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| author | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 04:53:46 -0700 |
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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Phantasten + +Author: Erich von Mendelssohn + +Release Date: June 19, 2006 [EBook #18620] + +Language: German + +Character set encoding: UTF-8 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PHANTASTEN *** + + + + +Produced by Markus Brenner and the Online Distributed +Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + + + + + ERICH VON MENDELSSOHN + + PHANTASTEN + + ROMAN + + + + BERLIN 1912 + VERLEGT BEI OESTERHELD & CO. + + + + Copyright 1912 + by Oesterheld & Co. Berlin W. 15 + + + +GESCHRIEBEN IM SOMMER 1911 + + +ALEXANDRA JEGOROWNA +zugeeignet + + + + +Vor neun Tagen hatte der Lloyddampfer »Prinzessin Irene« Sidney +verlassen, und deshalb übte der Anblick des grenzenlosen Wassers keinen +Reiz mehr auf die Passagiere aus. Am wenigsten an einem Tage wie heute, +wo ein feiner Staubregen durch alle Kleider drang und einen frösteln +machte. Für solche Tage hatte man ja in den Salons alle die +Annehmlichkeiten, die ein moderner Luxusdampfer bietet. + +Als Paul Seebeck auf das Deck hinaus trat, schlug er den Kragen seines +langen, englischen Überziehers hoch und schaute sich um. Ein Augenblick +genügte ihm, um festzustellen, daß er ganz allein war. Wohl hatte ihm +der Kapitän ein für allemal die Erlaubnis gegeben, so oft es ihm gefiele +zu ihm auf die Kommandobrücke zu kommen – denn Seebeck störte nie, am +wenigsten durch unnötige Fragen, seine Anwesenheit verkürzte dagegen die +lange Wacht – doch Paul Seebeck scheute sich, die anderen Passagiere auf +seine bevorzugte Stellung aufmerksam zu machen, um dem Kapitän keine +Unannehmlichkeiten zu bereiten. + +Jetzt stand der große, starke, doch etwas fette Mann neben dem kleinen +Kapitän auf der Kommandobrücke. + +»Schade, daß das Wetter heute so trübe ist«, sagte der Kapitän, »sonst +könnten wir dort im Nordosten die Santa-Cruz-Inseln sehen.« Er rollte +die Seekarte auf und wies mit dem zusammengeklappten Zirkel auf den +Punkt, wo das Schiff sich im Augenblicke befand. »Aber ich glaube, daß +es bald etwas aufhellen wird.« + +Paul Seebeck nahm ein Fernglas, sah erst nach Nordosten und folgte dann +weiter dem Horizonte. + +Der Kapitän fuhr fort: + +»Morgen kommen wir sozusagen aus den englischen Gewässern heraus und in +deutsche hinein.« + +Paul Seebeck ließ das Glas sinken: + +»Deutsche Gewässer, Herr Kapitän?« + +»Nun ja, die des Bismarckarchipels.« + +Paul Seebeck hob wieder das Glas und schaute unverwandt nach Norden, +dann reichte er es dem Kapitän und sah auf den Himmel: + +»Sie haben natürlich wieder Recht, es wird wirklich heller. Aber gerade +dort vor uns liegen dicke Wolken. Sehen Sie mal hin.« + +Der Kapitän sah erst durch das Glas in der angegebenen Richtung, dann +mit bloßen Augen und dann wieder durch das Glas. Schließlich sagte er +kopfschüttelnd: + +»Merkwürdig.« + +»Befürchten Sie ein Gewitter, Herr Kapitän?« fragte Paul Seebeck +gleichmütig. + +»Ich weiß gar nicht, was ich aus dem Ding machen soll. Nein, eine +Gewitterwolke ist es nicht.« + +Jetzt wandte sich der Matrose, der das Steuerrad bediente, grinzend +herum und sagte breit: + +»Herr Kapitän, die ist ja von einem Vulkane!« + +Der Kapitän war so interessiert, daß er gar nicht daran dachte, den +Matrosen zurechtzuweisen. Er rollte die Seekarte wieder auf, bestimmte +die augenblickliche Lage des Schiffes ganz genau, prüfte den Kompaß und +sagte dann: + +»Unmöglich, dort liegt kein Land.« + +Eine halbe Stunde verging, und alle schwiegen; der Kapitän und Paul +Seebeck schauten aber abwechselnd durch das Fernglas auf die schwere, +dunkelgraue Wolke. Endlich sagte Paul Seebeck: + +»Das ist und bleibt ein Vulkan mit der berühmten, pinienartigen +Rauchsäule, und wenn er nicht auf der Karte steht, ist es ein Fehler der +Karte, und nicht des Vulkans.« + +Der Kapitän schüttelte ungläubig den Kopf: + +»Es kann nur eine sonderbar geformte Wolke sein; es ist ganz undenkbar, +hier mitten auf einer so befahrenen Route eine neue Insel zu entdecken.« + +»Aber wenn es eine neu entstandene wäre, Herr Kapitän?« warf Paul +Seebeck ein. »Denken Sie doch an die große Flutwelle vor zwei Monaten, +die die ganze nördliche und östliche Küste Australiens überschwemmt +hat.« + +»Donnerwetter!« rief der Kapitän. »Das wäre ja –« + +Er wollte das Glas heben, aber jetzt kam von der Seite her ein feiner, +durchdringender Staubregen, der in wenigen Augenblicken die Aussicht +verschleierte. Die Herren hüllten sich fester in ihre Mäntel. + +Der Regen wurde stärker und stärker, und außerdem brach schnell die +Nacht herein. + +»Kommen Sie in meine Kabine«, sagte endlich der Kapitän. »Ich möchte die +Sache gern mit dem Ersten Offizier besprechen, und außerdem wird uns +jetzt ein warmer Punsch ganz gesund sein.« + +»Danke, gern.« + +Wie der Kapitän dem Ersten Offizier die Möglichkeit andeutete, in der +Nähe einer neu entstandenen Insel zu sein, eilte dieser sofort auf die +Kommandobrücke, um selbst Umschau zu halten, kehrte aber bald enttäuscht +zurück, da er des Dunkels und des Regens wegen nichts hatte wahrnehmen +können. + +Als die drei Herren in der Kajüte bei einem Glase Punsch zusammensaßen +und der Kapitän mit dem Ersten Offizier alle Eventualitäten und die +vorzunehmenden Maßnahmen besprach, zog sich Paul Seebeck in eine Ecke +zurück und schwieg, wobei er doch aufmerksam dem Gespräch lauschte, das +immer mehr an Fluß verlor und zuletzt ganz aufhörte. Schließlich saßen +die Drei schweigend da, und jeder hing seinen Gedanken nach. + +Endlich sah der Kapitän nach der Uhr: + +»Meine Herren, jetzt sind wir schon drei Stunden hier unten. Wie wäre +es, wenn wir wieder hinaufgingen und nach unserer Wolkeninsel sähen?« + +Paul Seebeck lachte laut auf: + +»Bravo, Herr Kapitän. Vielleicht hat sie sich schon längst aufgelöst, +während wir sie hier in aller Ruhe erobern.« + +Als sie auf Deck hinaustraten, sahen sie, daß Nebel und Regen völlig +verschwunden waren, und daß klar der Mond schien. Passagiere gingen +plaudernd und rauchend auf und ab, oder saßen, in Plaids gehüllt, auf +Feldstühlen. Paul Seebeck hatte aber seine gewohnte Zurückhaltung völlig +aufgegeben und folgte zusammen mit dem Ersten Offizier dem Kapitän auf +die Kommandobrücke. + +Jetzt war kein Zweifel mehr möglich: vor ihnen lag, steil dem Meere +entsteigend, ein Vulkan, über dessen kegelförmiger Spitze – aber ohne +diese zu berühren – eine ungeheure, blauschwarze Wolke schwebte. Durch +das Fernglas sah man in einigen Rissen am Krater die Lava glühend +herabsinken. + +Als Erster brach Paul Seebeck das Schweigen: + +»Wie weit, Herr Kapitän –?« fragte er. Der Kapitän drehte sich schnell +herum und betrachtete Paul Seebeck ganz fremd, als ob er seine Gedanken +erst sammeln müßte. Dann schaute er wieder auf den Vulkan und sagte: + +»Sechzig Seemeilen schätze ich.« + +»Dann sind wir also in vier Stunden dort?« + +»Ja, wenn die Lotungen uns nicht zu lange aufhalten.« + +»Ach, Sie glauben, daß sich der ganze Meeresboden gehoben hat?« + +»Ich muß wenigstens mit der Möglichkeit rechnen.« + +Der Erste Offizier hatte inzwischen unausgesetzt den Vulkan durch das +Nachtglas angesehen. Jetzt sagte er: + +»Herr Kapitän, der Vulkan liegt auf einem ziemlich breiten Hochlande. +Wir scheinen eine Insel von ganz achtbarer Größe da vor uns zu haben.« + +Paul Seebeck senkte den Kopf und sah vor sich hin. Dann ging gleichsam +ein Ruck durch ihn; er strammte sich auf, sah dem Kapitän fest in die +Augen und sagte langsam: + +»Herr Kapitän, jetzt ist es zehn Uhr; Sie sagten selbst, daß wir vor +vier Stunden nicht dort sein können, also nicht vor zwei Uhr nachts. Um +Zwölf wird aber alles elektrische Licht ausgelöscht, so daß dann kein +Passagier mehr auf sein kann. Sie, der Herr Erste Offizier und ich sind +die Einzigen, die wissen, daß wir dort eine neu entstandene Insel vor +uns haben. Die anderen haben nichts gesehen, oder wenn sie die Insel +gesehen haben, ist sie ihnen nicht weiter aufgefallen. Wollen Sie mich +um zwei Uhr an Land setzen und Schweigen bewahren?« + +Der Kapitän sah ihn überrascht an: »Herr Seebeck – überlegen Sie sich’s +– eine neuentstandene, vulkanische Insel! Heißer Boden! Ich habe doch +die Verantwortung, auch für Sie. Und dann – in das Schiffsbuch muß ich +die Sache doch eintragen.« + +Paul Seebeck preßte die Lippen zusammen: »Gewiß, gewiß –« + +Nach kurzem Schweigen fuhr er auf. »Herr Kapitän, ich habe nichts +Unrechtes vor. Ich will die Insel für das Deutsche Reich in Besitz +nehmen. Machen Sie Ihre Eintragungen in das Schiffsbuch, es wird sie ja +niemand anders als die Rhederei sehen. Wollen Sie Beide mir aber +versprechen, das heißt, können Sie mir versprechen, absolutes Schweigen +zu bewahren, Sie und die Herren in Bremen, die das Schiffsbuch eventuell +lesen? Absolutes Schweigen nur drei Tage lang zu bewahren? Wenn im Laufe +dieser drei Tage nicht telegraphisch eine Bitte vom Reichskolonialamt +eingelaufen ist, länger zu schweigen, sind Sie völlig frei.