebe ihn Ihnen
+noch einmal zu seiner Vollendung.«
+
+Er sank vor ihr nieder und umschlang mit solcher Heftigkeit ihre Knie,
+daß die hohe Frau schwankte. Da faßte er ihre Hände und drückte sie an
+sein Gesicht:
+
+»Gabriele«, sagte er, »ich bin so einsam, so fürchterlich einsam. Und
+die Nächte sind so lang. Wenn alle die quälenden Gedanken kommen, dann
+sehne ich mich nach Ihnen, Gabriele, nach dir, du Hohe, Reine. Komm zu
+mir mit deinen kühlen, weißen Händen. Ich bin so fürchterlich allein.«
+
+Sie hob ihn auf und zog ihn an sich. Er lehnte seinen Kopf an ihre Brust
+und schluchzte.
+
+Langsam führte sie ihn zum Divan. Aber da sank Seebeck aufs neue vor ihr
+hin und barg sein Gesicht in ihren Schoß. Der große, starke Mann bebte
+am ganzen Körper, sie strich ihm lind über das Haar.
+
+»Mut, Mut!« flüsterte sie ihm zu. »Ich kann nicht zu dir kommen; jetzt
+kann ich nicht zu dir kommen. Du würdest dein Werk vergessen und das
+darfst du nicht. Diese Insel ist der Inhalt deines Lebens; ihr mußt du
+leben, wenn es nötig ist, mußt - wirst du für sie zu sterben verstehen.
+Ihretwegen mußt du das Opfer deines Menschentums bringen.« Sie beugte
+sich tief zu ihm hinab und legte ihre kühle Wange an seine heiße:
+
+»Glaubst du denn nicht, in wieviel schweren Nächten ich mich nach dir
+gesehnt habe, du starker, du guter Mann. Aber ich weiß, daß ich dich
+deinem Werke entziehen würde, statt es zu fördern. Und das darf nicht
+sein. Was ist das Liebesglück zweier armseliger Menschlein im Vergleich
+mit deinem Werke! Sei stark,« sagte sie, während sie sich wieder
+aufrichtete, »dazu will ich dir helfen. Aber deine Einsamkeit ist dein
+größtes Gut, sie gebar die neue Gemeinschaft, sie wird sie zur Höhe
+erziehen. Aber du darfst kein armer, schwacher Mensch werden: mehr wie
+ein Mensch mußt du sein.«
+
+Da erhob Paul Seebeck den Kopf aus Frau von Zeuthens Schoß. Seine Augen
+wurden groß und starr. Langsam und schwer sprach er die Worte:
+
+»Und ich schwöre Ihnen, Gabriele, von dieser Stunde an nur meinem Werke
+zu leben, und wenn es nötig ist, dafür zu sterben.«
+
+Er stand schnell auf und trat ans Fenster. Durch den strömenden Regen
+blinkten einige Lichter, einige erleuchtete Fenster. Langsam drehte er
+sich herum und sah erst jetzt, daß das Zimmer fast dunkel war. Nur im
+Umriß sah er Frau von Zeuthen auf dem Divan sitzen. Mit gesenktem Haupte
+und schleppenden Schritten trat er auf sie zu, ergriff ihre Hand, die
+sie ihm nicht entzog, hielt sie lange in der seinen und zog sie dann
+langsam an seine Lippen.
+
+Da erhob sich Frau von Zeuthen:
+
+»Geh jetzt«, sagte sie fast hart, »geh zu deiner Arbeit.«
+
+Er neigte kaum merklich den Kopf und verließ mit schnellen Schritten das
+Zimmer.
+
+
+
+
+Der niederströmende Regen wurde schwächer. Man sah statt des ewig
+gleichmäßigen Graus am Himmel wieder Wolken, die langsam und schwer
+weiterzogen. Zuweilen blickte sogar ein blaues Stückchen Himmel aus
+ihnen hervor. Und endlich, endlich war der Himmel wieder rein, und die
+Sonne schien.
+
+Ein schwerer, warmer Brodem stieg von den Gärten auf und lag wie ein
+Dunst von Leben und Fruchtbarkeit über der Stadt. Die Wasserrinnen an
+den Abhängen versiegten, in wenigen Tagen waren die Straßen wieder
+trocken.
+
+Da wollte Paul Seebeck Frau von Zeuthens Kindern eine Freude machen und
+ließ sich zwei kräftige Pferdchen mit dicken, behaarten Beinen kommen.
+
+An einem Sonntage machten sich Hedwig und Felix auf, um das Innere der
+Insel zu erforschen. In den Satteltaschen hatten sie Essen für sich mit,
+und auf den Rücken der Pferdchen hatten sie Heu aufgeschnallt.
+
+Sie ritten langsam die Hauptstraße hinauf; als sie aber die Plattform
+erreichten, auf der das Volkshaus stand, stiegen sie ab, um die Tiere
+nicht zu überanstrengen, und führten sie am Zügel die Serpentinen
+hinauf. Als sie auf dem Hochplateau standen, sahen sie die Pyramide des
+Vulkans riesenhaft und scharf in die Höhe ragen. Ein ganz dünnes
+Wölkchen - kaum mehr als ein Schleier - schwebte über seiner Spitze.
+
+»Da müssen wir hinauf«, sagte Felix und half Hedwig wieder in den
+Sattel, »was meinst du?«
+
+Hedwig gab mit der Peitsche ihrem Pferdchen einen kleinen Schlag:
+
+»Komm«, rief sie und galoppierte voran.
+
+Sie waren immer noch auf dem gebahnten Wege, der der Arbeit am
+Staubecken wegen angelegt worden war, und nach einer halben Stunde
+hatten sie dieses erreicht. Sie sprangen von den Pferden, an denen der
+Schweiß herunterrann und setzten sich auf einige Steinblöcke.
+
+Vor ihnen lag ruhig der See, aber von dem Meere her klang ein donnerndes
+Getöse zu ihnen hin.
+
+»Weißt du, was Allan mir erzählt hat?« fragte Felix. »Er will im See
+einen künstlichen Schlammboden machen und Fische hineinsetzen. Er sagte,
+das wäre gar nicht so schlimm, er wüßte nur nicht, wie er verhindern
+sollte, daß die Fische mit dem Wasserfalle ins Meer gerissen würden.
+Aber das findet er sicher auch noch heraus!«
+
+»Fische? Wie nett. Aber dann soll er auch Vögel hierherbringen.«
+
+»Daran hat er auch schon gedacht; er will überhaupt alle möglichen Tiere
+hier wild aussetzen. Er weiß nur noch nicht welche. Aber er sagte, daß
+nach zehn Jahren die Insel alle möglichen Pflanzen und Tiere haben wird.
+Ich soll ihm bei der Arbeit helfen. Du, das wird wundervoll!« rief er.
+
+»Aber wie sollen hier Tiere leben?« fragte Hedwig zweifelnd und sah sich
+in der öden Steinwüste um.
+
+»Das geht schon. Allan sagte, das schwerste wären die Säugetiere. Mit
+den Fischen ist es nicht so schlimm, er will Tang massenhaft aus dem
+Meere hierherbringen und dann Süßwasserpflanzen hineinstecken. Wenn das
+alles richtig in Gang gekommen ist, bringt er Insekten und zuletzt die
+Fische. - Und mit den Vögeln, sagt er, wäre die Sache einfacher: einige
+Möven brüten ja schon. Man sollte nur an irgend einer Stelle, die so
+weit von der Stadt weg ist, daß der Gestank nicht hinkommt, regelmäßig
+tote Fische hinlegen, aber furchtbar viele natürlich, und dann würden
+die Vögel schon kommen. Aber wie er das mit den Säugetieren machen will,
+weiß er noch nicht recht; er sagt, es könnten zunächst nur Tiere sein,
+die von Fischen oder Vögeln leben. - Und bei der ganzen Arbeit soll ich
+ihm helfen, ist das nicht wundervoll?« rief er.
+
+Hedwig sah voll Neid ihren Bruder an. Aber dann veränderte sich ihr
+Gesicht. Fast furchtsam fragte sie:
+
+»Du Felix, sag mal, glaubst du, daß alles noch gut geht?«
+
+»Weshalb soll es denn nicht gut gehen?«
+
+»Ja, siehst du, ich ging neulich etwas mit Herrn de la Rouvière
+spazieren, und da kam Nechlidow, und die beiden sprachen zusammen.
+Nechlidow war ganz wütend und sagte immer wieder, daß Paul alles
+zerstört hätte. Dann sagte er auch etwas zu mir, was ich nicht
+verstand -«
+
+»Nechlidow ist ein Idiot!« unterbrach sie Felix mit Nachdruck. »Allan
+sagt, daß gerade jetzt alles gut gehen wird, seitdem Paul eingesehen
+hat, daß er alles allein machen muß und nicht mehr darauf hört, was alle
+die da sagen.«
+
+Aus irgend einem Grunde war es Hedwig peinlich, dies Gespräch
+fortzusetzen. Sie sagte, während sie ihrem Pferdchen den dicken Hals
+streichelte:
+
+»Sollen wir nicht jetzt zum Wasserfall reiten? Er ist sicher
+wunderschön.«
+
+Dagegen hatte Felix nichts einzuwenden, und so bestiegen sie ihre Pferde
+und ritten dem Staubecken entlang auf das Meer zu. Bald schob sich ein
+breiter Steinwall zwischen sie und das Becken und warf einen tiefen und
+kühlen Schatten auf sie. Sie trieben ihre Pferde zum Galopp an und
+standen plötzlich einige Schritte vor dem steilen Abfall zum Meere. Sie
+hörten ein Donnern, Zischen und Brausen, konnten den Wasserfall aber
+nicht sehen. Rasch entschlossen sprangen sie von den Pferden, ließen sie
+stehen und kletterten an dem Steinwalle empor. Er war höher, als sie
+sich ihn vorgestellt hatten, aber endlich standen sie doch oben. Sie
+sahen sich um: hinter ihnen streckten sich die drei Vorgebirge ins Meer,
+zwischen denen die Stadt und die Irenenbucht eingebettet lagen, und vor
+ihnen das große Wasserbecken, das in seiner ganzen Breitseite zum Meere
+hinab überfloß. Sie sahen die Wasserfläche in ruhigem Zuge bis zum Rande
+gleiten und dort entsetzt, verzweifelt, mit wahnsinnigem Schmerzgeheul
+in die Tiefe stürzen, hier auf einem Vorsprung aufprallend, dort an
+einer Klippe zerschellend, daß der Riese in tausend und abertausend
+glitzernde Tropfen zersprang, die erschrocken versuchten, sich wieder
+zusammenzufinden, und sich doch erst wieder im großen Meere trafen, das
+weit hinaus mit weißem Schaum bedeckt war.
+
+Als sie sich satt gesehen hatten, traten sie langsam den Rückweg zu
+ihren Pferden an und ritten in scharfem Galopp im Schatten. Erst als der
+Steinwall sich wieder abflachte, und sie in den brennenden Sonnenschein
+hinauskamen, mäßigten sie ihr Tempo. Sie kamen an die Stelle, wo durch
+die große unterirdische Röhre das Wasser zur Stadt abfloß; dumpf dröhnte
+es da unter den Hufen der Pferde. Sie ritten weiter am Becken entlang
+bis dorthin, wo der Fluß hereintrat und folgten diesem weiter in der
+Richtung auf den Vulkan zu. Oft mußten sie den Fluß verlassen, weil
+Steinblöcke im Wege lagen, aber sie trafen doch immer wieder auf ihn.
+Zuweilen floß er breit und behäbig dahin, zuweilen rauschte er
+unheimlich an einer schmalen Stelle, oder teilte sich auch mitunter in
+viele Zweige, die sich aber immer wieder bald vereinigten. Hedwig und
+Felix kamen über breite Streifen feinen Sandes, in dem die Pferde bis
+über die Hufe einsanken.
+
+Nach mehreren Stunden hielten sie an, sprangen von den Pferden, gaben
+ihnen von dem mitgebrachten Heu zu fressen und nahmen ihnen auch die
+Sättel ab. Dann hielten sie Umschau: so weit sie sehen konnten, umgab
+sie graublau und gelb die Steinwüste, aus der sich nur flache Rücken
+emporhoben. Und vor ihnen lag, kaum merklich in seiner Größe gewachsen,
+der Vulkan. Und die Sonne brannte heiß auf sie nieder und gab den
+Steinen einen blendenden Schimmer, der die Augen schmerzen machte.
+
+Da setzte sich Hedwig plötzlich auf einen Stein und begann zu
+schluchzen: sie konnte die große Einsamkeit nicht ertragen, ihr war es
+zu viel des Schweigens. Felix fragte nicht; er verstand sie und fühlte
+dieselbe Angst wie sie, aber er beherrschte sich. Doch zitterten seine
+Hände, als er die Pferde wieder sattelte; er sagte aber ruhig:
+
+»Der Vulkan ist ja viel weiter, als ich dachte; wir können heute nicht
+mehr hinkommen. Wollen wir nicht wieder nach Hause reiten?«
+
+Hedwig nickte; sie konnte nicht sprechen. Und so schnell es die Hitze
+erlaubte, ritten sie nach Hause, zu den Menschen, zur Stadt.
+
+
+
+
+Wieder war der Jahrestag der Gründung herangekommen, und die
+Gemeinschaft war versammelt. Die Vorsteher hatten Rechenschaft über das
+verflossene Jahr abgelegt. Es sollte jetzt zur Neuwahl geschritten
+werden.
+
+»Wünscht jemand das Wort?« fragte Jakob Silberland, der wie immer den
+Vorsitz innehatte. »Nicht? Dann -«
+
+»Ich bitte um das Wort«, rief Nechlidow überlaut und ging auf's Podium.
+Die Versammlung verharrte in eisigem Schweigen. Jakob Silberland sah
+überrascht Paul Seebeck an; aber dessen Gesicht war hart und
+verschlossen. Auf der Tribüne aber beugte sich ein Mädchenkopf mit
+glänzenden, braunen Augen über die Brüstung.
+
+Nechlidow richtete sich straff auf, verschränkte die Arme über der Brust
+und sagte:
+
+»Es tut mir leid, daß ich die hier übliche gemütliche Handhabung der
+Geschäfte ein wenig störe. Hätte ich mich jetzt nicht zum Worte
+gemeldet, wäre die Wiederwahl des bisherigen Vorstehers wohl glatt
+erfolgt. Ich aber möchte verhindern, daß sie überhaupt erfolgt.«
+
+Er sah Paul Seebeck an, und dieser erwiderte starr den Blick. Dann ließ
+Nechlidow seine Augen wieder über die Versammlung gleiten und fuhr fort:
+
+»Wenn jetzt nicht ein energischer Schritt getan wird, verläuft die mit
+solchem Pathos angelegte Sache kläglich im Sumpf.
+
+Hier geht zwar alles gut, ich fürchte fast zu gut; niemand hungert und
+jeder hat ein Dach über seinem Kopf - aber deswegen kamen wir nicht
+hierher.
+
+Wir kamen hierher, um der Lüge zu entfliehen, die unser gesamtes
+Gesellschaftsleben durchzieht und sind jetzt dabei, eine ärgere und
+verabscheuungswürdigere Lüge zu stiften.
+
+Hier kann nur eines helfen: das felsenfeste Vertrauen auf die
+menschliche Vernunft und das Abschütteln jener Herren, die den Ursprung
+alles Übels in der menschlichen Vernunft sehen. Wir müssen die großen
+und klaren Gesetze befolgen, die sich an der menschlichen Vernunft
+ergeben und dürfen sie nicht verwischen und im geheimen verspotten, wie
+es Herr Seebeck und seine Kreaturen tun.
+
+Fragen Sie sich: was hat unsere Gemeinschaft neues gebracht als neue
+Phrasen? Ist hier wirklich ein neuer Geist? Wer wagt die Frage zu
+bejahen! Ist nicht vielmehr das Umgekehrte geschehen, daß einige,
+wenige Männer durch Worte und Scheingesetze, die sie nur äußerlich, in
+gröbstem Sinne befolgen, gestützt, einfach ihren Launen folgen, tun und
+lassen, was ihnen gefällt? Wer wagt die Frage zu verneinen!
+
+Die Gemütlichkeit und die persönliche Rücksichtnahme - dieses ganze
+Spinngewebe von Gefühlsduseleien, das uns zu ersticken droht, muß fort.
+
+Ich verkenne nicht, daß wir Paul Seebeck großen Dank schulden; aber
+unsere Dankbarkeit darf uns nicht hindern, kalt und klar zu sehen. Und
+wenn wir das tun, können wir nur eins sagen: Seebecks Zeit ist vorbei.
+Er ist ein großer Gründer, aber ein schlechter Ausbauer.
+
+Ich bitte die Versammlung, nicht Paul Seebeck sondern mich zum Vorsteher
+zu wählen; mich treibt kein Ehrgeiz, sondern nur die Liebe zur Sache.
+Und ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, daß ich keine Sentimentalitäten
+und persönlichen Rücksichten kenne.«
+
+Mit zusammengekniffenen Lippen verließ Nechlidow das Podium. Jakob
+Silberland sah ihm verstört nach.
+
+In der eisigen Stille dort unten entstand eine ganz leise Bewegung, ein
+Rücken auf den Bänken, ein Murmeln, ein Flüstern und zuletzt klang ein
+Gewirr von Worten, Namen -
+
+Edgar Allan hatte mehrmals von der Seite her forschend in Paul Seebecks
+Gesicht geblickt und jedesmal hatte er zufrieden gelächelt, wenn er
+Seebecks starre Züge sah.
+
+Jetzt erhob sich im Hintergrunde die schwere Gestalt eines Handwerkers:
+
+»Wenn wir Herrn Seebeck nicht wieder wählen dürfen, dann doch lieber den
+Herrn Rouvière. Den kennen wir, der versteht seine Sache.«
+
+Edgar Allan drehte sich herum; freundlich lächelnd rief er dem Sprecher
+zu:
+
+»Sie dürfen Seebeck wieder wählen, guter Freund. Sie brauchen nicht
+immer das zu tun, was der letzte Redner gesagt hat.«
+
+Aber seine Worte verloren sich; de la Rouvières Name hatte gezündet; von
+allen Seiten erscholl er, gerufen, gebrüllt.
+
+Kreidebleich im Gesichte stand der Krüppel auf:
+
+»Ich bitte Sie um Gotteswillen, wählen Sie mich nicht! Das geht nicht.«
+
+Stille trat ein. Aber eine grobe Stimme zerriß sie:
+
+»Weshalb denn nicht? So war's doch ausgemacht.«
+
+Jetzt hatte Jakob Silberland seine Ruhe wiedergefunden. Er läutete
+energisch und sagte:
+
+»Wer meldet sich zum Worte?«
+
+Paul Seebeck gab ein leichtes Zeichen mit der Hand und ging auf das
+Podium. Ruhig und geschäftsmäßig sagte er:
+
+»Ich möchte nur einige Worte zur Klärung der Situation sagen. Es sind
+als Gegenkandidaten zwei Herren genannt worden, von denen allerdings der
+eine die Absicht zu haben scheint, eine eventuelle Wahl nicht
+anzunehmen. Bei aller Hochachtung vor den persönlichen Eigenschaften der
+beiden Herren und der Überzeugung von der absoluten Lauterkeit ihrer
+Absichten, glaube ich nicht, daß einer von ihnen imstande ist, das
+verantwortungsvolle Amt eines Vorstehers der Gemeinschaft zu verwalten.
+Ich glaube nicht, daß die Herren auch nur eine Ahnung von den
+Schwierigkeiten dieser Stellung haben; ihre Wahl würde nicht einen
+Fortschritt, sondern den Ruin unserer ganzen jahrelangen Arbeit
+bedeuten.
+
+Nun kann ich Sie allerdings nicht daran hindern, einen der beiden Herren
+zu wählen; Sie können mich aber nicht zwingen, dem Gewählten meine
+Stellung als Reichskommissar zu übergeben. Die werde ich beibehalten und
+werde von den unbeschränkten Vollmachten Gebrauch machen, die sie mir
+gibt, sobald ich sehe, daß die Dinge eine Wendung nehmen, die ich für
+unrichtig halte. Wenn Sie aber einen Nachfolger wählen, der wirklich
+imstande ist, mein Amt zu übernehmen, gehe ich gern.«
+
+Er verbeugte sich leicht und ging zu seinem Platz zurück.
+
+»Bravo!« rief Edgar Allan, und dieser Ruf wurde von einem vielstimmigen
+»Pfui!« beantwortet. Nechlidow sprang auf und schrie:
+
+»Das ist die Revolution! Jetzt wissen wir, was wir von dem Manne zu
+erwarten haben.«
+
+Jakob Silberland läutete und läutete, aber erst nach mehreren Minuten
+gelang es ihm, den Sturm zu übertönen. Ganz heiser sagte er, während der
+Schweiß ihm in zwei Rinnen die Wangen entlang lief:
+
+»Wünscht jemand noch das Wort? Herr Nechlidow, bitte!«
+
+Nechlidow sprach von seinem Platze aus:
+
+»Nachdem der bisherige Vorsteher offen den Bruch der Verfassung erklärt
+hat, behalten wir uns alle Schritte vor, wie auch die Abstimmung
+ausfallen mag.«
+
+Unter steigendem Gemurmel wurden die Stimmzettel verteilt und wieder
+eingesammelt. Als Otto Meyer Jakob Silberland die Urne überreichte,
+trat lautloses Schweigen ein. Einen Zettel nach dem anderen öffnete
+Jakob Silberland und rief laut den darauf stehenden Namen. Otto Meyer
+notierte die einzelnen Stimmen und zählte sie dann zusammen. Dann
+verkündete Jakob Silberland das Resultat:
+
+»Die Stimmen verteilen sich wie folgt:
+
+Herr Seebeck zweihundertdreiundachtzig Stimmen;
+
+Herr Nechlidow zweihundertsiebenunddreißig Stimmen;
+
+Herr de la Rouvière einhundertachtundsiebzig Stimmen.
+
+Elf Zettel sind blank.
+
+Demnach ist Herr Seebeck ordnungsgemäß zum Vorsteher der Gemeinschaft
+wiedergewählt worden.«
+
+»Aber von einer Minorität!« brüllte Nechlidow. »Ich verlange Stichwahl
+zwischen ihm und mir.«
+
+»Herr Seebeck ist verfassungsgemäß gewählt worden«, donnerte Jakob
+Silberland ihm entgegen.
+
+Jetzt erhob sich ein so unbeschreiblicher Lärm, daß Jakob Silberland
+nicht mehr Ruhe stiften konnte. Er setzte deshalb seinen Hut auf und
+deutete damit an, daß die Sitzung unterbrochen sei. Als auch das noch
+keinen Eindruck machte, verließ er mit seinen Freunden den Saal, gefolgt
+von der Mehrzahl der Versammelten. Zurückblickend sah er, daß Nechlidow
+auf dem Podium stand und eifrig auf die Zurückgebliebenen einredete.
+
+
+
+
+Frau von Zeuthen stand in einem ausgeschnittenen schwarzen
+Schleppkleide hochaufgerichtet vor dem Krüppel, der die langen Arme mit
+den schwarzbehaarten Händen demütig hängen ließ:
+
+»Sagen Sie mir, Herr de la Rouvière, was hatte das zu bedeuten, daß man
+Sie als Seebecks Nachfolger vorschlug?«
+
+»Gnädige Frau, es ist mir selbst vollständig unerklärlich. Ich habe
+nicht die geringste Veranlassung dazu gegeben. Wie sollte ich auch nur
+auf den Gedanken kommen!«
+
+»Aber Herr de la Rouvière, wenn Sie, trotz Ihrer Erklärung, mehrere
+hundert Stimmen erhielten, so zeigt das, daß viele Sie für den
+designierten Nachfolger Seebecks hielten und Ihre Erklärung nur für ein
+Scheinmanöver ansahen. Wir stehen da vor einem System von Intriguen, an
+dem das Mißtrauen, das Nechlidow aussät, nur zum Teil Schuld haben kann.
+Sie müssen doch mindestens eine Vermutung haben, wie dieser seltsame
+Mißgriff geschehen konnte.«
+
+Sie sah mit großen, braunen Augen ernst auf ihn nieder, und unter diesem
+Blicke wurde der Krüppel gleichsam noch kleiner:
+
+»Gnädige Frau«, stieß er hervor. »Ich habe nicht gegen Herrn Seebeck
+intriguiert; im Gegenteil, ich habe den geringen Einfluß, den meine
+Stellung mir gab, nur dazu benutzt, die keimende Unzufriedenheit zu
+beruhigen und in vernünftige und sachliche Bahnen zu leiten. Und die
+Resultate meiner Tätigkeit liegen ja offen zutage.« Er wies auf eine
+Nummer der »Inselzeitung«, die sich auf dem Tische befand.
+
+Frau von Zeuthen schüttelte den Kopf:
+
+»Diese Erklärung genügt mir nicht; sie verschleiert nur. Ich will mehr
+wissen.«
+
+Herr de la Rouvière trat einen Schritt zurück und hob gleichzeitig die
+langen Arme:
+
+»Gnädige Frau, Sie, die hoch oben stehen, wo wir niemals hinkommen
+können - können Sie nicht verstehen, daß wir uns nach der Höhe sehnen?«
+
+Frau von Zeuthen setzte sich auf den Divan; ein Schleier legte sich über
+ihre Augen, aber sie sagte nichts. Herr de la Rouvière trat etwas näher
+und hielt sich an einer Stuhllehne fest.
+
+»Verspottet oder bemitleidet habe ich mein Leben verbracht; niemand
+wollte mich als vollen Menschen anerkennen. Dann brachten Sie mich
+hierher, und hier fand ich zum ersten Male in meinem Leben ein
+Arbeitsfeld. Ich wurde ein Mensch unter Menschen. Ich dachte an Sie und
+wollte Ihnen Ehre machen, wollte Sie, die Unerreichbare, erreichen.«
+
+Frau von Zeuthen senkte den Kopf; ihr Blick ruhte unbeweglich auf ihren
+beiden weißen Händen.
+
+»Die Menschen kamen zu mir, und ich kam ihnen entgegen. Viele haben mich
+um Rat gefragt, und ich habe ihnen nach bestem Gewissen geantwortet. Ich
+genoß Vertrauen, aber ich habe es nicht mißbraucht. Ich wollte nur
+helfen, dem Einzelnen und der Gemeinschaft helfen. Die anderen aber
+haben mich mißverstanden; sie glaubten, ich wollte sie beherrschen. Und
+das wurde mir erst gestern klar.«
+
+Frau von Zeuthen erhob sich:
+
+»Ich kann Ihnen heute nicht antworten«, sagte sie, »ich muß Sie bitten,
+mich jetzt allein zu lassen.«
+
+Er ließ den Stuhl los, an dem er sich festgeklammert hatte und trat
+dicht an sie heran:
+
+»Schicken Sie mich nicht so fort! Sagen Sie, daß Sie mich verstanden
+haben!«
+
+»Ich glaube Sie zu verstehen«, sagte sie langsam, aber sie nahm nicht
+die Hand, die er nach ihr ausstreckte. »Aber gehen Sie jetzt; ich muß
+allein sein.«
+
+Und Herr de la Rouvière ging.
+
+
+
+
+Felix schämte sich doch, seine damalige Forschungsreise so kurz
+abgebrochen zu haben, und ohne die geringsten Entdeckungen zurückgekehrt
+zu sein. Obgleich er den größten Teil der Schuld seiner Schwester
+zuschob, konnte er sich doch nicht vergeben, nicht mehr Standhaftigkeit
+gezeigt zu haben. Andererseits sagte er sich auch, daß sie viel zu
+planlos losgezogen seien, so unvorbereitet, daß sie nicht einmal die
+Entfernung des Vulkans gekannt hatten.
+
+Jetzt saß er fast jeden Nachmittag bei Paul Seebeck und studierte dessen
+Karten und Pläne, von denen fast alle - bis auf diejenigen, die die
+nächste Umgebung und die künstlichen Anlagen betrafen - noch aus der
+Zeit stammten, wo Paul Seebeck ganz allein auf der Insel geweilt hatte.
+
+Paul Seebeck gab ihm alle Hilfsmittel, über die er verfügte, darunter
+auch mehrere Lehrbücher der Geologie und der verwandten Wissenschaften,
+und unterstützte ihn auch soweit mit Erklärungen, wie seine knappe Zeit
+es erlaubte. Fast immer freilich verliefen diese Nachmittage so, daß
+Paul Seebeck, mit der Zigarre in der Hand im Zimmer auf- und abgehend,
+Fräulein Erhardt Briefe diktierte, die diese stenographierte, um sie
+dann später auf der Schreibmaschine zu übertragen, während Felix, über
+sein Material gebeugt, still in einer Ecke saß. War Paul Seebeck mit dem
+Diktate fertig, ging er zu Felix, machte ihn auf einige besondere Dinge
+aufmerksam oder löste dem Knaben Zweifel, soweit er dazu imstande war,
+und verließ dann das Zimmer. Gewöhnlich packte Felix dann bald seine
+Sachen zusammen und ging nach Hause, denn es war ihm unangenehm, mit
+Fräulein Erhardt allein zu sein.
+
+Aber als er wieder einmal mit einem kurzen Abschiedswort fortgehen
+wollte, drehte Fräulein Erhardt sich auf ihrem Rundsessel herum und
+fragte ihn:
+
+»Sind Sie jetzt bald mit Ihren Plänen fertig, Herr von Zeuthen? Wann
+ziehen Sie los?«
+
+Felix besann sich einen Augenblick, dann sagte er:
+
+»Eigentlich bin ich schon fertig. Ich will nur warten, bis es etwas
+kühler geworden ist. Aber das wird es wohl schon in den allernächsten
+Tagen werden.«
+
+Fräulein Erhardt faltete die Hände über den Knieen und beugte sich nach
+vorn; sie fragte:
+
+»Darf ich Sie auf Ihrer Reise begleiten, Herr von Zeuthen?«
+
+Felix sah sie überrascht an:
+
+»Ja, wenn es Ihnen Freude macht, natürlich. Aber sie wird wenigstens
+eine Woche dauern.«
+
+Fräulein Erhardt stand auf und reichte ihm die Hand:
+
+»Ich danke Ihnen.«
+
+Felix war etwas verwirrt, und um seine Ratlosigkeit zu verdecken, küßte
+er Fräulein Erhardts Hand. Sie ließ die ihre einen Augenblick in der
+seinen ruhen. Dann trat er an den Tisch zurück und suchte eine von
+Seebecks ersten Kartenskizzen heraus.
+
+»Sehen Sie«, sagte er, »bis an den Fuß des Vulkans geht die Hochebene.
+Die kenne ich jetzt, und da ist nichts zu holen. Steinplatten, Geröll
+und zuweilen Sandstrecken. Und dasselbe sagt Paul; er ist da überall
+gewesen und hat nichts gefunden. Ich kann mir auch nicht denken, daß da
+irgend etwas sein sollte. Aber dort am Fuße des Vulkans, hier, wo Paul
+die Striche gemacht hat, sagt er, wäre eine Masse von Schluchten. Er ist
+nicht weiter gekommen, weil er keine Zeit hatte. Dort ist der Boden auch
+zuweilen so heiß gewesen, daß er ihn nicht betreten konnte. Da müßten
+wir also hin. Ich dachte, an einem Tage direkt bis zu den Schluchten zu
+reiten - Sie können doch reiten, Fräulein Erhardt?«
+
+»Ja, aber ich habe kein Pferd.«
+
+»Das tut nichts, Sie können das von Hedwig nehmen. - Ja, und dann
+müssen wir sehen, was wir da oben finden. Natürlich müssen wir auch auf
+den Vulkan steigen.«
+
+»Ich werde Herrn Seebeck bitten, mir jetzt meinen Urlaub zu geben«,
+sagte Fräulein Erhardt. »Ich freue mich sehr auf die Reise, Herr von
+Zeuthen.«
+
+Felix verbeugte sich etwas ungeschickt und ging.
+
+Schon in den nächsten Tagen nahm die Hitze ab; kühle Winde strichen über
+die Insel und führten leichte, graue Wolkenzüge mit; ja, gelegentlich
+fielen sogar einige Regentropfen. Jetzt, zwischen Sommerhitze und
+Regenperiode, war die geeignete Zeit für einen längeren Ausflug
+gekommen.
+
+Am Tage vor ihrem Aufbruch hatte sich Paul Seebeck mehrere Stunden von
+seiner Arbeit frei gemacht und half den beiden bei ihren Vorbereitungen.
+Er sorgte dafür, daß sie Proviant für vierzehn Tage, und auch sonst
+alles Notwendige, doch nichts Überflüssiges mit hatten. Was die Pferde
+anging, riet Seebeck, sie nach der Ankunft einfach loszulassen; sie
+würden dann ohne weiteres nach Hause laufen. Felix und Fräulein Erhardt
+müßten dann allerdings zu Fuß heimkehren. Auf dem Hinwege brauchten sie
+aber unbedingt die Pferde, des Transportes ihrer Sachen wegen.
+
+Noch vor der Morgendämmerung brachen sie auf, und gerade, als sie das
+Volkshaus erreichten, hob sich die Sonne über den Horizont. Der Nachttau
+verschwand bald von den Steinen, aber trotz des wolkenlosen Himmels
+wurde es nicht heiß. Die Spitze des Vulkans lag vollkommen frei von
+Wolken und Schleiern vor ihnen.
+
+Sie ritten in langsamem Trabe an dem Staubecken vorbei und kamen auch zu
+der Stelle, wo sich Felix und Hedwig damals zur Umkehr entschlossen
+hatten. Erst zur Mittagsstunde stiegen sie von den Pferden. Felix
+öffnete einige Konservenbüchsen und bot Fräulein Erhardt vom Inhalte an.
+Als sie gegessen hatten, warf er sich auf den Boden, zog eine seiner
+Kartenskizzen hervor und bemühte sich, sich über ihren gegenwärtigen
+Standort zu orientieren. Fräulein Erhardt saß inzwischen auf einem Stein
+und schaute abwechselnd auf ihren Reisegenossen und auf die starre
+Steinwüste. Nach zweistündiger Rast brachen sie wieder auf. Sie hielten
+streng die Richtung auf den Vulkan ein, mußten aber immer größere Umwege
+machen, um tiefe Spalten im Boden zu umreiten. Das Gelände wurde auch
+immer welliger, und gleichzeitig trat mehr und mehr Geröll und Grus auf.
+Das Geräusch vom Flusse her war vollkommen verstummt, aber immer höher
+und breiter reckte sich der Vulkan. Aus dem regelmäßigen Kegel lösten
+sich immer größere Vorsprünge heraus, und tiefe Einschnitte zeigten sich
+an seinen Wänden.
+
+Auch das ganze Bild der Gegend hatte sich verändert. Es gab keine Ebene
+mehr, aus der sich plötzlich scharf umgrenzt der Vulkan erhob. Ebene und
+Vulkan kamen einander entgegen, verwischten in ihrer zunehmenden
+Zerklüftung ihre Gegensätze und verschmolzen zuletzt zu einem wilden
+Körper.
+
+Fräulein Erhardt und Felix ritten an hohen Felsblöcken vorbei, mußten
+oft im Zickzackwege an steilen Geröllhalden hinab- und hinaufreiten. Das
+Traben war unmöglich geworden, und im mühsamen Schreiten wiegten die
+kleinen, starken Pferdchen rhythmisch die Köpfe.
+
+Die Spitze des Vulkans war zurückgetreten und zuletzt ganz hinter einer
+hohen Felswand versunken. Und hier hielten die beiden an, um im Schutze
+der Felswand die Nacht zu verbringen. Sie nahmen das Gepäck von den
+Pferden, gaben ihnen den letzten Rest des mitgebrachten Heus zu fressen,
+nahmen ihnen dann das Zaumzeug ab und banden es an den Sätteln fest. Die
+klugen Tierchen blieben erst schnuppernd stehen, gingen einige Schritte
+heimwärts und wandten dann wieder die Köpfe nach Felix zurück. Da dieser
+aber keine Miene machte, sie zurückzuhalten, setzten sie sich in
+langsamen Trott und waren bald hinter den Felsen verschwunden.
+
+Während Fräulein Erhardt und Felix fast schweigend ihr Abendessen
+einnahmen, wurden die Schatten unheimlich lang und kalt, krochen an den
+Felswänden empor, hier und da leuchtete noch eine Spitze, ein
+Vorsprung -
+
+Wenige Minuten später war es dunkel, und sofort legte sich ein schwerer
+Tau auf Gesicht und Kleider.
+
+Felix zündete eine kleine Lampe an und ordnete in ihrem schwachen
+Lichtscheine die mitgebrachten Sachen. Er rollte die Schlafsäcke auf und
+stellte die Konserven in eine kleine Spalte, die er - um sie vor den
+Sonnenstrahlen zu schützen - noch mit einem flachen Steine zudeckte.
+Dann kroch er in seinen Schlafsack, gähnte, wünschte Fräulein Erhardt
+eine gute Nacht und schlief fest ein. Fräulein Erhardt aber blieb noch
+lange auf ihrem Steinblock sitzen; zuweilen bewegte sie fröstelnd die
+Schultern. Zuletzt ging sie vorsichtig zu Felix, kniete neben den
+Schläfer hin, beugte ihr bleiches Gesicht über ihn und küßte ihn leise
+auf die Stirn. Felix rührte sich nicht. Da ging Fräulein Erhardt
+gesenkten Hauptes zurück und legte sich endlich zur Ruhe.
+
+Als sie am Morgen aufwachte, war Felix fort. Sie sprang schnell auf und
+brachte ihre zerdrückten Kleider, so gut es sich machen ließ, in
+Ordnung. Felix kam erst nach einer Stunde. Er war beim Flusse gewesen
+und hatte Wasser geholt. Er setzte das Wasser über den Spirituskocher
+und sagte:
+
+»Wissen Sie, was ich herausgefunden habe, Fräulein Erhardt? Wir sind vom
+Wege ein tüchtiges Stück nach links abgekommen. Die Spalten, von denen
+Paul mir erzählt hat, habe ich sehn können, wie ich zum Fluß ging. Hier
+ist sicher überhaupt noch nie ein Mensch gewesen. Am liebsten möchte ich
+die Spalten in Frieden lassen und noch weiter nach links, also nach
+Süden, gehn.«
+
+Er stürzte in großer Hast seinen Tee hinunter und ging dann zum nächsten
+Hügel, wo er eine mächtige Steinpyramide errichtete.
+
+»So, jetzt können wir unsere Sachen immer wieder finden«, sagte er.
+»Sind Sie fertig?«
+
+Fräulein Erhardt war fertig und bereit, ihm zu folgen.
+
+Sie gingen an der Felswand entlang und kamen nach einer halben Stunde an
+eine Geröllhalde. Hier stiegen sie höher hinauf, bis sie an einen Absatz
+kamen, von dem aus sie Umschau halten wollten. Aber sie konnten nicht
+weit sehen; hätten sie nicht gewußt, daß sie sich am Abhange des Vulkans
+befanden, der sich hoch über die Ebene reckte - hier hätten sie es nicht
+feststellen können, denn an allen Seiten sahen sie nur ein Gewirr von
+Felsen und Schutthügeln, das jede Aussicht versperrte. Nur an einem
+einzigen Punkte, gerade zwischen zwei Basaltfelsen, konnten sie die
+Ebene und sogar ein Streifchen des hellschimmernden Meeres sehn.
+
+Sie gingen weiter; Felix immer zwanzig Schritte voraus. Das Gefälle war
+jetzt viel geringer, und das Geröll wurde oft durch Strecken von
+graublauem Sande und Lehm unterbrochen, aus dem oft kleine Quellen
+entsprangen, die aber alle bald wieder im Gerölle verschwanden.
+Plötzlich schrie Felix leicht auf: er war mit dem einen Bein bis zum
+Knie in ein Schlammloch gesunken. Fräulein Erhardt eilte erbleichend zu
+ihm, aber er hatte sich schon wieder beruhigt und zeigte ihr lachend das
+schmutzige Bein und das Loch, in dem sich jetzt gurgelnd trübes Wasser
+ansammelte. Aber Felix war durch den Vorfall vorsichtiger geworden; er
+umging die immer häufiger auftretenden feuchten, dunklen Strecken, bis
+sie endlich wieder auf festen Basaltgrund kamen. Hier sah Felix auf die
+Uhr: sie waren schon drei Stunden ununterbrochen gestiegen. Dann setzte
+er sich auf einen Stein, um Fräulein Erhardt zu erwarten, nahm sich
+einen Stein und kratzte den Schmutz vom Strumpf und Stiefel.
+Naserümpfend warf er den Stein fort, denn das Zeug hatte einen widrigen,
+fauligen Geruch.
+
+Als Fräulein Erhardt neben ihm stand, reichte er ihr eine Tafel
+Schokolade und rückte gleichzeitig etwas auf seinem Steine zur Seite, um
+auch ihr Platz zu machen. Aber sie bemerkte es nicht; nachdenklich
+knabberte sie an der Schokolade und blickte dabei vor sich auf den
+Boden.
+
+Etwas gelangweilt und mißvergnügt sah Felix sie an; aber dann wurden
+seine Züge plötzlich weich, und er wandte sich ab.
+
+»Sehen Sie doch, wie schön es hier ist«, sagte er und streckte die Hand
+aus.
+
+Fräulein Erhardt sah erst ihn mit ihren großen, schwarzen Augen an, dann
+drehte sie sich ganz langsam umher. Jetzt waren die Felsen, die ihnen
+vorher den Blick versperrt hatten, tief unten versunken. Sie hoben sich
+kaum merkbar über die Ebene, die breit und flach dort unten lag. Ein
+schmales Silberband - der Fluß - zog sich in Windungen hindurch; dort
+lag ein kleiner hell spiegelnder Fleck - das Staubecken, und hinten,
+weit hinten, das Meer -
+
+Fräulein Erhardt hatte die Hand auf Felix' Schulter gelegt, und er
+empfand wohlig den leichten Druck. Aber dann merkte er ihre Wärme durch
+seine Kleider dringen, und das verursachte ihm ein unbehagliches Gefühl.
+Er stand auf:
+
+»Wir haben keine Zeit, Fräulein Erhardt, wenn wir heute noch hinauf
+wollen«, sagte er.
+
+»Dann lassen Sie uns weitergehn«, antwortete sie einfach und schlug die
+Augen nieder.
+
+Sie stiegen weiter. Plötzlich blieb Felix stehen.
+
+»Riechen Sie nichts, Fräulein Erhardt?« fragte er.
+
+Sie sog die Luft ein:
+
+»Ja, das ist doch Meergeruch!« sagte sie erstaunt.
+
+Felix schüttelte den Kopf:
+
+»Ich finde es auch. Aber das ist doch ganz unmöglich. Wir sind doch ganz
+weit vom Meere, und außerdem so hoch -«
+
+Aber je höher sie kamen, um so stärker wurde der unverkennbare
+Tanggeruch. Außerdem waren immer wieder große, feuchte Lehmflecke
+zwischen den Felsen. Um sie zu umgehn, mußten sie mehrmals an den
+zackigen Felsen emporklettern.
+
+Auf einmal lag wieder die Spitze des Vulkans in ihrer bekannten Form vor
+ihnen, nur daß sie jetzt in der Nähe scharf und zackig aussah. Aber
+zwischen dem Vulkane und ihnen lag in einem langen und breiten Becken
+grünlich und fett schimmernd ein großer See. Jetzt nach dem heißen
+Sommer war der Wasserspiegel weit zurückgetreten, und die lehmigen Ufer
+waren mit ungeheuren Massen von Tang und vertrockneten Algen bedeckt.
+
+Skelette von Fischen lagen zu Tausenden herum, ebenso die Reste von
+großen Seesternen und Krebsen.
+
+Jetzt kam ein Windhauch und trieb Fräulein Erhardt und Felix den Gestank
+ins Gesicht. Trotzdem machte sich Felix an den Abstieg, während Fräulein
+Erhardt oben blieb. Sie sah ihm nach, wie er von Stein zu Stein
+hinuntersprang und dann unten am Rande des Wassers entlang ging. Nach
+einer Weile kam er, hochrot im Gesicht, den Abhang wieder
+hinaufgestürmt.
+
+»Wissen Sie was, Fräulein Erhardt?« rief er, noch ganz atemlos. »Im
+Wasser wimmelt es von Fischen und Krebsen! Es sieht genau so aus, wie in
+der Irenenbucht.«
+
+Sie gingen einige Schritte zurück, so daß sie der Geruch nicht mehr so
+belästigte. Dann fragte Fräulein Erhardt:
+
+»Wie wollen Sie diese sonderbare Erscheinung erklären, Herr von
+Zeuthen?«
+
+Felix dachte nach.
+
+»Paul glaubt ja, daß die ganze Insel in etwas anderer Form schon früher
+da war, untersank und dann jetzt bei der Bildung des großen Vulkans
+wieder aufstieg. Es wäre ja möglich, daß wir hier den früheren Krater
+vor uns haben, in dem sich unter dem Meere alle die Tiere und Pflanzen
+angesiedelt haben. Wie die Insel aufstieg, hat sich diese ganze
+abflußlose Schüssel mit ihrem ganzen Inhalte mit gehoben und bildet
+jetzt tausend Meter über dem Meere einen Salzsee. Das muß ich Allan
+erzählen, der wird gleich etwas großartiges daraus machen.« Und Felix
+begann gleich Fräulein Erhardt großzügige Pläne zu entwickeln, wie man
+durch eine regulierte Wasserzufuhr verhindern könnte, daß der Spiegel
+sich in der Trockenheit senkte. Die konstante Höhe des Wassers wäre die
+erste Grundlage für weitere Arbeiten. Dann müßte man Fische
+hineinbringen, die sowohl im Meere wie in Flüssen leben könnten und die
+sich dann dem langsamen, aber unvermeidlichen, allmählichen Salzverluste
+des Wassers anpassen würden. Und ebensolche Pflanzen. Dann Vögel
+herlocken, den überflüssigen Tang als Dünger für Anlagen verwenden - oh,
+es würde schon alles gehn; Allan würde hier mitten in der Steinwüste ein
+Paradies schaffen.
+
+Sie gingen weiter, des Geruches wegen immer so, daß ein Wall zwischen
+ihnen und dem See lag. Zuweilen konnten sie es sich doch nicht versagen,
+die paar Schritte hinaufzulaufen, um sich das Wasser wieder anzusehen,
+das sich mehr und mehr zur Seite schob. Gleichzeitig versank die Spitze
+des Vulkans wieder hinter vorspringenden Felsen. Nun konnten Fräulein
+Erhardt und Felix wieder höher steigen, aber nur schräg aufwärts, so daß
+sie immer mehr nach rechts gerieten. Jetzt befanden sie sich ungefähr
+über ihrem Schlafplatze, eine halbe Stunde über der Quelle des Flusses
+und dann über jenem Gewirre von Schluchten und Rissen. Der See war
+vollkommen verschwunden.
+
+Plötzlich hielt Felix an; er faßte erregt Fräulein Erhardts Hand:
+
+»Sehn Sie dort unten, was ist jetzt das?«
+
+Fräulein Erhardt sah hin: in etwas geringerer Höhe, als in der, wo sie
+standen, lagen rötlich-gelbe Erdwellen, aus denen Dampf entstieg, hier
+als verteilter Dunst, dort in kleinen, festen Strahlen.
+
+»Wollen Sie hingehn?« fragte Fräulein Erhardt.
+
+»Natürlich, da müssen wir hin.«
+
+»Aber dann kommen wir heute nicht mehr auf den Vulkan.«
+
+»Dann gehn wir morgen hin. Wir haben ja Zeit. Aber das da muß ich
+untersuchen.«
+
+Und er ging so schnell, lief lange Strecken, daß Fräulein Erhardt ihm
+nicht zu folgen vermochte. Als sie erst die halbe Strecke zurückgelegt
+hatte, kam ihr Felix schon wieder entgegen.
+
+»Sehen Sie, was ich hier habe!« rief er und zeigte ihr einige
+grobkörnige, gelbliche Steinbrocken.
+
+»Ist das nicht Schwefel?« fragte sie erstaunt.
+
+»Ja, alle die gelben Hügel da unten bestehen aus Schwefelbrei und Lehm.
+Man muß vorsichtig sein, daß man da nicht versinkt. Und überall sind
+heiße Quellen, die entsetzlich nach Schwefelwasserstoff riechen. Gott,
+wie schön ist das alles.«
+
+Fräulein Erhardt sah erst dem Knaben in das heiße, strahlende Gesicht
+und wandte sich dann langsam ab. Sie ließ den Blick über die weite Ebene
+schweifen, die, vom vielfach gewundenen Flusse durchzogen, dort unter
+ihnen lag. Sie folgte mit dem Auge der großen Linie des Horizontes, wo
+Meer und lichtblauer Himmel sich trafen, sie sah auf die starren
+Steinblöcke um sich, sah die Spitze des Vulkans in die Höhe ragen -
+
+»Ist es nicht prachtvoll, daß es hier so etwas gibt?« sagte Felix
+ungeduldig und etwas ärgerlich.
+
+Mit einem gütigen Lächeln wandte sie sich ihm zu.
+
+»Gewiß ist das schön«, sagte sie. »Glauben Sie, daß es eine praktische
+Bedeutung hat?«
+
+Felix wurde eifrig. Natürlich müßte man hier Schwefelminen anlegen -
+
+Ob es ihm nicht leid täte, die Unberührtheit der Natur zu zerstören? Oh,
+Allan würde es so machen, daß es eine Verschönerung, eine Funktion der
+Natur würde, eine natürliche Fortentwicklung, wie das Wachsen des Mooses
+auf den Felsen.
+
+»Allan und immer wieder Allan!« dachte Fräulein Erhardt und sah zu
+Boden. »Hat er denn keinen Gedanken mehr für andere Menschen übrig?«
+
+»Was machen wir jetzt?« sagte Felix. »Auf die Spitze können wir nicht
+mehr kommen. Es ist ja schon vier Uhr. Wir können noch gerade vor der
+Dunkelheit unten sein. Dann haben wir aber morgen wieder dieselbe
+Geschichte. Ich glaube, es wäre am vernünftigsten, einfach hier zu
+übernachten. Ich habe noch drei große Konservenbüchsen mit Fleisch und
+eine ganze Masse Schokolade in meinem Rucksack. Damit können wir, wenn
+wir etwas sparen, gut noch zwei Tage auskommen.
+
+Sobald wir dann wieder unten sind, können wir uns wieder satt essen. Was
+meinen Sie dazu?«
+
+Fräulein Erhardt sah sich um und suchte sich vorzustellen, wie man hier
+auf den nackten Steinen schlafen sollte.
+
+»Ja«, sagte sie etwas zögernd.
+
+»Gut, dann steigen wir jetzt noch so hoch wir können. Vielleicht können
+wir dann schon morgen Abend wieder unten sein.«
+
+Sie stiegen noch zwei Stunden. Der Weg bot keine besonderen
+Schwierigkeiten mehr, so daß sie im Gehen wirklich die immer großartiger
+werdende Aussicht genießen konnten.
+
+Als sich die Sonne dem Horizonte näherte, sahen sie, daß sie nur noch
+wenige Stunden bis zum Gipfel brauchen würden. Eine kleine Terrasse mit
+Lehmboden und einem kleinen Wässerchen wählten sie als Schlafplatz.
+Felix knöpfte seine Jacke zu, steckte die Hände in die Hosentaschen,
+wünschte Fräulein Erhardt eine gute Nacht und schloß die Augen. Sie sah
+ihn mit ihren großen Augen an, sah im rasch fortschreitenden Dunkel
+seine Knabengestalt undeutlicher und undeutlicher werden. Sie fröstelte,
+sie zitterte; Angst und Sehnsucht überfielen sie. Mit einem Aufschrei
+warf sie sich auf den Schläfer und küßte ihm Augen und Mund.
+
+Felix erwachte wieder, machte eine Bewegung, wie um sie abzuschütteln
+und zog sie dann tief aufatmend an sich.
+
+
+
+
+Die Nachricht von Felix' Entdeckungen erweckte naturgemäß großes
+Interesse in der Stadt. Paul Seebeck schlug ihm vor, er solle im
+Volkshause einen Vortrag über seine Reise mit Fräulein Erhardt halten;
+aber dazu ließ sich Felix nicht bereit finden.
+
+»Ich habe die Sache schon so oft erzählt; ich kann sie nicht noch einmal
+erzählen«, sagte er.
+
+Dabei hatte er sie mit allen Einzelheiten - doch nicht denen rein
+persönlicher Natur - und allen seinen Gedanken, die sich an das
+Geschehene knüpften, nur einem Einzigen ordentlich erzählt, und das war
+Edgar Allan. Und wenige Tage darauf - der Architekt hatte nur einige
+dringende Arbeiten fertig gemacht - ritten er und Felix, trotz des
+feinen, aber ständigen Regens, der die Regenzeit einleitete, zum
+Vulkane.
+
+Als sie nach einigen Tagen zurückgekehrt waren, bewahrten sie absolutes
+Stillschweigen über die Resultate ihrer genauen Untersuchungen. Aber die
+beiden, der Mann und der Knabe, saßen täglich stundenlang zusammen.
+
+Erst nach zwei Wochen waren sie so weit, daß sie die Vorsteher ins
+Vertrauen zogen, und gleichzeitig erschien eine kleine Notiz in der
+»Inselzeitung« des Inhalts, daß sich die Schwefellager als abbauwert
+erwiesen hätten.
+
+In der nächsten Monatsversammlung der Gemeinschaft legte dann Jakob
+Silberland die von Edgar Allan und Felix ausgearbeiteten und von der
+Vorsteherschaft gutgeheißenen Pläne vor. Es handelte sich um nichts
+weniger, als die Errichtung einer zweiten Stadt dort auf halber Höhe des
+Vulkans; einer Stadt, die sich gleicherweise um das Schwefelgebiet wie
+den See gruppieren sollte. Die Schwefelminen sollten abgebaut, die
+Quellen aber zu Heilzwecken verwendet werden. Am Seeufer sollten die
+Wohnhäuser liegen. Otto Meyer verteilte Vervielfältigungen von Edgar
+Allans Skizze, aus denen in großen Zügen die geplante Verbindung von
+Minenstadt und Bade- und Luftkurort zu ersehen war.
+
+Die Kredite, die zur Durchführung notwendig waren, waren nicht groß;
+Edgar Allan verlangte nur die Anlage einer für Lastautomobile fahrbaren
+Straße zum Vulkane und die Anschaffung der wenigen Maschinen, die zur
+Hebung des fast an der Oberfläche liegenden Schwefels dienen sollten.
+Die späteren Anlagen sollten aus der Hälfte der Erträgnisse der
+Schwefelminen bestritten werden, wobei die andere Hälfte der
+Gemeinschaft zufallen sollte. Und diese Kredite wurden natürlich ohne
+Widerspruch bewilligt.
+
+Darauf bat Jakob Silberland um Urlaub aus seinem Amte bis zur nächsten
+Jahresversammlung, wo er sich über die endgiltige Niederlage seines
+Mandats entscheiden würde. Vorläufig wollte er die geschäftliche Leitung
+des neuen Unternehmens übernehmen. Der erbetene Urlaub wurde ihm
+gewährt, und als sein Stellvertreter wurde der durch Zuruf
+vorgeschlagene Herr de la Rouvière gewählt, der die Wahl mit einigen
+Dankesworten annahm.
+
+
+
+
+Dr. Jakob Silberland hatte Otto Meyer aufgesucht, mit dem er ein
+Gesetzbuch für die Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel entwarf, und
+jetzt standen sie von ihrer Arbeit auf. Der Nationalökonom reckte sich
+und sagte:
+
+»Sie sind eigentlich der Einzige hier, der eine wirklich gemütliche
+Wohnung hat; Ihre wunderschönen, orientalischen Teppiche und die dunklen
+Möbel -«
+
+»Na, wissen Sie was, Doktor. Die schöne Frau wohnt doch noch ganz
+anders.«
+
+Jakob Silberland zuckte die Achseln:
+
+»Weiß nicht. Sie hat ja alles sehr nett und sehr geschmackvoll
+eingerichtet, aber ich kann bei ihr nun mal nicht warm werden. Ich
+glaube, sie hat zu viel Luft in ihren Zimmern.«
+
+Der lange, blonde, jüdische Referendar lachte:
+
+»Ja, da haben Sie wieder mal recht; nichts auf der Welt macht eine
+Wohnung so gemütlich, wie Staub und alter Tabaksrauch - ein Lehrsatz,
+den man übrigens auch gut und gern auf die große Welt übertragen kann.
+Finden Sie es vielleicht hier in unserem reinlichen und korrekten Staat
+gemütlich? Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich mich zuweilen
+nach den ehrwürdigen, europäischen Spinngeweben sehne.«
+
+Jakob Silberland war ernst geworden; er dachte einen Augenblick nach,
+dann sagte er eifrig:
+
+»Sie können nicht so die Parallele zwischen Zimmer und Welt ziehen. Was
+im Zimmer erlaubt ist, kann draußen ein Verbrechen sein. Im Gegenteil
+fürchte ich, daß wir schon einige Spinnen hier haben, und wir müssen für
+einen kräftigen Besen sorgen, um die Gewebe wegzufegen.«
+
+Otto Meyer klopfte ihm auf die Schulter:
+
+»Nehmen Sie die Geschichte nicht so tragisch. So war es nicht gemeint.«
+
+»Das weiß ich schon; Sie wollten nur einen Witz machen. Aber gerade im
+Witze sagt man oft Dinge, die man sonst nicht auszusprechen wagt.«
+
+»Aber liebster Doktor, Sie brauchen meine Worte nicht als Bibelweisheit
+aufzufassen. Ich kann Ihnen versichern, daß ich kein Philosoph bin.«
+
+»Gerade deshalb - Halloh!«
+
+Es hatte geklingelt und Melchior war eingetreten. Er war augenscheinlich
+ohne Mantel gekommen, denn er triefte von Wasser.
+
+»Guten Tag, Herr wissenschaftlich gebildeter Bauarbeiter!« Mit diesen
+Worten begrüßte ihn Otto Meyer und schüttelte ihm die Hand.
+
+»Störe ich?« fragte Melchior und blieb an der Türe stehen.
+
+»Durchaus nicht«, sagte Jakob Silberland und ging auf ihn zu. »Im
+Gegenteil, Sie sind uns sehr willkommen. Nachher kommt auch Seebeck. Wir
+wollten später zu Ihnen gehn; wir haben Wichtiges mit Ihnen zu
+besprechen.«
+
+»Einen Augenblick«, sagte Otto Meyer und ging in sein Schlafzimmer, aus
+dem er mit einem großen, rosa Bademantel zurückkehrte, den er mit
+ernsthaftem Gesicht um Melchiors Schultern hängte. Er stülpte ihm auch
+die Kapuze über den Kopf.
+
+»So«, sagte er, »jetzt werden Sie sich nicht erkälten.«
+
+Melchior ließ sich alles ruhig gefallen. Er setzte sich, und seine
+heißen, tiefliegenden Augen wanderten zwischen den Beiden hin und her.
+
+»Was wollen Sie von mir?« fragte er.
+
+Otto Meyer zog die Hängelampe herunter, nahm Kuppel und Zylinder ab,
+putzte den Docht und zündete ihn dann an. Dabei sagte er:
+
+»Ich soll ein neues Amt übernehmen, und da wollten wir Sie fragen, ob
+Sie an meine Stelle rücken wollten.«
+
+Melchior schüttelte langsam den Kopf:
+
+»Das geht nicht«, sagte er, »das wissen Sie ja.«
+
+»Hören Sie mal«, sagte Jakob Silberland. »Wir wissen ja alle, aus
+welchen Motiven Sie bisher die Übernahme eines Amtes abgelehnt haben und
+einfacher Arbeiter geblieben sind. Sie wollten Studien machen und dabei
+Ihrem Studienobjekte so nah wie möglich sein. Das ist nicht nur
+verständlich, sondern sogar sehr vernünftig. Jetzt liegen sie aber so,
+daß wir Ihre Mitarbeit brauchen, dringend brauchen, und deshalb bitten
+wir Sie, aus dem Zuschauerraum auf die Bühne zu steigen.«
+
+Melchior schüttelte den Kopf:
+
+»Wir gingen von der Voraussetzung aus, daß alle Arbeit gleichwertig sei;
+deshalb muß es gleichgiltig sein, ob ich Vorsteher der Gemeinschaft oder
+Maurer bin.«
+
+»Nein, da irren Sie sich gewaltig«, sagte Jakob Silberland mit
+hochgezogenen Brauen und ging nervös im Zimmer auf und ab. »Allerdings
+betrachten wir alle Arbeit als gleichwertig, was sich schon darin
+äußert, daß alle Arbeiter den gleichen Lohn beziehen. Doch ist dabei
+selbstverständliche Voraussetzung, daß jeder an dem richtigen Platze
+steht. Es ist eine doppelte Verschwendung menschlicher Energie, den
+geistigen Arbeiter an die körperliche Arbeit zu stellen, die er doch
+nicht so versehen kann, wie der Muskelmensch. Das ist doch die Grundlage
+einer jeden vernünftigen Gesellschaftsordnung, daß jeder ganz genau die
+Arbeit tut, zu der er am besten geeignet ist. Das ist doch gerade der
+Wahnsinn der üblichen Gesellschaftsordnungen, daß die Angehörigen
+gewisser Familien geistige Berufe ergreifen müssen, wenn sie auch
+tausendmal besser zu Handwerkern paßten, während der geborene geistige
+Arbeiter aus der Unterklasse nur in Ausnahmefällen auf den ihm seiner
+natürlichen Anlage nach zukommenden Platz kommt.«
+
+Melchior war aufgesprungen. Erregt wollte er seinen Arm ausstrecken,
+aber der verfing sich in den Falten des Bademantels, ein Vorgang, der
+Otto Meyer ein Schmunzeln entlockte. Er verbiß es aber und sagte:
+
+»Und dann noch eins, Herr Melchior: Sie haben ja Ihr berühmtes Problem,
+auf dessen Lösung wir alle gespannt sind. Schaun Sie mal, bis jetzt
+haben Sie die Geschichte von unten angesehn, wie wäre es, wenn Sie sie
+auch einmal von oben ansähen? Glauben Sie nicht, daß Ihnen dann manche
+Dinge klarer würden? Das wäre doch auch ein Gesichtspunkt, nicht wahr?«
+
+Melchior hatte den Bademantel abgestreift.
+
+»Oh Gott, oh Gott, was sagen Sie mir da alles, darüber werde ich
+nachdenken. Aber ich glaube, Sie haben Recht, meine Herren.«
+
+»Na also«, sagte Otto Meyer und unterdrückte ein Gähnen.
+
+Melchior war dicht an ihn herangetreten.
+
+»Aber ich begreife die Menschen noch nicht, mit denen ich jetzt
+jahrelang tagtäglich zusammenarbeite. Wäre es nicht besser, solange bei
+ihnen zu bleiben, bis ich wirklich die Gesetze ihres Lebens kennte?«
+
+Otto Meyer machte ein nachdenkliches Gesicht:
+
+»Vielleicht, ja wahrscheinlich, werden Sie die Sache dann gerade besser
+verstehen können, wenn Sie etwas Abstand gewinnen. Sie können ja dann
+später mit neuen Gesichtspunkten an dieselben Probleme gehen.«
+
+Melchior setzte sich wieder und starrte vor sich hin. Dann hob er die
+Augen und sah den blonden Juden an.
+
+»Sehen Sie, Herr Referendar«, sagte er langsam, »deswegen kam ich zu
+Ihnen. Ich wollte Sie um Ihre Meinung fragen. Sie erinnern sich doch
+gewiß noch an jene Gespräche, besonders an das letzte, wo Herr Edgar
+Allan seine Theorie vortrug. Sie haben natürlich auch darüber
+nachgedacht. Sehen Sie, die eine, sehr interessante Frage, weshalb man
+die staatlichen Formen im weitesten Sinne, das, was Herr Edgar Allan
+kurz die Begriffe nennt, sowohl als fortgeschrittener, wie auch als
+zurückgebliebener in bezug auf den tatsächlichen Zustand der Menschheit
+ansehen könnte, möchte ich beiseite lassen. Denn mir scheint - ich bitte
+Sie, passen Sie auf, meine Herren - daß jene Begriffe mit den Gesetzen,
+nach denen die Menschheit tatsächlich lebt und sich entwickelt,
+überhaupt nichts zu tun haben.«
+
+»Donnerwetter!« rief Jakob Silberland und fuhr sich mit der Hand durch
+das lange, blauschwarze Haar.
+
+»Herr Doktor Silberland, ich bitte Sie, sich folgendes zu überlegen:
+stellen Sie sich doch eine chinesische Millionenstadt ohne Verwaltung,
+ohne Gesetze und ohne Polizei vor, die trotzdem lebt, wie ein geordneter
+Organismus lebt, nur durch die ungeschriebenen, inneren Gesetze
+erhalten -«
+
+»Wie lange waren Sie in China, Herr Melchior?« fragte Otto Meyer
+interessiert.
+
+»Ich? Ich war nie da, aber ich kann mir doch vorstellen, wie das ist.«
+
+»Hm. Ich meine, wenn Sie China nicht so genau kennen, es wäre doch
+immerhin möglich, wenigstens denkbar, daß die chinesischen Städte auch
+wie die unserigen eine geordnete Verwaltung hätten.«
+
+Melchior schwieg und dachte nach. Dann sagte er:
+
+»Aber dann denken Sie doch bitte an einen Ameisenhaufen, der doch wohl
+die geordnetste Organisation auf der Welt darstellt - wo ist da
+Verwaltung und Regierung? Und doch geht alles in der besten Ordnung.«
+
+Melchior sah, daß es um Otto Meyers Mund zuckte, und er fürchtete eine
+indiskrete Frage nach dem Ursprung seiner Kenntnisse der Ameisen.
+Deshalb fuhr er schnell fort:
+
+»Die Beispiele tun gar nichts zur Sache. Tag für Tag habe ich diese
+ungeschriebenen Gesetze herausgefühlt und ich weiß, daß ich deshalb mit
+meinen Arbeitskollegen keine wirkliche Fühlung gewinnen konnte, weil ich
+diese instinktiven Gesetze intellektuell suchte.«
+
+»Sie suchen Probleme, wo es keine gibt«, sagte Jakob Silberland. »Die
+ungeschriebenen Gesetze, die Sie sehr richtig als die instinktiven
+bezeichnen, sind die, die sich aus den natürlichen, animalischen
+Bedürfnissen des Menschen: Hunger, Liebestrieb und so weiter ergeben.
+Die geschriebenen Gesetze dagegen stellen eine recht hilflose
+Kodifikation dieser aus den animalischen Bedürfnissen im weitesten Sinne
+sich ergebenden praktischen Folgerungen für die Sozietät dar, die immer
+in ihrem tatsächlichen Zustande die genaueste Abwägung der realen
+Stärke- und Bedürfnisverhältnisse darstellt. Die Gesetze hinken
+natürlich immer nach. Und das ist ja unser Bestreben hier, so wenig wie
+irgend möglich mit festen Gesetzen zu arbeiten, sondern alles so fluid
+zu lassen, wie es geht. Gesetze stellen in ihrer starren Abstraktion
+immer einen Fremdkörper im zuckenden, lebendigen Organismus der
+menschlichen Gesellschaft dar.«
+
+Melchior ließ die Hand schlaff auf die Stuhllehne fallen:
+
+»Da sitzen wir wieder fest. Aber Dr. Allan scheint doch recht zu haben,
+wenn er sagt, daß die Begriffe ein eigenes, lebensfremdes Dasein führen.
+Und wie ist das möglich, daß sie gleichzeitig ein höheres und ein
+tieferes Niveau als die Menschheit darstellen! In diesem Rätsel liegt
+doch der Schlüssel zum Problem verborgen.«
+
+Otto Meyer räusperte sich:
+
+»Wahrscheinlich ist die Sache einfach so, daß man sie, von zwei
+verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtend, verschieden sieht. Vom
+Tale aus gesehen sind sie hoch, vom Berge aus erscheinen sie tief, weil
+sie eben auf halber Höhe liegen.«
+
+Melchior sprang auf. Seine Augen waren aufgerissen:
+
+»Ich bitte Sie, mehr! Wie ist Ihr Gedankengang?«
+
+Otto Meyer lachte:
+
+»Um Gotteswillen beruhigen Sie sich. Ich habe gar keinen Gedankengang.
+Ich meinte nur ganz harmlos, daß wenn Sie behaupten, daß der Teppich
+grün ist, Silberland ihn dagegen für gelb hält, er vermutlich auf der
+einen Seite grün und auf der anderen gelb ist.«
+
+Melchior sah ihn verständnislos an; dann sank er gleichsam in sich
+zusammen. Nach einer Weile sagte er leise:
+
+»Ich weiß, daß Sie mich verspotten, und doch haben Sie mir damit
+geholfen. Ich sehe jetzt wieder den Weg vor mir. Ich danke Ihnen.«
+
+»Bitte, bitte, gern geschehen«, sagte Otto Meyer und stand auf. Er hatte
+draußen Schritte gehört. Es war Paul Seebeck.
+
+»Ah, Melchior, Sie«, sagte er eintretend. »Schön, daß ich Sie hier
+treffe. Dann können wir die Sache ja gleich besprechen. Ich habe nämlich
+fast gar keine Zeit. - Grüß Gott, Jakob.«
+
+»Wir haben Herrn Melchior schon die Sache vorgetragen; er ist auch
+einverstanden«, erklärte Jakob Silberland.
+
+»So? Schön. Es handelt sich also darum«, sagte Paul Seebeck, sich
+setzend, »daß das bisherige Verfahren, bei dem alle Streitigkeiten von
+der Monatsversammlung geschlichtet werden, auf die Dauer nicht
+durchführbar ist. In Zukunft soll die Monatsversammlung nur noch
+Berufungsinstanz sein, vielleicht sogar erst dritte Instanz. Zunächst
+sollen alle Sachen jedenfalls von einem Richter entschieden werden, vor
+allem die reinen Bagatellsachen. Ob wir als nächste Instanz die
+Vorstandschaft nehmen, oder gleich die Monatsversammlung, müssen wir uns
+noch überlegen. Praktisch kommt es ja auf dasselbe hinaus, da die
+Versammlung ja fast immer gemäß den Vorschlägen der Vorstandschaft
+beschließt. Na, wir werden sehen, wie sich das am besten formulieren
+läßt. Jedenfalls soll Otto Meyer der Richter sein. Und Sie würden wir
+bitten, seine Stellung zu übernehmen. Wenn Sie einverstanden sind, würde
+ich Ihnen vorschlagen, bis zur nächsten Jahresversammlung als Otto
+Meyers Gehilfe zu arbeiten, um mit den Geschäften vertraut zu werden.
+Auf der Jahresversammlung lassen wir dann entsprechend beschließen. Die
+Sache wird uns natürlich ohne weiteres genehmigt; die Leute sind ja nur
+froh, wenn wir ihnen wieder ein Stück Denkarbeit abnehmen. Sind Sie
+einverstanden?«
+
+»Ja, Herr Seebeck, ich würde ja gern ein Amt übernehmen, seitdem ich
+eingesehen habe, daß meine Anschauungen einseitig bleiben müssen,
+solange ich nur einfacher Arbeiter bin. Aber hinter dem, was Sie jetzt
+sagten, liegt noch so viel verborgen, was ich erst durchdenken muß.
+Wollen Sie mir nicht einige Tage Bedenkzeit lassen?«
+
+»Ich kann es nicht, lieber Melchior. Es ist unmöglich. Ich habe alles
+aufs Genaueste durchdacht und weiß, daß es richtig ist. Ich bitte Sie,
+sich jetzt sofort zu entscheiden.« Seebeck hatte seine Augen kalt und
+streng auf Melchior gerichtet, und dieser krümmte sich unter dem Blick.
+Endlich sagte er:
+
+»Herr Seebeck, ich vertraute Ihnen, als ich hierherkam. Ich tue es auch
+jetzt noch, obgleich ich Sie nicht mehr verstehe. Ich nehme Ihren
+Vorschlag an.«
+
+»Ich danke Ihnen«, sagte Seebeck aufstehend. »Aber jetzt muß ich wieder
+an meine Arbeit.«
+
+Er ging aber nicht nach Hause, sondern an den Strand. Dort saß er, trotz
+des strömenden Regens, lange auf einem Steine und sah zu, wie ein Licht
+nach dem andern erlosch. Zuletzt auch die Straßenlaternen. Da erhob er
+sich, und der große, starke Mann ging langsam, mit schleppenden
+Schritten wie ein Kranker, die Straße hinauf. Vor Frau von Zeuthens Haus
+blieb er stehen; nur die verhängten Fenster ihres Schlafzimmers waren
+erleuchtet. Wie er weitergehen wollte, hörte er bei ihrer Haustüre ein
+Geräusch. Schnell trat er etwas zur Seite und sah hin. Die Tür wurde
+geöffnet, und eine dunkle Gestalt trat heraus, sah sich scheu um und
+kam dann mit seltsamen Schritten näher. Paul Seebeck sah den kurzen
+Oberleib mit den langen Armen. Kein Zweifel: es war der Krüppel.
+
+Das Licht in Frau von Zeuthens Schlafzimmer erlosch.
+
+Paul Seebeck ließ Herrn de la Rouvière vorbei gehen und im Dunkel
+verschwinden. Dann richtete er sich stramm auf, biß die Zähne zusammen
+und ging nach Hause.
+
+Auf seinem Schreibtisch stand Frau von Zeuthens Bild; er nahm es, sah
+ihm lange in die Augen, küßte es und setzte sich dann an seine Arbeit.
+
+
+
+
+Schon als die Schwefelquellen erst notdürftig eingefaßt waren, und die
+ersten Baracken am See standen, bildete der »Vulkan«, wie die
+entstehende Stadt kurz genannt wurde, einen beliebten Ausflugsort. Die
+schweren Lastautomobile waren auch zur Mitnahme einiger Personen
+eingerichtet, aber das genügte bald nicht mehr. Sobald die Straße
+gebrauchsfertig war, ließ Jakob Silberland als Geschäftsführer einige
+Personenautomobile kommen, die den täglich anwachsenden Verkehr kaum zu
+bewältigen vermochten. Natürlich war es unmöglich, in der Schnelligkeit
+genügende Unterkunftshäuser zu schaffen, aber da fand Edgar Allan einen
+Ausweg. In den Schluchten am Fuße des Vulkans ließen sich mit ganz
+geringer Mühe mit Hilfe von Segeltuchdächern und Fußmatten Wohnstätten
+improvisieren, die im warmen, regenlosen Sommer ausreichten.