« + +Der Kapitän sah Paul Seebeck an. + +»Einem andern würde ich ein solches Versprechen nicht geben, das mir +meine Stellung kosten kann. Ihnen gebe ich es.« + +»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän, Sie werden es nicht zu bereuen haben.« + +»Auch ich gebe Ihnen das Versprechen«, fügte der Erste Offizier hinzu. + +Paul Seebeck senkte dankend den Kopf. + +Nach einer Weile wandte sich der Kapitän wieder Paul Seebeck zu: + +»Verstehe ich Sie recht, wollen Sie sofort von Bremen nach Berlin +fahren?« + +Paul Seebeck schaute auf: + +»Nein, ich bleibe dort und gebe Ihnen einen Brief an einen Freund mit, +der alles für mich ordnen wird.« + +Der Kapitän schüttelte den Kopf: + +»Ich kann Sie nicht an Land setzen lassen, Herr Seebeck. Die +Verantwortung übernehme ich nicht.« + +»Ich werde in meinem eigenen Motorboot hinüberfahren.« + +»Ich werde Sie leider daran verhindern müssen.« + +»Herr Kapitän! Glauben Sie das verantworten zu können?« + +Der Kapitän stutzte einen Augenblick. Dann schlug er Seebeck lachend auf +die Schulter und sagte: + +»Ich kann Sie ja nicht mit Gewalt festhalten, dazu wissen Sie zu genau, +was Sie wollen. Aber erklären Sie mir doch, wie Sie sich alles denken.« + +Wieder sah Paul Seebeck dem Kapitän fest ins Gesicht und sagte ganz +langsam: + +»Ich habe mein Motorboot, mein Zelt und Konserven für zwei Monate. Ich +werde Sie bitten, mir drei gewöhnliche Feuerwerksraketen zu geben. Sie +haben sie ja an Bord zur Unterhaltung Ihres Publikums. Wir machen das +Motorboot mit allem Inhalt klar, so daß wir es in einigen Minuten ins +Wasser setzen können. Wir kommen ja dicht an der Insel vorbei. Sobald +wir vom Schiffe aus einen Landungsplatz sehen, setzen Sie mich ins +Wasser. Sie sind dann so liebenswürdig, mit halber Kraft +weiterzufahren. Komme ich glücklich ans Land, lasse ich alle drei +Raketen aufsteigen, und Sie dampfen ruhig weiter. Ich verspreche Ihnen, +es erst dann zu tun, wenn ich heil und gesund am Lande bin. Lasse ich +nur zwei Raketen steigen, bedeutet das, daß ich nicht landen kann und +Sie auf mich warten müssen. Eine Rakete allein heißt, daß ich in Gefahr +bin, und Sie mir ein Boot zu Hilfe schicken müssen. Einverstanden?« + +»Ja, unter der Bedingung, daß Sie sich vom Schiff noch so viele +Konserven mitnehmen, daß Sie für ein halbes Jahr versorgt sind. Nach +drei Monaten bin ich zwar wieder hier –« + +»Und mein Freund, Jakob Silberland, ist dann mit Ihnen.« + +»Der Herr, der zum Kolonialamt gehen soll?« + +»Derselbe. Ich danke Ihnen, Herr Kapitän.« + +»Sie haben mir nichts zu danken. Ich bitte Sie nur, in meine Kabine zu +gehen und sich alles noch einmal in Ruhe zu überlegen. Dort können Sie +auch Ihren Brief schreiben. Lassen Sie sich auch Ihr Abendessen dorthin +bringen, damit Sie ganz ungestört sind. In einer Stunde komme ich zu +Ihnen hinunter, und wir können dann alles bis ins Kleinste besprechen.« + +Paul Seebeck verließ mit einer leichten Verbeugung die Kommandobrücke. + +– – – Drei Stunden nach Mitternacht lag der Dampfer eine Seemeile vor +dem steil abfallenden, zerrissenen Ufer entfernt, das vom Mondlichte +schwarz und groß auf das Wasser gezeichnet wurde. + +Leise Kommandorufe ertönen – ein Krahn dreht sich, und unter +Kettengerassel sinkt ein Motorboot auf die kaum gekräuselte +Wasserfläche. Halblaute Abschiedsrufe, ein Winken und Grüßen, der Motor +wird eingestellt, und das Boot saust davon. Langsam und schwer brodelt +es unter der Schraube des Dampfers, und jetzt setzt sich der Koloß in +Bewegung. + +Der Kapitän steht auf der Kommandobrücke und verfolgt mit dem Nachtglase +das Motorboot. Jetzt verschwindet es hinter einer Klippe, taucht dann +tief in den Mondschatten, biegt um einen Felsen und ist fort. Eine +Viertelstunde später steigen drei Raketen fast gleichzeitig in die Luft. +Aufatmend stellt der Kapitän den Telegraphen auf »Volldampf«. + + + + +Als Dr. phil. et jur. Jakob Silberland unter dem Schutze seines +übermäßig großen Schirmes dem Café Stephanie zueilte, gab es nicht +Wenige, die trotz des strömenden Regens stehen blieben und ihm +wohlwollend lächelnd nachblickten. Das war auch nicht wunderlich, denn +Jakob Silberland bildete eine sonderbare Figur. Auf kurzen Beinchen saß +ein dicker Leib mit viel zu langen Armen, und im Gesichte bildeten die +heiteren, offenen Augen einen seltsamen Gegensatz zu der +scharfgekrümmten Nase und der hohen, ausdrucksvollen Stirn, über die das +blauschwarze Haar in einigen glänzenden, langen Strähnen fiel. + +Sobald Jakob Silberland das Café betreten hatte, holte er sich vom +Ständer sechs oder acht Zeitungen und legte sie auf einen Tisch am +Fenster. Dann erst hängte er Schirm und Hut an einen Haken, wobei er +doch ständig seine Zeitungen im Auge behielt. Als er seinen Mantel +auszog, wobei ein abgetragener und etwas fleckiger Gehrock sichtbar +wurde, eilte der Kellner hilfsbereit herbei und sagte: + +»Guten Tag, Herr Doktor. Heute früh war der Briefträger mit einem +eingeschriebenen Brief für den Herrn Doktor da. Ich sagte ihm, er solle +am Nachmittage wiederkommen, dann wäre der Herr Doktor bestimmt hier.« + +Dr. Silberland sagte nur: »Danke« und eilte auf seinen kurzen Beinchen +zu seinen Zeitungen, in denen eben ein anderer Gast zu blättern begann. +Als er sich richtig zurechtgesetzt und seine Zeitungen sortiert hatte, +bestellte er einen Kaffee und begann, die Brust an den Tischrand +gedrückt, eifrig zu lesen. Gerade als er die Kreuzzeitung mit +gerunzelter Stirn fortlegte und aufatmend nach dem »Vorwärts« griff, +erschien, vom Kellner geführt, der Briefträger an seinem Tische und +übergab ihm einen eingeschriebenen Brief. Silberland erkannte sofort die +Handschrift seines Freundes Paul Seebeck, schob mit einer energischen +Armbewegung die Zeitungen zur Seite, quittierte, gab dem Briefträger +zwanzig Pfennige und öffnete den Brief. Hierbei fiel ein +zusammengefaltetes Checkformular heraus, das Silberland sofort in seine +Brieftasche steckte. Der Brief lautete: + + + »An Bord des Lloyddampfers »Prinzessin Irene«. + + Lieber Jakob! + + Von dem wenig befriedigenden Ausfall meiner australischen + Expedition wirst du durch die Zeitungen erfahren haben. Übrigens + war der Verlauf viel kläglicher, als die Zeitungsberichte erkennen + ließen. + + Ich freue mich aber jetzt, daß ich so mißgestimmt und so + unzufrieden mit mir selbst die Rückreise antrat, denn dadurch hatte + ich gerade die richtige Disposition zu neuen Dingen, die + ernsthafter sind. + + Paß mal auf: wir haben eine neuentstandene, vulkanische Insel + entdeckt, und zwar bin ich der erste, der sie sah. Ich bin dort + geblieben und habe sie für das Deutsche Reich in Besitz genommen. + Die Sache ist Geheimnis, nur der Kapitän und der Erste Offizier von + der »Prinzessin Irene« wissen davon, und die schweigen. + + Wo die Insel liegt, usw., kannst du von diesen beiden Herren + erfahren. + + Bitte geh sofort nach Berlin, zum Reichskolonialamt, und laß mir + eine unbeschränkte Vollmacht als Reichskommissar ausstellen, so daß + ich bis auf weiteres mit der Insel machen kann, was ich will. Die + Leute sollen aber schweigen, bis erst feststeht, ob die Insel + bewohnbar ist oder nicht. Sonst ist die Blamage nachher zu groß. Du + gibst natürlich sofort deine alberne Stellung bei den »Neuesten« + auf und kommst mit der »Prinzessin Irene« hierher. Ein Scheck auf + zehntausend Mark liegt bei: bezahl alle deine Schulden, daß du + vollständig unabhängig bist. Mach sonst aber nicht zu viele + Ausgaben, denn ich werde hier mein Geld wohl sehr nötig brauchen. + Eine Tropenausrüstung mußt du aber haben. + + Du verstehst, was ich will: ich denke an unsere Gespräche über den + absolut korrekten Staat, der durch keinerlei Traditionen und + Rücksichten gehemmt ist. Wir haben ja oft darüber debattiert, wie + ein solcher moderner Staat auszugestalten sei – hier können wir ihn + gründen, wenn auch nur in einem kleinen Maßstabe. + + Alle Einzelheiten überlasse ich dir, nur besorge mir die Vollmacht + und komm her. Setz dich aber auch mit dem Kapitän in Verbindung. + Der Mann ist praktisch und wird dich über Einzelheiten informieren. + + Entschuldige die Kürze. Ich kann dir aber in dieser Eile nicht alle + meine Gedanken auseinandersetzen; es ist wohl auch unnötig, + eigentlich ergibt sich ja alles von selbst. + + Überlege dir aber jeden Schritt, den du tust. + + Gruß + dein Paul S.« + + +Als Jakob Silberland diesen Brief zu Ende gelesen hatte, fuhr er sich +mehrmals mit der Hand durch das lange, schwarze Haar. Dann rührte er +bedächtig seinen Kaffee um, der längst kalt geworden war. Gerade, wie er +ihn trinken wollte, kam der Kellner und sagte: + +»Herr Doktor, die Redaktion fragt am Telephon, ob Sie noch hier wären.« + +»Sagen Sie, ich wäre gegangen«, gab Silberland zur Antwort, »und bringen +Sie mir eine Zigarre.« + +»Wie gewöhnlich eine zu Zehn?« + +»Ja – nein, eine zu Fünfzig!« sagte Jakob Silberland würdevoll. »Und +besorgen Sie mir ein Auto.« + +»Sehr wohl, Herr Doktor«, sagte der Kellner mit der solchen ungewohnten +Aufwendungen zukommenden Ehrerbietung. + +Jakob Silberland aber fuhr, die feine Zigarre in der Hand, im Auto zur +Dresdener Bank, wo er den Scheck einlöste, und unternahm dann eine +längere Rundfahrt durch die Stadt, um alle seine kleinen und größeren +Schulden zu bezahlen, die zusammen kaum zweitausend Mark betrugen. +Zuletzt begab er sich auf seine Redaktion, wo er gegen Stellung eines +Vertreters leicht entlassen wurde, da er kein angenehmer Kollege gewesen +war. + +Mit dem Abendschnellzuge fuhr er nach Berlin. + + + + +Drei Monate später saßen Paul Seebeck und Jakob Silberland in ihren +blendend weißen Flanellanzügen auf einem Steinblock am Strande, rauchten +ihre kurzen, englischen Pfeifen und sahen der langsam verschwindenden +»Prinzessin Irene« nach. Endlich sagte Jakob Silberland: + +»Etwas Urweltliches liegt über der ganzen Insel: der Vulkan, die nackten +Felsen, der Mangel jeglichen tierischen Lautes – es kommt mir fast vor, +als ob ich um viele Millionen von Jahren in der Zeit zurückversetzt sei. +Es würde mich gar nicht wundern, wenn plötzlich ein Ichthyosaurus oder +sonst irgend ein Ungeheuer aus dem Wasser auftauchte.« + +Paul Seebeck hatte nachdenklich seine Pfeife ausklopfend ihm zugehört. +Jetzt hob er den Kopf und sagte lächelnd: + +»Die Ungeheuer wirst du schon noch zu sehen bekommen. Nur etwas Geduld.« + +Jakob Silberland lachte: + +»Hast du hier eine Ichthyosauren-Farm angelegt? Das Geschäft dürfte doch +kaum lohnend sein. Sobald die Zoologischen Gärten versorgt sind, würde +der Weltbedarf gedeckt sein, und was dann?« + +Es zuckte um Seebecks Mundwinkel, als ob er mit Mühe ein Lächeln +unterdrückte. + +»Aber wovon wollen wir hier sonst leben, wenn nicht von Ichthyosauren? +Es gibt ja keinen Grashalm auf der ganzen Insel, keinen Vogel, keinen +Floh, nichts. Soweit ich als gebildeter geologischer Laie urteilen kann, +ist auch das Vorkommen von wertvollen Mineralien zum mindesten höchst +unwahrscheinlich. Da bleiben doch nur die Ichthyosauren übrig. Außerdem +finde ich den Gedanken sehr ansprechend, daß der modernste aller Staaten +von urweltlichen Tieren lebt. Damit schließt sich zurückgreifend der +Ring und löscht die Zeit aus. Anfang und Ende berühren sich.« + +Jakob Silberland sprang auf: + +»Ist das dein Ernst?« + +Seebeck blieb sitzen und sagte gemütlich: + +»Du sollst etwas Geduld haben. Ich werde dir meine Saurierfarm schon +zeigen. Die größte Ichthyomuttersau habe ich übrigens voll Dankbarkeit +gegen das gütige Schicksal »Prinzessin Irene« getauft.« + +Damit stand er auf und ging zu seinem Zelt, das einige Schritte +rückwärts im Schutze einer schrägen Felswand stand. Er kam mit einigen +Papierrollen zurück. + +»Sieh mal her«, sagte er, indem er die Blätter entfaltete und jedes an +den vier Ecken mit Steinchen beschwerte, »hier habe ich, so gut ich es +allein machen konnte, die Insel aufgenommen. Die Küste und diese Bucht +habe ich recht genau, im Inneren bin ich flüchtiger gewesen und außerdem +habe ich größere Strecken der heißen Lava wegen nicht betreten können. +Hier hast du die ganze Insel mit den Schären eins zu dreihunderttausend«, +fuhr er fort, wobei er sich über das betreffende Blatt beugte, »der +Flächeninhalt beträgt ungefähr zwölfhundert Quadratkilometer, wovon der +Vulkan allein fast vierzig bedeckt. Hier ist unsere Bucht eins zu +zehntausend. Sie ist mit der Nebenbucht dort rechts von uns überhaupt +die einzige Bucht der ganzen Insel. Ich habe sie bei Tiefebbe +aufgenommen. Die rote Küstenlinie und die rot gezeichneten Schären +beziehen sich auf Tiefebbe, die entsprechenden blauen Linien auf +Hochflut. Du siehst, daß unzählige Schären und Klippen nur bei Tiefebbe +über die Wasserfläche emporragen. Bei Tiefebbe ist überhaupt nur eine +einzige, schmale und dabei stark gewundene Rinne selbst für mein +kleines, flaches Motorboot passierbar. Ich kam glücklicherweise bei +Hochflut, sonst wäre ich überhaupt nie lebendig hier ans Land +gekommen.« Mit der Hand aufs Meer weisend, sagte er: »Die äußerste +Felsenspitze dort links ist etwa siebenhundert Meter hoch und fünf +Kilometer von uns entfernt, die dort rechts dreihundert Meter hoch und +vier Kilometer entfernt. Die Entfernung zwischen beiden beträgt drei +Kilometer. Diese Bucht stellt den einzigen Hafen, überhaupt die einzige +Landungsmöglichkeit dar. Zwischen der Spitze rechts und dem Kap, das ein +wenig darüber hervorragt, liegt eine zweite, breite, aber sehr flache +Bucht mit unzähligen Felsen und Klippen. Dahin kann man zu Wasser, aus +Gründen, die dir später klar werden, nicht kommen, und vom Lande aus nur +mit Hilfe eines Seiles. Sogar ich als Bergsteiger habe dort nur schwer +hinunterklettern können. Diese zweite Bucht habe ich Irenenbucht +getauft, der einzige Name, den ich bisher hier einer Örtlichkeit gegeben +habe.« Lächelnd setzte er hinzu: »Dort liegt also meine +Ichthyosaurenfarm.« + +Bevor der überraschte Silberland sich zu einem Worte sammeln konnte, +fuhr Paul Seebeck fort: + +»Denk dir unsern Standort hier als Mittelpunkt eines Kreises mit dem +Radius von fünf Kilometern, also der Entfernung des Kap dort links. Dann +bezeichnet der Kreisbogen ziemlich genau die Grenze eines submarinen +Plateaus, auf dem alle diese Schären liegen. Wie tief der Meeresboden +außerhalb dieses Plateaus ist, weiß ich nicht; mein Lot ist hundert +Meter lang und mit ihm habe ich draußen nirgendwo Grund gefunden. Sehr +tief kann er aber doch nicht sein, denn auch da draußen liegen ja, wie +du siehst, einige vereinzelte Klippen. Das Plateau bricht aber steil ab; +ich vermute, der Schären da draußen wegen und auch aus anderen Gründen, +aber ein zweites, allerdings viel tiefer liegendes, submarines Plateau. +Der größte Teil der Insel ist eine im großen Ganzen wagerechte +Hochebene, vier- bis siebenhundert Meter über dem Meeresspiegel, die +überall fast senkrecht abbricht. Dann – ja, der große Vulkan – +neunzehnhundert Meter hoch, diese Mulde, mit ihren sechs +Quadratkilometern Fläche, die stufenweise, amphitheatralisch, wenn du +willst, bis zur Plateauhöhe emporsteigt – damit ist wohl die Topographie +der Insel erschöpft. Ich habe sonst nicht viel Bemerkenswertes auf +meinen Streifzügen entdeckt, höchstens wäre ein seltsames Durcheinander +von Schluchten erwähnenswert, das am Fußpunkte des Vulkanes liegt und +mich da am Weiterkommen hinderte.« + +»Und wie denkst du dir die Entstehung der Insel?« fragte Jakob +Silberland. + +»Ich bin kein Geologe. Daß die Insel erst jetzt entstanden ist, glaube +ich nicht. Sie wird schon einmal dagewesen sein, und zwar viel größer +als jetzt, ist dann unter die Oberfläche des Meeres gesunken und hat +sich jetzt wieder darüber gehoben, doch nicht bis zu ihrer +ursprünglichen Höhe. Und zwar glaube ich nicht, daß sie sehr lange unten +gewesen ist, einige hundert Jahre höchstens.« + +»Woher kannst du das wissen?« + +»Die Steine sehen mir nicht aus, als ob sie lange Meeresboden gebildet +hätten.« + +Damit stand Paul Seebeck auf, rollte seine Kartenskizzen zusammen und +brachte sie in sein Zelt. Als er zurückkam, sagte er, vor Jakob +Silberland stehen bleibend: + +»Ist das nicht ein ganz idealer Grund für eine Stadt? Alle Straßenzüge, +sogar die Plätze der einzelnen Häuser sind von der Natur vorausbestimmt. +Ich kann mir die ganze Stadt so lebendig vorstellen, wie sie sich den +Felsen anschmiegt, wie sie in ihrer Struktur den Stufen folgt. Aber wir +müssen einen Architekten haben, der einen ganz neuen Stil schaffen kann. +Einen großzügigen Künstler wie Edgar Allan. Dort oben –« und er wies mit +der Hand auf einen vorspringenden Felsen – »soll mein Haus stehen. Von +dort aus kann ich alles übersehen.« + +»Du fühlst dich schon jetzt als König?« + +»König? Nein, nein!« wehrte Paul Seebeck erschrocken ab. Er sah still +vor sich hin. Dann sagte er, lächelnd wieder aufblickend: + +»Komm jetzt. Wir wollen etwas zu Abend essen. Dann werde ich dir meine +Ichthyosaurenfarm zeigen.« + +Da es fast Windstille war, beschlossen sie, vor dem Zelte ihre Mahlzeit +einzunehmen. Als Jakob Silberland sah, daß Paul Seebeck seinen +Destillationsapparat aufstellte, und Wasser vom Meere holte, fragte er +besorgt: + +»Gibt es denn gar kein Trinkwasser auf der Insel?« + +»Doch, es gibt einen Bach hier in der Nähe, der wohl zur Versorgung +einer kleinen Stadt ausreichen dürfte, und weiter oben einen großen +Fluß. Es wird aber nicht leicht sein, ihn einzufangen und hier herunter +zu leiten, denn er fällt mehrere Kilometer von hier in einem schönen +Wasserfalle direkt vom Hochplateau aus ins Meer.« + +Als sie gegessen hatten – der Kapitän hatte Jakob Silberland einen Korb +mit frischem Fleisch und Gemüse aus den Vorräten des Schiffes +mitgegeben, so daß Paul Seebeck nach den vielen Wochen mit +Konservennahrung endlich einmal etwas anderes bekommen hatte – rief +Jakob Silberland: + +»Aber jetzt will ich nicht länger warten; jetzt mußt du mir deine +Ichthyosauren vorführen. Ich bin wirklich sehr gespannt, zu erfahren, +wovon wir hier leben sollen, besonders, was wir von hier exportieren +können.