+
+Es kamen auch Fremde zum »Vulkan«; die Durchreisenden, die oft einige
+Tage oder Wochen auf der in Deutschland natürlich vielbesprochenen
+Schildkröteninsel verweilten, versäumten nicht, die neuentstandene
+zweite Stadt zu besuchen, und nachdem erst die großen Schwefelbäder in
+ordnungsmäßen Betrieb gesetzt worden waren, wurden sie nicht zum
+geringsten Teil von den Besuchern der Insel benutzt.
+
+Einer der ersten Besucher war übrigens ein Herr von Hahnemann, ein bei
+Neu-Guinea stationierter Marineoffizier, der auf der Schildkröteninsel
+seinen Urlaub verbrachte. Dieser Herr von Hahnemann fiel eigentlich
+besonders durch seine Wißbegierde auf; man sah ihn oft stundenlang mit
+einfachen Arbeitern im Gespräch. Auch hatte er bei den Vorstehern und
+einigen anderen hervortretenden Persönlichkeiten, wie Nechlidow, Herren
+de la Rouvière und Frau von Zeuthen Besuche gemacht und wurde auch von
+diesen gelegentlich eingeladen.
+
+Einige Tage vor seiner Abreise kam Herr von Hahnemann zu Paul Seebeck,
+um sich zu verabschieden. Paul Seebeck empfing ihn, wie er schon so
+manchen derartigen Besucher empfangen hatte, mit dem sehnlichen Wunsche,
+daß dieser ihn bald wieder allein ließe. Da Herr von Hahnemann aber
+blieb, fragte er ihn nach Verlauf einer Stunde:
+
+»Haben Sie vielleicht ein besonderes Anliegen? Wenn ich Ihnen irgend
+eine besondere Aufklärung geben könnte -?«
+
+»Sie sind außerordentlich liebenswürdig«, antwortete der Offizier mit
+einer leichten Verbeugung. »Entschuldigen Sie die etwas indiskrete
+Frage mit meinem großen Interesse: wie denken Sie sich die Zukunft, Herr
+Seebeck?«
+
+Paul Seebeck sah ihn zweifelnd an. Dann stand er auf und ging zum
+Fenster.
+
+»Ich verstehe Ihre Frage nicht recht. Wir werden so weiterarbeiten wie
+bisher.« Und dabei sah er seinem Besucher gerade in die Augen.
+
+»Pardon, gewiß. Ich meinte aber, wie denken Sie sich in Zukunft Ihre
+persönliche Stellung zu der Sache?«
+
+»Solange ich das Vertrauen der Mehrheit habe«, sagte Paul Seebeck
+ziemlich schroff, »bleibe ich hier auf meinem Posten.«
+
+Herr von Hahnemann stand auf:
+
+»Aber die haben Sie ja nicht mehr. Auf der letzten Jahresversammlung
+sind Sie von einer Minorität nur deshalb gewählt worden, weil sich die
+oppositionellen Stimmen auf zwei Kandidaten verteilten.«
+
+»Herr von Hahnemann«, sagte Seebeck und trat dicht vor ihn hin. »Ich bin
+ordnungsgemäß gewählt worden, und damit ist dieser Punkt erledigt. Im
+Übrigen bedauere ich, mich mit einem Außenstehenden nicht über innere
+Verhältnisse unserer Gemeinschaft aussprechen zu können.«
+
+»Herr Seebeck, ich verstehe Ihre Erregung über meine taktlosen Fragen
+durchaus. Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, daß ich - nicht
+nur als Privatmann hier bin.«
+
+Seebeck setzte sich an seinen Schreibtisch und fragte ganz ruhig:
+
+»Sie sind im Auftrage der Reichsregierung hier?«
+
+»Ja«, sagte Herr von Hahnemann. »Es war eine Klage eingelaufen, und ich
+wurde hierher geschickt, um ihre Grundlagen zu prüfen. Zu meinem
+Bedauern fand ich sie bestätigt.«
+
+»Darf ich Sie fragen, wer außer Nechlidow die Klage unterzeichnet hat,
+deren Inhalt ich mir denken kann«, fragte Paul Seebeck zwischen den
+Zähnen.
+
+»Ich bedaure, Ihnen darauf die Antwort verweigern zu müssen. Sie sagen
+selbst, daß Sie sich den Inhalt der Klageschrift denken können, damit
+erübrigt sich, auf die einzelnen Punkte einzugehn. Ich bin völlig
+unbefangen hierhergekommen und habe alles mit eigenen Augen geprüft,
+besonders das Protokoll jener Sitzung. Da ich mich leider von der
+Stichhaltigkeit jener Klage überzeugen mußte, sehe ich mich zu meinem
+Bedauern genötigt, von meinen Vollmachten Gebrauch zu machen. Sie müssen
+die Reichsregierung verstehen, Herr Seebeck. Wenn hier nur einige
+Idealisten auf einem unfruchtbaren Felseneilande säßen, könnte man sie
+ja in Gottes Namen machen lassen, was sie wollten, und ihre Experimente
+mit Wohlwollen und Interesse betrachten. Da es sich jetzt aber schon um
+Hunderte handelt, die Zahl der Ansiedler wahrscheinlich noch bedeutend
+steigen wird, und ferner das Interesse des Reichs an diesem Teile seines
+Kolonialbesitzes durch die Schwefelfunde noch erhöht ist, ist es nicht
+nur das gute Recht, sondern die Pflicht des Reiches, hier absolut
+korrekte Zustände zu schaffen.«
+
+Er machte eine Pause, als erwartete er eine Antwort; aber Paul Seebeck
+sagte nichts, sah ihm nur ruhig ins Gesicht. Der Offizier wurde nervös
+unter diesem Blicke; er holte aus seiner Brusttasche einige Papiere,
+sowie ein kleines Etui hervor.
+
+»Herr Seebeck, auch für den Fall, daß sich jene Klage als stichhaltig
+erweisen sollte, will die Reichsregierung in Anbetracht Ihrer
+unbestreitbaren großen Verdienste Ihnen auch nur den Schatten einer
+Demütigung ersparen. Sie verlangt nichts, als daß Sie Ihr Mandat als
+Reichskommissar niederlegen, und wird dann von sich aus einen neuen
+ernennen. Was wir gesprochen haben, bleibt unter uns. Und hier haben Sie
+noch einen ausdrücklichen Gnadenbeweis.« Dabei legte er das kleine Etui
+auf den Schreibtisch.
+
+»Das Ding enthält vermutlich einen Orden«, sagte Paul Seebeck
+aufstehend. »Bitte stecken Sie ihn wieder ein. Wollen Sie so
+liebenswürdig sein, mir eine Frage zu beantworten: Was wird geschehen
+wenn ich mich jetzt weigere, das Reichskommissariat freiwillig
+niederzulegen?«
+
+Der Offizier war aufgesprungen:
+
+»Überlegen Sie sich, was Sie sagen.«
+
+»Ich habe es mir überlegt.«
+
+»Das ist ein Affront.«
+
+Seebeck zuckte die Achseln:
+
+»Nicht gegen Sie, verehrter Herr von Hahnemann. Sie sind ja nur
+Werkzeug. Sie spielen in einer Komödie mit, glauben Regisseur zu sein
+und sind nur Puppe. Soll ich Ihnen sagen, weshalb ich gehen soll? Nicht,
+weil es hier schlecht geht, nicht weil ich meine Stellung mißbraucht
+habe, sondern weil alles gut geht, besser geht, als es sich die Herren
+dort in Berlin je träumen ließen. Weil wir mit unserer Arbeit vorwärts
+kommen. Wir haben hier etwas Brauchbares geschaffen, haben die
+Durchführbarkeit gewisser Utopieen erwiesen, und das ist der springende
+Punkt. Alles andere ist ja nur Vorwand. Einige kleine Schwierigkeiten,
+die die Durchführung einer großen Sache naturgemäß mit sich führt, die
+Nörgeleien und Quertreibereien irgendwelcher Personen, die gar nicht
+verstehen, worum es sich hier handelt, geben den bequemen Vorwand, um
+alles zu vernichten. Ein Reichskommissar aus Berlin hier, hier in meinem
+Werke! Nein mein Freund. Nehmen Sie Ihr Ding da mit und schämen Sie
+sich, bei einer so unwürdigen Komödie mitzuwirken. Erzählen Sie den
+Herren in Berlin, daß Paul Seebeck nicht für einen lausigen Orden sein
+Lebenswerk verkauft. Das Reichskommissariat lege ich nicht nieder.«
+
+»Ich will - durchaus gegen meine Gewohnheit - die Spitze überhört haben,
+die meine Person betrifft, um die unerhörte Beschuldigung
+zurückzuweisen, die Sie gegen die Reichsregierung gerichtet haben. Sie
+fühlen sich in einer schwachen Position und sehen deshalb voll
+ungerechtfertigter Bitterkeit auf alle anderen. Überlegen Sie sich doch:
+die Reichsregierung hat Sie mit dem größten Wohlwollen behandelt; was
+soll die Regierung aber anders tun, als Ihnen in schonendster Form den
+Abschied nahezulegen, wenn sich die Mehrzahl Ihrer eigenen Bürger gegen
+Sie erklärt? Und mehr, wenn die Klage sich als berechtigt erweist? Sie
+selbst tragen allein Schuld an dieser Wendung der Dinge, jetzt müssen
+Sie auch die Konsequenzen ziehen. Legen Sie das Reichskommissariat
+nieder!«
+
+»Ich tue es nicht!«
+
+»Dann wird man Sie dazu zwingen!«
+
+»Versuchen Sie es!« sagte Paul Seebeck und ging in sein Schlafzimmer,
+dessen Tür er hinter sich zuschlug.
+
+
+
+
+Sobald die »Prinzessin Irene« mit Herrn von Hahnemann an Bord die Anker
+gelichtet hatte, berief Paul Seebeck die Vorsteher der Gemeinschaft zu
+sich und zwar die offiziellen Inhaber der Ämter, nicht ihre ständigen
+Stellvertreter. Das war auffällig, denn die ständigen Stellvertreter,
+wie zum Beispiele Herr de la Rouvière, pflegten sonst immer zu den
+Sitzungen zugezogen zu werden. Paul Seebeck schickte auch Fräulein
+Erhardt fort, die gewöhnlich bei den Sitzungen das Protokoll geführt
+hatte, und schloß aufs Sorgfältigste alle Türen und Fenster seines
+Arbeitszimmers. Seine Freunde sahen erstaunt seinem Tun zu; als er ihnen
+aber dann seine Unterredung mit Herrn von Hahnemann erzählt hatte, die
+schon drei Tage zurücklag, über die beide Teilnehmer aber bisher
+völliges Stillschweigen bewahrt hatten, begriffen sie ihn. Ein langes
+Schweigen folgte seinem Berichte.
+
+Als erster ergriff Herr von Rochow das Wort:
+
+»Man kann Nechlidow nicht einmal einen Vorwurf machen; er hat nur aus
+den reinsten Motiven heraus gehandelt, freilich ohne die Tragweite
+seines Vorgehens auch nur im Entferntesten zu übersehen.«
+
+»Ach wissen Sie was, Herr von Rochow«, unterbrach ihn Paul Seebeck
+müde, »es mußte einmal so kommen. Ob Nechlidow oder ein anderer nun den
+entscheidenden Schritt tat. Aber bei Gott«, rief er aufstehend, »ich
+lasse mir mein Werk nicht zerstören. Und was würde es helfen, daß die
+Leute einen von unseren Leuten zum Kommissar machen; sie werden schon
+dafür sorgen, daß es ein richtiger Eunuche ist, der ihren Willen tut.
+Was eine unfähige Verwaltung aus lebenskräftigen Kolonien machen kann,
+sieht man ja deutlich genug aus unseren afrikanischen Kolonien.«
+
+»Besonders, wenn man an die englischen Nachbarkolonien denkt«, sagte
+Jakob Silberland.
+
+»Gehen wir doch zu England«, sagte Otto Meyer gemütlich; »die werden uns
+schon in Frieden lassen; die Engländer wissen, daß die Kolonieen von
+Männern gemacht werden und nicht von Korpsstudenten.«
+
+Seebeck sah ihn starr an.
+
+»Bitte«, sagte er.
+
+»Ich meine«, sagte Otto Meyer, »wir haben keinen Grund, das positive
+Resultat unserer Arbeit zerstören zu lassen, bloß weil einige Geheimräte
+im Kolonialamt Bauchschmerzen haben. Wenn die Deutschen eine anständige
+Kolonie nicht haben können, erklären wir uns für autonom und lassen uns
+dann von England annektieren. Sowas läßt sich doch machen, deswegen
+braucht man doch nicht gleich tragisch zu werden.«
+
+»Das wäre Revolution«, sagte Hauptmann a. D. von Rochow ernst.
+
+Paul Seebeck dachte nach; dann fuhr er heftig auf:
+
+»Ist das unsere Schuld? Was gehen wir das Reich an? Wir haben den Leuten
+nicht einen Pfennig gekostet; alles haben wir allein gemacht, mit
+unserer Arbeit, unserem Gelde. Jetzt wo die Sache nahezu vollendet ist,
+wollen sie es nicht etwa übernehmen, um es in unserem Sinne
+fortzuführen, sondern sie wollen es zerstören. Ich bitte Sie, stellen
+Sie sich doch hier einen Berliner Gouverneur vor! Oder noch schlimmer,
+einen hiesigen Idioten, der die Puppe der Herren da oben ist! Aber das
+erlaube ich nie! Vorläufig bin ich hier.«
+
+»Also, erwäge doch meinen Vorschlag. Ich glaube, das ist der einzige
+Ausweg.«
+
+Jakob Silberland stand auf und trippelte auf seinen kurzen Beinchen im
+Zimmer auf und ab:
+
+»Wir wollen doch zunächst mal überlegen, was jetzt geschehen wird. Vom
+nächsten Hafen aus telegraphiert der Mann nach Berlin, daß Seebeck sich
+weigert, freiwillig zurückzutreten; die Antwort lautet wahrscheinlich,
+daß Herr von Hahnemann Vollmacht erhält, Seebeck abzusetzen, und
+entweder er oder ein anderer wird vorläufig Reichskommissar hier, bis
+sie den richtigen Idioten herausgefunden haben. Hahnemann kann vor einem
+Monat überhaupt nicht wieder hier sein; das wäre das allerfrühste.
+Vorläufig kann man Seebeck nichts tun. Daß er sich weigert, freiwillig
+seinen Abschied zu nehmen, ist kein Verbrechen. Kritisch wird die Sache
+erst, wenn ihm das Reichskommissariat entzogen wird, und er sich nicht
+darum kümmert. Dann kommt ein Kriegsschiff und nimmt ihn als Aufrührer
+mit. Bis dahin würde aber mindestens ein zweiter Monat vergehen. In
+diesen zwei Monaten müßte alles entschieden sein; denn wenn wir offenen
+Aufruhr begehen und uns nicht durchsetzen, sind wir verloren.«
+
+Seebeck hatte sich wieder gesetzt; ruhig sagte er:
+
+»Kinder, ihr beide wißt Bescheid im Staatsrecht. Existiert denn
+überhaupt eine Möglichkeit, sich von England annektieren zu lassen?«
+
+»Gewiß, die Möglichkeit ist da. Einer von uns müßte mit dem nächsten
+Schiffe nach Sidney und sehen, was er dort ausrichten kann«, sagte Jakob
+Silberland eifrig.
+
+»Wenn Herr von Rochow als Fachmann mir helfen will, baue ich Ihnen in
+sechs Wochen Befestigungen auf, die dem Kriegsschiff eine harte Nuß zu
+knacken geben werden. Eine Landung zu verhindern, ist bei unserem Hafen
+eine Kleinigkeit, einige Seeminen genügen«, fügte der hagere Architekt
+hinzu.
+
+»Ich beschwöre Sie, meine Herren, überlegen Sie sich, was Sie tun
+wollen! Revolution, Vaterlandsverrat!« rief Herr von Rochow.
+
+»Das Vaterland hat uns verraten, nicht wir das Vaterland«, sagte Paul
+Seebeck scharf. »Aber ich will Sie zu nichts verleiten, was Ihrem
+Gewissen widerspricht. Noch ist es Zeit für Sie alle, sich
+zurückzuziehen. Ich aber bleibe hier ...«
+
+»Und ich bleibe bei Ihnen«, sagte Herr von Rochow und ergriff Seebecks
+Hand. »Ich bleibe bei Ihnen, was auch kommen mag.«
+
+»Ich auch«, sagte Otto Meyer und zündete sich eine Zigarette an.
+
+»Wo bekommen wir aber das Geld her?« fragte Jakob Silberland. »Es
+handelt sich doch jedenfalls um Hunderttausende.«
+
+»Wir müssen es uns natürlich ganz korrekt bewilligen lassen«, erklärte
+Otto Meyer, »sonst wird die Sache zu deutlich. Wir sagen einfach, daß
+bei der dauernden Spannung zwischen England und Deutschland die
+Befestigung unvermeidlich ist. Und da wir ja leider Spione im Lande
+haben, können wir sagen, daß die Bewahrung militärischer Geheimnisse in
+einem kleinen Kreise - hier also in der Vorsteherschaft - eine absolute
+Notwendigkeit ist. Übrigens wäre es am besten, in aller Heimlichkeit so
+viel zu bauen, wie nur irgend geht und sich die Kredite nachträglich
+bewilligen zu lassen. Denn wenn man draußen erfährt, daß wir
+befestigten, wird das Kriegsschiff mit Windeseile angerannt kommen.«
+
+Paul Seebeck war ans Fenster getreten und blickte hinaus:
+
+»Schade, schade, daß es so kommen mußte.« sagte er.
+
+»Was brauchen wir eigentlich,« wandte sich Otto Meyer an Herrn von
+Rochow, »eine Strandbatterie und -«
+
+Hauptmann a. D. von Rochow schüttelte den Kopf:
+
+»Eine Strandbatterie hat gar keinen Sinn; die schießt ein Kriegsschiff
+in einer Viertelstunde zusammen. Nein, ein schweres Festungsgeschütz und
+einige Maschinengewehre hier oben für alle Eventualitäten genügen. Das
+Hauptgewicht müssen wir auf die Seeminen legen. Die natürlich mit
+elektrischer Zündung von hier oben aus.«
+
+»Ist das nun alles eine Kette von Zufällen oder war es eine
+Notwendigkeit? Mußte es so kommen?« sagte Seebeck, noch immer am Fenster
+stehend und hinausblickend.
+
+»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, sagte Otto Meyer und klopfte ihm
+auf die Schulter, »die Probleme sind dem tüchtigen Melchior reserviert.
+Wir können ja handeln, brauchen also nicht nachzudenken.«
+
+»Bravo!« rief Edgar Allan.
+
+Und dann begannen die Vorsteher der Gemeinschaft, die zu unternehmenden
+Schritte bis in die kleinste Einzelheit zu beraten. Erst bei Tagesgrauen
+trennten sie sich, und da war alles beschlossen.
+
+
+
+
+Wie schon oft in der letzten Zeit holte Nechlidow seine junge Freundin
+um fünf Uhr vom Kindergarten ab, nachdem Hedwig ihre kleinen Schützlinge
+entlassen hatte.
+
+Die beiden gingen schweigend durch die lange, einreihige Fischerstraße
+bis zur letzten Landspitze, die die bewohnte Bucht von der Irenenbucht
+schied.
+
+»Wissen Sie, Hedwig, was Herr von Hahnemann mitgenommen hat?« fragte
+Nechlidow, als sie dort auf einer gewaltigen Klippe saßen, »Paul
+Seebecks Abschiedsgesuch.«
+
+Hedwig sah ihn erschreckt an:
+
+»Woher wissen Sie das?«
+
+»Ja, ich weiß es. Herr von Hahnemann war hier, um die Richtigkeit meiner
+Klagen zu prüfen; er hat mir selbst gesagt, daß er sie in allen Punkten
+berechtigt gefunden hätte. Ich sprach ihn, gerade als er zu Herrn
+Seebeck hinaufgehen wollte. Ja, jetzt ist es mit Seebecks
+Selbstherrschaft vorbei - jetzt werden wir die Sache wieder in Ordnung
+bringen.«
+
+»Sind Sie ganz sicher, daß Sie Recht haben?« fragte Hedwig leise.
+
+»Seien Sie nicht traurig, liebe Hedwig. Es tut mir selbst um Seebeck
+leid, denn ich achte ihn als Menschen. Aber die Sache geht vor. Und
+Seebeck ist schwach, viel zu schwach, um sie durchzuführen. Seien Sie
+aufrichtig, was ist von den Idealen übrig geblieben, mit denen wir
+hierher kamen? Wodurch unterscheidet sich unsere »Gemeinschaft« von
+irgend einem beliebigen Staate? Nur durch Phrasen. In Wirklichkeit ist
+alles genau dasselbe. Sehen Sie, Hedwig, in jener entscheidenden Sitzung
+in Berlin sagte ich zu Paul Seebeck, daß es nur ein Mittel gäbe, um
+nicht in die Verlogenheit aller anderen Staaten hineinzugeraten, und daß
+dieses das absolute Festhalten an der menschlichen Vernunft sei. Er gab
+mir recht, er ist intelligent genug, das einzusehen, aber zu schwach, es
+durchzuführen. Der Todfeind aller Kultur, aller Fortentwicklung der
+Menschheit, die Sentimentalität liegt ihm so tief im Blute, daß sie
+stärker als alle Vernunft ist. Hier brauchen wir Männer, klare,
+vernünftige Männerköpfe, Kerle wie Herrn de la Rouvière, aber keine
+träumerischen, weibischen Dichter wie Seebeck.«
+
+Hedwig hatte ihm ängstlich zugehört:
+
+»Aber Paul ist doch so gut.«
+
+»Eben deshalb muß er fort. Das ist ja gerade sein Fehler. Güte, Liebe -
+was sind das für Begriffe. Mißverstandene Naturtriebe. Heutzutage
+lieben Männer einander; was ist das für ein Unsinn! Oder ein Mann und
+eine Frau lieben einander, aber kommen aus irgend einem Grunde nicht
+zusammen. Denken Sie doch nur alle die kindischen Romane. Liebe ist der
+Wunsch nach dem Kinde, also ist sie nur dort wahr und nicht verlogen, wo
+zwei Menschen zusammen ein Kind haben wollen, sonst nicht. Seitdem wir
+aber das wissen, brauchen wir doch keine Dichter und keine Gefühle mehr.
+Wir haben doch die Vernunft, und die verirrt sich nie; wie oft tun das
+aber die unklaren, mystischen Gefühle. Sehen Sie doch, was so ein Gefühl
+für Bocksprünge macht: aus dem Triebe nach dem Kinde wird die Liebe, die
+alles mögliche verbindet, was mit dem Wunsche nach dem Kinde, nach der
+Zukunft der Menschheit, nicht das Geringste mehr zu schaffen hat; aus
+der Liebe wird die Güte und aus Güte und Rücksichtnahme nach allen
+Seiten ruiniert Seebeck diesen Staat, der eine neue Menschheit hätte
+gebären können. Ach was hätte hier werden können, wenn Seebeck stark
+gewesen wäre.«
+
+»Aber hier geht alles doch so gut -« unterbrach ihn Hedwig schüchtern.
+
+»Ungeheure Lügen sind hier gebaut, und die florieren glänzend, das ist
+wahr.«
+
+Hedwig war aufgestanden und wandte sich langsam der Stadt zu. Nechlidow
+ging ihr nach und faßte sie bei der Hand:
+
+»Liebe Hedwig« - sagte er bittend.
+
+Aber sie riß sich los. Aus ihren großen, braunen Augen quollen Tränen.
+
+»Ich will kein Kind von Ihnen haben, Herr Nechlidow«, sagte sie mit
+zuckenden Lippen. Dann machte sie sich schnell von ihm los und lief der
+Stadt zu.
+
+Nechlidow folgte ihr langsam.
+
+
+
+
+Als die Kredite für die in Hinblick auf die Spannung zwischen England
+und Deutschland notwendigen Befestigungen bewilligt wurden, war nicht
+viel mehr zu tun, als das Festungsgeschütz zu montieren, das zusammen
+mit den beiden Maschinengeschützen in der bombensicheren Kasematte im
+Felsen unter Seebecks Haus Platz finden sollte. Denn Hauptmann von
+Rochow hatte als Fachmann diese Stelle als die geeignetste gewählt, ganz
+abgesehen davon, daß sich nur hier die Arbeiten in völliger Heimlichkeit
+hatten vornehmen lassen. Ein mit Stahlplatten bedeckter Schacht führte
+von Paul Seebecks Kohlenkeller mehrere Meter tief hinab, und dort unten
+war ein Gewölbe ausgehauen, in dem die Geschütze stehen sollten.
+
+Nur drei lange, schmale Schießscharten führten hinaus, und die lagen
+gerade über den Dächern der auf der nächsten Terrasse stehenden
+doppelten Häuserreihe, so daß diese fast mit Sicherheit die den
+Geschützen zugedachten Schüsse auffangen würde.
+
+Die Seeminen hatten die Vorsteher in mehreren Nächten allein versenkt,
+und ihr Lageplan war in den Händen der Archivarin gut aufgehoben. Es
+war nicht so schwer, diese Arbeiten in voller Heimlichkeit auszuführen,
+als vielmehr gleichzeitig auch den Ausbau des »Vulkans« zu versehen, zum
+mindesten scheinbar, damit die plötzliche Arbeitseinstellung dort oben
+kein Mißtrauen erweckte.
+
+Aber es ging. Die vier Männer arbeiteten mit eiserner Energie Tag und
+Nacht - nur vier waren sie jetzt, denn Jakob Silberland weilte in
+Sidney, wie es hieß, um größere Abschlüsse über den gewonnenen Schwefel
+zu erreichen. Und auf den riesigen Kisten, die die Geschützteile und die
+Munition enthielten, stand harmlos das Wort: »Maschinen«.
+
+Sechs Wochen nach seiner Abreise kam Herr von Hahnemann wieder zur
+»Schildkröteninsel«. Diesmal auf einem Torpedoboot. In Paradeuniform
+stieg er ans Land und begab sich eine Stunde später zu Paul Seebeck.
+Dieser empfing ihn mit gelassener Höflichkeit und bat ihn, Platz zu
+nehmen. Der Offizier dankte mit einer Verbeugung, blieb aber stehen,
+während Paul Seebeck sich an seinen Schreibtisch setzte.
+
+»Sie bringen mir meine Abberufung, Herr von Hahnemann?« fragte er ruhig.
+
+»Herr Seebeck, bei der großen persönlichen Achtung, die ich für Sie
+hege, erlaubte ich mir, in meinem Berichte unsere letzte Unterredung
+wohl wahrheitsgetreu, doch - etwas harmloser zu schildern, als sie sich
+zugetragen hat. Es steht Ihnen noch heute frei, freiwillig das
+Reichskommissariat niederzulegen; trotz allem.«
+
+»Ich tue es nicht«, antwortete Paul Seebeck und sah ihm gerade ins
+Gesicht.
+
+»Ist das Ihr letztes Wort?«
+
+»Ja.«
+
+»Dann habe ich hiermit die Ehre, Ihnen kraft meiner Vollmachten Ihr
+Abberufungsschreiben zu überreichen«, sagte der Offizier und legte ein
+versiegeltes Kuvert auf den Schreibtisch. »Wollen Sie die
+Liebenswürdigkeit haben, mir den Empfang zu bestätigen.«
+
+»Mit Vergnügen«, antwortete Paul Seebeck, entnahm einer Schublade einen
+Briefbogen und schrieb einige Zeilen darauf. »Ist es so recht?« Und er
+reichte dem Offizier das Blatt, das dieser aufmerksam las und es dann in
+seine Brieftasche schob.
+
+»Gewiß, Herr Seebeck. Ich danke Ihnen. Damit ist die Sache erledigt. Ich
+verstehe aber nicht, weshalb Sie es so weit kommen ließen.«
+
+»Ich pflege einem Briefträger nicht die Unterschrift für einen
+eingeschriebenen Brief zu verweigern - wozu soll ich dem nichtsahnenden
+Manne Schwierigkeiten machen. Er erfüllt ja nur seine Pflicht. Jetzt ist
+also der Brief ordnungsgemäß mein Eigentum geworden, und ich kann damit
+machen, was ich will.« Damit nahm er das versiegelte Kuvert und zerriß
+es mit seinem Inhalt in kleine Fetzen, die er in seinen Papierkorb warf.
+Dann wandte er sich wieder dem Offiziere zu und sah ihm ruhig ins
+Gesicht.
+
+Herr von Hahnemann trat einen Schritt zurück; sein Gesicht war
+kreidebleich.
+
+»Wissen Sie, was das heißt?« rief er.
+
+»Ja«, sagte Paul Seebeck, »das heißt Aufruhr.«
+
+»Wollen Sie sich denn dem aussetzen, daß man Sie mit Waffengewalt
+zwingt, den Willen der Reichsregierung anzuerkennen?«
+
+»Was wollen Sie damit sagen, Herr von Hahnemann?« fragte Paul Seebeck
+freundlich.
+
+Der Offizier hatte sich wieder etwas gefaßt. Seine Stimme bekam etwas
+vom scharfen Kommandoklang, als er sagte:
+
+»Ein Kriegsschiff wird kommen und Sie als Gefangenen mitnehmen.«
+
+»Ach so einfach ist die Sache? Aber wenn ich mich nun mit Gewalt der
+Gewalt widersetze?«
+
+»Dann werden Sie standrechtlich erschossen.«
+
+Paul Seebeck stand auf; er überlegte einen Augenblick. Dann ging er an
+dem Offizier vorbei zur Wand, hob ein Gemälde vom Nagel, wobei eine
+Stahlplatte sichtbar wurde, die der Tür eines in die Mauer
+eingelassenen Geldschrankes ähnlich war. Dann zog er einen Schlüsselbund
+aus der Tasche und blickte auf:
+
+»Sie sind Marineoffizier, nicht wahr?«
+
+Herr von Hahnemann neigte bejahend den Kopf.
+
+»Dann sind sie auch natürlich imstande, Entfernungen auf dem Wasser
+abzuschätzen. Darf ich Sie bitten, hier ans Fenster zu treten? Danke.
+Sehen Sie die letzte flache Klippe dort rechts? Schön. Sehen Sie in
+gerader Richtung drei Kilometer weiter. Bitte halten Sie den Punkt im
+Auge.«
+
+Seebeck war an den Schrank getreten und öffnete das Geheimschloß. Bei
+dem Geräusch wandte sich der Offizier unwillkürlich wieder nach ihm um
+und sah, daß der Schrank ein Tastbrett wie das einer Schreibmaschine
+enthielt.
+
+»Ich habe Sie ersucht, jenen Punkt im Auge zu behalten«, sagte Paul
+Seebeck scharf. Der Offizier kniff die Lippen zusammen und blickte
+wieder hinaus. Paul Seebeck drückte rasch auf einen der Knöpfe und
+schlug dann die Stahltür zu. Im selben Augenblick erhob sich bei dem
+angegebenen Punkte auf dem Meere eine gewaltige Wasserpyramide, blieb
+einige Sekunden stehen und brach dann in sich zusammen. Erst eine halbe
+Minute später klang ein dumpfes Grollen herüber. Der mit Schaum bedeckte
+Wasserspiegel war in wilde Bewegung geraten. Selbst im Hafen
+schaukelten die Schiffe.
+
+Herr von Hahnemann sah Seebeck stumm an; dann verbeugte er sich und
+verließ das Zimmer.
+
+Er ging so schnell er konnte die Straße hinunter, an allen denen vorbei,
+die ihn wieder erkannten und ansprechen wollten, und stand eine
+Viertelstunde später in Herrn de la Rouvières Haus.
+
+Der Krüppel bestürmte ihn mit Fragen, aber Herr von Hahnemann schüttelte
+nur unwillig den Kopf. Er fragte:
+
+»Wissen Sie, daß die Insel befestigt ist?«
+
+Herr de la Rouvière fuhr erstaunt auf:
+
+»Daß sie befestigt ist? Das ist doch unmöglich. Erst vorgestern wurde
+doch die Befestigung beschlossen.«
+
+Herr von Hahnemann lachte kurz auf:
+
+»Herr Seebeck scheint keine große Achtung vor der Monatsversammlung zu
+haben. Jedenfalls ist die Insel schon befestigt, und die Versammlung hat
+etwas zu bauen beschlossen, was faktisch schon da ist. Er wird es wohl
+schon oft so gemacht haben. Ich will Ihnen etwas sagen«, fuhr er fort,
+wobei er dicht an den Krüppel herantrat, »ich habe Herrn Seebeck die
+Enthebung aus seinem Amte mitgeteilt, die er aber ignoriert. Er muß also
+mit Gewalt entfernt werden. Hier ist kein anderer Ausweg tunlich. Bei
+den Befestigungen ist es aber ohne Blutvergießen nicht möglich, und das
+zu verhindern ist meine Pflicht. - Sie haben sich ja Ihres großen
+Einflusses und Ihrer Verbindungen hier gerühmt; beweisen Sie mir jetzt,
+daß Sie wahr gesprochen haben. Und dann - die Reichsregierung kann Herrn
+Nechlidow als früherem, russischem Flüchtling kein Amt übergeben, aber
+Ihnen, dem Träger eines alten Adelsnamens, der Sie außerdem hier
+praktisch in die Geschäfte eingearbeitet sind, könnte ich das
+Reichskommissariat übertragen. Die Vollmacht dazu habe ich. Die
+Reichsregierung will unter keinen Umständen einen Kommissar von Berlin
+hierher senden; sie hat mich beauftragt, einer hiesigen geeigneten
+Persönlichkeit das Kommissariat zu übergeben, um jeden Schein eines
+gewaltsamen Eingriffes zu vermeiden. Also schaffen Sie mir die
+Befestigungspläne und Sie sind Reichskommissar!«
+
+Die Augen des Krüppels glänzten:
+
+»Das wird nicht schwer sein, Herr von Hahnemann. Wenn Sie so
+liebenswürdig sein wollen, eine halbe Stunde hier zu warten, komme ich
+mit den Plänen.«
+
+»Wissen Sie denn, wo sie sind?«
+
+»Jedenfalls doch im Archiv; und Frau von Zeuthen ist meine gute
+Freundin.«
+
+»Ah!« Über das Gesicht des Marineoffiziers glitt ein gemeines Lächeln.
+
+»Sie verstehen, Herr von Hahnemann? Eine Frau kann aus Edelmut sterben,
+aber sie kann sich keinem Skandal aussetzen. Am wenigsten sie, die
+Keusche, Reine, sie, die Unerreichbare, die ich doch erreichen konnte -
+wie alles andere auch.«
+
+Der Offizier war wieder ganz ernst geworden:
+
+»Wie Sie das machen, ist Ihre Sache. Aber nicht die Originale selbst,
+die könnten später vermißt werden, sondern Sie müssen die Pläne
+kopieren, verstehen Sie? Und Niemand darf etwas davon erfahren, dafür
+müssen Sie sorgen. Sonst wird die Sache einfach verändert, und wir
+sitzen da.«
+
+»Keine Sorge, Herr von Hahnemann, bleiben Sie nur ruhig hier; ich bin
+bald wieder zurück.«
+
+Und die langen Arme schlenkernd und eifrig vor sich hinmurmelnd,
+stolperte der Krüppel die Hauptstraße hinauf. Bei Frau von Zeuthens Haus
+angekommen, sagte er dem Dienstmädchen, er käme in Geschäften und wurde
+natürlich sofort eingelassen.
+
+Mit Siegermiene trat er in Frau von Zeuthens Arbeitszimmer, aber er sank
+gleichsam in sich zusammen, als er in ihre strahlenden, braunen Augen
+blickte. Er wollte sich ihr nähern, aber sie hob abweisend die Hand. Da
+blieb er bescheiden an der Türe stehn.
+
+»Geschäfte, Herr de la Rouvière?« fragte sie ruhig.
+
+»Ja, gnädige Frau. Ich muß Sie um die Befestigungspläne bitten, die Sie
+ja als Archivarin in Verwahrung haben.«
+
+»Nein«, sagte Frau von Zeuthen, »die Pläne habe ich allerdings. Sie gehn
+aber nur die Vorsteher an. Und so weit haben Sie es doch noch nicht
+gebracht.«
+
+Mit eingezogenem Kopfe sah er sie von unten an.
+
+»Gnädige Frau, ich bin - Reichskommissar an Paul Seebecks Stelle.«
+
+Frau von Zeuthen lachte laut auf und sah ihm belustigt ins Gesicht.
+
+Der Krüppel biß die Zähne zusammen.
+
+»Gnädige Frau«, sagte er drohend.
+
+»Wenn Ihre Geschäfte so sonderbarer Natur sind, brauchen wir sie nicht
+länger zu diskutieren. Gehen Sie, Herr Reichskommissar.« Damit drehte
+sie ihm den Rücken zu und setzte sich an ihren Schreibtisch.
+
+Mit leisen, schleichenden Schritten näherte er sich ihr. Sie stand auf
+und wandte sich ihm zu. Mit beiden Händen hielt sie sich rückwärts am
+Schreibtische fest.
+
+»Weshalb gehen Sie nicht«, sagte sie herrisch, aber ihre Stimme zitterte
+dabei.
+
+»Ich muß die Pläne haben«, sagte er, dicht bei ihr, und hob dabei die
+langen Arme mit den schwarzbehaarten Händen.
+
+»Aber ich gebe sie Ihnen nicht und damit gut. Gehen Sie! Jetzt bestätigt
+sich also meine Vermutung, daß Sie zu den Verrätern gehören. Gehen Sie,
+mit Ihnen bin ich fertig.«
+
+»Gnädige Frau«, die Stimme des Krüppels war ganz sanft, »Sie scheinen
+sehr leicht zu vergessen!« Er schritt auf die Tür zu, faßte die Klinke
+und drehte sich wieder nach Frau von Zeuthen um. »Soll ich wirklich
+allen Leuten erzählen, was in einer gewissen Nacht zwischen uns
+vorgefallen ist?« Er richtete sich auf und sagte kameradschaftlich:
+»Geben Sie mir doch lieber die Pläne.«
+
+Frau von Zeuthen ging zu ihrem großen Schranke, öffnete diesen aber
+nicht, sondern holte aus dem Winkel zwischen ihm und der Wand Felix'
+Reitpeitsche hervor. Sie wog sie prüfend in der Hand, trat dann schnell
+auf Herrn de la Rouvière zu und schlug sie ihm zweimal mit aller Kraft
+durchs Gesicht. Dann warf sie die Peitsche fort und blieb hoch
+aufgerichtet vor ihm stehn. Er sah sie eine Weile ganz verständnislos
+an, griff dann mit beiden Händen an sein schmerzendes Gesicht und
+taumelte hinaus.
+
+Vor der Haustüre blieb er stehn und nickte bedächtig mit dem Kopfe. Dann
+ging er langsam, sehr langsam, die Hauptstraße hinauf, am Volkshause
+vorbei und weiter am Flusse entlang zum Staubecken. Er ging dorthin, wo
+der Fluß in das Becken eintrat, sah lange auf das Wasser und stieg dann
+langsam und fröstelnd hinein. Er glitt aus, schrie auf, sah auf der
+Straße das Lastautomobil halten, sah ihm Leute entsteigen, die ihm
+zuwinkten, zuriefen; er wollte ans Ufer zurück, aber schon hatte ihn die
+Oberströmung erfaßt. Langsam führte sie ihn fort; er hörte das Brausen
+des Wasserfalles näher und näher, die Strömung wurde stärker, immer
+stärker, das Brausen kam näher, näher, jetzt -
+
+Sechshundert Meter war die Felswand hoch, von der das Wasser senkrecht
+in das Meer stürzte.
+
+Und am selben Abende verließ Herr von Hahnemann auf seinem Torpedoboot
+unverrichteter Sache die Schildkröteninsel.
+
+
+
+
+Eine außerordentliche Versammlung der Gemeinschaft - das war noch nie
+dagewesen. Und doch war niemand erstaunt, als die Vorsteherschaft durch
+Maueranschlag zu dieser einlud; es lag so viel ungelöste Spannung in der
+Luft, soviele Vermutungen waren nur halb ausgesprochen, von Mund zu Mund
+gegangen, daß alle es als eine Erleichterung empfanden, eine klare
+Darstellung aller jener unverständlichen Vorgänge zu erhalten. Und das
+galt nicht nur von der Bürgerschaft - gerade die Vorsteher fühlten
+stärker als je die Kluft, die sie von den Anderen trennte, und wollten
+auch Kenntnis von allen dunklen Strömungen erhalten, von denen sie nur
+den letzten Wellenschlag gefühlt hatten.
+
+Erst als die Gemeinschaft vollzählig versammelt war, betraten die
+Vorsteher den großen Saal des Volkshauses. Otto Meyer übernahm als
+Stellvertreter des abwesenden Jakob Silberland den Vorsitz. Sogleich,
+nachdem auf ein Glockenzeichen Ruhe eingetreten war, mehr als Ruhe:
+Totenstille, erhob sich Paul Seebeck. Sein Gesicht war bleich,
+erschreckend bleich, und seine Augen lagen schwarz umrändert tief in den
+Höhlen.
+
+»Liebe Freunde«, sagte er, »jetzt ist die ernsteste Stunde gekommen,
+die wir bis jetzt hier erlebt haben. Jetzt handelt es sich um ein klares
+Ja oder Nein. Jetzt muß entschieden werden, ob der Staat, den wir alle
+in treuer Zusammenarbeit errichtet haben, zerstört werden darf oder
+nicht. Wir können das Unglück noch abwenden. Noch können wir unser Werk
+uns und unseren Kindern erhalten. Aber ein mutiger Schritt ist dazu
+notwendig.
+
+Wir haben Verräter im eigenen Lager gehabt, gemeine Schurken, die, um
+sich selbst vorwärts zu bringen, die Zukunft der Gemeinschaft opferten,
+und wieder andere, die aus einem falschen, kurzsichtigen Idealismus
+heraus, in bester Absicht, den Feind ins Land riefen. Vielleicht sehen
+sie jetzt ein, wie unverantwortlich leichtsinnig sie gehandelt haben und
+benutzen jetzt die Gelegenheit, ihr Unrecht wieder gutzumachen. Aber
+auch sie waren nur Werkzeuge, boten nur den erwünschten Vorwand zur
+Vernichtung unseres Werkes etwas früher, als es sonst geschehen wäre.
+Was geschah, mußte geschehen, früher oder später, und deshalb hat es
+keinen Zweck, Betrachtungen über Verschuldungen anzustellen oder
+Vorwürfe zu erheben. Jetzt muß gehandelt werden. Die Sache liegt so: das
+Deutsche Reich will uns nicht mehr unsere Freiheit lassen, man sieht
+dort, daß wir hier die Durchführbarkeit freier Ideen beweisen und
+fürchtet die Einwirkung dieser Ideen auf die eigenen, innerpolitischen
+Verhältnisse. Jemand, der die gegenwärtig in Deutschland herrschende
+ultrareaktionäre Strömung kennt, versteht diese Furcht der zur Zeit
+regierenden Clique nur zu gut. Das wäre aber doch für uns nur ein Grund
+mehr, sollte ich meinen, unser Werk bis zum letzten Punkte
+durchzuführen, statt uns einfach vor Beschränktheit oder Bosheit zu
+ducken. Jetzt kommt aber eine große, große Frage, die ich Sie in aller
+Ruhe zu überlegen bitte: wenn wir uns hierher einen schnoddrigen
+Berliner Assessor setzen lassen, ist zwar unsere Arbeit vernichtet, und
+wir haben hier Zustände wie im schwärzesten Preußen, aber Sie haben
+Ruhe. Wenn wir uns aber das nicht gefallen lassen, sind wir Aufrührer
+und damit rechtlos, nach den heute üblichen Anschauungen nicht viel mehr
+wie wilde Tiere. Und da wird nicht gefragt weshalb wir uns nicht beugen,
+die Tatsache, daß wir es nicht tun, genügt. Kein Mensch in dem dumpfen
+Berliner Ministerium wird verstehen, daß man Menschheitsideale über
+hündischen Gehorsam stellt. Solche Gedanken sind uns reserviert.
+
+Ich bin aber nicht so verblendet, Sie zu einem nutzlosen Widerstande zu
+verleiten, der nur den sicheren Untergang von uns allen bedeuten würde.
+Es gibt einen Ausweg, und das ist dieser: wir erklären uns autonom und
+lassen uns dann von England annektieren. Als englische Kolonie können
+wir sicher sein, völlig ungestört weiter arbeiten zu können. Dazu haben
+wir noch einige Wochen Zeit; Herr Doktor Silberland ist gegenwärtig in
+Sidney, und ich werde nachher die Versammlung um die Ermächtigung
+bitten, Herrn Doktor Silberland zur Vornahme der notwendigen Schritte zu
+beauftragen.
+
+Was ich bis jetzt getan habe, geht nur mich selbst an und kann für
+keinen anderen Bürger der Gemeinschaft nachteilige Folgen haben, solange
+sich die Gemeinschaft nicht solidarisch mit mir erklärt. Sie brauchen
+also nicht zu fürchten, daß ich Sie in irgend eine schwere Situation
+hineingebracht habe. Sie können ganz frei beschließen.
+
+Wenn Ihnen unsere Sache aber lieb ist«, und Paul Seebecks müde Augen
+bekamen Glanz und Feuer, »wenn Sie als Männer für Ihr Werk eintreten
+wollen, dann können wir es retten. Bevor ein Kriegsschiff hier ist,
+können wir unsere Befestigungen vollenden und können uns halten, bis wir
+unter englischem Schutze stehen.
+
+Ich mag darüber nichts mehr sagen, ich will Sie zu keinem folgenschweren
+Entschlusse überreden, den Sie später bereuen. Überlegen Sie es sich in
+Ruhe.«
+
+Das eiskalte Schweigen, mit dem Paul Seebecks Rede angehört worden war,
+dauerte noch fort, als er wieder auf seinem Platze saß. Dann erklang
+hinter ihm eine Stimme:
+
+»Nechlidow soll antworten; wo steckt er?«
+
+Eine andere Stimme antwortete:
+
+»Der kommt nie mehr zu den Versammlungen.«
+
+Und schwer und hart sagte eine dritte Stimme:
+
+»Nechlidow ist ein Lump, mag er sich ersäufen wie der andere. Ich halte
+zu Herrn Seebeck.«
+
+Jetzt wich die Starre von der Versammlung; man redete, schrie
+durcheinander, die Gesichter wurden rot, Arme wurden bewegt, der Lärm
+stieg und stieg -
+
+Paul Seebeck trat wieder auf das Podium, aber er konnte nicht sprechen.
+Die Leute verließen ihre Plätze, umdrängten ihn, drückten seine Hände,
+jeder, jeder einzelne wollte ihm Treue geloben.
+
+Paul Seebeck wollte reden, wollte ihnen danken, aber er stammelte nur
+einige Worte und sank dann bewußtlos um. Er hörte nur noch Edgar Allans
+schneidend scharfe Stimme:
+
+»Aber jetzt bitte nicht nur Worte, Leute, auch Taten.«
+
+Paul Seebeck wurde in ein anstoßendes Zimmer getragen und Frau von
+Zeuthen und Otto Meyer übernahmen seine Pflege.
+
+Inzwischen wurden die Verhandlungen unter Herrn von Rochows Vorsitz
+fortgesetzt. Paul Seebecks Vorschläge wurden einstimmig genehmigt,
+obwohl sich manche recht zögernd von den Sitzen erhoben. Unter dem
+brausenden Beifall der Versammlung verkündete Herr von Rochow darauf die
+Autonomie der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel.
+
+
+
+
+Noch immer keine Entscheidung von Sidney. Bei der immer stärkeren
+Spannung zwischen England und Deutschland wäre der Ausbruch eines
+Krieges in der allernächsten Zeit höchst wahrscheinlich, schrieb Jakob
+Silberland. Dann wäre die Annektion selbstverständlich. Bis dahin müßte
+man sich halten.
+
+Und mit allen Kräften wurde gearbeitet. Fünfzig unverheiratete Männer
+wurden vom Hauptmann von Rochow im Gewehrschießen eingedrillt. Die
+Vorsteher und außer ihnen Felix und Melchior übten sich an den
+Geschützen, und manche Klippe da draußen im Meere war von den schweren
+Granaten des Festungsgeschützes bei Schießübungen getroffen, in die Luft
+geflogen.
+
+Der »Vulkan« wurde inzwischen zur Aufnahme aller Nichtkämpfer
+eingerichtet. Welchem Zwecke die Gebäude dort auch ursprünglich bestimmt
+waren, jetzt wurde alles zu Wohnstätten eingerichtet, sogar die
+Umkleidezellen des Schwefelbades. Ein Fieber hatte alle ergriffen, ein
+Freiheitsrausch, und als sich nach fünf Wochen am Horizonte die
+Rauchsäule des Kreuzers zeigte, wurde er von den kampffrohen Männern mit
+Jubel begrüßt. Man war bereit, ihn zu empfangen. Vor Seebecks Haus
+standen in Reih und Glied die Infanteristen mit ihren Mausergewehren,
+die Stahlläden vor den Geschützscharten in Seebecks Keller waren
+aufgeklappt und die Geschütze nach vorn gerollt. Vier Meter ragte der
+hellgraue Lauf des Festungsgeschützes heraus. Es wurde von Edgar Allan
+und Felix bedient, während Otto Meyer und Melchior an den beiden
+Maschinengewehren standen.
+
+Oben in Paul Seebecks Arbeitszimmer standen er und Frau von Zeuthen. Vor
+ihnen auf dem Schreibtische lag der Lageplan der Seeminen; die Stahltür
+an der Wand stand offen und zeigte die sechzig weißen Tasten.
+
+»Wie weit ist das Schiff jetzt?« fragte Frau von Zeuthen.
+
+Paul Seebeck sah prüfend durch sein Fernglas:
+
+»Zehn Kilometer, schätze ich es jetzt.«
+
+Einige Minuten später hielt der Kreuzer an. Ein weißes Wölkchen erhob
+sich und eine halbe Minute später rollten drei dumpfe Schüsse über die
+Stadt.
+
+»Die waren blind!« rief Hauptmann von Rochow herauf.
+
+»Noch zwei Kilometer, und das Schiff kommt in den Bereich unserer
+Minen.«
+
+Aber der Kreuzer drehte sich auf der Stelle und wandte der Stadt seine
+Breitseite zu.
+
+»Ja, da draußen konnten wir leider keine Minen legen, es ist zu tief«,
+sagte Paul Seebeck. »Aber hierher kommen können sie doch nicht. Und
+Silberland wird ja bald kommen; er weiß ja, daß in diesen Tagen der
+Kreuzer kommen mußte. Solange müssen wir uns eben halten. Das können wir
+auch.«
+
+»Und wenn es nichts wird?«
+
+Es zuckte um Paul Seebecks Mundwinkel, als er sagte:
+
+»Sie wissen, daß ich für mein Werk sterben kann.«
+
+Das Haustelephon, das den Keller mit Paul Seebecks Arbeitszimmer
+verband, klingelte. Seebeck nahm das Hörrohr:
+
+»Ja.«
+
+»Hier Allan. Was meinen Sie, sollen wir nicht den Salut beantworten? Es
+ist doch unhöflich, einen Gruß nicht zu erwidern.«
+
+»Schön, aber blind. Wir wollen nicht anfangen.«
+
+Das Haus bebte in seinen Fugen, als der Schuß krachte.
+
+Einige Minuten später kam die Antwort: im Hafen stieg eine Wassersäule
+auf, der ein doppelter Knall folgte.
+
+»Was jetzt?« - telephonierte Allan herauf.
+
+»Abwarten, ob sie wirklich ernst machen. Je mehr Zeit wir gewinnen,
+desto besser«, gab Paul Seebeck zurück.
+
+Aber Minute auf Minute verrann, eine Stunde, eine zweite, und nichts
+geschah.
+
+»Die Herren erwarten wohl, daß wir die bewußte weiße Fahne aufziehen«,
+sagte Paul Seebeck zu Frau von Zeuthen.
+
+Da hüllte sich plötzlich der Kreuzer in eine einzige Rauchwolke. Im
+Hafen erhob sich eine ungeheure Wasser- und Staubwolke, der ein
+donnerndes, krachendes Getöse folgte. Wie sich die Wolke verzogen hatte,
+sah man, daß alle Hafenanlagen mit der Landungsbrücke und den
+Lagerhäusern in Trümmern lagen. Die am Quai liegenden Fischerboote waren
+fast sämtliche verschwunden. Aber das wild wogende Meer war mit Trümmern
+und Balken bedeckt.
+
+Und Schuß auf Schuß folgte, aber alle galten nur dem Hafen.
+
+»Sie wollen uns so lange schonen, wie es geht, und das gefällt mir sehr,
+damit gewinnen wir Zeit«, sagte Paul Seebeck zu Frau von Zeuthen. Dann
+telephonierte er zu Allan:
+
+»Wir dürfen erst schießen, wenn sie die Stadt selbst beschießen. Nicht
+vorher.«
+
+Von unten her klangen Rufe, die man bei dem Getöse nicht verstehen
+konnte. Frau von Zeuthen trat ans Fenster und sah hinunter.
+
+Auf ihrem völlig erschöpften Pferdchen ritt Hedwig die Hauptstraße
+hinunter, drängte sich durch die Infanteristen und stürmte die Treppe
+hinauf:
+
+»Der Dampfer von Sidney liegt da hinten, dicht an der Insel; man kann
+ihn vom Vulkane aus sehen. Herr Silberland ist in einem Ruderboote vom
+Dampfer abgestoßen, ich konnte ihn ganz deutlich erkennen. Der Dampfer
+fuhr dann wieder weg.«
+
+Paul Seebeck war aufgesprungen:
+
+»Wo liegt der Dampfer? Wo?«
+
+Hedwig beschrieb ihm die Stelle.
+
+»Hierher rudern! War er allein?«
+
+»Ja.«
+
+»Um Gotteswillen, das sind ja über dreißig Kilometer. Wenn er das
+aushält. Wann war das?«
+
+»Ich mußte zuerst herunterlaufen und mein Pferd holen. Ich bin so
+schnell geritten, wie ich konnte. Aber drei Stunden ist es mindestens
+her.«
+
+»Dann kann er in zwei Stunden hier sein.«
+
+Frau von Zeuthen strich ihrer Tochter über das erhitzte Gesicht:
+
+»Leg dich etwas auf Pauls Bett, mein Kind, und ruh dich aus. Aber dann
+mußt du wieder zurückreiten, hörst du?«
+
+»Darf ich nicht hier bleiben, Mutter?«
+
+»Nein, das geht nicht, Kind.«
+
+»Aber Fräulein Erhardt kommt auch, sie geht sogar zu Fuß, ich habe sie
+überholt.«
+
+»Wenn du ihr auf dem Rückwege wieder begegnest, sag ihr, daß sie
+umkehren soll«, sagte Paul Seebeck. »Aber geh jetzt Kind und ruh dich
+etwas aus. Oder willst du etwas zu essen haben?«
+
+Hedwig schüttelte schmollend den Kopf und ging in Paul Seebecks
+Schlafzimmer.
+
+»Also nur noch zwei Stunden, dann wissen wir Bescheid«, sagte Paul
+Seebeck aufatmend. »Wenn Silberland es nur aushält.«
+
+Hedwig war in Paul Seebecks Schlafzimmer gegangen, aber sie legte sich
+nur für einige Minuten auf sein Bett. Leise öffnete sie dann die Tür zum
+Badezimmer, schlüpfte durch dieses in die Küche und ging die
+Hintertreppe hinunter. Mit einigen Sprüngen hatte sie unbemerkt die
+nächsten Häuser erreicht und ging jetzt durch die kleinen Gäßchen, die
+die einzelnen Terrassen mit einander verbanden, zum Meere hinunter. In
+kurzen Zwischenräumen schlugen noch immer die Granaten in den Hafen.
+
+Hedwig ging zu Nechlidows Häuschen, das gerade am Anfang der
+Fischerstraße lag. Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Türe und trat
+ein.
+
+Es war still im ganzen Hause. Hedwig trat ins Wohnzimmer ein. Hier war
+es fast dunkel, denn die Fenstervorhänge waren dicht zugezogen.
+
+Nechlidow erhob sich von seinem flachen Sofa zu einer halbsitzenden
+Stellung.
+
+»Sie kommen zu mir, dem Verfehmten? Wird man Sie nicht steinigen, wenn
+man das erfährt?«
+
+Ein scharfer Knall in der Nähe, dem ein anhaltendes Prasseln und Krachen
+von niederstürzenden Mauerteilen folgte, ließ ihn aufstehen. Er trat zum
+Fenster und zog die Vorhänge zurück. Das gegenüberliegende Haus hatte
+sich in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandelt.
+
+Nechlidow lachte bitter auf:
+
+»Meine Schuld, nicht wahr?«
+
+»Herr Nechlidow«, sagte Hedwig bittend und trat an ihn heran. »Glauben
+Sie nicht doch, daß Paul recht gehandelt hat?«
+
+»Bei Gott, er hatte nicht recht, und wenn ich tausendmal daran Schuld
+trage, daß jetzt alles zusammenbricht. Ich habe das nicht gewollt. Ich
+habe nicht vorausgesehen, daß es so kommen würde. Aber es ist besser,
+daß diese riesige Lüge zusammengeschossen wird, als daß sie weiter lebt.
+Wer weiß, vielleicht kommen die englischen Schiffe noch rechtzeitig,
+und dann baue ich die Stadt wieder auf. Und wenn sie nicht kommen, um so
+besser, dann ist eine Halbheit weniger auf der Welt.«
+
+»Sind Sie wirklich schuld daran?« fragte Hedwig schüchtern.
+
+Nechlidow legte ihr beide Hände auf die Schultern und sah ihr in die
+braunen Augen:
+
+»Weshalb kommen Sie mit dieser Frage zu mir?«
+
+»Weil ich wissen will, was Sie sind.«
+
+»Nein, Hedwig, es ist nicht meine Schuld. Die Leute sind daran schuld,
+sie sind ja alle behext, haben ihr bischen Vernunft ganz verloren. Wenn
+Seebeck aus lauter Sentimentalität die Dummheit begeht, seine Entlassung
+zu verweigern, weshalb ihm dann zustimmen, weshalb es zur Revolution
+kommen lassen! Wir hätten alles so glatt machen können, Seebeck hätte
+gehen müssen, Rouvière wäre Reichskommissar geworden. Aber da kam wieder
+der sinnlose Selbstmord von Rouvière dazwischen, und damit war alles
+verloren. Denn Rouvière hatte die Leute in der Tasche. Ja, und jetzt
+gehen mir dieselben Menschen, die unsere Klageschrift unterschrieben
+haben, wie einem Pestkranken aus dem Wege und lassen sich Seebecks
+schöner Augen wegen von ihm in den Tod führen. Eine Kette von
+unbegreiflichen Sentimentalitäten war wie immer der Grund alles
+Unglücks. Mein Fehler war nur, daß ich auf die Vernunft der Menschen
+vertraute. Das ist die Wahrheit, Hedwig.«
+
+»Aber was soll jetzt kommen? Was werden Sie tun?«
+
+»Ich? Ich warte, bis meine Zeit gekommen ist. Die da drüben mögen sich
+gegenseitig zerfleischen, wenn sie noch nicht reif für die Vernunft
+sind. Ich glaube an sie und an ihren endlichen Sieg. Ich glaube an die
+Menschheit.«
+
+Hedwig sah vor sich hin. Dann schüttelte sie ihren Lockenkopf:
+
+»Wollen wir nicht noch einmal zu unserer Landspitze hinausgehen? Wer
+weiß, wann wir wieder zusammen sein können.«
+
+Und sie gingen Hand in Hand die Treppe hinunter und traten auf die
+Straße. Da schoß dicht vor ihnen auf der Straße ein blendend weißes
+Licht auf. Nechlidow taumelte zurück. Hedwig stieß einen leichten Schrei
+aus und fiel flach auf das Gesicht.
+
+Nechlidow sprang auf sie zu, hob sie auf, drückte sie an seine Brust -
+sie schlug die Augen auf, lächelte noch einmal, wollte die Hand heben,
+aber ließ sie schlaff wieder fallen. Ihr Haupt sank zurück -
+
+ * * * * *
+
+Ein Ruderboot wandte sich um die Landspitze, die die bewohnte Bucht von
+der Irenenbucht schied.
+
+»Das ist Silberland«, rief Paul Seebeck Frau von Zeuthen zu.
+
+Er lief die Treppe hinunter, auf die Straße, schrie Hauptmann von Rochow
+zu:
+
+»Bleiben Sie hier. Handeln Sie nach Ihrem Gutdünken!« und stürzte dem
+Hafen zu. Mehrere Granaten schlugen in seiner Nähe ein und bedeckten ihn
+mit Staub. Unten angekommen, sah er um sich. Alles lag schon in
+Trümmern. In der Fischerstraße standen nur noch einige Häuser. Und
+horch! das Prasseln auf den Steinen, das Klirren an Fensterscheiben, die
+kleinen Springbrunnen auf dem Meere. Also hatten sie schon die
+Maschinengewehre in Tätigkeit gesetzt.
+
+Da kam das Ruderboot. Jakob Silberland stand auf und rief etwas, was
+Seebeck des Lärmes wegen nicht verstehen konnte. Jakob Silberland setzte
+sich wieder an die Ruder. Jetzt war er nur noch zwanzig Schritte vom
+Strande entfernt. Wieder stand er auf. Sein Gesicht war verzerrt, Blut
+floß von seinen Händen herunter. Er schrie:
+
+»Entente cordiale zwischen England und Deutschland; damit ist der
+Weltfriede endgiltig gesichert.«
+
+Klack, klack, klack klang es im Boote und im Wasser - Jakob Silberland
+fuhr sich mit der Hand ins lange schwarze Haar und brach dann auf der
+Bootsbank zusammen. Langsam füllte sich das durchlöcherte Boot mit
+Wasser und sank.
+
+Paul Seebeck blieb mit verschränkten Armen stehn und sah das Boot
+versinken.
+
+Da legte sich eine Hand auf seine Schulter und er sah in Nechlidows
+bleiches Gesicht. An den Kleidern hatte er große Blutflecke. Er fragte:
+
+»Darf ich zusammen mit Ihnen sterben, Herr Seebeck?«
+
+Seebeck reichte ihm die Hand:
+
+»Lassen Sie uns zusammen sterben, Sie für Ihre Idee, ich für mein Werk.«
+
+Nechlidow schüttelte den Kopf:
+
+»Ich sehe nichts mehr, weiß von keiner Vernunft mehr. Ich sehe nur noch
+einen Strom, dessen Wellen uns in die Höhe hoben, als wir ihn zu leiten
+glaubten, und der uns jetzt mitleidlos wieder in seine Strudel zieht.
+Aber ich sehe nicht, wohin er geht. Ich sehe nur noch Sie und will mit
+Ihnen zusammen sterben.«
+
+»Kommen Sie«, sagte Seebeck. »Wir wollen den anderen sagen, daß wir alle
+sterben müssen.«
+
+Aber auch oben hatte man Jakob Silberlands Untergang gesehen.
+
+»Jetzt ist es genug!« rief Edgar Allan Hauptmann von Rochow zu. Dieser
+nickte. Und einige Minuten später donnerte das schwere Festungsgeschütz,
+begleitet vom Knattern der beiden Maschinengewehre.
+
+Dies war aber nur ein Signal für den Kreuzer, seinerseits das Feuer zu
+verstärken. Und jetzt galten seine Schüsse nicht mehr dem Hafen. Überall
+schlugen die Granaten in die obere Stadt. An vielen Stellen brannten die
+Häuser.
+
+Da kamen Paul Seebeck und Nechlidow zusammen die Straße herauf. Die
+Leute umdrängten sie, fragten, aber die beiden gingen hinauf in das
+Seebecksche Arbeitszimmer. Dort trat Paul Seebeck ans Fenster, wartete,
+bis das Feuer für einen Augenblick verstummte und rief dann mit scharfer
+klarer Stimme:
+
+»Wir bekommen keine Hilfe von England. Wer ist bereit, mit uns für unser
+Werk zu sterben?«
+
+Die Gesichter dort unten wurden groß. Wutschreie ertönten. Drohende
+Fäuste wurden emporgereckt. Aus dem Gebrülle waren nur einzelne Worte
+verständlich:
+
+»Wir wollen uns nicht hinschlachten lassen!«
+
+»Wir sind verraten.«
+
+»Wir wollen die da oben ausliefern und uns ergeben ...«
+
+»Drehen Sie die Geschichte herum«, sagte Edgar Allan zu Felix, und der
+gehorchte. Die noch rauchende Mündung des Festungsgeschützes war auf die
+Infanteristen gerichtet.
+
+Da liefen sie, warfen die Gewehre fort, liefen, was sie konnten, nur
+fort, dem sicheren Hochlande, dem Leben, der Zukunft zu. Nur einer
+drehte sich um und feuerte einen Schuß ab, bevor er den anderen gleich
+sein Gewehr fortwarf.
+
+Edgar Allan brach, ins Herz getroffen, lautlos zusammen.
+
+An seine Stelle trat Nechlidow. Niemand fragte ihn, weshalb er gekommen
+sei, niemand machte ihm Vorwürfe. Man drückte ihm die Hand, und
+schweigend trat er an das Geschütz.
+
+Hauptmann von Rochow warf noch einen Blick auf seine fliehenden
+Soldaten, dann ging er zu Seebeck hinauf.
+
+Seebeck konnte ihm nur flüchtig zunicken, denn jetzt geschah draußen
+etwas Sonderbares: der Kreuzer stellte sein Feuern ein, und die
+Dampfbarkasse wurde ins Wasser gesenkt. Von der anderen Seite kam ein
+bemanntes Boot, das die Barkasse in Schlepptau nahm.
+
+»Hört mit dem Schießen auf«, telephonierte Seebeck hinunter. »Vielleicht
+kommen die in friedlicher Absicht.« Aber so scharf er auch hinsah, er
+konnte keine weiße Fahne bemerken.
+
+»Sind denn die Leute wahnsinnig? Sie wissen doch, daß Seeminen da
+draußen liegen!« rief Seebeck.
+
+Die Dampfbarkasse nahm aber nicht den Weg nach dem Hafen zu, sondern
+fuhr auf die Landspitze bei der Irenenbucht zu.
+
+»Die glauben, daß da keine Minen liegen und wollen da landen. Herr von
+Rochow, ich bitte Sie!« Hauptmann von Rochow stürzte zum Tastbrett, und
+Paul Seebeck beugte sich über den Plan. Die Barkasse kam näher, war
+jetzt bei der flachen Klippe -
+
+Fragend sah Herr von Rochow Seebeck an, der mit verschränkten Armen und
+zusammengepreßten Lippen ans Fenster getreten war.
+
+»Siebenunddreißig, achtunddreißig, zweiundvierzig«, sagte er kurz und
+scharf.
+
+Wie um einen Akkord zu spielen, drückte Hauptmann von Rochow die drei
+Tasten nieder, und draußen schoß ein ungeheurer Wasserberg in die Luft
+und stürzte dann mit donnerndem Gebrüll zusammen. Boote und Klippe waren
+verschwunden.
+
+Herr von Rochow griff sich mit beiden Händen taumelnd an den Kopf:
+
+»Deutsche, deutsche Soldaten«, murmelte er wie irrsinnig. Dann richtete
+er sich kerzengerade auf, zog einen Revolver aus der Tasche und schoß
+sich in die Schläfe.
+
+Seebeck wandte sich beim Knalle um; spöttisch lächelnd sah er auf die
+Leiche.
+
+Frau von Zeuthen war entsetzt aufgesprungen. Dann setzte sie sich
+wieder auf ihren Stuhl. Seebeck trat auf sie zu:
+
+»Gehen Sie jetzt, Gabriele. Denn dem, was jetzt kommen wird, sind die
+Nerven keiner Frau gewachsen. Gehen Sie, Sie müssen sich Ihren Kindern
+erhalten.«
+
+Sie stand auf und schüttelte energisch den Kopf:
+
+»Ich bleibe bei Ihnen, meinetwegen -«
+
+»Nichts geschieht Ihretwegen«, unterbrach sie Seebeck schroff. Dann
+setzte er aber sanft hinzu: »Denken Sie an Ihre Kinder, Gabriele. Sie
+haben noch eine Aufgabe auf dieser Welt, wir nicht mehr. Und nehmen Sie
+Felix mit; wozu soll er sich hier verbluten. Sie können ihm nach zehn
+Jahren erzählen, was sich hier alles vor seinen Augen abgespielt hat.
+Dann wird er es verstehen und davon lernen. Und grüßen Sie Ihre kleine
+Hedwig von mir.«
+
+Da sank Frau von Zeuthen vor ihm nieder und küßte seine Hände. Er hob
+sie auf und zog sie an seine Brust. Draußen krachten wieder die
+Granaten, und unten donnerte das Festungsgeschütz, begleitet vom
+Knattern der beiden Maschinengewehre.
+
+Frau von Zeuthen riß sich los:
+
+»Felix muß bei Ihnen bleiben, Seebeck! Das Opfer muß ich Ihnen bringen.
+Er ist ein Mann. Er soll Ihr Geschick teilen. Ich gehe zu Hedwig.«
+
+Paul Seebeck trat ans Telephon.
+
+»Felix soll herauf kommen.«
+
+Das schwere Geschütz verstummte und Felix kam herauf.
+
+»Was gibt's?«
+
+»Du mußt deine Mutter zum Vulkane zurückbegleiten.«
+
+»Aber Paul!«
+
+»Du mußt! Hol dein Pferd für deine Mutter.«
+
+»Paul, ich will bei dir bleiben.«
+
+»Felix, es hat keinen Sinn mehr. Denk was für ein Leben du noch haben
+kannst und denk an deine Mutter.« Er legte den Arm um Felix Schulter und
+führte ihn Frau von Zeuthen zu:
+
+»Wollen Sie wirklich Ihren Jungen hier lassen?«
+
+Da schlang die Mutter die Arme um ihr Kind, unter strömenden Tränen rief
+sie:
+
+»Felix, komm mit mir!«
+
+Er entwand sich ihren Armen und sah Paul Seebeck an. Dieser sagte:
+
+»Du sollst mein Erbe sein, Felix; sieh zu, ob du mein Werk fortführen
+kannst, und das mit mehr Glück. Geh meines Werkes wegen.«
+
+Felix kämpfte mit sich. Dann sah er mit seinen strahlenden, braunen
+Augen Paul Seebeck an und sagte:
+
+»Aber das verspreche ich dir, Paul, ich werde mich ebenso halten wie
+du.«
+
+Paul Seebeck strich ihm über das Haar.
+
+»Gut, mein Junge. - Aber geh jetzt und hol dein Pferd.«
+
+Jetzt ging die Sonne unter, und der Kreuzer stellte sein Feuern ein.
+Wenige Minuten später war es dunkle Nacht, in der hier und da die
+Flammen von den brennenden Häusern emporloderten.
+
+Da hob sich riesengroß die rotgelbe Scheibe des Vollmondes über den
+Horizont, beleuchtete den Kreuzer und sein Werk. Schaurig sahen im
+kalten Lichte die Trümmer aus. Und nun begann der Kreuzer wieder zu
+feuern; unter donnerndem Krachen stürzte das große Volkshaus zusammen.
+
+»Kommen Sie, Gabriele, jetzt ist keine Zeit mehr zu verlieren.« Er
+begleitete sie bis zur Hauptstraße und weiter bis zu den rauchenden
+Trümmern des Volkshauses. Da tauchte ein Schatten hinter ihnen auf, und
+Felix holte sie auf seinem Pferde ein.
+
+»Ich möchte nur noch schnell von den anderen Abschied nehmen, geh nur
+voraus, Mutter!« rief er und galoppierte zurück.
+
+»Leben Sie wohl, Gabriele. Mein Versprechen habe ich gehalten, nicht
+wahr?« Und dann wandte er sich schnell ab und ging hinunter.
+
+Frau von Zeuthen ging langsam den Berg hinauf und weiter auf der Straße
+hin. Als sie das Staubecken erreichte, schrak sie zusammen, denn vor ihr
+erhob sich eine dunkle Gestalt. Aber der Mond erleuchtete ein bekanntes
+Gesicht.
+
+»Fräulein Erhardt?«
+
+»Ja, gnädige Frau!«
+
+»Wollen Sie zur Stadt?«
+
+»Ich kann nicht mehr gehen, ich bin so müde. Wo ist Felix?«
+
+»Er ist in einigen Minuten hier. Ist Ihnen nicht Hedwig begegnet?«
+
+Fräulein Erhardt schüttelte den Kopf:
+
+»Nein, aber ich glaube, ich habe mehrmals auf dem Wege geschlafen. Sie
+wird an mir vorbeigeritten sein, ohne daß ich sie bemerkte. Aber Felix
+kommt, mein Felix!«
+
+Frau von Zeuthen hatte sich neben sie gesetzt und strich ihr sanft über
+den Leib. Da schlang Fräulein Erhardt die Arme um ihren Hals und
+flüsterte ihr zu:
+
+»Ich habe ja ein Kind von ihm.«
+
+Frau von Zeuthen küßte sie:
+
+»Liebe Tochter«, sagte sie.
+
+Dann schwiegen sie beide, saßen im bleichen Lichte des Vollmondes einsam
+auf der Ebene und warteten, warteten - -
+
+Als Paul Seebeck von der Hauptstraße wieder auf sein Haus zu einbog,
+blieb er wie erstarrt stehen, denn aus dem Kellerfenster schoß eine
+Stichflamme, der ohrenbetäubender Knall folgte. Paul Seebeck griff sich
+an die Stirn und stürzte dann hin. Dichter, beißender Rauch quoll aus
+den Fenstern, verhüllte die Läufe der drei Geschütze -
+
+Er sprang die Treppe hinunter, von unten klang ihm leises Wimmern
+entgegen. Die Lampe war verlöscht, aber das weiche Dämmerlicht der
+Mondnacht erfüllte den Raum.
+
+Auf dem Boden lag Nechlidow in den letzten Zügen, der ganze Leib war ihm
+aufgerissen. Über den Verschluß des Geschützes gebeugt lag Felix. Paul
+Seebeck hob ihn auf. Felix schlug die Augen auf und lächelte:
+
+»Du, Paul, ich wollte Nechlidow doch wieder helfen; er konnte das
+Geschütz nicht allein bedienen.«
+
+Paul Seebeck betastete ihn. Auf der rechten Brustseite war ein kleiner
+nasser Fleck. Seebeck riß die Kleider auf; das Blut strömte.
+
+»Muß ich sterben, Paul? Dann grüß die andern.«
+
+»Nein, nein du bleibst leben. Hab keine Angst. Schlaf jetzt nur etwas.«
+
+»Ja«, sagte Felix, »ich bin so müde.«
+
+Und Paul Seebeck bettete den sterbenden Knaben so gut er konnte auf den
+Boden.
+
+Unter seinem Maschinengeschütz lag Otto Meyer, ein Granatsplitter hatte
+ihm den Oberschenkel zerfetzt. Er reichte Seebeck die Hand:
+
+»Du, sag mal, kannst du mir nicht irgend einen passenden Ausspruch
+empfehlen? Ich kann doch nicht so ganz klanglos sterben. »Ich sterbe für
+die Freiheit«, oder etwas ähnliches?«
+
+»Du stirbst, weil du ein anständiger Kerl bist.«
+
+»Also gut: ich sterbe, damit die Anständigkeit lebe! Bravo. Schluß. - Es
+war so schön, mit dir zusammenzuarbeiten, Seebeck. Ich danke dir dafür.«
+
+Dann sank er zurück.
+
+Paul Seebeck trat an Melchior heran, der bewußtlos in einer Blutlache an
+der Wand lag. Wie er ihn untersuchte, schlug er die Augen auf:
+
+»Herr Seebeck, Sie? Gut, daß Sie kommen. Ich habe es gefunden!«
+
+»Was haben Sie gefunden?«
+
+»Das Problem der Menschheit habe ich gefunden. Hören Sie!« Er versuchte
+sich aufzurichten, aber sank wieder zusammen.
+
+»Das Problem der Menschheit!« Seebeck lachte auf. »Da draußen haben Sie
+das Problem der Menschheit!« Und er wies auf das Kriegsschiff hinaus,
+das jetzt langsam sein Feuern einstellte.
+
+»Seebeck, schämen Sie sich! Wer wird einen Spezialfall verallgemeinern.
+Hören Sie, ich habe nicht mehr viel Zeit, glaube ich.«
+
+Paul Seebeck verschränkte die Arme und sah dem Sterbenden gerade ins
+Gesicht.
+
+»Ich höre«, sagte er.
+
+»Sie erinnern sich noch an alle unsere Gespräche? Sie alle haben am
+Problem mitgearbeitet, Sie alle haben mir Bausteine gegeben. Jetzt habe
+ich aber die Formel gefunden. Sie erinnern sich, daß alle Fragen immer
+wieder auf denselben toten Punkt kamen, daß man die Begriffe
+gleichzeitig als fortgeschrittener, wie auch als rückständig in den
+Bezug auf den realen Stand der Menschheit ansehen kann. Da kam Herr Otto
+Meyer mit dem Einfall, daß sie von zwei verschiedenen Gesichtspunkten
+aus betrachtet sein müßten, um verschieden zu erscheinen. Lebt er noch?«
+
+»Nein, er ist tot.«
+
+»Schade, es hätte ihn sicher interessiert. Sehen Sie, Herr Seebeck,
+jetzt habe ich die beiden Standpunkte; den niedrigen des einzelnen
+Menschen und den hohen der gesamten Menschheit. Wenn sich aus uns allen
+kleinen gleichgiltigen Einzelwesen jetzt das ungeheure Individuum der
+Menschheit aufbaut - solange ich selbst unter den Arbeitern lebte, habe
+ich diese Kristallisation gefühlt, aber nicht begriffen, ich fühlte, wie
+sich die Zellen instinktiv zusammenschlossen, obwohl sich jede einzelne
+krampfhaft dagegen wehrte - dann müssen ja unsere Gedanken klein sein,
+die der Menschheit sind aber groß, für uns ebenso unbegreiflich groß,
+wie die Zelle in unserem Körper nichts von unseren Gedanken versteht,
+und doch baut sie Körper und Leben auf.
+
+Aber da haben wir als Ausgleich jene Begriffe, halb einzel-menschlich,
+halb universal-menschlich, dem Menschen zu hoch, der Menschheit zu
+niedrig. Sie zeigen weder den Standpunkt des Menschen, noch den der
+Menschheit, sondern gerade die noch ungelöste Spannung zwischen beiden
+Teilen.
+
+Prüfen Sie es doch nur an irgend einem Beispiele: denken Sie an die Ehe.
+Dem einzelnen Menschen ein praktisch fast unerreichbares Ideal, für die
+Menschheit veraltet. Denn vom hohen Standpunkte der Menschheit aus
+gesehen, gleichen sich die im Einzelfalle eintretenden Hindernisse aus;
+und für den Gesamtdurchschnitt wird dann die Ehe nicht zu hoch, sondern
+zu niedrig.
+
+Oder denken Sie an die Orthographie einer Sprache, die zwar scheinbar
+rückständig ist, in Wirklichkeit aber die großen, ewigen Gesetze und
+Wandlungen der Sprache, dieses Gutes nicht eines Einzelnen, sondern der
+Menschheit wiedergibt.«
+
+»Und wie erklären Sie dieses Beispiel hier?« fragte Paul Seebeck und
+wies auf die Leichen um sie her.
+
+»Ach was hat das zu sagen, daß einige Zellen absterben. Ein kleiner
+Entzündungsprozeß im Körper der Menschheit, weiter nichts.«
+
+»Ja, ja«, sagte Paul Seebeck.
+
+»Und sehen Sie doch, daß die großen Taten nie vom einzelnen ausgeführt
+werden, sondern nur von der Masse, vom Individuum Menschheit. Das ist ja
+auch selbstverständlich, denn der Natur der Dinge nach muß die auf einer
+millionenmal höheren Stufe stehende Menschheit auch höhere Gedanken
+haben. Wie selten opfert sich ein einzelner für eine Idee, und wie
+leicht tun es tausende zusammen, weil nicht mehr der Einzelne denkt,
+sondern die Masse an sich.«
+
+»Aber hat uns nicht hier die Masse verraten, und bleiben nicht wir
+einzelne zurück?«
+
+»Kommt das nicht auch in unserem Körper vor, in dem sich die einzelnen
+Blutkörperchen gegenseitig auffressen, statt zusammen zum höheren Zwecke
+als dem ihrer Einzelexistenz zu wirken? Krankheitserscheinungen, weiter
+nichts. Und eben so, wie trotz aller Krankheiten der menschliche Körper
+sich weiter entwickelt, so wird es auch die Menschheit tun, um später
+wieder Zelle eines neuen, unermeßlich hohen Individuums zu werden. Bis
+sich schließlich das Universum in einem unendlich weiteren Sinne, als
+wir armselige Einzelzellchen es heute begreifen können, zu einem großen
+Organismus zusammenschließt. Und da wird die Erlösung sein, der Zweck
+des Daseins. Ich sterbe«, fuhr er mit schwächerer Stimme fort, »aber Sie
+leben ja noch. Gehen Sie zu den Menschen und sagen Sie ihnen, daß ich
+ihr Geheimnis gelöst habe.«
+
+Paul Seebeck schüttelte langsam den Kopf:
+
+»Ich gehe nicht mehr zu den Menschen, Melchior.«
+
+Jetzt richtete sich der Sterbende mit seiner letzten Kraft auf:
+
+»Sie müssen, Seebeck, sonst habe ich das alles umsonst gedacht. Das darf
+doch nicht sein!«
+
+»Nein«, sagte Paul Seebeck hart, »Sie sollen das alles umsonst gedacht
+haben. Mag Ihr Leben verschwendet sein, wie das von uns allen.«
+
+Da brach Melchior zusammen.
+
+Nun fiel das bleiche Mondlicht durch die Fenster und beleuchtete die
+vier Leichen und die Geschütze. Sinnend blieb Paul Seebeck stehen. Er
+schaute auf das Meer hinaus, das so friedlich dalag. Aber dort in der
+Ferne das Ungeheuer, jetzt nicht mehr feuerspeiend.
+
+Paul Seebeck setzte sich neben Felix' Leiche hin und wartete. Aber ihm
+war keine Granate bestimmt. Da küßte er des Knaben eiskalte Stirn und
+ging hinaus. Er ging an den Trümmern des Volkshauses vorbei, die sich
+gespenstig in die Höhe reckten, zur Irenenbucht hinunter. Langsam stieg
+er die Stufen hinab und setzte sich unten auf die Felsplatte. Er sah die
+breiten Rücken der Riesenschildkröten feucht im Mondlichte glänzen, sah
+sie die Köpfe erheben -
+
+Da ließ er sich langsam ins Wasser gleiten. Die Tiere tauchten
+erschreckt unter. Er wollte schwimmen, weiter hinaus ins Meer wollte er,
+aber er verfing sich in den langen Schlingpflanzen. Er kämpfte, um sich
+zu befreien, aber sie ließen ihn nicht los. Da gab er nach und ließ sich
+vom Wasser tragen. Es umfing ihn so lau und weich. Aber wie er sich
+nicht mehr bewegte, beruhigten sich die Tiere wieder. Er sah ihre
+glänzenden Rücken herankommen, dicht vor ihm tauchte ein riesiger,
+schwarzer Kopf aus dem Wasser auf, schob sich langsam näher, ein
+breites, zahnloses Maul öffnete sich - -
+
+
+
+
+IM GLEICHEN VERLAGE ERSCHIEN:
+
+HANS FRANCK
+THIES UND PETER
+DER ROMAN EINER FREUNDSCHAFT
+
+PREIS BROSCH. M. 3.50, GEBUNDEN IN LEINEN M. 4.50
+
+_Neue Freie Presse_: In der Freundschaft sind Fehler Verbrechen! Davon
+handelt der Roman. Es ist die Tragödie restlos angestrebter
+Freundesvereinigung, jener Freundschaft, die in der völligen
+Umklammerung und Einschließung des geliebten Wesens dessen Menschenrecht
+mit Füßen tritt, die sich selbst mordet. »Thieß und Peter« ist ein
+Bekenntnisbuch, warm und sprudelnd vom Herzen gespeist. So ist Hans
+Francks schöpferischer Erstling eine starke Hoffnung, die am schönsten
+eingelöst scheint auf gleichem Weg. Hebbels unerbittlicher Geist und
+Otto Ludwigs eherne Erzählerkunst scheinen hier in einem bewegten Kopfe
+unserer Zeit wiedergeboren zu sein, der reiche bleibende Früchte
+verspricht. Die Sprache ist von elastischer Härte und bringt großartige
+Bilder von starker Energie.
+
+_Saale-Zeitung_: Oft, hundertmal, ist die Liebe zweier Männer besungen,
+zerstört, angegriffen worden, niemals in der intensiven Art wie hier.
+Hans Franck ist es gelungen, sein Thema restlos zu durchleben, zu
+erfassen, in sich aufzunehmen, es in die Form der Kunst zu gießen und
+geläutert herauszuschälen. Das Thema selbst hat Franck restlos
+erschöpft, ohne auch nur die geringsten Seitensprünge zu machen. Hatte
+sein Name auch zuvor schon einen guten Klang, so ist Franck mit diesem
+Roman in die Reihe unserer ersten deutschen Dichter gerückt. Der Roman
+wird in der Geschichte des deutschen Romans noch eine Rolle spielen.
+
+
+IM GLEICHEN VERLAG ERSCHIEN FERNER:
+
+GRETE MEISEL-HESS
+DIE INTELLEKTUELLEN
+ROMAN
+
+PREIS BROSCHIERT M. 5-, ELEGANT IN LEINW. M. 6-
+
+_Anna Croissant-Rüst_: Die Disziplin in ihrem Roman und der Aufbau sind
+bewundernswert. Die Helden des Romans, Olga, Stanislaus sind in allen
+Konturen und Linien ungeheuer scharf gezeichnet und wohl geraten. Dr.
+Emmerich, auch Koszinsky sind sehr gute Typen, überhaupt ist ein
+Reichtum von Personen und Ideen in dem Roman, daß sich manche von den
+herkömmlichen Romanmodeschneiderinnen 10 Romane daraus zurechtschneidern
+könnten. Das quillt alles nur so über und ist doch in straffen Banden
+gehalten.
+
+_Neue Freie Presse_. Manfred Wallentin ist in ihr der vorgeahnte Typus
+des Menschen der Zukunft und der Schönheit, der Typus des moralischen
+Übermenschen, im Sinne einer Herrennatur, die Beladene und Bedrückte
+führend durch das Leben geleitet. Die anderen Figuren des Romanes,
+strebende, wankende, strauchelnde und wieder sich erhebende Männer und
+Frauen, verkörpern den Geist dieser Gruppe der Intellektuellen in
+mannigfacher Gestalt. Zu klarem Relief sind die verschiedenen Charaktere
+gearbeitet, ein jeder stellt ein Beispiel - das Typische seiner Art.
+Nirgends groteske Verzerrung oder leichtfertiges Fertigwerden mit
+komplizierten Gedanken. Philosophische, theosophische, soziale
+Erörterungen kommen in streng geführten Dialogen zur Diskussion, wandeln
+sich hier in poetisch wohltuend gemäßigter Form zu pulsendem Leben.
+
+_Neues Wiener Tageblatt_. Frau Meisel-Heß hat sich schon durch ein Werk
+über »Die sexuelle Krise« in die Scharen der sozialreformatorischen
+Streiter gestellt, während sie in ihrer »Stimme«, das ihr feinstes Buch
+bleibt, eine individualistisch vertiefte Studie gibt - jeder
+nachdenkliche moderne Mensch wird den Roman mit großem Interesse lesen.
+
+A. E. FISCHER, Buch- und Kunstdruckerei, GERA-R.
+
+
+
+[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
+Grundlage der 1912 bei Oesterheld erschienenen Ausgabe erstellt. Die
+nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem
+Originaltext vorgenommenen Korrekturen.
+
+p 019: steigen drei Reketen -> Raketen
+p 022: Zeitungsberichte erkennen liessen. -> ließen
+p 027: [Komma ergänzt] Blatt beugte, »der Flächeninhalt
+p 030: Einen grosszügigen Künstler -> großzügigen
+p 031: lächend wieder aufblickend -> lächelnd
+p 033: dadurch abschliessende Form -> abschließende
+p 035: Paul Seebecks Ichtyosauren -> Ichthyosauren
+p 041: [Anführungszeichen entfernt] »Durch den Schriftsteller -> Durch
+p 044: [Komma ergänzt] daran erinnerte, daß
+p 045: du willst gleieh -> gleich
+p 050: [Vereinheitlicht] im Cafe Stephanie gesessen -> Café
+p 052: auf und abgehend -> auf- und abgehend
+p 054: [Punkt ergänzt] Dann lief er tief errötend aus der Tür.
+p 055: [Anführungszeichen korrigiert] einer von den Unsrigen.«
+p 059: [Zeichen ergänzt] also [ ]in Vorrecht -> ein
+p 058: fuhr erfort[ ], -> er fort,
+p 062: fragte Seebeck die Hand -> fragte Seebeck, die Hand
+p 063: ausgewachene Riesenschildkröte -> ausgewachsene
+p 063: Das es jetzt ... nicht mehr gibt, -> Da
+p 065: bilden kann, ohne das -> daß
+p 067: alle sozialen und sozial-psychologischen Phänomen -> Phänomene
+p 069: Schwäche und Dumheit -> Dummheit
+p 072: Jacob Silberland den geringsten Kummer -> Jakob
+p 075: Rhytmus -> Rhythmus
+p 076: [Anführungszeichen korrigiert] erinnern Sie sich noch?«
+p 089: an Herren Seebeck erlauben -> Herrn
+p 090: Denn wir wissen alles, was wir ihm schulden -> alle
+p 090: [Punkt ergänzt] im Buche der Menschheit stehen.«
+p 092: allerhand Papier zusammen, die -> Papiere
+p 093: [Komma entfernt] fünfhunderteinundzwanzig, Mark.
+p 097: geklatscht und gestrampelt -> getrampelt
+p 106: antworetete der Krüppel -> antwortete
+p 108: [Komma ergänzt] Rechtsstreitigkeiten«, wie [...] ausdrückt
+p 108: alle Steitigkeiten durch -> Streitigkeiten
+p 116: [Vereinheitlicht] Orang-Utans vorfinden«. -> vorfinden.«
+p 122: Arbeit ausführen nnd -> und
+p 122: die wir jetzt darstellen, -> darstellen.
+p 139: [Punkt ergänzt] Schatten auf sie.
+p 145: stand der Krüppel auf; -> auf:
+p 151: [Punkt ergänzt] die sich auf dem Tische befand.
+p 156: Proviant für viezehn Tage -> vierzehn
+p 167: [Anführungszeichen korrigiert] praktische Bedeutung hat?«
+p 183: [Vereinheitlicht] der Vorstandsschaft -> Vorstandschaft
+p 201: [Anführungszeichen korrigiert] »Woher wissen Sie das?«
+p 213: [Vereinheitlicht] Herr Reichkommissar -> Reichskommissar
+p 214: Reipeitsche -> Reitpeitsche
+p 227: ihr auf den Rückwege -> dem
+p 233: [Anführungszeichen korrigiert] »Wir sind verraten.«
+p 233: [Ellipse ergänzt] ausliefern und uns ergeben .. « -> ...«
+p 241: [Punkt ergänzt] Gut, daß Sie kommen.
+p 245: der menschlichen Körper sich -> menschliche
+p 247: Neue Freie Prese -> Presse
+p 248: ERSCHIEN FENRER -> FERNER
+
+Die Originalschreibweise wurde prinzipiell beibehalten, insbesondere bei
+folgenden Wörtern:
+
+p 011: grinzend
+p 058: Karrikatur
+p 074, 172: endgiltig
+p 178: kennte ]
+
+
+
+[Transcriber's Note: This ebook has been prepared from the Oesterheld
+edition, published around 1912. The table below lists all corrections
+applied to the original text.
+
+p 019: steigen drei Reketen -> Raketen
+p 022: Zeitungsberichte erkennen liessen. -> ließen
+p 027: [added comma] Blatt beugte, »der Flächeninhalt
+p 030: Einen grosszügigen Künstler -> großzügigen
+p 031: lächend wieder aufblickend -> lächelnd
+p 033: dadurch abschliessende Form -> abschließende
+p 035: Paul Seebecks Ichtyosauren -> Ichthyosauren
+p 041: [removed quotes] »Durch den Schriftsteller -> Durch
+p 044: [added comma] daran erinnerte, daß
+p 045: du willst gleieh -> gleich
+p 050: [unified] im Cafe Stephanie gesessen -> Café
+p 052: auf und abgehend -> auf- und abgehend
+p 054: [added period] Dann lief er tief errötend aus der Tür.
+p 055: [corrected quotes] einer von den Unsrigen.«
+p 059: [added character] also [ ]in Vorrecht -> ein
+p 058: fuhr erfort[ ], -> er fort,
+p 062: fragte Seebeck die Hand -> fragte Seebeck, die Hand
+p 063: ausgewachene Riesenschildkröte -> ausgewachsene
+p 063: Das es jetzt ... nicht mehr gibt, -> Da
+p 065: bilden kann, ohne das -> daß
+p 067: alle sozialen und sozial-psychologischen Phänomen -> Phänomene
+p 069: Schwäche und Dumheit -> Dummheit
+p 072: Jacob Silberland den geringsten Kummer -> Jakob
+p 075: Rhytmus -> Rhythmus
+p 076: [corrected quotes] erinnern Sie sich noch?«
+p 089: an Herren Seebeck erlauben -> Herrn
+p 090: Denn wir wissen alles, was wir ihm schulden -> alle
+p 090: [added period] im Buche der Menschheit stehen.«
+p 092: allerhand Papier zusammen, die -> Papiere
+p 093: [removed comma] fünfhunderteinundzwanzig, Mark.
+p 097: geklatscht und gestrampelt -> getrampelt
+p 106: antworetete der Krüppel -> antwortete
+p 108: [added comma] Rechtsstreitigkeiten«, wie [...] ausdrückt
+p 108: alle Steitigkeiten durch -> Streitigkeiten
+p 116: [unified] Orang-Utans vorfinden«. -> vorfinden.«
+p 122: Arbeit ausführen nnd -> und
+p 122: die wir jetzt darstellen, -> darstellen.
+p 139: [added period] Schatten auf sie.
+p 145: stand der Krüppel auf; -> auf:
+p 151: [added period] die sich auf dem Tische befand.
+p 156: Proviant für viezehn Tage -> vierzehn
+p 167: [corrected quotes] praktische Bedeutung hat?«
+p 183: [unified] der Vorstandsschaft -> Vorstandschaft
+p 201: [corrected quotes] »Woher wissen Sie das?«
+p 213: [unified] Herr Reichkommissar -> Reichskommissar
+p 214: Reipeitsche -> Reitpeitsche
+p 227: ihr auf den Rückwege -> dem
+p 233: [corrected quotes] »Wir sind verraten.«
+p 233: [completed ellipsis] ausliefern und uns ergeben .. « -> ...«
+p 241: [added period] Gut, daß Sie kommen.
+p 245: der menschlichen Körper sich -> menschliche
+p 247: Neue Freie Prese -> Presse
+p 248: ERSCHIEN FENRER -> FERNER
+
+The original spelling has been maintained throughout the book,
+particularly for the following words:
+
+p 011: grinzend
+p 058: Karrikatur
+p 074, 172: endgiltig
+p 178: kennte ]
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Phantasten, by Erich von Mendelssohn
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PHANTASTEN ***
+
+***** This file should be named 18620-8.txt or 18620-8.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
+ http://www.gutenberg.org/1/8/6/2/18620/
+
+Produced by Markus Brenner and the Online Distributed
+Proofreading Team at http://www.pgdp.net
+
+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
+copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
+protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
+charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
+do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
+rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
+such as creation of derivative works, reports, performances and
+research. They may be modified and printed and given away--you may do
+practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
+subject to the trademark license, especially commercial
+redistribution.
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+*** START: FULL LICENSE ***
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+THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
+PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
+
+To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
+distribution of electronic works, by using or distributing this work
+(or any other work associated in any way with the phrase "Project
+Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project
+Gutenberg-tm License (available with this file or online at
+http://gutenberg.org/license).
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+Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm
+electronic works
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+electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
+and accept all the terms of this license and intellectual property
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+the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
+all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
+If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
+Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
+terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
+entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.
+
+1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
+used on or associated in any way with an electronic work by people who
+agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
+located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
+copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
+works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
+are removed. Of course, we hope that you will support the Project
+Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
+freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
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+the work. You can easily comply with the terms of this agreement by
+keeping this work in the same format with its attached full Project
+Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.
+
+1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
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+before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
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+Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning
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+
+1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
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+must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
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+to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
+permission of the copyright holder found at the beginning of this work.
+
+1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
+License terms from this work, or any files containing a part of this
+work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
+
+1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
+electronic work, or any part of this electronic work, without
+prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
+active links or immediate access to the full terms of the Project
+Gutenberg-tm License.
+
+1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
+compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
+word processing or hypertext form. However, if you provide access to or
+distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
+"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
+posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
+you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
+copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
+request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
+form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
+License as specified in paragraph 1.E.1.
+
+1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
+performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
+unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
+
+1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
+access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
+that
+
+- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
+ the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
+ you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
+ owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
+ has agreed to donate royalties under this paragraph to the
+ Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
+ must be paid within 60 days following each date on which you
+ prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
+ returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
+ sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
+ address specified in Section 4, "Information about donations to
+ the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
+
+- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
+ you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
+ does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
+ License. You must require such a user to return or
+ destroy all copies of the works possessed in a physical medium
+ and discontinue all use of and all access to other copies of
+ Project Gutenberg-tm works.
+
+- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
+ electronic work is discovered and reported to you within 90 days
+ of receipt of the work.
+
+- You comply with all other terms of this agreement for free
+ distribution of Project Gutenberg-tm works.
+
+1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
+electronic work or group of works on different terms than are set
+forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
+both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
+Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
+Foundation as set forth in Section 3 below.
+
+1.F.
+
+1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
+effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
+public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
+collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
+works, and the medium on which they may be stored, may contain
+"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
+corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
+property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
+computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
+your equipment.
+
+1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
+of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
+Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
+Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
+liability to you for damages, costs and expenses, including legal
+fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
+LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
+PROVIDED IN PARAGRAPH F3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
+TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
+LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
+INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
+DAMAGE.
+
+1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
+defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
+receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
+written explanation to the person you received the work from. If you
+received the work on a physical medium, you must return the medium with
+your written explanation. The person or entity that provided you with
+the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
+refund. If you received the work electronically, the person or entity
+providing it to you may choose to give you a second opportunity to
+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
+
+1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
+warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
+If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
+law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
+the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
+
+1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
+trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
+providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
+with this agreement, and any volunteers associated with the production,
+promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at http://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit http://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ http://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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+
+<pre>
+
+The Project Gutenberg EBook of Phantasten, by Erich von Mendelssohn
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Phantasten
+
+Author: Erich von Mendelssohn
+
+Release Date: June 19, 2006 [EBook #18620]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PHANTASTEN ***
+
+
+
+
+Produced by Markus Brenner and the Online Distributed
+Proofreading Team at http://www.pgdp.net
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+<p><a class="page" name="Page_3" id="Page_3" title="3"></a></p>
+<div class="titlepage">
+<h2>ERICH VON MENDELSSOHN</h2>
+
+<h1>PHANTASTEN</h1>
+
+<h3>ROMAN</h3>
+
+<h4>BERLIN 1912<br />
+VERLEGT BEI OESTERHELD &amp; CO.</h4>
+</div>
+
+<div class="textbody">
+<p><a class="page" name="Page_4" id="Page_4" title="4"></a></p>
+<p class="copyright">Copyright 1912<br />
+by Oesterheld &amp; Co. Berlin W. 15</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_5" id="Page_5" title="5"></a></p>
+<p class="writtenin">GESCHRIEBEN IM SOMMER 1911</p>
+
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+<p><a class="page" name="Page_7" id="Page_7" title="7"></a></p>
+<p class="dedication">
+<span class="name">ALEXANDRA JEGOROWNA<br /></span>
+zugeeignet</p>
+
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+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_9" id="Page_9" title="9"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Vor</span> neun Tagen hatte der Lloyddampfer
+&raquo;Prinzessin Irene&laquo; Sidney verlassen, und deshalb
+&uuml;bte der Anblick des grenzenlosen Wassers
+keinen Reiz mehr auf die Passagiere aus. Am
+wenigsten an einem Tage wie heute, wo ein feiner
+Staubregen durch alle Kleider drang und einen
+fr&ouml;steln machte. F&uuml;r solche Tage hatte man ja
+in den Salons alle die Annehmlichkeiten, die ein
+moderner Luxusdampfer bietet.</p>
+
+<p>Als Paul Seebeck auf das Deck hinaus trat,
+schlug er den Kragen seines langen, englischen
+&Uuml;berziehers hoch und schaute sich um. Ein Augenblick
+gen&uuml;gte ihm, um festzustellen, da&szlig; er ganz
+allein war. Wohl hatte ihm der Kapit&auml;n ein f&uuml;r
+allemal die Erlaubnis gegeben, so oft es ihm gefiele
+zu ihm auf die Kommandobr&uuml;cke zu kommen
+&#8211; denn Seebeck st&ouml;rte nie, am wenigsten durch
+unn&ouml;tige Fragen, seine Anwesenheit verk&uuml;rzte dagegen
+die lange Wacht &#8211; doch Paul Seebeck
+scheute sich, die anderen Passagiere auf seine bevorzugte
+Stellung aufmerksam zu machen, um dem
+Kapit&auml;n keine Unannehmlichkeiten zu bereiten.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_10" id="Page_10" title="10"></a>Jetzt stand der gro&szlig;e, starke, doch etwas fette
+Mann neben dem kleinen Kapit&auml;n auf der Kommandobr&uuml;cke.</p>
+
+<p>&raquo;Schade, da&szlig; das Wetter heute so tr&uuml;be ist&laquo;,
+sagte der Kapit&auml;n, &raquo;sonst k&ouml;nnten wir dort im
+Nordosten die Santa-Cruz-Inseln sehen.&laquo; Er rollte
+die Seekarte auf und wies mit dem zusammengeklappten
+Zirkel auf den Punkt, wo das Schiff
+sich im Augenblicke befand. &raquo;Aber ich glaube,
+da&szlig; es bald etwas aufhellen wird.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck nahm ein Fernglas, sah erst nach
+Nordosten und folgte dann weiter dem Horizonte.</p>
+
+<p>Der Kapit&auml;n fuhr fort:</p>
+
+<p>&raquo;Morgen kommen wir sozusagen aus den englischen
+Gew&auml;ssern heraus und in deutsche hinein.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck lie&szlig; das Glas sinken:</p>
+
+<p>&raquo;Deutsche Gew&auml;sser, Herr Kapit&auml;n?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nun ja, die des Bismarckarchipels.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck hob wieder das Glas und schaute
+unverwandt nach Norden, dann reichte er es dem
+Kapit&auml;n und sah auf den Himmel:</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben nat&uuml;rlich wieder Recht, es wird
+wirklich heller. Aber gerade dort vor uns liegen
+dicke Wolken. Sehen Sie mal hin.&laquo;</p>
+
+<p>Der Kapit&auml;n sah erst durch das Glas in der
+angegebenen Richtung, dann mit blo&szlig;en Augen
+<a class="page" name="Page_11" id="Page_11" title="11"></a>und dann wieder durch das Glas. Schlie&szlig;lich sagte
+er kopfsch&uuml;ttelnd:</p>
+
+<p>&raquo;Merkw&uuml;rdig.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bef&uuml;rchten Sie ein Gewitter, Herr Kapit&auml;n?&laquo;
+fragte Paul Seebeck gleichm&uuml;tig.</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig; gar nicht, was ich aus dem Ding
+machen soll. Nein, eine Gewitterwolke ist es
+nicht.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt wandte sich der Matrose, der das Steuerrad
+bediente, grinzend herum und sagte breit:</p>
+
+<p>&raquo;Herr Kapit&auml;n, die ist ja von einem Vulkane!&laquo;</p>
+
+<p>Der Kapit&auml;n war so interessiert, da&szlig; er gar nicht
+daran dachte, den Matrosen zurechtzuweisen. Er
+rollte die Seekarte wieder auf, bestimmte die
+augenblickliche Lage des Schiffes ganz genau,
+pr&uuml;fte den Kompa&szlig; und sagte dann:</p>
+
+<p>&raquo;Unm&ouml;glich, dort liegt kein Land.&laquo;</p>
+
+<p>Eine halbe Stunde verging, und alle schwiegen;
+der Kapit&auml;n und Paul Seebeck schauten aber abwechselnd
+durch das Fernglas auf die schwere,
+dunkelgraue Wolke. Endlich sagte Paul Seebeck:</p>
+
+<p>&raquo;Das ist und bleibt ein Vulkan mit der ber&uuml;hmten,
+pinienartigen Rauchs&auml;ule, und wenn er nicht auf
+der Karte steht, ist es ein Fehler der Karte, und
+nicht des Vulkans.&laquo;</p>
+
+<p>Der Kapit&auml;n sch&uuml;ttelte ungl&auml;ubig den Kopf:</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_12" id="Page_12" title="12"></a>&raquo;Es kann nur eine sonderbar geformte Wolke
+sein; es ist ganz undenkbar, hier mitten auf einer
+so befahrenen Route eine neue Insel zu entdecken.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber wenn es eine neu entstandene w&auml;re, Herr
+Kapit&auml;n?&laquo; warf Paul Seebeck ein. &raquo;Denken Sie
+doch an die gro&szlig;e Flutwelle vor zwei Monaten,
+die die ganze n&ouml;rdliche und &ouml;stliche K&uuml;ste Australiens
+&uuml;berschwemmt hat.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Donnerwetter!&laquo; rief der Kapit&auml;n. &raquo;Das w&auml;re
+ja&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>Er wollte das Glas heben, aber jetzt kam von der
+Seite her ein feiner, durchdringender Staubregen,
+der in wenigen Augenblicken die Aussicht verschleierte.
+Die Herren h&uuml;llten sich fester in ihre
+M&auml;ntel.</p>
+
+<p>Der Regen wurde st&auml;rker und st&auml;rker, und au&szlig;erdem
+brach schnell die Nacht herein.</p>
+
+<p>&raquo;Kommen Sie in meine Kabine&laquo;, sagte endlich
+der Kapit&auml;n. &raquo;Ich m&ouml;chte die Sache gern mit
+dem Ersten Offizier besprechen, und au&szlig;erdem
+wird uns jetzt ein warmer Punsch ganz gesund sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Danke, gern.&laquo;</p>
+
+<p>Wie der Kapit&auml;n dem Ersten Offizier die M&ouml;glichkeit
+andeutete, in der N&auml;he einer neu entstandenen
+Insel zu sein, eilte dieser sofort auf die
+Kommandobr&uuml;cke, um selbst Umschau zu halten,
+kehrte aber bald entt&auml;uscht zur&uuml;ck, da er des
+<a class="page" name="Page_13" id="Page_13" title="13"></a>Dunkels und des Regens wegen nichts hatte wahrnehmen
+k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Als die drei Herren in der Kaj&uuml;te bei einem
+Glase Punsch zusammensa&szlig;en und der Kapit&auml;n
+mit dem Ersten Offizier alle Eventualit&auml;ten und
+die vorzunehmenden Ma&szlig;nahmen besprach, zog
+sich Paul Seebeck in eine Ecke zur&uuml;ck und schwieg,
+wobei er doch aufmerksam dem Gespr&auml;ch lauschte,
+das immer mehr an Flu&szlig; verlor und zuletzt ganz
+aufh&ouml;rte. Schlie&szlig;lich sa&szlig;en die Drei schweigend
+da, und jeder hing seinen Gedanken nach.</p>
+
+<p>Endlich sah der Kapit&auml;n nach der Uhr:</p>
+
+<p>&raquo;Meine Herren, jetzt sind wir schon drei Stunden
+hier unten. Wie w&auml;re es, wenn wir wieder hinaufgingen
+und nach unserer Wolkeninsel s&auml;hen?&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck lachte laut auf:</p>
+
+<p>&raquo;Bravo, Herr Kapit&auml;n. Vielleicht hat sie sich
+schon l&auml;ngst aufgel&ouml;st, w&auml;hrend wir sie hier in
+aller Ruhe erobern.&laquo;</p>
+
+<p>Als sie auf Deck hinaustraten, sahen sie, da&szlig;
+Nebel und Regen v&ouml;llig verschwunden waren, und
+da&szlig; klar der Mond schien. Passagiere gingen
+plaudernd und rauchend auf und ab, oder sa&szlig;en,
+in Plaids geh&uuml;llt, auf Feldst&uuml;hlen. Paul Seebeck
+hatte aber seine gewohnte Zur&uuml;ckhaltung v&ouml;llig
+aufgegeben und folgte zusammen mit dem Ersten
+Offizier dem Kapit&auml;n auf die Kommandobr&uuml;cke.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_14" id="Page_14" title="14"></a>Jetzt war kein Zweifel mehr m&ouml;glich: vor ihnen
+lag, steil dem Meere entsteigend, ein Vulkan, &uuml;ber
+dessen kegelf&ouml;rmiger Spitze &#8211; aber ohne diese zu
+ber&uuml;hren &#8211; eine ungeheure, blauschwarze Wolke
+schwebte. Durch das Fernglas sah man in einigen
+Rissen am Krater die Lava gl&uuml;hend herabsinken.</p>
+
+<p>Als Erster brach Paul Seebeck das Schweigen:</p>
+
+<p>&raquo;Wie weit, Herr Kapit&auml;n &#8211;?&laquo; fragte er. Der
+Kapit&auml;n drehte sich schnell herum und betrachtete
+Paul Seebeck ganz fremd, als ob er seine Gedanken
+erst sammeln m&uuml;&szlig;te. Dann schaute er wieder
+auf den Vulkan und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Sechzig Seemeilen sch&auml;tze ich.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dann sind wir also in vier Stunden dort?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, wenn die Lotungen uns nicht zu lange aufhalten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ach, Sie glauben, da&szlig; sich der ganze Meeresboden
+gehoben hat?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich mu&szlig; wenigstens mit der M&ouml;glichkeit rechnen.&laquo;</p>
+
+<p>Der Erste Offizier hatte inzwischen unausgesetzt
+den Vulkan durch das Nachtglas angesehen. Jetzt
+sagte er:</p>
+
+<p>&raquo;Herr Kapit&auml;n, der Vulkan liegt auf einem
+ziemlich breiten Hochlande. Wir scheinen eine
+Insel von ganz achtbarer Gr&ouml;&szlig;e da vor uns zu
+haben.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_15" id="Page_15" title="15"></a>Paul Seebeck senkte den Kopf und sah vor sich
+hin. Dann ging gleichsam ein Ruck durch ihn;
+er strammte sich auf, sah dem Kapit&auml;n fest in
+die Augen und sagte langsam:</p>
+
+<p>&raquo;Herr Kapit&auml;n, jetzt ist es zehn Uhr; Sie sagten
+selbst, da&szlig; wir vor vier Stunden nicht dort sein
+k&ouml;nnen, also nicht vor zwei Uhr nachts. Um Zw&ouml;lf
+wird aber alles elektrische Licht ausgel&ouml;scht, so
+da&szlig; dann kein Passagier mehr auf sein kann. Sie,
+der Herr Erste Offizier und ich sind die Einzigen,
+die wissen, da&szlig; wir dort eine neu entstandene
+Insel vor uns haben. Die anderen haben nichts
+gesehen, oder wenn sie die Insel gesehen haben,
+ist sie ihnen nicht weiter aufgefallen. Wollen Sie
+mich um zwei Uhr an Land setzen und Schweigen
+bewahren?&laquo;</p>
+
+<p>Der Kapit&auml;n sah ihn &uuml;berrascht an: &raquo;Herr
+Seebeck &#8211; &uuml;berlegen Sie sich&#8217;s &#8211; eine neuentstandene,
+vulkanische Insel! Hei&szlig;er Boden! Ich
+habe doch die Verantwortung, auch f&uuml;r Sie. Und
+dann &#8211; in das Schiffsbuch mu&szlig; ich die Sache doch
+eintragen.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck pre&szlig;te die Lippen zusammen:
+&raquo;Gewi&szlig;, gewi&szlig;&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>Nach kurzem Schweigen fuhr er auf. &raquo;Herr
+Kapit&auml;n, ich habe nichts Unrechtes vor. Ich will
+die Insel f&uuml;r das Deutsche Reich in Besitz nehmen.
+<a class="page" name="Page_16" id="Page_16" title="16"></a>Machen Sie Ihre Eintragungen in das Schiffsbuch,
+es wird sie ja niemand anders als die Rhederei
+sehen. Wollen Sie Beide mir aber versprechen, das
+hei&szlig;t, k&ouml;nnen Sie mir versprechen, absolutes
+Schweigen zu bewahren, Sie und die Herren in
+Bremen, die das Schiffsbuch eventuell lesen? Absolutes
+Schweigen nur drei Tage lang zu bewahren?
+Wenn im Laufe dieser drei Tage nicht telegraphisch
+eine Bitte vom Reichskolonialamt eingelaufen ist,
+l&auml;nger zu schweigen, sind Sie v&ouml;llig frei.&laquo;</p>
+
+<p>Der Kapit&auml;n sah Paul Seebeck an.</p>
+
+<p>&raquo;Einem andern w&uuml;rde ich ein solches Versprechen
+nicht geben, das mir meine Stellung kosten kann.
+Ihnen gebe ich es.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke Ihnen, Herr Kapit&auml;n, Sie werden es
+nicht zu bereuen haben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Auch ich gebe Ihnen das Versprechen&laquo;, f&uuml;gte
+der Erste Offizier hinzu.</p>
+
+<p>Paul Seebeck senkte dankend den Kopf.</p>
+
+<p>Nach einer Weile wandte sich der Kapit&auml;n wieder
+Paul Seebeck zu:</p>
+
+<p>&raquo;Verstehe ich Sie recht, wollen Sie sofort von
+Bremen nach Berlin fahren?&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck schaute auf:</p>
+
+<p>&raquo;Nein, ich bleibe dort und gebe Ihnen einen
+Brief an einen Freund mit, der alles f&uuml;r mich
+ordnen wird.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_17" id="Page_17" title="17"></a>Der Kapit&auml;n sch&uuml;ttelte den Kopf:</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann Sie nicht an Land setzen lassen,
+Herr Seebeck. Die Verantwortung &uuml;bernehme ich
+nicht.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich werde in meinem eigenen Motorboot hin&uuml;berfahren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich werde Sie leider daran verhindern m&uuml;ssen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Herr Kapit&auml;n! Glauben Sie das verantworten
+zu k&ouml;nnen?&laquo;</p>
+
+<p>Der Kapit&auml;n stutzte einen Augenblick. Dann
+schlug er Seebeck lachend auf die Schulter und
+sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann Sie ja nicht mit Gewalt festhalten,
+dazu wissen Sie zu genau, was Sie wollen. Aber
+erkl&auml;ren Sie mir doch, wie Sie sich alles denken.&laquo;</p>
+
+<p>Wieder sah Paul Seebeck dem Kapit&auml;n fest ins
+Gesicht und sagte ganz langsam:</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe mein Motorboot, mein Zelt und Konserven
+f&uuml;r zwei Monate. Ich werde Sie bitten, mir
+drei gew&ouml;hnliche Feuerwerksraketen zu geben. Sie
+haben sie ja an Bord zur Unterhaltung Ihres
+Publikums. Wir machen das Motorboot mit allem
+Inhalt klar, so da&szlig; wir es in einigen Minuten ins
+Wasser setzen k&ouml;nnen. Wir kommen ja dicht an
+der Insel vorbei. Sobald wir vom Schiffe aus einen
+Landungsplatz sehen, setzen Sie mich ins Wasser.
+Sie sind dann so liebensw&uuml;rdig, mit halber Kraft
+<a class="page" name="Page_18" id="Page_18" title="18"></a>weiterzufahren. Komme ich gl&uuml;cklich ans Land,
+lasse ich alle drei Raketen aufsteigen, und Sie
+dampfen ruhig weiter. Ich verspreche Ihnen, es
+erst dann zu tun, wenn ich heil und gesund am
+Lande bin. Lasse ich nur zwei Raketen steigen,
+bedeutet das, da&szlig; ich nicht landen kann und Sie
+auf mich warten m&uuml;ssen. Eine Rakete allein hei&szlig;t,
+da&szlig; ich in Gefahr bin, und Sie mir ein Boot zu Hilfe
+schicken m&uuml;ssen. Einverstanden?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, unter der Bedingung, da&szlig; Sie sich vom Schiff
+noch so viele Konserven mitnehmen, da&szlig; Sie f&uuml;r
+ein halbes Jahr versorgt sind. Nach drei Monaten
+bin ich zwar wieder hier&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und mein Freund, Jakob Silberland, ist dann
+mit Ihnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Der Herr, der zum Kolonialamt gehen soll?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Derselbe. Ich danke Ihnen, Herr Kapit&auml;n.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben mir nichts zu danken. Ich bitte
+Sie nur, in meine Kabine zu gehen und sich alles
+noch einmal in Ruhe zu &uuml;berlegen. Dort k&ouml;nnen
+Sie auch Ihren Brief schreiben. Lassen Sie sich
+auch Ihr Abendessen dorthin bringen, damit Sie
+ganz ungest&ouml;rt sind. In einer Stunde komme ich
+zu Ihnen hinunter, und wir k&ouml;nnen dann alles bis
+ins Kleinste besprechen.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck verlie&szlig; mit einer leichten Verbeugung
+die Kommandobr&uuml;cke.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_19" id="Page_19" title="19"></a>&#8211; &#8211; &#8211; Drei Stunden nach Mitternacht lag der
+Dampfer eine Seemeile vor dem steil abfallenden,
+zerrissenen Ufer entfernt, das vom Mondlichte
+schwarz und gro&szlig; auf das Wasser gezeichnet wurde.</p>
+
+<p>Leise Kommandorufe ert&ouml;nen &#8211; ein Krahn dreht
+sich, und unter Kettengerassel sinkt ein Motorboot
+auf die kaum gekr&auml;uselte Wasserfl&auml;che. Halblaute
+Abschiedsrufe, ein Winken und Gr&uuml;&szlig;en, der Motor
+wird eingestellt, und das Boot saust davon. Langsam
+und schwer brodelt es unter der Schraube des
+Dampfers, und jetzt setzt sich der Kolo&szlig; in Bewegung.</p>
+
+<p>Der Kapit&auml;n steht auf der Kommandobr&uuml;cke
+und verfolgt mit dem Nachtglase das Motorboot.
+Jetzt verschwindet es hinter einer Klippe, taucht
+dann tief in den Mondschatten, biegt um einen
+Felsen und ist fort. Eine Viertelstunde sp&auml;ter
+steigen drei Raketen fast gleichzeitig in die Luft.
+Aufatmend stellt der Kapit&auml;n den Telegraphen
+auf &raquo;Volldampf&laquo;.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_20" id="Page_20" title="20"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Als</span> Dr. phil. et jur. Jakob Silberland unter dem
+Schutze seines &uuml;berm&auml;&szlig;ig gro&szlig;en Schirmes
+dem Caf&eacute; Stephanie zueilte, gab es nicht Wenige,
+die trotz des str&ouml;menden Regens stehen blieben
+und ihm wohlwollend l&auml;chelnd nachblickten. Das
+war auch nicht wunderlich, denn Jakob Silberland
+bildete eine sonderbare Figur. Auf kurzen
+Beinchen sa&szlig; ein dicker Leib mit viel zu langen
+Armen, und im Gesichte bildeten die heiteren,
+offenen Augen einen seltsamen Gegensatz zu der
+scharfgekr&uuml;mmten Nase und der hohen, ausdrucksvollen
+Stirn, &uuml;ber die das blauschwarze
+Haar in einigen gl&auml;nzenden, langen Str&auml;hnen fiel.</p>
+
+<p>Sobald Jakob Silberland das Caf&eacute; betreten hatte,
+holte er sich vom St&auml;nder sechs oder acht Zeitungen
+und legte sie auf einen Tisch am Fenster. Dann
+erst h&auml;ngte er Schirm und Hut an einen Haken,
+wobei er doch st&auml;ndig seine Zeitungen im Auge
+behielt. Als er seinen Mantel auszog, wobei ein
+abgetragener und etwas fleckiger Gehrock sichtbar
+wurde, eilte der Kellner hilfsbereit herbei und
+sagte:</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_21" id="Page_21" title="21"></a>&raquo;Guten Tag, Herr Doktor. Heute fr&uuml;h war der
+Brieftr&auml;ger mit einem eingeschriebenen Brief f&uuml;r
+den Herrn Doktor da. Ich sagte ihm, er solle am
+Nachmittage wiederkommen, dann w&auml;re der Herr
+Doktor bestimmt hier.&laquo;</p>
+
+<p>Dr. Silberland sagte nur: &raquo;Danke&laquo; und eilte
+auf seinen kurzen Beinchen zu seinen Zeitungen,
+in denen eben ein anderer Gast zu bl&auml;ttern begann.
+Als er sich richtig zurechtgesetzt und seine Zeitungen
+sortiert hatte, bestellte er einen Kaffee und
+begann, die Brust an den Tischrand gedr&uuml;ckt,
+eifrig zu lesen. Gerade als er die Kreuzzeitung mit
+gerunzelter Stirn fortlegte und aufatmend nach
+dem &raquo;Vorw&auml;rts&laquo; griff, erschien, vom Kellner gef&uuml;hrt,
+der Brieftr&auml;ger an seinem Tische und &uuml;bergab
+ihm einen eingeschriebenen Brief. Silberland erkannte
+sofort die Handschrift seines Freundes
+Paul Seebeck, schob mit einer energischen Armbewegung
+die Zeitungen zur Seite, quittierte, gab
+dem Brieftr&auml;ger zwanzig Pfennige und &ouml;ffnete den
+Brief. Hierbei fiel ein zusammengefaltetes Checkformular
+heraus, das Silberland sofort in seine
+Brieftasche steckte. Der Brief lautete:</p>
+
+<p>&raquo;An Bord des Lloyddampfers &raquo;Prinzessin Irene&laquo;.</p>
+
+<p class="center">Lieber Jakob!</p>
+
+<div class="blockquot"><p>Von dem wenig befriedigenden Ausfall meiner
+australischen Expedition wirst du durch die
+<a class="page" name="Page_22" id="Page_22" title="22"></a>Zeitungen erfahren haben. &Uuml;brigens war der
+Verlauf viel kl&auml;glicher, als die Zeitungsberichte
+erkennen lie&szlig;en.</p>
+
+<p>Ich freue mich aber jetzt, da&szlig; ich so mi&szlig;gestimmt
+und so unzufrieden mit mir selbst die
+R&uuml;ckreise antrat, denn dadurch hatte ich gerade
+die richtige Disposition zu neuen Dingen, die
+ernsthafter sind.</p>
+
+<p>Pa&szlig; mal auf: wir haben eine neuentstandene,
+vulkanische Insel entdeckt, und zwar bin ich der
+erste, der sie sah. Ich bin dort geblieben und
+habe sie f&uuml;r das Deutsche Reich in Besitz genommen.
+Die Sache ist Geheimnis, nur der
+Kapit&auml;n und der Erste Offizier von der &raquo;Prinzessin
+Irene&laquo; wissen davon, und die schweigen.</p>
+
+<p>Wo die Insel liegt, usw., kannst du von diesen
+beiden Herren erfahren.</p>
+
+<p>Bitte geh sofort nach Berlin, zum Reichskolonialamt,
+und la&szlig; mir eine unbeschr&auml;nkte
+Vollmacht als Reichskommissar ausstellen, so
+da&szlig; ich bis auf weiteres mit der Insel machen
+kann, was ich will. Die Leute sollen aber schweigen,
+bis erst feststeht, ob die Insel bewohnbar
+ist oder nicht. Sonst ist die Blamage nachher
+zu gro&szlig;. Du gibst nat&uuml;rlich sofort deine alberne
+Stellung bei den &raquo;Neuesten&laquo; auf und kommst
+mit der &raquo;Prinzessin Irene&laquo; hierher. Ein Scheck
+<a class="page" name="Page_23" id="Page_23" title="23"></a>auf zehntausend Mark liegt bei: bezahl alle
+deine Schulden, da&szlig; du vollst&auml;ndig unabh&auml;ngig
+bist. Mach sonst aber nicht zu viele Ausgaben,
+denn ich werde hier mein Geld wohl sehr n&ouml;tig
+brauchen. Eine Tropenausr&uuml;stung mu&szlig;t du aber
+haben.</p>
+
+<p>Du verstehst, was ich will: ich denke an unsere
+Gespr&auml;che &uuml;ber den absolut korrekten Staat,
+der durch keinerlei Traditionen und R&uuml;cksichten
+gehemmt ist. Wir haben ja oft dar&uuml;ber debattiert,
+wie ein solcher moderner Staat auszugestalten
+sei &#8211; hier k&ouml;nnen wir ihn gr&uuml;nden, wenn auch
+nur in einem kleinen Ma&szlig;stabe.</p>
+
+<p>Alle Einzelheiten &uuml;berlasse ich dir, nur besorge
+mir die Vollmacht und komm her. Setz
+dich aber auch mit dem Kapit&auml;n in Verbindung.
+Der Mann ist praktisch und wird dich &uuml;ber
+Einzelheiten informieren.</p>
+
+<p>Entschuldige die K&uuml;rze. Ich kann dir aber
+in dieser Eile nicht alle meine Gedanken auseinandersetzen;
+es ist wohl auch unn&ouml;tig, eigentlich
+ergibt sich ja alles von selbst.</p>
+
+<p>&Uuml;berlege dir aber jeden Schritt, den du tust.</p>
+
+<p class="regards">Gru&szlig;</p>
+
+<p class="signature">dein Paul S.&laquo;</p>
+</div>
+
+<p>Als Jakob Silberland diesen Brief zu Ende gelesen
+hatte, fuhr er sich mehrmals mit der Hand
+<a class="page" name="Page_24" id="Page_24" title="24"></a>durch das lange, schwarze Haar. Dann r&uuml;hrte er
+bed&auml;chtig seinen Kaffee um, der l&auml;ngst kalt geworden
+war. Gerade, wie er ihn trinken wollte,
+kam der Kellner und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Herr Doktor, die Redaktion fragt am Telephon,
+ob Sie noch hier w&auml;ren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sagen Sie, ich w&auml;re gegangen&laquo;, gab Silberland
+zur Antwort, &raquo;und bringen Sie mir eine Zigarre.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie gew&ouml;hnlich eine zu Zehn?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja &#8211; nein, eine zu F&uuml;nfzig!&laquo; sagte Jakob
+Silberland w&uuml;rdevoll. &raquo;Und besorgen Sie mir ein
+Auto.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sehr wohl, Herr Doktor&laquo;, sagte der Kellner mit
+der solchen ungewohnten Aufwendungen zukommenden
+Ehrerbietung.</p>
+
+<p>Jakob Silberland aber fuhr, die feine Zigarre in
+der Hand, im Auto zur Dresdener Bank, wo er
+den Scheck einl&ouml;ste, und unternahm dann eine
+l&auml;ngere Rundfahrt durch die Stadt, um alle seine
+kleinen und gr&ouml;&szlig;eren Schulden zu bezahlen, die
+zusammen kaum zweitausend Mark betrugen. Zuletzt
+begab er sich auf seine Redaktion, wo er
+gegen Stellung eines Vertreters leicht entlassen
+wurde, da er kein angenehmer Kollege gewesen war.</p>
+
+<p>Mit dem Abendschnellzuge fuhr er nach Berlin.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_25" id="Page_25" title="25"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Drei</span> Monate sp&auml;ter sa&szlig;en Paul Seebeck und
+Jakob Silberland in ihren blendend wei&szlig;en Flanellanz&uuml;gen
+auf einem Steinblock am Strande,
+rauchten ihre kurzen, englischen Pfeifen und sahen
+der langsam verschwindenden &raquo;Prinzessin Irene&laquo;
+nach. Endlich sagte Jakob Silberland:</p>
+
+<p>&raquo;Etwas Urweltliches liegt &uuml;ber der ganzen Insel:
+der Vulkan, die nackten Felsen, der Mangel jeglichen
+tierischen Lautes &#8211; es kommt mir fast vor,
+als ob ich um viele Millionen von Jahren in der
+Zeit zur&uuml;ckversetzt sei. Es w&uuml;rde mich gar nicht
+wundern, wenn pl&ouml;tzlich ein Ichthyosaurus oder
+sonst irgend ein Ungeheuer aus dem Wasser auftauchte.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck hatte nachdenklich seine Pfeife
+ausklopfend ihm zugeh&ouml;rt. Jetzt hob er den Kopf
+und sagte l&auml;chelnd:</p>
+
+<p>&raquo;Die Ungeheuer wirst du schon noch zu sehen
+bekommen. Nur etwas Geduld.&laquo;</p>
+
+<p>Jakob Silberland lachte:</p>
+
+<p>&raquo;Hast du hier eine Ichthyosauren-Farm angelegt?
+Das Gesch&auml;ft d&uuml;rfte doch kaum lohnend
+<a class="page" name="Page_26" id="Page_26" title="26"></a>sein. Sobald die Zoologischen G&auml;rten versorgt sind,
+w&uuml;rde der Weltbedarf gedeckt sein, und was
+dann?&laquo;</p>
+
+<p>Es zuckte um Seebecks Mundwinkel, als ob er
+mit M&uuml;he ein L&auml;cheln unterdr&uuml;ckte.</p>
+
+<p>&raquo;Aber wovon wollen wir hier sonst leben, wenn
+nicht von Ichthyosauren? Es gibt ja keinen Grashalm
+auf der ganzen Insel, keinen Vogel, keinen
+Floh, nichts. Soweit ich als gebildeter geologischer
+Laie urteilen kann, ist auch das Vorkommen von
+wertvollen Mineralien zum mindesten h&ouml;chst unwahrscheinlich.
+Da bleiben doch nur die Ichthyosauren
+&uuml;brig. Au&szlig;erdem finde ich den Gedanken
+sehr ansprechend, da&szlig; der modernste aller Staaten
+von urweltlichen Tieren lebt. Damit schlie&szlig;t sich
+zur&uuml;ckgreifend der Ring und l&ouml;scht die Zeit aus.
+Anfang und Ende ber&uuml;hren sich.&laquo;</p>
+
+<p>Jakob Silberland sprang auf:</p>
+
+<p>&raquo;Ist das dein Ernst?&laquo;</p>
+
+<p>Seebeck blieb sitzen und sagte gem&uuml;tlich:</p>
+
+<p>&raquo;Du sollst etwas Geduld haben. Ich werde dir
+meine Saurierfarm schon zeigen. Die gr&ouml;&szlig;te
+Ichthyomuttersau habe ich &uuml;brigens voll Dankbarkeit
+gegen das g&uuml;tige Schicksal &raquo;Prinzessin
+Irene&laquo; getauft.&laquo;</p>
+
+<p>Damit stand er auf und ging zu seinem Zelt, das
+einige Schritte r&uuml;ckw&auml;rts im Schutze einer schr&auml;gen
+<a class="page" name="Page_27" id="Page_27" title="27"></a>Felswand stand. Er kam mit einigen Papierrollen
+zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>&raquo;Sieh mal her&laquo;, sagte er, indem er die Bl&auml;tter
+entfaltete und jedes an den vier Ecken mit Steinchen
+beschwerte, &raquo;hier habe ich, so gut ich es allein
+machen konnte, die Insel aufgenommen. Die K&uuml;ste
+und diese Bucht habe ich recht genau, im Inneren
+bin ich fl&uuml;chtiger gewesen und au&szlig;erdem habe ich
+gr&ouml;&szlig;ere Strecken der hei&szlig;en Lava wegen nicht
+betreten k&ouml;nnen. Hier hast du die ganze Insel mit
+den Sch&auml;ren eins zu dreihunderttausend&laquo;, fuhr er
+fort, wobei er sich &uuml;ber das betreffende Blatt beugte,
+&raquo;der Fl&auml;cheninhalt betr&auml;gt ungef&auml;hr zw&ouml;lfhundert
+Quadratkilometer, wovon der Vulkan allein fast
+vierzig bedeckt. Hier ist unsere Bucht eins zu zehntausend.
+Sie ist mit der Nebenbucht dort rechts
+von uns &uuml;berhaupt die einzige Bucht der ganzen
+Insel. Ich habe sie bei Tiefebbe aufgenommen.
+Die rote K&uuml;stenlinie und die rot gezeichneten
+Sch&auml;ren beziehen sich auf Tiefebbe, die entsprechenden
+blauen Linien auf Hochflut. Du siehst,
+da&szlig; unz&auml;hlige Sch&auml;ren und Klippen nur bei Tiefebbe
+&uuml;ber die Wasserfl&auml;che emporragen. Bei
+Tiefebbe ist &uuml;berhaupt nur eine einzige, schmale
+und dabei stark gewundene Rinne selbst f&uuml;r mein
+kleines, flaches Motorboot passierbar. Ich kam
+gl&uuml;cklicherweise bei Hochflut, sonst w&auml;re ich &uuml;berhaupt
+<a class="page" name="Page_28" id="Page_28" title="28"></a>nie lebendig hier ans Land gekommen.&laquo;
+Mit der Hand aufs Meer weisend, sagte er: &raquo;Die
+&auml;u&szlig;erste Felsenspitze dort links ist etwa siebenhundert
+Meter hoch und f&uuml;nf Kilometer von uns
+entfernt, die dort rechts dreihundert Meter hoch
+und vier Kilometer entfernt. Die Entfernung
+zwischen beiden betr&auml;gt drei Kilometer. Diese
+Bucht stellt den einzigen Hafen, &uuml;berhaupt die
+einzige Landungsm&ouml;glichkeit dar. Zwischen der
+Spitze rechts und dem Kap, das ein wenig dar&uuml;ber
+hervorragt, liegt eine zweite, breite, aber sehr
+flache Bucht mit unz&auml;hligen Felsen und Klippen.
+Dahin kann man zu Wasser, aus Gr&uuml;nden, die dir
+sp&auml;ter klar werden, nicht kommen, und vom Lande
+aus nur mit Hilfe eines Seiles. Sogar ich als Bergsteiger
+habe dort nur schwer hinunterklettern
+k&ouml;nnen. Diese zweite Bucht habe ich Irenenbucht
+getauft, der einzige Name, den ich bisher hier einer
+&Ouml;rtlichkeit gegeben habe.&laquo; L&auml;chelnd setzte er
+hinzu: &raquo;Dort liegt also meine Ichthyosaurenfarm.&laquo;</p>
+
+<p>Bevor der &uuml;berraschte Silberland sich zu einem
+Worte sammeln konnte, fuhr Paul Seebeck fort:</p>
+
+<p>&raquo;Denk dir unsern Standort hier als Mittelpunkt
+eines Kreises mit dem Radius von f&uuml;nf Kilometern,
+also der Entfernung des Kap dort links. Dann
+bezeichnet der Kreisbogen ziemlich genau die Grenze
+eines submarinen Plateaus, auf dem alle diese
+<a class="page" name="Page_29" id="Page_29" title="29"></a>Sch&auml;ren liegen. Wie tief der Meeresboden au&szlig;erhalb
+dieses Plateaus ist, wei&szlig; ich nicht; mein Lot ist
+hundert Meter lang und mit ihm habe ich drau&szlig;en
+nirgendwo Grund gefunden. Sehr tief kann er
+aber doch nicht sein, denn auch da drau&szlig;en liegen
+ja, wie du siehst, einige vereinzelte Klippen. Das
+Plateau bricht aber steil ab; ich vermute, der
+Sch&auml;ren da drau&szlig;en wegen und auch aus anderen
+Gr&uuml;nden, aber ein zweites, allerdings viel tiefer
+liegendes, submarines Plateau. Der gr&ouml;&szlig;te Teil
+der Insel ist eine im gro&szlig;en Ganzen wagerechte
+Hochebene, vier- bis siebenhundert Meter &uuml;ber dem
+Meeresspiegel, die &uuml;berall fast senkrecht abbricht.
+Dann &#8211; ja, der gro&szlig;e Vulkan &#8211; neunzehnhundert
+Meter hoch, diese Mulde, mit ihren sechs Quadratkilometern
+Fl&auml;che, die stufenweise, amphitheatralisch,
+wenn du willst, bis zur Plateauh&ouml;he emporsteigt
+&#8211; damit ist wohl die Topographie der Insel
+ersch&ouml;pft. Ich habe sonst nicht viel Bemerkenswertes
+auf meinen Streifz&uuml;gen entdeckt, h&ouml;chstens
+w&auml;re ein seltsames Durcheinander von Schluchten
+erw&auml;hnenswert, das am Fu&szlig;punkte des Vulkanes
+liegt und mich da am Weiterkommen hinderte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und wie denkst du dir die Entstehung der
+Insel?&laquo; fragte Jakob Silberland.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin kein Geologe. Da&szlig; die Insel erst jetzt
+entstanden ist, glaube ich nicht. Sie wird schon
+<a class="page" name="Page_30" id="Page_30" title="30"></a>einmal dagewesen sein, und zwar viel gr&ouml;&szlig;er als
+jetzt, ist dann unter die Oberfl&auml;che des Meeres gesunken
+und hat sich jetzt wieder dar&uuml;ber gehoben,
+doch nicht bis zu ihrer urspr&uuml;nglichen H&ouml;he. Und
+zwar glaube ich nicht, da&szlig; sie sehr lange unten
+gewesen ist, einige hundert Jahre h&ouml;chstens.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Woher kannst du das wissen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Steine sehen mir nicht aus, als ob sie
+lange Meeresboden gebildet h&auml;tten.&laquo;</p>
+
+<p>Damit stand Paul Seebeck auf, rollte seine Kartenskizzen
+zusammen und brachte sie in sein Zelt.
+Als er zur&uuml;ckkam, sagte er, vor Jakob Silberland
+stehen bleibend:</p>
+
+<p>&raquo;Ist das nicht ein ganz idealer Grund f&uuml;r eine
+Stadt? Alle Stra&szlig;enz&uuml;ge, sogar die Pl&auml;tze der einzelnen
+H&auml;user sind von der Natur vorausbestimmt.
+Ich kann mir die ganze Stadt so lebendig vorstellen,
+wie sie sich den Felsen anschmiegt, wie sie in ihrer
+Struktur den Stufen folgt. Aber wir m&uuml;ssen einen
+Architekten haben, der einen ganz neuen Stil
+schaffen kann. Einen gro&szlig;z&uuml;gigen K&uuml;nstler wie
+Edgar Allan. Dort oben&nbsp;&#8211;&laquo; und er wies mit der
+Hand auf einen vorspringenden Felsen &#8211; &raquo;soll
+mein Haus stehen. Von dort aus kann ich alles
+&uuml;bersehen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du f&uuml;hlst dich schon jetzt als K&ouml;nig?&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_31" id="Page_31" title="31"></a>&raquo;K&ouml;nig? Nein, nein!&laquo; wehrte Paul Seebeck erschrocken
+ab. Er sah still vor sich hin. Dann sagte
+er, l&auml;chelnd wieder aufblickend:</p>
+
+<p>&raquo;Komm jetzt. Wir wollen etwas zu Abend essen.
+Dann werde ich dir meine Ichthyosaurenfarm
+zeigen.&laquo;</p>
+
+<p>Da es fast Windstille war, beschlossen sie, vor
+dem Zelte ihre Mahlzeit einzunehmen. Als Jakob
+Silberland sah, da&szlig; Paul Seebeck seinen Destillationsapparat
+aufstellte, und Wasser vom Meere holte,
+fragte er besorgt:</p>
+
+<p>&raquo;Gibt es denn gar kein Trinkwasser auf der
+Insel?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Doch, es gibt einen Bach hier in der N&auml;he, der
+wohl zur Versorgung einer kleinen Stadt ausreichen
+d&uuml;rfte, und weiter oben einen gro&szlig;en Flu&szlig;. Es
+wird aber nicht leicht sein, ihn einzufangen und
+hier herunter zu leiten, denn er f&auml;llt mehrere
+Kilometer von hier in einem sch&ouml;nen Wasserfalle
+direkt vom Hochplateau aus ins Meer.&laquo;</p>
+
+<p>Als sie gegessen hatten &#8211; der Kapit&auml;n hatte
+Jakob Silberland einen Korb mit frischem Fleisch
+und Gem&uuml;se aus den Vorr&auml;ten des Schiffes mitgegeben,
+so da&szlig; Paul Seebeck nach den vielen
+Wochen mit Konservennahrung endlich einmal
+etwas anderes bekommen hatte &#8211; rief Jakob
+Silberland:</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_32" id="Page_32" title="32"></a>&raquo;Aber jetzt will ich nicht l&auml;nger warten; jetzt
+mu&szlig;t du mir deine Ichthyosauren vorf&uuml;hren. Ich
+bin wirklich sehr gespannt, zu erfahren, wovon wir
+hier leben sollen, besonders, was wir von hier
+exportieren k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sch&ouml;n&laquo;, sagte Seebeck. &raquo;Komm!&laquo;</p>
+
+<p>Sie stiegen langsam in der mit Ger&ouml;ll bedeckten
+Mulde bergauf, und Paul Seebeck erkl&auml;rte dabei
+seinem Freunde, wie er sich die Anlage der Stadt
+dachte. Der sonst so redselige Jakob Silberland
+sprach auch jetzt nur wenig; zu sehr besch&auml;ftigten
+seinen Geist die Perspektiven auf die Zukunft,
+die ihm ja tausend Tr&auml;ume zu verwirklichen versprach.</p>
+
+<p>Als sie die Plateauh&ouml;he erreicht hatten, blieb
+Seebeck stehen und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Wenn man nicht ein anst&auml;ndiger Mensch w&auml;re,
+k&ouml;nnte man bei dem Gedanken ganz sentimental
+werden, da&szlig; dieses reine, unber&uuml;hrte Land, das
+keine Geschichte und keine Vorzeit hat, eine Gemeinschaft
+von Menschen auf sich wachsen und
+bl&uuml;hen sehen wird, die auch jungfr&auml;ulich frei, ohne
+Verbindung mit der &uuml;brigen Menschheit, ohne
+morsche Traditionen und ohne &uuml;berlieferten Zwang,
+irrende Sterne im gro&szlig;en Raume sind und die
+hier sich nur auf Grund ihres reinen Menschentums
+zusammenfinden und hier zusammenarbeiten werden.
+<a class="page" name="Page_33" id="Page_33" title="33"></a>In der Traditionslosigkeit unseres zuk&uuml;nftigen
+Staates sehe ich seine Bedeutung. Da&szlig; ich einigen
+Hundert oder Tausend Menschen, die sonst in
+keinen Rahmen passen, hier freie Entwicklungsm&ouml;glichkeiten
+und Gl&uuml;ck zu geben vermag, gen&uuml;gt
+mir nicht. Vom ersten Augenblick an war mir
+dieser Staat ein Begriff, ein Kunstwerk, eine formale
+Befreiung. Ebenso, wie der K&uuml;nstler durch
+seine reine Darstellung befreit, durch die einseitige,
+aber dadurch abschlie&szlig;ende Form Klarheit
+im Chaos schafft, soll f&uuml;r die &uuml;brigen
+Menschen der Gedanke an unsere reine Insel eine
+geistige Erl&ouml;sung sein.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du siehst nicht weit genug&laquo;, sagte Jakob
+Silberland, wobei er sich mit der Hand durch sein
+blauschwarzes, str&auml;hniges Haar fuhr und erregt
+mit seinen kurzen Beinchen trippelte. &raquo;Du sprichst
+als K&uuml;nstler. Ich bin Praktiker und als solcher
+sehe ich noch eine Gewi&szlig;heit: die Institutionen,
+die hier entstehen, die wir hier schaffen werden,
+werden beachtet, nachgeahmt werden, und unser
+Staat wird das Seinige dazu beitragen, da&szlig; sich
+die Menschheit aus den Ketten l&ouml;st, in die Gewaltt&auml;tigkeit,
+Dummheit und Herrschsucht sie gelegt
+haben. Sie wird durch uns lernen, frei zu sein, frei
+in der geschlossenen Gemeinschaft zu werden. Man
+mu&szlig; ihr nur einmal zeigen, da&szlig; es m&ouml;glich ist.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_34" id="Page_34" title="34"></a>Paul Seebeck sah mit seinen gro&szlig;en Augen dem
+Freunde gerade ins Gesicht:</p>
+
+<p>&raquo;Ich hoffe, da&szlig; es so wird, wie du sagst. Es ist
+ja auch sehr wahrscheinlich. Umsomehr, als wir
+ja kaum einen bestimmten Ausschnitt aus der
+Menschheit darstellen werden, nicht einen besonderen
+Typus, sondern gerade einen Extrakt aus
+der ganzen Menschheit. Stelle dir doch nur vor,
+was f&uuml;r Menschen zu uns kommen werden&laquo;, fuhr
+er lebhaft fort, wobei er sich in der Richtung auf
+die Irenenbucht zum Gehen wandte, &raquo;jedenfalls
+keine Durchschnittsmenschen, die irgendwo warm
+und zufrieden in ihren Nestern sitzen, sondern die
+Unzufriedenen, Bedr&uuml;ckten, Heimatlosen, alle die
+von einander entferntesten Extreme, die nur das
+eine verbindet: der Ekel vor der Verlogenheit der
+Gesellschaft, die Sehnsucht nach dem freien, dem
+wirklichen Menschen, dem Menschen, der jeder
+einzelne sein k&ouml;nnte, wenn ihn nicht die Ketten
+der Tradition zum Herdentiere erniedrigten. Hierher
+werden sie kommen und nichts mitbringen, als
+ihr innerstes, freies Menschentum, und ihre Gemeinschaft
+wird die Erl&ouml;sung des Menschen, des
+Ebenbildes Gottes sein.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt standen sie vor dem steilen Abfalle zur
+Irenenbucht. Paul Seebeck blickte noch eine Weile
+schweigend und mit gl&auml;nzenden Augen auf das
+<a class="page" name="Page_35" id="Page_35" title="35"></a>Meer. Dann sagte er l&auml;chelnd zu seinem Freunde,
+wobei er auf die Bucht unter ihnen mit ihrem Gewirr
+von Klippen und Sandb&auml;nken wies:</p>
+
+<p>&raquo;Also dort unten hausen und grausen meine
+Ichthyosauren.&laquo;</p>
+
+<p>F&uuml;r Jakob Silberland kam dieser Sprung von
+Paul Seebecks feierlichen Worten zum leichten
+Scherze so &uuml;berraschend, und au&szlig;erdem wu&szlig;te er
+gar nicht, was er aus Paul Seebecks Ichthyosauren
+machen sollte, da&szlig; er schweigend seinem Freunde
+mit Hilfe von Strickleitern, Eisenklammern und
+nat&uuml;rlichen Felszacken in die Tiefe folgte. Da
+beide ge&uuml;bte Bergsteiger waren, ging der Abstieg
+schnell von statten.</p>
+
+<p>Als sie unten auf einer breiten Felsplatte angekommen
+waren und auf das Wasser sahen, das hier
+schlammig und voll von gr&uuml;nen Algen war, sagte
+Paul Seebeck:</p>
+
+<p>&raquo;Setz dich jetzt hier in den Schatten und verhalte
+dich ganz ruhig.&laquo;</p>
+
+<p>Jakob Silberland tat, wie ihm gehei&szlig;en. Er sah,
+da&szlig; Paul Seebecks umherschweifender Blick immer
+wieder zu einer tiefen dunklen Spalte in der Felsenwand
+zur&uuml;ckkehrte. Er schaute scharf hin und
+glaubte, einen schweren K&ouml;rper herausgleiten zu
+sehen, der kein Fisch sein konnte. &Auml;ngstlich sah
+er Paul Seebeck an, aber dieser l&auml;chelte nur.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_36" id="Page_36" title="36"></a>Jetzt hob sich zwanzig Schritte von ihm entfernt,
+ein riesiger, schwarzer Kopf aus dem Wasser, ein
+breites, zahnloses Maul &ouml;ffnete sich&nbsp;&#8211;&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p>Mit einem Entsetzensschrei sprang Silberland
+auf. Sofort verschwand der Kopf im Wasser. Paul
+Seebeck aber sagte lachend:</p>
+
+<p>&raquo;Du sollst mir meine Tiere nicht scheu machen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was sind das f&uuml;r Tiere?&laquo; fragte Jakob Silberland,
+noch am ganzen K&ouml;rper zitternd.</p>
+
+<p>&raquo;Schildkr&ouml;ten, mein Junge, allerdings reichlich
+gro&szlig;e.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Riesenschildkr&ouml;ten?&laquo; fragte Jakob Silberland
+aufatmend.</p>
+
+<p>&raquo;Ja. Und zwar sind es reine Wassertiere. Ich
+habe sie nie l&auml;nger als f&uuml;r Minuten am Lande gesehen.
+&#8211; Sei ruhig, hier k&ouml;nnen sie nicht heraufkrabbeln.