« + +»Schön«, sagte Seebeck. »Komm!« + +Sie stiegen langsam in der mit Geröll bedeckten Mulde bergauf, und Paul +Seebeck erklärte dabei seinem Freunde, wie er sich die Anlage der Stadt +dachte. Der sonst so redselige Jakob Silberland sprach auch jetzt nur +wenig; zu sehr beschäftigten seinen Geist die Perspektiven auf die +Zukunft, die ihm ja tausend Träume zu verwirklichen versprach. + +Als sie die Plateauhöhe erreicht hatten, blieb Seebeck stehen und sagte: + +»Wenn man nicht ein anständiger Mensch wäre, könnte man bei dem Gedanken +ganz sentimental werden, daß dieses reine, unberührte Land, das keine +Geschichte und keine Vorzeit hat, eine Gemeinschaft von Menschen auf +sich wachsen und blühen sehen wird, die auch jungfräulich frei, ohne +Verbindung mit der übrigen Menschheit, ohne morsche Traditionen und ohne +überlieferten Zwang, irrende Sterne im großen Raume sind und die hier +sich nur auf Grund ihres reinen Menschentums zusammenfinden und hier +zusammenarbeiten werden. In der Traditionslosigkeit unseres zukünftigen +Staates sehe ich seine Bedeutung. Daß ich einigen Hundert oder Tausend +Menschen, die sonst in keinen Rahmen passen, hier freie +Entwicklungsmöglichkeiten und Glück zu geben vermag, genügt mir nicht. +Vom ersten Augenblick an war mir dieser Staat ein Begriff, ein +Kunstwerk, eine formale Befreiung. Ebenso, wie der Künstler durch seine +reine Darstellung befreit, durch die einseitige, aber dadurch +abschließende Form Klarheit im Chaos schafft, soll für die übrigen +Menschen der Gedanke an unsere reine Insel eine geistige Erlösung sein.« + +»Du siehst nicht weit genug«, sagte Jakob Silberland, wobei er sich mit +der Hand durch sein blauschwarzes, strähniges Haar fuhr und erregt mit +seinen kurzen Beinchen trippelte. »Du sprichst als Künstler. Ich bin +Praktiker und als solcher sehe ich noch eine Gewißheit: die +Institutionen, die hier entstehen, die wir hier schaffen werden, werden +beachtet, nachgeahmt werden, und unser Staat wird das Seinige dazu +beitragen, daß sich die Menschheit aus den Ketten löst, in die +Gewalttätigkeit, Dummheit und Herrschsucht sie gelegt haben. Sie wird +durch uns lernen, frei zu sein, frei in der geschlossenen Gemeinschaft +zu werden. Man muß ihr nur einmal zeigen, daß es möglich ist.« + +Paul Seebeck sah mit seinen großen Augen dem Freunde gerade ins +Gesicht: + +»Ich hoffe, daß es so wird, wie du sagst. Es ist ja auch sehr +wahrscheinlich. Umsomehr, als wir ja kaum einen bestimmten Ausschnitt +aus der Menschheit darstellen werden, nicht einen besonderen Typus, +sondern gerade einen Extrakt aus der ganzen Menschheit. Stelle dir doch +nur vor, was für Menschen zu uns kommen werden«, fuhr er lebhaft fort, +wobei er sich in der Richtung auf die Irenenbucht zum Gehen wandte, +»jedenfalls keine Durchschnittsmenschen, die irgendwo warm und zufrieden +in ihren Nestern sitzen, sondern die Unzufriedenen, Bedrückten, +Heimatlosen, alle die von einander entferntesten Extreme, die nur das +eine verbindet: der Ekel vor der Verlogenheit der Gesellschaft, die +Sehnsucht nach dem freien, dem wirklichen Menschen, dem Menschen, der +jeder einzelne sein könnte, wenn ihn nicht die Ketten der Tradition zum +Herdentiere erniedrigten. Hierher werden sie kommen und nichts +mitbringen, als ihr innerstes, freies Menschentum, und ihre Gemeinschaft +wird die Erlösung des Menschen, des Ebenbildes Gottes sein.« + +Jetzt standen sie vor dem steilen Abfalle zur Irenenbucht. Paul Seebeck +blickte noch eine Weile schweigend und mit glänzenden Augen auf das +Meer. Dann sagte er lächelnd zu seinem Freunde, wobei er auf die Bucht +unter ihnen mit ihrem Gewirr von Klippen und Sandbänken wies: + +»Also dort unten hausen und grausen meine Ichthyosauren.« + +Für Jakob Silberland kam dieser Sprung von Paul Seebecks feierlichen +Worten zum leichten Scherze so überraschend, und außerdem wußte er gar +nicht, was er aus Paul Seebecks Ichthyosauren machen sollte, daß er +schweigend seinem Freunde mit Hilfe von Strickleitern, Eisenklammern und +natürlichen Felszacken in die Tiefe folgte. Da beide geübte Bergsteiger +waren, ging der Abstieg schnell von statten. + +Als sie unten auf einer breiten Felsplatte angekommen waren und auf das +Wasser sahen, das hier schlammig und voll von grünen Algen war, sagte +Paul Seebeck: + +»Setz dich jetzt hier in den Schatten und verhalte dich ganz ruhig.« + +Jakob Silberland tat, wie ihm geheißen. Er sah, daß Paul Seebecks +umherschweifender Blick immer wieder zu einer tiefen dunklen Spalte in +der Felsenwand zurückkehrte. Er schaute scharf hin und glaubte, einen +schweren Körper herausgleiten zu sehen, der kein Fisch sein konnte. +Ängstlich sah er Paul Seebeck an, aber dieser lächelte nur. + +Jetzt hob sich zwanzig Schritte von ihm entfernt, ein riesiger, +schwarzer Kopf aus dem Wasser, ein breites, zahnloses Maul öffnete +sich – – + +Mit einem Entsetzensschrei sprang Silberland auf. Sofort verschwand der +Kopf im Wasser. Paul Seebeck aber sagte lachend: + +»Du sollst mir meine Tiere nicht scheu machen.« + +»Was sind das für Tiere?« fragte Jakob Silberland, noch am ganzen Körper +zitternd. + +»Schildkröten, mein Junge, allerdings reichlich große.« + +»Riesenschildkröten?« fragte Jakob Silberland aufatmend. + +»Ja. Und zwar sind es reine Wassertiere. Ich habe sie nie länger als für +Minuten am Lande gesehen. – Sei ruhig, hier können sie nicht +heraufkrabbeln. – Am Tage sieht man sie immer nur ganz flüchtig. Aber in +hellen Mondscheinnächten habe ich sie oft viele Stunden lang beobachtet. +Sie können schwimmen, tun es aber fast nie. Sie kriechen auf dem Boden +hin. Es gibt unzählige hier. Die größten waren über vier Meter lang. + +Ich traute mich nie recht, mit meinem Motorboote vom Meere her in die +Bucht zu fahren, um die Tiere nicht zu erschrecken. Außerdem würden die +unzähligen Sandbänke und Klippen, die du siehst, die Sache fast +unmöglich gemacht haben, ganz abgesehen von den riesigen Algen, die +meiner Schiffsschraube wohl das Leben gekostet hätten. Aber toll ist es +hier. Zuweilen habe ich tief unten im Wasser die Leuchtorgane von +elektrischen Fischen aufblitzen sehen, und bei Tiefebbe liegen die +phantastischsten Tiefseetiere hier herum. Soviel ich sehen konnte, ist +der Meeresboden hier auch nicht nackt, wie bei der großen Bucht, sondern +sieht wie ein submariner Urwald aus, der sich weit hinaus ins Meer +erstreckt. Meine Auffassung ist, daß sich mit der Hebung der Insel diese +unterseeische Oase auch gehoben hat. Wie sie in dieses Gestein +hereinkommt, weiß ich nicht. Vielleicht ruht sie auf Lehm. Jedenfalls +ist sie da, und die Schildkröten mit ihr. + +Wenn wir vernünftig sind und keinen Raubbau treiben, können wir durch +die Tiere eine dauernde Einnahmequelle haben, die für die ganze Insel +ausreichen wird. Dazu kommt noch der Fischfang. – Du siehst, unser Staat +braucht keine Not zu leiden.« + +Sie warteten noch eine halbe Stunde, aber kein Tier ließ sich mehr +blicken. So traten sie den Rückweg an. + + + + +Paul Seebeck saß mit seinem Studienfreunde, dem Architekten Edgar Allan +zusammen im Café Bauer in Berlin. Paul Seebeck war trotz der frühen +Nachmittagsstunde im Frack, denn er hatte am Vormittage mehrere +Staatssekretäre und andere höheren Beamte aufgesucht. Jetzt hatte er +alle offiziellen Schritte getan; da er aber am Abend ins Theater wollte, +wollte er sich nicht erst die Mühe machen, sich für die wenigen Stunden +nochmals umzuziehen. Deshalb war er im Frack geblieben, und es störte +ihn nicht, daß er dadurch etwas Aufsehen erregte. + +Edgar Allan war lang und knochig und hatte eine etwas eingefallene +Brust. Auch in seinem scharfgeschnittenen Gesichte verleugnete sich der +englische Halbteil seines Blutes nicht. + +Paul Seebeck sah durchs Fenster auf die Straße hinaus. Edgar Allan +stützte seine Ellbogen auf den Tisch und verbarg sein Gesicht in den +langen, mageren Händen. Als er es nach einigen Minuten wieder erhob, sah +er, daß Paul Seebeck ihn jetzt mit seinen großen Augen forschend +anblickte. + +Edgar Allan sah ihn erst fremd an, dann verzog sich sein Gesicht. Er +sagte erregt: + +»Ich bin übrigens nicht nur mit meiner Klage vom Reichsgericht +abgewiesen; das Warenhaus hat mit seiner Widerklage sogar erreicht, daß +ich zu einer Entschädigung verurteilt wurde. Alle Sachverständigen waren +darin einig, daß mein Bau nicht den Voraussetzungen des Kontraktes +entsprach. Fast meine ganzen Ersparnisse habe ich hingeben müssen.« Dann +fuhr er ruhiger fort: »Die Leute haben aber recht, ich kann kein +einzelnes Haus bauen; ich verstehe überhaupt nicht, wie jemand das kann. +Man soll mir einmal den Bau einer ganzen Stadt übertragen, dann werde +ich schon zeigen, wozu ich tauge.« + +Paul Seebeck senkte seine Augen und sah dann wieder zum Fenster hinaus. + +Plötzlich legte Edgar Allan seine Hand auf seinen Arm: + +»Wollen Sie mich mitnehmen?« fragte er. + +Paul Seebeck wandte sich herum und sah ihm gerade in die Augen: + +»Ja«, sagte er, »gerade solche Menschen wie Sie suche ich, brauche ich. +Ich wollte Sie nur aus dem Grunde nicht auffordern, weil ich nicht will, +daß jemand anders als ganz aus freien Stücken zu uns kommt. Halloh!