+&#8211; Am Tage sieht man sie immer nur
+ganz fl&uuml;chtig. Aber in hellen Mondscheinn&auml;chten
+habe ich sie oft viele Stunden lang beobachtet.
+Sie k&ouml;nnen schwimmen, tun es aber fast nie. Sie
+kriechen auf dem Boden hin. Es gibt unz&auml;hlige
+hier. Die gr&ouml;&szlig;ten waren &uuml;ber vier Meter lang.</p>
+
+<p>Ich traute mich nie recht, mit meinem Motorboote
+vom Meere her in die Bucht zu fahren, um
+die Tiere nicht zu erschrecken. Au&szlig;erdem w&uuml;rden
+die unz&auml;hligen Sandb&auml;nke und Klippen, die du
+siehst, die Sache fast unm&ouml;glich gemacht haben,
+<a class="page" name="Page_37" id="Page_37" title="37"></a>ganz abgesehen von den riesigen Algen, die meiner
+Schiffsschraube wohl das Leben gekostet h&auml;tten.
+Aber toll ist es hier. Zuweilen habe ich tief unten
+im Wasser die Leuchtorgane von elektrischen
+Fischen aufblitzen sehen, und bei Tiefebbe liegen
+die phantastischsten Tiefseetiere hier herum. Soviel
+ich sehen konnte, ist der Meeresboden hier
+auch nicht nackt, wie bei der gro&szlig;en Bucht, sondern
+sieht wie ein submariner Urwald aus, der
+sich weit hinaus ins Meer erstreckt. Meine Auffassung
+ist, da&szlig; sich mit der Hebung der Insel
+diese unterseeische Oase auch gehoben hat. Wie
+sie in dieses Gestein hereinkommt, wei&szlig; ich nicht.
+Vielleicht ruht sie auf Lehm. Jedenfalls ist sie
+da, und die Schildkr&ouml;ten mit ihr.</p>
+
+<p>Wenn wir vern&uuml;nftig sind und keinen Raubbau
+treiben, k&ouml;nnen wir durch die Tiere eine dauernde
+Einnahmequelle haben, die f&uuml;r die ganze Insel
+ausreichen wird. Dazu kommt noch der Fischfang.
+&#8211; Du siehst, unser Staat braucht keine Not zu
+leiden.&laquo;</p>
+
+<p>Sie warteten noch eine halbe Stunde, aber kein
+Tier lie&szlig; sich mehr blicken. So traten sie den
+R&uuml;ckweg an.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_38" id="Page_38" title="38"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Paul</span> Seebeck sa&szlig; mit seinem Studienfreunde,
+dem Architekten Edgar Allan zusammen im Caf&eacute;
+Bauer in Berlin. Paul Seebeck war trotz der fr&uuml;hen
+Nachmittagsstunde im Frack, denn er hatte am
+Vormittage mehrere Staatssekret&auml;re und andere
+h&ouml;heren Beamte aufgesucht. Jetzt hatte er alle
+offiziellen Schritte getan; da er aber am Abend ins
+Theater wollte, wollte er sich nicht erst die M&uuml;he
+machen, sich f&uuml;r die wenigen Stunden nochmals
+umzuziehen. Deshalb war er im Frack geblieben,
+und es st&ouml;rte ihn nicht, da&szlig; er dadurch etwas Aufsehen
+erregte.</p>
+
+<p>Edgar Allan war lang und knochig und hatte eine
+etwas eingefallene Brust. Auch in seinem scharfgeschnittenen
+Gesichte verleugnete sich der englische
+Halbteil seines Blutes nicht.</p>
+
+<p>Paul Seebeck sah durchs Fenster auf die Stra&szlig;e
+hinaus. Edgar Allan st&uuml;tzte seine Ellbogen auf
+den Tisch und verbarg sein Gesicht in den langen,
+mageren H&auml;nden. Als er es nach einigen Minuten
+wieder erhob, sah er, da&szlig; Paul Seebeck ihn jetzt
+mit seinen gro&szlig;en Augen forschend anblickte.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_39" id="Page_39" title="39"></a>Edgar Allan sah ihn erst fremd an, dann verzog
+sich sein Gesicht. Er sagte erregt:</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin &uuml;brigens nicht nur mit meiner Klage
+vom Reichsgericht abgewiesen; das Warenhaus hat
+mit seiner Widerklage sogar erreicht, da&szlig; ich zu
+einer Entsch&auml;digung verurteilt wurde. Alle Sachverst&auml;ndigen
+waren darin einig, da&szlig; mein Bau
+nicht den Voraussetzungen des Kontraktes entsprach.
+Fast meine ganzen Ersparnisse habe ich
+hingeben m&uuml;ssen.&laquo; Dann fuhr er ruhiger fort:
+&raquo;Die Leute haben aber recht, ich kann kein einzelnes
+Haus bauen; ich verstehe &uuml;berhaupt nicht,
+wie jemand das kann. Man soll mir einmal den
+Bau einer ganzen Stadt &uuml;bertragen, dann werde
+ich schon zeigen, wozu ich tauge.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck senkte seine Augen und sah dann
+wieder zum Fenster hinaus.</p>
+
+<p>Pl&ouml;tzlich legte Edgar Allan seine Hand auf seinen
+Arm:</p>
+
+<p>&raquo;Wollen Sie mich mitnehmen?&laquo; fragte er.</p>
+
+<p>Paul Seebeck wandte sich herum und sah ihm
+gerade in die Augen:</p>
+
+<p>&raquo;Ja&laquo;, sagte er, &raquo;gerade solche Menschen wie
+Sie suche ich, brauche ich. Ich wollte Sie nur aus
+dem Grunde nicht auffordern, weil ich nicht will,
+da&szlig; jemand anders als ganz aus freien St&uuml;cken zu
+uns kommt. Halloh!&laquo; rief er, aufstehend, einen vorbeigehenden,
+<a class="page" name="Page_40" id="Page_40" title="40"></a>jungen, blonden, hochgewachsenen
+Herrn zu, der, das &raquo;Berliner Tageblatt&laquo; in der
+Hand, sich gerade nach einem freien Tische umsah.</p>
+
+<p>&raquo;Herrgott bist du pl&ouml;tzlich in Berlin?&laquo; fragte
+der Angesprochene im h&ouml;chsten Grade erstaunt.
+&raquo;Noch dazu im Frack? Ich dachte, du w&auml;rst
+Kaffernh&auml;uptling oder Seer&auml;uber oder so etwas
+&auml;hnliches geworden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Noch nicht&laquo;, erwiderte Paul Seebeck. &raquo;Aber
+meine amtliche Bestallung als Seer&auml;uber habe ich
+seit heute Vormittag in der Tasche. Gestatten die
+Herren, da&szlig; ich vorstelle: mein Schulkamerad stud.
+jur. Otto Meyer, Architekt Edgar Allan.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Referendar Meyer, wenn ich bitten darf&laquo;, sagte
+der junge Mann, wobei er Edgar Allan die Hand
+reichte, die dieser h&ouml;flich nahm.</p>
+
+<p>Als alle drei wieder sa&szlig;en, fragte Paul Seebeck
+seinen Schulkameraden:</p>
+
+<p>&raquo;Woher wei&szlig;t du eigentlich von der ganzen
+Geschichte?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du mu&szlig;t mir Diskretion versprechen&laquo;, sagte
+Otto Meyer feierlich.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig;.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Also die Sache steht lang und breit da drin&nbsp;&#8211;&laquo;,
+er wies auf die Zeitung, die er noch immer in der
+Linken hielt &#8211; &raquo;sogar in der halbamtlichen Fassung
+des Wolffschen Bureaus.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_41" id="Page_41" title="41"></a>&raquo;Zeig doch mal&laquo;, sagte Seebeck und griff nach
+dem Blatte.</p>
+
+<p>&raquo;Nein, ich werde es vorlesen, sonst verstehst du
+es nicht richtig.&laquo; Und er las:</p>
+
+<p>&raquo;Eine Erweiterung des deutschen Kolonialbesitzes?</p>
+
+<p>Durch den Schriftsteller und Forschungsreisenden
+Paul Seebeck wurde da und da eine unbewohnte,
+vulkanische Insel mit einem Fl&auml;chenraume von
+zw&ouml;lfhundert Quadratkilometern entdeckt und f&uuml;r
+das Deutsche Reich in Besitz genommen. Da auf
+und bei der fraglichen Insel auch nicht das allergeringste
+zu holen ist&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Willst du vielleicht die G&uuml;te haben, ungef&auml;hr
+das zu lesen, was dasteht?&laquo; unterbrach Seebeck
+den Lesenden. &raquo;Die Sache interessiert mich n&auml;mlich.&laquo;</p>
+
+<p>Otto Meyer las weiter:</p>
+
+<p>&raquo;Da die fragliche Insel augenscheinlich nur als
+Wohnsitz einiger, weniger Menschen in Betracht
+kommen kann und nicht f&uuml;r eine eigentliche Kolonie,
+lie&szlig; der Staatssekret&auml;r des Kolonialamtes dem
+Entdecker der Insel, Herrn Paul Seebeck, bis auf
+weiteres freie Hand in allen Fragen der Besiedelung
+der Insel, wobei er ihn auf Widerruf zum Reichskommissar
+mit allen Rechten und Pflichten eines
+solchen ernannte.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_42" id="Page_42" title="42"></a>Diese Ernennung, die selbstverst&auml;ndlich im Einverst&auml;ndnisse
+mit dem Reichskanzler erfolgte, ist
+als eine Konzession an die durch das Scheitern der
+preu&szlig;ischen Wahlreform verstimmten linksstehenden
+Parteien aufzufassen. Die Konservativen beruhigte
+der Reichskanzler durch das bindende Versprechen,
+da&szlig; die Insel in drei Jahren ebenso still
+und leise verschwinden w&uuml;rde, wie sie aufgetaucht
+ist&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck und Edgar Allan lachten. Otto
+Meyer reichte Paul Seebeck die Zeitung und dieser
+las die Notiz aufmerksam durch. Als er das Blatt
+fortlegte, fragte Otto Meyer:</p>
+
+<p>&raquo;Ist es wirklich dein Ernst, dort eine Republik
+zu gr&uuml;nden? Eine republikanisch regierte, deutsche
+Kolonie?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, machst du mit?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mit Vergn&uuml;gen, aber nur als Justizminister&laquo;,
+sagte Otto Meyer ruhig.</p>
+
+<p>&raquo;Als Justizminister? Hm. Daran hatte ich
+eigentlich nicht gedacht. Ich dachte eher als
+Staatslausejunge, als offizielles, destruktives Element.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du bist furchtbar liebensw&uuml;rdig&laquo;, antwortete
+Otto Meyer, ohne im geringsten beleidigt zu sein.
+&raquo;Aber sag mal, willst du nicht morgen bei uns zu
+Mittag essen? Meine Eltern w&uuml;rden sich doch sehr
+<a class="page" name="Page_43" id="Page_43" title="43"></a>freuen, dich mit australischem Ruhme bedeckt,
+dazu noch als zuk&uuml;nftigen Imperator Rex begr&uuml;&szlig;en
+zu k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sch&ouml;n. Wie fr&uuml;her um Drei?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt erhob sich Edgar Allan und nahm Abschied.
+Paul Seebeck begleitete ihn, so wie er war, in Frack
+und ohne Hut, auf die Stra&szlig;e hinaus. Als er zur&uuml;ckkam,
+fragte Otto Meyer:</p>
+
+<p>&raquo;Was hast du dir denn da f&uuml;r einen steifen Engl&auml;nder
+aufgegabelt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Na, er ist mehr Deutscher als Engl&auml;nder.
+Deutsche Mutter und in Deutschland erzogen. Er
+ist sonst auch gar nicht steif, hat nur jetzt recht
+unangenehme Sachen durchgemacht. Ich hoffe,
+da&szlig; er mit mir kommt &#8211; und uns unsere Stadt
+baut. Er ist gerade der Typus Mensch, den wir
+brauchen; das hei&szlig;t, er ist gerade kein Typus,
+sondern ein Mensch.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte dich, sei nicht so schrecklich geistreich&laquo;,
+sagte Otto Meyer. &raquo;Sonst bekomme ich
+Magenschmerzen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Entschuldige mich einen Augenblick&laquo;, sagte
+Paul Seebeck aufstehend und ging auf Jakob Silberland
+zu, der gerade zur T&uuml;r hereintrat. Paul Seebeck
+stellte ihm Otto Meyer vor, und als sie wieder
+Platz genommen hatten, sagte er:</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_44" id="Page_44" title="44"></a>&raquo;Edgar Allan kommt mit. Noch ein paar Leute,
+und wir k&ouml;nnen anfangen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Kommt er? Gut! Da haben wir ja einen ganzen
+Kerl gewonnen. Ja, du, was ich sagen wollte &#8211;
+mir sind noch einige Leute eingefallen &#8211; aber man
+kann ja nicht gut jemand auffordern. Und wie soll
+man es sonst diesen Leuten nahelegen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gar nicht, nat&uuml;rlich&laquo;, antwortete Paul Seebeck.
+&raquo;Wer nicht freiwillig, aus innerstem Instinkt
+zu uns kommt, mag fortbleiben. Die brauchen wir,
+die uns zuf&auml;llig finden, weil sie uns brauchen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, ja&laquo;, sagte Jakob Silberland etwas verlegen.
+&raquo;Aber wir m&uuml;ssen doch einen Anfang haben. Wir
+zwei, drei Menschen k&ouml;nnen uns dort nicht festsetzen
+und auf die anderen warten. Damit w&uuml;rden
+wir uns nur l&auml;cherlich machen und gar nichts erreichen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du irrst. Wir m&uuml;ssen gerade hingehen und uns
+der L&auml;cherlichkeit aussetzen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich f&uuml;rchte nur, da&szlig; wir zwei, mit Edgar Allan
+also drei, unser ganzes Leben lang allein auf der
+Insel hocken werden.&laquo;</p>
+
+<p>Otto Meyer, der offenbar f&uuml;rchtete, Zeuge eines
+Streites der beiden Freunde zu werden, verabschiedete
+sich, wobei er Seebeck daran erinnerte,
+da&szlig; er morgen zum Mittagessen zu kommen versprochen
+h&auml;tte.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_45" id="Page_45" title="45"></a>Der Streit brach aber nicht aus, im Gegenteil,
+Paul Seebeck sagte ganz ruhig, wobei er seinem
+Freunde gerade ins Gesicht blickte:</p>
+
+<p>&raquo;Ich verstehe dich vollkommen; du willst gleich
+mit einem gewissen Material anfangen. Ich glaube,
+du machst dir unn&ouml;tige Sorgen. Es werden mehr
+zu uns kommen, als wir brauchen k&ouml;nnen. Du
+wirst sehen, da&szlig; viele gleich mit uns kommen
+wollen. Aber jetzt mu&szlig;t du mich entschuldigen&laquo;,
+brach er ab, wobei er auf die Uhr sah. &raquo;Ich will
+ins Theater.&laquo;</p>
+
+<p>Als Paul Seebeck gegangen war, setzte sich Jakob
+Silberland richtig in der Ecke zurecht und lie&szlig; sich
+vom Kellner alle Abendbl&auml;tter bringen und las
+die &#8211; je nach der politischen Richtung der betreffenden
+Zeitung &#8211; wohlwollenden, abwartenden
+oder geh&auml;ssigen Glossen zur halbamtlichen Wolff-Nachricht.
+Nach einer Stunde war er aber m&uuml;de vom
+Lesen; er lehnte sich zur&uuml;ck und lie&szlig; sich sein
+letztes Gespr&auml;ch mit Paul Seebeck noch einmal
+durch den Kopf gehen. Je mehr er nachdachte,
+umsoweniger hielt er Paul Seebecks Ansicht f&uuml;r
+richtig; er glaubte vielmehr, da&szlig; man sich einen
+gewissen, soliden Kern sammeln m&uuml;&szlig;te, um den
+sich dann die Gemeinschaft kristallisieren k&ouml;nnte.
+Aber einfach abwarten &#8211; nein. Lieber organisieren,
+aufbauen.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_46" id="Page_46" title="46"></a>Und als ihm das als das richtige klar vor Augen
+stand, beschlo&szlig; er, einen Mann aufzusuchen, den
+er sich als wertvollen Mitarbeiter an der Sache
+denken konnte, n&auml;mlich den russischen Fl&uuml;chtling
+Nechlidow.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_47" id="Page_47" title="47"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Durch</span> schwere, dunkle Vorh&auml;nge ged&auml;mpft,
+fiel das Licht in den Salon, in dem die hohe
+Frauengestalt stand. Das schwarze Schleppkleid
+lie&szlig; Hals und Gesicht noch wei&szlig;er erscheinen, und
+die gro&szlig;en braunen Augen leuchteten.</p>
+
+<p>&raquo;Warum kommen Sie erst jetzt zu mir?&laquo; fragte
+Frau von Zeuthen Paul Seebeck, der noch Hut
+und Stock in der Hand haltend vor ihr stand.</p>
+
+<p>&raquo;Wie sch&ouml;n Sie sind!&laquo; erwiderte Seebeck und
+k&uuml;&szlig;te ihre Hand. &raquo;Unver&auml;nderlich sch&ouml;n wie ein
+edles Bild, das Zeiten und Geschehnis &uuml;berdauert.&laquo;</p>
+
+<p>Ihr L&auml;cheln war nicht der Art als ob sie seine
+Worte als Schmeichelei auffa&szlig;te. Sie sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Jetzt m&uuml;ssen Sie mir aber alles, alles erz&auml;hlen.
+Ich habe die Zeitungen gelesen und allerhand geh&ouml;rt.
+Das will ich jetzt aber vergessen und alles
+neu und rein von Ihnen h&ouml;ren.&laquo;</p>
+
+<p>Sie setzte sich auf den Divan und wies mit der
+Hand auf einen Armstuhl neben dem Rauchtischchen,
+aber Paul Seebeck blieb stehen:</p>
+
+<p>&raquo;In Ihrem Hause ist eine Ruhe wie sonst nirgendwo
+auf der Welt. Sie sind einige Jahrhunderte
+<a class="page" name="Page_48" id="Page_48" title="48"></a>zu sp&auml;t auf die Welt gekommen, Gabriele. Sie
+passen nicht in unser Zeitalter. Sie geh&ouml;rten nach
+Italien zur Zeit der Wiedergeburt, und in Ihren
+R&auml;umen h&auml;tten sich die edelsten M&auml;nner versammelt,
+um ernst und gewichtig die Fragen zu
+er&ouml;rtern&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie wollten mir doch etwas erz&auml;hlen&laquo;, unterbrach
+ihn Frau von Zeuthen, wobei sie sich zur&uuml;cklehnte.</p>
+
+<p>Paul Seebeck legte Hut und Stock fort und setzte
+sich in den Armstuhl.</p>
+
+<p>&raquo;Also, ich kam von Sidney zur&uuml;ck&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nicht so schnell. Verzeihen Sie, da&szlig; ich Sie
+unterbreche. Aber Sie d&uuml;rfen Australien nicht
+&uuml;berspringen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;&Uuml;ber Australien kann ich leider nicht viel berichten.
+Ich kam hin &#8211; Sie kennen ja meinen
+Expeditionsplan, er stand ja auch in allen Zeitungen
+&#8211; und wie ich dort war, sah ich, da&szlig; meine
+ganze Expedition eigentlich &uuml;berfl&uuml;ssig war. Von
+dem, was ich als Neuland erforschen wollte, ist der
+gr&ouml;&szlig;te Teil in seinen gro&szlig;en Z&uuml;gen schon bekannt,
+sogar schon aufgenommen, und es reizte mich nicht,
+mich nur mit den Bagatellen abzugeben, die nat&uuml;rlich
+auch von wissenschaftlichem Interesse sind&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Da Sie ja mehr Abenteurer als Wissenschaftler
+sind.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_49" id="Page_49" title="49"></a>&raquo;Vielleicht, vielleicht liegt der Wert meines
+Abenteuertums gerade darin, da&szlig; ich nur gro&szlig;e
+Dinge entdecken kann, nicht Kleinigkeiten untersuchen.
+Ich kann nur die gro&szlig;en Dinge sehen und
+r&auml;ume dann gern das Feld dem Gelehrten, der dann
+nach Herzenslust messen und forschen mag. Schon
+am ersten Tage in Sidney, wo ich in der Bibliothek
+der Geographischen Gesellschaft sa&szlig; und mir das
+ganze Material durchsah, sank mir der Mut. Ich
+sah wohl, da&szlig; da noch unendlich viel zu tun war,
+aber fast nichts f&uuml;r mich.</p>
+
+<p>Ich unternahm die Expedition trotzdem &#8211; ich
+war ja dazu verpflichtet &#8211; aber ohne Freude. Dadurch
+kam auch das Sprunghafte, Unsichere herein,
+das manche Zeitungen mit Recht ger&uuml;gt haben,
+und kehrte vorzeitig zur&uuml;ck.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich las in der Zeitung, da&szlig; die furchtbaren
+St&uuml;rme und &Uuml;berschwemmungen, die der gro&szlig;en
+Flutwelle folgten, Sie zur R&uuml;ckkehr gezwungen
+h&auml;tten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich nahm das mehr als Vorwand. H&auml;tte ich
+ernstlich gewollt, h&auml;tte ich schon dort bleiben
+k&ouml;nnen. Ich kehrte aber nach Sidney zur&uuml;ck.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und dann?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, dann sah ich vom Dampfer aus meine Insel,
+deren Entstehung nat&uuml;rlich die gro&szlig;e Flutwelle
+<a class="page" name="Page_50" id="Page_50" title="50"></a>verursacht hat. Und da beschlo&szlig; ich, auf ihr
+meinen Staat zu gr&uuml;nden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So schnell?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, wissen Sie, Gabriele&laquo;, fuhr Paul Seebeck
+lebhafter fort, &raquo;zwischen der Entdeckung der Insel
+und meiner Ankunft lagen ja viele Stunden. Und
+eine Stunde ist lang, wenn man allein auf einem
+Schiffe steht und ganz ungest&ouml;rt seinen Gedanken
+nachh&auml;ngen kann. Und unser Plan eines wirklich
+modernen Staates auf breitester, demokratischer
+Grundlage, aber mit dem Prinzipe der gr&ouml;&szlig;ten pers&ouml;nlichen
+Freiheit war ja schon lange fertig.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wer ist &raquo;wir&laquo;?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mein Freund Silberland, ein Journalist und
+radikaler Politiker aus M&uuml;nchen, ein kluger Mensch,
+der unendlich viel in seinem Leben gearbeitet hat
+und dem es immer schlecht gegangen ist, und ich.
+In meiner M&uuml;nchener Zeit sind wir oft n&auml;chtelang
+im Caf&eacute; Stephanie gesessen oder im Englischen
+Garten herumgegangen und haben dabei immer nur
+unseren Staat besprochen. Sie werden verstehen,
+da&szlig; zwei Menschen wie er und ich sich in einer
+solchen Frage aufs Gl&uuml;cklichste erg&auml;nzen k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen nickte und Paul Seebeck fuhr
+fort:</p>
+
+<p>&raquo;Wie ich also die Insel sah und wu&szlig;te, da&szlig; sie
+herrenloses Land darstellte, schrieb ich vom
+<a class="page" name="Page_51" id="Page_51" title="51"></a>Dampfer aus einige Zeilen an Silberland. Ich erinnerte
+ihn an unsere Tr&auml;ume und bat ihn, hinzukommen.
+Ich schrieb ihm, er solle mir eine Vollmacht
+als Reichskommissar verschaffen. Er kam
+auch, der gute Kerl, steckte seinen Beruf und seine
+Stellung auf und kam. Aber das Kolonialamt hatte
+ihm doch nur eine sehr vorsichtige, sehr provisorische
+Vollmacht f&uuml;r mich mitgegeben und verlangte,
+mich selbst zu sehen und zu h&ouml;ren. So
+mu&szlig;te ich also nach Berlin kommen.&laquo; Und Paul
+Seebeck schwieg, wobei er vor sich auf den Teppich
+sah.</p>
+
+<p>&raquo;War Ihnen denn das so unangenehm?&laquo; fragte
+Frau von Zeuthen.</p>
+
+<p>&raquo;Ja. Wenigstens zuerst. Ich hatte schon viele
+Wochen ganz allein auf meiner Felseninsel zugebracht
+und f&uuml;hlte mich dort so heimisch, da&szlig; es
+mir schwer wurde, sie wieder zu verlassen. Und
+besonders f&uuml;rchtete ich, sie mit etwas anderen
+Augen zu sehen, wenn ich nach dem Aufenthalt
+in Europa zu ihr zur&uuml;ckkehrte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie denn?&laquo; fragte Frau von Zeuthen mit
+ihrem klugen L&auml;cheln.</p>
+
+<p>Er sah sie an und sagte langsam:</p>
+
+<p>&raquo;Ich f&uuml;rchtete, meine Insel nicht mehr so rein
+zu empfinden, nicht mehr so ganz als Symbol der
+<a class="page" name="Page_52" id="Page_52" title="52"></a>Unber&uuml;hrtheit, kurz, nicht mehr so pers&ouml;nlich,
+mehr als eine von den vielen, ein Kuriosum, keine
+Offenbarung &#8211; Sie verstehen?&laquo;</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen nickte.</p>
+
+<p>&raquo;Und weshalb sind Sie jetzt doch froh, hierher
+gekommen zu sein?&laquo; fragte sie nach einer kleinen
+Pause.</p>
+
+<p>&raquo;Weil ich sehe, wie wertvoll es f&uuml;r mich ist,
+etwas Distanz bekommen zu haben &#8211; nicht nur
+aus praktischen Gr&uuml;nden.&laquo; Wieder schwieg er und
+sah vor sich hin.</p>
+
+<p>&raquo;Dann habe ich hier auch einige Menschen
+wiedergefunden, die ich f&uuml;r meine Arbeit brauche.
+Und&laquo; &#8211; hier sank er vom Stuhle und ergriff ihre
+Hand und k&uuml;&szlig;te sie &#8211; &raquo;eine Frau, die ich immer
+fragen mu&szlig;, ob ich auch auf dem rechten Wege
+bin.&laquo;</p>
+
+<p>Sie strich ihm mit ihrer sch&ouml;nen, wei&szlig;en Hand
+&uuml;ber sein Haar.</p>
+
+<p>&raquo;Wollen Sie mir auch diesmal Ihren Segen mitgeben?&laquo;
+fragte er, l&auml;chelnd zu ihr aufblickend.</p>
+
+<p>&raquo;Ja&laquo;, sagte sie. &raquo;Und wenn Sie mich brauchen,
+komme ich zu Ihnen.&laquo;</p>
+
+<p>Er k&uuml;&szlig;te noch einmal ihre Hand und erhob sich
+dann. Im Zimmer auf- und abgehend, fuhr er lebhaft
+fort:</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_53" id="Page_53" title="53"></a>&raquo;Und wie bezaubernd die Idee wirklichen Neulandes,
+einer freien menschlichen Gemeinschaft
+ohne alle Traditionen wirkt. Ich kenne von der
+Schule her einen jungen Studenten, jetzt ist er
+&uuml;brigens Referendar, der f&uuml;nf Jahre j&uuml;nger ist
+als ich. Einen richtigen Berliner Juden, obwohl er
+nicht so aussieht. Gl&auml;nzend begabt, da&szlig; jede Arbeit
+f&uuml;r ihn Spielerei ist, frech wie ein Dachshund, nie
+um eine Antwort verlegen, immer witzig und nichts
+auf der Welt ernst nehmend. Dabei ein seelenguter
+Kerl und immer hilfsbereiter Kamerad. Wir treffen
+uns hier zuf&auml;llig im Caf&eacute;, und er benutzt die Gelegenheit,
+um tausend dumme Witze &uuml;ber unsere
+Insel zu machen. Am Tage darauf esse ich bei seinen
+Eltern. Auch dort schont er mich durchaus nicht.
+Wie wir nach dem Essen bei einer Zigarre allein
+in seinem Zimmer sind, sagt er mir pl&ouml;tzlich in
+vollem Ernste, da&szlig; er mit uns kommen will, um
+dann sofort dar&uuml;ber dumme Witze zu machen. Aber
+ich bin &uuml;berzeugt, da&szlig; es ihm im Grunde seines
+Herzens tiefernst ist, und da&szlig; er gerade durch
+seinen absoluten Mangel an Sentimentalit&auml;t ein
+sehr gesundes Element darstellen wird.&laquo;</p>
+
+<p>Er blieb stehen und lauschte, denn auf dem
+Korridore wurde ein Trampeln und eifriges Tuscheln
+laut. Frau von Zeuthen erhob sich vom Divan.</p>
+
+<p>&raquo;Die Kinder&laquo;, sagte sie.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_54" id="Page_54" title="54"></a>Gleich darauf wurde auch die T&uuml;r aufgerissen und
+die dreizehnj&auml;hrige Hedwig st&uuml;rmte herein. Sobald
+sie Paul Seebeck erblickte, schlang sie beide
+Arme um seinen Hals und h&uuml;pfte vor Freude.
+Paul Seebeck konnte sich nur mit M&uuml;he soweit von
+ihr befreien, um dem etwas verlegen hinter ihr
+stehenden zw&ouml;lfj&auml;hrigen Felix wenigstens fl&uuml;chtig
+die Hand dr&uuml;cken zu k&ouml;nnen. Noch halb an Paul
+Seebeck h&auml;ngend, begann Hedwig, ihrer Mutter
+&uuml;bersprudelnd ein Schulerlebnis zu erz&auml;hlen, doch
+Frau von Zeuthen unterbrach sie:</p>
+
+<p>&raquo;Macht euch jetzt schnell zum Mittagsessen
+fertig, Kinder. Wir essen heute fr&uuml;her als sonst.
+Dann kannst du uns alles erz&auml;hlen, Hedwig.&laquo;</p>
+
+<p>Ein wenig schmollend zog Hedwig ab, Felix
+wandte sich in der T&uuml;r noch einmal z&ouml;gernd um,
+dann ging er schnell zu Paul Seebeck und fl&uuml;sterte
+ihm zu:</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe alles gelesen; ich wei&szlig; alles. Ich will
+zu dir auf deine Insel kommen.&laquo; Dann lief er
+tief err&ouml;tend aus der T&uuml;r.</p>
+
+<p>W&auml;hrend die Schritte der Kinder auf dem Korridore
+verklangen, wandte sich Frau von Zeuthen
+an Paul Seebeck:</p>
+
+<p>&raquo;Ich erwarte noch einen Gast&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Herrn von Rochow?&laquo; fragte Seebeck.</p>
+
+<p>&raquo;Rochow? Nein ... Wie kommen Sie auf ihn?&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_55" id="Page_55" title="55"></a>&raquo;Ach, ich bin in den letzten Tagen oft mit ihm
+zusammen gewesen; er ist ja einer von den Unsrigen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;So? Das freut mich wirklich.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er war einer von denen, an die ich von Anfang
+an dachte, und er kam auch gleich zu mir. &#8211; Ja,
+und gestern sagte er mir, da&szlig; wir uns wohl auch
+bald bei Ihnen treffen w&uuml;rden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Rochow ist immer bei mir willkommen; er
+kommt vielleicht auch sp&auml;ter zum Tee zu mir.
+Wissen Sie &uuml;brigens, da&szlig; er seinen Abschied nehmen
+mu&szlig;te?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, weshalb denn?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig; es nicht genau. Es handelte sich um
+eine Soldatenmi&szlig;handlung, wo Rochow in irgendwelcher
+inkorrekten Weise zu sehr f&uuml;r den Soldaten
+gegen den schuldigen Leutnant eingetreten ist.
+Aber jetzt zum Mittagessen erwarte ich einen
+jungen Freund, der Ihnen vielleicht gro&szlig;e Freude
+machen wird.&laquo;</p>
+
+<p>Es klingelte, und bald darauf stand ein bleicher,
+junger Mann mit tiefliegenden, rotumr&auml;nderten
+Augen in der T&uuml;r. Man sah seiner Kleidung an, da&szlig;
+sie mit gro&szlig;er M&uuml;he ordentlich instand gehalten
+war. Frau von Zeuthen ging auf ihn zu, f&uuml;hrte
+ihn an der Hand zu Seebeck und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Da haben Sie meinen Melchior. Seht zu, ob
+ihr nicht Freunde werden k&ouml;nnt.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_56" id="Page_56" title="56"></a>Und w&auml;hrend die beiden M&auml;nner einander forschend
+und suchend in die Augen sahen, &ouml;ffnete
+sie die T&uuml;r zum ansto&szlig;enden E&szlig;zimmer, wo Hedwig
+und Felix bereits ungeduldig warteten.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_57" id="Page_57" title="57"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Auf</span> dem gro&szlig;en Tische in Paul Seebecks Hotelzimmer,
+der mit Zeitungen, Brosch&uuml;ren und
+Papieren bedeckt war, standen zwei schwere, f&uuml;nfarmige
+Leuchter und erhellten die Gesichter der
+kleinen Versammlung. Erst jetzt waren sie zum
+ersten Male offiziell versammelt; so hatte es Paul
+Seebeck gewollt. Mehrere Wochen hatte er ihnen
+Zeit gelassen, um alles in Ruhe zu &uuml;berlegen und
+sich einander kennen zu lernen.</p>
+
+<p>Alle sieben waren da: am Tischende sa&szlig;en Paul
+Seebeck, Jakob Silberland und Hauptmann a.&nbsp;D.
+von Rochow, dann kamen Edgar Allan und Referendar
+Otto Meyer, zuletzt Nechlidow. Der junge
+Melchior sa&szlig; gesenkten Hauptes etwas im Hintergrunde
+und zuweilen hob sich sein bleiches, abgearbeitetes
+Gesicht aus dem Dunkel.</p>
+
+<p>Paul Seebeck stand auf, und aller Augen wandten
+sich ihm zu. Er sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe ungef&auml;hr dreihundert Anfragen und
+Anmeldungen erhalten, habe aber Alle gebeten, sich
+etwas zu gedulden. Wir sind jetzt sieben, und das
+<a class="page" name="Page_58" id="Page_58" title="58"></a>ist vorl&auml;ufig genug, um die Sache in Gang zu
+bringen. Sobald wir die Umri&szlig;linien gezogen haben,
+m&ouml;gen die Anderen kommen, um sie auszuf&uuml;llen
+oder zu ver&auml;ndern. Nun liegt die Gefahr vor&laquo;,
+fuhr er fort, wobei er den Kopf senkte und sich
+auf die eingezogene Oberlippe bi&szlig;, &raquo;da&szlig; wir sieben
+auch in Zukunft eine bevorzugte Stellung einnehmen.
+Das darf nat&uuml;rlich nicht sein. Das w&auml;re eine
+Oligarchie statt einer Demokratie.&laquo;</p>
+
+<p>Nechlidow hob den Kopf und rief:</p>
+
+<p>&raquo;Was bis zum heutigen Tage noch jede Demokratie
+gewesen ist, besonders in der wahnsinnigen
+Karrikatur des Parlamentarismus.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck sah ihm gerade ins Gesicht:</p>
+
+<p>&raquo;Tragen Sie das Ihrige dazu bei, Herr Nechlidow,
+da&szlig; unser Staat nicht an dieser Klippe strandet.&laquo;</p>
+
+<p>Es ging ein Leuchten durch Nechlidows vergr&auml;mtes
+Gesicht; er sagte nichts, nickte nur.</p>
+
+<p>&raquo;Nun l&auml;&szlig;t sich aber nicht leugnen, da&szlig; wir sieben
+Gr&uuml;nder, eben als solche, vorl&auml;ufig eine Sonderstellung
+einnehmen. Wir m&uuml;ssen nur daf&uuml;r sorgen,
+da&szlig; diese Sonderstellung nicht l&auml;nger dauert, als
+unbedingt notwendig ist. Ich schlage deshalb
+folgendes vor: jeder Ansiedler, selbstverst&auml;ndlich
+Mann wie Frau, ist nach einj&auml;hrigem Aufenthalt
+auf der Insel vollberechtigter B&uuml;rger. Wir sieben
+Gr&uuml;nder bleiben das erste Jahr allein auf der Insel
+<a class="page" name="Page_59" id="Page_59" title="59"></a>und genie&szlig;en das einzige Vorrecht, in diesem Jahre
+&uuml;ber uns selbst und den Staat, den wir ja allein
+repr&auml;sentieren, zu verf&uuml;gen. Dieses Vorrecht ist
+nat&uuml;rlich nur ein anderer Ausdruck f&uuml;r alle unsere
+Pflichten und unsere Arbeit. Vom opportunistischen
+Standpunkte aus gesehen also ein Vorrecht,
+von recht zweifelhaftem Werte, vom moralischen
+Standpunkte ein Recht in der tief innersten Bedeutung
+des Wortes.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt konnte Otto Meyer sich nicht mehr beherrschen,
+er mu&szlig;te Jakob Silberland zufl&uuml;stern:</p>
+
+<p>&raquo;Da&szlig; der Kerl seine geistreichen Bemerkungen
+nie sein lassen kann.&laquo;</p>
+
+<p>Halb verlegen und belustigt, suchte Silberland
+nach einer Antwort; pl&ouml;tzlich aber erhob sich zum
+allgemeinen Erstaunen Melchior und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Darf ich eine Frage stellen? Da ist etwas, was
+ich nicht verstehe.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bitte&laquo;, sagte Seebeck.</p>
+
+<p>Melchior zog die Brauen zusammen und versuchte
+augenscheinlich seine Frage scharf zu formulieren;
+er sagte dann:</p>
+
+<p>&raquo;Nach alledem, was ich verstanden zu haben
+glaube, soll dieser Staat im Gro&szlig;en wie im Kleinen
+keine willk&uuml;rliche Konstruktion darstellen, ebensowenig
+eine Gemeinschaft, die nur auf einen bestimmten
+<a class="page" name="Page_60" id="Page_60" title="60"></a>Typus Mensch zugeschnitten ist. Wenn
+Sie mir den trivialen Ausdruck erlauben wollen,
+soll es nicht nur der ideale, sondern auch der
+normale Staat sein.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck nickte. Melchior sah ihn an:</p>
+
+<p>&raquo;Ein Staat, oder wohl besser: eine Gemeinschaft,
+deren Bau aus der Natur des Menschen an sich, des
+zweibeinigen S&auml;ugetieres: Mensch, abgeleitet ist,
+nicht wahr?&laquo;</p>
+
+<p>Wieder nickte Paul Seebeck, obgleich nicht so
+ganz zustimmend. Melchior war aber so in seinen
+Gedanken vertieft, da&szlig; er nichts um sich her sah.
+Er fuhr fort:</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen mich recht verstehen, ich will nicht
+kritisieren, nur fragen. Wie l&auml;&szlig;t sich die Idee
+eines solchen Staates damit vereinigen, da&szlig; erst
+gro&szlig;e Vorarbeiten n&ouml;tig sind? Da&szlig; die Ansiedler
+sich erst ein ganzes Jahr lang akklimatisieren sollen?
+W&uuml;rde es nicht gen&uuml;gen, die Menschen einfach in
+die Freiheit zu setzen, so da&szlig; sie selbst kraft ihrer
+Menschennatur sich die neue Gemeinschaft schaffen
+k&ouml;nnen? Wenn ihre Gedanken richtig sind, m&uuml;&szlig;te
+der so sich selbst aufbauende Staat genau ebenso
+werden, wie der Ihrige, der doch &#8211; zun&auml;chst
+wenigstens &#8211; ein theoretisches, aus den jetzigen
+Staatsformen abstrahiertes Geb&auml;ude darstellt; nur
+mit dem Unterschiede, da&szlig; der sich selbst aufbauende
+<a class="page" name="Page_61" id="Page_61" title="61"></a>Staat nat&uuml;rlicher w&auml;re, ohne die Fehlerquellen,
+die bei dem Ihrigen, der theoretischen
+Grundlage wegen, m&ouml;glich sind.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bravo!&laquo; rief Nechlidow. &raquo;Der Mann kann
+denken.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen mich richtig verstehen,&laquo; fuhr Melchior
+fast &auml;ngstlich fort, &raquo;ich vertrete gar keinen
+Standpunkt, ich sehe nur ein Problem und bitte
+Sie, es mir zu l&ouml;sen. Sie haben nat&uuml;rlich alles das
+genau bedacht, Herr Seebeck?&laquo; Er richtete sich
+ganz auf und sah Seebeck gespannt an. Aber pl&ouml;tzlich
+verzog sich sein Gesicht, es wurde kreidebleich,
+er schwankte etwas, griff r&uuml;ckw&auml;rts nach der Stuhllehne,
+so da&szlig; der Stuhl sich auf einem Beine drehte,
+und Melchior sank, die Stuhllehne noch immer in
+der Hand, bewu&szlig;tlos neben den Stuhl hin, der
+auf ihn fiel.</p>
+
+<p>Alle sprangen entsetzt auf. Paul Seebeck war
+mit einigen Schritten bei ihm, hob ihn leicht wie
+ein Kind auf, klingelte nach dem Kellner, lie&szlig; sich
+ein freies Zimmer zeigen und bettete den Ohnm&auml;chtigen
+dort. Er l&ouml;ste ihm die Kleider auf
+Brust und Leib und fl&ouml;&szlig;te ihm dann Milch ein.
+Melchior schlug schon nach einigen Minuten die
+Augen wieder auf und sah unsicher um sich. Paul
+Seebeck fragte ihn besorgt:</p>
+
+<p>&raquo;F&uuml;hlen Sie sich jetzt wieder wohl?&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_62" id="Page_62" title="62"></a>&raquo;Ja, ja&laquo;, sagte Melchior zerstreut. &raquo;Das hat
+nichts zu sagen.&laquo; Sein Blick fiel auf die gef&uuml;llte
+Milchkanne. Mit zitternden H&auml;nden schenkte er
+sich ein Glas ein und st&uuml;rzte es hinunter. Er sah
+dankbar zu Seebeck auf:</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke Ihnen, Sie sind so gut zu mir.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;W&uuml;nschen Sie irgend etwas?&laquo; fragte Seebeck,
+die Hand schon bei der elektrischen Klingel.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, wenn ich etwas essen d&uuml;rfte&nbsp;&#8211;&laquo; antwortete
+Melchior z&ouml;gernd. &raquo;Ich werde zuweilen schwach,
+wenn ich hungrig bin.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Haben Sie denn heute Abend noch nichts gegessen?&laquo;
+fragte Seebeck besorgt.</p>
+
+<p>&raquo;Heute Abend?&laquo; Melchior l&auml;chelte schwach.
+&raquo;Gestern und heute habe ich nichts gegessen.
+Wenn ich jetzt nur ein St&uuml;ckchen Brot haben kann,
+ist mir gleich wieder gut.&laquo;</p>
+
+<p>Der Kellner trat ein, und Seebeck bestellte, trotz
+Melchiors verlegen-abwehrender Handbewegungen
+ein ordentliches Abendessen, doch verlangte er
+nur Speisen, die in wenigen Minuten fertig sein
+konnten. W&auml;hrend dieses kurzen Gespr&auml;ches
+schlummerte Melchior ein. Paul Seebeck &uuml;berzeugte
+sich, da&szlig; sein Atem ruhig ging und verlie&szlig; dann
+zusammen mit dem Kellner das Zimmer.</p>
+
+<p>Als er zu seinen G&auml;sten zur&uuml;ckkehrte, wurde er
+von allen Seiten nach Melchiors Befinden gefragt.
+<a class="page" name="Page_63" id="Page_63" title="63"></a>Er gab aber nur kurze, sachliche Antworten und
+schlug dann l&auml;chelnd vor, wieder zur Arbeit &uuml;berzugehen.
+Diesmal ergriff er aber nicht das Wort,
+sondern bat Jakob Silberland, zu erkl&auml;ren, wie sie
+ihren Staat zu finanzieren ged&auml;chten.</p>
+
+<p>Jakob Silberland stand eifrig auf, und begann:</p>
+
+<p>&raquo;Die finanzielle Grundlage unseres Staates ist
+als durchaus gesund zu bezeichnen. Wir haben
+Aktiven in den Natursch&auml;tzen, die fast ohne Betriebskapital
+zu heben sind. Nach dem Urteil von
+Sachverst&auml;ndigen repr&auml;sentiert eine ausgewachsene
+Riesenschildkr&ouml;te allein an Schildkrott einen Wert
+von f&uuml;nfundzwanzigtausend Mark, dazu kommt
+noch ihr Fleisch im Werte von ungef&auml;hr dreihundert
+Mark. Ein genaues Studium mu&szlig; ergeben, wieviele
+Tiere man im Jahre erlegen darf, ohne Raubbau
+zu treiben; jedenfalls f&uuml;r mehrere Hunderttausende,
+vielleicht Millionen. Diese Einnahmequelle mu&szlig;
+dem Staate selbst verbleiben.</p>
+
+<p>Da&szlig; der Grund und Boden f&uuml;r immer gemeinsames
+Eigentum bleiben mu&szlig;, ist ja selbstverst&auml;ndlich,
+ebenso die auf ihm stehenden H&auml;user, denn
+ein Privatbesitz an Boden l&auml;&szlig;t sich nur solange
+rechtfertigen, wie es herrenloses Land in gen&uuml;gender
+Menge gibt, so da&szlig; jeder andere sich gleichfalls &#8211;
+wenn er will &#8211; einen gen&uuml;genden Platz sichern
+kann. Da es jetzt &#8211; speziell bei uns &#8211; herrenloses
+<a class="page" name="Page_64" id="Page_64" title="64"></a>Land so gut wie nicht mehr gibt, oder bald nicht
+mehr geben wird, ist Privatbesitz am Grund und
+Boden ein Unding.</p>
+
+<p>Wir brauchen nur etwas fl&uuml;ssige Mittel, um die
+notwendigen Bauten und Anlagen ausf&uuml;hren zu
+k&ouml;nnen. Wir schlagen vor, das Geld durch eine
+innere Anleihe aufzubringen, die rasch zu amortisieren
+w&auml;re. Diese Anleihe m&uuml;&szlig;te nat&uuml;rlich eine
+innere sein, um ausl&auml;ndischem Kapital keinen
+Einflu&szlig; zu geben ...&laquo;</p>
+
+<p>Die T&uuml;r knarrte leise; aller Augen wandten sich
+ihr zu, und Jakob Silberland brach ab. Mit schleppenden
+Schritten kam Melchior herein und blieb
+verlegen stehen. Da sich aber alle Anwesenden
+M&uuml;he gaben, ihn so unbefangen wie m&ouml;glich zu
+behandeln, atmete er schnell auf und nahm seinen
+fr&uuml;heren Platz wieder ein. Jakob Silberland
+r&auml;usperte sich und wollte in seinem Vortrage fortfahren,
+konnte aber die Aufmerksamkeit nicht mehr
+sammeln. Paul Seebeck schlug deshalb vor, eine
+Viertelstunde lang zu pausieren. Da niemand
+widersprach, lie&szlig; er Tee und kleine Butterbr&ouml;tchen,
+sowie auch einige Flaschen Wein kommen, was
+die Herren, auf- und abgehend, zu sich nahmen.</p>
+
+<p>Paul Seebeck trat zu Melchior heran:</p>
+
+<p>&raquo;Haben Sie jetzt ordentlich gegessen?&laquo; fragte
+er.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_65" id="Page_65" title="65"></a>&raquo;Ja, ja&laquo;, antwortete Melchior, zerstreut auf den
+Boden blickend. Dann schlug er die Augen
+auf:</p>
+
+<p>&raquo;Herr Seebeck&laquo;, sagte er, &raquo;Sie sind mir noch eine
+Antwort schuldig.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck griff sich unwillk&uuml;rlich an die Stirn;
+er verfolgte r&uuml;ckl&auml;ufig die Vorg&auml;nge des Abends
+und kam damit auch auf Melchiors Frage.</p>
+
+<p>&raquo;&Uuml;berlegen Sie sich, wie viel die Menschen vergessen
+m&uuml;ssen, ehe sie reif f&uuml;r eine neue Gemeinschaft
+werden; vergessen, was sie selbst, und das,
+was ihre Vorfahren gelernt haben: die Masseninstinkte.
+Um die zu bek&auml;mpfen und zu vergessen,
+gen&uuml;gt weder die M&ouml;glichkeit, noch der Wille zur
+Freiheit &#8211; zwei Voraussetzungen, die bei uns gl&uuml;cklicherweise
+gegeben sind &#8211; eine gro&szlig;e Arbeit jedes
+einzelnen an sich und an der Gemeinschaft ist notwendig.
+Untersch&auml;tzen Sie unser Vorhaben nicht;
+es gilt nichts weniger, als einen neuen Typus
+Mensch heranzuziehen, einen Typus, der eine
+Gemeinschaft von Individualit&auml;ten bilden kann,
+ohne da&szlig; diese zu einer homogenen Masse
+wird.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie gebrauchen dauernd das Wort: Typus im
+Sinne von Individuum. Ich finde das fast verd&auml;chtig.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_66" id="Page_66" title="66"></a>&raquo;Ach Gott, was ist denn dabei verd&auml;chtig?&laquo;
+sagte Paul Seebeck gleichm&uuml;tig. &raquo;Typus &#8211; Art &#8211;
+was Sie wollen. Sie wissen ja, was ich meine, da
+spielt der Ausdruck doch keine Rolle.&laquo;</p>
+
+<p>Melchior sch&uuml;ttelte den Kopf und zog die Augenbrauen
+zusammen:</p>
+
+<p>&raquo;Was Sie meinen, scheint an und f&uuml;r sich so
+klar zu sein, da&szlig; ein etwas schiefer Ausdruck keine
+Unklarheit hereinbringen kann. Ich kann aber
+doch nicht anders, als gerade hinter diesem schiefen
+Ausdruck ein Problem zu sehen, n&auml;mlich dieses:
+da&szlig; Sie gar nicht den freien Menschen an sich
+brauchen k&ouml;nnen und entsprechend heranziehen
+wollen, sondern nur einen ganz bestimmten Typus
+des freien Menschen.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck hatte anfangs l&auml;chelnd zugeh&ouml;rt,
+dann wurde er aber ganz ernst. Stehenbleibend,
+sagte er fast feierlich:</p>
+
+<p>&raquo;Es gibt keinen Staat und keine Gemeinschaft
+der Welt, wo der Verbrecher, der Kindersch&auml;nder
+Raum f&auml;nde. Wohl aber l&auml;&szlig;t sich eine Gemeinschaft
+denken, die dem Verbrechen keinen N&auml;hrboden
+gibt. Was stellen Sie sich denn &uuml;berhaupt unter
+dem &raquo;freien&laquo; Menschen vor? &#8211; Doch nicht den, der
+ungehindert absonderlichen Gel&uuml;sten folgen kann?
+Gerade der in irgend einer Weise perverse Mensch
+ist im h&ouml;chsten Grade unfrei. Frei sein hei&szlig;t: von
+<a class="page" name="Page_67" id="Page_67" title="67"></a>seiner eigenen Vergangenheit frei sein, von Traditionen
+und Vorurteilen frei sein, hei&szlig;t R&uuml;ckkehr
+zu einer Norm, die es kaum noch gibt.</p>
+
+<p>In diesem Sinne haben Sie Recht: ich erkenne
+wirklich nur einen Typus des freien Menschen an;
+aber der ist sehr umfassend, n&auml;mlich alle einschlie&szlig;end,
+die in irgend einer Weise f&uuml;r die Gemeinschaft
+im h&ouml;heren Sinne brauchbar, oder was dasselbe
+ist, notwendig sind.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, ja&laquo;, sagte Melchior nachdenklich. &raquo;Ich
+glaube schon, da&szlig; ich Ihnen zustimmen werde,
+wenn ich in Ruhe alles richtig bedacht habe.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck sah ihm gerade ins Gesicht:</p>
+
+<p>&raquo;Beantworten Sie mir bitte eine Frage: weshalb
+kommen Sie &uuml;berhaupt zu uns? Ich sehe, da&szlig; Sie
+ernst arbeiten und da&szlig; Sie aufrichtig sind, uns
+also willkommen sein m&uuml;ssen &#8211; aber was wollen
+Sie von uns?&laquo;</p>
+
+<p>Melchior sah mit zusammengezogenen Brauen vor
+sich hin:</p>
+
+<p>&raquo;Ich mu&szlig; aus zwei Gr&uuml;nden zu Ihnen. Erstens
+glaube ich bei Ihnen alle sozialen und sozial-psychologischen
+Ph&auml;nomene im status nascendi, also in
+reinster und dabei konzentriertester Form zu finden.
+Also aus wissenschaftlichem Interesse. Dann glaube
+ich dort einmal ein Arbeitsfeld zu haben, wo die
+praktische Arbeit nicht vergeudete Zeit bedeutet.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_68" id="Page_68" title="68"></a>&raquo;Sie werden kein angenehmer Mitarbeiter sein,
+aber ein wertvoller.&laquo; Und er dr&uuml;ckte Melchiors
+hei&szlig;e Hand.</p>
+
+<p>Hinter ihnen erklang ein leises Klirren. Sie
+wandten sich um und sahen, da&szlig; Jakob Silberland
+an sein Glas schlug, augenscheinlich in der Absicht,
+eine Rede zu halten. Er trippelte nerv&ouml;s auf seinen
+kurzen Beinchen hin und her und fuhr sich
+mehrmals mit der Hand durch sein langes, schwarzes
+Haar. Die anderen Herren sa&szlig;en um den Tisch
+herum mit aufmerksamen und vielleicht etwas verlegenen
+Gesichtern. Paul Seebeck und Melchior
+blieben im Hintergrunde stehen.</p>
+
+<p>Melchior sah mit einem Blicke, der fast ein
+Werben um Liebe enthielt, zu Paul Seebeck auf
+und fl&uuml;sterte ihm zu, wobei er err&ouml;tete:</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen mir helfen, dann werde ich finden,
+was ich suche &#8211; dort auf Ihrer Insel werde ich
+das Geheimnis der Menschheit finden.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck nickte ihm freundlich zu. Er
+konnte ihm nicht mehr antworten, denn Jakob
+Silberland begann:</p>
+
+<p>&raquo;Darf ich einige Worte sagen? Ich will nicht
+schwulstig sein, obwohl ich mich beherrschen mu&szlig;,
+es nicht zu werden. Aber ohne jede &Uuml;bertreibung
+kann man wohl sagen, da&szlig; von diesem Tage an
+eine neue Periode der Menschheitsgeschichte ansetzt.
+<a class="page" name="Page_69" id="Page_69" title="69"></a>Unser Anfang ist bescheiden, aber unsere
+Bestrebungen werden Fr&uuml;chte tragen, deren Gr&ouml;&szlig;e
+wir heute noch gar nicht &uuml;bersehen k&ouml;nnen. Statt
+grotesker Verzerrungen den wirklichen Staat, die
+wirkliche Gemeinschaft von Menschen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gegr&uuml;ndet auf die menschliche Vernunft&laquo;,
+unterbrach Nechlidow, von seinem Stuhle aufspringend,
+den Redner. &raquo;Weg mit den Sentimentalit&auml;ten,
+die nur Ausbeutung, Schw&auml;che und Dummheit
+verschleiern sollen. La&szlig;t uns die neue Menschheit
+auf die Vernunft aufbauen. Vernunft allein
+kann den Menschen weiterbringen. Gef&uuml;hle erniedrigen
+ihn zum Tiere. Aber streng und ehrlich
+m&uuml;ssen wir sein.&laquo;</p>
+
+<p>Otto Meyer hatte mit einem sp&ouml;ttischen L&auml;cheln
+den beiden zugeh&ouml;rt; jetzt aber wurde sein Gesicht
+ganz ernst. Er machte eine Bewegung, als ob er
+aufstehen wollte, besann sich dann aber wieder.
+Herr von Rochow hatte wohl zu viel Wein getrunken,
+denn sein L&auml;cheln wurde bl&ouml;der und bl&ouml;der,
+und seine treuherzigen, blauen Augen verschwammen
+immer mehr. Edgar Allan h&ouml;rte nur halb zu;
+mit einem Bleistiftstumpfe entwarf er auf dem
+wei&szlig;en Tischtuche H&uuml;tten und H&auml;user in einem
+Stile, der in merkw&uuml;rdiger Weise eine stark betonte
+Horizontale mit flachen Bogenlinien verkn&uuml;pfte.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_70" id="Page_70" title="70"></a>Jetzt trat Paul Seebeck mit einigen raschen
+Schritten an den Tisch und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Meine Freunde! Heute Abend ist es zu sp&auml;t,
+um noch alle die Einzelheiten zu er&ouml;rtern, die ich
+gern besprochen h&auml;tte. Aber dazu haben wir ja
+die vielen Wochen auf dem Schiffe.</p>
+
+<p>Nur eins: das ist jetzt der Abschied vom behaglichen
+Leben, von Gro&szlig;stadttrubel und den
+Vergn&uuml;gungen. Jetzt beginnt f&uuml;r uns die Arbeit.
+Es liegt nur an uns, diese Arbeit so anzufassen, da&szlig;
+sie f&uuml;r Andere und uns selbst gr&ouml;&szlig;eres gestaltet,
+als sonst je m&ouml;glich w&auml;re. Eine schwere Zukunft
+liegt vor uns, aber eine gro&szlig;e.&laquo;</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_71" id="Page_71" title="71"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Die</span> Sachverst&auml;ndigen waren nach Sidney zur&uuml;ckgekehrt.
+Alles war gepr&uuml;ft worden: der
+mutma&szlig;liche Ertrag der anzulegenden Schildkr&ouml;tenkultur,
+der Fischreichtum des Meeres, die Brauchbarkeit
+der Steine zum Hausbau, das Wasser, die
+auf der Insel vorkommenden Minerale &#8211; und jetzt
+sa&szlig; Jakob Silberland den ganzen Tag in seinem
+Zelte an einem Holztische und rechnete, wobei er
+unausgesetzt die kurzen Beinchen bewegte und sich
+nicht selten mit den H&auml;nden durch das schwarze,
+str&auml;hnige Haar fuhr. Die andern sechs aber arbeiteten
+drau&szlig;en in der gl&uuml;henden Sonne, um erst
+am Abend zu den Zelten zur&uuml;ckzukehren. In
+den Stunden, wo sie dann am Strande lagen und auf
+das Meer hinaussahen, war manch ein gewichtiges
+Wort gefallen.</p>
+
+<p>Jakob Silberland hatte viel zu tun: die gesamte
+Korrespondenz lag in seinen H&auml;nden, ebenso die
+Buchf&uuml;hrung und die Verwaltung der Gelder. Er
+hatte die w&ouml;chentliche Verbindung mit Sidney
+durch einen kleineren Dampfer der &raquo;Australisch-Neu-Seel&auml;ndischen
+Transport-Gesellschaft&laquo; zustande
+<a class="page" name="Page_72" id="Page_72" title="72"></a>gebracht, und jetzt galt es f&uuml;r ihn, auf eine
+geraume Zeit hinaus den Bedarf an Ger&auml;ten, Baumaterial
+und anderen Dingen vorauszusehen und
+geschickt auf die einzelnen Wochen zu verteilen,
+damit der Verkehr sich f&uuml;r die Gesellschaft lohnte.</p>
+
+<p>Von diesen schwierigen Berechnungen bereitete
+die schwerste und verantwortungsvollste Arbeit
+&#8211; die Verwaltung der Gelder &#8211; Jakob Silberland
+den geringsten Kummer. Es war beschlossen
+worden, eine in f&uuml;nfzehn Jahren zu amortisierende,
+dreiprozentige innere Anleihe in der
+H&ouml;he von einer Million Mark aufzunehmen. In
+f&uuml;nf Jahren hofften sie, mit dem gr&ouml;&szlig;ten Teile
+der Bauten und Anlagen fertig zu sein und
+wollten dann die Anleihe j&auml;hrlich mit hunderttausend
+Mark amortisieren. Besondere Bestimmungen
+verhinderten den Handel mit diesen
+Papieren, um keinem Au&szlig;enstehenden auch nur
+den geringsten Einflu&szlig; zu erlauben. Herr von
+Rochow und Paul Seebeck hatten ihr ganzes Verm&ouml;gen
+&#8211; eine halbe Million und zweihundertf&uuml;nfzigtausend
+Mark &#8211; in diesen Papieren angelegt,
+Otto Meyer konnte f&uuml;nfzigtausend beisteuern, und
+Edgar Allan zwanzigtausend. &#8211; Jakob Silberland,
+Nechlidow und Melchior besa&szlig;en nichts, konnten
+also auch nicht die fehlenden hundertachtzigtausend
+aufbringen, etwas, was Jakob Silberland
+<a class="page" name="Page_73" id="Page_73" title="73"></a>in seiner Eigenschaft als Gesch&auml;ftsf&uuml;hrer sehr bedauerte.
+Bis jetzt war n&auml;mlich das Kapital nur
+in ganz geringem Umfange angegriffen, und der
+weitaus gr&ouml;&szlig;te Teil des Geldes lag mit sechsmonatlicher
+K&uuml;ndigung in der Filiale der &raquo;Deutschen
+Bank&laquo; zu Sidney, wo es viereinhalbes Prozent
+trug; die Anleihe konnte also auch, solange sie
+nicht verbraucht war, als eine werbende betrachtet
+werden, die anderthalb Prozent &Uuml;berschu&szlig; im
+Jahre erbrachte.</p>
+
+<p>Aber Jakob Silberland war praktisch und fand
+einen Weg, um die Unterbringung der restlichen
+hundertachtzigtausend Mark der Anleihe zu erzwingen.
+Es war n&auml;mlich festgesetzt worden, da&szlig;
+alle Staatsarbeiter &#8211; und das waren ja vorl&auml;ufig
+alle sieben Gr&uuml;nder &#8211; ein j&auml;hrliches Gehalt von
+f&uuml;nftausend Mark beziehen sollten. Die sp&auml;tere,
+erweiterte Gemeinschaft mochte diese Bestimmung
+best&auml;tigen, ab&auml;ndern oder umsto&szlig;en; sie galt vorl&auml;ufig
+nur f&uuml;r das erste Jahr.</p>
+
+<p>Da jetzt von getrenntem Haushalt noch keine
+Rede sein konnte, wurden die Notd&uuml;rfte des Lebens
+gemeinsam bezogen und entsprechend vom Gehalte
+abgezogen. Der Rest sollte bar ausgezahlt werden.
+Jakob Silberland setzte aber durch, da&szlig; nur die
+H&auml;lfte dieses Geldes bar ausgezahlt wurde, die
+andere H&auml;lfte aber in jenen Anleihepapieren,
+<a class="page" name="Page_74" id="Page_74" title="74"></a>von denen zu diesem Zwecke die in Frage stehenden
+hundertundachtzigtausend Mark in Scheinen von
+je hundert Mark ausgegeben wurden. Sogar gegen
+den Zinsverlust in der Zeit vor Unterbringung der
+ganzen Summe verstand Jakob Silberland die
+Staatskasse zu sch&uuml;tzen, indem er diese Papiere
+nicht zum Nominalwert, sondern mit einem j&auml;hrlichen
+Aufschlage von anderthalb Prozent ausgab.</p>
+
+<p>Inzwischen arbeiteten die anderen in der hei&szlig;en
+Sonne. Ihre erste Sorge galt der Zuf&uuml;hrung von
+Trinkwasser, dessen t&auml;gliche Herstellung im Destillationsapparate
+zu langwierig war. Man verzichtete
+vorl&auml;ufig auf die Herstellung einer wirklichen,
+unterirdischen Wasserleitung, begn&uuml;gte sich vielmehr
+damit, den kleinen Bach durch Spalten und
+Rinnen in die Bucht zu leiten, wobei zwar ziemlich
+viele Sprengungen, aber nur wenig Mauerungsarbeiten
+notwendig waren. In den folgenden
+Wochen arbeitete Edgar Allan an dem Stadtplane,
+w&auml;hrend die anderen f&uuml;nf kleinere, aber notwendige
+Arbeiten ausf&uuml;hrten. Es war beschlossen worden,
+sofort nach der Fertigstellung von Allans Pl&auml;nen
+an den H&auml;userbau zu gehen, und zwar sollten die
+H&auml;user in der Reihenfolge gebaut werden, in der
+die Gr&uuml;nder sich endgiltig zur &Uuml;bersiedelung auf
+die Insel bereit erkl&auml;rt hatten.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_75" id="Page_75" title="75"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Die</span> Sonne war untergegangen, und schon wenige
+Minuten sp&auml;ter umh&uuml;llte tiefe Nacht die Insel.
+Nur wenn eine Welle sich am Strande brach, leuchtete
+f&uuml;r eine Sekunde gr&uuml;nlich-wei&szlig; der Gischt auf.</p>
+
+<p>Die Sieben lagen, des starken Nachttaues wegen
+in leichte Decken geh&uuml;llt, schweigend um das Feuer,
+das sie der Stimmung wegen entz&uuml;ndet hatten, und
+sahen zum strahlenden Sternenhimmel empor.</p>
+
+<p>Keiner sprach ein Wort.</p>
+
+<p>Viertelstunde auf Viertelstunde verrann; unbeweglich
+lagen die M&auml;nner da, nur ihre Gedanken
+arbeiteten bei dem ewigen Rhythmus des Wellenschlages.</p>
+
+<p>Endlich setzte Melchior sich auf. Mit zusammengezogenen
+Brauen starrte er vor sich hin, und das
+leise flackernde Feuer lie&szlig; seine scharfen Z&uuml;ge unheimlich
+erscheinen. Nach einer Weile hob er den
+Kopf und sagte zu Paul Seebeck:</p>
+
+<p>&raquo;Herr Seebeck, darf ich auf jenes Gespr&auml;ch zur&uuml;ckkommen,
+das wir vor mehreren Monaten in
+Berlin f&uuml;hrten?&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_76" id="Page_76" title="76"></a>Seebeck drehte sich halb herum und sah ihn fragend
+an. Seine Rechte spielte mit einigen Kieseln.</p>
+
+<p>Melchior sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Unser Gespr&auml;ch fing so an: ich fragte Sie,
+weshalb man nicht die Menschen ohne weiteres
+hier hersetzen k&ouml;nnte, damit sich die langsam entstehende
+Gemeinschaft selbst jenen absoluten
+Staat aufbaue, den wir hier k&uuml;nstlich schaffen
+wollen. Sie antworteten, da&szlig; die Menschen so
+vieles zu vergessen h&auml;tten, bevor sie reif w&uuml;rden,
+Sie gebrauchten das Wort Masseninstinkte &#8211; erinnern
+Sie sich noch?&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck nickte. Nechlidow, der an der
+anderen Seite des Feuers lag, war aufgestanden und
+hatte sich dicht neben Melchior gesetzt. Dieser
+fuhr fort:</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe dar&uuml;ber nachgedacht und habe zun&auml;chst
+folgende Formel gefunden: Sie wollen die
+tierischen Masseninstinkte durch das menschliche
+Massenbewu&szlig;tsein ersetzen.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck nickte und h&ouml;rte auf, mit den
+Steinchen zu spielen. Nechlidow beugte sich mit
+offenem Munde und gl&auml;nzenden Augen weit vorn&uuml;ber.
+Edgar Allan aber sagte gleichm&uuml;tig im Hintergrunde:</p>
+
+<p>&raquo;Glauben Sie denn wirklich, da&szlig; das geht?
+Wir, die etwas besonderes zu sagen haben, haben
+<a class="page" name="Page_77" id="Page_77" title="77"></a>die Pflicht, uns die besten Bedingungen zu schaffen,
+um das Betreffende zu sagen und k&ouml;nnen dann mit
+gutem Gewissen abtreten. Denn wir erleben doch
+nicht, da&szlig; die Masse uns versteht; in manchen
+F&auml;llen geschieht es sp&auml;ter &#8211; meistens wohl &uuml;berhaupt
+nicht. Aber wir haben die Pflicht, das zu
+geben, was wir geben k&ouml;nnen, gleichgiltig, ob es
+genommen wird oder nicht. Auf die Masse warten
+k&ouml;nnen wir aber nicht. Dazu ist unsere Zeit zu
+kostbar. Wir m&uuml;ssen es ihr anheimstellen, ob sie
+uns nachhumpeln will oder nicht. Die Geschichte
+machen wir und nicht die Masse.&laquo;</p>
+
+<p>Verlegenes Schweigen folgte diesen Worten.
+Seebeck griff wieder nach seinen Steinchen. Jakob
+Silberland sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Nein, Herr Allan, Sie begehen den Fehler, &uuml;berhaupt
+einen Unterschied zwischen F&uuml;hrern und
+Masse zu konstruieren. Das geht nicht. Ich will
+damit nicht nur sagen, da&szlig; es sich hier nur um
+graduelle, niemals prinzipielle Unterschiede handeln
+kann, da es so unz&auml;hlige Gebiete gibt, auf denen
+irgend jemand f&uuml;hrt; soziale, politische, religi&ouml;se,
+literarische, vegetarische, alkoholgegnerische und
+wei&szlig; Gott noch was f&uuml;r F&uuml;hrer geh&ouml;ren auf jedem
+anderen Gebiete wieder zu der gef&uuml;hrten Masse; es
+handelt sich also immer nur um eine partielle,
+niemals um eine absolute F&uuml;hrerstellung, und erst
+<a class="page" name="Page_78" id="Page_78" title="78"></a>die Resultante aller dieser gro&szlig;en und kleinen Bewegungen
+stellt die Geschichte der Menschheit dar,
+sondern&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>Er stand auf und hob dozierend einen Finger:</p>
+
+<p>&raquo;Da&szlig; die Mitglieder eines heutigen Staates vollst&auml;ndig,
+die Mitglieder der ganzen Menschheit zum
+gro&szlig;en Teile, dasselbe sind, was die einzelnen
+Teile eines Korallenriffs, die einzelnen Zellen im
+menschlichen K&ouml;rper sind: Glieder eines gr&ouml;&szlig;eren
+Individuums, die durch die Arbeitsteilung und die
+darin liegende Verzichtleistung auf universelle
+T&auml;tigkeit, als Ganzes mehr zu vollbringen verm&ouml;gen,
+als das Einzelwesen kann. Kurz und gut, wir leben
+eigentlich schon im sozialistischen Zukunftsstaate,
+nur da&szlig; die Staatsformen, der &auml;u&szlig;ere Ausdruck der
+inneren Organisation, immer um einige hundert
+Jahre zur&uuml;ck sind, ebenso wie der jeweilige Stand
+der Orthographie immer die gesprochene Sprache
+vor einigen hundert Jahren darstellt. Alles Ungl&uuml;ck
+kommt aus dieser Inkongruenz von Form
+und Inhalt &#8211; und die wollen wir ja hier abschaffen,
+indem wir die Staatsform einige hundert Jahre
+Entwicklung &uuml;berspringen lassen und sie genau
+dem gegenw&auml;rtigen Stande der menschlichen Organisation
+anpassen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sind die Staatsformen wirklich im R&uuml;ckstande?&laquo;
+mischte sich Herr von Rochow ins Gespr&auml;ch. &raquo;Ich
+<a class="page" name="Page_79" id="Page_79" title="79"></a>m&ouml;chte lieber sagen, da&szlig; sie eine viel vorgeschrittenere,
+gleichsam idealisierte Menschheit voraussetzen.
+Denken Sie doch an das Institut der Ehe, das die
+Monogamie voraussetzt, die es doch praktisch so
+gut wie gar nicht gibt.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt sprang Melchior auf und streckte flehend
+die Arme aus. Er rief: &raquo;Nicht mehr, ich flehe Sie
+an, heute Abend nicht mehr! Ich sehe jetzt, wo
+das Problem liegt &#8211; lassen Sie mir nur etwas Zeit!&laquo;</p>
+
+<p>Verwundert und ein wenig gekr&auml;nkt sahen die
+anderen ihn an. Seine Erregung war aber so echt,
+seine Stimme so flehend, dabei seine magere Gestalt
+im Feuerscheine so grotesk, da&szlig; sich der &Auml;rger
+bald in Achtung und Mitleid verwandelte. Doch
+h&auml;tte die Situation peinlich werden k&ouml;nnen, h&auml;tte
+Otto Meyer sie nicht aufgel&ouml;st. Er sagte n&auml;mlich
+gem&uuml;tlich:</p>
+
+<p>&raquo;Ja, Kinder, was strengt ihr euch unn&ouml;tig an,
+wenn Herr Melchior so liebensw&uuml;rdig ist, alle Denkarbeit
+f&uuml;r uns zu &uuml;bernehmen, und f&uuml;r die endgiltige
+L&ouml;sung aller Weltprobleme garantiert.&laquo;</p>
+
+<p>Alle lachten; nur Melchior hatte nichts geh&ouml;rt.
+Mit gekr&uuml;mmtem R&uuml;cken sa&szlig; er da und starrte vor
+sich hin.</p>
+
+<p>Nach einer kleinen Pause sagte Edgar Allan:</p>
+
+<p>&raquo;Wir wollen also von der Theorie auf die Praxis
+&uuml;bergehen. Ich bin n&auml;mlich heute mit meinem
+<a class="page" name="Page_80" id="Page_80" title="80"></a>Stadtplan fertig geworden. Wir k&ouml;nnen morgen
+vielleicht einen kleinen Rundgang durchs Gel&auml;nde
+machen, und ich kann Ihnen dann genau erkl&auml;ren,
+wie ich alles meine. Ich habe nat&uuml;rlich versucht,
+die Natur so genau wie m&ouml;glich zu verstehen und
+sie ihrer eigenen Struktur entsprechend auszubauen.
+Die Stadt soll sich der Bildung der Felsen
+eng anschlie&szlig;en; sie darf ja kein Fremdk&ouml;rper auf
+der Insel sein, sondern ein organischer Teil von
+ihr, ihre Bl&uuml;te. Na, das sind ja Gemeinpl&auml;tze&laquo;,
+sagte er aufstehend, &raquo;aber ich habe auch einige gute
+Ideen gehabt. In der Sohle unserer Mulde m&ouml;chte
+ich die Hauptstra&szlig;e haben, die alle Terrassen verbindet
+und dann vielleicht sp&auml;ter weiter auf das
+Hochland gef&uuml;hrt wird. Die achte gro&szlig;e Terrasse
+&#8211; Sie wissen, die breite, hinter der die Steigung so
+viel steiler wird, so da&szlig; die Stra&szlig;e dort in starken
+Serpentinen weitergef&uuml;hrt werden m&uuml;&szlig;te &#8211;
+m&ouml;chte ich den &ouml;ffentlichen Geb&auml;uden vorbehalten,
+einem Volkshause f&uuml;r Versammlungen und &auml;hnlichen
+Dingen.</p>
+
+<p>Am Strande, in der Richtung auf die Irenenbucht
+zu, k&ouml;nnte eine einreihige Stra&szlig;e von Fischerh&auml;uschen
+liegen; dort rechts, wo die Wand ziemlich
+steil ist, w&auml;re nur Platz f&uuml;r einige, wenige H&auml;user.
+Das ist eine ganz ideale Stelle f&uuml;r Sonderlinge, die
+von dort aus h&ouml;hnisch auf die Stadt hinabsehen
+<a class="page" name="Page_81" id="Page_81" title="81"></a>wollen. Auf solche K&auml;uze m&uuml;ssen wir ja auch vorbereitet
+sein. Vielleicht beschlie&szlig;t sogar einer von
+uns sein Leben dort.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber jetzt will ich Ihnen meine Hauptgedanken
+sagen, meine Herren&laquo;, fuhr er lebhaft fort. &raquo;Sehen
+Sie, der Bach wird auf absehbare Zeit hinaus f&uuml;r
+die Wasserzufuhr v&ouml;llig ausreichen. Wir m&uuml;ssen
+aber den ganzen Flu&szlig; herunter bringen, denn dann
+k&ouml;nnen wir hier im Laufe einiger Jahre eine Vegetation
+schaffen, wozu die Natur viele hundert Jahre
+brauchen w&uuml;rde. Und das &Uuml;berspringen von Zeitr&auml;umen
+ist ja unsere Hauptbesch&auml;ftigung hier.
+Die Sache l&auml;&szlig;t sich ausgezeichnet machen. Ich
+habe alles ganz genau gepr&uuml;ft. Der Flu&szlig; mu&szlig; zun&auml;chst
+in das tiefe Becken geleitet werden, das
+auch sicher fr&uuml;her einen See beherbergt hat &#8211; falls
+Seebecks Theorie richtig ist, da&szlig; die Insel nur vor&uuml;bergehend
+unter das Meer gesunken ist. Ebenso
+sicher ist nat&uuml;rlich auch diese Mulde das fr&uuml;here
+Flu&szlig;tal.</p>
+
+<p>Der Wall, der das Becken gegen unser Tal abschlie&szlig;t,
+ist durchg&auml;ngig h&ouml;her, als der zum Meere.
+Besser k&ouml;nnte die Sache &uuml;berhaupt nicht liegen,
+denn so hat das Staubecken ein nat&uuml;rliches Sicherheitsventil.
+Wir brauchen niemals eine &Uuml;berschwemmung
+der Stadt zu bef&uuml;rchten, denn das
+&uuml;bersch&uuml;ssige Wasser wird immer gleich ins Meer
+<a class="page" name="Page_82" id="Page_82" title="82"></a>st&uuml;rzen. Wir m&uuml;ssen nur ziemlich tief im Becken
+eine gro&szlig;e R&ouml;hre anbringen, die den Wall in der
+Richtung auf die Stadt zu durchbohrt. Dann
+haben wir, unabh&auml;ngig von dem jeweiligen Wasserstande
+des Staubeckens, einen gleichm&auml;&szlig;igen
+Wasserstrom.</p>
+
+<p>Oben, bei der Terrasse, die ich f&uuml;r die &ouml;ffentlichen
+Geb&auml;ude reservieren will, soll sich der Flu&szlig; dann
+teilen. Der Hauptarm soll der Hauptstra&szlig;e folgen;
+ich will aber unz&auml;hlige, kleine B&auml;che von ihm ableiten,
+so da&szlig; fast jedes Haus an flie&szlig;endem Wasser
+liegt. &#8211; Nat&uuml;rlich wird das Trinkwasser davon
+unabh&auml;ngig in geschlossenen R&ouml;hren geleitet. &#8211;
+So gut wie alle H&auml;user werden ja auf kleinere
+oder gr&ouml;&szlig;ere Terrassen zu liegen kommen, also auf
+wagerechten Grund. Mit Hilfe des Wassers
+k&ouml;nnen wir nicht nur &ouml;ffentliche Anlagen schaffen,
+sondern jedes Haus kann seinen Garten haben.
+Ich denke dabei nicht nur an die Sch&ouml;nheit, sondern
+besonders an die Regulierung der Atmosph&auml;re.</p>
+
+<p>Wenn wir auf Kloaken verzichten und alle Abf&auml;lle
+den G&auml;rten zugute kommen lassen, haben wir
+schon etwas; aber das gen&uuml;gt vorl&auml;ufig nicht. Wir
+m&uuml;ssen vielmehr einen ganz energischen Anfang
+machen. Ich schlage einfach vor, irgend eine recht
+schwere, fruchtbare Lehmerde aus Australien hierher
+transportieren zu lassen und damit die Gartenfl&auml;chen
+<a class="page" name="Page_83" id="Page_83" title="83"></a>etwa einen Meter hoch zu bedecken. Wenn
+wir uns dann B&auml;ume mit recht starken, tiefgehenden
+Wurzeln pflanzen, werden die dann schon eine allm&auml;hliche
+Lockerung des Bodens besorgen. Es gibt
+ja B&auml;ume, die eigentlich nur einen Halt in einer
+d&uuml;nnen Humusschicht brauchen, und ihre Kraft
+aus dem Felsen selbst ziehen: manche Nadelh&ouml;lzer,
+auch Birkenarten. Das alles m&uuml;&szlig;te nat&uuml;rlich mit
+einem gro&szlig;z&uuml;gigen G&auml;rtner besprochen werden.</p>
+
+<p>Meine Skizzen zu den H&auml;usern selbst werde ich
+Ihnen morgen zeigen. Ich glaube, jetzt den richtigen
+Stil gefunden zu haben. Ich habe eine stark betonte
+Horizontale mit flachen Kurven verschmolzen
+&#8211; na ja, das alles morgen.</p>
+
+<p>Aber jetzt m&ouml;chte ich noch etwas sagen: es ist
+ein sch&ouml;ner Gedanke, hier alles aus eigenen Kr&auml;ften
+auszuf&uuml;hren; aber eigentlich ist es doch nur eine
+unpraktische Sentimentalit&auml;t. Wir verschwenden
+Zeit und Kraft auf Dinge, die jeder Kuli machen
+k&ouml;nnte. Sollten wir nicht lieber einige hundert
+Arbeiter aus Sidney kommen lassen, um diese rein
+k&ouml;rperlichen Arbeiten f&uuml;r uns auszuf&uuml;hren? Dann
+k&auml;men wir doch viel schneller vorw&auml;rts. Es ist
+nur ein Vorschlag&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>Nechlidow sprang auf:</p>
+
+<p>&raquo;Nein, nein&laquo;, rief er. &raquo;Keine Kompromisse!
+Damit finge die L&uuml;ge an, die alles durchsetzen
+<a class="page" name="Page_84" id="Page_84" title="84"></a>w&uuml;rde. Wir m&uuml;ssen unseren Prinzipien treu bleiben.
+Solche scheinbar &#8211; und nur scheinbar &#8211; praktische
+Erw&auml;gungen haben die gro&szlig;e Unwahrheit in die
+Welt hineingebracht. Wenn unser Leben hier einen
+Zweck hat, so ist es der, zu beweisen, da&szlig; das strenge
+Festhalten am gro&szlig;en Gedanken, am Menschheitsgedanken
+auch praktisch am weitesten f&uuml;hrt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich erlaubte mir nur einen Vorschlag&laquo;, antwortete
+Edgar Allan h&ouml;flich. &raquo;Da er auf Widerspruch
+st&ouml;&szlig;t, ziehe ich ihn hiermit zur&uuml;ck.&laquo;</p>
+
+<p>Das Feuer war bei Allans Rede langsam zusammengesintert;
+jetzt war es nahe am Verl&ouml;schen,
+aber niemand dachte daran, es wieder anzufachen.
+In ihre Decken geh&uuml;llt, lagen die Sieben schweigend
+da und sahen zum gl&auml;nzenden Sternenhimmel
+empor.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_85" id="Page_85" title="85"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Als</span> der Tag sich j&auml;hrte, an dem die sieben Gr&uuml;nder
+die Insel betreten hatten, lag die &raquo;Prinzessin
+Irene&laquo; in vollem Flaggenschmuck vor der
+Bucht. Als die Hochflut kam und die Klippen
+bedeckte, schleppten die beiden zierlichen Dampfbarkassen
+schwere Boote mit Menschen und Hausger&auml;t
+ans Land. Auf der improvisierten Landungsbr&uuml;cke
+standen Paul Seebeck und Melchior und
+begr&uuml;&szlig;ten die Ank&ouml;mmlinge, w&auml;hrend die anderen
+F&uuml;nf eifrig damit besch&auml;ftigt waren, ihnen Unterkunft
+in den gro&szlig;en Schuppen und Zelten zu bereiten,
+die zu diesem Zwecke errichtet waren. Denn
+die H&auml;user mu&szlig;ten ja erst gebaut werden und
+zwar in derselben Reihenfolge, in der die endgiltigen
+Erkl&auml;rungen eingelaufen waren.</p>
+
+<p>Dreihundertf&uuml;nfzig erwachsene Personen trafen
+an diesem Tage ein: t&uuml;chtige Handwerker mit gesetzten
+Gesichtern, Kaufleute, die aus irgend einem
+Grunde nicht vorw&auml;rts gekommen waren und nicht
+wenige unbestimmbaren oder unsicheren Berufes,
+die erst hier ihr wirkliches Vaterland wu&szlig;ten.&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_86" id="Page_86" title="86"></a>Es ergab sich von selbst, da&szlig; die sieben Gr&uuml;nder
+nicht mehr wie fr&uuml;her selbst Hand an alle Arbeit
+legen konnten: Organisation und Leitung nahm
+ihre Zeit und ihre Kr&auml;fte v&ouml;llig in Anspruch.
+Hauptmann a.&nbsp;D. von Rochow &uuml;bernahm die Leitung
+beim Bau der Stra&szlig;e und der &ouml;ffentlichen Anlagen;
+Edgar Allan hatte Tag und Nacht als Architekt
+zu tun; Otto Meyer hatte einen Teil von Jakob
+Silberlands T&auml;tigkeit &uuml;bernommen, der nur noch
+die Rechnungssachen versah, und Paul Seebeck
+hatte mit der Oberleitung und pers&ouml;nlicher Inanspruchnahme
+durch die Kolonisten mehr als genug
+zu tun. Nechlidow und Melchior w&auml;ren den andern
+als Assistenten willkommen gewesen; beide erkl&auml;rten
+aber ein f&uuml;r allemal, da&szlig; sie einfache Arbeiter
+bleiben wollten.</p>
+
+<p>Bei der fieberhaften T&auml;tigkeit entstand schnell
+Haus auf Haus, und froh vertauschte man Schuppen
+oder Zelt mit dem festen Dache. Damit wurden
+auch immer mehr Kr&auml;fte frei, so da&szlig; in immer
+gr&ouml;&szlig;erem Ma&szlig;stabe an den Stra&szlig;en und den &ouml;ffentlichen
+Geb&auml;uden gearbeitet werden konnte. Die
+Wasseranlage wurde nach Edgar Allans Pl&auml;nen
+durchgef&uuml;hrt, und die Dampfer der &raquo;Australisch-Neu-Seel&auml;ndischen
+Transportgesellschaft&laquo; mu&szlig;ten
+halbw&ouml;chentlich verkehren und konnten doch kaum
+die Masse des ben&ouml;tigten Materials bew&auml;ltigen.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_87" id="Page_87" title="87"></a>Jedesmal, wenn die &raquo;Prinzessin Irene&laquo; vor der
+Bucht hielt, brachten ihre Boote Dutzende von
+neuen Ansiedlern auf die Insel.</p>
+
+<p>Als das Jahr verflossen war, stand die Stadt da.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_88" id="Page_88" title="88"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Auf</span> den amphitheatralisch ansteigenden B&auml;nken
+in der gro&szlig;en, flachgew&ouml;lbten Halle des Volkshauses
+sa&szlig;en dreihundertf&uuml;nfzig M&auml;nner und Frauen
+und hinter ihnen dr&auml;ngten sich wohl zweihundert
+auf den Trib&uuml;nen. An einem langen Tische auf
+einem kleinen Podium im Brennpunkte des Kreisbogens
+sa&szlig;en die sieben Gr&uuml;nder.</p>
+
+<p>Nicht zum ersten Male waren die Glieder der
+Gemeinschaft hier versammelt; aber doch zeigten
+alle Gesichter einen seltsamen Glanz. Vor zwei
+Jahren hatten an diesem Tage die sieben Gr&uuml;nder
+die Insel betreten, und heute waren dreihundertf&uuml;nfzig
+M&auml;nner und Frauen vollberechtigte B&uuml;rger
+geworden. Sie waren heute hier versammelt, um
+zum ersten Male ihre Rechte auszu&uuml;ben.</p>
+
+<p>Paul Seebeck erhob sich von seinem Stuhle, und
+sofort trat atemlose Stille ein. Er richtete sich hoch
+auf, warf einen langen Blick &uuml;ber die Versammlung
+und l&auml;chelte gl&uuml;cklich. Dann sagte er:</p>
+
+<p>
+&raquo;Meine Damen und Herren!<br />
+</p>
+
+<p>Im Namen meiner Freunde hei&szlig;e ich Sie hier
+willkommen! In der gemeinsamen Arbeit dieses
+<a class="page" name="Page_89" id="Page_89" title="89"></a>Jahres haben wir Werte geschaffen, die uns und
+unsere Enkel &uuml;berdauern werden. Wir danken
+Ihnen f&uuml;r Ihre treue Mitarbeit.</p>
+
+<p>Bis jetzt sind wir sieben Ihre F&uuml;hrer gewesen,
+nicht aus Hochmut oder Herrschsucht, sondern nur,
+weil wir anfangs eine gr&ouml;&szlig;ere Sachkenntnis hatten.</p>
+
+<p>Jetzt legen wir unsere Mandate in Ihre H&auml;nde.
+Sie m&ouml;gen pr&uuml;fen, was Sie von den Bestimmungen,
+die wir getroffen haben, beibehalten wollen und
+was nicht. Vorbehaltlos &uuml;bergeben wir Ihnen unsere
+Rechte und Pflichten.</p>
+
+<p>Bevor wir in die Verhandlungen eintreten, m&uuml;ssen
+wir einen Vorsitzenden haben. Als den in solchen
+Dingen gewandtesten erlaube ich mir, Herrn Dr.
+Silberland vorzuschlagen. Es wird kein anderer
+Vorschlag laut &#8211; also bitte ich Herrn Dr. Silberland,
+den Vorsitz dieser Versammlung zu &uuml;bernehmen.&laquo;</p>
+
+<p>Ein erstauntes und verschwommenes Gemurmel
+wurde laut, als die sechs vom Podium herunterschritten
+und auf der vordersten Bank Platz nahmen.</p>
+
+<p>Jakob Silberland war der Situation durchaus gewachsen;
+er gab ein kurzes Glockenzeichen und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Sie werden mir ein Wort des Dankes an Herrn
+Seebeck erlauben. Ich wei&szlig;, da&szlig; ich im Sinne der
+ganzen Versammlung spreche, wenn ich sage: in
+diesem Augenblicke, wo Herr Seebeck aufgeh&ouml;rt
+<a class="page" name="Page_90" id="Page_90" title="90"></a>hat, unser offizieller F&uuml;hrer zu sein, wollen wir
+ihm versichern, da&szlig; er immer und ewig unser
+geistiger F&uuml;hrer bleiben wird. Denn wir wissen
+alles, was wir ihm schulden: seine Initiative, seine
+Energie, sein praktischer Blick, sein Glaube an den
+Menschen haben die Errichtung des stolzen Werkes
+erm&ouml;glicht, das wir hier vor uns sehen. Und wenn
+wir alle l&auml;ngst im Grabe liegen, wird der Name
+Paul Seebeck f&uuml;r immer mit goldenen Buchstaben
+im Buche der Menschheit stehen.&laquo;</p>
+
+<p>Z&ouml;gernd hatten sich die Versammelten erhoben;
+Paul Seebeck war sitzen geblieben und starrte in
+t&ouml;tlicher Verlegenheit vor sich hin. Jakob Silberland
+sah einen Augenblick lang auf die stehende
+Versammlung und wu&szlig;te augenscheinlich nicht
+recht, was er mit ihr anfangen sollte. Hilfesuchend
+sah er Otto Meyer an, der nur mit gr&ouml;&szlig;ter M&uuml;he
+ein Lachen herunterschluckte. Herrn von Rochows
+Gesicht strahlte. Er ging zu Paul Seebeck und
+dr&uuml;ckte ihm die Hand.</p>
+
+<p>Pl&ouml;tzlich bekam Jakob Silberland einen rettenden
+Gedanken; er griff zur Glocke, l&auml;utete kurz und
+sagte, w&auml;hrend die Versammlung sich ger&auml;uschvoll
+wieder setzte:</p>
+
+<p>&raquo;Ich ersuche jetzt Herrn Seebeck als ersten,
+einen &Uuml;berblick &uuml;ber die verflossenen zwei Jahre
+zu geben.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_91" id="Page_91" title="91"></a>Paul Seebeck trat mit einigen schnellen Schritten
+auf das Podium und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Was hier geschehen ist und was wir hier wollen,
+wissen Sie ja alle, und ich brauche nicht mit feierlichen
+Worten darauf einzugehen. Was ich getan
+habe, glaube ich verantworten zu k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Nur auf einen Punkt m&ouml;chte ich hinweisen: ich
+bin, wie Sie ja alle wissen, Reichskommissar mit
+den Rechten und Pflichten eines solchen. Ich habe
+aber vom Reichskolonialamt die Erm&auml;chtigung erwirkt,
+mein Amt einem andern, das hei&szlig;t, meinem
+jetzt zu w&auml;hlenden Nachfolger zu &uuml;bertragen. Sobald
+die Wahl vor sich gegangen ist, werde ich es
+tun. Ich deponiere hier beim Vorsitzenden der
+Versammlung eine unterzeichnete und datierte
+offizielle Benachrichtigung an das Reichskolonialamt,
+wo nur noch der Name des neuen Reichskommissars
+auszuf&uuml;llen ist.&laquo;</p>
+
+<p>Er verbeugte sich kurz und ging zu seinem Platze
+zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>Jakob Silberland gab ein Glockenzeichen und
+sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Da ich jetzt selbst das Wort ergreifen m&ouml;chte,
+um &uuml;ber die Verwaltung der &ouml;ffentlichen Gelder
+Rechenschaft abzulegen, bitte ich um Erlaubnis,
+den Vorsitz so lange an Herrn Referendar Meyer
+abzutreten. &#8211; Da kein Widerspruch erfolgt, tue
+<a class="page" name="Page_92" id="Page_92" title="92"></a>ich es hiermit. &#8211; Herr Referendar, darf ich
+bitten.&laquo;</p>
+
+<p>Otto Meyer schritt gravit&auml;tisch auf das Podium
+und fl&uuml;sterte Jakob Silberland zu:</p>
+
+<p>&raquo;Na, Sie werden staunen: zun&auml;chst werde ich
+mal die ganze Zeit durch bimmeln, dann kriegen
+Sie drei Ordnungsrufe, und ich fordere Sie auf, den
+Saal zu verlassen.&laquo;</p>
+
+<p>Jakob Silberland sah ihm erschreckt ins Gesicht:</p>
+
+<p>&raquo;Um Gotteswillen&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>Er kam nicht weiter, denn Otto Meyer l&auml;utete
+und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Herr Dr. Jakob Silberland hat das Wort.&laquo;</p>
+
+<p>Jakob Silberland suchte stehend allerhand Papiere
+zusammen, die auf dem Tische lagen und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann jetzt nat&uuml;rlich nur in gro&szlig;en Z&uuml;gen
+ein Bild von der finanziellen Lage geben; ich werde
+Sie sp&auml;ter bitten, eine Kommission zu w&auml;hlen, um
+meine B&uuml;cher in allen Einzelheiten nachzupr&uuml;fen.</p>
+
+<p>Wir sind, wie Sie wissen, mit einer dreiprozentigen
+inneren Anleihe in der H&ouml;he von einer Million
+Mark belastet. Dieses Geld hat uns, solange es
+noch teilweise auf der Bank lag, einen Zinsen&uuml;berschu&szlig;
+von zehntausendachthundertdreiundf&uuml;nfzig
+Mark und einundsiebzig Pfennigen gebracht.</p>
+
+<p>Wir haben zweihundertachtunddrei&szlig;ig Schildkr&ouml;ten
+verkauft. Sie wissen ja, da&szlig; wir nach dem
+<a class="page" name="Page_93" id="Page_93" title="93"></a>Urteile der Sachverst&auml;ndigen dazu gezwungen
+waren, da der Platz f&uuml;r die Tiere nicht ausreichte,
+und sie sonst einfach fortgewandert w&auml;ren. Daf&uuml;r
+haben wir die Summe von f&uuml;nf Millionen, achthundertsechsundvierzigtausend
+siebenhundert und
+einundzwanzig Mark und elf Pfennigen eingenommen.
+Wir hatten also sechs Millionen achthundertsiebenundf&uuml;nfzigtausend
+f&uuml;nfhundertvierundsiebzig
+Mark zweiundachtzig Pfennig bares
+Geld zur Verf&uuml;gung.</p>
+
+<p>Unsere Ausgaben waren folgende: Geh&auml;lter: abz&uuml;glich
+der Mietsbetr&auml;ge eine Million siebenhundertachtunddrei&szlig;igtausend
+f&uuml;nfhunderteinundzwanzig
+Mark. Hausbau: drei Millionen achthundertsiebenundf&uuml;nfzigtausend
+einhundertachtundsechzig
+Mark und zweiundvierzig Pfennige. Stra&szlig;enbau,
+Anlage des Bew&auml;sserungssystems, Trinkwasserleitung,
+Hafenanlagen, Erde haben zusammen zwei
+Millionen, sechshunderttausend vierhundertachtundneunzig
+Mark sieben Pfennige gekostet. Verschiedenes
+kostete zusammen zweihundertachttausend
+neunhundertdreizehn Mark, neunundzwanzig
+Pfennige. Unsere gesamten Ausgaben betrugen
+also: acht Millionen, vierhundertf&uuml;nftausend einhundert
+Mark und achtundsiebzig Pfennige. Wir
+schlie&szlig;en diese zweij&auml;hrige Periode mit einem
+Defizit von anderthalb Millionen, siebenundvierzigtausend
+<a class="page" name="Page_94" id="Page_94" title="94"></a>f&uuml;nfhundertf&uuml;nfundzwanzig Mark und
+sechsundneunzig Pfennigen ab.</p>
+
+<p>Hierzu ist zu bemerken, da&szlig; wir dieses Defizit
+ja jeden Tag aus der Irenenbucht decken k&ouml;nnen;
+vielleicht sind wir sogar gezwungen, noch hundert
+Schildkr&ouml;ten herauszunehmen, um einen geordneten
+Zuchtbetrieb m&ouml;glich zu machen. Dann, da&szlig; wir
+in diesen zwei Jahren einen gro&szlig;en Teil der Stadtanlage
+ausgef&uuml;hrt haben, so da&szlig; wir in der Zukunft
+nur einen geringen Posten daf&uuml;r aufzuwenden
+haben werden. Dann, da&szlig; das f&uuml;r den Hausbau
+aufgewendete Geld sich mit neun Prozent verzinst.
+Die j&auml;hrliche Miete betr&auml;gt zwar zehn Prozent
+der Baukosten, doch stellen wir ein Prozent f&uuml;r
+einen Reparaturfond zur&uuml;ck. Trotz dieses Defizits
+ist unsere finanzielle Stellung also sehr g&uuml;nstig.&laquo;</p>
+
+<p>Jakob Silberland setzte sich, und Otto Meyer
+verlie&szlig; das Podium. Im Hinunterschreiten fl&uuml;sterte
+er Jakob Silberland zu:</p>
+
+<p>&raquo;Bis an mein Lebensende werde ich nicht begreifen,
+weshalb ich hier heraufkrabbeln mu&szlig;te.
+Aber wundervoll war es da oben.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt erhielt Edgar Allan das Wort. Er kniff die
+Lippen zusammen und blickte &uuml;ber die K&ouml;pfe der
+Versammlung weg. Er sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Was ich gemacht habe, kann jeder Mensch
+sehen; ich hoffe, den hier vorherrschenden Geschmack
+<a class="page" name="Page_95" id="Page_95" title="95"></a>getroffen zu haben. Jedenfalls habe ich
+alles getan, was in meinen Kr&auml;ften stand.&laquo;</p>
+
+<p>Jakob Silberland stand auf, gab wieder ein
+Glockenzeichen und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;W&uuml;nscht jemand aus der Versammlung das
+Wort? &#8211; Nicht? &#8211; Dann k&ouml;nnen wir zur Wahl
+schreiten. Hierzu ist zu bemerken, da&szlig; sich bis
+jetzt die Notwendigkeit von f&uuml;nf &Auml;mtern ergeben
+hat und zwar der folgenden: eines Vorstehers der
+Gemeinschaft, eines Schriftf&uuml;hrers, eines Gesch&auml;ftsf&uuml;hrers,
+eines Architekten und eines Leiters der
+&ouml;ffentlichen Anlagen. Zun&auml;chst w&auml;re die Frage
+zu entscheiden, ob diese &Auml;mter in der bisherigen
+Form weiterbestehen sollen. Weiterhin kann ich
+mitteilen, da&szlig; die bisherigen Inhaber dieser &Auml;mter
+die bisher geltenden Bestimmungen zusammengefa&szlig;t
+haben. Ihre Nachfolger h&auml;tten dazu Stellung
+zu nehmen und ihre eventuellen &Auml;nderungsvorschl&auml;ge
+der Versammlung zu unterbreiten. Ich
+erlaube mir daher, folgende Gesch&auml;ftsordnung vorzuschlagen:
+zun&auml;chst erfolgt die Feststellung der
+&Auml;mter, dann die Wahlen zu ihnen. Die so gew&auml;hlten
+neuen Beamten h&auml;tten Stellung zu den bisherigen
+Gesetzen zu nehmen und ihre eventuellen &Auml;nderungsvorschl&auml;ge
+einer sp&auml;teren Versammlung zur
+Beschlu&szlig;fassung zu unterbreiten. Schl&auml;gt jemand
+eine andere Gesch&auml;ftsordnung vor? &#8211; Nicht? &#8211;
+<a class="page" name="Page_96" id="Page_96" title="96"></a>Dann schreiten wir zu Punkt eins: Debatte &uuml;ber
+die bisherigen &Auml;mter. Wer w&uuml;nscht das Wort
+hierzu?&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt erhob sich endlich im Hintergrunde ein
+Mann und sagte grob:</p>
+
+<p>&raquo;Ich meine, da&szlig; alles gut war, wie es war, und
+da&szlig; dieselben Herren oben bleiben sollen, denn
+die verstehen es doch am besten.&laquo;</p>
+
+<p>Aller Augen hatten sich dem Redner zugewandt,
+der sich jetzt die Stirn eifrig mit einem roten
+Taschentuche rieb.</p>
+
+<p>Jakob Silberland mu&szlig;te zweimal l&auml;uten, bis das
+beif&auml;llige Gemurmel verstummte; dann sagte er:</p>
+
+<p>&raquo;Der verehrte Herr Vorredner hat sich gleich
+zu den zwei ersten Punkten der Tagesordnung
+ge&auml;u&szlig;ert, und zwar schl&auml;gt er Beibehaltung der
+alten &Auml;mter und Wiederwahl der bisherigen Beamten
+vor. Ist die Versammlung damit einverstanden,
+da&szlig; diese beiden Punkte gemeinsam behandelt
+werden?&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt kam Leben in die Versammlung, und von
+allen Seiten ert&ouml;nten Beifallsrufe und Zustimmungs&auml;u&szlig;erungen.
+Da richtete Jakob Silberland sich
+stolz auf und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Die ganz &uuml;berwiegende Mehrheit w&uuml;nscht die
+gemeinsame Behandlung beider Punkte. Ich stelle
+also den Vorschlag des Vorredners zur Abstimmung,
+<a class="page" name="Page_97" id="Page_97" title="97"></a>die bisherigen Beamten zu ihren bisherigen &Auml;mtern
+wieder zu w&auml;hlen.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt wich die Sch&uuml;chternheit von der Versammlung.
+Die Beifallsrufe bekamen einen fast
+animalischen Charakter. Es wurde geschrieen,
+geklatscht und getrampelt.</p>
+
+<p>Edgar Allan beugte sich zu Paul Seebeck und
+fl&uuml;sterte ihm zu:</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Sie, wie sie bei dem Gedanken aufleben,
+wieder unter die Peitsche zu kommen. Wie ein
+Alp hat die Vorstellung auf ihnen gelastet, da&szlig; sie
+frei w&auml;ren.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck seufzte und schwieg.</p>
+
+<p>Endlich war es Jakob Silberland gelungen, mit
+seiner Glocke den L&auml;rm zu &uuml;bert&ouml;nen. Sein Gesicht
+strahlte vor Freude und Stolz.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte diejenigen aufzustehen, die gegen den
+Vorschlag sind&laquo;, sagte er l&auml;chelnd. Und ebenfalls
+heiter l&auml;chelnd blieb die Versammlung sitzen.</p>
+
+<p>Auf einen Wink von Jakob Silberland kamen
+Paul Seebeck, Edgar Allan, Otto Meyer und Herr
+von Rochow wieder auf das Podium. Paul Seebeck
+begann mit niedergeschlagenen Augen zu sprechen:</p>
+
+<p>&raquo;Im Namen der anderen Herren danke ich Ihnen
+f&uuml;r Ihr Vertrauen. Die von dem Vorsitzenden
+vorgeschlagene und von Ihnen angenommene Gesch&auml;ftsordnung
+bestimmt als n&auml;chsten Punkt die
+<a class="page" name="Page_98" id="Page_98" title="98"></a>Vorlegung der bis jetzt bestehenden Gesetze samt
+unseren Vorschl&auml;gen. &#8211; Da wir der Lage der Dinge
+nach nicht n&ouml;tig haben, uns mit dem fraglichen
+Materiale erst bekannt zu machen, k&ouml;nnen wir
+das jetzt gleich erledigen und brauchen keine
+sp&auml;tere Versammlung dazu.&laquo;</p>
+
+<p>Jakob Silberland reichte ihm einige Papiere.
+Paul Seebeck bl&auml;tterte etwas in ihnen und sah dann
+auf:</p>
+
+<p>&raquo;Ich will mir erlauben, das folgende Expos&eacute;
+vorzulesen, das wir sieben Gr&uuml;nder gemeinsam ausgearbeitet
+haben. Ich bitte, &Auml;nderungsvorschl&auml;ge
+sofort vorzubringen, damit das, was unwidersprochen
+bleibt, als genehmigt angesehen werden kann. Ich
+m&ouml;chte mir vorbehalten, in einigen Vortr&auml;gen
+oder in anderer Form die Gesetze vom rein-menschlichen
+Standpunkte aus zu erl&auml;utern &#8211; hier m&ouml;gen
+sie rein praktisch angesehen werden.&laquo;</p>
+
+<p>Er schwieg einen Augenblick; dann hob er ein
+Blatt in die H&ouml;he und las:</p>
+
+<p>&raquo;Die Gesetze der Gemeinschaft auf der Schildkr&ouml;teninsel.
+&#8211; Erstens: Die Schildkr&ouml;teninsel ist
+ein Teil des deutschen Kolonialbesitzes. Der jeweilige
+Vorsteher der Gemeinschaft auf der Schildkr&ouml;teninsel
+ist in seiner Eigenschaft als Reichskommissar
+dem Staatssekretariat der Kolonien des
+Deutschen Reiches verantwortlich.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_99" id="Page_99" title="99"></a>&raquo;Es ist dies nur eine Formsache&laquo;, erl&auml;uterte er
+aufblickend, &raquo;unter der selbstverst&auml;ndlichen Voraussetzung,
+da&szlig; der jeweilige Reichskommissar
+nichts gegen die Interessen des deutschen Reiches
+unternimmt, hat er ja &#8211; vom Reiche aus &#8211; unbeschr&auml;nkte
+Vollmacht.</p>
+
+<p>Zweitens: Nach einj&auml;hrigem Aufenthalte erh&auml;lt
+jeder Ansiedler und jede Ansiedlerin &uuml;ber einundzwanzig
+Jahre volles B&uuml;rgerrecht.</p>
+
+<p>Drittens: Die Versammlung aller B&uuml;rger erl&auml;&szlig;t
+alle Gesetze, besetzt &Auml;mter, bestimmt Ausgaben
+und Einnahmen der Gemeinschaft; sie fa&szlig;t
+alle Beschl&uuml;sse mit einfacher Stimmenmehrheit.</p>
+
+<p>Viertens: Der Gemeinschaft geh&ouml;ren folgende
+Dinge, die nie Privatbesitz werden k&ouml;nnen: der
+Grund und Boden mit Geb&auml;uden, G&auml;rten, Stra&szlig;enanlagen,
+Wasser und Mineralien, dazu der Tierbestand
+der Irenenbucht. H&auml;user und G&auml;rten, die
+dem Privatgebrauche bestimmt sind, werden verpachtet,
+wobei die j&auml;hrliche Pacht zehn Prozent
+von den Bau- und Anlagekosten betr&auml;gt. Die
+Instandhaltung erfolgt auf Kosten der Gemeinschaft.
+Die Pacht ist unk&uuml;ndbar, solange der
+P&auml;chter seinen Verpflichtungen nachkommt.</p>
+
+<p>F&uuml;nftens: Alle Beamten und Arbeiter der Gemeinschaft
+beziehen ein j&auml;hrliches Gehalt von f&uuml;nftausend
+<a class="page" name="Page_100" id="Page_100" title="100"></a>Mark und werden auf mindestens ein Jahr
+angestellt.</p>
+
+<p>Sechstens: Schule, Krankenpflege, Alters- und
+Arbeitsunf&auml;higkeitsunterst&uuml;tzung ist Sache der Gemeinschaft.</p>
+
+<p>Siebentens: Jeder B&uuml;rger hat das unbeschr&auml;nkbare
+Recht der freien Meinungs&auml;u&szlig;erung.&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p>Achtens&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>Er hielt einen Augenblick inne und sah auf die
+Versammlung, die sich ganz still verhielt. Dann
+legte er die Papiere auf den Tisch und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Heute mu&szlig; ein Schritt von gro&szlig;er Bedeutung
+unternommen werden. Bis jetzt sind wir alle Beamte
+gewesen; von heute ab ist es weder notwendig,
+noch w&uuml;nschenswert. Wir brauchen vorl&auml;ufig nur
+etwa ein Drittel der bisherigen Arbeitskr&auml;fte f&uuml;r
+den Dienst in der Gemeinschaft; die anderen zwei
+Drittel k&ouml;nnen sich jetzt freie Berufe ergreifen.
+Diejenigen, die auf ein weiteres Jahr im Dienste der
+Gemeinschaft stehen wollen, k&ouml;nnen sich sp&auml;ter bei
+unserem Schriftf&uuml;hrer, Herrn Otto Meyer, melden.&laquo;</p>
+
+<p>Er sah mit leuchtenden Augen geradeaus:</p>
+
+<p>&raquo;Ich bin kein Freund der Phrase. Aber ich darf
+wohl sagen, da&szlig; der heutige Tag in der Geschichte
+der Menschheit unverge&szlig;lich bleiben kann. Helfen
+Sie mir dazu.&laquo;</p>
+
+<p>Und die Verhandlungen nahmen ihren Fortgang.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_101" id="Page_101" title="101"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Am</span> Abend desselben Tages standen die sieben
+Gr&uuml;nder auf dem Balkon von Paul Seebecks Haus
+und sahen auf die Stadt hinunter. Wie leuchtende
+Perlenschn&uuml;re zogen sich die Reihen der Stra&szlig;enlaternen
+durch das samtne Dunkel und zeigten
+hier deutlich, dort verschwommen die Silhouetten
+der H&auml;user. Und diese wiederum warfen aus ihren
+Fenstern einige scharfe und harte Lichtb&uuml;ndel in
+die Nacht.</p>
+
+<p>&raquo;Unsere Gr&uuml;ndung&laquo;, sagte Herr von Rochow
+und bewegte wie segnend die Arme, &raquo;unser gro&szlig;es
+Kind, das wir geboren haben, und das so traut und
+doch wieder so fremd dort unter uns liegt. Ein
+eigener, lebendiger K&ouml;rper.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und was sind wir in diesem K&ouml;rper?&laquo; fragte
+Paul Seebeck, die Arme &uuml;ber der Brust verschr&auml;nkt
+haltend.</p>
+
+<p>&raquo;Doch wohl das Gehirn&laquo;, sagte Nechlidow ruhig.</p>
+
+<p>&raquo;Und eben so fremd dem K&ouml;rper, wie das Gehirn
+dem menschlichen K&ouml;rper, der seine eigenen Wege
+geht, ohne sich um sein Gehirn zu k&uuml;mmern&laquo;,
+f&uuml;gte Edgar Allan hinzu.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_102" id="Page_102" title="102"></a>Melchior griff sich mit der Linken an die Stirn.</p>
+
+<p>&raquo;Der K&ouml;rper lebt nach eigenen Gesetzen, k&uuml;mmert
+sich nicht um das Gehirn, und die Menschheit ein
+K&ouml;rper, ein lebendiger K&ouml;rper, mit eigener Seele&laquo;,
+murmelte er. &raquo;Da liegt es ja!&laquo; schrie er auf.</p>
+
+<p>Otto Meyer schlug ihn beg&uuml;tigend auf die
+Schulter:</p>
+
+<p>&raquo;Nehmen Sie die Sache nur mit Ruhe. Sie
+brauchen die Weltr&auml;tsel noch nicht heute abend zu
+l&ouml;sen. Lassen Sie sich noch einige Tage Zeit. Die
+&uuml;brige Menschheit hat ja einige Tausend Jahre
+&uuml;ber sie nachgedacht, ohne sie zu l&ouml;sen.&laquo;</p>
+
+<p>Melchior sah dem Sp&ouml;tter ins Gesicht. Am
+ganzen Leibe vor Erregung zitternd, sagte er:</p>
+
+<p>&raquo;Nicht die Weltr&auml;tsel; aber das Problem des
+Menschen. Ich sehe jetzt, wo es liegt, sehe es klarer
+und klarer.&laquo;</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_103" id="Page_103" title="103"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Gabriele,</span> jetzt brauche ich Sie. Helfen Sie
+mir, die Menschen zur Freiheit zu erziehen.
+Sie wollen das Bewu&szlig;tsein der Freiheit haben, aber
+wagen nicht, sie zu gebrauchen.</p>
+
+<p>Ich glaubte, die Elite der Menschen hier zu versammeln;
+ich sah die starken, freien Gesichter, die
+k&uuml;hnen, r&uuml;cksichtslosen Augen &#8211; und setzt man
+sie zusammen, w&auml;rmen sie sich wie eine Herde
+Schafe aneinander.</p>
+
+<p>Und wir sieben stehen drau&szlig;en, unverstanden
+und unverstehend.</p>
+
+<p>Kommen Sie, die Mutter, kommen Sie und
+seien Sie ein Bindeglied zwischen uns und jenen,
+zwischen unserem Werke und unseren Gedanken.</p>
+
+<p class="signature">Seebeck.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_104" id="Page_104" title="104"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Trotz</span> des Regens war Paul Seebeck in seinem
+Motorboote zur &raquo;Prinzessin Irene&laquo; hinausgefahren,
+um Frau von Zeuthen noch am Deck zu
+begr&uuml;&szlig;en.</p>
+
+<p>Im Rauchsalon des Dampfers erwartete sie ihn
+mit ihren Kindern. Alle drei waren schon im
+Mantel.</p>
+
+<p>Als sie sich begr&uuml;&szlig;t und eine halbe Stunde zusammen
+geplaudert hatten, sagte Frau von Zeuthen:</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe Ihnen wieder einen Menschen mitgebracht.
+Seien Sie lieb zu ihm, dann wird er
+wertvoll f&uuml;r Sie und Ihr Werk sein. &#8211; Felix, bitte
+Herrn de la Rouvi&egrave;re herzukommen.&laquo;</p>
+
+<p>Felix sprang hinaus. Paul Seebeck erhob sich und
+blieb erwartungsvoll stehen. Unwillk&uuml;rlich zuckte
+er aber zusammen, als er Herrn de la Rouvi&egrave;re
+sah, denn dieser war ein Kr&uuml;ppel. Er war nicht
+gr&ouml;&szlig;er wie ein achtj&auml;hriger Knabe und hatte auch
+das Gesicht eines solchen. Seine Beine waren dick
+und kurz, seine Arme und die schwarzbehaarten
+H&auml;nde aber wohl noch gr&ouml;&szlig;er, als die eines erwachsenen
+<a class="page" name="Page_105" id="Page_105" title="105"></a>Mannes. Er blieb bescheiden im T&uuml;rrahmen
+stehen.</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Seine Vorfahren hat der P&ouml;bel aus Frankreich
+vertrieben, und derselbe P&ouml;bel machte dem Urenkel
+das Leben in Deutschland unm&ouml;glich. Nur
+hat er sich andere Waffen gew&auml;hlt, die aber nicht
+weniger verletzen. Bei Ihnen sucht er eine Heimat,
+Seebeck!&laquo;</p>
+
+<p>Seebeck trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand,
+die der Kr&uuml;ppel fast schmerzhaft fest dr&uuml;ckte:</p>
+
+<p>&raquo;Seien Sie hier willkommen&laquo;, sagte er herzlich
+und sah ihm gerade ins Gesicht. Aber sein L&auml;cheln
+erstarrte, als er in de la Rouvi&egrave;res Augen blickte.
+Sie schienen ihm pl&ouml;tzlich einen fast tierischen
+Ausdruck von Hunger zu bekommen. Aber im
+n&auml;chsten Augenblicke war dieser Ausdruck verschwunden,
+und der Kr&uuml;ppel stand wieder so
+bescheiden wie vorher da.</p>
+
+<p>Im Augenblick vermochte Paul Seebeck nicht
+mehr mit ihm zu sprechen; er wandte sich daher
+an Frau von Zeuthen, die zusammen mit ihren
+Kindern etwas in den Hintergrund getreten war,
+und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Darf ich Ihnen ein Amt anbieten, Gabriele?
+Ich kann doch wohl voraussetzen, da&szlig; Sie sich
+auch in &auml;u&szlig;erem Sinne n&uuml;tzlich machen wollen?&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_106" id="Page_106" title="106"></a>Frau von Zeuthen trat l&auml;chelnd heran:</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe noch nie in meinem Leben ein Amt
+verwaltet. Vielleicht kann ich es hier. Wozu
+wollen Sie mich denn machen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Zur Archivarin&laquo;, sagte Paul Seebeck. &raquo;Bis
+jetzt hat die Sekret&auml;rin, die ich mir habe geben
+lassen, auch das Archiv verwaltet. Aber die Arbeit
+wird ihr zu viel, und au&szlig;erdem pa&szlig;t sie nicht recht
+dazu.&laquo;</p>
+
+<p>Gabriele dachte einen Augenblick nach; dann
+sagte sie:</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke Ihnen und freue mich auf diese Arbeit.
+Ich kann jetzt nur unklar sehen, worin sie besteht,
+und die Dame wird mich erst in die Einzelheiten
+einf&uuml;hren m&uuml;ssen. Ich stelle es mir sch&ouml;n vor, im
+stillen Zimmer zu sitzen und das unbegreiflich
+gro&szlig;e und bunte Leben durch die festen Formen
+zu ahnen, in denen es sich grob und kalt niedergeschlagen
+hat.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck nickte ihr zu. Dann wandte er
+sich an Herrn de la Rouvi&egrave;re:</p>
+
+<p>&raquo;Und wie denken Sie sich Ihre Zukunft hier?
+W&uuml;nschen Sie einen freien Beruf zu ergreifen, oder
+denken Sie an ein Amt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Darf ich meine Zukunft nicht in Ihre H&auml;nde
+legen, Herr Seebeck?&laquo; antwortete der Kr&uuml;ppel und
+sah ihn treu und gut an.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_107" id="Page_107" title="107"></a>&raquo;Wenn Sie mir soviel Vertrauen schenken wollen&laquo;,
+erwiderte Paul Seebeck und sah ihm gerade ins
+Gesicht.</p>
+
+<p>&raquo;Aber was soll ich machen, Paul?&laquo; sagte Hedwig
+und ergriff einschmeichelnd seine Hand.</p>
+
+<p>&raquo;Du? Ich glaube, wir werden dich als Kinderg&auml;rtnerin
+brauchen k&ouml;nnen; unser Erziehungswesen
+liegt &uuml;berhaupt recht im argen und mu&szlig; erst
+gr&uuml;ndlich organisiert werden&laquo;, f&uuml;gte er, zu Frau
+von Zeuthen gewandt, erl&auml;uternd hinzu. Dann
+sah er sich nach Felix um; aber dieser sagte nichts,
+starrte ihn aber mit seinen gro&szlig;en, gl&auml;nzenden
+Augen unverwandt an.</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen brach das sekundenlange
+Schweigen:</p>
+
+<p>&raquo;Wie steht&#8217;s aber um die Dienstboten?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Daf&uuml;r haben wir gesorgt; die jungen Leute
+zwischen sechzehn und einundzwanzig sind verpflichtet,
+sich irgendwie n&uuml;tzlich zu machen.
+Unsere jungen Damen sind Dienstm&auml;dchen, Krankenpflegerinnen
+oder Kinderfr&auml;uleins, die Jungen
+sind Laufburschen oder Hilfsarbeiter. Daf&uuml;r bekommen
+sie etwas Taschengeld. Sie sehen, wir
+haben auch unsere allgemeine Wehrpflicht. Dispens
+wird nur erteilt, wenn Lust und Begabung
+zu selbst&auml;ndiger T&auml;tigkeit vorliegt.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_108" id="Page_108" title="108"></a>&raquo;Und was machen Sie mit Ihren Verbrechern,
+Seebeck?&laquo; fragte Frau von Zeuthen wieder.</p>
+
+<p>&raquo;Verbrechen sind noch nicht vorgekommen und
+werden wohl auch nie vorkommen. Einige geringf&uuml;gige
+&Uuml;bertretungen haben wir mit Geldstrafen
+belegt. &#8211; Dagegen haben wir &raquo;b&uuml;rgerliche
+Rechtsstreitigkeiten&laquo;, wie Otto Meyer sich ausdr&uuml;ckt,
+in &uuml;berraschend gro&szlig;er Anzahl, und da
+standen wir vor einer Schwierigkeit. Es war
+eine starke Stimmung vorhanden, ein Gesetzbuch
+auszuarbeiten, oder wenigstens einen unserer
+Juristen als Richter einzusetzen. Ich wollte
+nat&uuml;rlich nicht ein starres, eiskaltes Gesetzbuch
+in unser flutendes Leben werfen, und ebensowenig
+einen unserer, in ihrem Fach trotz allem verkn&ouml;cherten
+Juristen anstellen. Schlie&szlig;lich setzte
+ich durch, da&szlig; die Monatsversammlungen alle
+Streitigkeiten durch Beschlu&szlig; entscheiden.&laquo;</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen nickte und schwieg. Dann
+fragte sie:</p>
+
+<p>&raquo;Wo sollen wir eigentlich wohnen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Oh, daf&uuml;r habe ich gesorgt,&laquo; antwortete Paul
+Seebeck schnell. &raquo;Ich habe Ihnen ein f&uuml;nfzimmriges
+Haus reservieren lassen; wenn es Ihnen nicht gef&auml;llt,
+baue ich Ihnen ein anderes. Ich erlaubte mir, die
+ordnungsgem&auml;&szlig;e Reihe etwas zu durchbrechen&laquo;,
+f&uuml;gte er l&auml;chelnd hinzu.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_109" id="Page_109" title="109"></a>Frau von Zeuthen drohte scherzend mit dem
+Finger:</p>
+
+<p>&raquo;Ihr Prinzip haben Sie durchbrochen? Diese
+Schandtat h&auml;tte ich Ihnen nicht zugetraut.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Durfte ich Ihretwegen nicht eine Ausnahme
+machen?&laquo; gab Paul Seebeck zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>&raquo;Aber was werden die andern dazu sagen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die andern? Ach Gott, Gabriele, die Verwaltung
+bringt es mit sich, da&szlig; wir so viele Dinge selbst&auml;ndig
+machen m&uuml;ssen &#8211; nachtr&auml;glich wird dann
+alles gut gehei&szlig;en.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber doch nicht, wenn Sie die grundlegenden
+Prinzipien verletzen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Doch nur den Buchstaben, nicht den Sinn. &#8211;
+Ich scheue mich nicht ein Prinzip zu verletzen,
+wenn ich mir dadurch endlose Umwege spare und
+auf k&uuml;rzerem Wege gerade das Ziel, den Sinn jenes
+Prinzips erf&uuml;lle.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber betreten Sie damit nicht einen gef&auml;hrlichen
+Boden? W&auml;re es nicht vielleicht doch besser,
+jene Umwege zu machen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nicht so lange ich so genau wei&szlig;, was ich will,
+und so klar mein Ziel vor Augen sehe. &#8211; Und hier
+liegt die Sache ja so klar: Ihre Mitarbeit ist f&uuml;r
+uns alle so ungeheuer wichtig, da&szlig; es meine Pflicht
+ist, Ihnen so schnell wie m&ouml;glich volle Arbeitsm&ouml;glichkeit
+zu schaffen. Ob Fischer Petersen
+<a class="page" name="Page_110" id="Page_110" title="110"></a>einige Wochen l&auml;nger in der Baracke leben mu&szlig;,
+erscheint mir, dagegen gehalten, als von geringerer
+Bedeutung.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn aber Fischer Petersen sein Recht verlangt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn er es doch t&auml;te, Gabriele! Helfen Sie
+mir, ihn dazu zu erziehen! Und auch Sie, Herr de la
+Rouvi&egrave;re, m&uuml;ssen mir dazu helfen.&laquo;</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_111" id="Page_111" title="111"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">&raquo;Fr&auml;ulein</span> Erhardt&laquo;, meldete das Dienstm&auml;dchen,
+und Frau von Zeuthen erhob sich
+vom Divan, auf dem sie in halb liegender Stellung
+ein Buch gelesen hatte.</p>
+
+<p>Ein dunkellockiges M&auml;dchen mit schwarzen,
+tr&auml;umerischen Augen trat ein. Sie trug ein loses
+Reformkleid, das den Hals frei lie&szlig;. Unter dem
+Arme hatte sie eine schwarze dicke Aktenmappe,
+die einen ungrazi&ouml;sen Widerspruch zu der lieblichen
+Erscheinung des M&auml;dchens darstellte.</p>
+
+<p>&raquo;Gn&auml;dige Frau&laquo;, sagte sie und sank halb in die
+Knie.</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen war auf sie zugetreten, hatte
+sie bei der Hand ergriffen und fragte erstaunt:</p>
+
+<p>&raquo;Sind Sie wirklich Herrn Seebecks Privatsekret&auml;rin?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig;&laquo;, antwortete Fr&auml;ulein Erhardt. &raquo;Schon
+seit drei Monaten.&laquo;</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen nahm ihr die Aktenmappe ab
+und legte diese auf einen Tisch. Dann bat sie
+<a class="page" name="Page_112" id="Page_112" title="112"></a>Fr&auml;ulein Erhardt, im tiefen Ledersessel Platz zu
+nehmen, setzte sich selbst auf den Divan und lehnte
+sich halb zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>&raquo;Erz&auml;hlen Sie&laquo;, sagte sie dann.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe nicht viel zu erz&auml;hlen, gn&auml;dige Frau&laquo;,
+sagte Fr&auml;ulein Erhardt. &raquo;Wie manche andere kam
+ich mit vielen unklaren Erwartungen und Hoffnungen
+hierher. In den ersten Tagen f&uuml;hlte ich mich
+recht ungl&uuml;cklich hier in all der Gesch&auml;ftigkeit
+und wu&szlig;te gar nicht, was ich selbst beginnen sollte.
+Da verlangte Herr Seebeck von der Gemeinschaft
+eine Privatsekret&auml;rin &#8211; die anderen Herren hatten
+schon l&auml;ngst irgendwelche Hilfe bekommen &#8211;
+und ich meldete mich zu der Stellung. Das ist
+alles, gn&auml;dige Frau&laquo;, sagte sie und strich ihr Kleid
+glatt.</p>
+
+<p>&raquo;Und wie war es in Ihrer Stellung?&laquo; fragte Frau
+von Zeuthen.</p>
+
+<p>&Uuml;ber Fr&auml;ulein Erhardts bleiches Gesicht glitt
+etwas Farbe. Sie sagte lebhaft:</p>
+
+<p>&raquo;Es ist wundersch&ouml;n, mit Herrn Seebeck zusammenzuarbeiten.
+Nur verlangt er von den
+anderen Menschen ebensoviel wie von sich selbst.
+Und so viel Wissen und Arbeitskraft hat doch kein
+anderer Mensch.&laquo;</p>
+
+<p>Die T&uuml;r wurde aufgerissen, und na&szlig; und zerzaust
+st&uuml;rmte Felix herein.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_113" id="Page_113" title="113"></a>&raquo;Wei&szlig;t du Mutter, was Paul Herrn de la Rouvi&egrave;re
+vorgeschlagen hat? Er soll hier eine Zeitung
+gr&uuml;nden und au&szlig;erdem die Protokolle der Versammlungen
+f&uuml;hren.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sch&ouml;n, sch&ouml;n mein Junge&laquo;, sagte sie aufstehend.
+Erst jetzt gewahrte Felix Fr&auml;ulein Erhardt, die
+gleichfalls aufgestanden und etwas zur&uuml;ckgetreten
+war. Er wurde gl&uuml;hend rot im Gesicht.</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen legte ihm den Arm um die
+Schulter und f&uuml;hrte ihn Fr&auml;ulein Erhardt zu.</p>
+
+<p>&raquo;Mein Sohn Felix&laquo;, sagte sie.</p>
+
+<p>Felix verbeugte sich ungeschickt und reichte
+Fr&auml;ulein Erhardt die Hand, die jene einen Augenblick
+lang festhielt.</p>
+
+<p>&raquo;Entschuldigen Sie, ich hatte Sie nicht gesehen&laquo;,
+sagte er.</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Erhardt sch&uuml;ttelte langsam den Kopf:</p>
+
+<p>&raquo;Das tut nichts&laquo;, sagte sie und sah Felix mit
+ihren gro&szlig;en, schwarzen Augen an.</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen sah die Beiden aufmerksam
+an; dann wandte sie sich dem Tisch zu, auf den sie
+die Aktenmappe gelegt hatte, und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Willst du etwas bei uns bleiben, mein Junge?
+Fr&auml;ulein Erhardt und ich haben allerlei zu besprechen,
+was dich wohl auch interessiert. Sie will
+mich in meinen neuen Beruf als Reichsarchivarin
+einf&uuml;hren.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_114" id="Page_114" title="114"></a>&raquo;Bleiben Sie doch, Herr von Zeuthen&laquo;, sagte
+Fr&auml;ulein Erhardt bittend, und Felix setzte sich
+bescheiden in eine Ecke.</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Erhardt aber &ouml;ffnete die Aktenmappe
+und erkl&auml;rte Frau von Zeuthen, wie sie das Archiv
+bisher verwaltet hatte.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_115" id="Page_115" title="115"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">In</span> der n&auml;chsten Sitzung der Vorsteherschaft
+brachte Paul Seebeck auch die Schulfrage zur
+Sprache und legte einen Schulplan vor, den er
+gemeinsam mit Frau von Zeuthen ausgearbeitet
+hatte. Die anderen fanden nur wenig daran auszusetzen,
+und bald hatte der Plan die Form gefunden,
+in der er der Gemeinschaft vorgelegt werden sollte.
+Als die Arbeit beendet war, bat Paul Seebeck die
+anderen Herren, bei ihm zum Abendessen zu bleiben
+und teilte gleichzeitig mit, da&szlig; er auch Frau von
+Zeuthen, Nechlidow und Melchior eingeladen h&auml;tte.</p>
+
+<p>Bei Tisch fragte Frau von Zeuthen nach dem
+Schicksale des Entwurfs, und Paul Seebeck machte
+sie mit den geringf&uuml;gigen &Auml;nderungen bekannt.</p>
+
+<p>&raquo;Es ist doch fast eine Vergewaltigung&laquo;, sagte
+Edgar Allan pl&ouml;tzlich, &raquo;da&szlig; man so einem armen
+Wurme tausend Dinge beibringt, auf die es von
+selbst nie verfallen w&auml;re &#8211; lauter fertige, gepr&auml;gte
+Begriffe, ein fertiges Weltbild, eine fertige Sprache.
+Nichts darf sich das Kind selber bilden, mu&szlig; alles
+das gl&auml;ubig hinnehmen, was die fr&uuml;heren Generationen
+ihm vorgekaut haben.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_116" id="Page_116" title="116"></a>&raquo;Na, wissen Sie was&laquo;, sagte Otto Meyer. &raquo;Wollen
+Sie die Kinder gleich nach der Geburt in die W&uuml;ste
+schicken, um sich Sprache und Bildung ganz aus
+eigener Kraft zu bauen? Ich glaube, Sie w&uuml;rden
+zu Ihrer &Uuml;berraschung einige entz&uuml;ckende Orang-Utans
+vorfinden.&laquo;</p>
+
+<p>Aber Edgar Allan hatte sich in seinem Gedanken
+festgebissen und lie&szlig; sich nicht beirren. Sein Mund
+verzog sich nur ein wenig sp&ouml;ttisch, als er Melchiors
+hei&szlig;es Gesicht sah. Er wandte sich Otto
+Meyer zu und sagte ungew&ouml;hnlich lebhaft:</p>
+
+<p>&raquo;Doch nicht, Herr Referendar. Die Kinder
+w&uuml;rden doch eine gewisse Disposition im Gehirn
+von ihren kultivierten Eltern mitbekommen haben,
+die sie eben doch auf eine etwas h&ouml;here Stufe als
+den Orang-Utan stellen w&uuml;rde.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aha!&laquo; sagte Otto Meyer. &raquo;Da setzen Sie aber
+die kultivierten Eltern voraus. Seien Sie jetzt
+aber etwas radikaler in Ihren Gedanken und setzen
+Sie den Fall, da&szlig; alle Kinder von Weltbeginn an
+in die W&uuml;ste geschickt worden w&auml;ren. Dann h&auml;tten
+sie keine kultivierten Eltern, mithin h&auml;tten die
+Kinder eben auch nicht jene Kultur-Disposition im
+Gehirn, w&auml;ren also doch reine Orang-Utans.&laquo;</p>
+
+<p>Edgar Allan lehnte sich in seinem Stuhle zur&uuml;ck
+und legte Messer und Gabel hin.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_117" id="Page_117" title="117"></a>&raquo;Sie wollen mich aufs Glatteis f&uuml;hren, Herr
+Referendar, und sprechen dabei nur meinen Gedanken
+aus.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt hielten alle mit dem Essen ein. Ganz leise
+klirrte es, als die E&szlig;ger&auml;te auf die Teller und
+Messerb&auml;nke gelegt wurden. Edgar Allan sah sich
+im Kreise um und sagte l&auml;chelnd:</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig; wirklich nicht, ob mein Gedanke eine
+so ungeteilte Aufmerksamkeit verdient. Er
+ist nicht viel mehr als ein logisches Experiment,
+doch scheint er mir wert zu sein, zu Ende gedacht
+zu werden. &#8211; Sehen Sie, meine Herren, und Sie,
+gn&auml;dige Frau, die so liebensw&uuml;rdig sind, zuzuh&ouml;ren.
+Ich meine folgendes: eine gewisse Disposition zur
+Weiterentwicklung mu&szlig; schon im Menschenaffen
+gelegen haben, der unser aller Stammvater ist, und
+zwar schon lange vor der Sprache, mithin vor
+Logik, geformten Begriffen und M&ouml;glichkeit einer
+Fortentwicklung anders als durch die Vererbung
+jener Kulturdisposition. Die Entwicklung ging
+ungeheuer langsam, aber sie schritt fort. Da kommt
+mit der Sprache ein ganz neues Element herein,
+ein v&ouml;llig unnat&uuml;rliches: die Erfahrungen werden
+nicht nur durch Vererbung jener Kulturdisposition
+den folgenden Geschlechtern &uuml;berliefert, sondern
+in rein abstrakter Form, sie werden gesagt, und das
+Kind lernt sie als etwas zun&auml;chst Fremdes, ihm unnat&uuml;rlich
+<a class="page" name="Page_118" id="Page_118" title="118"></a>Hohes. Und so geht das weiter. Mit
+Hilfe der Sprache bekommen die Begriffe ein
+eigenes Leben, eine selbstt&auml;tige Existenz, und
+immer gr&ouml;&szlig;er wird die Kluft zwischen dem nat&uuml;rlichen
+Menschen, der ja auch immer mit einer, eine
+Nuance h&ouml;heren, Kulturdisposition geboren wird,
+und dem, zu dem die Sprache mit allen ihren Anh&auml;ngseln
+uns macht. Wenn wir unseren Kindern
+weder Sprache noch sonst etwas mitgeben w&uuml;rden,
+als nur unsere Kulturdisposition, w&uuml;rden sie kurz
+gesagt harmonische und gl&uuml;ckliche Menschen sein
+und nicht jenen Zwist zwischen dem eigenen und
+dem angelernten Ich in sich tragen, der uns alle
+verzehrt.&laquo; &#8211; Nach einer kurzen Pause fuhr er fort:
+&raquo;Stellen Sie sich einen Eskimo vor, den man aus
+Gr&ouml;nland nach Berlin gebracht hat, und der sich
+dort im Laufe einiger Monate akklimatisiert hat.
+Er tr&auml;gt unsere Kleidung, benimmt sich korrekt,
+aber trotz alles angelernten Anstandes, den das
+Milieu ihm aufdr&auml;ngt, in dem er sich gezwungenerma&szlig;en
+befindet, gehen seine Gedanken und Triebe
+ganz andere, viel primitivere, brutalere Wege.
+Er spielt dauernd Theater. Statt der rauhen Prosa,
+die ihm nat&uuml;rlich w&auml;re, mu&szlig; er unausgesetzt hohe
+Verse sprechen und diese mit einstudierten Gesten
+und Mienen begleiten. Der gute Mann hat im Laufe
+einiger Monate oder Jahre eine Entwicklung, die
+<a class="page" name="Page_119" id="Page_119" title="119"></a>naturgem&auml;&szlig; Tausende von Jahren gebraucht h&auml;tte,
+&uuml;berspringen m&uuml;ssen, und seine ganze Existenz
+wird zu einer einzigen L&uuml;ge. Seien wir einmal
+ehrlich: ist das nicht ganz genau unsere Lage? &#8211;
+Ich &uuml;berlasse Ihnen, die Parallele zwischen der
+Eingew&ouml;hnung des Eskimos in unsere Kultur und
+unserer Erziehung zu ziehen.&laquo;</p>
+
+<p>Minutenlanges Schweigen folgte. Dann ergriff
+Herr von Rochow das Wort:</p>
+
+<p>&raquo;Ich finde Ihren Gedanken wundervoll und unwiderleglich.
+Und doch, sehe ich die Sache von
+einer anderen Seite an, komme ich zu einem ganz
+anderen Resultat. Wenn ich mir n&auml;mlich einfach
+den jetzigen Menschen und seine Sprache vorstelle,
+w&uuml;rde ich sagen, da&szlig; Sprache und Begriffe nicht
+mit ihm Schritt gehalten haben, sondern zur&uuml;ckgeblieben
+sind und tats&auml;chlich nicht das auszudr&uuml;cken
+verm&ouml;gen, was wir denken und f&uuml;hlen.
+Und doch finde ich Ihre Gedanken unwiderleglich.&laquo;</p>
+
+<p>Er schwieg; Edgar Allan sah sich im Kreise um,
+als erwartete er weitere Meinungs&auml;u&szlig;erungen. Sein
+Blick blieb an Melchior haften, der ihn mit aufgerissenen
+Augen und offenem Munde anstarrte.</p>
+
+<p>Jakob Silberland r&auml;usperte sich und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Wie sonderbar. Vor einigen Jahren, als wir
+sieben noch ganz allein hier auf der Insel waren,
+f&uuml;hrten wir ein Gespr&auml;ch &uuml;ber Staatsformen im
+<a class="page" name="Page_120" id="Page_120" title="120"></a>Verh&auml;ltnis zum Menschen. Und auch dort stie&szlig;en
+wir auf denselben Widerspruch, da&szlig; sie sowohl als
+fortgeschritten, wie auch als zur&uuml;ckgeblieben in bezug
+auf den Menschen angesehen werden k&ouml;nnten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Seltsam, da&szlig; derselbe Widerspruch heute in
+ganz anderem Zusammenhange wieder auftaucht.
+Ach, ich entsinne mich deutlich jenes Gespr&auml;ches&laquo;,
+sagte Herr von Rochow.</p>
+
+<p>&raquo;Na, das Problem ist doch ganz dasselbe&laquo;, sagte
+Otto Meyer. &raquo;Formen, die die Menschen im Zusammenspiele
+schaffen, in ihrem Verh&auml;ltnisse zum
+einzelnen Menschen. Apropos &raquo;Problem&laquo;, Herr
+Melchior, haben Sie es gel&ouml;st?&laquo;</p>
+
+<p>Aber Melchior h&ouml;rte ihn nicht.</p>
+
+<p>Edgar Allan ergriff wieder das Wort: &raquo;Ich finde
+etwas Niederdr&uuml;ckendes darin, da&szlig; die Arbeit des
+Einzelnen durch diese geistigen Verkehrsmittel
+zum Allgemeingut werden. Jeder Idiot schmarotzt
+an uns, saugt unsere Gedanken aus, verw&auml;ssert sie
+bis zur Karrikatur &#8211; siehe die christliche Kirche
+im Verh&auml;ltnis zu ihrem Gr&uuml;nder &#8211; und ist dann
+stolz auf seine Eigenschaft als Kulturmensch. Ich
+sehe darin eine Ungerechtigkeit.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein&laquo;, sagte Jakob Silberland, &raquo;Sie irren. Sie
+gehen von einer l&auml;ngst abgetanen Weltanschauung
+aus. Sie vergessen den springenden Punkt: es
+g&auml;be keinen gro&szlig;en Menschen, wenn es nicht ein
+<a class="page" name="Page_121" id="Page_121" title="121"></a>Milieu gegeben h&auml;tte, das ihn zeugte. Die gro&szlig;en
+Menschen schulden ihre Existenz der Masse, und
+diese wiederum ihnen. Das ist ein ewiges Wechsel-
+und Zusammenspiel; eine nat&uuml;rliche Funktion des
+gro&szlig;en Organismus Menschheit.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie haben viel gelernt, verehrter Herr Doktor
+Silberland,&laquo; sagte Edgar Allan mit leichtem Spotte.
+&raquo;Au&szlig;er den Begriffsbrillen, die die g&uuml;tige Menschheit
+so liebensw&uuml;rdig ist, uns in den ersten Jahren
+unserer Kindheit auf unsere Nase zu setzen, haben
+Sie auch noch einige gr&uuml;ne und blaue und seltsam
+gestrichelte aus eigener Initiative aufgesetzt. Ich
+beneide Sie um Ihr geordnetes Weltbild, bezweifle
+aber doch, da&szlig; es sich mit der Wirklichkeit deckt.
+Wenn ich von dem mir Eingepr&auml;gten absehe,
+wenn ich unbefangen auf die Wirklichkeit sehe &#8211;
+etwas, wozu Sie als gebildeter Mensch &uuml;berhaupt
+nicht mehr imstande sind &#8211; sehe ich statt unserer
+fiktiven Ordnung in der Welt nur ein ungeheures,
+r&auml;tselhaftes Chaos.</p>
+
+<p>Alle unsere Moralbegriffe, Staatsformen, Sprache,
+Gedanken sind doch nur ganz schwache, ganz schiefe
+Reflexe der inneren Entwicklungsgesetze der
+Menschheit, die wir nicht kennen und nie kennen
+werden. Denn diese kindlichen Abstraktionen
+haben nicht nur ein eigenes Leben bekommen und
+entfernen sich demnach mehr und mehr von den
+<a class="page" name="Page_122" id="Page_122" title="122"></a>Realit&auml;ten, sie werden auch als prim&auml;r angesehen,
+und man soll sich nach ihnen richten. Das ist nicht
+das Problem der Menschheit, aber der Wahnsinn
+der Menschheit. Und jeder Einzelne von uns hat
+keine andere Aufgabe, als soviel wie m&ouml;glich das
+Gelernte zu vergessen und in die Tiefen des eigenen
+Ichs herabzusteigen, zu seinem eigenen Wesen, und
+sich dort &uuml;ber seine Stellung im Chaos zu orientieren.
+Auf irgend einem, noch so kleinen Gebiete wird er
+sich Meister wissen, dort seine Arbeit ausf&uuml;hren
+und die &uuml;brige Menschheit ihrem Schicksal &uuml;berlassen.
+Wenn jeder so d&auml;chte, k&auml;men wir vielleicht
+wieder in eine gesunde Entwicklung hinein. Wenn
+wir auf das forzierte Tempo verzichten, was die
+Menschheit bis jetzt angewendet hat, und uns
+einige millionenmal langsamer entwickeln, wird
+vielleicht noch einmal etwas aus den Menschen
+statt der Schattenwesen, die wir jetzt darstellen.
+Was meinen Sie, Seebeck?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich finde den Gedankengang sehr interessant.
+Auch sehr wertvoll. Es ergeben sich aus ihm aber
+so viele Perspektiven, da&szlig; man Zeit braucht, um zu
+ihm Stellung zu nehmen. So im Augenblicke kann
+ich es nicht. Ich werde dar&uuml;ber nachdenken.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt sprang Nechlidow mit einer solchen Heftigkeit
+auf, da&szlig; der Stuhl umfiel, auf dem er gesessen
+hatte. Er schrie:</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_123" id="Page_123" title="123"></a>&raquo;Es wird ja immer toller; jetzt ist es aber wirklich
+genug. Ich wenigstens habe keine Lust mehr,
+l&auml;nger an der Kom&ouml;die mitzuspielen. Wir kamen
+hierher, um die gro&szlig;en Menschheitsgedanken zu
+verwirklichen, die gro&szlig;e, ruhige Linie auszuf&uuml;llen.
+Und was geschieht? Hier ein Kompromi&szlig;chen und
+dort ein Kompromi&szlig;chen; &uuml;berall Halbheiten, nichts
+Ganzes. Alles Wankelm&uuml;tigkeit und Wunsch nach
+dem behaglichen, ruhigen Fahrwasser, nur um
+Gotteswillen keinen energischen Schritt. Was ist
+aus den Idealen geworden, mit denen wir hierherzogen?
+Phrasen, Worte, Andeutungen, keine Tat,
+keine Wirklichkeit.</p>
+
+<p>Und heute kommt die Krone des Ganzen. Hier
+im Kreise der Gr&uuml;nder stellt Herr Allan seine
+logischen Experimente an, die weiter nichts sind,
+als eine Beschimpfung der menschlichen Vernunft,
+eine Erniedrigung der Soziet&auml;t. Wenn Herr Allan
+den dummen Orang-Utan wirklich so viel h&ouml;her
+stellt, als den vern&uuml;nftigen Menschen, mag er zu
+den Orang-Utans gehen. Aber statt ihn zurechtzuweisen,
+h&ouml;ren Sie sein kindisches und frivoles
+Geschw&auml;tz ernsthaft an, antworten ihm sogar,
+wollen sich die Sache sogar noch genauer
+&uuml;berlegen.</p>
+
+<p>Ich aber glaube an die menschliche Vernunft, die
+vielleicht sogar einmal in Allans Nachkommen die
+<a class="page" name="Page_124" id="Page_124" title="124"></a>Sehnsucht zum Affen ert&ouml;ten und volle Menschen
+aus ihnen machen wird.</p>
+
+<p>Euch gebe ich auf; aber noch nicht die Sache,
+mit der ihr nur noch spielt. Ich werde versuchen,
+ob ich sie noch aus dem Schlamme retten kann,
+in dem ihr sie festgefahren habt.&laquo;</p>
+
+<p>Er verlie&szlig; das Zimmer und schlug die T&uuml;r mit
+Gewalt hinter sich zu.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_125" id="Page_125" title="125"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Edgar</span> Allan und Felix waren am Ende der
+Stra&szlig;e an der linken Seite der Bucht angelangt.
+Vor ihnen lag die ziemlich steile Felswand, wo es
+nur an einigen, und ziemlich weit von einander
+abliegenden Pl&auml;tzen m&ouml;glich war, H&auml;user zu bauen.</p>
+
+<p>Beide trugen, des str&ouml;menden Regens wegen,
+dicke Gummim&auml;ntel und hohe Stiefel.</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Sie, Felix&laquo;, sagte Edgar Allan stehen
+bleibend und wandte sein scharfes Gesicht dem
+Knaben zu. &raquo;Hier ist der gebahnte Weg zu Ende, und
+die Steine fangen an. Hinter uns liegt die behagliche
+W&auml;rme der Masse.&laquo; Die hagere, sehnige Gestalt
+hoch aufrichtend, sagte er, &raquo;ich bin der Erste, der
+hier hinaus zieht, aber glauben Sie mir, die andern
+sechs werden mir hierher folgen. Auch Nechlidow,
+obgleich er mich ermorden k&ouml;nnte, wenn ich es
+ihm jetzt sagte.&laquo;</p>
+
+<p>Felix sah dem starken und einsamen Manne halb
+bewundernd und halb zweifelnd ins Gesicht. Er
+antwortete nichts.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_126" id="Page_126" title="126"></a>Dann stiegen sie weiter, &uuml;ber die Felsbl&ouml;cke und
+durch die sch&auml;umenden Regenb&auml;che, und suchten
+einen Platz f&uuml;r Allans neues Haus.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_127" id="Page_127" title="127"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">In</span> diesem Jahre war die Regenzeit heftiger als je
+vorher und machte fast jede Besch&auml;ftigung
+au&szlig;er dem Hause unm&ouml;glich. Es war ein Gl&uuml;ck, da&szlig;
+Edgar Allan bei der Stadtanlage so genau alle
+Eventualit&auml;ten berechnet hatte; sonst w&auml;re wohl
+manches der kleinen G&auml;rtchen fortgeschwemmt
+worden.</p>
+
+<p>Paul Seebeck benutzte die Zeit der allgemeinen
+Unt&auml;tigkeit zur Durchf&uuml;hrung eines Planes, den
+er schon lange gehegt hatte. Allw&ouml;chentlich fanden
+jetzt im Volkshause Vortr&auml;ge statt, die dann in
+der n&auml;chsten Nummer der von Herrn de la Rouvi&egrave;re
+mit Geschick geleiteten &raquo;Inselzeitung&laquo; gedruckt
+wurden.</p>
+
+<p>Paul Seebeck selbst hatte den ersten Vortrag gehalten;
+ihm folgte Jakob Silberland mit einem
+ganzen Zyklus volkswirtschaftlicher Vortr&auml;ge, und
+nach ihm behandelte Herr von Rochow verschiedene
+sch&ouml;ngeistige Gebiete.</p>
+
+<p>Die &raquo;Inselzeitung&laquo; erwies sich nicht nur als notwendig,
+sondern auch als Machtfaktor: der Kr&uuml;ppel
+hatte der &ouml;ffentlichen Kritik einen breiten Raum
+geschaffen, und mancher sprach lieber hier unter
+dem Schutze des Redaktionsgeheimnisses seine
+<a class="page" name="Page_128" id="Page_128" title="128"></a>Meinung aus, als in den Versammlungen der Gemeinschaft.