« +rief er, aufstehend, einen vorbeigehenden, jungen, blonden, +hochgewachsenen Herrn zu, der, das »Berliner Tageblatt« in der Hand, +sich gerade nach einem freien Tische umsah. + +»Herrgott bist du plötzlich in Berlin?« fragte der Angesprochene im +höchsten Grade erstaunt. »Noch dazu im Frack? Ich dachte, du wärst +Kaffernhäuptling oder Seeräuber oder so etwas ähnliches geworden.« + +»Noch nicht«, erwiderte Paul Seebeck. »Aber meine amtliche Bestallung +als Seeräuber habe ich seit heute Vormittag in der Tasche. Gestatten die +Herren, daß ich vorstelle: mein Schulkamerad stud. jur. Otto Meyer, +Architekt Edgar Allan.« + +»Referendar Meyer, wenn ich bitten darf«, sagte der junge Mann, wobei er +Edgar Allan die Hand reichte, die dieser höflich nahm. + +Als alle drei wieder saßen, fragte Paul Seebeck seinen Schulkameraden: + +»Woher weißt du eigentlich von der ganzen Geschichte?« + +»Du mußt mir Diskretion versprechen«, sagte Otto Meyer feierlich. + +»Gewiß.« + +»Also die Sache steht lang und breit da drin –«, er wies auf die +Zeitung, die er noch immer in der Linken hielt – »sogar in der +halbamtlichen Fassung des Wolffschen Bureaus.« + +»Zeig doch mal«, sagte Seebeck und griff nach dem Blatte. + +»Nein, ich werde es vorlesen, sonst verstehst du es nicht richtig.« Und +er las: + +»Eine Erweiterung des deutschen Kolonialbesitzes? + +Durch den Schriftsteller und Forschungsreisenden Paul Seebeck wurde da +und da eine unbewohnte, vulkanische Insel mit einem Flächenraume von +zwölfhundert Quadratkilometern entdeckt und für das Deutsche Reich in +Besitz genommen. Da auf und bei der fraglichen Insel auch nicht das +allergeringste zu holen ist –« + +»Willst du vielleicht die Güte haben, ungefähr das zu lesen, was +dasteht?« unterbrach Seebeck den Lesenden. »Die Sache interessiert mich +nämlich.« + +Otto Meyer las weiter: + +»Da die fragliche Insel augenscheinlich nur als Wohnsitz einiger, +weniger Menschen in Betracht kommen kann und nicht für eine eigentliche +Kolonie, ließ der Staatssekretär des Kolonialamtes dem Entdecker der +Insel, Herrn Paul Seebeck, bis auf weiteres freie Hand in allen Fragen +der Besiedelung der Insel, wobei er ihn auf Widerruf zum Reichskommissar +mit allen Rechten und Pflichten eines solchen ernannte. + +Diese Ernennung, die selbstverständlich im Einverständnisse mit dem +Reichskanzler erfolgte, ist als eine Konzession an die durch das +Scheitern der preußischen Wahlreform verstimmten linksstehenden Parteien +aufzufassen. Die Konservativen beruhigte der Reichskanzler durch das +bindende Versprechen, daß die Insel in drei Jahren ebenso still und +leise verschwinden würde, wie sie aufgetaucht ist –« + +Paul Seebeck und Edgar Allan lachten. Otto Meyer reichte Paul Seebeck +die Zeitung und dieser las die Notiz aufmerksam durch. Als er das Blatt +fortlegte, fragte Otto Meyer: + +»Ist es wirklich dein Ernst, dort eine Republik zu gründen? Eine +republikanisch regierte, deutsche Kolonie?« + +»Ja, machst du mit?« + +»Mit Vergnügen, aber nur als Justizminister«, sagte Otto Meyer ruhig. + +»Als Justizminister? Hm. Daran hatte ich eigentlich nicht gedacht. Ich +dachte eher als Staatslausejunge, als offizielles, destruktives +Element.« + +»Du bist furchtbar liebenswürdig«, antwortete Otto Meyer, ohne im +geringsten beleidigt zu sein. »Aber sag mal, willst du nicht morgen bei +uns zu Mittag essen? Meine Eltern würden sich doch sehr freuen, dich +mit australischem Ruhme bedeckt, dazu noch als zukünftigen Imperator Rex +begrüßen zu können.« + +»Schön. Wie früher um Drei?« + +»Ja.« + +Jetzt erhob sich Edgar Allan und nahm Abschied. Paul Seebeck begleitete +ihn, so wie er war, in Frack und ohne Hut, auf die Straße hinaus. Als er +zurückkam, fragte Otto Meyer: + +»Was hast du dir denn da für einen steifen Engländer aufgegabelt?« + +»Na, er ist mehr Deutscher als Engländer. Deutsche Mutter und in +Deutschland erzogen. Er ist sonst auch gar nicht steif, hat nur jetzt +recht unangenehme Sachen durchgemacht. Ich hoffe, daß er mit mir kommt – +und uns unsere Stadt baut. Er ist gerade der Typus Mensch, den wir +brauchen; das heißt, er ist gerade kein Typus, sondern ein Mensch.« + +»Ich bitte dich, sei nicht so schrecklich geistreich«, sagte Otto Meyer. +»Sonst bekomme ich Magenschmerzen.« + +»Entschuldige mich einen Augenblick«, sagte Paul Seebeck aufstehend und +ging auf Jakob Silberland zu, der gerade zur Tür hereintrat. Paul +Seebeck stellte ihm Otto Meyer vor, und als sie wieder Platz genommen +hatten, sagte er: + +»Edgar Allan kommt mit. Noch ein paar Leute, und wir können anfangen.« + +»Kommt er? Gut! Da haben wir ja einen ganzen Kerl gewonnen. Ja, du, was +ich sagen wollte – mir sind noch einige Leute eingefallen – aber man +kann ja nicht gut jemand auffordern. Und wie soll man es sonst diesen +Leuten nahelegen?« + +»Gar nicht, natürlich«, antwortete Paul Seebeck. »Wer nicht freiwillig, +aus innerstem Instinkt zu uns kommt, mag fortbleiben. Die brauchen wir, +die uns zufällig finden, weil sie uns brauchen.« + +»Ja, ja«, sagte Jakob Silberland etwas verlegen. »Aber wir müssen doch +einen Anfang haben. Wir zwei, drei Menschen können uns dort nicht +festsetzen und auf die anderen warten. Damit würden wir uns nur +lächerlich machen und gar nichts erreichen.« + +»Du irrst. Wir müssen gerade hingehen und uns der Lächerlichkeit +aussetzen.« + +»Ich fürchte nur, daß wir zwei, mit Edgar Allan also drei, unser ganzes +Leben lang allein auf der Insel hocken werden.« + +Otto Meyer, der offenbar fürchtete, Zeuge eines Streites der beiden +Freunde zu werden, verabschiedete sich, wobei er Seebeck daran +erinnerte, daß er morgen zum Mittagessen zu kommen versprochen hätte. + +Der Streit brach aber nicht aus, im Gegenteil, Paul Seebeck sagte ganz +ruhig, wobei er seinem Freunde gerade ins Gesicht blickte: + +»Ich verstehe dich vollkommen; du willst gleich mit einem gewissen +Material anfangen. Ich glaube, du machst dir unnötige Sorgen. Es werden +mehr zu uns kommen, als wir brauchen können. Du wirst sehen, daß viele +gleich mit uns kommen wollen. Aber jetzt mußt du mich entschuldigen«, +brach er ab, wobei er auf die Uhr sah. »Ich will ins Theater.« + +Als Paul Seebeck gegangen war, setzte sich Jakob Silberland richtig in +der Ecke zurecht und ließ sich vom Kellner alle Abendblätter bringen und +las die – je nach der politischen Richtung der betreffenden Zeitung – +wohlwollenden, abwartenden oder gehässigen Glossen zur halbamtlichen +Wolff-Nachricht. Nach einer Stunde war er aber müde vom Lesen; er lehnte +sich zurück und ließ sich sein letztes Gespräch mit Paul Seebeck noch +einmal durch den Kopf gehen. Je mehr er nachdachte, umsoweniger hielt er +Paul Seebecks Ansicht für richtig; er glaubte vielmehr, daß man sich +einen gewissen, soliden Kern sammeln müßte, um den sich dann die +Gemeinschaft kristallisieren könnte. Aber einfach abwarten – nein. +Lieber organisieren, aufbauen. + +Und als ihm das als das richtige klar vor Augen stand, beschloß er, +einen Mann aufzusuchen, den er sich als wertvollen Mitarbeiter an der +Sache denken konnte, nämlich den russischen Flüchtling Nechlidow. + + + + +Durch schwere, dunkle Vorhänge gedämpft, fiel das Licht in den Salon, +in dem die hohe Frauengestalt stand. Das schwarze Schleppkleid ließ Hals +und Gesicht noch weißer erscheinen, und die großen braunen Augen +leuchteten. + +»Warum kommen Sie erst jetzt zu mir?« fragte Frau von Zeuthen Paul +Seebeck, der noch Hut und Stock in der Hand haltend vor ihr stand. + +»Wie schön Sie sind!« erwiderte Seebeck und küßte ihre Hand. +»Unveränderlich schön wie ein edles Bild, das Zeiten und Geschehnis +überdauert.« + +Ihr Lächeln war nicht der Art als ob sie seine Worte als Schmeichelei +auffaßte. Sie sagte: + +»Jetzt müssen Sie mir aber alles, alles erzählen. Ich habe die Zeitungen +gelesen und allerhand gehört. Das will ich jetzt aber vergessen und +alles neu und rein von Ihnen hören.« + +Sie setzte sich auf den Divan und wies mit der Hand auf einen Armstuhl +neben dem Rauchtischchen, aber Paul Seebeck blieb stehen: + +»In Ihrem Hause ist eine Ruhe wie sonst nirgendwo auf der Welt. Sie sind +einige Jahrhunderte zu spät auf die Welt gekommen, Gabriele. Sie passen +nicht in unser Zeitalter. Sie gehörten nach Italien zur Zeit der +Wiedergeburt, und in Ihren Räumen hätten sich die edelsten Männer +versammelt, um ernst und gewichtig die Fragen zu erörtern –« + +»Sie wollten mir doch etwas erzählen«, unterbrach ihn Frau von Zeuthen, +wobei sie sich zurücklehnte. + +Paul Seebeck legte Hut und Stock fort und setzte sich in den Armstuhl. + +»Also, ich kam von Sidney zurück –« + +»Nicht so schnell. Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche. Aber Sie +dürfen Australien nicht überspringen.« + +Ȇber Australien kann ich leider nicht viel berichten. Ich kam hin – Sie +kennen ja meinen Expeditionsplan, er stand ja auch in allen Zeitungen – +und wie ich dort war, sah ich, daß meine ganze Expedition eigentlich +überflüssig war. Von dem, was ich als Neuland erforschen wollte, ist der +größte Teil in seinen großen Zügen schon bekannt, sogar schon +aufgenommen, und es reizte mich nicht, mich nur mit den Bagatellen +abzugeben, die natürlich auch von wissenschaftlichem Interesse sind –« + +»Da Sie ja mehr Abenteurer als Wissenschaftler sind.« + +»Vielleicht, vielleicht liegt der Wert meines Abenteuertums gerade +darin, daß ich nur große Dinge entdecken kann, nicht Kleinigkeiten +untersuchen. Ich kann nur die großen Dinge sehen und räume dann gern das +Feld dem Gelehrten, der dann nach Herzenslust messen und forschen mag. +Schon am ersten Tage in Sidney, wo ich in der Bibliothek der +Geographischen Gesellschaft saß und mir das ganze Material durchsah, +sank mir der Mut. Ich sah wohl, daß da noch unendlich viel zu tun war, +aber fast nichts für mich. + +Ich unternahm die Expedition trotzdem – ich war ja dazu verpflichtet – +aber ohne Freude. Dadurch kam auch das Sprunghafte, Unsichere herein, +das manche Zeitungen mit Recht gerügt haben, und kehrte vorzeitig +zurück.« + +»Ich las in der Zeitung, daß die furchtbaren Stürme und +Überschwemmungen, die der großen Flutwelle folgten, Sie zur Rückkehr +gezwungen hätten.« + +»Ich nahm das mehr als Vorwand. Hätte ich ernstlich gewollt, hätte ich +schon dort bleiben können. Ich kehrte aber nach Sidney zurück.« + +»Und dann?« + +»Ja, dann sah ich vom Dampfer aus meine Insel, deren Entstehung +natürlich die große Flutwelle verursacht hat. Und da beschloß ich, auf +ihr meinen Staat zu gründen.« + +»So schnell?« + +»Ja, wissen Sie, Gabriele«, fuhr Paul Seebeck lebhafter fort, »zwischen +der Entdeckung der Insel und meiner Ankunft lagen ja viele Stunden. Und +eine Stunde ist lang, wenn man allein auf einem Schiffe steht und ganz +ungestört seinen Gedanken nachhängen kann. Und unser Plan eines wirklich +modernen Staates auf breitester, demokratischer Grundlage, aber mit dem +Prinzipe der größten persönlichen Freiheit war ja schon lange fertig.« + +»Wer ist »wir«?« + +»Mein Freund Silberland, ein Journalist und radikaler Politiker aus +München, ein kluger Mensch, der unendlich viel in seinem Leben +gearbeitet hat und dem es immer schlecht gegangen ist, und ich. In +meiner Münchener Zeit sind wir oft nächtelang im Café Stephanie gesessen +oder im Englischen Garten herumgegangen und haben dabei immer nur +unseren Staat besprochen. Sie werden verstehen, daß zwei Menschen wie er +und ich sich in einer solchen Frage aufs Glücklichste ergänzen können.« + +Frau von Zeuthen nickte und Paul Seebeck fuhr fort: + +»Wie ich also die Insel sah und wußte, daß sie herrenloses Land +darstellte, schrieb ich vom Dampfer aus einige Zeilen an Silberland. +Ich erinnerte ihn an unsere Träume und bat ihn, hinzukommen. Ich schrieb +ihm, er solle mir eine Vollmacht als Reichskommissar verschaffen. Er kam +auch, der gute Kerl, steckte seinen Beruf und seine Stellung auf und +kam. Aber das Kolonialamt hatte ihm doch nur eine sehr vorsichtige, sehr +provisorische Vollmacht für mich mitgegeben und verlangte, mich selbst +zu sehen und zu hören. So mußte ich also nach Berlin kommen.« Und Paul +Seebeck schwieg, wobei er vor sich auf den Teppich sah. + +»War Ihnen denn das so unangenehm?« fragte Frau von Zeuthen. + +»Ja. Wenigstens zuerst. Ich hatte schon viele Wochen ganz allein auf +meiner Felseninsel zugebracht und fühlte mich dort so heimisch, daß es +mir schwer wurde, sie wieder zu verlassen. Und besonders fürchtete ich, +sie mit etwas anderen Augen zu sehen, wenn ich nach dem Aufenthalt in +Europa zu ihr zurückkehrte.« + +»Wie denn?« fragte Frau von Zeuthen mit ihrem klugen Lächeln. + +Er sah sie an und sagte langsam: + +»Ich fürchtete, meine Insel nicht mehr so rein zu empfinden, nicht mehr +so ganz als Symbol der Unberührtheit, kurz, nicht mehr so persönlich, +mehr als eine von den vielen, ein Kuriosum, keine Offenbarung – Sie +verstehen?« + +Frau von Zeuthen nickte. + +»Und weshalb sind Sie jetzt doch froh, hierher gekommen zu sein?« fragte +sie nach einer kleinen Pause. + +»Weil ich sehe, wie wertvoll es für mich ist, etwas Distanz bekommen zu +haben – nicht nur aus praktischen Gründen.« Wieder schwieg er und sah +vor sich hin. + +»Dann habe ich hier auch einige Menschen wiedergefunden, die ich für +meine Arbeit brauche. Und« – hier sank er vom Stuhle und ergriff ihre +Hand und küßte sie – »eine Frau, die ich immer fragen muß, ob ich auch +auf dem rechten Wege bin.« + +Sie strich ihm mit ihrer schönen, weißen Hand über sein Haar. + +»Wollen Sie mir auch diesmal Ihren Segen mitgeben?« fragte er, lächelnd +zu ihr aufblickend. + +»Ja«, sagte sie. »Und wenn Sie mich brauchen, komme ich zu Ihnen.« + +Er küßte noch einmal ihre Hand und erhob sich dann. Im Zimmer auf- und +abgehend, fuhr er lebhaft fort: + +»Und wie bezaubernd die Idee wirklichen Neulandes, einer freien +menschlichen Gemeinschaft ohne alle Traditionen wirkt. Ich kenne von der +Schule her einen jungen Studenten, jetzt ist er übrigens Referendar, der +fünf Jahre jünger ist als ich. Einen richtigen Berliner Juden, obwohl er +nicht so aussieht. Glänzend begabt, daß jede Arbeit für ihn Spielerei +ist, frech wie ein Dachshund, nie um eine Antwort verlegen, immer witzig +und nichts auf der Welt ernst nehmend. Dabei ein seelenguter Kerl und +immer hilfsbereiter Kamerad. Wir treffen uns hier zufällig im Café, und +er benutzt die Gelegenheit, um tausend dumme Witze über unsere Insel zu +machen. Am Tage darauf esse ich bei seinen Eltern. Auch dort schont er +mich durchaus nicht. Wie wir nach dem Essen bei einer Zigarre allein in +seinem Zimmer sind, sagt er mir plötzlich in vollem Ernste, daß er mit +uns kommen will, um dann sofort darüber dumme Witze zu machen. Aber ich +bin überzeugt, daß es ihm im Grunde seines Herzens tiefernst ist, und +daß er gerade durch seinen absoluten Mangel an Sentimentalität ein sehr +gesundes Element darstellen wird.« + +Er blieb stehen und lauschte, denn auf dem Korridore wurde ein Trampeln +und eifriges Tuscheln laut. Frau von Zeuthen erhob sich vom Divan. + +»Die Kinder«, sagte sie. + +Gleich darauf wurde auch die Tür aufgerissen und die dreizehnjährige +Hedwig stürmte herein. Sobald sie Paul Seebeck erblickte, schlang sie +beide Arme um seinen Hals und hüpfte vor Freude. Paul Seebeck konnte +sich nur mit Mühe soweit von ihr befreien, um dem etwas verlegen hinter +ihr stehenden zwölfjährigen Felix wenigstens flüchtig die Hand drücken +zu können. Noch halb an Paul Seebeck hängend, begann Hedwig, ihrer +Mutter übersprudelnd ein Schulerlebnis zu erzählen, doch Frau von +Zeuthen unterbrach sie: + +»Macht euch jetzt schnell zum Mittagsessen fertig, Kinder. Wir essen +heute früher als sonst. Dann kannst du uns alles erzählen, Hedwig.« + +Ein wenig schmollend zog Hedwig ab, Felix wandte sich in der Tür noch +einmal zögernd um, dann ging er schnell zu Paul Seebeck und flüsterte +ihm zu: + +»Ich habe alles gelesen; ich weiß alles. Ich will zu dir auf deine Insel +kommen.« Dann lief er tief errötend aus der Tür. + +Während die Schritte der Kinder auf dem Korridore verklangen, wandte +sich Frau von Zeuthen an Paul Seebeck: + +»Ich erwarte noch einen Gast –« + +»Herrn von Rochow?« fragte Seebeck. + +»Rochow? Nein ... Wie kommen Sie auf ihn?« + +»Ach, ich bin in den letzten Tagen oft mit ihm zusammen gewesen; er ist +ja einer von den Unsrigen.« + +»So? Das freut mich wirklich.« + +»Er war einer von denen, an die ich von Anfang an dachte, und er kam +auch gleich zu mir. – Ja, und gestern sagte er mir, daß wir uns wohl +auch bald bei Ihnen treffen würden.« + +»Rochow ist immer bei mir willkommen; er kommt vielleicht auch später +zum Tee zu mir. Wissen Sie übrigens, daß er seinen Abschied nehmen +mußte?« + +»Nein, weshalb denn?« + +»Ich weiß es nicht genau. Es handelte sich um eine Soldatenmißhandlung, +wo Rochow in irgendwelcher inkorrekten Weise zu sehr für den Soldaten +gegen den schuldigen Leutnant eingetreten ist. Aber jetzt zum +Mittagessen erwarte ich einen jungen Freund, der Ihnen vielleicht große +Freude machen wird.« + +Es klingelte, und bald darauf stand ein bleicher, junger Mann mit +tiefliegenden, rotumränderten Augen in der Tür. Man sah seiner Kleidung +an, daß sie mit großer Mühe ordentlich instand gehalten war. Frau von +Zeuthen ging auf ihn zu, führte ihn an der Hand zu Seebeck und sagte: + +»Da haben Sie meinen Melchior. Seht zu, ob ihr nicht Freunde werden +könnt.