+Herr de la Rouvi&egrave;re versah die Eingesandts
+mit zustimmenden oder abf&auml;lligen Glossen,
+und deshalb galt es, sich mit ihm gut zu stellen,
+wenn man einen Erfolg w&uuml;nschte. Und Herr de
+la Rouvi&egrave;re empfing die Besucher an seinem Schreibtische,
+der so niedrige Beine wie der eines Knaben
+hatte, und besprach stundenlang mit dem Besucher
+dessen Anliegen, so da&szlig; jener mit der Gewi&szlig;heit
+davon ging, da&szlig; seine Sache in guten H&auml;nden lag.</p>
+
+<p>Gelegentlich suchte Herr de la Rouvi&egrave;re Frau
+von Zeuthen auf, und dort traf er zuweilen um
+die Teestunde Paul Seebeck, der einige freundliche
+Fragen an ihn richtete, die er bescheiden beantwortete,
+worauf er gew&ouml;hnlich bald fortging.</p>
+
+<p>Als Frau von Zeuthen und Paul Seebeck so
+eines Tages allein geblieben waren, sagte sie:</p>
+
+<p>&raquo;Ist es nicht eine Freude, zu sehen, wie er sich
+hier entwickelt. Da haben Sie wieder einem
+Menschen freie Entfaltungsm&ouml;glichkeit gegeben,
+einen N&auml;hrboden, wo er Wurzeln schlagen kann.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck antwortete nicht; Frau von Zeuthen
+sah ihn mit ihren gro&szlig;en, strahlenden Augen an
+und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Sie stehen so sehr im Tagesbetriebe, m&uuml;ssen
+sich zu sehr mit widerw&auml;rtigen Kleinigkeiten
+herumschlagen. H&auml;tten Sie etwas mehr Distanz &#8211;
+<a class="page" name="Page_129" id="Page_129" title="129"></a>was Sie der Natur der Sache nach im Augenblicke
+nicht haben k&ouml;nnen &#8211; w&uuml;rden Sie sehen, wieviel
+Sie schon erreicht haben. Selbst in Nechlidows
+&Uuml;berspanntheit liegt so viel Gr&ouml;&szlig;e, die geweckt
+zu haben Ihr Verdienst ist.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck war aufgestanden und ging nerv&ouml;s
+im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor Frau
+von Zeuthen stehen:</p>
+
+<p>&raquo;Es gibt Augenblicke&laquo;, sagte er, &raquo;wo ich meine,
+da&szlig; Nechlidow recht hat. Wenn ich aber dann an
+meinem Schreibtische sitze, meine Papiere heraussuche
+und mich frage, was ich denn h&auml;tte anders
+machen sollen, dann finde ich nichts. Es gibt so
+viele Gegenst&auml;nde bei der Verwaltung eines Staates,
+die einfach in einer ganz bestimmten Weise und
+nicht anders erledigt werden m&uuml;ssen, ganz gleichgiltig,
+ob man konservativ oder liberal oder sonst
+etwas ist. Vom gr&uuml;nen Tische sehen manche Dinge
+eben ganz anders aus, als in der Praxis, und besonders
+f&uuml;r den, der die Verantwortung tr&auml;gt.</p>
+
+<p>Ich verstehe jetzt so gut eine Erscheinung, die
+mich fr&uuml;her so oft erstaunt hat: wenn in einem
+parlamentarisch regierten Lande die bisherige
+Oppositionspartei ans Ruder kommt und ihre bisherigen
+F&uuml;hrer Minister werden, erfolgt fast immer
+ein Bruch zwischen ihnen und ihrer eigenen Partei,
+die ihnen den Verrat an den Parteiprinzipien vorwirft.
+<a class="page" name="Page_130" id="Page_130" title="130"></a>Die Sache liegt nat&uuml;rlich einfach so, da&szlig;
+unz&auml;hlige Dinge &#8211; namentlich in der Verwaltung &#8211;
+mit Prinzipien gar nichts zu tun haben und ihrer
+Natur nach erledigt werden m&uuml;ssen. &#8211; Ich habe
+mir schon fr&uuml;her das gedacht, aber jetzt begreife
+ich es erst wirklich.</p>
+
+<p>Hier kann man nat&uuml;rlich keine Grenze ziehen;
+es ist aber doch ein Unterschied, ob man &uuml;berhaupt
+ein Ziel vor Augen hat, oder, auf ein paar bequeme
+Schlagw&ouml;rter gest&uuml;tzt, alles ruhig fortwursteln l&auml;&szlig;t.
+In dieser Beziehung habe ich ein reines Gewissen.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck blieb stehn; er bi&szlig; sich auf die
+Lippen und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Wissen Sie, Gabriele, was ich mir selbst in
+jenen einsamen Stunden sage, wo man ehrlich
+gegen sich selbst ist? Ich will es Ihnen bekennen:
+wir schaffen hier nicht die realen Werte, die wir
+schaffen wollten, und unser ganzes Werk war vom
+ersten Augenblick an eine Unm&ouml;glichkeit. Das
+unendliche Leben l&auml;&szlig;t sich &uuml;berhaupt nur in einem
+Sinne formen, und das ist in der Kunst, die immer
+einseitig und beschr&auml;nkt und deshalb vollkommen
+ist. Silberland hat mich einmal einen K&uuml;nstler
+genannt, und ich f&uuml;hle, da&szlig; er recht hat, obwohl
+ich weder dichte noch male. Aber wie jeder schaffende
+K&uuml;nstler hatte ich ein starres, unvollkommenes
+Material, in das ich den rauschenden Strom des
+<a class="page" name="Page_131" id="Page_131" title="131"></a>Lebens zw&auml;ngen wollte. Das waren die staatlichen
+Begriffe. &#8211; Wie hat doch Edgar Allan recht,
+und wie Nechlidow! &#8211; Aber statt zu sagen: als
+K&uuml;nstler gebe ich eine ganz einseitige Stilisierung
+des Lebens, aber ich forme nimmermehr das Leben
+selbst, sagte ich: hier ist das Leben in seinen nat&uuml;rlichen
+Formen. Ich habe die unendliche Mannigfaltigkeit
+des Lebens untersch&auml;tzt und sehe, da&szlig;
+es an sich weder begreiflich noch fa&szlig;bar ist, wenn
+man es eben nicht als K&uuml;nstler einseitig stilisiert,
+und es in seinem Reichtum vorbeifluten l&auml;&szlig;t.</p>
+
+<p>Und sehen Sie, Gabriele, dann sage ich mir:
+wir schufen hier nicht den Staat, und er wird
+nie geschaffen werden, wenn er sich nicht selbst
+aufbaut, wir schufen nur eine Fiktion des Staates,
+lassen die andern ein Theaterst&uuml;ck auff&uuml;hren,
+dessen Autoren und Regisseure wir sind. Aber
+sie spielen nur so lange Theater, wie sie in unserem
+Bannkreise sind, nicht eine Minute l&auml;nger! Dann
+gehen sie nach Hause und f&uuml;hren ein Leben, von
+dem wir nichts wissen, und das uns auch nicht
+interessiert.</p>
+
+<p>Aber dann, Gabriele, dann sehe ich Menschen
+wie Silberland, die ohne zu zweifeln, arbeiten
+und an die Vollendung glauben. Und dann
+glaube ich auch selbst wieder daran, da&szlig; aus
+der Kom&ouml;die Wahrheit werde.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_132" id="Page_132" title="132"></a>Er setzte sich in den tiefen Ledersessel, st&uuml;tzte
+das Kinn in die Hand und sah vor sich in den Raum.
+Frau von Zeuthen stand auf, trat vor ihn hin und
+legte ihre beiden H&auml;nde ihm auf die Schultern:</p>
+
+<p>&raquo;Seebeck, ich gab Ihnen meinen Segen zu diesem
+Werke; ich gebe ihn Ihnen noch einmal zu seiner
+Vollendung.&laquo;</p>
+
+<p>Er sank vor ihr nieder und umschlang mit solcher
+Heftigkeit ihre Knie, da&szlig; die hohe Frau schwankte.
+Da fa&szlig;te er ihre H&auml;nde und dr&uuml;ckte sie an sein Gesicht:</p>
+
+<p>&raquo;Gabriele&laquo;, sagte er, &raquo;ich bin so einsam, so
+f&uuml;rchterlich einsam. Und die N&auml;chte sind so lang.
+Wenn alle die qu&auml;lenden Gedanken kommen, dann
+sehne ich mich nach Ihnen, Gabriele, nach dir, du
+Hohe, Reine. Komm zu mir mit deinen k&uuml;hlen,
+wei&szlig;en H&auml;nden. Ich bin so f&uuml;rchterlich allein.&laquo;</p>
+
+<p>Sie hob ihn auf und zog ihn an sich. Er lehnte
+seinen Kopf an ihre Brust und schluchzte.</p>
+
+<p>Langsam f&uuml;hrte sie ihn zum Divan. Aber da
+sank Seebeck aufs neue vor ihr hin und barg sein
+Gesicht in ihren Scho&szlig;. Der gro&szlig;e, starke Mann
+bebte am ganzen K&ouml;rper, sie strich ihm lind &uuml;ber
+das Haar.</p>
+
+<p>&raquo;Mut, Mut!&laquo; fl&uuml;sterte sie ihm zu. &raquo;Ich kann
+nicht zu dir kommen; jetzt kann ich nicht zu dir
+kommen. Du w&uuml;rdest dein Werk vergessen und
+<a class="page" name="Page_133" id="Page_133" title="133"></a>das darfst du nicht. Diese Insel ist der Inhalt
+deines Lebens; ihr mu&szlig;t du leben, wenn es n&ouml;tig
+ist, mu&szlig;t &#8211; wirst du f&uuml;r sie zu sterben verstehen.
+Ihretwegen mu&szlig;t du das Opfer deines Menschentums
+bringen.&laquo; Sie beugte sich tief zu ihm hinab
+und legte ihre k&uuml;hle Wange an seine hei&szlig;e:</p>
+
+<p>&raquo;Glaubst du denn nicht, in wieviel schweren
+N&auml;chten ich mich nach dir gesehnt habe, du starker,
+du guter Mann. Aber ich wei&szlig;, da&szlig; ich dich deinem
+Werke entziehen w&uuml;rde, statt es zu f&ouml;rdern. Und
+das darf nicht sein. Was ist das Liebesgl&uuml;ck zweier
+armseliger Menschlein im Vergleich mit deinem
+Werke! Sei stark,&laquo; sagte sie, w&auml;hrend sie sich
+wieder aufrichtete, &raquo;dazu will ich dir helfen. Aber
+deine Einsamkeit ist dein gr&ouml;&szlig;tes Gut, sie gebar
+die neue Gemeinschaft, sie wird sie zur H&ouml;he erziehen.
+Aber du darfst kein armer, schwacher
+Mensch werden: mehr wie ein Mensch mu&szlig;t du sein.&laquo;</p>
+
+<p>Da erhob Paul Seebeck den Kopf aus Frau von
+Zeuthens Scho&szlig;. Seine Augen wurden gro&szlig; und starr.
+Langsam und schwer sprach er die Worte:</p>
+
+<p>&raquo;Und ich schw&ouml;re Ihnen, Gabriele, von dieser
+Stunde an nur meinem Werke zu leben, und wenn
+es n&ouml;tig ist, daf&uuml;r zu sterben.&laquo;</p>
+
+<p>Er stand schnell auf und trat ans Fenster. Durch
+den str&ouml;menden Regen blinkten einige Lichter,
+einige erleuchtete Fenster. Langsam drehte er
+<a class="page" name="Page_134" id="Page_134" title="134"></a>sich herum und sah erst jetzt, da&szlig; das Zimmer fast
+dunkel war. Nur im Umri&szlig; sah er Frau von Zeuthen
+auf dem Divan sitzen. Mit gesenktem Haupte und
+schleppenden Schritten trat er auf sie zu, ergriff ihre
+Hand, die sie ihm nicht entzog, hielt sie lange in
+der seinen und zog sie dann langsam an seine Lippen.</p>
+
+<p>Da erhob sich Frau von Zeuthen:</p>
+
+<p>&raquo;Geh jetzt&laquo;, sagte sie fast hart, &raquo;geh zu deiner
+Arbeit.&laquo;</p>
+
+<p>Er neigte kaum merklich den Kopf und verlie&szlig;
+mit schnellen Schritten das Zimmer.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_135" id="Page_135" title="135"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Der</span> niederstr&ouml;mende Regen wurde schw&auml;cher.
+Man sah statt des ewig gleichm&auml;&szlig;igen Graus
+am Himmel wieder Wolken, die langsam und schwer
+weiterzogen. Zuweilen blickte sogar ein blaues
+St&uuml;ckchen Himmel aus ihnen hervor. Und endlich,
+endlich war der Himmel wieder rein, und die Sonne
+schien.</p>
+
+<p>Ein schwerer, warmer Brodem stieg von den
+G&auml;rten auf und lag wie ein Dunst von Leben und
+Fruchtbarkeit &uuml;ber der Stadt. Die Wasserrinnen
+an den Abh&auml;ngen versiegten, in wenigen Tagen
+waren die Stra&szlig;en wieder trocken.</p>
+
+<p>Da wollte Paul Seebeck Frau von Zeuthens
+Kindern eine Freude machen und lie&szlig; sich zwei
+kr&auml;ftige Pferdchen mit dicken, behaarten Beinen
+kommen.</p>
+
+<p>An einem Sonntage machten sich Hedwig und
+Felix auf, um das Innere der Insel zu erforschen.
+In den Satteltaschen hatten sie Essen f&uuml;r sich mit,
+und auf den R&uuml;cken der Pferdchen hatten sie Heu
+aufgeschnallt.</p>
+
+<p>Sie ritten langsam die Hauptstra&szlig;e hinauf; als
+sie aber die Plattform erreichten, auf der das Volkshaus
+<a class="page" name="Page_136" id="Page_136" title="136"></a>stand, stiegen sie ab, um die Tiere nicht zu
+&uuml;beranstrengen, und f&uuml;hrten sie am Z&uuml;gel die Serpentinen
+hinauf. Als sie auf dem Hochplateau standen,
+sahen sie die Pyramide des Vulkans riesenhaft
+und scharf in die H&ouml;he ragen. Ein ganz d&uuml;nnes
+W&ouml;lkchen &#8211; kaum mehr als ein Schleier &#8211; schwebte
+&uuml;ber seiner Spitze.</p>
+
+<p>&raquo;Da m&uuml;ssen wir hinauf&laquo;, sagte Felix und half
+Hedwig wieder in den Sattel, &raquo;was meinst du?&laquo;</p>
+
+<p>Hedwig gab mit der Peitsche ihrem Pferdchen
+einen kleinen Schlag:</p>
+
+<p>&raquo;Komm&laquo;, rief sie und galoppierte voran.</p>
+
+<p>Sie waren immer noch auf dem gebahnten
+Wege, der der Arbeit am Staubecken wegen angelegt
+worden war, und nach einer halben Stunde
+hatten sie dieses erreicht. Sie sprangen von den
+Pferden, an denen der Schwei&szlig; herunterrann und
+setzten sich auf einige Steinbl&ouml;cke.</p>
+
+<p>Vor ihnen lag ruhig der See, aber von dem Meere
+her klang ein donnerndes Get&ouml;se zu ihnen hin.</p>
+
+<p>&raquo;Wei&szlig;t du, was Allan mir erz&auml;hlt hat?&laquo; fragte
+Felix. &raquo;Er will im See einen k&uuml;nstlichen Schlammboden
+machen und Fische hineinsetzen. Er sagte,
+das w&auml;re gar nicht so schlimm, er w&uuml;&szlig;te nur nicht,
+wie er verhindern sollte, da&szlig; die Fische mit dem
+Wasserfalle ins Meer gerissen w&uuml;rden. Aber das
+findet er sicher auch noch heraus!&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_137" id="Page_137" title="137"></a>&raquo;Fische? Wie nett. Aber dann soll er auch V&ouml;gel
+hierherbringen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Daran hat er auch schon gedacht; er will &uuml;berhaupt
+alle m&ouml;glichen Tiere hier wild aussetzen. Er
+wei&szlig; nur noch nicht welche. Aber er sagte, da&szlig;
+nach zehn Jahren die Insel alle m&ouml;glichen Pflanzen
+und Tiere haben wird. Ich soll ihm bei der Arbeit
+helfen. Du, das wird wundervoll!&laquo; rief er.</p>
+
+<p>&raquo;Aber wie sollen hier Tiere leben?&laquo; fragte Hedwig
+zweifelnd und sah sich in der &ouml;den Steinw&uuml;ste um.</p>
+
+<p>&raquo;Das geht schon. Allan sagte, das schwerste
+w&auml;ren die S&auml;ugetiere. Mit den Fischen ist es nicht
+so schlimm, er will Tang massenhaft aus dem Meere
+hierherbringen und dann S&uuml;&szlig;wasserpflanzen hineinstecken.
+Wenn das alles richtig in Gang gekommen
+ist, bringt er Insekten und zuletzt die Fische. &#8211;
+Und mit den V&ouml;geln, sagt er, w&auml;re die Sache einfacher:
+einige M&ouml;ven br&uuml;ten ja schon. Man sollte
+nur an irgend einer Stelle, die so weit von der Stadt
+weg ist, da&szlig; der Gestank nicht hinkommt, regelm&auml;&szlig;ig
+tote Fische hinlegen, aber furchtbar viele
+nat&uuml;rlich, und dann w&uuml;rden die V&ouml;gel schon kommen.
+Aber wie er das mit den S&auml;ugetieren machen will,
+wei&szlig; er noch nicht recht; er sagt, es k&ouml;nnten zun&auml;chst
+nur Tiere sein, die von Fischen oder V&ouml;geln
+leben. &#8211; Und bei der ganzen Arbeit soll ich ihm
+helfen, ist das nicht wundervoll?&laquo; rief er.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_138" id="Page_138" title="138"></a>Hedwig sah voll Neid ihren Bruder an. Aber dann
+ver&auml;nderte sich ihr Gesicht. Fast furchtsam
+fragte sie:</p>
+
+<p>&raquo;Du Felix, sag mal, glaubst du, da&szlig; alles noch
+gut geht?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Weshalb soll es denn nicht gut gehen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, siehst du, ich ging neulich etwas mit Herrn
+de la Rouvi&egrave;re spazieren, und da kam Nechlidow,
+und die beiden sprachen zusammen. Nechlidow
+war ganz w&uuml;tend und sagte immer wieder, da&szlig;
+Paul alles zerst&ouml;rt h&auml;tte. Dann sagte er auch etwas
+zu mir, was ich nicht verstand&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nechlidow ist ein Idiot!&laquo; unterbrach sie Felix
+mit Nachdruck. &raquo;Allan sagt, da&szlig; gerade jetzt alles
+gut gehen wird, seitdem Paul eingesehen hat, da&szlig;
+er alles allein machen mu&szlig; und nicht mehr darauf
+h&ouml;rt, was alle die da sagen.&laquo;</p>
+
+<p>Aus irgend einem Grunde war es Hedwig
+peinlich, dies Gespr&auml;ch fortzusetzen. Sie sagte,
+w&auml;hrend sie ihrem Pferdchen den dicken Hals
+streichelte:</p>
+
+<p>&raquo;Sollen wir nicht jetzt zum Wasserfall reiten?
+Er ist sicher wundersch&ouml;n.&laquo;</p>
+
+<p>Dagegen hatte Felix nichts einzuwenden, und
+so bestiegen sie ihre Pferde und ritten dem Staubecken
+entlang auf das Meer zu. Bald schob sich
+ein breiter Steinwall zwischen sie und das Becken
+<a class="page" name="Page_139" id="Page_139" title="139"></a>und warf einen tiefen und k&uuml;hlen Schatten auf sie.
+Sie trieben ihre Pferde zum Galopp an und standen
+pl&ouml;tzlich einige Schritte vor dem steilen Abfall
+zum Meere. Sie h&ouml;rten ein Donnern, Zischen und
+Brausen, konnten den Wasserfall aber nicht sehen.
+Rasch entschlossen sprangen sie von den Pferden,
+lie&szlig;en sie stehen und kletterten an dem Steinwalle
+empor. Er war h&ouml;her, als sie sich ihn vorgestellt
+hatten, aber endlich standen sie doch oben. Sie
+sahen sich um: hinter ihnen streckten sich die drei
+Vorgebirge ins Meer, zwischen denen die Stadt und
+die Irenenbucht eingebettet lagen, und vor ihnen
+das gro&szlig;e Wasserbecken, das in seiner ganzen
+Breitseite zum Meere hinab &uuml;berflo&szlig;. Sie sahen
+die Wasserfl&auml;che in ruhigem Zuge bis zum Rande
+gleiten und dort entsetzt, verzweifelt, mit wahnsinnigem
+Schmerzgeheul in die Tiefe st&uuml;rzen, hier
+auf einem Vorsprung aufprallend, dort an einer
+Klippe zerschellend, da&szlig; der Riese in tausend und
+abertausend glitzernde Tropfen zersprang, die erschrocken
+versuchten, sich wieder zusammenzufinden,
+und sich doch erst wieder im gro&szlig;en Meere
+trafen, das weit hinaus mit wei&szlig;em Schaum bedeckt
+war.</p>
+
+<p>Als sie sich satt gesehen hatten, traten sie langsam
+den R&uuml;ckweg zu ihren Pferden an und ritten
+in scharfem Galopp im Schatten. Erst als der
+<a class="page" name="Page_140" id="Page_140" title="140"></a>Steinwall sich wieder abflachte, und sie in den
+brennenden Sonnenschein hinauskamen, m&auml;&szlig;igten
+sie ihr Tempo. Sie kamen an die Stelle, wo durch die
+gro&szlig;e unterirdische R&ouml;hre das Wasser zur Stadt
+abflo&szlig;; dumpf dr&ouml;hnte es da unter den Hufen der
+Pferde. Sie ritten weiter am Becken entlang bis
+dorthin, wo der Flu&szlig; hereintrat und folgten diesem
+weiter in der Richtung auf den Vulkan zu. Oft
+mu&szlig;ten sie den Flu&szlig; verlassen, weil Steinbl&ouml;cke im
+Wege lagen, aber sie trafen doch immer wieder auf
+ihn. Zuweilen flo&szlig; er breit und beh&auml;big dahin, zuweilen
+rauschte er unheimlich an einer schmalen
+Stelle, oder teilte sich auch mitunter in viele
+Zweige, die sich aber immer wieder bald vereinigten.
+Hedwig und Felix kamen &uuml;ber breite Streifen feinen
+Sandes, in dem die Pferde bis &uuml;ber die Hufe einsanken.</p>
+
+<p>Nach mehreren Stunden hielten sie an, sprangen
+von den Pferden, gaben ihnen von dem mitgebrachten
+Heu zu fressen und nahmen ihnen auch
+die S&auml;ttel ab. Dann hielten sie Umschau: so weit
+sie sehen konnten, umgab sie graublau und gelb die
+Steinw&uuml;ste, aus der sich nur flache R&uuml;cken emporhoben.
+Und vor ihnen lag, kaum merklich in seiner
+Gr&ouml;&szlig;e gewachsen, der Vulkan. Und die Sonne
+brannte hei&szlig; auf sie nieder und gab den Steinen
+einen blendenden Schimmer, der die Augen
+schmerzen machte.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_141" id="Page_141" title="141"></a>Da setzte sich Hedwig pl&ouml;tzlich auf einen Stein
+und begann zu schluchzen: sie konnte die gro&szlig;e
+Einsamkeit nicht ertragen, ihr war es zu viel des
+Schweigens. Felix fragte nicht; er verstand sie
+und f&uuml;hlte dieselbe Angst wie sie, aber er beherrschte
+sich. Doch zitterten seine H&auml;nde, als er die Pferde
+wieder sattelte; er sagte aber ruhig:</p>
+
+<p>&raquo;Der Vulkan ist ja viel weiter, als ich dachte;
+wir k&ouml;nnen heute nicht mehr hinkommen. Wollen
+wir nicht wieder nach Hause reiten?&laquo;</p>
+
+<p>Hedwig nickte; sie konnte nicht sprechen. Und
+so schnell es die Hitze erlaubte, ritten sie nach
+Hause, zu den Menschen, zur Stadt.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_142" id="Page_142" title="142"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Wieder</span> war der Jahrestag der Gr&uuml;ndung
+herangekommen, und die Gemeinschaft war versammelt.
+Die Vorsteher hatten Rechenschaft &uuml;ber
+das verflossene Jahr abgelegt. Es sollte jetzt zur
+Neuwahl geschritten werden.</p>
+
+<p>&raquo;W&uuml;nscht jemand das Wort?&laquo; fragte Jakob
+Silberland, der wie immer den Vorsitz innehatte.
+&raquo;Nicht? Dann&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte um das Wort&laquo;, rief Nechlidow &uuml;berlaut
+und ging auf&#8217;s Podium. Die Versammlung
+verharrte in eisigem Schweigen. Jakob Silberland
+sah &uuml;berrascht Paul Seebeck an; aber dessen
+Gesicht war hart und verschlossen. Auf der Trib&uuml;ne
+aber beugte sich ein M&auml;dchenkopf mit gl&auml;nzenden,
+braunen Augen &uuml;ber die Br&uuml;stung.</p>
+
+<p>Nechlidow richtete sich straff auf, verschr&auml;nkte
+die Arme &uuml;ber der Brust und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Es tut mir leid, da&szlig; ich die hier &uuml;bliche gem&uuml;tliche
+Handhabung der Gesch&auml;fte ein wenig
+st&ouml;re. H&auml;tte ich mich jetzt nicht zum Worte gemeldet,
+w&auml;re die Wiederwahl des bisherigen Vorstehers
+wohl glatt erfolgt. Ich aber m&ouml;chte verhindern,
+da&szlig; sie &uuml;berhaupt erfolgt.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_143" id="Page_143" title="143"></a>Er sah Paul Seebeck an, und dieser erwiderte
+starr den Blick. Dann lie&szlig; Nechlidow seine Augen
+wieder &uuml;ber die Versammlung gleiten und fuhr
+fort:</p>
+
+<p>&raquo;Wenn jetzt nicht ein energischer Schritt getan
+wird, verl&auml;uft die mit solchem Pathos angelegte
+Sache kl&auml;glich im Sumpf.</p>
+
+<p>Hier geht zwar alles gut, ich f&uuml;rchte fast zu gut;
+niemand hungert und jeder hat ein Dach &uuml;ber
+seinem Kopf &#8211; aber deswegen kamen wir nicht
+hierher.</p>
+
+<p>Wir kamen hierher, um der L&uuml;ge zu entfliehen,
+die unser gesamtes Gesellschaftsleben durchzieht
+und sind jetzt dabei, eine &auml;rgere und verabscheuungsw&uuml;rdigere
+L&uuml;ge zu stiften.</p>
+
+<p>Hier kann nur eines helfen: das felsenfeste Vertrauen
+auf die menschliche Vernunft und das Absch&uuml;tteln
+jener Herren, die den Ursprung alles
+&Uuml;bels in der menschlichen Vernunft sehen. Wir
+m&uuml;ssen die gro&szlig;en und klaren Gesetze befolgen,
+die sich an der menschlichen Vernunft ergeben
+und d&uuml;rfen sie nicht verwischen und im geheimen
+verspotten, wie es Herr Seebeck und seine Kreaturen
+tun.</p>
+
+<p>Fragen Sie sich: was hat unsere Gemeinschaft
+neues gebracht als neue Phrasen? Ist hier wirklich
+ein neuer Geist? Wer wagt die Frage zu bejahen!
+<a class="page" name="Page_144" id="Page_144" title="144"></a>Ist nicht vielmehr das Umgekehrte geschehen, da&szlig;
+einige, wenige M&auml;nner durch Worte und Scheingesetze,
+die sie nur &auml;u&szlig;erlich, in gr&ouml;bstem Sinne
+befolgen, gest&uuml;tzt, einfach ihren Launen folgen,
+tun und lassen, was ihnen gef&auml;llt? Wer wagt die
+Frage zu verneinen!</p>
+
+<p>Die Gem&uuml;tlichkeit und die pers&ouml;nliche R&uuml;cksichtnahme
+&#8211; dieses ganze Spinngewebe von Gef&uuml;hlsduseleien,
+das uns zu ersticken droht, mu&szlig; fort.</p>
+
+<p>Ich verkenne nicht, da&szlig; wir Paul Seebeck gro&szlig;en
+Dank schulden; aber unsere Dankbarkeit darf uns
+nicht hindern, kalt und klar zu sehen. Und wenn
+wir das tun, k&ouml;nnen wir nur eins sagen: Seebecks
+Zeit ist vorbei. Er ist ein gro&szlig;er Gr&uuml;nder, aber ein
+schlechter Ausbauer.</p>
+
+<p>Ich bitte die Versammlung, nicht Paul Seebeck
+sondern mich zum Vorsteher zu w&auml;hlen; mich treibt
+kein Ehrgeiz, sondern nur die Liebe zur Sache.
+Und ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, da&szlig;
+ich keine Sentimentalit&auml;ten und pers&ouml;nlichen R&uuml;cksichten
+kenne.&laquo;</p>
+
+<p>Mit zusammengekniffenen Lippen verlie&szlig; Nechlidow
+das Podium. Jakob Silberland sah ihm verst&ouml;rt
+nach.</p>
+
+<p>In der eisigen Stille dort unten entstand eine ganz
+leise Bewegung, ein R&uuml;cken auf den B&auml;nken, ein
+<a class="page" name="Page_145" id="Page_145" title="145"></a>Murmeln, ein Fl&uuml;stern und zuletzt klang ein Gewirr
+von Worten, Namen&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p>Edgar Allan hatte mehrmals von der Seite her
+forschend in Paul Seebecks Gesicht geblickt und
+jedesmal hatte er zufrieden gel&auml;chelt, wenn er Seebecks
+starre Z&uuml;ge sah.</p>
+
+<p>Jetzt erhob sich im Hintergrunde die schwere
+Gestalt eines Handwerkers:</p>
+
+<p>&raquo;Wenn wir Herrn Seebeck nicht wieder w&auml;hlen
+d&uuml;rfen, dann doch lieber den Herrn Rouvi&egrave;re. Den
+kennen wir, der versteht seine Sache.&laquo;</p>
+
+<p>Edgar Allan drehte sich herum; freundlich
+l&auml;chelnd rief er dem Sprecher zu:</p>
+
+<p>&raquo;Sie d&uuml;rfen Seebeck wieder w&auml;hlen, guter Freund.
+Sie brauchen nicht immer das zu tun, was der letzte
+Redner gesagt hat.&laquo;</p>
+
+<p>Aber seine Worte verloren sich; de la Rouvi&egrave;res
+Name hatte gez&uuml;ndet; von allen Seiten erscholl
+er, gerufen, gebr&uuml;llt.</p>
+
+<p>Kreidebleich im Gesichte stand der Kr&uuml;ppel auf:</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte Sie um Gotteswillen, w&auml;hlen Sie mich
+nicht! Das geht nicht.&laquo;</p>
+
+<p>Stille trat ein. Aber eine grobe Stimme zerri&szlig;
+sie:</p>
+
+<p>&raquo;Weshalb denn nicht? So war&#8217;s doch ausgemacht.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_146" id="Page_146" title="146"></a>Jetzt hatte Jakob Silberland seine Ruhe wiedergefunden.
+Er l&auml;utete energisch und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Wer meldet sich zum Worte?&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck gab ein leichtes Zeichen mit der
+Hand und ging auf das Podium. Ruhig und gesch&auml;ftsm&auml;&szlig;ig
+sagte er:</p>
+
+<p>&raquo;Ich m&ouml;chte nur einige Worte zur Kl&auml;rung der
+Situation sagen. Es sind als Gegenkandidaten
+zwei Herren genannt worden, von denen allerdings
+der eine die Absicht zu haben scheint, eine eventuelle
+Wahl nicht anzunehmen. Bei aller Hochachtung
+vor den pers&ouml;nlichen Eigenschaften der
+beiden Herren und der &Uuml;berzeugung von der
+absoluten Lauterkeit ihrer Absichten, glaube ich
+nicht, da&szlig; einer von ihnen imstande ist, das verantwortungsvolle
+Amt eines Vorstehers der Gemeinschaft
+zu verwalten. Ich glaube nicht, da&szlig;
+die Herren auch nur eine Ahnung von den Schwierigkeiten
+dieser Stellung haben; ihre Wahl w&uuml;rde nicht
+einen Fortschritt, sondern den Ruin unserer ganzen
+jahrelangen Arbeit bedeuten.</p>
+
+<p>Nun kann ich Sie allerdings nicht daran hindern,
+einen der beiden Herren zu w&auml;hlen; Sie k&ouml;nnen
+mich aber nicht zwingen, dem Gew&auml;hlten meine
+Stellung als Reichskommissar zu &uuml;bergeben. Die
+werde ich beibehalten und werde von den unbeschr&auml;nkten
+Vollmachten Gebrauch machen, die
+<a class="page" name="Page_147" id="Page_147" title="147"></a>sie mir gibt, sobald ich sehe, da&szlig; die Dinge eine
+Wendung nehmen, die ich f&uuml;r unrichtig halte.
+Wenn Sie aber einen Nachfolger w&auml;hlen, der
+wirklich imstande ist, mein Amt zu &uuml;bernehmen,
+gehe ich gern.&laquo;</p>
+
+<p>Er verbeugte sich leicht und ging zu seinem Platz
+zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>&raquo;Bravo!&laquo; rief Edgar Allan, und dieser Ruf wurde
+von einem vielstimmigen &raquo;Pfui!&laquo; beantwortet.
+Nechlidow sprang auf und schrie:</p>
+
+<p>&raquo;Das ist die Revolution! Jetzt wissen wir, was
+wir von dem Manne zu erwarten haben.&laquo;</p>
+
+<p>Jakob Silberland l&auml;utete und l&auml;utete, aber erst
+nach mehreren Minuten gelang es ihm, den Sturm
+zu &uuml;bert&ouml;nen. Ganz heiser sagte er, w&auml;hrend der
+Schwei&szlig; ihm in zwei Rinnen die Wangen entlang
+lief:</p>
+
+<p>&raquo;W&uuml;nscht jemand noch das Wort? Herr Nechlidow,
+bitte!&laquo;</p>
+
+<p>Nechlidow sprach von seinem Platze aus:</p>
+
+<p>&raquo;Nachdem der bisherige Vorsteher offen den
+Bruch der Verfassung erkl&auml;rt hat, behalten wir
+uns alle Schritte vor, wie auch die Abstimmung
+ausfallen mag.&laquo;</p>
+
+<p>Unter steigendem Gemurmel wurden die Stimmzettel
+verteilt und wieder eingesammelt. Als
+Otto Meyer Jakob Silberland die Urne &uuml;berreichte,
+<a class="page" name="Page_148" id="Page_148" title="148"></a>trat lautloses Schweigen ein. Einen Zettel nach
+dem anderen &ouml;ffnete Jakob Silberland und rief
+laut den darauf stehenden Namen. Otto Meyer
+notierte die einzelnen Stimmen und z&auml;hlte sie dann
+zusammen. Dann verk&uuml;ndete Jakob Silberland
+das Resultat:</p>
+
+<p>&raquo;Die Stimmen verteilen sich wie folgt:</p>
+
+<p>Herr Seebeck zweihundertdreiundachtzig Stimmen;</p>
+
+<p>Herr Nechlidow zweihundertsiebenunddrei&szlig;ig
+Stimmen;</p>
+
+<p>Herr de la Rouvi&egrave;re einhundertachtundsiebzig
+Stimmen.</p>
+
+<p>Elf Zettel sind blank.</p>
+
+<p>Demnach ist Herr Seebeck ordnungsgem&auml;&szlig;
+zum Vorsteher der Gemeinschaft wiedergew&auml;hlt
+worden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber von einer Minorit&auml;t!&laquo; br&uuml;llte Nechlidow.
+&raquo;Ich verlange Stichwahl zwischen ihm und mir.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Herr Seebeck ist verfassungsgem&auml;&szlig; gew&auml;hlt
+worden&laquo;, donnerte Jakob Silberland ihm entgegen.</p>
+
+<p>Jetzt erhob sich ein so unbeschreiblicher L&auml;rm,
+da&szlig; Jakob Silberland nicht mehr Ruhe stiften
+konnte. Er setzte deshalb seinen Hut auf und deutete
+damit an, da&szlig; die Sitzung unterbrochen sei.
+Als auch das noch keinen Eindruck machte, verlie&szlig;
+er mit seinen Freunden den Saal, gefolgt von
+<a class="page" name="Page_149" id="Page_149" title="149"></a>der Mehrzahl der Versammelten. Zur&uuml;ckblickend
+sah er, da&szlig; Nechlidow auf dem Podium stand und
+eifrig auf die Zur&uuml;ckgebliebenen einredete.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_150" id="Page_150" title="150"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Frau</span> von Zeuthen stand in einem ausgeschnittenen
+schwarzen Schleppkleide hochaufgerichtet
+vor dem Kr&uuml;ppel, der die langen Arme
+mit den schwarzbehaarten H&auml;nden dem&uuml;tig h&auml;ngen
+lie&szlig;:</p>
+
+<p>&raquo;Sagen Sie mir, Herr de la Rouvi&egrave;re, was hatte
+das zu bedeuten, da&szlig; man Sie als Seebecks Nachfolger
+vorschlug?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gn&auml;dige Frau, es ist mir selbst vollst&auml;ndig unerkl&auml;rlich.
+Ich habe nicht die geringste Veranlassung
+dazu gegeben. Wie sollte ich auch nur auf
+den Gedanken kommen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber Herr de la Rouvi&egrave;re, wenn Sie, trotz Ihrer
+Erkl&auml;rung, mehrere hundert Stimmen erhielten,
+so zeigt das, da&szlig; viele Sie f&uuml;r den designierten Nachfolger
+Seebecks hielten und Ihre Erkl&auml;rung nur f&uuml;r
+ein Scheinman&ouml;ver ansahen. Wir stehen da vor einem
+System von Intriguen, an dem das Mi&szlig;trauen,
+das Nechlidow auss&auml;t, nur zum Teil Schuld haben
+kann. Sie m&uuml;ssen doch mindestens eine Vermutung
+haben, wie dieser seltsame Mi&szlig;griff geschehen
+konnte.&laquo;</p>
+
+<p>Sie sah mit gro&szlig;en, braunen Augen ernst auf
+ihn nieder, und unter diesem Blicke wurde der
+Kr&uuml;ppel gleichsam noch kleiner:</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_151" id="Page_151" title="151"></a>&raquo;Gn&auml;dige Frau&laquo;, stie&szlig; er hervor. &raquo;Ich habe nicht
+gegen Herrn Seebeck intriguiert; im Gegenteil, ich
+habe den geringen Einflu&szlig;, den meine Stellung mir
+gab, nur dazu benutzt, die keimende Unzufriedenheit
+zu beruhigen und in vern&uuml;nftige und sachliche
+Bahnen zu leiten. Und die Resultate meiner
+T&auml;tigkeit liegen ja offen zutage.&laquo; Er wies auf eine
+Nummer der &raquo;Inselzeitung&laquo;, die sich auf dem Tische
+befand.</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen sch&uuml;ttelte den Kopf:</p>
+
+<p>&raquo;Diese Erkl&auml;rung gen&uuml;gt mir nicht; sie verschleiert
+nur. Ich will mehr wissen.&laquo;</p>
+
+<p>Herr de la Rouvi&egrave;re trat einen Schritt zur&uuml;ck
+und hob gleichzeitig die langen Arme:</p>
+
+<p>&raquo;Gn&auml;dige Frau, Sie, die hoch oben stehen, wo
+wir niemals hinkommen k&ouml;nnen &#8211; k&ouml;nnen Sie
+nicht verstehen, da&szlig; wir uns nach der H&ouml;he sehnen?&laquo;</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen setzte sich auf den Divan; ein
+Schleier legte sich &uuml;ber ihre Augen, aber sie sagte
+nichts. Herr de la Rouvi&egrave;re trat etwas n&auml;her und
+hielt sich an einer Stuhllehne fest.</p>
+
+<p>&raquo;Verspottet oder bemitleidet habe ich mein Leben
+verbracht; niemand wollte mich als vollen Menschen
+anerkennen. Dann brachten Sie mich hierher, und
+hier fand ich zum ersten Male in meinem Leben
+ein Arbeitsfeld. Ich wurde ein Mensch unter Menschen.
+Ich dachte an Sie und wollte Ihnen Ehre
+<a class="page" name="Page_152" id="Page_152" title="152"></a>machen, wollte Sie, die Unerreichbare, erreichen.&laquo;</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen senkte den Kopf; ihr Blick
+ruhte unbeweglich auf ihren beiden wei&szlig;en H&auml;nden.</p>
+
+<p>&raquo;Die Menschen kamen zu mir, und ich kam ihnen
+entgegen. Viele haben mich um Rat gefragt, und
+ich habe ihnen nach bestem Gewissen geantwortet.
+Ich geno&szlig; Vertrauen, aber ich habe es nicht mi&szlig;braucht.
+Ich wollte nur helfen, dem Einzelnen
+und der Gemeinschaft helfen. Die anderen aber
+haben mich mi&szlig;verstanden; sie glaubten, ich wollte
+sie beherrschen. Und das wurde mir erst gestern
+klar.&laquo;</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen erhob sich:</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann Ihnen heute nicht antworten&laquo;, sagte
+sie, &raquo;ich mu&szlig; Sie bitten, mich jetzt allein zu lassen.&laquo;</p>
+
+<p>Er lie&szlig; den Stuhl los, an dem er sich festgeklammert
+hatte und trat dicht an sie heran:</p>
+
+<p>&raquo;Schicken Sie mich nicht so fort! Sagen Sie,
+da&szlig; Sie mich verstanden haben!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich glaube Sie zu verstehen&laquo;, sagte sie langsam,
+aber sie nahm nicht die Hand, die er nach ihr ausstreckte.
+&raquo;Aber gehen Sie jetzt; ich mu&szlig; allein
+sein.&laquo;</p>
+
+<p>Und Herr de la Rouvi&egrave;re ging.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_153" id="Page_153" title="153"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Felix</span> sch&auml;mte sich doch, seine damalige Forschungsreise
+so kurz abgebrochen zu haben,
+und ohne die geringsten Entdeckungen zur&uuml;ckgekehrt
+zu sein. Obgleich er den gr&ouml;&szlig;ten Teil der
+Schuld seiner Schwester zuschob, konnte er sich
+doch nicht vergeben, nicht mehr Standhaftigkeit
+gezeigt zu haben. Andererseits sagte er sich auch,
+da&szlig; sie viel zu planlos losgezogen seien, so unvorbereitet,
+da&szlig; sie nicht einmal die Entfernung des
+Vulkans gekannt hatten.</p>
+
+<p>Jetzt sa&szlig; er fast jeden Nachmittag bei Paul Seebeck
+und studierte dessen Karten und Pl&auml;ne, von
+denen fast alle &#8211; bis auf diejenigen, die die n&auml;chste
+Umgebung und die k&uuml;nstlichen Anlagen betrafen
+&#8211; noch aus der Zeit stammten, wo Paul Seebeck
+ganz allein auf der Insel geweilt hatte.</p>
+
+<p>Paul Seebeck gab ihm alle Hilfsmittel, &uuml;ber die
+er verf&uuml;gte, darunter auch mehrere Lehrb&uuml;cher
+der Geologie und der verwandten Wissenschaften,
+und unterst&uuml;tzte ihn auch soweit mit Erkl&auml;rungen,
+wie seine knappe Zeit es erlaubte. Fast immer
+freilich verliefen diese Nachmittage so, da&szlig; Paul
+Seebeck, mit der Zigarre in der Hand im Zimmer
+auf- und abgehend, Fr&auml;ulein Erhardt Briefe diktierte,
+<a class="page" name="Page_154" id="Page_154" title="154"></a>die diese stenographierte, um sie dann sp&auml;ter
+auf der Schreibmaschine zu &uuml;bertragen, w&auml;hrend
+Felix, &uuml;ber sein Material gebeugt, still in einer Ecke
+sa&szlig;. War Paul Seebeck mit dem Diktate fertig,
+ging er zu Felix, machte ihn auf einige besondere
+Dinge aufmerksam oder l&ouml;ste dem Knaben Zweifel,
+soweit er dazu imstande war, und verlie&szlig; dann das
+Zimmer. Gew&ouml;hnlich packte Felix dann bald seine
+Sachen zusammen und ging nach Hause, denn es
+war ihm unangenehm, mit Fr&auml;ulein Erhardt allein
+zu sein.</p>
+
+<p>Aber als er wieder einmal mit einem kurzen Abschiedswort
+fortgehen wollte, drehte Fr&auml;ulein Erhardt
+sich auf ihrem Rundsessel herum und fragte
+ihn:</p>
+
+<p>&raquo;Sind Sie jetzt bald mit Ihren Pl&auml;nen fertig,
+Herr von Zeuthen? Wann ziehen Sie los?&laquo;</p>
+
+<p>Felix besann sich einen Augenblick, dann sagte er:</p>
+
+<p>&raquo;Eigentlich bin ich schon fertig. Ich will nur
+warten, bis es etwas k&uuml;hler geworden ist. Aber
+das wird es wohl schon in den allern&auml;chsten Tagen
+werden.&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Erhardt faltete die H&auml;nde &uuml;ber den
+Knieen und beugte sich nach vorn; sie fragte:</p>
+
+<p>&raquo;Darf ich Sie auf Ihrer Reise begleiten, Herr
+von Zeuthen?&laquo;</p>
+
+<p>Felix sah sie &uuml;berrascht an:</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_155" id="Page_155" title="155"></a>&raquo;Ja, wenn es Ihnen Freude macht, nat&uuml;rlich.
+Aber sie wird wenigstens eine Woche dauern.&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Erhardt stand auf und reichte ihm die
+Hand:</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke Ihnen.&laquo;</p>
+
+<p>Felix war etwas verwirrt, und um seine Ratlosigkeit
+zu verdecken, k&uuml;&szlig;te er Fr&auml;ulein Erhardts
+Hand. Sie lie&szlig; die ihre einen Augenblick in der
+seinen ruhen. Dann trat er an den Tisch zur&uuml;ck
+und suchte eine von Seebecks ersten Kartenskizzen
+heraus.</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Sie&laquo;, sagte er, &raquo;bis an den Fu&szlig; des Vulkans
+geht die Hochebene. Die kenne ich jetzt, und da ist
+nichts zu holen. Steinplatten, Ger&ouml;ll und zuweilen
+Sandstrecken. Und dasselbe sagt Paul; er ist da
+&uuml;berall gewesen und hat nichts gefunden. Ich kann
+mir auch nicht denken, da&szlig; da irgend etwas sein
+sollte. Aber dort am Fu&szlig;e des Vulkans, hier, wo
+Paul die Striche gemacht hat, sagt er, w&auml;re eine
+Masse von Schluchten. Er ist nicht weiter gekommen,
+weil er keine Zeit hatte. Dort ist der Boden auch
+zuweilen so hei&szlig; gewesen, da&szlig; er ihn nicht betreten
+konnte. Da m&uuml;&szlig;ten wir also hin. Ich dachte, an
+einem Tage direkt bis zu den Schluchten zu reiten
+&#8211; Sie k&ouml;nnen doch reiten, Fr&auml;ulein Erhardt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, aber ich habe kein Pferd.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_156" id="Page_156" title="156"></a>&raquo;Das tut nichts, Sie k&ouml;nnen das von Hedwig
+nehmen. &#8211; Ja, und dann m&uuml;ssen wir sehen, was
+wir da oben finden. Nat&uuml;rlich m&uuml;ssen wir auch
+auf den Vulkan steigen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich werde Herrn Seebeck bitten, mir jetzt
+meinen Urlaub zu geben&laquo;, sagte Fr&auml;ulein Erhardt.
+&raquo;Ich freue mich sehr auf die Reise, Herr von
+Zeuthen.&laquo;</p>
+
+<p>Felix verbeugte sich etwas ungeschickt und ging.</p>
+
+<p>Schon in den n&auml;chsten Tagen nahm die Hitze ab;
+k&uuml;hle Winde strichen &uuml;ber die Insel und f&uuml;hrten
+leichte, graue Wolkenz&uuml;ge mit; ja, gelegentlich
+fielen sogar einige Regentropfen. Jetzt, zwischen
+Sommerhitze und Regenperiode, war die geeignete
+Zeit f&uuml;r einen l&auml;ngeren Ausflug gekommen.</p>
+
+<p>Am Tage vor ihrem Aufbruch hatte sich Paul
+Seebeck mehrere Stunden von seiner Arbeit frei
+gemacht und half den beiden bei ihren Vorbereitungen.
+Er sorgte daf&uuml;r, da&szlig; sie Proviant f&uuml;r
+vierzehn Tage, und auch sonst alles Notwendige,
+doch nichts &Uuml;berfl&uuml;ssiges mit hatten. Was die
+Pferde anging, riet Seebeck, sie nach der Ankunft
+einfach loszulassen; sie w&uuml;rden dann ohne weiteres
+nach Hause laufen. Felix und Fr&auml;ulein Erhardt
+m&uuml;&szlig;ten dann allerdings zu Fu&szlig; heimkehren. Auf
+dem Hinwege brauchten sie aber unbedingt die
+Pferde, des Transportes ihrer Sachen wegen.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_157" id="Page_157" title="157"></a>Noch vor der Morgend&auml;mmerung brachen sie
+auf, und gerade, als sie das Volkshaus erreichten,
+hob sich die Sonne &uuml;ber den Horizont. Der Nachttau
+verschwand bald von den Steinen, aber trotz des
+wolkenlosen Himmels wurde es nicht hei&szlig;. Die
+Spitze des Vulkans lag vollkommen frei von Wolken
+und Schleiern vor ihnen.</p>
+
+<p>Sie ritten in langsamem Trabe an dem Staubecken
+vorbei und kamen auch zu der Stelle, wo
+sich Felix und Hedwig damals zur Umkehr entschlossen
+hatten. Erst zur Mittagsstunde stiegen
+sie von den Pferden. Felix &ouml;ffnete einige Konservenb&uuml;chsen
+und bot Fr&auml;ulein Erhardt vom Inhalte
+an. Als sie gegessen hatten, warf er sich auf
+den Boden, zog eine seiner Kartenskizzen hervor
+und bem&uuml;hte sich, sich &uuml;ber ihren gegenw&auml;rtigen
+Standort zu orientieren. Fr&auml;ulein Erhardt sa&szlig;
+inzwischen auf einem Stein und schaute abwechselnd
+auf ihren Reisegenossen und auf die starre
+Steinw&uuml;ste. Nach zweist&uuml;ndiger Rast brachen sie
+wieder auf. Sie hielten streng die Richtung auf
+den Vulkan ein, mu&szlig;ten aber immer gr&ouml;&szlig;ere
+Umwege machen, um tiefe Spalten im Boden zu
+umreiten. Das Gel&auml;nde wurde auch immer welliger,
+und gleichzeitig trat mehr und mehr Ger&ouml;ll und
+Grus auf. Das Ger&auml;usch vom Flusse her war vollkommen
+verstummt, aber immer h&ouml;her und breiter
+<a class="page" name="Page_158" id="Page_158" title="158"></a>reckte sich der Vulkan. Aus dem regelm&auml;&szlig;igen
+Kegel l&ouml;sten sich immer gr&ouml;&szlig;ere Vorspr&uuml;nge heraus,
+und tiefe Einschnitte zeigten sich an seinen W&auml;nden.</p>
+
+<p>Auch das ganze Bild der Gegend hatte sich ver&auml;ndert.
+Es gab keine Ebene mehr, aus der sich
+pl&ouml;tzlich scharf umgrenzt der Vulkan erhob. Ebene
+und Vulkan kamen einander entgegen, verwischten
+in ihrer zunehmenden Zerkl&uuml;ftung ihre Gegens&auml;tze
+und verschmolzen zuletzt zu einem wilden K&ouml;rper.</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Erhardt und Felix ritten an hohen
+Felsbl&ouml;cken vorbei, mu&szlig;ten oft im Zickzackwege
+an steilen Ger&ouml;llhalden hinab- und hinaufreiten.
+Das Traben war unm&ouml;glich geworden, und im
+m&uuml;hsamen Schreiten wiegten die kleinen, starken
+Pferdchen rhythmisch die K&ouml;pfe.</p>
+
+<p>Die Spitze des Vulkans war zur&uuml;ckgetreten und
+zuletzt ganz hinter einer hohen Felswand versunken.
+Und hier hielten die beiden an, um im
+Schutze der Felswand die Nacht zu verbringen.
+Sie nahmen das Gep&auml;ck von den Pferden, gaben
+ihnen den letzten Rest des mitgebrachten Heus
+zu fressen, nahmen ihnen dann das Zaumzeug ab
+und banden es an den S&auml;tteln fest. Die klugen
+Tierchen blieben erst schnuppernd stehen, gingen
+einige Schritte heimw&auml;rts und wandten dann wieder
+die K&ouml;pfe nach Felix zur&uuml;ck. Da dieser aber keine
+Miene machte, sie zur&uuml;ckzuhalten, setzten sie sich
+<a class="page" name="Page_159" id="Page_159" title="159"></a>in langsamen Trott und waren bald hinter den
+Felsen verschwunden.</p>
+
+<p>W&auml;hrend Fr&auml;ulein Erhardt und Felix fast
+schweigend ihr Abendessen einnahmen, wurden die
+Schatten unheimlich lang und kalt, krochen an
+den Felsw&auml;nden empor, hier und da leuchtete noch
+eine Spitze, ein Vorsprung&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p>Wenige Minuten sp&auml;ter war es dunkel, und sofort
+legte sich ein schwerer Tau auf Gesicht und Kleider.</p>
+
+<p>Felix z&uuml;ndete eine kleine Lampe an und ordnete
+in ihrem schwachen Lichtscheine die mitgebrachten
+Sachen. Er rollte die Schlafs&auml;cke auf und stellte
+die Konserven in eine kleine Spalte, die er &#8211; um
+sie vor den Sonnenstrahlen zu sch&uuml;tzen &#8211; noch mit
+einem flachen Steine zudeckte. Dann kroch er in
+seinen Schlafsack, g&auml;hnte, w&uuml;nschte Fr&auml;ulein Erhardt
+eine gute Nacht und schlief fest ein. Fr&auml;ulein
+Erhardt aber blieb noch lange auf ihrem Steinblock
+sitzen; zuweilen bewegte sie fr&ouml;stelnd die Schultern.
+Zuletzt ging sie vorsichtig zu Felix, kniete neben
+den Schl&auml;fer hin, beugte ihr bleiches Gesicht &uuml;ber
+ihn und k&uuml;&szlig;te ihn leise auf die Stirn. Felix r&uuml;hrte
+sich nicht. Da ging Fr&auml;ulein Erhardt gesenkten
+Hauptes zur&uuml;ck und legte sich endlich zur Ruhe.</p>
+
+<p>Als sie am Morgen aufwachte, war Felix fort.
+Sie sprang schnell auf und brachte ihre zerdr&uuml;ckten
+Kleider, so gut es sich machen lie&szlig;, in Ordnung.
+<a class="page" name="Page_160" id="Page_160" title="160"></a>Felix kam erst nach einer Stunde. Er war beim
+Flusse gewesen und hatte Wasser geholt. Er setzte
+das Wasser &uuml;ber den Spirituskocher und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Wissen Sie, was ich herausgefunden habe,
+Fr&auml;ulein Erhardt? Wir sind vom Wege ein t&uuml;chtiges
+St&uuml;ck nach links abgekommen. Die Spalten,
+von denen Paul mir erz&auml;hlt hat, habe ich sehn
+k&ouml;nnen, wie ich zum Flu&szlig; ging. Hier ist sicher
+&uuml;berhaupt noch nie ein Mensch gewesen. Am liebsten
+m&ouml;chte ich die Spalten in Frieden lassen und
+noch weiter nach links, also nach S&uuml;den, gehn.&laquo;</p>
+
+<p>Er st&uuml;rzte in gro&szlig;er Hast seinen Tee hinunter
+und ging dann zum n&auml;chsten H&uuml;gel, wo er eine
+m&auml;chtige Steinpyramide errichtete.</p>
+
+<p>&raquo;So, jetzt k&ouml;nnen wir unsere Sachen immer
+wieder finden&laquo;, sagte er. &raquo;Sind Sie fertig?&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Erhardt war fertig und bereit, ihm zu
+folgen.</p>
+
+<p>Sie gingen an der Felswand entlang und kamen
+nach einer halben Stunde an eine Ger&ouml;llhalde.
+Hier stiegen sie h&ouml;her hinauf, bis sie an einen Absatz
+kamen, von dem aus sie Umschau halten wollten.
+Aber sie konnten nicht weit sehen; h&auml;tten sie nicht
+gewu&szlig;t, da&szlig; sie sich am Abhange des Vulkans befanden,
+der sich hoch &uuml;ber die Ebene reckte &#8211;
+hier h&auml;tten sie es nicht feststellen k&ouml;nnen, denn
+an allen Seiten sahen sie nur ein Gewirr von Felsen
+<a class="page" name="Page_161" id="Page_161" title="161"></a>und Schutth&uuml;geln, das jede Aussicht versperrte.
+Nur an einem einzigen Punkte, gerade zwischen
+zwei Basaltfelsen, konnten sie die Ebene und sogar
+ein Streifchen des hellschimmernden Meeres
+sehn.</p>
+
+<p>Sie gingen weiter; Felix immer zwanzig Schritte
+voraus. Das Gef&auml;lle war jetzt viel geringer, und
+das Ger&ouml;ll wurde oft durch Strecken von graublauem
+Sande und Lehm unterbrochen, aus dem oft
+kleine Quellen entsprangen, die aber alle bald
+wieder im Ger&ouml;lle verschwanden. Pl&ouml;tzlich schrie
+Felix leicht auf: er war mit dem einen Bein bis
+zum Knie in ein Schlammloch gesunken. Fr&auml;ulein
+Erhardt eilte erbleichend zu ihm, aber er hatte
+sich schon wieder beruhigt und zeigte ihr lachend
+das schmutzige Bein und das Loch, in dem sich
+jetzt gurgelnd tr&uuml;bes Wasser ansammelte. Aber
+Felix war durch den Vorfall vorsichtiger geworden;
+er umging die immer h&auml;ufiger auftretenden feuchten,
+dunklen Strecken, bis sie endlich wieder auf festen
+Basaltgrund kamen. Hier sah Felix auf die Uhr:
+sie waren schon drei Stunden ununterbrochen gestiegen.
+Dann setzte er sich auf einen Stein, um
+Fr&auml;ulein Erhardt zu erwarten, nahm sich einen
+Stein und kratzte den Schmutz vom Strumpf und
+Stiefel. Naser&uuml;mpfend warf er den Stein fort, denn
+das Zeug hatte einen widrigen, fauligen Geruch.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_162" id="Page_162" title="162"></a>Als Fr&auml;ulein Erhardt neben ihm stand, reichte
+er ihr eine Tafel Schokolade und r&uuml;ckte gleichzeitig
+etwas auf seinem Steine zur Seite, um auch
+ihr Platz zu machen. Aber sie bemerkte es nicht;
+nachdenklich knabberte sie an der Schokolade und
+blickte dabei vor sich auf den Boden.</p>
+
+<p>Etwas gelangweilt und mi&szlig;vergn&uuml;gt sah Felix
+sie an; aber dann wurden seine Z&uuml;ge pl&ouml;tzlich
+weich, und er wandte sich ab.</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Sie doch, wie sch&ouml;n es hier ist&laquo;, sagte
+er und streckte die Hand aus.</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Erhardt sah erst ihn mit ihren gro&szlig;en,
+schwarzen Augen an, dann drehte sie sich ganz
+langsam umher. Jetzt waren die Felsen, die ihnen
+vorher den Blick versperrt hatten, tief unten versunken.
+Sie hoben sich kaum merkbar &uuml;ber die
+Ebene, die breit und flach dort unten lag. Ein
+schmales Silberband &#8211; der Flu&szlig; &#8211; zog sich in
+Windungen hindurch; dort lag ein kleiner hell
+spiegelnder Fleck &#8211; das Staubecken, und hinten,
+weit hinten, das Meer&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Erhardt hatte die Hand auf Felix&#8217;
+Schulter gelegt, und er empfand wohlig den leichten
+Druck. Aber dann merkte er ihre W&auml;rme durch
+seine Kleider dringen, und das verursachte ihm
+ein unbehagliches Gef&uuml;hl. Er stand auf:</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_163" id="Page_163" title="163"></a>&raquo;Wir haben keine Zeit, Fr&auml;ulein Erhardt, wenn
+wir heute noch hinauf wollen&laquo;, sagte er.</p>
+
+<p>&raquo;Dann lassen Sie uns weitergehn&laquo;, antwortete
+sie einfach und schlug die Augen nieder.</p>
+
+<p>Sie stiegen weiter. Pl&ouml;tzlich blieb Felix stehen.</p>
+
+<p>&raquo;Riechen Sie nichts, Fr&auml;ulein Erhardt?&laquo; fragte er.</p>
+
+<p>Sie sog die Luft ein:</p>
+
+<p>&raquo;Ja, das ist doch Meergeruch!&laquo; sagte sie erstaunt.</p>
+
+<p>Felix sch&uuml;ttelte den Kopf:</p>
+
+<p>&raquo;Ich finde es auch. Aber das ist doch ganz unm&ouml;glich.
+Wir sind doch ganz weit vom Meere, und
+au&szlig;erdem so hoch&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>Aber je h&ouml;her sie kamen, um so st&auml;rker wurde der
+unverkennbare Tanggeruch. Au&szlig;erdem waren
+immer wieder gro&szlig;e, feuchte Lehmflecke zwischen
+den Felsen. Um sie zu umgehn, mu&szlig;ten sie mehrmals
+an den zackigen Felsen emporklettern.</p>
+
+<p>Auf einmal lag wieder die Spitze des Vulkans in
+ihrer bekannten Form vor ihnen, nur da&szlig; sie jetzt
+in der N&auml;he scharf und zackig aussah. Aber zwischen
+dem Vulkane und ihnen lag in einem langen und
+breiten Becken gr&uuml;nlich und fett schimmernd ein
+gro&szlig;er See. Jetzt nach dem hei&szlig;en Sommer war
+der Wasserspiegel weit zur&uuml;ckgetreten, und die
+lehmigen Ufer waren mit ungeheuren Massen von
+Tang und vertrockneten Algen bedeckt.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_164" id="Page_164" title="164"></a>Skelette von Fischen lagen zu Tausenden herum,
+ebenso die Reste von gro&szlig;en Seesternen und
+Krebsen.</p>
+
+<p>Jetzt kam ein Windhauch und trieb Fr&auml;ulein
+Erhardt und Felix den Gestank ins Gesicht. Trotzdem
+machte sich Felix an den Abstieg, w&auml;hrend
+Fr&auml;ulein Erhardt oben blieb. Sie sah ihm nach,
+wie er von Stein zu Stein hinuntersprang und dann
+unten am Rande des Wassers entlang ging. Nach
+einer Weile kam er, hochrot im Gesicht, den Abhang
+wieder hinaufgest&uuml;rmt.</p>
+
+<p>&raquo;Wissen Sie was, Fr&auml;ulein Erhardt?&laquo; rief er,
+noch ganz atemlos. &raquo;Im Wasser wimmelt es von
+Fischen und Krebsen! Es sieht genau so aus, wie
+in der Irenenbucht.&laquo;</p>
+
+<p>Sie gingen einige Schritte zur&uuml;ck, so da&szlig; sie der
+Geruch nicht mehr so bel&auml;stigte. Dann fragte
+Fr&auml;ulein Erhardt:</p>
+
+<p>&raquo;Wie wollen Sie diese sonderbare Erscheinung
+erkl&auml;ren, Herr von Zeuthen?&laquo;</p>
+
+<p>Felix dachte nach.</p>
+
+<p>&raquo;Paul glaubt ja, da&szlig; die ganze Insel in etwas
+anderer Form schon fr&uuml;her da war, untersank und
+dann jetzt bei der Bildung des gro&szlig;en Vulkans
+wieder aufstieg. Es w&auml;re ja m&ouml;glich, da&szlig; wir hier
+den fr&uuml;heren Krater vor uns haben, in dem sich
+unter dem Meere alle die Tiere und Pflanzen angesiedelt
+<a class="page" name="Page_165" id="Page_165" title="165"></a>haben. Wie die Insel aufstieg, hat sich
+diese ganze abflu&szlig;lose Sch&uuml;ssel mit ihrem ganzen
+Inhalte mit gehoben und bildet jetzt tausend
+Meter &uuml;ber dem Meere einen Salzsee. Das mu&szlig; ich
+Allan erz&auml;hlen, der wird gleich etwas gro&szlig;artiges
+daraus machen.&laquo; Und Felix begann gleich Fr&auml;ulein
+Erhardt gro&szlig;z&uuml;gige Pl&auml;ne zu entwickeln, wie man
+durch eine regulierte Wasserzufuhr verhindern
+k&ouml;nnte, da&szlig; der Spiegel sich in der Trockenheit
+senkte. Die konstante H&ouml;he des Wassers w&auml;re die
+erste Grundlage f&uuml;r weitere Arbeiten. Dann m&uuml;&szlig;te
+man Fische hineinbringen, die sowohl im Meere
+wie in Fl&uuml;ssen leben k&ouml;nnten und die sich dann
+dem langsamen, aber unvermeidlichen, allm&auml;hlichen
+Salzverluste des Wassers anpassen w&uuml;rden. Und
+ebensolche Pflanzen. Dann V&ouml;gel herlocken, den
+&uuml;berfl&uuml;ssigen Tang als D&uuml;nger f&uuml;r Anlagen verwenden
+&#8211; oh, es w&uuml;rde schon alles gehn; Allan
+w&uuml;rde hier mitten in der Steinw&uuml;ste ein Paradies
+schaffen.</p>
+
+<p>Sie gingen weiter, des Geruches wegen immer so,
+da&szlig; ein Wall zwischen ihnen und dem See lag.
+Zuweilen konnten sie es sich doch nicht versagen,
+die paar Schritte hinaufzulaufen, um sich das
+Wasser wieder anzusehen, das sich mehr und mehr
+zur Seite schob. Gleichzeitig versank die Spitze
+des Vulkans wieder hinter vorspringenden Felsen.
+<a class="page" name="Page_166" id="Page_166" title="166"></a>Nun konnten Fr&auml;ulein Erhardt und Felix wieder
+h&ouml;her steigen, aber nur schr&auml;g aufw&auml;rts, so da&szlig; sie
+immer mehr nach rechts gerieten. Jetzt befanden
+sie sich ungef&auml;hr &uuml;ber ihrem Schlafplatze, eine
+halbe Stunde &uuml;ber der Quelle des Flusses und dann
+&uuml;ber jenem Gewirre von Schluchten und Rissen.
+Der See war vollkommen verschwunden.</p>
+
+<p>Pl&ouml;tzlich hielt Felix an; er fa&szlig;te erregt Fr&auml;ulein
+Erhardts Hand:</p>
+
+<p>&raquo;Sehn Sie dort unten, was ist jetzt das?&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Erhardt sah hin: in etwas geringerer
+H&ouml;he, als in der, wo sie standen, lagen r&ouml;tlich-gelbe
+Erdwellen, aus denen Dampf entstieg, hier als
+verteilter Dunst, dort in kleinen, festen Strahlen.</p>
+
+<p>&raquo;Wollen Sie hingehn?&laquo; fragte Fr&auml;ulein Erhardt.</p>
+
+<p>&raquo;Nat&uuml;rlich, da m&uuml;ssen wir hin.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber dann kommen wir heute nicht mehr auf
+den Vulkan.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dann gehn wir morgen hin. Wir haben ja
+Zeit. Aber das da mu&szlig; ich untersuchen.&laquo;</p>
+
+<p>Und er ging so schnell, lief lange Strecken, da&szlig;
+Fr&auml;ulein Erhardt ihm nicht zu folgen vermochte.
+Als sie erst die halbe Strecke zur&uuml;ckgelegt hatte,
+kam ihr Felix schon wieder entgegen.</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Sie, was ich hier habe!&laquo; rief er und zeigte
+ihr einige grobk&ouml;rnige, gelbliche Steinbrocken.</p>
+
+<p>&raquo;Ist das nicht Schwefel?&laquo; fragte sie erstaunt.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_167" id="Page_167" title="167"></a>&raquo;Ja, alle die gelben H&uuml;gel da unten bestehen
+aus Schwefelbrei und Lehm. Man mu&szlig; vorsichtig
+sein, da&szlig; man da nicht versinkt. Und &uuml;berall sind
+hei&szlig;e Quellen, die entsetzlich nach Schwefelwasserstoff
+riechen. Gott, wie sch&ouml;n ist das
+alles.&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Erhardt sah erst dem Knaben in das
+hei&szlig;e, strahlende Gesicht und wandte sich dann
+langsam ab. Sie lie&szlig; den Blick &uuml;ber die weite Ebene
+schweifen, die, vom vielfach gewundenen Flusse
+durchzogen, dort unter ihnen lag. Sie folgte mit
+dem Auge der gro&szlig;en Linie des Horizontes, wo
+Meer und lichtblauer Himmel sich trafen, sie sah
+auf die starren Steinbl&ouml;cke um sich, sah die Spitze
+des Vulkans in die H&ouml;he ragen&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p>&raquo;Ist es nicht prachtvoll, da&szlig; es hier so etwas
+gibt?&laquo; sagte Felix ungeduldig und etwas &auml;rgerlich.</p>
+
+<p>Mit einem g&uuml;tigen L&auml;cheln wandte sie sich ihm zu.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig; ist das sch&ouml;n&laquo;, sagte sie. &raquo;Glauben Sie,
+da&szlig; es eine praktische Bedeutung hat?&laquo;</p>
+
+<p>Felix wurde eifrig. Nat&uuml;rlich m&uuml;&szlig;te man hier
+Schwefelminen anlegen&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p>Ob es ihm nicht leid t&auml;te, die Unber&uuml;hrtheit der
+Natur zu zerst&ouml;ren? Oh, Allan w&uuml;rde es so machen,
+da&szlig; es eine Versch&ouml;nerung, eine Funktion der
+Natur w&uuml;rde, eine nat&uuml;rliche Fortentwicklung, wie
+das Wachsen des Mooses auf den Felsen.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_168" id="Page_168" title="168"></a>&raquo;Allan und immer wieder Allan!&laquo; dachte Fr&auml;ulein
+Erhardt und sah zu Boden. &raquo;Hat er denn keinen
+Gedanken mehr f&uuml;r andere Menschen &uuml;brig?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was machen wir jetzt?&laquo; sagte Felix. &raquo;Auf die
+Spitze k&ouml;nnen wir nicht mehr kommen. Es ist
+ja schon vier Uhr. Wir k&ouml;nnen noch gerade vor
+der Dunkelheit unten sein. Dann haben wir aber
+morgen wieder dieselbe Geschichte. Ich glaube, es
+w&auml;re am vern&uuml;nftigsten, einfach hier zu &uuml;bernachten.
+Ich habe noch drei gro&szlig;e Konservenb&uuml;chsen
+mit Fleisch und eine ganze Masse Schokolade
+in meinem Rucksack. Damit k&ouml;nnen wir,
+wenn wir etwas sparen, gut noch zwei Tage
+auskommen.</p>
+
+<p>Sobald wir dann wieder unten sind, k&ouml;nnen wir
+uns wieder satt essen. Was meinen Sie dazu?&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Erhardt sah sich um und suchte sich
+vorzustellen, wie man hier auf den nackten Steinen
+schlafen sollte.</p>
+
+<p>&raquo;Ja&laquo;, sagte sie etwas z&ouml;gernd.</p>
+
+<p>&raquo;Gut, dann steigen wir jetzt noch so hoch wir
+k&ouml;nnen. Vielleicht k&ouml;nnen wir dann schon morgen
+Abend wieder unten sein.&laquo;</p>
+
+<p>Sie stiegen noch zwei Stunden. Der Weg bot
+keine besonderen Schwierigkeiten mehr, so da&szlig; sie
+im Gehen wirklich die immer gro&szlig;artiger werdende
+Aussicht genie&szlig;en konnten.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_169" id="Page_169" title="169"></a>Als sich die Sonne dem Horizonte n&auml;herte,
+sahen sie, da&szlig; sie nur noch wenige Stunden bis
+zum Gipfel brauchen w&uuml;rden. Eine kleine Terrasse
+mit Lehmboden und einem kleinen W&auml;sserchen
+w&auml;hlten sie als Schlafplatz. Felix kn&ouml;pfte seine
+Jacke zu, steckte die H&auml;nde in die Hosentaschen,
+w&uuml;nschte Fr&auml;ulein Erhardt eine gute Nacht und
+schlo&szlig; die Augen. Sie sah ihn mit ihren gro&szlig;en
+Augen an, sah im rasch fortschreitenden Dunkel
+seine Knabengestalt undeutlicher und undeutlicher
+werden. Sie fr&ouml;stelte, sie zitterte; Angst und Sehnsucht
+&uuml;berfielen sie. Mit einem Aufschrei warf sie
+sich auf den Schl&auml;fer und k&uuml;&szlig;te ihm Augen und
+Mund.</p>
+
+<p>Felix erwachte wieder, machte eine Bewegung,
+wie um sie abzusch&uuml;tteln und zog sie dann tief
+aufatmend an sich.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_170" id="Page_170" title="170"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Die</span> Nachricht von Felix&#8217; Entdeckungen erweckte
+naturgem&auml;&szlig; gro&szlig;es Interesse in der
+Stadt. Paul Seebeck schlug ihm vor, er solle im
+Volkshause einen Vortrag &uuml;ber seine Reise mit
+Fr&auml;ulein Erhardt halten; aber dazu lie&szlig; sich Felix
+nicht bereit finden.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe die Sache schon so oft erz&auml;hlt; ich
+kann sie nicht noch einmal erz&auml;hlen&laquo;, sagte er.</p>
+
+<p>Dabei hatte er sie mit allen Einzelheiten &#8211;
+doch nicht denen rein pers&ouml;nlicher Natur &#8211; und
+allen seinen Gedanken, die sich an das Geschehene
+kn&uuml;pften, nur einem Einzigen ordentlich erz&auml;hlt,
+und das war Edgar Allan. Und wenige Tage darauf
+&#8211; der Architekt hatte nur einige dringende Arbeiten
+fertig gemacht &#8211; ritten er und Felix, trotz des
+feinen, aber st&auml;ndigen Regens, der die Regenzeit
+einleitete, zum Vulkane.</p>
+
+<p>Als sie nach einigen Tagen zur&uuml;ckgekehrt waren,
+bewahrten sie absolutes Stillschweigen &uuml;ber die
+Resultate ihrer genauen Untersuchungen. Aber
+die beiden, der Mann und der Knabe, sa&szlig;en t&auml;glich
+stundenlang zusammen.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_171" id="Page_171" title="171"></a>Erst nach zwei Wochen waren sie so weit, da&szlig;
+sie die Vorsteher ins Vertrauen zogen, und gleichzeitig
+erschien eine kleine Notiz in der &raquo;Inselzeitung&laquo;
+des Inhalts, da&szlig; sich die Schwefellager als
+abbauwert erwiesen h&auml;tten.</p>
+
+<p>In der n&auml;chsten Monatsversammlung der Gemeinschaft
+legte dann Jakob Silberland die von
+Edgar Allan und Felix ausgearbeiteten und von der
+Vorsteherschaft gutgehei&szlig;enen Pl&auml;ne vor. Es
+handelte sich um nichts weniger, als die Errichtung
+einer zweiten Stadt dort auf halber H&ouml;he des Vulkans;
+einer Stadt, die sich gleicherweise um das
+Schwefelgebiet wie den See gruppieren sollte. Die
+Schwefelminen sollten abgebaut, die Quellen aber
+zu Heilzwecken verwendet werden. Am Seeufer
+sollten die Wohnh&auml;user liegen. Otto Meyer verteilte
+Vervielf&auml;ltigungen von Edgar Allans Skizze,
+aus denen in gro&szlig;en Z&uuml;gen die geplante Verbindung
+von Minenstadt und Bade- und Luftkurort zu
+ersehen war.</p>
+
+<p>Die Kredite, die zur Durchf&uuml;hrung notwendig
+waren, waren nicht gro&szlig;; Edgar Allan verlangte
+nur die Anlage einer f&uuml;r Lastautomobile fahrbaren
+Stra&szlig;e zum Vulkane und die Anschaffung der
+wenigen Maschinen, die zur Hebung des fast an
+der Oberfl&auml;che liegenden Schwefels dienen sollten.
+Die sp&auml;teren Anlagen sollten aus der H&auml;lfte der
+<a class="page" name="Page_172" id="Page_172" title="172"></a>Ertr&auml;gnisse der Schwefelminen bestritten werden,
+wobei die andere H&auml;lfte der Gemeinschaft zufallen
+sollte. Und diese Kredite wurden nat&uuml;rlich ohne
+Widerspruch bewilligt.</p>
+
+<p>Darauf bat Jakob Silberland um Urlaub aus
+seinem Amte bis zur n&auml;chsten Jahresversammlung,
+wo er sich &uuml;ber die endgiltige Niederlage seines
+Mandats entscheiden w&uuml;rde. Vorl&auml;ufig wollte er
+die gesch&auml;ftliche Leitung des neuen Unternehmens
+&uuml;bernehmen. Der erbetene Urlaub wurde ihm gew&auml;hrt,
+und als sein Stellvertreter wurde der durch
+Zuruf vorgeschlagene Herr de la Rouvi&egrave;re gew&auml;hlt,
+der die Wahl mit einigen Dankesworten annahm.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_173" id="Page_173" title="173"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Dr.</span> Jakob Silberland hatte Otto Meyer aufgesucht,
+mit dem er ein Gesetzbuch f&uuml;r die
+Gemeinschaft auf der Schildkr&ouml;teninsel entwarf,
+und jetzt standen sie von ihrer Arbeit auf. Der
+National&ouml;konom reckte sich und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind eigentlich der Einzige hier, der eine
+wirklich gem&uuml;tliche Wohnung hat; Ihre wundersch&ouml;nen,
+orientalischen Teppiche und die dunklen
+M&ouml;bel&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Na, wissen Sie was, Doktor. Die sch&ouml;ne Frau
+wohnt doch noch ganz anders.&laquo;</p>
+
+<p>Jakob Silberland zuckte die Achseln:</p>
+
+<p>&raquo;Wei&szlig; nicht. Sie hat ja alles sehr nett und sehr
+geschmackvoll eingerichtet, aber ich kann bei ihr
+nun mal nicht warm werden. Ich glaube, sie hat
+zu viel Luft in ihren Zimmern.&laquo;</p>
+
+<p>Der lange, blonde, j&uuml;dische Referendar lachte:</p>
+
+<p>&raquo;Ja, da haben Sie wieder mal recht; nichts auf
+der Welt macht eine Wohnung so gem&uuml;tlich, wie
+Staub und alter Tabaksrauch &#8211; ein Lehrsatz, den
+man &uuml;brigens auch gut und gern auf die gro&szlig;e
+Welt &uuml;bertragen kann. Finden Sie es vielleicht
+hier in unserem reinlichen und korrekten Staat
+<a class="page" name="Page_174" id="Page_174" title="174"></a>gem&uuml;tlich? Ich mu&szlig; zu meiner Schande gestehen,
+da&szlig; ich mich zuweilen nach den ehrw&uuml;rdigen,
+europ&auml;ischen Spinngeweben sehne.&laquo;</p>
+
+<p>Jakob Silberland war ernst geworden; er dachte
+einen Augenblick nach, dann sagte er eifrig:</p>
+
+<p>&raquo;Sie k&ouml;nnen nicht so die Parallele zwischen
+Zimmer und Welt ziehen. Was im Zimmer erlaubt
+ist, kann drau&szlig;en ein Verbrechen sein. Im Gegenteil
+f&uuml;rchte ich, da&szlig; wir schon einige Spinnen hier
+haben, und wir m&uuml;ssen f&uuml;r einen kr&auml;ftigen Besen
+sorgen, um die Gewebe wegzufegen.&laquo;</p>
+
+<p>Otto Meyer klopfte ihm auf die Schulter:</p>
+
+<p>&raquo;Nehmen Sie die Geschichte nicht so tragisch.
+So war es nicht gemeint.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das wei&szlig; ich schon; Sie wollten nur einen Witz
+machen. Aber gerade im Witze sagt man oft Dinge,
+die man sonst nicht auszusprechen wagt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber liebster Doktor, Sie brauchen meine Worte
+nicht als Bibelweisheit aufzufassen. Ich kann Ihnen
+versichern, da&szlig; ich kein Philosoph bin.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gerade deshalb &#8211; Halloh!&laquo;</p>
+
+<p>Es hatte geklingelt und Melchior war eingetreten.
+Er war augenscheinlich ohne Mantel gekommen,
+denn er triefte von Wasser.</p>
+
+<p>&raquo;Guten Tag, Herr wissenschaftlich gebildeter
+Bauarbeiter!&laquo; Mit diesen Worten begr&uuml;&szlig;te ihn
+Otto Meyer und sch&uuml;ttelte ihm die Hand.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_175" id="Page_175" title="175"></a>&raquo;St&ouml;re ich?&laquo; fragte Melchior und blieb an der
+T&uuml;re stehen.</p>
+
+<p>&raquo;Durchaus nicht&laquo;, sagte Jakob Silberland und
+ging auf ihn zu. &raquo;Im Gegenteil, Sie sind uns sehr willkommen.
+Nachher kommt auch Seebeck. Wir
+wollten sp&auml;ter zu Ihnen gehn; wir haben Wichtiges
+mit Ihnen zu besprechen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Einen Augenblick&laquo;, sagte Otto Meyer und ging
+in sein Schlafzimmer, aus dem er mit einem gro&szlig;en,
+rosa Bademantel zur&uuml;ckkehrte, den er mit ernsthaftem
+Gesicht um Melchiors Schultern h&auml;ngte.
+Er st&uuml;lpte ihm auch die Kapuze &uuml;ber den
+Kopf.</p>
+
+<p>&raquo;So&laquo;, sagte er, &raquo;jetzt werden Sie sich nicht erk&auml;lten.&laquo;</p>
+
+<p>Melchior lie&szlig; sich alles ruhig gefallen. Er setzte
+sich, und seine hei&szlig;en, tiefliegenden Augen wanderten
+zwischen den Beiden hin und her.</p>
+
+<p>&raquo;Was wollen Sie von mir?&laquo; fragte er.</p>
+
+<p>Otto Meyer zog die H&auml;ngelampe herunter, nahm
+Kuppel und Zylinder ab, putzte den Docht und
+z&uuml;ndete ihn dann an. Dabei sagte er:</p>
+
+<p>&raquo;Ich soll ein neues Amt &uuml;bernehmen, und da
+wollten wir Sie fragen, ob Sie an meine Stelle
+r&uuml;cken wollten.&laquo;</p>
+
+<p>Melchior sch&uuml;ttelte langsam den Kopf:</p>
+
+<p>&raquo;Das geht nicht&laquo;, sagte er, &raquo;das wissen Sie ja.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_176" id="Page_176" title="176"></a>&raquo;H&ouml;ren Sie mal&laquo;, sagte Jakob Silberland.
+&raquo;Wir wissen ja alle, aus welchen Motiven Sie
+bisher die &Uuml;bernahme eines Amtes abgelehnt haben
+und einfacher Arbeiter geblieben sind. Sie wollten
+Studien machen und dabei Ihrem Studienobjekte
+so nah wie m&ouml;glich sein. Das ist nicht nur verst&auml;ndlich,
+sondern sogar sehr vern&uuml;nftig. Jetzt
+liegen sie aber so, da&szlig; wir Ihre Mitarbeit brauchen,
+dringend brauchen, und deshalb bitten wir Sie,
+aus dem Zuschauerraum auf die B&uuml;hne zu steigen.&laquo;</p>
+
+<p>Melchior sch&uuml;ttelte den Kopf:</p>
+
+<p>&raquo;Wir gingen von der Voraussetzung aus, da&szlig; alle
+Arbeit gleichwertig sei; deshalb mu&szlig; es gleichgiltig
+sein, ob ich Vorsteher der Gemeinschaft oder
+Maurer bin.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, da irren Sie sich gewaltig&laquo;, sagte Jakob
+Silberland mit hochgezogenen Brauen und ging
+nerv&ouml;s im Zimmer auf und ab. &raquo;Allerdings betrachten
+wir alle Arbeit als gleichwertig, was
+sich schon darin &auml;u&szlig;ert, da&szlig; alle Arbeiter den
+gleichen Lohn beziehen. Doch ist dabei selbstverst&auml;ndliche
+Voraussetzung, da&szlig; jeder an dem
+richtigen Platze steht. Es ist eine doppelte Verschwendung
+menschlicher Energie, den geistigen
+Arbeiter an die k&ouml;rperliche Arbeit zu stellen, die
+er doch nicht so versehen kann, wie der Muskelmensch.
+Das ist doch die Grundlage einer jeden
+<a class="page" name="Page_177" id="Page_177" title="177"></a>vern&uuml;nftigen Gesellschaftsordnung, da&szlig; jeder ganz
+genau die Arbeit tut, zu der er am besten geeignet
+ist. Das ist doch gerade der Wahnsinn der &uuml;blichen
+Gesellschaftsordnungen, da&szlig; die Angeh&ouml;rigen gewisser
+Familien geistige Berufe ergreifen m&uuml;ssen,
+wenn sie auch tausendmal besser zu Handwerkern
+pa&szlig;ten, w&auml;hrend der geborene geistige Arbeiter
+aus der Unterklasse nur in Ausnahmef&auml;llen auf
+den ihm seiner nat&uuml;rlichen Anlage nach zukommenden
+Platz kommt.&laquo;</p>
+
+<p>Melchior war aufgesprungen. Erregt wollte er
+seinen Arm ausstrecken, aber der verfing sich in
+den Falten des Bademantels, ein Vorgang, der Otto
+Meyer ein Schmunzeln entlockte. Er verbi&szlig; es
+aber und sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Und dann noch eins, Herr Melchior: Sie haben
+ja Ihr ber&uuml;hmtes Problem, auf dessen L&ouml;sung wir
+alle gespannt sind. Schaun Sie mal, bis jetzt
+haben Sie die Geschichte von unten angesehn, wie
+w&auml;re es, wenn Sie sie auch einmal von oben ans&auml;hen?
+Glauben Sie nicht, da&szlig; Ihnen dann manche
+Dinge klarer w&uuml;rden? Das w&auml;re doch auch ein
+Gesichtspunkt, nicht wahr?&laquo;</p>
+
+<p>Melchior hatte den Bademantel abgestreift.</p>
+
+<p>&raquo;Oh Gott, oh Gott, was sagen Sie mir da alles,
+dar&uuml;ber werde ich nachdenken. Aber ich glaube,
+Sie haben Recht, meine Herren.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_178" id="Page_178" title="178"></a>&raquo;Na also&laquo;, sagte Otto Meyer und unterdr&uuml;ckte
+ein G&auml;hnen.</p>
+
+<p>Melchior war dicht an ihn herangetreten.</p>
+
+<p>&raquo;Aber ich begreife die Menschen noch nicht, mit
+denen ich jetzt jahrelang tagt&auml;glich zusammenarbeite.
+W&auml;re es nicht besser, solange bei ihnen zu
+bleiben, bis ich wirklich die Gesetze ihres Lebens
+kennte?&laquo;</p>
+
+<p>Otto Meyer machte ein nachdenkliches Gesicht:</p>
+
+<p>&raquo;Vielleicht, ja wahrscheinlich, werden Sie die
+Sache dann gerade besser verstehen k&ouml;nnen, wenn
+Sie etwas Abstand gewinnen. Sie k&ouml;nnen ja dann
+sp&auml;ter mit neuen Gesichtspunkten an dieselben
+Probleme gehen.&laquo;</p>
+
+<p>Melchior setzte sich wieder und starrte vor sich
+hin. Dann hob er die Augen und sah den blonden
+Juden an.</p>
+
+<p>&raquo;Sehen Sie, Herr Referendar&laquo;, sagte er langsam,
+&raquo;deswegen kam ich zu Ihnen. Ich wollte Sie um
+Ihre Meinung fragen. Sie erinnern sich doch gewi&szlig;
+noch an jene Gespr&auml;che, besonders an das letzte,
+wo Herr Edgar Allan seine Theorie vortrug. Sie
+haben nat&uuml;rlich auch dar&uuml;ber nachgedacht. Sehen
+Sie, die eine, sehr interessante Frage, weshalb man
+die staatlichen Formen im weitesten Sinne, das,
+was Herr Edgar Allan kurz die Begriffe nennt,
+sowohl als fortgeschrittener, wie auch als zur&uuml;ckgebliebener
+<a class="page" name="Page_179" id="Page_179" title="179"></a>in bezug auf den tats&auml;chlichen Zustand
+der Menschheit ansehen k&ouml;nnte, m&ouml;chte ich beiseite
+lassen. Denn mir scheint &#8211; ich bitte Sie,
+passen Sie auf, meine Herren &#8211; da&szlig; jene Begriffe
+mit den Gesetzen, nach denen die Menschheit
+tats&auml;chlich lebt und sich entwickelt, &uuml;berhaupt
+nichts zu tun haben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Donnerwetter!&laquo; rief Jakob Silberland und fuhr
+sich mit der Hand durch das lange, blauschwarze
+Haar.</p>
+
+<p>&raquo;Herr Doktor Silberland, ich bitte Sie, sich
+folgendes zu &uuml;berlegen: stellen Sie sich doch eine
+chinesische Millionenstadt ohne Verwaltung, ohne
+Gesetze und ohne Polizei vor, die trotzdem lebt,
+wie ein geordneter Organismus lebt, nur durch
+die ungeschriebenen, inneren Gesetze erhalten&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wie lange waren Sie in China, Herr Melchior?&laquo;
+fragte Otto Meyer interessiert.</p>
+
+<p>&raquo;Ich? Ich war nie da, aber ich kann mir doch
+vorstellen, wie das ist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Hm. Ich meine, wenn Sie China nicht so genau
+kennen, es w&auml;re doch immerhin m&ouml;glich, wenigstens
+denkbar, da&szlig; die chinesischen St&auml;dte auch
+wie die unserigen eine geordnete Verwaltung
+h&auml;tten.&laquo;</p>
+
+<p>Melchior schwieg und dachte nach. Dann sagte
+er:</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_180" id="Page_180" title="180"></a>&raquo;Aber dann denken Sie doch bitte an einen
+Ameisenhaufen, der doch wohl die geordnetste
+Organisation auf der Welt darstellt &#8211; wo ist da
+Verwaltung und Regierung? Und doch geht alles
+in der besten Ordnung.&laquo;</p>
+
+<p>Melchior sah, da&szlig; es um Otto Meyers Mund
+zuckte, und er f&uuml;rchtete eine indiskrete Frage nach
+dem Ursprung seiner Kenntnisse der Ameisen. Deshalb
+fuhr er schnell fort:</p>
+
+<p>&raquo;Die Beispiele tun gar nichts zur Sache. Tag
+f&uuml;r Tag habe ich diese ungeschriebenen Gesetze
+herausgef&uuml;hlt und ich wei&szlig;, da&szlig; ich deshalb mit
+meinen Arbeitskollegen keine wirkliche F&uuml;hlung
+gewinnen konnte, weil ich diese instinktiven Gesetze
+intellektuell suchte.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie suchen Probleme, wo es keine gibt&laquo;, sagte
+Jakob Silberland. &raquo;Die ungeschriebenen Gesetze,
+die Sie sehr richtig als die instinktiven bezeichnen,
+sind die, die sich aus den nat&uuml;rlichen, animalischen
+Bed&uuml;rfnissen des Menschen: Hunger, Liebestrieb
+und so weiter ergeben. Die geschriebenen Gesetze
+dagegen stellen eine recht hilflose Kodifikation
+dieser aus den animalischen Bed&uuml;rfnissen im weitesten
+Sinne sich ergebenden praktischen Folgerungen
+f&uuml;r die Soziet&auml;t dar, die immer in ihrem tats&auml;chlichen
+Zustande die genaueste Abw&auml;gung der realen
+St&auml;rke- und Bed&uuml;rfnisverh&auml;ltnisse darstellt.
+<a class="page" name="Page_181" id="Page_181" title="181"></a>Die Gesetze hinken nat&uuml;rlich immer nach.
+Und das ist ja unser Bestreben hier, so wenig wie
+irgend m&ouml;glich mit festen Gesetzen zu arbeiten,
+sondern alles so fluid zu lassen, wie es geht. Gesetze
+stellen in ihrer starren Abstraktion immer
+einen Fremdk&ouml;rper im zuckenden, lebendigen Organismus
+der menschlichen Gesellschaft dar.&laquo;</p>
+
+<p>Melchior lie&szlig; die Hand schlaff auf die Stuhllehne
+fallen:</p>
+
+<p>&raquo;Da sitzen wir wieder fest. Aber Dr. Allan
+scheint doch recht zu haben, wenn er sagt, da&szlig; die
+Begriffe ein eigenes, lebensfremdes Dasein f&uuml;hren.
+Und wie ist das m&ouml;glich, da&szlig; sie gleichzeitig ein
+h&ouml;heres und ein tieferes Niveau als die Menschheit
+darstellen! In diesem R&auml;tsel liegt doch der Schl&uuml;ssel
+zum Problem verborgen.&laquo;</p>
+
+<p>Otto Meyer r&auml;usperte sich:</p>
+
+<p>&raquo;Wahrscheinlich ist die Sache einfach so, da&szlig;
+man sie, von zwei verschiedenen Gesichtspunkten
+aus betrachtend, verschieden sieht. Vom Tale aus
+gesehen sind sie hoch, vom Berge aus erscheinen
+sie tief, weil sie eben auf halber H&ouml;he liegen.&laquo;</p>
+
+<p>Melchior sprang auf. Seine Augen waren aufgerissen:</p>
+
+<p>&raquo;Ich bitte Sie, mehr! Wie ist Ihr Gedankengang?&laquo;</p>
+
+<p>Otto Meyer lachte:</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_182" id="Page_182" title="182"></a>&raquo;Um Gotteswillen beruhigen Sie sich. Ich habe
+gar keinen Gedankengang. Ich meinte nur ganz
+harmlos, da&szlig; wenn Sie behaupten, da&szlig; der Teppich
+gr&uuml;n ist, Silberland ihn dagegen f&uuml;r gelb h&auml;lt, er
+vermutlich auf der einen Seite gr&uuml;n und auf der
+anderen gelb ist.&laquo;</p>
+
+<p>Melchior sah ihn verst&auml;ndnislos an; dann sank
+er gleichsam in sich zusammen. Nach einer Weile
+sagte er leise:</p>
+
+<p>&raquo;Ich wei&szlig;, da&szlig; Sie mich verspotten, und doch
+haben Sie mir damit geholfen. Ich sehe jetzt wieder
+den Weg vor mir. Ich danke Ihnen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bitte, bitte, gern geschehen&laquo;, sagte Otto Meyer
+und stand auf. Er hatte drau&szlig;en Schritte geh&ouml;rt.
+Es war Paul Seebeck.</p>
+
+<p>&raquo;Ah, Melchior, Sie&laquo;, sagte er eintretend. &raquo;Sch&ouml;n,
+da&szlig; ich Sie hier treffe. Dann k&ouml;nnen wir die Sache
+ja gleich besprechen. Ich habe n&auml;mlich fast gar
+keine Zeit. &#8211; Gr&uuml;&szlig; Gott, Jakob.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wir haben Herrn Melchior schon die Sache vorgetragen;
+er ist auch einverstanden&laquo;, erkl&auml;rte Jakob
+Silberland.</p>
+
+<p>&raquo;So? Sch&ouml;n. Es handelt sich also darum&laquo;,
+sagte Paul Seebeck, sich setzend, &raquo;da&szlig; das bisherige
+Verfahren, bei dem alle Streitigkeiten von der
+Monatsversammlung geschlichtet werden, auf die
+Dauer nicht durchf&uuml;hrbar ist. In Zukunft soll die
+<a class="page" name="Page_183" id="Page_183" title="183"></a>Monatsversammlung nur noch Berufungsinstanz
+sein, vielleicht sogar erst dritte Instanz. Zun&auml;chst
+sollen alle Sachen jedenfalls von einem Richter
+entschieden werden, vor allem die reinen Bagatellsachen.
+Ob wir als n&auml;chste Instanz die Vorstandschaft
+nehmen, oder gleich die Monatsversammlung,
+m&uuml;ssen wir uns noch &uuml;berlegen. Praktisch kommt
+es ja auf dasselbe hinaus, da die Versammlung ja
+fast immer gem&auml;&szlig; den Vorschl&auml;gen der Vorstandschaft
+beschlie&szlig;t. Na, wir werden sehen, wie sich
+das am besten formulieren l&auml;&szlig;t. Jedenfalls soll
+Otto Meyer der Richter sein. Und Sie w&uuml;rden
+wir bitten, seine Stellung zu &uuml;bernehmen. Wenn
+Sie einverstanden sind, w&uuml;rde ich Ihnen vorschlagen,
+bis zur n&auml;chsten Jahresversammlung als
+Otto Meyers Gehilfe zu arbeiten, um mit den Gesch&auml;ften
+vertraut zu werden. Auf der Jahresversammlung
+lassen wir dann entsprechend beschlie&szlig;en.
+Die Sache wird uns nat&uuml;rlich ohne weiteres genehmigt;
+die Leute sind ja nur froh, wenn wir ihnen
+wieder ein St&uuml;ck Denkarbeit abnehmen. Sind Sie
+einverstanden?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, Herr Seebeck, ich w&uuml;rde ja gern ein Amt
+&uuml;bernehmen, seitdem ich eingesehen habe, da&szlig;
+meine Anschauungen einseitig bleiben m&uuml;ssen,
+solange ich nur einfacher Arbeiter bin. Aber hinter
+dem, was Sie jetzt sagten, liegt noch so viel verborgen,
+<a class="page" name="Page_184" id="Page_184" title="184"></a>was ich erst durchdenken mu&szlig;. Wollen
+Sie mir nicht einige Tage Bedenkzeit lassen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann es nicht, lieber Melchior. Es ist
+unm&ouml;glich. Ich habe alles aufs Genaueste durchdacht
+und wei&szlig;, da&szlig; es richtig ist. Ich bitte Sie,
+sich jetzt sofort zu entscheiden.&laquo; Seebeck hatte
+seine Augen kalt und streng auf Melchior gerichtet,
+und dieser kr&uuml;mmte sich unter dem Blick. Endlich
+sagte er:</p>
+
+<p>&raquo;Herr Seebeck, ich vertraute Ihnen, als ich hierherkam.
+Ich tue es auch jetzt noch, obgleich ich
+Sie nicht mehr verstehe. Ich nehme Ihren Vorschlag
+an.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich danke Ihnen&laquo;, sagte Seebeck aufstehend.
+&raquo;Aber jetzt mu&szlig; ich wieder an meine Arbeit.&laquo;</p>
+
+<p>Er ging aber nicht nach Hause, sondern an den
+Strand. Dort sa&szlig; er, trotz des str&ouml;menden Regens,
+lange auf einem Steine und sah zu, wie ein Licht
+nach dem andern erlosch. Zuletzt auch die
+Stra&szlig;enlaternen. Da erhob er sich, und der gro&szlig;e,
+starke Mann ging langsam, mit schleppenden
+Schritten wie ein Kranker, die Stra&szlig;e hinauf. Vor
+Frau von Zeuthens Haus blieb er stehen; nur die
+verh&auml;ngten Fenster ihres Schlafzimmers waren erleuchtet.
+Wie er weitergehen wollte, h&ouml;rte er bei
+ihrer Haust&uuml;re ein Ger&auml;usch. Schnell trat er etwas
+zur Seite und sah hin. Die T&uuml;r wurde ge&ouml;ffnet, und
+<a class="page" name="Page_185" id="Page_185" title="185"></a>eine dunkle Gestalt trat heraus, sah sich scheu
+um und kam dann mit seltsamen Schritten n&auml;her.
+Paul Seebeck sah den kurzen Oberleib mit den
+langen Armen. Kein Zweifel: es war der Kr&uuml;ppel.</p>
+
+<p>Das Licht in Frau von Zeuthens Schlafzimmer
+erlosch.</p>
+
+<p>Paul Seebeck lie&szlig; Herrn de la Rouvi&egrave;re vorbei
+gehen und im Dunkel verschwinden. Dann richtete er
+sich stramm auf, bi&szlig; die Z&auml;hne zusammen und ging
+nach Hause.</p>
+
+<p>Auf seinem Schreibtisch stand Frau von Zeuthens
+Bild; er nahm es, sah ihm lange in die Augen, k&uuml;&szlig;te
+es und setzte sich dann an seine Arbeit.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_186" id="Page_186" title="186"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Schon</span> als die Schwefelquellen erst notd&uuml;rftig
+eingefa&szlig;t waren, und die ersten Baracken am
+See standen, bildete der &raquo;Vulkan&laquo;, wie die entstehende
+Stadt kurz genannt wurde, einen beliebten
+Ausflugsort. Die schweren Lastautomobile waren
+auch zur Mitnahme einiger Personen eingerichtet,
+aber das gen&uuml;gte bald nicht mehr. Sobald die Stra&szlig;e
+gebrauchsfertig war, lie&szlig; Jakob Silberland als
+Gesch&auml;ftsf&uuml;hrer einige Personenautomobile kommen,
+die den t&auml;glich anwachsenden Verkehr kaum zu bew&auml;ltigen
+vermochten. Nat&uuml;rlich war es unm&ouml;glich,
+in der Schnelligkeit gen&uuml;gende Unterkunftsh&auml;user
+zu schaffen, aber da fand Edgar Allan einen Ausweg.
+In den Schluchten am Fu&szlig;e des Vulkans
+lie&szlig;en sich mit ganz geringer M&uuml;he mit Hilfe von
+Segeltuchd&auml;chern und Fu&szlig;matten Wohnst&auml;tten
+improvisieren, die im warmen, regenlosen Sommer
+ausreichten.</p>
+
+<p>Es kamen auch Fremde zum &raquo;Vulkan&laquo;; die
+Durchreisenden, die oft einige Tage oder Wochen
+auf der in Deutschland nat&uuml;rlich vielbesprochenen
+Schildkr&ouml;teninsel verweilten, vers&auml;umten nicht,
+die neuentstandene zweite Stadt zu besuchen, und
+nachdem erst die gro&szlig;en Schwefelb&auml;der in ordnungsm&auml;&szlig;en
+<a class="page" name="Page_187" id="Page_187" title="187"></a>Betrieb gesetzt worden waren, wurden
+sie nicht zum geringsten Teil von den Besuchern
+der Insel benutzt.</p>
+
+<p>Einer der ersten Besucher war &uuml;brigens ein Herr
+von Hahnemann, ein bei Neu-Guinea stationierter
+Marineoffizier, der auf der Schildkr&ouml;teninsel
+seinen Urlaub verbrachte. Dieser Herr von Hahnemann
+fiel eigentlich besonders durch seine Wi&szlig;begierde
+auf; man sah ihn oft stundenlang mit einfachen
+Arbeitern im Gespr&auml;ch. Auch hatte er
+bei den Vorstehern und einigen anderen hervortretenden
+Pers&ouml;nlichkeiten, wie Nechlidow, Herren
+de la Rouvi&egrave;re und Frau von Zeuthen Besuche
+gemacht und wurde auch von diesen gelegentlich
+eingeladen.</p>
+
+<p>Einige Tage vor seiner Abreise kam Herr von
+Hahnemann zu Paul Seebeck, um sich zu verabschieden.
+Paul Seebeck empfing ihn, wie er schon
+so manchen derartigen Besucher empfangen hatte,
+mit dem sehnlichen Wunsche, da&szlig; dieser ihn bald
+wieder allein lie&szlig;e. Da Herr von Hahnemann aber
+blieb, fragte er ihn nach Verlauf einer Stunde:</p>
+
+<p>&raquo;Haben Sie vielleicht ein besonderes Anliegen?
+Wenn ich Ihnen irgend eine besondere Aufkl&auml;rung
+geben k&ouml;nnte &#8211;?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind au&szlig;erordentlich liebensw&uuml;rdig&laquo;, antwortete
+der Offizier mit einer leichten Verbeugung.
+<a class="page" name="Page_188" id="Page_188" title="188"></a>&raquo;Entschuldigen Sie die etwas indiskrete Frage mit
+meinem gro&szlig;en Interesse: wie denken Sie sich die
+Zukunft, Herr Seebeck?&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck sah ihn zweifelnd an. Dann stand
+er auf und ging zum Fenster.</p>
+
+<p>&raquo;Ich verstehe Ihre Frage nicht recht. Wir
+werden so weiterarbeiten wie bisher.&laquo; Und dabei
+sah er seinem Besucher gerade in die Augen.</p>
+
+<p>&raquo;Pardon, gewi&szlig;. Ich meinte aber, wie denken
+Sie sich in Zukunft Ihre pers&ouml;nliche Stellung zu
+der Sache?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Solange ich das Vertrauen der Mehrheit habe&laquo;,
+sagte Paul Seebeck ziemlich schroff, &raquo;bleibe ich
+hier auf meinem Posten.&laquo;</p>
+
+<p>Herr von Hahnemann stand auf:</p>
+
+<p>&raquo;Aber die haben Sie ja nicht mehr. Auf der
+letzten Jahresversammlung sind Sie von einer
+Minorit&auml;t nur deshalb gew&auml;hlt worden, weil sich
+die oppositionellen Stimmen auf zwei Kandidaten
+verteilten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Herr von Hahnemann&laquo;, sagte Seebeck und trat
+dicht vor ihn hin. &raquo;Ich bin ordnungsgem&auml;&szlig; gew&auml;hlt
+worden, und damit ist dieser Punkt erledigt. Im
+&Uuml;brigen bedauere ich, mich mit einem Au&szlig;enstehenden
+nicht &uuml;ber innere Verh&auml;ltnisse unserer
+Gemeinschaft aussprechen zu k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_189" id="Page_189" title="189"></a>&raquo;Herr Seebeck, ich verstehe Ihre Erregung &uuml;ber
+meine taktlosen Fragen durchaus. Ich m&ouml;chte Sie
+aber darauf aufmerksam machen, da&szlig; ich &#8211; nicht
+nur als Privatmann hier bin.&laquo;</p>
+
+<p>Seebeck setzte sich an seinen Schreibtisch und
+fragte ganz ruhig:</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind im Auftrage der Reichsregierung hier?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja&laquo;, sagte Herr von Hahnemann. &raquo;Es war eine
+Klage eingelaufen, und ich wurde hierher geschickt,
+um ihre Grundlagen zu pr&uuml;fen. Zu meinem Bedauern
+fand ich sie best&auml;tigt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Darf ich Sie fragen, wer au&szlig;er Nechlidow die
+Klage unterzeichnet hat, deren Inhalt ich mir
+denken kann&laquo;, fragte Paul Seebeck zwischen den
+Z&auml;hnen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich bedaure, Ihnen darauf die Antwort verweigern
+zu m&uuml;ssen. Sie sagen selbst, da&szlig; Sie sich
+den Inhalt der Klageschrift denken k&ouml;nnen, damit
+er&uuml;brigt sich, auf die einzelnen Punkte einzugehn.
+Ich bin v&ouml;llig unbefangen hierhergekommen und
+habe alles mit eigenen Augen gepr&uuml;ft, besonders
+das Protokoll jener Sitzung. Da ich mich leider
+von der Stichhaltigkeit jener Klage &uuml;berzeugen
+mu&szlig;te, sehe ich mich zu meinem Bedauern gen&ouml;tigt,
+von meinen Vollmachten Gebrauch zu
+machen. Sie m&uuml;ssen die Reichsregierung verstehen,
+Herr Seebeck. Wenn hier nur einige
+<a class="page" name="Page_190" id="Page_190" title="190"></a>Idealisten auf einem unfruchtbaren Felseneilande
+s&auml;&szlig;en, k&ouml;nnte man sie ja in Gottes Namen machen
+lassen, was sie wollten, und ihre Experimente
+mit Wohlwollen und Interesse betrachten. Da
+es sich jetzt aber schon um Hunderte handelt,
+die Zahl der Ansiedler wahrscheinlich noch bedeutend
+steigen wird, und ferner das Interesse
+des Reichs an diesem Teile seines Kolonialbesitzes
+durch die Schwefelfunde noch erh&ouml;ht ist, ist es nicht
+nur das gute Recht, sondern die Pflicht des Reiches,
+hier absolut korrekte Zust&auml;nde zu schaffen.&laquo;</p>
+
+<p>Er machte eine Pause, als erwartete er eine Antwort;
+aber Paul Seebeck sagte nichts, sah ihm nur
+ruhig ins Gesicht. Der Offizier wurde nerv&ouml;s unter
+diesem Blicke; er holte aus seiner Brusttasche
+einige Papiere, sowie ein kleines Etui hervor.</p>
+
+<p>&raquo;Herr Seebeck, auch f&uuml;r den Fall, da&szlig; sich jene
+Klage als stichhaltig erweisen sollte, will die Reichsregierung
+in Anbetracht Ihrer unbestreitbaren
+gro&szlig;en Verdienste Ihnen auch nur den Schatten
+einer Dem&uuml;tigung ersparen. Sie verlangt nichts,
+als da&szlig; Sie Ihr Mandat als Reichskommissar niederlegen,
+und wird dann von sich aus einen neuen
+ernennen. Was wir gesprochen haben, bleibt unter
+uns. Und hier haben Sie noch einen ausdr&uuml;cklichen
+Gnadenbeweis.&laquo; Dabei legte er das kleine Etui
+auf den Schreibtisch.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_191" id="Page_191" title="191"></a>&raquo;Das Ding enth&auml;lt vermutlich einen Orden&laquo;,
+sagte Paul Seebeck aufstehend. &raquo;Bitte stecken Sie
+ihn wieder ein. Wollen Sie so liebensw&uuml;rdig sein,
+mir eine Frage zu beantworten: Was wird geschehen
+wenn ich mich jetzt weigere, das Reichskommissariat
+freiwillig niederzulegen?&laquo;</p>
+
+<p>Der Offizier war aufgesprungen:</p>
+
+<p>&raquo;&Uuml;berlegen Sie sich, was Sie sagen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe es mir &uuml;berlegt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das ist ein Affront.&laquo;</p>
+
+<p>Seebeck zuckte die Achseln:</p>
+
+<p>&raquo;Nicht gegen Sie, verehrter Herr von Hahnemann.
+Sie sind ja nur Werkzeug. Sie spielen in
+einer Kom&ouml;die mit, glauben Regisseur zu sein und
+sind nur Puppe. Soll ich Ihnen sagen, weshalb
+ich gehen soll? Nicht, weil es hier schlecht geht,
+nicht weil ich meine Stellung mi&szlig;braucht habe,
+sondern weil alles gut geht, besser geht, als es sich
+die Herren dort in Berlin je tr&auml;umen lie&szlig;en. Weil
+wir mit unserer Arbeit vorw&auml;rts kommen. Wir
+haben hier etwas Brauchbares geschaffen, haben die
+Durchf&uuml;hrbarkeit gewisser Utopieen erwiesen, und
+das ist der springende Punkt. Alles andere ist ja
+nur Vorwand. Einige kleine Schwierigkeiten, die
+die Durchf&uuml;hrung einer gro&szlig;en Sache naturgem&auml;&szlig;
+mit sich f&uuml;hrt, die N&ouml;rgeleien und Quertreibereien
+irgendwelcher Personen, die gar nicht verstehen,
+<a class="page" name="Page_192" id="Page_192" title="192"></a>worum es sich hier handelt, geben den bequemen
+Vorwand, um alles zu vernichten. Ein Reichskommissar
+aus Berlin hier, hier in meinem Werke!
+Nein mein Freund. Nehmen Sie Ihr Ding da mit
+und sch&auml;men Sie sich, bei einer so unw&uuml;rdigen
+Kom&ouml;die mitzuwirken. Erz&auml;hlen Sie den Herren
+in Berlin, da&szlig; Paul Seebeck nicht f&uuml;r einen lausigen
+Orden sein Lebenswerk verkauft. Das Reichskommissariat
+lege ich nicht nieder.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich will &#8211; durchaus gegen meine Gewohnheit
+&#8211; die Spitze &uuml;berh&ouml;rt haben, die meine Person
+betrifft, um die unerh&ouml;rte Beschuldigung zur&uuml;ckzuweisen,
+die Sie gegen die Reichsregierung gerichtet
+haben. Sie f&uuml;hlen sich in einer schwachen
+Position und sehen deshalb voll ungerechtfertigter
+Bitterkeit auf alle anderen. &Uuml;berlegen Sie
+sich doch: die Reichsregierung hat Sie mit dem
+gr&ouml;&szlig;ten Wohlwollen behandelt; was soll die Regierung
+aber anders tun, als Ihnen in schonendster
+Form den Abschied nahezulegen, wenn sich die
+Mehrzahl Ihrer eigenen B&uuml;rger gegen Sie erkl&auml;rt?
+Und mehr, wenn die Klage sich als berechtigt erweist?
+Sie selbst tragen allein Schuld an dieser
+Wendung der Dinge, jetzt m&uuml;ssen Sie auch die
+Konsequenzen ziehen. Legen Sie das Reichskommissariat
+nieder!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich tue es nicht!&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_193" id="Page_193" title="193"></a>&raquo;Dann wird man Sie dazu zwingen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Versuchen Sie es!&laquo; sagte Paul Seebeck und ging
+in sein Schlafzimmer, dessen T&uuml;r er hinter sich
+zuschlug.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_194" id="Page_194" title="194"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Sobald</span> die &raquo;Prinzessin Irene&laquo; mit Herrn von
+Hahnemann an Bord die Anker gelichtet hatte,
+berief Paul Seebeck die Vorsteher der Gemeinschaft
+zu sich und zwar die offiziellen Inhaber der &Auml;mter,
+nicht ihre st&auml;ndigen Stellvertreter. Das war
+auff&auml;llig, denn die st&auml;ndigen Stellvertreter, wie
+zum Beispiele Herr de la Rouvi&egrave;re, pflegten sonst
+immer zu den Sitzungen zugezogen zu werden.
+Paul Seebeck schickte auch Fr&auml;ulein Erhardt fort,
+die gew&ouml;hnlich bei den Sitzungen das Protokoll
+gef&uuml;hrt hatte, und schlo&szlig; aufs Sorgf&auml;ltigste alle
+T&uuml;ren und Fenster seines Arbeitszimmers. Seine
+Freunde sahen erstaunt seinem Tun zu; als er ihnen
+aber dann seine Unterredung mit Herrn von Hahnemann
+erz&auml;hlt hatte, die schon drei Tage zur&uuml;cklag,
+&uuml;ber die beide Teilnehmer aber bisher v&ouml;lliges
+Stillschweigen bewahrt hatten, begriffen sie ihn.
+Ein langes Schweigen folgte seinem Berichte.</p>
+
+<p>Als erster ergriff Herr von Rochow das Wort:</p>
+
+<p>&raquo;Man kann Nechlidow nicht einmal einen Vorwurf
+machen; er hat nur aus den reinsten Motiven
+heraus gehandelt, freilich ohne die Tragweite
+seines Vorgehens auch nur im Entferntesten zu
+&uuml;bersehen.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_195" id="Page_195" title="195"></a>&raquo;Ach wissen Sie was, Herr von Rochow&laquo;, unterbrach
+ihn Paul Seebeck m&uuml;de, &raquo;es mu&szlig;te einmal
+so kommen. Ob Nechlidow oder ein anderer nun
+den entscheidenden Schritt tat. Aber bei Gott&laquo;,
+rief er aufstehend, &raquo;ich lasse mir mein Werk nicht
+zerst&ouml;ren. Und was w&uuml;rde es helfen, da&szlig; die Leute
+einen von unseren Leuten zum Kommissar machen;
+sie werden schon daf&uuml;r sorgen, da&szlig; es ein richtiger
+Eunuche ist, der ihren Willen tut. Was eine
+unf&auml;hige Verwaltung aus lebenskr&auml;ftigen Kolonien
+machen kann, sieht man ja deutlich genug aus
+unseren afrikanischen Kolonien.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Besonders, wenn man an die englischen Nachbarkolonien
+denkt&laquo;, sagte Jakob Silberland.</p>
+
+<p>&raquo;Gehen wir doch zu England&laquo;, sagte Otto Meyer
+gem&uuml;tlich; &raquo;die werden uns schon in Frieden lassen;
+die Engl&auml;nder wissen, da&szlig; die Kolonieen von
+M&auml;nnern gemacht werden und nicht von Korpsstudenten.&laquo;</p>
+
+<p>Seebeck sah ihn starr an.</p>
+
+<p>&raquo;Bitte&laquo;, sagte er.</p>
+
+<p>&raquo;Ich meine&laquo;, sagte Otto Meyer, &raquo;wir haben
+keinen Grund, das positive Resultat unserer Arbeit
+zerst&ouml;ren zu lassen, blo&szlig; weil einige Geheimr&auml;te
+im Kolonialamt Bauchschmerzen haben. Wenn die
+Deutschen eine anst&auml;ndige Kolonie nicht haben
+k&ouml;nnen, erkl&auml;ren wir uns f&uuml;r autonom und lassen
+<a class="page" name="Page_196" id="Page_196" title="196"></a>uns dann von England annektieren. Sowas l&auml;&szlig;t sich
+doch machen, deswegen braucht man doch nicht
+gleich tragisch zu werden.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das w&auml;re Revolution&laquo;, sagte Hauptmann a.&nbsp;D.
+von Rochow ernst.</p>
+
+<p>Paul Seebeck dachte nach; dann fuhr er heftig
+auf:</p>
+
+<p>&raquo;Ist das unsere Schuld? Was gehen wir das Reich
+an? Wir haben den Leuten nicht einen Pfennig
+gekostet; alles haben wir allein gemacht, mit unserer
+Arbeit, unserem Gelde. Jetzt wo die Sache nahezu
+vollendet ist, wollen sie es nicht etwa &uuml;bernehmen,
+um es in unserem Sinne fortzuf&uuml;hren, sondern sie
+wollen es zerst&ouml;ren. Ich bitte Sie, stellen Sie sich
+doch hier einen Berliner Gouverneur vor! Oder
+noch schlimmer, einen hiesigen Idioten, der die
+Puppe der Herren da oben ist! Aber das erlaube
+ich nie! Vorl&auml;ufig bin ich hier.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Also, erw&auml;ge doch meinen Vorschlag. Ich
+glaube, das ist der einzige Ausweg.&laquo;</p>
+
+<p>Jakob Silberland stand auf und trippelte auf
+seinen kurzen Beinchen im Zimmer auf und ab:</p>
+
+<p>&raquo;Wir wollen doch zun&auml;chst mal &uuml;berlegen, was
+jetzt geschehen wird. Vom n&auml;chsten Hafen aus
+telegraphiert der Mann nach Berlin, da&szlig; Seebeck
+sich weigert, freiwillig zur&uuml;ckzutreten; die Antwort
+lautet wahrscheinlich, da&szlig; Herr von Hahnemann
+<a class="page" name="Page_197" id="Page_197" title="197"></a>Vollmacht erh&auml;lt, Seebeck abzusetzen, und entweder
+er oder ein anderer wird vorl&auml;ufig Reichskommissar
+hier, bis sie den richtigen Idioten herausgefunden
+haben. Hahnemann kann vor einem
+Monat &uuml;berhaupt nicht wieder hier sein; das w&auml;re
+das allerfr&uuml;hste. Vorl&auml;ufig kann man Seebeck
+nichts tun. Da&szlig; er sich weigert, freiwillig seinen
+Abschied zu nehmen, ist kein Verbrechen. Kritisch
+wird die Sache erst, wenn ihm das Reichskommissariat
+entzogen wird, und er sich nicht darum
+k&uuml;mmert. Dann kommt ein Kriegsschiff und nimmt
+ihn als Aufr&uuml;hrer mit. Bis dahin w&uuml;rde aber
+mindestens ein zweiter Monat vergehen. In diesen
+zwei Monaten m&uuml;&szlig;te alles entschieden sein; denn
+wenn wir offenen Aufruhr begehen und uns nicht
+durchsetzen, sind wir verloren.&laquo;</p>
+
+<p>Seebeck hatte sich wieder gesetzt; ruhig sagte er:</p>
+
+<p>&raquo;Kinder, ihr beide wi&szlig;t Bescheid im Staatsrecht.
+Existiert denn &uuml;berhaupt eine M&ouml;glichkeit, sich
+von England annektieren zu lassen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig;, die M&ouml;glichkeit ist da. Einer von uns
+m&uuml;&szlig;te mit dem n&auml;chsten Schiffe nach Sidney und
+sehen, was er dort ausrichten kann&laquo;, sagte Jakob
+Silberland eifrig.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn Herr von Rochow als Fachmann mir
+helfen will, baue ich Ihnen in sechs Wochen Befestigungen
+auf, die dem Kriegsschiff eine harte
+<a class="page" name="Page_198" id="Page_198" title="198"></a>Nu&szlig; zu knacken geben werden. Eine Landung zu
+verhindern, ist bei unserem Hafen eine Kleinigkeit,
+einige Seeminen gen&uuml;gen&laquo;, f&uuml;gte der hagere
+Architekt hinzu.</p>
+
+<p>&raquo;Ich beschw&ouml;re Sie, meine Herren, &uuml;berlegen
+Sie sich, was Sie tun wollen! Revolution, Vaterlandsverrat!&laquo;
+rief Herr von Rochow.</p>
+
+<p>&raquo;Das Vaterland hat uns verraten, nicht wir das
+Vaterland&laquo;, sagte Paul Seebeck scharf. &raquo;Aber
+ich will Sie zu nichts verleiten, was Ihrem Gewissen
+widerspricht. Noch ist es Zeit f&uuml;r Sie alle, sich zur&uuml;ckzuziehen.
+Ich aber bleibe hier ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und ich bleibe bei Ihnen&laquo;, sagte Herr von
+Rochow und ergriff Seebecks Hand. &raquo;Ich bleibe
+bei Ihnen, was auch kommen mag.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich auch&laquo;, sagte Otto Meyer und z&uuml;ndete sich
+eine Zigarette an.</p>
+
+<p>&raquo;Wo bekommen wir aber das Geld her?&laquo; fragte
+Jakob Silberland. &raquo;Es handelt sich doch jedenfalls
+um Hunderttausende.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wir m&uuml;ssen es uns nat&uuml;rlich ganz korrekt bewilligen
+lassen&laquo;, erkl&auml;rte Otto Meyer, &raquo;sonst wird
+die Sache zu deutlich. Wir sagen einfach, da&szlig; bei
+der dauernden Spannung zwischen England und
+Deutschland die Befestigung unvermeidlich ist. Und
+da wir ja leider Spione im Lande haben, k&ouml;nnen wir
+sagen, da&szlig; die Bewahrung milit&auml;rischer Geheimnisse
+<a class="page" name="Page_199" id="Page_199" title="199"></a>in einem kleinen Kreise &#8211; hier also in der Vorsteherschaft
+&#8211; eine absolute Notwendigkeit ist.
+&Uuml;brigens w&auml;re es am besten, in aller Heimlichkeit
+so viel zu bauen, wie nur irgend geht und sich die
+Kredite nachtr&auml;glich bewilligen zu lassen. Denn
+wenn man drau&szlig;en erf&auml;hrt, da&szlig; wir befestigten, wird
+das Kriegsschiff mit Windeseile angerannt kommen.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck war ans Fenster getreten und
+blickte hinaus:</p>
+
+<p>&raquo;Schade, schade, da&szlig; es so kommen mu&szlig;te.&laquo;
+sagte er.</p>
+
+<p>&raquo;Was brauchen wir eigentlich,&laquo; wandte sich Otto
+Meyer an Herrn von Rochow, &raquo;eine Strandbatterie
+und&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>Hauptmann a.&nbsp;D. von Rochow sch&uuml;ttelte den
+Kopf:</p>
+
+<p>&raquo;Eine Strandbatterie hat gar keinen Sinn; die
+schie&szlig;t ein Kriegsschiff in einer Viertelstunde zusammen.
+Nein, ein schweres Festungsgesch&uuml;tz
+und einige Maschinengewehre hier oben f&uuml;r alle
+Eventualit&auml;ten gen&uuml;gen. Das Hauptgewicht m&uuml;ssen
+wir auf die Seeminen legen. Die nat&uuml;rlich mit
+elektrischer Z&uuml;ndung von hier oben aus.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ist das nun alles eine Kette von Zuf&auml;llen oder
+war es eine Notwendigkeit? Mu&szlig;te es so kommen?&laquo;
+sagte Seebeck, noch immer am Fenster stehend
+und hinausblickend.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_200" id="Page_200" title="200"></a>&raquo;Zerbrich dir dar&uuml;ber nicht den Kopf&laquo;, sagte
+Otto Meyer und klopfte ihm auf die Schulter,
+&raquo;die Probleme sind dem t&uuml;chtigen Melchior reserviert.
+Wir k&ouml;nnen ja handeln, brauchen also nicht
+nachzudenken.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bravo!&laquo; rief Edgar Allan.</p>
+
+<p>Und dann begannen die Vorsteher der Gemeinschaft,
+die zu unternehmenden Schritte bis in die
+kleinste Einzelheit zu beraten. Erst bei Tagesgrauen
+trennten sie sich, und da war alles beschlossen.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_201" id="Page_201" title="201"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Wie</span> schon oft in der letzten Zeit holte Nechlidow
+seine junge Freundin um f&uuml;nf Uhr vom Kindergarten
+ab, nachdem Hedwig ihre kleinen Sch&uuml;tzlinge
+entlassen hatte.</p>
+
+<p>Die beiden gingen schweigend durch die lange, einreihige
+Fischerstra&szlig;e bis zur letzten Landspitze,
+die die bewohnte Bucht von der Irenenbucht schied.</p>
+
+<p>&raquo;Wissen Sie, Hedwig, was Herr von Hahnemann
+mitgenommen hat?&laquo; fragte Nechlidow, als sie dort
+auf einer gewaltigen Klippe sa&szlig;en, &raquo;Paul Seebecks
+Abschiedsgesuch.&laquo;</p>
+
+<p>Hedwig sah ihn erschreckt an:</p>
+
+<p>&raquo;Woher wissen Sie das?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, ich wei&szlig; es. Herr von Hahnemann war
+hier, um die Richtigkeit meiner Klagen zu pr&uuml;fen;
+er hat mir selbst gesagt, da&szlig; er sie in allen Punkten
+berechtigt gefunden h&auml;tte. Ich sprach ihn, gerade
+als er zu Herrn Seebeck hinaufgehen wollte. Ja,
+jetzt ist es mit Seebecks Selbstherrschaft vorbei &#8211;
+jetzt werden wir die Sache wieder in Ordnung
+bringen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sind Sie ganz sicher, da&szlig; Sie Recht haben?&laquo;
+fragte Hedwig leise.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_202" id="Page_202" title="202"></a>&raquo;Seien Sie nicht traurig, liebe Hedwig. Es tut
+mir selbst um Seebeck leid, denn ich achte ihn als
+Menschen. Aber die Sache geht vor. Und Seebeck
+ist schwach, viel zu schwach, um sie durchzuf&uuml;hren.
+Seien Sie aufrichtig, was ist von den Idealen &uuml;brig
+geblieben, mit denen wir hierher kamen? Wodurch
+unterscheidet sich unsere &raquo;Gemeinschaft&laquo; von
+irgend einem beliebigen Staate? Nur durch Phrasen.
+In Wirklichkeit ist alles genau dasselbe. Sehen Sie,
+Hedwig, in jener entscheidenden Sitzung in Berlin
+sagte ich zu Paul Seebeck, da&szlig; es nur ein Mittel
+g&auml;be, um nicht in die Verlogenheit aller anderen
+Staaten hineinzugeraten, und da&szlig; dieses das absolute
+Festhalten an der menschlichen Vernunft sei.
+Er gab mir recht, er ist intelligent genug, das einzusehen,
+aber zu schwach, es durchzuf&uuml;hren. Der
+Todfeind aller Kultur, aller Fortentwicklung der
+Menschheit, die Sentimentalit&auml;t liegt ihm so tief
+im Blute, da&szlig; sie st&auml;rker als alle Vernunft ist. Hier
+brauchen wir M&auml;nner, klare, vern&uuml;nftige M&auml;nnerk&ouml;pfe,
+Kerle wie Herrn de la Rouvi&egrave;re, aber
+keine tr&auml;umerischen, weibischen Dichter wie
+Seebeck.&laquo;</p>
+
+<p>Hedwig hatte ihm &auml;ngstlich zugeh&ouml;rt:</p>
+
+<p>&raquo;Aber Paul ist doch so gut.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Eben deshalb mu&szlig; er fort. Das ist ja gerade
+sein Fehler. G&uuml;te, Liebe &#8211; was sind das f&uuml;r Begriffe.
+<a class="page" name="Page_203" id="Page_203" title="203"></a>Mi&szlig;verstandene Naturtriebe. Heutzutage
+lieben M&auml;nner einander; was ist das f&uuml;r ein Unsinn!
+Oder ein Mann und eine Frau lieben einander,
+aber kommen aus irgend einem Grunde nicht zusammen.
+Denken Sie doch nur alle die kindischen
+Romane. Liebe ist der Wunsch nach dem Kinde,
+also ist sie nur dort wahr und nicht verlogen, wo
+zwei Menschen zusammen ein Kind haben wollen,
+sonst nicht. Seitdem wir aber das wissen, brauchen
+wir doch keine Dichter und keine Gef&uuml;hle mehr.
+Wir haben doch die Vernunft, und die verirrt sich
+nie; wie oft tun das aber die unklaren, mystischen
+Gef&uuml;hle. Sehen Sie doch, was so ein Gef&uuml;hl f&uuml;r
+Bockspr&uuml;nge macht: aus dem Triebe nach dem
+Kinde wird die Liebe, die alles m&ouml;gliche verbindet,
+was mit dem Wunsche nach dem Kinde, nach der
+Zukunft der Menschheit, nicht das Geringste mehr
+zu schaffen hat; aus der Liebe wird die G&uuml;te und
+aus G&uuml;te und R&uuml;cksichtnahme nach allen Seiten
+ruiniert Seebeck diesen Staat, der eine neue
+Menschheit h&auml;tte geb&auml;ren k&ouml;nnen. Ach was h&auml;tte
+hier werden k&ouml;nnen, wenn Seebeck stark gewesen
+w&auml;re.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber hier geht alles doch so gut&nbsp;&#8211;&laquo; unterbrach
+ihn Hedwig sch&uuml;chtern.</p>
+
+<p>&raquo;Ungeheure L&uuml;gen sind hier gebaut, und die
+florieren gl&auml;nzend, das ist wahr.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_204" id="Page_204" title="204"></a>Hedwig war aufgestanden und wandte sich langsam
+der Stadt zu. Nechlidow ging ihr nach und
+fa&szlig;te sie bei der Hand:</p>
+
+<p>&raquo;Liebe Hedwig&laquo; &#8211; sagte er bittend.</p>
+
+<p>Aber sie ri&szlig; sich los. Aus ihren gro&szlig;en, braunen
+Augen quollen Tr&auml;nen.</p>
+
+<p>&raquo;Ich will kein Kind von Ihnen haben, Herr
+Nechlidow&laquo;, sagte sie mit zuckenden Lippen. Dann
+machte sie sich schnell von ihm los und lief der
+Stadt zu.</p>
+
+<p>Nechlidow folgte ihr langsam.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_205" id="Page_205" title="205"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Als</span> die Kredite f&uuml;r die in Hinblick auf die
+Spannung zwischen England und Deutschland
+notwendigen Befestigungen bewilligt wurden, war
+nicht viel mehr zu tun, als das Festungsgesch&uuml;tz
+zu montieren, das zusammen mit den beiden
+Maschinengesch&uuml;tzen in der bombensicheren Kasematte
+im Felsen unter Seebecks Haus Platz finden
+sollte. Denn Hauptmann von Rochow hatte als
+Fachmann diese Stelle als die geeignetste gew&auml;hlt,
+ganz abgesehen davon, da&szlig; sich nur hier die Arbeiten
+in v&ouml;lliger Heimlichkeit hatten vornehmen
+lassen. Ein mit Stahlplatten bedeckter Schacht
+f&uuml;hrte von Paul Seebecks Kohlenkeller mehrere
+Meter tief hinab, und dort unten war ein Gew&ouml;lbe
+ausgehauen, in dem die Gesch&uuml;tze stehen sollten.</p>
+
+<p>Nur drei lange, schmale Schie&szlig;scharten f&uuml;hrten
+hinaus, und die lagen gerade &uuml;ber den D&auml;chern
+der auf der n&auml;chsten Terrasse stehenden doppelten
+H&auml;userreihe, so da&szlig; diese fast mit Sicherheit die
+den Gesch&uuml;tzen zugedachten Sch&uuml;sse auffangen
+w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Die Seeminen hatten die Vorsteher in mehreren
+N&auml;chten allein versenkt, und ihr Lageplan war in
+den H&auml;nden der Archivarin gut aufgehoben. Es
+<a class="page" name="Page_206" id="Page_206" title="206"></a>war nicht so schwer, diese Arbeiten in voller Heimlichkeit
+auszuf&uuml;hren, als vielmehr gleichzeitig auch
+den Ausbau des &raquo;Vulkans&laquo; zu versehen, zum mindesten
+scheinbar, damit die pl&ouml;tzliche Arbeitseinstellung
+dort oben kein Mi&szlig;trauen erweckte.</p>
+
+<p>Aber es ging. Die vier M&auml;nner arbeiteten mit
+eiserner Energie Tag und Nacht &#8211; nur vier waren
+sie jetzt, denn Jakob Silberland weilte in Sidney,
+wie es hie&szlig;, um gr&ouml;&szlig;ere Abschl&uuml;sse &uuml;ber den gewonnenen
+Schwefel zu erreichen. Und auf den
+riesigen Kisten, die die Gesch&uuml;tzteile und die
+Munition enthielten, stand harmlos das Wort:
+&raquo;Maschinen&laquo;.</p>
+
+<p>Sechs Wochen nach seiner Abreise kam Herr
+von Hahnemann wieder zur &raquo;Schildkr&ouml;teninsel&laquo;.
+Diesmal auf einem Torpedoboot. In Paradeuniform
+stieg er ans Land und begab sich eine Stunde
+sp&auml;ter zu Paul Seebeck. Dieser empfing ihn mit
+gelassener H&ouml;flichkeit und bat ihn, Platz zu nehmen.
+Der Offizier dankte mit einer Verbeugung, blieb
+aber stehen, w&auml;hrend Paul Seebeck sich an seinen
+Schreibtisch setzte.</p>
+
+<p>&raquo;Sie bringen mir meine Abberufung, Herr von
+Hahnemann?&laquo; fragte er ruhig.</p>
+
+<p>&raquo;Herr Seebeck, bei der gro&szlig;en pers&ouml;nlichen
+Achtung, die ich f&uuml;r Sie hege, erlaubte ich mir, in
+meinem Berichte unsere letzte Unterredung wohl
+<a class="page" name="Page_207" id="Page_207" title="207"></a>wahrheitsgetreu, doch &#8211; etwas harmloser zu schildern,
+als sie sich zugetragen hat. Es steht Ihnen
+noch heute frei, freiwillig das Reichskommissariat
+niederzulegen; trotz allem.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich tue es nicht&laquo;, antwortete Paul Seebeck und
+sah ihm gerade ins Gesicht.</p>
+
+<p>&raquo;Ist das Ihr letztes Wort?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dann habe ich hiermit die Ehre, Ihnen kraft
+meiner Vollmachten Ihr Abberufungsschreiben zu
+&uuml;berreichen&laquo;, sagte der Offizier und legte ein versiegeltes
+Kuvert auf den Schreibtisch. &raquo;Wollen Sie
+die Liebensw&uuml;rdigkeit haben, mir den Empfang zu
+best&auml;tigen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mit Vergn&uuml;gen&laquo;, antwortete Paul Seebeck, entnahm
+einer Schublade einen Briefbogen und schrieb
+einige Zeilen darauf. &raquo;Ist es so recht?&laquo; Und er
+reichte dem Offizier das Blatt, das dieser aufmerksam
+las und es dann in seine Brieftasche schob.</p>
+
+<p>&raquo;Gewi&szlig;, Herr Seebeck. Ich danke Ihnen. Damit
+ist die Sache erledigt. Ich verstehe aber nicht,
+weshalb Sie es so weit kommen lie&szlig;en.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich pflege einem Brieftr&auml;ger nicht die Unterschrift
+f&uuml;r einen eingeschriebenen Brief zu verweigern
+&#8211; wozu soll ich dem nichtsahnenden Manne
+Schwierigkeiten machen. Er erf&uuml;llt ja nur seine
+Pflicht. Jetzt ist also der Brief ordnungsgem&auml;&szlig;
+<a class="page" name="Page_208" id="Page_208" title="208"></a>mein Eigentum geworden, und ich kann damit
+machen, was ich will.&laquo; Damit nahm er das versiegelte
+Kuvert und zerri&szlig; es mit seinem Inhalt in
+kleine Fetzen, die er in seinen Papierkorb warf.
+Dann wandte er sich wieder dem Offiziere zu und
+sah ihm ruhig ins Gesicht.</p>
+
+<p>Herr von Hahnemann trat einen Schritt zur&uuml;ck;
+sein Gesicht war kreidebleich.</p>
+
+<p>&raquo;Wissen Sie, was das hei&szlig;t?&laquo; rief er.</p>
+
+<p>&raquo;Ja&laquo;, sagte Paul Seebeck, &raquo;das hei&szlig;t Aufruhr.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wollen Sie sich denn dem aussetzen, da&szlig; man
+Sie mit Waffengewalt zwingt, den Willen der Reichsregierung
+anzuerkennen?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was wollen Sie damit sagen, Herr von Hahnemann?&laquo;
+fragte Paul Seebeck freundlich.</p>
+
+<p>Der Offizier hatte sich wieder etwas gefa&szlig;t.
+Seine Stimme bekam etwas vom scharfen Kommandoklang,
+als er sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Ein Kriegsschiff wird kommen und Sie als
+Gefangenen mitnehmen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ach so einfach ist die Sache? Aber wenn ich
+mich nun mit Gewalt der Gewalt widersetze?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dann werden Sie standrechtlich erschossen.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck stand auf; er &uuml;berlegte einen Augenblick.
+Dann ging er an dem Offizier vorbei zur
+Wand, hob ein Gem&auml;lde vom Nagel, wobei eine
+Stahlplatte sichtbar wurde, die der T&uuml;r eines in
+<a class="page" name="Page_209" id="Page_209" title="209"></a>die Mauer eingelassenen Geldschrankes &auml;hnlich war.
+Dann zog er einen Schl&uuml;sselbund aus der Tasche
+und blickte auf:</p>
+
+<p>&raquo;Sie sind Marineoffizier, nicht wahr?&laquo;</p>
+
+<p>Herr von Hahnemann neigte bejahend den Kopf.</p>
+
+<p>&raquo;Dann sind sie auch nat&uuml;rlich imstande, Entfernungen
+auf dem Wasser abzusch&auml;tzen. Darf
+ich Sie bitten, hier ans Fenster zu treten? Danke.
+Sehen Sie die letzte flache Klippe dort rechts?
+Sch&ouml;n. Sehen Sie in gerader Richtung drei Kilometer
+weiter. Bitte halten Sie den Punkt im Auge.&laquo;</p>
+
+<p>Seebeck war an den Schrank getreten und &ouml;ffnete
+das Geheimschlo&szlig;. Bei dem Ger&auml;usch wandte sich
+der Offizier unwillk&uuml;rlich wieder nach ihm um
+und sah, da&szlig; der Schrank ein Tastbrett wie das
+einer Schreibmaschine enthielt.</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe Sie ersucht, jenen Punkt im Auge
+zu behalten&laquo;, sagte Paul Seebeck scharf. Der
+Offizier kniff die Lippen zusammen und blickte
+wieder hinaus. Paul Seebeck dr&uuml;ckte rasch auf
+einen der Kn&ouml;pfe und schlug dann die Stahlt&uuml;r zu.
+Im selben Augenblick erhob sich bei dem angegebenen
+Punkte auf dem Meere eine gewaltige Wasserpyramide,
+blieb einige Sekunden stehen und brach
+dann in sich zusammen. Erst eine halbe Minute
+sp&auml;ter klang ein dumpfes Grollen her&uuml;ber. Der
+mit Schaum bedeckte Wasserspiegel war in wilde
+<a class="page" name="Page_210" id="Page_210" title="210"></a>Bewegung geraten. Selbst im Hafen schaukelten
+die Schiffe.</p>
+
+<p>Herr von Hahnemann sah Seebeck stumm an;
+dann verbeugte er sich und verlie&szlig; das Zimmer.</p>
+
+<p>Er ging so schnell er konnte die Stra&szlig;e hinunter,
+an allen denen vorbei, die ihn wieder erkannten
+und ansprechen wollten, und stand eine Viertelstunde
+sp&auml;ter in Herrn de la Rouvi&egrave;res Haus.</p>
+
+<p>Der Kr&uuml;ppel best&uuml;rmte ihn mit Fragen, aber
+Herr von Hahnemann sch&uuml;ttelte nur unwillig den
+Kopf. Er fragte:</p>
+
+<p>&raquo;Wissen Sie, da&szlig; die Insel befestigt ist?&laquo;</p>
+
+<p>Herr de la Rouvi&egrave;re fuhr erstaunt auf:</p>
+
+<p>&raquo;Da&szlig; sie befestigt ist? Das ist doch unm&ouml;glich.
+Erst vorgestern wurde doch die Befestigung beschlossen.&laquo;</p>
+
+<p>Herr von Hahnemann lachte kurz auf:</p>
+
+<p>&raquo;Herr Seebeck scheint keine gro&szlig;e Achtung vor
+der Monatsversammlung zu haben. Jedenfalls ist
+die Insel schon befestigt, und die Versammlung hat
+etwas zu bauen beschlossen, was faktisch schon
+da ist. Er wird es wohl schon oft so gemacht haben.
+Ich will Ihnen etwas sagen&laquo;, fuhr er fort, wobei
+er dicht an den Kr&uuml;ppel herantrat, &raquo;ich habe Herrn
+Seebeck die Enthebung aus seinem Amte mitgeteilt,
+die er aber ignoriert. Er mu&szlig; also mit Gewalt
+entfernt werden. Hier ist kein anderer Ausweg
+<a class="page" name="Page_211" id="Page_211" title="211"></a>tunlich. Bei den Befestigungen ist es aber ohne
+Blutvergie&szlig;en nicht m&ouml;glich, und das zu verhindern
+ist meine Pflicht. &#8211; Sie haben sich ja Ihres gro&szlig;en
+Einflusses und Ihrer Verbindungen hier ger&uuml;hmt;
+beweisen Sie mir jetzt, da&szlig; Sie wahr gesprochen
+haben. Und dann &#8211; die Reichsregierung kann
+Herrn Nechlidow als fr&uuml;herem, russischem Fl&uuml;chtling
+kein Amt &uuml;bergeben, aber Ihnen, dem Tr&auml;ger
+eines alten Adelsnamens, der Sie au&szlig;erdem hier
+praktisch in die Gesch&auml;fte eingearbeitet sind, k&ouml;nnte
+ich das Reichskommissariat &uuml;bertragen. Die Vollmacht
+dazu habe ich. Die Reichsregierung will
+unter keinen Umst&auml;nden einen Kommissar von
+Berlin hierher senden; sie hat mich beauftragt,
+einer hiesigen geeigneten Pers&ouml;nlichkeit das Kommissariat
+zu &uuml;bergeben, um jeden Schein eines
+gewaltsamen Eingriffes zu vermeiden. Also schaffen
+Sie mir die Befestigungspl&auml;ne und Sie sind Reichskommissar!&laquo;</p>
+
+<p>Die Augen des Kr&uuml;ppels gl&auml;nzten:</p>
+
+<p>&raquo;Das wird nicht schwer sein, Herr von Hahnemann.
+Wenn Sie so liebensw&uuml;rdig sein wollen, eine
+halbe Stunde hier zu warten, komme ich mit den
+Pl&auml;nen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wissen Sie denn, wo sie sind?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Jedenfalls doch im Archiv; und Frau von
+Zeuthen ist meine gute Freundin.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_212" id="Page_212" title="212"></a>&raquo;Ah!&laquo; &Uuml;ber das Gesicht des Marineoffiziers
+glitt ein gemeines L&auml;cheln.</p>
+
+<p>&raquo;Sie verstehen, Herr von Hahnemann? Eine
+Frau kann aus Edelmut sterben, aber sie kann sich
+keinem Skandal aussetzen. Am wenigsten sie, die
+Keusche, Reine, sie, die Unerreichbare, die ich
+doch erreichen konnte &#8211; wie alles andere auch.&laquo;</p>
+
+<p>Der Offizier war wieder ganz ernst geworden:</p>
+
+<p>&raquo;Wie Sie das machen, ist Ihre Sache. Aber
+nicht die Originale selbst, die k&ouml;nnten sp&auml;ter vermi&szlig;t
+werden, sondern Sie m&uuml;ssen die Pl&auml;ne kopieren,
+verstehen Sie? Und Niemand darf etwas davon
+erfahren, daf&uuml;r m&uuml;ssen Sie sorgen. Sonst wird die
+Sache einfach ver&auml;ndert, und wir sitzen da.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Keine Sorge, Herr von Hahnemann, bleiben
+Sie nur ruhig hier; ich bin bald wieder zur&uuml;ck.&laquo;</p>
+
+<p>Und die langen Arme schlenkernd und eifrig
+vor sich hinmurmelnd, stolperte der Kr&uuml;ppel die
+Hauptstra&szlig;e hinauf. Bei Frau von Zeuthens Haus
+angekommen, sagte er dem Dienstm&auml;dchen, er k&auml;me
+in Gesch&auml;ften und wurde nat&uuml;rlich sofort eingelassen.</p>
+
+<p>Mit Siegermiene trat er in Frau von Zeuthens
+Arbeitszimmer, aber er sank gleichsam in sich zusammen,
+als er in ihre strahlenden, braunen Augen
+blickte. Er wollte sich ihr n&auml;hern, aber sie hob abweisend
+die Hand. Da blieb er bescheiden an der
+T&uuml;re stehn.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_213" id="Page_213" title="213"></a>&raquo;Gesch&auml;fte, Herr de la Rouvi&egrave;re?&laquo; fragte sie
+ruhig.</p>
+
+<p>&raquo;Ja, gn&auml;dige Frau. Ich mu&szlig; Sie um die Befestigungspl&auml;ne
+bitten, die Sie ja als Archivarin in
+Verwahrung haben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein&laquo;, sagte Frau von Zeuthen, &raquo;die Pl&auml;ne
+habe ich allerdings. Sie gehn aber nur die Vorsteher
+an. Und so weit haben Sie es doch noch nicht
+gebracht.&laquo;</p>
+
+<p>Mit eingezogenem Kopfe sah er sie von unten an.</p>
+
+<p>&raquo;Gn&auml;dige Frau, ich bin &#8211; Reichskommissar an
+Paul Seebecks Stelle.&laquo;</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen lachte laut auf und sah ihm
+belustigt ins Gesicht.</p>
+
+<p>Der Kr&uuml;ppel bi&szlig; die Z&auml;hne zusammen.</p>
+
+<p>&raquo;Gn&auml;dige Frau&laquo;, sagte er drohend.</p>
+
+<p>&raquo;Wenn Ihre Gesch&auml;fte so sonderbarer Natur
+sind, brauchen wir sie nicht l&auml;nger zu diskutieren.
+Gehen Sie, Herr Reichskommissar.&laquo; Damit drehte
+sie ihm den R&uuml;cken zu und setzte sich an ihren
+Schreibtisch.</p>
+
+<p>Mit leisen, schleichenden Schritten n&auml;herte er
+sich ihr. Sie stand auf und wandte sich ihm zu.