« + +Und während die beiden Männer einander forschend und suchend in die +Augen sahen, öffnete sie die Tür zum anstoßenden Eßzimmer, wo Hedwig und +Felix bereits ungeduldig warteten. + + + + +Auf dem großen Tische in Paul Seebecks Hotelzimmer, der mit Zeitungen, +Broschüren und Papieren bedeckt war, standen zwei schwere, fünfarmige +Leuchter und erhellten die Gesichter der kleinen Versammlung. Erst jetzt +waren sie zum ersten Male offiziell versammelt; so hatte es Paul Seebeck +gewollt. Mehrere Wochen hatte er ihnen Zeit gelassen, um alles in Ruhe +zu überlegen und sich einander kennen zu lernen. + +Alle sieben waren da: am Tischende saßen Paul Seebeck, Jakob Silberland +und Hauptmann a. D. von Rochow, dann kamen Edgar Allan und Referendar +Otto Meyer, zuletzt Nechlidow. Der junge Melchior saß gesenkten Hauptes +etwas im Hintergrunde und zuweilen hob sich sein bleiches, +abgearbeitetes Gesicht aus dem Dunkel. + +Paul Seebeck stand auf, und aller Augen wandten sich ihm zu. Er sagte: + +»Ich habe ungefähr dreihundert Anfragen und Anmeldungen erhalten, habe +aber Alle gebeten, sich etwas zu gedulden. Wir sind jetzt sieben, und +das ist vorläufig genug, um die Sache in Gang zu bringen. Sobald wir +die Umrißlinien gezogen haben, mögen die Anderen kommen, um sie +auszufüllen oder zu verändern. Nun liegt die Gefahr vor«, fuhr er fort, +wobei er den Kopf senkte und sich auf die eingezogene Oberlippe biß, +»daß wir sieben auch in Zukunft eine bevorzugte Stellung einnehmen. Das +darf natürlich nicht sein. Das wäre eine Oligarchie statt einer +Demokratie.« + +Nechlidow hob den Kopf und rief: + +»Was bis zum heutigen Tage noch jede Demokratie gewesen ist, besonders +in der wahnsinnigen Karrikatur des Parlamentarismus.« + +Paul Seebeck sah ihm gerade ins Gesicht: + +»Tragen Sie das Ihrige dazu bei, Herr Nechlidow, daß unser Staat nicht +an dieser Klippe strandet.« + +Es ging ein Leuchten durch Nechlidows vergrämtes Gesicht; er sagte +nichts, nickte nur. + +»Nun läßt sich aber nicht leugnen, daß wir sieben Gründer, eben als +solche, vorläufig eine Sonderstellung einnehmen. Wir müssen nur dafür +sorgen, daß diese Sonderstellung nicht länger dauert, als unbedingt +notwendig ist. Ich schlage deshalb folgendes vor: jeder Ansiedler, +selbstverständlich Mann wie Frau, ist nach einjährigem Aufenthalt auf +der Insel vollberechtigter Bürger. Wir sieben Gründer bleiben das erste +Jahr allein auf der Insel und genießen das einzige Vorrecht, in diesem +Jahre über uns selbst und den Staat, den wir ja allein repräsentieren, +zu verfügen. Dieses Vorrecht ist natürlich nur ein anderer Ausdruck für +alle unsere Pflichten und unsere Arbeit. Vom opportunistischen +Standpunkte aus gesehen also ein Vorrecht, von recht zweifelhaftem +Werte, vom moralischen Standpunkte ein Recht in der tief innersten +Bedeutung des Wortes.« + +Jetzt konnte Otto Meyer sich nicht mehr beherrschen, er mußte Jakob +Silberland zuflüstern: + +»Daß der Kerl seine geistreichen Bemerkungen nie sein lassen kann.« + +Halb verlegen und belustigt, suchte Silberland nach einer Antwort; +plötzlich aber erhob sich zum allgemeinen Erstaunen Melchior und sagte: + +»Darf ich eine Frage stellen? Da ist etwas, was ich nicht verstehe.« + +»Bitte«, sagte Seebeck. + +Melchior zog die Brauen zusammen und versuchte augenscheinlich seine +Frage scharf zu formulieren; er sagte dann: + +»Nach alledem, was ich verstanden zu haben glaube, soll dieser Staat im +Großen wie im Kleinen keine willkürliche Konstruktion darstellen, +ebensowenig eine Gemeinschaft, die nur auf einen bestimmten Typus +Mensch zugeschnitten ist. Wenn Sie mir den trivialen Ausdruck erlauben +wollen, soll es nicht nur der ideale, sondern auch der normale Staat +sein.« + +Paul Seebeck nickte. Melchior sah ihn an: + +»Ein Staat, oder wohl besser: eine Gemeinschaft, deren Bau aus der Natur +des Menschen an sich, des zweibeinigen Säugetieres: Mensch, abgeleitet +ist, nicht wahr?« + +Wieder nickte Paul Seebeck, obgleich nicht so ganz zustimmend. Melchior +war aber so in seinen Gedanken vertieft, daß er nichts um sich her sah. +Er fuhr fort: + +»Sie müssen mich recht verstehen, ich will nicht kritisieren, nur +fragen. Wie läßt sich die Idee eines solchen Staates damit vereinigen, +daß erst große Vorarbeiten nötig sind? Daß die Ansiedler sich erst ein +ganzes Jahr lang akklimatisieren sollen? Würde es nicht genügen, die +Menschen einfach in die Freiheit zu setzen, so daß sie selbst kraft +ihrer Menschennatur sich die neue Gemeinschaft schaffen können? Wenn +ihre Gedanken richtig sind, müßte der so sich selbst aufbauende Staat +genau ebenso werden, wie der Ihrige, der doch – zunächst wenigstens – +ein theoretisches, aus den jetzigen Staatsformen abstrahiertes Gebäude +darstellt; nur mit dem Unterschiede, daß der sich selbst aufbauende +Staat natürlicher wäre, ohne die Fehlerquellen, die bei dem Ihrigen, der +theoretischen Grundlage wegen, möglich sind.« + +»Bravo!« rief Nechlidow. »Der Mann kann denken.« + +»Sie müssen mich richtig verstehen,« fuhr Melchior fast ängstlich fort, +»ich vertrete gar keinen Standpunkt, ich sehe nur ein Problem und bitte +Sie, es mir zu lösen. Sie haben natürlich alles das genau bedacht, Herr +Seebeck?« Er richtete sich ganz auf und sah Seebeck gespannt an. Aber +plötzlich verzog sich sein Gesicht, es wurde kreidebleich, er schwankte +etwas, griff rückwärts nach der Stuhllehne, so daß der Stuhl sich auf +einem Beine drehte, und Melchior sank, die Stuhllehne noch immer in der +Hand, bewußtlos neben den Stuhl hin, der auf ihn fiel. + +Alle sprangen entsetzt auf. Paul Seebeck war mit einigen Schritten bei +ihm, hob ihn leicht wie ein Kind auf, klingelte nach dem Kellner, ließ +sich ein freies Zimmer zeigen und bettete den Ohnmächtigen dort. Er +löste ihm die Kleider auf Brust und Leib und flößte ihm dann Milch ein. +Melchior schlug schon nach einigen Minuten die Augen wieder auf und sah +unsicher um sich. Paul Seebeck fragte ihn besorgt: + +»Fühlen Sie sich jetzt wieder wohl?« + +»Ja, ja«, sagte Melchior zerstreut. »Das hat nichts zu sagen.« Sein +Blick fiel auf die gefüllte Milchkanne. Mit zitternden Händen schenkte +er sich ein Glas ein und stürzte es hinunter. Er sah dankbar zu Seebeck +auf: + +»Ich danke Ihnen, Sie sind so gut zu mir.« + +»Wünschen Sie irgend etwas?« fragte Seebeck, die Hand schon bei der +elektrischen Klingel. + +»Ja, wenn ich etwas essen dürfte –« antwortete Melchior zögernd. »Ich +werde zuweilen schwach, wenn ich hungrig bin.« + +»Haben Sie denn heute Abend noch nichts gegessen?« fragte Seebeck +besorgt. + +»Heute Abend?« Melchior lächelte schwach. »Gestern und heute habe ich +nichts gegessen. Wenn ich jetzt nur ein Stückchen Brot haben kann, ist +mir gleich wieder gut.« + +Der Kellner trat ein, und Seebeck bestellte, trotz Melchiors +verlegen-abwehrender Handbewegungen ein ordentliches Abendessen, doch +verlangte er nur Speisen, die in wenigen Minuten fertig sein konnten. +Während dieses kurzen Gespräches schlummerte Melchior ein. Paul Seebeck +überzeugte sich, daß sein Atem ruhig ging und verließ dann zusammen mit +dem Kellner das Zimmer. + +Als er zu seinen Gästen zurückkehrte, wurde er von allen Seiten nach +Melchiors Befinden gefragt. Er gab aber nur kurze, sachliche Antworten +und schlug dann lächelnd vor, wieder zur Arbeit überzugehen. Diesmal +ergriff er aber nicht das Wort, sondern bat Jakob Silberland, zu +erklären, wie sie ihren Staat zu finanzieren gedächten. + +Jakob Silberland stand eifrig auf, und begann: + +»Die finanzielle Grundlage unseres Staates ist als durchaus gesund zu +bezeichnen. Wir haben Aktiven in den Naturschätzen, die fast ohne +Betriebskapital zu heben sind. Nach dem Urteil von Sachverständigen +repräsentiert eine ausgewachsene Riesenschildkröte allein an Schildkrott +einen Wert von fünfundzwanzigtausend Mark, dazu kommt noch ihr Fleisch +im Werte von ungefähr dreihundert Mark. Ein genaues Studium muß ergeben, +wieviele Tiere man im Jahre erlegen darf, ohne Raubbau zu treiben; +jedenfalls für mehrere Hunderttausende, vielleicht Millionen. Diese +Einnahmequelle muß dem Staate selbst verbleiben. + +Daß der Grund und Boden für immer gemeinsames Eigentum bleiben muß, ist +ja selbstverständlich, ebenso die auf ihm stehenden Häuser, denn ein +Privatbesitz an Boden läßt sich nur solange rechtfertigen, wie es +herrenloses Land in genügender Menge gibt, so daß jeder andere sich +gleichfalls – wenn er will – einen genügenden Platz sichern kann. Da es +jetzt – speziell bei uns – herrenloses Land so gut wie nicht mehr gibt, +oder bald nicht mehr geben wird, ist Privatbesitz am Grund und Boden ein +Unding. + +Wir brauchen nur etwas flüssige Mittel, um die notwendigen Bauten und +Anlagen ausführen zu können. Wir schlagen vor, das Geld durch eine +innere Anleihe aufzubringen, die rasch zu amortisieren wäre. Diese +Anleihe müßte natürlich eine innere sein, um ausländischem Kapital +keinen Einfluß zu geben ...« + +Die Tür knarrte leise; aller Augen wandten sich ihr zu, und Jakob +Silberland brach ab. Mit schleppenden Schritten kam Melchior herein und +blieb verlegen stehen. Da sich aber alle Anwesenden Mühe gaben, ihn so +unbefangen wie möglich zu behandeln, atmete er schnell auf und nahm +seinen früheren Platz wieder ein. Jakob Silberland räusperte sich und +wollte in seinem Vortrage fortfahren, konnte aber die Aufmerksamkeit +nicht mehr sammeln. Paul Seebeck schlug deshalb vor, eine Viertelstunde +lang zu pausieren. Da niemand widersprach, ließ er Tee und kleine +Butterbrötchen, sowie auch einige Flaschen Wein kommen, was die Herren, +auf- und abgehend, zu sich nahmen. + +Paul Seebeck trat zu Melchior heran: + +»Haben Sie jetzt ordentlich gegessen?