+Mit beiden H&auml;nden hielt sie sich r&uuml;ckw&auml;rts am
+Schreibtische fest.</p>
+
+<p>&raquo;Weshalb gehen Sie nicht&laquo;, sagte sie herrisch,
+aber ihre Stimme zitterte dabei.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_214" id="Page_214" title="214"></a>&raquo;Ich mu&szlig; die Pl&auml;ne haben&laquo;, sagte er, dicht bei
+ihr, und hob dabei die langen Arme mit den schwarzbehaarten
+H&auml;nden.</p>
+
+<p>&raquo;Aber ich gebe sie Ihnen nicht und damit gut.
+Gehen Sie! Jetzt best&auml;tigt sich also meine Vermutung,
+da&szlig; Sie zu den Verr&auml;tern geh&ouml;ren. Gehen
+Sie, mit Ihnen bin ich fertig.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Gn&auml;dige Frau&laquo;, die Stimme des Kr&uuml;ppels war
+ganz sanft, &raquo;Sie scheinen sehr leicht zu vergessen!&laquo;
+Er schritt auf die T&uuml;r zu, fa&szlig;te die Klinke und
+drehte sich wieder nach Frau von Zeuthen um.
+&raquo;Soll ich wirklich allen Leuten erz&auml;hlen, was in
+einer gewissen Nacht zwischen uns vorgefallen ist?&laquo;
+Er richtete sich auf und sagte kameradschaftlich:
+&raquo;Geben Sie mir doch lieber die Pl&auml;ne.&laquo;</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen ging zu ihrem gro&szlig;en Schranke,
+&ouml;ffnete diesen aber nicht, sondern holte aus dem
+Winkel zwischen ihm und der Wand Felix&#8217; Reitpeitsche
+hervor. Sie wog sie pr&uuml;fend in der Hand,
+trat dann schnell auf Herrn de la Rouvi&egrave;re zu und
+schlug sie ihm zweimal mit aller Kraft durchs
+Gesicht. Dann warf sie die Peitsche fort und blieb
+hoch aufgerichtet vor ihm stehn. Er sah sie eine Weile
+ganz verst&auml;ndnislos an, griff dann mit beiden H&auml;nden
+an sein schmerzendes Gesicht und taumelte hinaus.</p>
+
+<p>Vor der Haust&uuml;re blieb er stehn und nickte
+bed&auml;chtig mit dem Kopfe. Dann ging er langsam,
+<a class="page" name="Page_215" id="Page_215" title="215"></a>sehr langsam, die Hauptstra&szlig;e hinauf, am Volkshause
+vorbei und weiter am Flusse entlang zum
+Staubecken. Er ging dorthin, wo der Flu&szlig; in das
+Becken eintrat, sah lange auf das Wasser und stieg
+dann langsam und fr&ouml;stelnd hinein. Er glitt aus,
+schrie auf, sah auf der Stra&szlig;e das Lastautomobil
+halten, sah ihm Leute entsteigen, die ihm zuwinkten,
+zuriefen; er wollte ans Ufer zur&uuml;ck, aber schon
+hatte ihn die Oberstr&ouml;mung erfa&szlig;t. Langsam
+f&uuml;hrte sie ihn fort; er h&ouml;rte das Brausen des Wasserfalles
+n&auml;her und n&auml;her, die Str&ouml;mung wurde st&auml;rker,
+immer st&auml;rker, das Brausen kam n&auml;her, n&auml;her,
+jetzt&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p>Sechshundert Meter war die Felswand hoch, von
+der das Wasser senkrecht in das Meer st&uuml;rzte.</p>
+
+<p>Und am selben Abende verlie&szlig; Herr von Hahnemann
+auf seinem Torpedoboot unverrichteter Sache
+die Schildkr&ouml;teninsel.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_216" id="Page_216" title="216"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Eine</span> au&szlig;erordentliche Versammlung der Gemeinschaft
+&#8211; das war noch nie dagewesen.
+Und doch war niemand erstaunt, als die Vorsteherschaft
+durch Maueranschlag zu dieser einlud; es
+lag so viel ungel&ouml;ste Spannung in der Luft, soviele
+Vermutungen waren nur halb ausgesprochen, von
+Mund zu Mund gegangen, da&szlig; alle es als eine Erleichterung
+empfanden, eine klare Darstellung aller
+jener unverst&auml;ndlichen Vorg&auml;nge zu erhalten. Und
+das galt nicht nur von der B&uuml;rgerschaft &#8211; gerade
+die Vorsteher f&uuml;hlten st&auml;rker als je die Kluft, die
+sie von den Anderen trennte, und wollten auch
+Kenntnis von allen dunklen Str&ouml;mungen erhalten,
+von denen sie nur den letzten Wellenschlag gef&uuml;hlt
+hatten.</p>
+
+<p>Erst als die Gemeinschaft vollz&auml;hlig versammelt
+war, betraten die Vorsteher den gro&szlig;en Saal des
+Volkshauses. Otto Meyer &uuml;bernahm als Stellvertreter
+des abwesenden Jakob Silberland den Vorsitz.
+Sogleich, nachdem auf ein Glockenzeichen Ruhe
+eingetreten war, mehr als Ruhe: Totenstille, erhob
+sich Paul Seebeck. Sein Gesicht war bleich, erschreckend
+bleich, und seine Augen lagen schwarz
+umr&auml;ndert tief in den H&ouml;hlen.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_217" id="Page_217" title="217"></a>&raquo;Liebe Freunde&laquo;, sagte er, &raquo;jetzt ist die ernsteste
+Stunde gekommen, die wir bis jetzt hier erlebt
+haben. Jetzt handelt es sich um ein klares Ja oder
+Nein. Jetzt mu&szlig; entschieden werden, ob der Staat,
+den wir alle in treuer Zusammenarbeit errichtet
+haben, zerst&ouml;rt werden darf oder nicht. Wir k&ouml;nnen
+das Ungl&uuml;ck noch abwenden. Noch k&ouml;nnen wir
+unser Werk uns und unseren Kindern erhalten.
+Aber ein mutiger Schritt ist dazu notwendig.</p>
+
+<p>Wir haben Verr&auml;ter im eigenen Lager gehabt,
+gemeine Schurken, die, um sich selbst vorw&auml;rts
+zu bringen, die Zukunft der Gemeinschaft opferten,
+und wieder andere, die aus einem falschen, kurzsichtigen
+Idealismus heraus, in bester Absicht, den
+Feind ins Land riefen. Vielleicht sehen sie jetzt
+ein, wie unverantwortlich leichtsinnig sie gehandelt
+haben und benutzen jetzt die Gelegenheit, ihr Unrecht
+wieder gutzumachen. Aber auch sie waren
+nur Werkzeuge, boten nur den erw&uuml;nschten Vorwand
+zur Vernichtung unseres Werkes etwas fr&uuml;her,
+als es sonst geschehen w&auml;re. Was geschah, mu&szlig;te
+geschehen, fr&uuml;her oder sp&auml;ter, und deshalb hat es
+keinen Zweck, Betrachtungen &uuml;ber Verschuldungen
+anzustellen oder Vorw&uuml;rfe zu erheben. Jetzt mu&szlig;
+gehandelt werden. Die Sache liegt so: das Deutsche
+Reich will uns nicht mehr unsere Freiheit lassen,
+man sieht dort, da&szlig; wir hier die Durchf&uuml;hrbarkeit
+<a class="page" name="Page_218" id="Page_218" title="218"></a>freier Ideen beweisen und f&uuml;rchtet die Einwirkung
+dieser Ideen auf die eigenen, innerpolitischen Verh&auml;ltnisse.
+Jemand, der die gegenw&auml;rtig in Deutschland
+herrschende ultrareaktion&auml;re Str&ouml;mung kennt,
+versteht diese Furcht der zur Zeit regierenden
+Clique nur zu gut. Das w&auml;re aber doch f&uuml;r uns nur
+ein Grund mehr, sollte ich meinen, unser Werk bis
+zum letzten Punkte durchzuf&uuml;hren, statt uns einfach
+vor Beschr&auml;nktheit oder Bosheit zu ducken.
+Jetzt kommt aber eine gro&szlig;e, gro&szlig;e Frage, die ich
+Sie in aller Ruhe zu &uuml;berlegen bitte: wenn wir uns
+hierher einen schnoddrigen Berliner Assessor setzen
+lassen, ist zwar unsere Arbeit vernichtet, und wir
+haben hier Zust&auml;nde wie im schw&auml;rzesten Preu&szlig;en,
+aber Sie haben Ruhe. Wenn wir uns aber das nicht
+gefallen lassen, sind wir Aufr&uuml;hrer und damit rechtlos,
+nach den heute &uuml;blichen Anschauungen nicht
+viel mehr wie wilde Tiere. Und da wird nicht gefragt
+weshalb wir uns nicht beugen, die Tatsache, da&szlig;
+wir es nicht tun, gen&uuml;gt. Kein Mensch in dem dumpfen
+Berliner Ministerium wird verstehen, da&szlig; man
+Menschheitsideale &uuml;ber h&uuml;ndischen Gehorsam stellt.
+Solche Gedanken sind uns reserviert.</p>
+
+<p>Ich bin aber nicht so verblendet, Sie zu einem
+nutzlosen Widerstande zu verleiten, der nur den
+sicheren Untergang von uns allen bedeuten w&uuml;rde.
+Es gibt einen Ausweg, und das ist dieser: wir erkl&auml;ren
+<a class="page" name="Page_219" id="Page_219" title="219"></a>uns autonom und lassen uns dann von
+England annektieren. Als englische Kolonie k&ouml;nnen
+wir sicher sein, v&ouml;llig ungest&ouml;rt weiter arbeiten zu
+k&ouml;nnen. Dazu haben wir noch einige Wochen Zeit;
+Herr Doktor Silberland ist gegenw&auml;rtig in Sidney,
+und ich werde nachher die Versammlung um die Erm&auml;chtigung
+bitten, Herrn Doktor Silberland zur
+Vornahme der notwendigen Schritte zu beauftragen.</p>
+
+<p>Was ich bis jetzt getan habe, geht nur mich selbst
+an und kann f&uuml;r keinen anderen B&uuml;rger der Gemeinschaft
+nachteilige Folgen haben, solange sich
+die Gemeinschaft nicht solidarisch mit mir erkl&auml;rt.
+Sie brauchen also nicht zu f&uuml;rchten, da&szlig; ich Sie
+in irgend eine schwere Situation hineingebracht
+habe. Sie k&ouml;nnen ganz frei beschlie&szlig;en.</p>
+
+<p>Wenn Ihnen unsere Sache aber lieb ist&laquo;, und
+Paul Seebecks m&uuml;de Augen bekamen Glanz und
+Feuer, &raquo;wenn Sie als M&auml;nner f&uuml;r Ihr Werk eintreten
+wollen, dann k&ouml;nnen wir es retten. Bevor
+ein Kriegsschiff hier ist, k&ouml;nnen wir unsere Befestigungen
+vollenden und k&ouml;nnen uns halten, bis
+wir unter englischem Schutze stehen.</p>
+
+<p>Ich mag dar&uuml;ber nichts mehr sagen, ich will Sie
+zu keinem folgenschweren Entschlusse &uuml;berreden,
+den Sie sp&auml;ter bereuen. &Uuml;berlegen Sie es sich in
+Ruhe.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_220" id="Page_220" title="220"></a>Das eiskalte Schweigen, mit dem Paul Seebecks
+Rede angeh&ouml;rt worden war, dauerte noch fort, als
+er wieder auf seinem Platze sa&szlig;. Dann erklang
+hinter ihm eine Stimme:</p>
+
+<p>&raquo;Nechlidow soll antworten; wo steckt er?&laquo;</p>
+
+<p>Eine andere Stimme antwortete:</p>
+
+<p>&raquo;Der kommt nie mehr zu den Versammlungen.&laquo;</p>
+
+<p>Und schwer und hart sagte eine dritte Stimme:</p>
+
+<p>&raquo;Nechlidow ist ein Lump, mag er sich ers&auml;ufen
+wie der andere. Ich halte zu Herrn Seebeck.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt wich die Starre von der Versammlung;
+man redete, schrie durcheinander, die Gesichter
+wurden rot, Arme wurden bewegt, der L&auml;rm stieg
+und stieg&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p>Paul Seebeck trat wieder auf das Podium, aber
+er konnte nicht sprechen. Die Leute verlie&szlig;en ihre
+Pl&auml;tze, umdr&auml;ngten ihn, dr&uuml;ckten seine H&auml;nde,
+jeder, jeder einzelne wollte ihm Treue geloben.</p>
+
+<p>Paul Seebeck wollte reden, wollte ihnen danken,
+aber er stammelte nur einige Worte und sank dann
+bewu&szlig;tlos um. Er h&ouml;rte nur noch Edgar Allans
+schneidend scharfe Stimme:</p>
+
+<p>&raquo;Aber jetzt bitte nicht nur Worte, Leute, auch
+Taten.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck wurde in ein ansto&szlig;endes Zimmer
+getragen und Frau von Zeuthen und Otto Meyer
+&uuml;bernahmen seine Pflege.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_221" id="Page_221" title="221"></a>Inzwischen wurden die Verhandlungen unter
+Herrn von Rochows Vorsitz fortgesetzt. Paul Seebecks
+Vorschl&auml;ge wurden einstimmig genehmigt,
+obwohl sich manche recht z&ouml;gernd von den Sitzen
+erhoben. Unter dem brausenden Beifall der Versammlung
+verk&uuml;ndete Herr von Rochow darauf
+die Autonomie der Gemeinschaft auf der Schildkr&ouml;teninsel.</p>
+
+
+
+
+<p><a class="page" name="Page_222" id="Page_222" title="222"></a></p>
+<p class="newsection"><span class="bigcaps">Noch</span> immer keine Entscheidung von Sidney.
+Bei der immer st&auml;rkeren Spannung zwischen
+England und Deutschland w&auml;re der Ausbruch eines
+Krieges in der allern&auml;chsten Zeit h&ouml;chst wahrscheinlich,
+schrieb Jakob Silberland. Dann w&auml;re
+die Annektion selbstverst&auml;ndlich. Bis dahin m&uuml;&szlig;te
+man sich halten.</p>
+
+<p>Und mit allen Kr&auml;ften wurde gearbeitet. F&uuml;nfzig
+unverheiratete M&auml;nner wurden vom Hauptmann
+von Rochow im Gewehrschie&szlig;en eingedrillt. Die
+Vorsteher und au&szlig;er ihnen Felix und Melchior
+&uuml;bten sich an den Gesch&uuml;tzen, und manche Klippe
+da drau&szlig;en im Meere war von den schweren Granaten
+des Festungsgesch&uuml;tzes bei Schie&szlig;&uuml;bungen getroffen,
+in die Luft geflogen.</p>
+
+<p>Der &raquo;Vulkan&laquo; wurde inzwischen zur Aufnahme
+aller Nichtk&auml;mpfer eingerichtet. Welchem Zwecke
+die Geb&auml;ude dort auch urspr&uuml;nglich bestimmt
+waren, jetzt wurde alles zu Wohnst&auml;tten eingerichtet,
+sogar die Umkleidezellen des Schwefelbades. Ein
+Fieber hatte alle ergriffen, ein Freiheitsrausch, und
+als sich nach f&uuml;nf Wochen am Horizonte die Rauchs&auml;ule
+des Kreuzers zeigte, wurde er von den kampffrohen
+M&auml;nnern mit Jubel begr&uuml;&szlig;t. Man war bereit,
+<a class="page" name="Page_223" id="Page_223" title="223"></a>ihn zu empfangen. Vor Seebecks Haus standen in
+Reih und Glied die Infanteristen mit ihren Mausergewehren,
+die Stahll&auml;den vor den Gesch&uuml;tzscharten
+in Seebecks Keller waren aufgeklappt und die Gesch&uuml;tze
+nach vorn gerollt. Vier Meter ragte der
+hellgraue Lauf des Festungsgesch&uuml;tzes heraus. Es
+wurde von Edgar Allan und Felix bedient, w&auml;hrend
+Otto Meyer und Melchior an den beiden Maschinengewehren
+standen.</p>
+
+<p>Oben in Paul Seebecks Arbeitszimmer standen
+er und Frau von Zeuthen. Vor ihnen auf dem Schreibtische
+lag der Lageplan der Seeminen; die Stahlt&uuml;r
+an der Wand stand offen und zeigte die sechzig
+wei&szlig;en Tasten.</p>
+
+<p>&raquo;Wie weit ist das Schiff jetzt?&laquo; fragte Frau von
+Zeuthen.</p>
+
+<p>Paul Seebeck sah pr&uuml;fend durch sein Fernglas:</p>
+
+<p>&raquo;Zehn Kilometer, sch&auml;tze ich es jetzt.&laquo;</p>
+
+<p>Einige Minuten sp&auml;ter hielt der Kreuzer an. Ein
+wei&szlig;es W&ouml;lkchen erhob sich und eine halbe Minute
+sp&auml;ter rollten drei dumpfe Sch&uuml;sse &uuml;ber die Stadt.</p>
+
+<p>&raquo;Die waren blind!&laquo; rief Hauptmann von Rochow
+herauf.</p>
+
+<p>&raquo;Noch zwei Kilometer, und das Schiff kommt in
+den Bereich unserer Minen.&laquo;</p>
+
+<p>Aber der Kreuzer drehte sich auf der Stelle und
+wandte der Stadt seine Breitseite zu.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_224" id="Page_224" title="224"></a>&raquo;Ja, da drau&szlig;en konnten wir leider keine Minen
+legen, es ist zu tief&laquo;, sagte Paul Seebeck. &raquo;Aber
+hierher kommen k&ouml;nnen sie doch nicht. Und
+Silberland wird ja bald kommen; er wei&szlig; ja, da&szlig;
+in diesen Tagen der Kreuzer kommen mu&szlig;te. Solange
+m&uuml;ssen wir uns eben halten. Das k&ouml;nnen
+wir auch.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und wenn es nichts wird?&laquo;</p>
+
+<p>Es zuckte um Paul Seebecks Mundwinkel, als
+er sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Sie wissen, da&szlig; ich f&uuml;r mein Werk sterben
+kann.&laquo;</p>
+
+<p>Das Haustelephon, das den Keller mit Paul Seebecks
+Arbeitszimmer verband, klingelte. Seebeck
+nahm das H&ouml;rrohr:</p>
+
+<p>&raquo;Ja.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Hier Allan. Was meinen Sie, sollen wir nicht
+den Salut beantworten? Es ist doch unh&ouml;flich,
+einen Gru&szlig; nicht zu erwidern.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sch&ouml;n, aber blind. Wir wollen nicht anfangen.&laquo;</p>
+
+<p>Das Haus bebte in seinen Fugen, als der Schu&szlig;
+krachte.</p>
+
+<p>Einige Minuten sp&auml;ter kam die Antwort: im
+Hafen stieg eine Wassers&auml;ule auf, der ein doppelter
+Knall folgte.</p>
+
+<p>&raquo;Was jetzt?&laquo; &#8211; telephonierte Allan herauf.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_225" id="Page_225" title="225"></a>&raquo;Abwarten, ob sie wirklich ernst machen.
+Je mehr Zeit wir gewinnen, desto besser&laquo;, gab
+Paul Seebeck zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>Aber Minute auf Minute verrann, eine Stunde,
+eine zweite, und nichts geschah.</p>
+
+<p>&raquo;Die Herren erwarten wohl, da&szlig; wir die bewu&szlig;te
+wei&szlig;e Fahne aufziehen&laquo;, sagte Paul Seebeck zu
+Frau von Zeuthen.</p>
+
+<p>Da h&uuml;llte sich pl&ouml;tzlich der Kreuzer in eine einzige
+Rauchwolke. Im Hafen erhob sich eine ungeheure
+Wasser- und Staubwolke, der ein donnerndes,
+krachendes Get&ouml;se folgte. Wie sich die Wolke verzogen
+hatte, sah man, da&szlig; alle Hafenanlagen mit
+der Landungsbr&uuml;cke und den Lagerh&auml;usern in
+Tr&uuml;mmern lagen. Die am Quai liegenden Fischerboote
+waren fast s&auml;mtliche verschwunden. Aber
+das wild wogende Meer war mit Tr&uuml;mmern und
+Balken bedeckt.</p>
+
+<p>Und Schu&szlig; auf Schu&szlig; folgte, aber alle galten
+nur dem Hafen.</p>
+
+<p>&raquo;Sie wollen uns so lange schonen, wie es geht, und
+das gef&auml;llt mir sehr, damit gewinnen wir Zeit&laquo;,
+sagte Paul Seebeck zu Frau von Zeuthen. Dann
+telephonierte er zu Allan:</p>
+
+<p>&raquo;Wir d&uuml;rfen erst schie&szlig;en, wenn sie die Stadt
+selbst beschie&szlig;en. Nicht vorher.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_226" id="Page_226" title="226"></a>Von unten her klangen Rufe, die man bei dem
+Get&ouml;se nicht verstehen konnte. Frau von Zeuthen
+trat ans Fenster und sah hinunter.</p>
+
+<p>Auf ihrem v&ouml;llig ersch&ouml;pften Pferdchen ritt Hedwig
+die Hauptstra&szlig;e hinunter, dr&auml;ngte sich durch
+die Infanteristen und st&uuml;rmte die Treppe hinauf:</p>
+
+<p>&raquo;Der Dampfer von Sidney liegt da hinten, dicht
+an der Insel; man kann ihn vom Vulkane aus sehen.
+Herr Silberland ist in einem Ruderboote vom
+Dampfer abgesto&szlig;en, ich konnte ihn ganz deutlich
+erkennen. Der Dampfer fuhr dann wieder weg.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck war aufgesprungen:</p>
+
+<p>&raquo;Wo liegt der Dampfer? Wo?&laquo;</p>
+
+<p>Hedwig beschrieb ihm die Stelle.</p>
+
+<p>&raquo;Hierher rudern! War er allein?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Um Gotteswillen, das sind ja &uuml;ber drei&szlig;ig Kilometer.
+Wenn er das aush&auml;lt. Wann war das?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich mu&szlig;te zuerst herunterlaufen und mein
+Pferd holen. Ich bin so schnell geritten, wie ich
+konnte. Aber drei Stunden ist es mindestens her.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Dann kann er in zwei Stunden hier sein.&laquo;</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen strich ihrer Tochter &uuml;ber das
+erhitzte Gesicht:</p>
+
+<p>&raquo;Leg dich etwas auf Pauls Bett, mein Kind, und
+ruh dich aus. Aber dann mu&szlig;t du wieder zur&uuml;ckreiten,
+h&ouml;rst du?&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_227" id="Page_227" title="227"></a>&raquo;Darf ich nicht hier bleiben, Mutter?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, das geht nicht, Kind.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber Fr&auml;ulein Erhardt kommt auch, sie geht
+sogar zu Fu&szlig;, ich habe sie &uuml;berholt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wenn du ihr auf dem R&uuml;ckwege wieder begegnest,
+sag ihr, da&szlig; sie umkehren soll&laquo;, sagte
+Paul Seebeck. &raquo;Aber geh jetzt Kind und ruh dich
+etwas aus. Oder willst du etwas zu essen
+haben?&laquo;</p>
+
+<p>Hedwig sch&uuml;ttelte schmollend den Kopf und ging
+in Paul Seebecks Schlafzimmer.</p>
+
+<p>&raquo;Also nur noch zwei Stunden, dann wissen wir
+Bescheid&laquo;, sagte Paul Seebeck aufatmend. &raquo;Wenn
+Silberland es nur aush&auml;lt.&laquo;</p>
+
+<p>Hedwig war in Paul Seebecks Schlafzimmer gegangen,
+aber sie legte sich nur f&uuml;r einige Minuten
+auf sein Bett. Leise &ouml;ffnete sie dann die T&uuml;r zum
+Badezimmer, schl&uuml;pfte durch dieses in die K&uuml;che
+und ging die Hintertreppe hinunter. Mit einigen
+Spr&uuml;ngen hatte sie unbemerkt die n&auml;chsten H&auml;user
+erreicht und ging jetzt durch die kleinen G&auml;&szlig;chen,
+die die einzelnen Terrassen mit einander verbanden,
+zum Meere hinunter. In kurzen Zwischenr&auml;umen
+schlugen noch immer die Granaten in den Hafen.</p>
+
+<p>Hedwig ging zu Nechlidows H&auml;uschen, das gerade
+am Anfang der Fischerstra&szlig;e lag. Mit klopfendem
+Herzen &ouml;ffnete sie die T&uuml;re und trat ein.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_228" id="Page_228" title="228"></a>Es war still im ganzen Hause. Hedwig trat ins
+Wohnzimmer ein. Hier war es fast dunkel, denn die
+Fenstervorh&auml;nge waren dicht zugezogen.</p>
+
+<p>Nechlidow erhob sich von seinem flachen Sofa
+zu einer halbsitzenden Stellung.</p>
+
+<p>&raquo;Sie kommen zu mir, dem Verfehmten? Wird
+man Sie nicht steinigen, wenn man das erf&auml;hrt?&laquo;</p>
+
+<p>Ein scharfer Knall in der N&auml;he, dem ein anhaltendes
+Prasseln und Krachen von niederst&uuml;rzenden
+Mauerteilen folgte, lie&szlig; ihn aufstehen. Er
+trat zum Fenster und zog die Vorh&auml;nge zur&uuml;ck.
+Das gegen&uuml;berliegende Haus hatte sich in einen
+rauchenden Tr&uuml;mmerhaufen verwandelt.</p>
+
+<p>Nechlidow lachte bitter auf:</p>
+
+<p>&raquo;Meine Schuld, nicht wahr?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Herr Nechlidow&laquo;, sagte Hedwig bittend und
+trat an ihn heran. &raquo;Glauben Sie nicht doch, da&szlig;
+Paul recht gehandelt hat?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Bei Gott, er hatte nicht recht, und wenn ich
+tausendmal daran Schuld trage, da&szlig; jetzt alles zusammenbricht.
+Ich habe das nicht gewollt. Ich
+habe nicht vorausgesehen, da&szlig; es so kommen w&uuml;rde.
+Aber es ist besser, da&szlig; diese riesige L&uuml;ge zusammengeschossen
+wird, als da&szlig; sie weiter lebt. Wer
+wei&szlig;, vielleicht kommen die englischen Schiffe
+<a class="page" name="Page_229" id="Page_229" title="229"></a>noch rechtzeitig, und dann baue ich die Stadt wieder
+auf. Und wenn sie nicht kommen, um so besser,
+dann ist eine Halbheit weniger auf der Welt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Sind Sie wirklich schuld daran?&laquo; fragte Hedwig
+sch&uuml;chtern.</p>
+
+<p>Nechlidow legte ihr beide H&auml;nde auf die Schultern
+und sah ihr in die braunen Augen:</p>
+
+<p>&raquo;Weshalb kommen Sie mit dieser Frage zu mir?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Weil ich wissen will, was Sie sind.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, Hedwig, es ist nicht meine Schuld. Die
+Leute sind daran schuld, sie sind ja alle behext,
+haben ihr bischen Vernunft ganz verloren. Wenn
+Seebeck aus lauter Sentimentalit&auml;t die Dummheit
+begeht, seine Entlassung zu verweigern, weshalb
+ihm dann zustimmen, weshalb es zur Revolution
+kommen lassen! Wir h&auml;tten alles so glatt machen
+k&ouml;nnen, Seebeck h&auml;tte gehen m&uuml;ssen, Rouvi&egrave;re w&auml;re
+Reichskommissar geworden. Aber da kam wieder
+der sinnlose Selbstmord von Rouvi&egrave;re dazwischen,
+und damit war alles verloren. Denn Rouvi&egrave;re hatte
+die Leute in der Tasche. Ja, und jetzt gehen mir
+dieselben Menschen, die unsere Klageschrift unterschrieben
+haben, wie einem Pestkranken aus dem
+Wege und lassen sich Seebecks sch&ouml;ner Augen
+wegen von ihm in den Tod f&uuml;hren. Eine Kette
+von unbegreiflichen Sentimentalit&auml;ten war wie
+immer der Grund alles Ungl&uuml;cks. Mein Fehler war
+<a class="page" name="Page_230" id="Page_230" title="230"></a>nur, da&szlig; ich auf die Vernunft der Menschen vertraute.
+Das ist die Wahrheit, Hedwig.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber was soll jetzt kommen? Was werden Sie
+tun?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich? Ich warte, bis meine Zeit gekommen ist.
+Die da dr&uuml;ben m&ouml;gen sich gegenseitig zerfleischen,
+wenn sie noch nicht reif f&uuml;r die Vernunft sind. Ich
+glaube an sie und an ihren endlichen Sieg. Ich
+glaube an die Menschheit.&laquo;</p>
+
+<p>Hedwig sah vor sich hin. Dann sch&uuml;ttelte sie
+ihren Lockenkopf:</p>
+
+<p>&raquo;Wollen wir nicht noch einmal zu unserer Landspitze
+hinausgehen? Wer wei&szlig;, wann wir wieder
+zusammen sein k&ouml;nnen.&laquo;</p>
+
+<p>Und sie gingen Hand in Hand die Treppe
+hinunter und traten auf die Stra&szlig;e. Da scho&szlig;
+dicht vor ihnen auf der Stra&szlig;e ein blendend wei&szlig;es
+Licht auf. Nechlidow taumelte zur&uuml;ck. Hedwig
+stie&szlig; einen leichten Schrei aus und fiel flach auf
+das Gesicht.</p>
+
+<p>Nechlidow sprang auf sie zu, hob sie auf, dr&uuml;ckte
+sie an seine Brust &#8211; sie schlug die Augen auf,
+l&auml;chelte noch einmal, wollte die Hand heben, aber lie&szlig;
+sie schlaff wieder fallen. Ihr Haupt sank zur&uuml;ck&nbsp;&#8211;</p>
+
+
+<p class="tb">Ein Ruderboot wandte sich um die Landspitze, die
+die bewohnte Bucht von der Irenenbucht schied.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_231" id="Page_231" title="231"></a>&raquo;Das ist Silberland&laquo;, rief Paul Seebeck Frau von
+Zeuthen zu.</p>
+
+<p>Er lief die Treppe hinunter, auf die Stra&szlig;e, schrie
+Hauptmann von Rochow zu:</p>
+
+<p>&raquo;Bleiben Sie hier. Handeln Sie nach Ihrem
+Gutd&uuml;nken!&laquo; und st&uuml;rzte dem Hafen zu. Mehrere
+Granaten schlugen in seiner N&auml;he ein und bedeckten
+ihn mit Staub. Unten angekommen, sah er um sich.
+Alles lag schon in Tr&uuml;mmern. In der Fischerstra&szlig;e
+standen nur noch einige H&auml;user. Und horch!
+das Prasseln auf den Steinen, das Klirren an Fensterscheiben,
+die kleinen Springbrunnen auf dem Meere.
+Also hatten sie schon die Maschinengewehre in
+T&auml;tigkeit gesetzt.</p>
+
+<p>Da kam das Ruderboot. Jakob Silberland stand
+auf und rief etwas, was Seebeck des L&auml;rmes wegen
+nicht verstehen konnte. Jakob Silberland setzte
+sich wieder an die Ruder. Jetzt war er nur noch
+zwanzig Schritte vom Strande entfernt. Wieder
+stand er auf. Sein Gesicht war verzerrt, Blut flo&szlig;
+von seinen H&auml;nden herunter. Er schrie:</p>
+
+<p>&raquo;Entente cordiale zwischen England und Deutschland;
+damit ist der Weltfriede endgiltig gesichert.&laquo;</p>
+
+<p>Klack, klack, klack klang es im Boote und im
+Wasser &#8211; Jakob Silberland fuhr sich mit der Hand
+ins lange schwarze Haar und brach dann auf der
+<a class="page" name="Page_232" id="Page_232" title="232"></a>Bootsbank zusammen. Langsam f&uuml;llte sich das
+durchl&ouml;cherte Boot mit Wasser und sank.</p>
+
+<p>Paul Seebeck blieb mit verschr&auml;nkten Armen
+stehn und sah das Boot versinken.</p>
+
+<p>Da legte sich eine Hand auf seine Schulter und
+er sah in Nechlidows bleiches Gesicht. An den
+Kleidern hatte er gro&szlig;e Blutflecke. Er fragte:</p>
+
+<p>&raquo;Darf ich zusammen mit Ihnen sterben, Herr
+Seebeck?&laquo;</p>
+
+<p>Seebeck reichte ihm die Hand:</p>
+
+<p>&raquo;Lassen Sie uns zusammen sterben, Sie f&uuml;r Ihre
+Idee, ich f&uuml;r mein Werk.&laquo;</p>
+
+<p>Nechlidow sch&uuml;ttelte den Kopf:</p>
+
+<p>&raquo;Ich sehe nichts mehr, wei&szlig; von keiner Vernunft
+mehr. Ich sehe nur noch einen Strom,
+dessen Wellen uns in die H&ouml;he hoben, als wir
+ihn zu leiten glaubten, und der uns jetzt mitleidlos
+wieder in seine Strudel zieht. Aber ich
+sehe nicht, wohin er geht. Ich sehe nur noch
+Sie und will mit Ihnen zusammen sterben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Kommen Sie&laquo;, sagte Seebeck. &raquo;Wir wollen
+den anderen sagen, da&szlig; wir alle sterben m&uuml;ssen.&laquo;</p>
+
+<p>Aber auch oben hatte man Jakob Silberlands
+Untergang gesehen.</p>
+
+<p>&raquo;Jetzt ist es genug!&laquo; rief Edgar Allan Hauptmann
+von Rochow zu. Dieser nickte. Und einige
+Minuten sp&auml;ter donnerte das schwere Festungsgesch&uuml;tz,
+<a class="page" name="Page_233" id="Page_233" title="233"></a>begleitet vom Knattern der beiden
+Maschinengewehre.</p>
+
+<p>Dies war aber nur ein Signal f&uuml;r den Kreuzer,
+seinerseits das Feuer zu verst&auml;rken. Und jetzt
+galten seine Sch&uuml;sse nicht mehr dem Hafen.
+&Uuml;berall schlugen die Granaten in die obere Stadt.
+An vielen Stellen brannten die H&auml;user.</p>
+
+<p>Da kamen Paul Seebeck und Nechlidow zusammen
+die Stra&szlig;e herauf. Die Leute umdr&auml;ngten sie,
+fragten, aber die beiden gingen hinauf in das Seebecksche
+Arbeitszimmer. Dort trat Paul Seebeck ans
+Fenster, wartete, bis das Feuer f&uuml;r einen Augenblick
+verstummte und rief dann mit scharfer klarer Stimme:</p>
+
+<p>&raquo;Wir bekommen keine Hilfe von England. Wer
+ist bereit, mit uns f&uuml;r unser Werk zu sterben?&laquo;</p>
+
+<p>Die Gesichter dort unten wurden gro&szlig;. Wutschreie
+ert&ouml;nten. Drohende F&auml;uste wurden emporgereckt.
+Aus dem Gebr&uuml;lle waren nur einzelne
+Worte verst&auml;ndlich:</p>
+
+<p>&raquo;Wir wollen uns nicht hinschlachten lassen!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wir sind verraten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wir wollen die da oben ausliefern und uns
+ergeben ...&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Drehen Sie die Geschichte herum&laquo;, sagte
+Edgar Allan zu Felix, und der gehorchte. Die noch
+rauchende M&uuml;ndung des Festungsgesch&uuml;tzes war
+auf die Infanteristen gerichtet.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_234" id="Page_234" title="234"></a>Da liefen sie, warfen die Gewehre fort, liefen,
+was sie konnten, nur fort, dem sicheren Hochlande,
+dem Leben, der Zukunft zu. Nur einer drehte
+sich um und feuerte einen Schu&szlig; ab, bevor er den
+anderen gleich sein Gewehr fortwarf.</p>
+
+<p>Edgar Allan brach, ins Herz getroffen, lautlos
+zusammen.</p>
+
+<p>An seine Stelle trat Nechlidow. Niemand fragte
+ihn, weshalb er gekommen sei, niemand machte
+ihm Vorw&uuml;rfe. Man dr&uuml;ckte ihm die Hand, und
+schweigend trat er an das Gesch&uuml;tz.</p>
+
+<p>Hauptmann von Rochow warf noch einen Blick
+auf seine fliehenden Soldaten, dann ging er zu
+Seebeck hinauf.</p>
+
+<p>Seebeck konnte ihm nur fl&uuml;chtig zunicken, denn
+jetzt geschah drau&szlig;en etwas Sonderbares: der
+Kreuzer stellte sein Feuern ein, und die Dampfbarkasse
+wurde ins Wasser gesenkt. Von der
+anderen Seite kam ein bemanntes Boot, das die
+Barkasse in Schlepptau nahm.</p>
+
+<p>&raquo;H&ouml;rt mit dem Schie&szlig;en auf&laquo;, telephonierte
+Seebeck hinunter. &raquo;Vielleicht kommen die in
+friedlicher Absicht.&laquo; Aber so scharf er auch hinsah,
+er konnte keine wei&szlig;e Fahne bemerken.</p>
+
+<p>&raquo;Sind denn die Leute wahnsinnig? Sie wissen
+doch, da&szlig; Seeminen da drau&szlig;en liegen!&laquo; rief Seebeck.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_235" id="Page_235" title="235"></a>Die Dampfbarkasse nahm aber nicht den Weg
+nach dem Hafen zu, sondern fuhr auf die Landspitze
+bei der Irenenbucht zu.</p>
+
+<p>&raquo;Die glauben, da&szlig; da keine Minen liegen und
+wollen da landen. Herr von Rochow, ich bitte
+Sie!&laquo; Hauptmann von Rochow st&uuml;rzte zum Tastbrett,
+und Paul Seebeck beugte sich &uuml;ber den Plan.
+Die Barkasse kam n&auml;her, war jetzt bei der flachen
+Klippe&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p>Fragend sah Herr von Rochow Seebeck an, der
+mit verschr&auml;nkten Armen und zusammengepre&szlig;ten
+Lippen ans Fenster getreten war.</p>
+
+<p>&raquo;Siebenunddrei&szlig;ig, achtunddrei&szlig;ig, zweiundvierzig&laquo;,
+sagte er kurz und scharf.</p>
+
+<p>Wie um einen Akkord zu spielen, dr&uuml;ckte Hauptmann
+von Rochow die drei Tasten nieder, und
+drau&szlig;en scho&szlig; ein ungeheurer Wasserberg in die
+Luft und st&uuml;rzte dann mit donnerndem Gebr&uuml;ll
+zusammen. Boote und Klippe waren verschwunden.</p>
+
+<p>Herr von Rochow griff sich mit beiden H&auml;nden
+taumelnd an den Kopf:</p>
+
+<p>&raquo;Deutsche, deutsche Soldaten&laquo;, murmelte er
+wie irrsinnig. Dann richtete er sich kerzengerade
+auf, zog einen Revolver aus der Tasche und scho&szlig;
+sich in die Schl&auml;fe.</p>
+
+<p>Seebeck wandte sich beim Knalle um; sp&ouml;ttisch
+l&auml;chelnd sah er auf die Leiche.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_236" id="Page_236" title="236"></a>Frau von Zeuthen war entsetzt aufgesprungen.
+Dann setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl. Seebeck
+trat auf sie zu:</p>
+
+<p>&raquo;Gehen Sie jetzt, Gabriele. Denn dem, was jetzt
+kommen wird, sind die Nerven keiner Frau gewachsen.
+Gehen Sie, Sie m&uuml;ssen sich Ihren Kindern
+erhalten.&laquo;</p>
+
+<p>Sie stand auf und sch&uuml;ttelte energisch den Kopf:</p>
+
+<p>&raquo;Ich bleibe bei Ihnen, meinetwegen&nbsp;&#8211;&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nichts geschieht Ihretwegen&laquo;, unterbrach sie
+Seebeck schroff. Dann setzte er aber sanft hinzu:
+&raquo;Denken Sie an Ihre Kinder, Gabriele. Sie haben
+noch eine Aufgabe auf dieser Welt, wir nicht mehr.
+Und nehmen Sie Felix mit; wozu soll er sich hier
+verbluten. Sie k&ouml;nnen ihm nach zehn Jahren
+erz&auml;hlen, was sich hier alles vor seinen Augen abgespielt
+hat. Dann wird er es verstehen und davon
+lernen. Und gr&uuml;&szlig;en Sie Ihre kleine Hedwig von mir.&laquo;</p>
+
+<p>Da sank Frau von Zeuthen vor ihm nieder und
+k&uuml;&szlig;te seine H&auml;nde. Er hob sie auf und zog sie an
+seine Brust. Drau&szlig;en krachten wieder die Granaten,
+und unten donnerte das Festungsgesch&uuml;tz, begleitet
+vom Knattern der beiden Maschinengewehre.</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen ri&szlig; sich los:</p>
+
+<p>&raquo;Felix mu&szlig; bei Ihnen bleiben, Seebeck! Das
+Opfer mu&szlig; ich Ihnen bringen. Er ist ein Mann.
+Er soll Ihr Geschick teilen. Ich gehe zu Hedwig.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_237" id="Page_237" title="237"></a>Paul Seebeck trat ans Telephon.</p>
+
+<p>&raquo;Felix soll herauf kommen.&laquo;</p>
+
+<p>Das schwere Gesch&uuml;tz verstummte und Felix
+kam herauf.</p>
+
+<p>&raquo;Was gibt&#8217;s?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du mu&szlig;t deine Mutter zum Vulkane zur&uuml;ckbegleiten.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber Paul!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du mu&szlig;t! Hol dein Pferd f&uuml;r deine Mutter.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Paul, ich will bei dir bleiben.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Felix, es hat keinen Sinn mehr. Denk was f&uuml;r
+ein Leben du noch haben kannst und denk an
+deine Mutter.&laquo; Er legte den Arm um Felix Schulter
+und f&uuml;hrte ihn Frau von Zeuthen zu:</p>
+
+<p>&raquo;Wollen Sie wirklich Ihren Jungen hier lassen?&laquo;</p>
+
+<p>Da schlang die Mutter die Arme um ihr Kind,
+unter str&ouml;menden Tr&auml;nen rief sie:</p>
+
+<p>&raquo;Felix, komm mit mir!&laquo;</p>
+
+<p>Er entwand sich ihren Armen und sah Paul
+Seebeck an. Dieser sagte:</p>
+
+<p>&raquo;Du sollst mein Erbe sein, Felix; sieh zu, ob
+du mein Werk fortf&uuml;hren kannst, und das mit
+mehr Gl&uuml;ck. Geh meines Werkes wegen.&laquo;</p>
+
+<p>Felix k&auml;mpfte mit sich. Dann sah er mit seinen
+strahlenden, braunen Augen Paul Seebeck an und
+sagte:</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_238" id="Page_238" title="238"></a>&raquo;Aber das verspreche ich dir, Paul, ich werde
+mich ebenso halten wie du.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck strich ihm &uuml;ber das Haar.</p>
+
+<p>&raquo;Gut, mein Junge. &#8211; Aber geh jetzt und hol
+dein Pferd.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt ging die Sonne unter, und der Kreuzer
+stellte sein Feuern ein. Wenige Minuten sp&auml;ter
+war es dunkle Nacht, in der hier und da die Flammen
+von den brennenden H&auml;usern emporloderten.</p>
+
+<p>Da hob sich riesengro&szlig; die rotgelbe Scheibe des
+Vollmondes &uuml;ber den Horizont, beleuchtete den
+Kreuzer und sein Werk. Schaurig sahen im kalten
+Lichte die Tr&uuml;mmer aus. Und nun begann der
+Kreuzer wieder zu feuern; unter donnerndem
+Krachen st&uuml;rzte das gro&szlig;e Volkshaus zusammen.</p>
+
+<p>&raquo;Kommen Sie, Gabriele, jetzt ist keine Zeit
+mehr zu verlieren.&laquo; Er begleitete sie bis zur Hauptstra&szlig;e
+und weiter bis zu den rauchenden Tr&uuml;mmern
+des Volkshauses. Da tauchte ein Schatten hinter
+ihnen auf, und Felix holte sie auf seinem Pferde
+ein.</p>
+
+<p>&raquo;Ich m&ouml;chte nur noch schnell von den anderen
+Abschied nehmen, geh nur voraus, Mutter!&laquo; rief er
+und galoppierte zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>&raquo;Leben Sie wohl, Gabriele. Mein Versprechen
+habe ich gehalten, nicht wahr?&laquo; Und dann wandte
+er sich schnell ab und ging hinunter.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_239" id="Page_239" title="239"></a>Frau von Zeuthen ging langsam den Berg hinauf
+und weiter auf der Stra&szlig;e hin. Als sie das
+Staubecken erreichte, schrak sie zusammen, denn
+vor ihr erhob sich eine dunkle Gestalt. Aber der
+Mond erleuchtete ein bekanntes Gesicht.</p>
+
+<p>&raquo;Fr&auml;ulein Erhardt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, gn&auml;dige Frau!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Wollen Sie zur Stadt?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich kann nicht mehr gehen, ich bin so m&uuml;de.
+Wo ist Felix?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Er ist in einigen Minuten hier. Ist Ihnen nicht
+Hedwig begegnet?&laquo;</p>
+
+<p>Fr&auml;ulein Erhardt sch&uuml;ttelte den Kopf:</p>
+
+<p>&raquo;Nein, aber ich glaube, ich habe mehrmals auf
+dem Wege geschlafen. Sie wird an mir vorbeigeritten
+sein, ohne da&szlig; ich sie bemerkte. Aber
+Felix kommt, mein Felix!&laquo;</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen hatte sich neben sie gesetzt
+und strich ihr sanft &uuml;ber den Leib. Da schlang
+Fr&auml;ulein Erhardt die Arme um ihren Hals und
+fl&uuml;sterte ihr zu:</p>
+
+<p>&raquo;Ich habe ja ein Kind von ihm.&laquo;</p>
+
+<p>Frau von Zeuthen k&uuml;&szlig;te sie:</p>
+
+<p>&raquo;Liebe Tochter&laquo;, sagte sie.</p>
+
+<p>Dann schwiegen sie beide, sa&szlig;en im bleichen
+Lichte des Vollmondes einsam auf der Ebene und
+warteten, warteten&nbsp;&#8211;&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_240" id="Page_240" title="240"></a>Als Paul Seebeck von der Hauptstra&szlig;e wieder
+auf sein Haus zu einbog, blieb er wie erstarrt
+stehen, denn aus dem Kellerfenster scho&szlig; eine
+Stichflamme, der ohrenbet&auml;ubender Knall folgte.
+Paul Seebeck griff sich an die Stirn und st&uuml;rzte
+dann hin. Dichter, bei&szlig;ender Rauch quoll aus den
+Fenstern, verh&uuml;llte die L&auml;ufe der drei Gesch&uuml;tze&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p>Er sprang die Treppe hinunter, von unten klang
+ihm leises Wimmern entgegen. Die Lampe war
+verl&ouml;scht, aber das weiche D&auml;mmerlicht der Mondnacht
+erf&uuml;llte den Raum.</p>
+
+<p>Auf dem Boden lag Nechlidow in den letzten
+Z&uuml;gen, der ganze Leib war ihm aufgerissen. &Uuml;ber
+den Verschlu&szlig; des Gesch&uuml;tzes gebeugt lag Felix.
+Paul Seebeck hob ihn auf. Felix schlug die Augen
+auf und l&auml;chelte:</p>
+
+<p>&raquo;Du, Paul, ich wollte Nechlidow doch wieder
+helfen; er konnte das Gesch&uuml;tz nicht allein bedienen.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck betastete ihn. Auf der rechten
+Brustseite war ein kleiner nasser Fleck. Seebeck ri&szlig;
+die Kleider auf; das Blut str&ouml;mte.</p>
+
+<p>&raquo;Mu&szlig; ich sterben, Paul? Dann gr&uuml;&szlig; die andern.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, nein du bleibst leben. Hab keine Angst.
+Schlaf jetzt nur etwas.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja&laquo;, sagte Felix, &raquo;ich bin so m&uuml;de.&laquo;</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_241" id="Page_241" title="241"></a>Und Paul Seebeck bettete den sterbenden Knaben
+so gut er konnte auf den Boden.</p>
+
+<p>Unter seinem Maschinengesch&uuml;tz lag Otto Meyer,
+ein Granatsplitter hatte ihm den Oberschenkel
+zerfetzt. Er reichte Seebeck die Hand:</p>
+
+<p>&raquo;Du, sag mal, kannst du mir nicht irgend einen
+passenden Ausspruch empfehlen? Ich kann doch
+nicht so ganz klanglos sterben. &raquo;Ich sterbe f&uuml;r
+die Freiheit&laquo;, oder etwas &auml;hnliches?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du stirbst, weil du ein anst&auml;ndiger Kerl bist.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Also gut: ich sterbe, damit die Anst&auml;ndigkeit
+lebe! Bravo. Schlu&szlig;. &#8211; Es war so sch&ouml;n, mit dir
+zusammenzuarbeiten, Seebeck. Ich danke dir
+daf&uuml;r.&laquo;</p>
+
+<p>Dann sank er zur&uuml;ck.</p>
+
+<p>Paul Seebeck trat an Melchior heran, der bewu&szlig;tlos
+in einer Blutlache an der Wand lag. Wie
+er ihn untersuchte, schlug er die Augen auf:</p>
+
+<p>&raquo;Herr Seebeck, Sie? Gut, da&szlig; Sie kommen.
+Ich habe es gefunden!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Was haben Sie gefunden?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Das Problem der Menschheit habe ich gefunden.
+H&ouml;ren Sie!&laquo; Er versuchte sich aufzurichten, aber
+sank wieder zusammen.</p>
+
+<p>&raquo;Das Problem der Menschheit!&laquo; Seebeck
+lachte auf. &raquo;Da drau&szlig;en haben Sie das Problem
+der Menschheit!&laquo; Und er wies auf das Kriegsschiff
+<a class="page" name="Page_242" id="Page_242" title="242"></a>hinaus, das jetzt langsam sein Feuern einstellte.</p>
+
+<p>&raquo;Seebeck, sch&auml;men Sie sich! Wer wird einen
+Spezialfall verallgemeinern. H&ouml;ren Sie, ich habe
+nicht mehr viel Zeit, glaube ich.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck verschr&auml;nkte die Arme und sah
+dem Sterbenden gerade ins Gesicht.</p>
+
+<p>&raquo;Ich h&ouml;re&laquo;, sagte er.</p>
+
+<p>&raquo;Sie erinnern sich noch an alle unsere Gespr&auml;che?
+Sie alle haben am Problem mitgearbeitet, Sie alle
+haben mir Bausteine gegeben. Jetzt habe ich aber
+die Formel gefunden. Sie erinnern sich, da&szlig; alle
+Fragen immer wieder auf denselben toten Punkt
+kamen, da&szlig; man die Begriffe gleichzeitig als
+fortgeschrittener, wie auch als r&uuml;ckst&auml;ndig in den
+Bezug auf den realen Stand der Menschheit ansehen
+kann. Da kam Herr Otto Meyer mit dem
+Einfall, da&szlig; sie von zwei verschiedenen Gesichtspunkten
+aus betrachtet sein m&uuml;&szlig;ten, um verschieden
+zu erscheinen. Lebt er noch?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein, er ist tot.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Schade, es h&auml;tte ihn sicher interessiert. Sehen
+Sie, Herr Seebeck, jetzt habe ich die beiden Standpunkte;
+den niedrigen des einzelnen Menschen und
+den hohen der gesamten Menschheit. Wenn sich
+aus uns allen kleinen gleichgiltigen Einzelwesen
+jetzt das ungeheure Individuum der Menschheit
+<a class="page" name="Page_243" id="Page_243" title="243"></a>aufbaut &#8211; solange ich selbst unter den Arbeitern
+lebte, habe ich diese Kristallisation gef&uuml;hlt, aber
+nicht begriffen, ich f&uuml;hlte, wie sich die Zellen instinktiv
+zusammenschlossen, obwohl sich jede einzelne
+krampfhaft dagegen wehrte &#8211; dann m&uuml;ssen
+ja unsere Gedanken klein sein, die der Menschheit
+sind aber gro&szlig;, f&uuml;r uns ebenso unbegreiflich gro&szlig;,
+wie die Zelle in unserem K&ouml;rper nichts von unseren
+Gedanken versteht, und doch baut sie K&ouml;rper und
+Leben auf.</p>
+
+<p>Aber da haben wir als Ausgleich jene Begriffe,
+halb einzel-menschlich, halb universal-menschlich,
+dem Menschen zu hoch, der Menschheit zu niedrig.
+Sie zeigen weder den Standpunkt des Menschen,
+noch den der Menschheit, sondern gerade die
+noch ungel&ouml;ste Spannung zwischen beiden Teilen.</p>
+
+<p>Pr&uuml;fen Sie es doch nur an irgend einem Beispiele:
+denken Sie an die Ehe. Dem einzelnen Menschen
+ein praktisch fast unerreichbares Ideal, f&uuml;r die
+Menschheit veraltet. Denn vom hohen Standpunkte
+der Menschheit aus gesehen, gleichen sich die im
+Einzelfalle eintretenden Hindernisse aus; und f&uuml;r
+den Gesamtdurchschnitt wird dann die Ehe nicht
+zu hoch, sondern zu niedrig.</p>
+
+<p>Oder denken Sie an die Orthographie einer
+Sprache, die zwar scheinbar r&uuml;ckst&auml;ndig ist, in
+Wirklichkeit aber die gro&szlig;en, ewigen Gesetze und
+<a class="page" name="Page_244" id="Page_244" title="244"></a>Wandlungen der Sprache, dieses Gutes nicht
+eines Einzelnen, sondern der Menschheit wiedergibt.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Und wie erkl&auml;ren Sie dieses Beispiel hier?&laquo;
+fragte Paul Seebeck und wies auf die Leichen um
+sie her.</p>
+
+<p>&raquo;Ach was hat das zu sagen, da&szlig; einige Zellen absterben.
+Ein kleiner Entz&uuml;ndungsproze&szlig; im K&ouml;rper
+der Menschheit, weiter nichts.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ja, ja&laquo;, sagte Paul Seebeck.</p>
+
+<p>&raquo;Und sehen Sie doch, da&szlig; die gro&szlig;en Taten nie
+vom einzelnen ausgef&uuml;hrt werden, sondern nur
+von der Masse, vom Individuum Menschheit. Das
+ist ja auch selbstverst&auml;ndlich, denn der Natur
+der Dinge nach mu&szlig; die auf einer millionenmal
+h&ouml;heren Stufe stehende Menschheit auch h&ouml;here
+Gedanken haben. Wie selten opfert sich ein einzelner
+f&uuml;r eine Idee, und wie leicht tun es tausende
+zusammen, weil nicht mehr der Einzelne denkt,
+sondern die Masse an sich.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Aber hat uns nicht hier die Masse verraten,
+und bleiben nicht wir einzelne zur&uuml;ck?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Kommt das nicht auch in unserem K&ouml;rper vor,
+in dem sich die einzelnen Blutk&ouml;rperchen gegenseitig
+auffressen, statt zusammen zum h&ouml;heren
+Zwecke als dem ihrer Einzelexistenz zu wirken?
+Krankheitserscheinungen, weiter nichts. Und eben
+<a class="page" name="Page_245" id="Page_245" title="245"></a>so, wie trotz aller Krankheiten der menschliche
+K&ouml;rper sich weiter entwickelt, so wird es auch die
+Menschheit tun, um sp&auml;ter wieder Zelle eines
+neuen, unerme&szlig;lich hohen Individuums zu werden.
+Bis sich schlie&szlig;lich das Universum in einem unendlich
+weiteren Sinne, als wir armselige Einzelzellchen
+es heute begreifen k&ouml;nnen, zu einem
+gro&szlig;en Organismus zusammenschlie&szlig;t. Und da
+wird die Erl&ouml;sung sein, der Zweck des Daseins.
+Ich sterbe&laquo;, fuhr er mit schw&auml;cherer Stimme fort,
+&raquo;aber Sie leben ja noch. Gehen Sie zu den Menschen
+und sagen Sie ihnen, da&szlig; ich ihr Geheimnis gel&ouml;st
+habe.&laquo;</p>
+
+<p>Paul Seebeck sch&uuml;ttelte langsam den Kopf:</p>
+
+<p>&raquo;Ich gehe nicht mehr zu den Menschen, Melchior.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt richtete sich der Sterbende mit seiner letzten
+Kraft auf:</p>
+
+<p>&raquo;Sie m&uuml;ssen, Seebeck, sonst habe ich das alles
+umsonst gedacht. Das darf doch nicht sein!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Nein&laquo;, sagte Paul Seebeck hart, &raquo;Sie sollen
+das alles umsonst gedacht haben. Mag Ihr Leben
+verschwendet sein, wie das von uns allen.&laquo;</p>
+
+<p>Da brach Melchior zusammen.</p>
+
+<p>Nun fiel das bleiche Mondlicht durch die Fenster
+und beleuchtete die vier Leichen und die Gesch&uuml;tze.
+Sinnend blieb Paul Seebeck stehen. Er schaute
+<a class="page" name="Page_246" id="Page_246" title="246"></a>auf das Meer hinaus, das so friedlich dalag. Aber
+dort in der Ferne das Ungeheuer, jetzt nicht mehr
+feuerspeiend.</p>
+
+<p>Paul Seebeck setzte sich neben Felix&#8217; Leiche
+hin und wartete. Aber ihm war keine Granate
+bestimmt. Da k&uuml;&szlig;te er des Knaben eiskalte Stirn
+und ging hinaus. Er ging an den Tr&uuml;mmern des
+Volkshauses vorbei, die sich gespenstig in die
+H&ouml;he reckten, zur Irenenbucht hinunter. Langsam
+stieg er die Stufen hinab und setzte sich unten
+auf die Felsplatte. Er sah die breiten R&uuml;cken
+der Riesenschildkr&ouml;ten feucht im Mondlichte
+gl&auml;nzen, sah sie die K&ouml;pfe erheben&nbsp;&#8211;</p>
+
+<p>Da lie&szlig; er sich langsam ins Wasser gleiten. Die
+Tiere tauchten erschreckt unter. Er wollte schwimmen,
+weiter hinaus ins Meer wollte er, aber er
+verfing sich in den langen Schlingpflanzen. Er
+k&auml;mpfte, um sich zu befreien, aber sie lie&szlig;en ihn
+nicht los. Da gab er nach und lie&szlig; sich vom Wasser
+tragen. Es umfing ihn so lau und weich. Aber wie
+er sich nicht mehr bewegte, beruhigten sich die
+Tiere wieder. Er sah ihre gl&auml;nzenden R&uuml;cken herankommen,
+dicht vor ihm tauchte ein riesiger,
+schwarzer Kopf aus dem Wasser auf, schob sich
+langsam n&auml;her, ein breites, zahnloses Maul &ouml;ffnete
+sich&nbsp;&#8211;&nbsp;&#8211;</p>
+</div>
+
+
+
+
+<div class="advertisements">
+<p><a class="page" name="Page_247" id="Page_247" title="247"></a></p>
+<h4 class="notopmargin">IM GLEICHEN VERLAGE ERSCHIEN:</h4>
+
+<h2>HANS FRANCK</h2>
+<h1>THIES UND PETER</h1>
+<h3>DER ROMAN EINER FREUNDSCHAFT</h3>
+
+<h5>PREIS BROSCH. M. 3.50, GEBUNDEN IN LEINEN M. 4.50</h5>
+
+<p><em class="gesperrt">Neue Freie Presse</em>: In der Freundschaft sind
+Fehler Verbrechen! Davon handelt der Roman. Es
+ist die Trag&ouml;die restlos angestrebter Freundesvereinigung,
+jener Freundschaft, die in der v&ouml;lligen Umklammerung
+und Einschlie&szlig;ung des geliebten Wesens
+dessen Menschenrecht mit F&uuml;&szlig;en tritt, die sich selbst
+mordet. &raquo;Thie&szlig; und Peter&laquo; ist ein Bekenntnisbuch,
+warm und sprudelnd vom Herzen gespeist. So ist
+Hans Francks sch&ouml;pferischer Erstling eine starke Hoffnung,
+die am sch&ouml;nsten eingel&ouml;st scheint auf gleichem
+Weg. Hebbels unerbittlicher Geist und Otto Ludwigs
+eherne Erz&auml;hlerkunst scheinen hier in einem bewegten
+Kopfe unserer Zeit wiedergeboren zu sein, der
+reiche bleibende Fr&uuml;chte verspricht. Die Sprache ist
+von elastischer H&auml;rte und bringt gro&szlig;artige Bilder von
+starker Energie.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Saale-Zeitung</em>: Oft, hundertmal, ist die Liebe
+zweier M&auml;nner besungen, zerst&ouml;rt, angegriffen worden,
+niemals in der intensiven Art wie hier. Hans Franck
+ist es gelungen, sein Thema restlos zu durchleben, zu
+erfassen, in sich aufzunehmen, es in die Form der Kunst
+zu gie&szlig;en und gel&auml;utert herauszusch&auml;len. Das Thema
+selbst hat Franck restlos ersch&ouml;pft, ohne auch nur die
+geringsten Seitenspr&uuml;nge zu machen. Hatte sein Name
+auch zuvor schon einen guten Klang, so ist Franck mit
+diesem Roman in die Reihe unserer ersten deutschen
+Dichter ger&uuml;ckt. Der Roman wird in der Geschichte
+des deutschen Romans noch eine Rolle spielen.</p>
+
+<p><a class="page" name="Page_248" id="Page_248" title="248"></a></p>
+<h4>IM GLEICHEN VERLAG ERSCHIEN FERNER:</h4>
+
+<h2>GRETE MEISEL-HESS</h2>
+<h1>DIE INTELLEKTUELLEN</h1>
+<h3>ROMAN</h3>
+
+<h5>PREIS BROSCHIERT M. 5&#8211;, ELEGANT IN LEINW. M. 6&#8211;</h5>
+
+<p><em class="gesperrt">Anna Croissant-R&uuml;st</em>: Die Disziplin in ihrem Roman
+und der Aufbau sind bewundernswert. Die Helden
+des Romans, Olga, Stanislaus sind in allen Konturen
+und Linien ungeheuer scharf gezeichnet und wohl
+geraten. Dr. Emmerich, auch Koszinsky sind sehr
+gute Typen, &uuml;berhaupt ist ein Reichtum von Personen
+und Ideen in dem Roman, da&szlig; sich manche von den
+herk&ouml;mmlichen Romanmodeschneiderinnen 10 Romane
+daraus zurechtschneidern k&ouml;nnten. Das quillt
+alles nur so &uuml;ber und ist doch in straffen Banden gehalten.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Neue Freie Presse</em>. Manfred Wallentin ist in ihr
+der vorgeahnte Typus des Menschen der Zukunft und
+der Sch&ouml;nheit, der Typus des moralischen &Uuml;bermenschen,
+im Sinne einer Herrennatur, die Beladene
+und Bedr&uuml;ckte f&uuml;hrend durch das Leben geleitet. Die
+anderen Figuren des Romanes, strebende, wankende,
+strauchelnde und wieder sich erhebende M&auml;nner und
+Frauen, verk&ouml;rpern den Geist dieser Gruppe der
+Intellektuellen in mannigfacher Gestalt. Zu klarem
+Relief sind die verschiedenen Charaktere gearbeitet,
+ein jeder stellt ein Beispiel &#8211; das Typische seiner
+Art. Nirgends groteske Verzerrung oder leichtfertiges
+Fertigwerden mit komplizierten Gedanken. Philosophische,
+theosophische, soziale Er&ouml;rterungen kommen
+in streng gef&uuml;hrten Dialogen zur Diskussion, wandeln
+sich hier in poetisch wohltuend gem&auml;&szlig;igter Form
+zu pulsendem Leben.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Neues Wiener Tageblatt</em>. Frau Meisel-He&szlig;
+hat sich schon durch ein Werk &uuml;ber &raquo;Die sexuelle
+Krise&laquo; in die Scharen der sozialreformatorischen
+Streiter gestellt, w&auml;hrend sie in ihrer &raquo;Stimme&laquo;, das
+ihr feinstes Buch bleibt, eine individualistisch vertiefte
+Studie gibt &#8211; jeder nachdenkliche moderne Mensch
+wird den Roman mit gro&szlig;em Interesse lesen.</p>
+
+<p class="printer">A.&nbsp;E. FISCHER, Buch- und Kunstdruckerei, GERA-R.</p>
+</div>
+
+
+
+<div class="note">
+<p>Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf
+Grundlage der 1912 bei Oesterheld erschienenen Ausgabe erstellt. Die
+nachfolgende Tabelle enth&auml;lt eine Auflistung aller gegen&uuml;ber dem
+Originaltext vorgenommenen Korrekturen.</p>
+
+<p>
+p 019: steigen drei Reketen -> Raketen<br />
+p 022: Zeitungsberichte erkennen liessen. -> lie&szlig;en<br />
+p 027: [Komma erg&auml;nzt] Blatt beugte, &raquo;der Fl&auml;cheninhalt<br />
+p 030: Einen grossz&uuml;gigen K&uuml;nstler -> gro&szlig;z&uuml;gigen<br />
+p 031: l&auml;chend wieder aufblickend -> l&auml;chelnd<br />
+p 033: dadurch abschliessende Form -> abschlie&szlig;ende<br />
+p 035: Paul Seebecks Ichtyosauren -> Ichthyosauren<br />
+p 041: [Anf&uuml;hrungszeichen entfernt] &raquo;Durch den Schriftsteller -> Durch<br />
+p 044: [Komma erg&auml;nzt] daran erinnerte, da&szlig;<br />
+p 045: du willst gleieh -> gleich<br />
+p 050: [Vereinheitlicht] im Cafe Stephanie gesessen -> Caf&eacute;<br />
+p 052: auf und abgehend -> auf- und abgehend<br />
+p 054: [Punkt erg&auml;nzt] Dann lief er tief err&ouml;tend aus der T&uuml;r.<br />
+p 055: [Anf&uuml;hrungszeichen korrigiert] einer von den Unsrigen.&laquo;<br />
+p 059: [Zeichen erg&auml;nzt] also [ ]in Vorrecht -> ein<br />
+p 058: fuhr erfort[ ], -> er fort,<br />
+p 062: fragte Seebeck die Hand -> fragte Seebeck, die Hand<br />
+p 063: ausgewachene Riesenschildkr&ouml;te -> ausgewachsene<br />
+p 063: Das es jetzt ... nicht mehr gibt, -> Da<br />
+p 065: bilden kann, ohne das -> da&szlig;<br />
+p 067: alle sozialen und sozial-psychologischen Ph&auml;nomen -> Ph&auml;nomene<br />
+p 069: Schw&auml;che und Dumheit -> Dummheit<br />
+p 072: Jacob Silberland den geringsten Kummer -> Jakob<br />
+p 075: Rhytmus -> Rhythmus<br />
+p 076: [Anf&uuml;hrungszeichen korrigiert] erinnern Sie sich noch?&laquo;<br />
+p 089: an Herren Seebeck erlauben -> Herrn<br />
+p 090: Denn wir wissen alles, was wir ihm schulden -> alle<br />
+p 090: [Punkt erg&auml;nzt] im Buche der Menschheit stehen.&laquo;<br />
+p 092: allerhand Papier zusammen, die -> Papiere<br />
+p 093: [Komma entfernt] f&uuml;nfhunderteinundzwanzig, Mark.<br />
+p 097: geklatscht und gestrampelt -> getrampelt<br />
+p 106: antworetete der Kr&uuml;ppel -> antwortete<br />
+p 108: [Komma erg&auml;nzt] Rechtsstreitigkeiten&laquo;, wie [...] ausdr&uuml;ckt<br />
+p 108: alle Steitigkeiten durch -> Streitigkeiten<br />
+p 116: [Vereinheitlicht] Orang-Utans vorfinden&laquo;. -> vorfinden.&laquo;<br />
+p 122: Arbeit ausf&uuml;hren nnd -> und<br />
+p 122: die wir jetzt darstellen, -> darstellen.<br />
+p 139: [Punkt erg&auml;nzt] Schatten auf sie.<br />
+p 145: stand der Kr&uuml;ppel auf; -> auf:<br />
+p 151: [Punkt erg&auml;nzt] die sich auf dem Tische befand.<br />
+p 156: Proviant f&uuml;r viezehn Tage -> vierzehn<br />
+p 167: [Anf&uuml;hrungszeichen korrigiert] praktische Bedeutung hat?&laquo;<br />
+p 183: [Vereinheitlicht] der Vorstandsschaft -> Vorstandschaft<br />
+p 201: [Anf&uuml;hrungszeichen korrigiert] &raquo;Woher wissen Sie das?&laquo;<br />
+p 213: [Vereinheitlicht] Herr Reichkommissar -> Reichskommissar<br />
+p 214: Reipeitsche -> Reitpeitsche<br />
+p 227: ihr auf den R&uuml;ckwege -> dem<br />
+p 233: [Anf&uuml;hrungszeichen korrigiert] &raquo;Wir sind verraten.&laquo;<br />
+p 233: [Ellipse erg&auml;nzt] ausliefern und uns ergeben .. &laquo; -> ...&laquo;<br />
+p 241: [Punkt erg&auml;nzt] Gut, da&szlig; Sie kommen.<br />
+p 245: der menschlichen K&ouml;rper sich -> menschliche<br />
+p 247: Neue Freie Prese -> Presse<br />
+p 248: ERSCHIEN FENRER -> FERNER
+</p>
+
+<p>Die Originalschreibweise wurde prinzipiell beibehalten, insbesondere bei
+folgenden W&ouml;rtern:</p>
+
+<p>
+p 011: grinzend<br />
+p 058: Karrikatur<br />
+p 074, 172: endgiltig<br />
+p 178: kennte
+</p>
+</div>
+
+
+
+<div class="note">
+<p>Transcriber&#8217;s Note: This ebook has been prepared from the Oesterheld
+edition, published around 1912. The table below lists all corrections
+applied to the original text.</p>
+
+<p>
+p 019: steigen drei Reketen -> Raketen<br />
+p 022: Zeitungsberichte erkennen liessen. -> lie&szlig;en<br />
+p 027: [added comma] Blatt beugte, &raquo;der Fl&auml;cheninhalt<br />
+p 030: Einen grossz&uuml;gigen K&uuml;nstler -> gro&szlig;z&uuml;gigen<br />
+p 031: l&auml;chend wieder aufblickend -> l&auml;chelnd<br />
+p 033: dadurch abschliessende Form -> abschlie&szlig;ende<br />
+p 035: Paul Seebecks Ichtyosauren -> Ichthyosauren<br />
+p 041: [removed quotes] &raquo;Durch den Schriftsteller -> Durch<br />
+p 044: [added comma] daran erinnerte, da&szlig;<br />
+p 045: du willst gleieh -> gleich<br />
+p 050: [unified] im Cafe Stephanie gesessen -> Caf&eacute;<br />
+p 052: auf und abgehend -> auf- und abgehend<br />
+p 054: [added period] Dann lief er tief err&ouml;tend aus der T&uuml;r.<br />
+p 055: [corrected quotes] einer von den Unsrigen.&laquo;<br />
+p 059: [added character] also [ ]in Vorrecht -> ein<br />
+p 058: fuhr erfort[ ], -> er fort,<br />
+p 062: fragte Seebeck die Hand -> fragte Seebeck, die Hand<br />
+p 063: ausgewachene Riesenschildkr&ouml;te -> ausgewachsene<br />
+p 063: Das es jetzt ... nicht mehr gibt, -> Da<br />
+p 065: bilden kann, ohne das -> da&szlig;<br />
+p 067: alle sozialen und sozial-psychologischen Ph&auml;nomen -> Ph&auml;nomene<br />
+p 069: Schw&auml;che und Dumheit -> Dummheit<br />
+p 072: Jacob Silberland den geringsten Kummer -> Jakob<br />
+p 075: Rhytmus -> Rhythmus<br />
+p 076: [corrected quotes] erinnern Sie sich noch?&laquo;<br />
+p 089: an Herren Seebeck erlauben -> Herrn<br />
+p 090: Denn wir wissen alles, was wir ihm schulden -> alle<br />
+p 090: [added period] im Buche der Menschheit stehen.&laquo;<br />
+p 092: allerhand Papier zusammen, die -> Papiere<br />
+p 093: [removed comma] f&uuml;nfhunderteinundzwanzig, Mark.<br />
+p 097: geklatscht und gestrampelt -> getrampelt<br />
+p 106: antworetete der Kr&uuml;ppel -> antwortete<br />
+p 108: [added comma] Rechtsstreitigkeiten&laquo;, wie [...] ausdr&uuml;ckt<br />
+p 108: alle Steitigkeiten durch -> Streitigkeiten<br />
+p 116: [unified] Orang-Utans vorfinden&laquo;. -> vorfinden.&laquo;<br />
+p 122: Arbeit ausf&uuml;hren nnd -> und<br />
+p 122: die wir jetzt darstellen, -> darstellen.<br />
+p 139: [added period] Schatten auf sie.<br />
+p 145: stand der Kr&uuml;ppel auf; -> auf:<br />
+p 151: [added period] die sich auf dem Tische befand.<br />
+p 156: Proviant f&uuml;r viezehn Tage -> vierzehn<br />
+p 167: [corrected quotes] praktische Bedeutung hat?&laquo;<br />
+p 183: [unified] der Vorstandsschaft -> Vorstandschaft<br />
+p 201: [corrected quotes] &raquo;Woher wissen Sie das?&laquo;<br />
+p 213: [unified] Herr Reichkommissar -> Reichskommissar<br />
+p 214: Reipeitsche -> Reitpeitsche<br />
+p 227: ihr auf den R&uuml;ckwege -> dem<br />
+p 233: [corrected quotes] &raquo;Wir sind verraten.&laquo;<br />
+p 233: [completed ellipsis] ausliefern und uns ergeben .. &laquo; -> ...&laquo;<br />
+p 241: [added period] Gut, da&szlig; Sie kommen.<br />
+p 245: der menschlichen K&ouml;rper sich -> menschliche<br />
+p 247: Neue Freie Prese -> Presse<br />
+p 248: ERSCHIEN FENRER -> FERNER
+</p>
+
+<p>The original spelling has been maintained throughout the book,
+particularly for the following words:</p>
+
+<p>
+p 011: grinzend<br />
+p 058: Karrikatur<br />
+p 074, 172: endgiltig<br />
+p 178: kennte
+</p>
+</div>
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Phantasten, by Erich von Mendelssohn
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PHANTASTEN ***
+
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+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
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+through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
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+1.E.9.
+
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+
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+
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+you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
+copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
+request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
+form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
+License as specified in paragraph 1.E.1.
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+
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+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
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+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
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+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
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+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
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+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
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+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
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+
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+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
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+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
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+
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+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
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+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
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+
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