« fragte er. + +»Ja, ja«, antwortete Melchior, zerstreut auf den Boden blickend. Dann +schlug er die Augen auf: + +»Herr Seebeck«, sagte er, »Sie sind mir noch eine Antwort schuldig.« + +Paul Seebeck griff sich unwillkürlich an die Stirn; er verfolgte +rückläufig die Vorgänge des Abends und kam damit auch auf Melchiors +Frage. + +Ȇberlegen Sie sich, wie viel die Menschen vergessen müssen, ehe sie +reif für eine neue Gemeinschaft werden; vergessen, was sie selbst, und +das, was ihre Vorfahren gelernt haben: die Masseninstinkte. Um die zu +bekämpfen und zu vergessen, genügt weder die Möglichkeit, noch der Wille +zur Freiheit – zwei Voraussetzungen, die bei uns glücklicherweise +gegeben sind – eine große Arbeit jedes einzelnen an sich und an der +Gemeinschaft ist notwendig. Unterschätzen Sie unser Vorhaben nicht; es +gilt nichts weniger, als einen neuen Typus Mensch heranzuziehen, einen +Typus, der eine Gemeinschaft von Individualitäten bilden kann, ohne daß +diese zu einer homogenen Masse wird.« + +»Sie gebrauchen dauernd das Wort: Typus im Sinne von Individuum. Ich +finde das fast verdächtig.« + +»Ach Gott, was ist denn dabei verdächtig?« sagte Paul Seebeck +gleichmütig. »Typus – Art – was Sie wollen. Sie wissen ja, was ich +meine, da spielt der Ausdruck doch keine Rolle.« + +Melchior schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen zusammen: + +»Was Sie meinen, scheint an und für sich so klar zu sein, daß ein etwas +schiefer Ausdruck keine Unklarheit hereinbringen kann. Ich kann aber +doch nicht anders, als gerade hinter diesem schiefen Ausdruck ein +Problem zu sehen, nämlich dieses: daß Sie gar nicht den freien Menschen +an sich brauchen können und entsprechend heranziehen wollen, sondern nur +einen ganz bestimmten Typus des freien Menschen.« + +Paul Seebeck hatte anfangs lächelnd zugehört, dann wurde er aber ganz +ernst. Stehenbleibend, sagte er fast feierlich: + +»Es gibt keinen Staat und keine Gemeinschaft der Welt, wo der +Verbrecher, der Kinderschänder Raum fände. Wohl aber läßt sich eine +Gemeinschaft denken, die dem Verbrechen keinen Nährboden gibt. Was +stellen Sie sich denn überhaupt unter dem »freien« Menschen vor? – Doch +nicht den, der ungehindert absonderlichen Gelüsten folgen kann? Gerade +der in irgend einer Weise perverse Mensch ist im höchsten Grade unfrei. +Frei sein heißt: von seiner eigenen Vergangenheit frei sein, von +Traditionen und Vorurteilen frei sein, heißt Rückkehr zu einer Norm, die +es kaum noch gibt. + +In diesem Sinne haben Sie Recht: ich erkenne wirklich nur einen Typus +des freien Menschen an; aber der ist sehr umfassend, nämlich alle +einschließend, die in irgend einer Weise für die Gemeinschaft im höheren +Sinne brauchbar, oder was dasselbe ist, notwendig sind.« + +»Ja, ja«, sagte Melchior nachdenklich. »Ich glaube schon, daß ich Ihnen +zustimmen werde, wenn ich in Ruhe alles richtig bedacht habe.« + +Paul Seebeck sah ihm gerade ins Gesicht: + +»Beantworten Sie mir bitte eine Frage: weshalb kommen Sie überhaupt zu +uns? Ich sehe, daß Sie ernst arbeiten und daß Sie aufrichtig sind, uns +also willkommen sein müssen – aber was wollen Sie von uns?« + +Melchior sah mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin: + +»Ich muß aus zwei Gründen zu Ihnen. Erstens glaube ich bei Ihnen alle +sozialen und sozial-psychologischen Phänomene im status nascendi, also +in reinster und dabei konzentriertester Form zu finden. Also aus +wissenschaftlichem Interesse. Dann glaube ich dort einmal ein +Arbeitsfeld zu haben, wo die praktische Arbeit nicht vergeudete Zeit +bedeutet.« + +»Sie werden kein angenehmer Mitarbeiter sein, aber ein wertvoller.« Und +er drückte Melchiors heiße Hand. + +Hinter ihnen erklang ein leises Klirren. Sie wandten sich um und sahen, +daß Jakob Silberland an sein Glas schlug, augenscheinlich in der +Absicht, eine Rede zu halten. Er trippelte nervös auf seinen kurzen +Beinchen hin und her und fuhr sich mehrmals mit der Hand durch sein +langes, schwarzes Haar. Die anderen Herren saßen um den Tisch herum mit +aufmerksamen und vielleicht etwas verlegenen Gesichtern. Paul Seebeck +und Melchior blieben im Hintergrunde stehen. + +Melchior sah mit einem Blicke, der fast ein Werben um Liebe enthielt, zu +Paul Seebeck auf und flüsterte ihm zu, wobei er errötete: + +»Sie müssen mir helfen, dann werde ich finden, was ich suche – dort auf +Ihrer Insel werde ich das Geheimnis der Menschheit finden.« + +Paul Seebeck nickte ihm freundlich zu. Er konnte ihm nicht mehr +antworten, denn Jakob Silberland begann: + +»Darf ich einige Worte sagen? Ich will nicht schwulstig sein, obwohl ich +mich beherrschen muß, es nicht zu werden. Aber ohne jede Übertreibung +kann man wohl sagen, daß von diesem Tage an eine neue Periode der +Menschheitsgeschichte ansetzt. Unser Anfang ist bescheiden, aber unsere +Bestrebungen werden Früchte tragen, deren Größe wir heute noch gar nicht +übersehen können. Statt grotesker Verzerrungen den wirklichen Staat, die +wirkliche Gemeinschaft von Menschen.« + +»Gegründet auf die menschliche Vernunft«, unterbrach Nechlidow, von +seinem Stuhle aufspringend, den Redner. »Weg mit den Sentimentalitäten, +die nur Ausbeutung, Schwäche und Dummheit verschleiern sollen. Laßt uns +die neue Menschheit auf die Vernunft aufbauen. Vernunft allein kann den +Menschen weiterbringen. Gefühle erniedrigen ihn zum Tiere. Aber streng +und ehrlich müssen wir sein.« + +Otto Meyer hatte mit einem spöttischen Lächeln den beiden zugehört; +jetzt aber wurde sein Gesicht ganz ernst. Er machte eine Bewegung, als +ob er aufstehen wollte, besann sich dann aber wieder. Herr von Rochow +hatte wohl zu viel Wein getrunken, denn sein Lächeln wurde blöder und +blöder, und seine treuherzigen, blauen Augen verschwammen immer mehr. +Edgar Allan hörte nur halb zu; mit einem Bleistiftstumpfe entwarf er auf +dem weißen Tischtuche Hütten und Häuser in einem Stile, der in +merkwürdiger Weise eine stark betonte Horizontale mit flachen +Bogenlinien verknüpfte. + +Jetzt trat Paul Seebeck mit einigen raschen Schritten an den Tisch und +sagte: + +»Meine Freunde! Heute Abend ist es zu spät, um noch alle die +Einzelheiten zu erörtern, die ich gern besprochen hätte. Aber dazu haben +wir ja die vielen Wochen auf dem Schiffe. + +Nur eins: das ist jetzt der Abschied vom behaglichen Leben, von +Großstadttrubel und den Vergnügungen. Jetzt beginnt für uns die Arbeit. +Es liegt nur an uns, diese Arbeit so anzufassen, daß sie für Andere und +uns selbst größeres gestaltet, als sonst je möglich wäre. Eine schwere +Zukunft liegt vor uns, aber eine große.« + + + + +Die Sachverständigen waren nach Sidney zurückgekehrt. Alles war geprüft +worden: der mutmaßliche Ertrag der anzulegenden Schildkrötenkultur, der +Fischreichtum des Meeres, die Brauchbarkeit der Steine zum Hausbau, das +Wasser, die auf der Insel vorkommenden Minerale – und jetzt saß Jakob +Silberland den ganzen Tag in seinem Zelte an einem Holztische und +rechnete, wobei er unausgesetzt die kurzen Beinchen bewegte und sich +nicht selten mit den Händen durch das schwarze, strähnige Haar fuhr. Die +andern sechs aber arbeiteten draußen in der glühenden Sonne, um erst am +Abend zu den Zelten zurückzukehren. In den Stunden, wo sie dann am +Strande lagen und auf das Meer hinaussahen, war manch ein gewichtiges +Wort gefallen. + +Jakob Silberland hatte viel zu tun: die gesamte Korrespondenz lag in +seinen Händen, ebenso die Buchführung und die Verwaltung der Gelder. Er +hatte die wöchentliche Verbindung mit Sidney durch einen kleineren +Dampfer der »Australisch-Neu-Seeländischen Transport-Gesellschaft« +zustande gebracht, und jetzt galt es für ihn, auf eine geraume Zeit +hinaus den Bedarf an Geräten, Baumaterial und anderen Dingen +vorauszusehen und geschickt auf die einzelnen Wochen zu verteilen, damit +der Verkehr sich für die Gesellschaft lohnte. + +Von diesen schwierigen Berechnungen bereitete die schwerste und +verantwortungsvollste Arbeit – die Verwaltung der Gelder – Jakob +Silberland den geringsten Kummer. Es war beschlossen worden, eine in +fünfzehn Jahren zu amortisierende, dreiprozentige innere Anleihe in der +Höhe von einer Million Mark aufzunehmen. In fünf Jahren hofften sie, mit +dem größten Teile der Bauten und Anlagen fertig zu sein und wollten dann +die Anleihe jährlich mit hunderttausend Mark amortisieren. Besondere +Bestimmungen verhinderten den Handel mit diesen Papieren, um keinem +Außenstehenden auch nur den geringsten Einfluß zu erlauben. Herr von +Rochow und Paul Seebeck hatten ihr ganzes Vermögen – eine halbe Million +und zweihundertfünfzigtausend Mark – in diesen Papieren angelegt, Otto +Meyer konnte fünfzigtausend beisteuern, und Edgar Allan zwanzigtausend. +– Jakob Silberland, Nechlidow und Melchior besaßen nichts, konnten also +auch nicht die fehlenden hundertachtzigtausend aufbringen, etwas, was +Jakob Silberland in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer sehr +bedauerte. Bis jetzt war nämlich das Kapital nur in ganz geringem +Umfange angegriffen, und der weitaus größte Teil des Geldes lag mit +sechsmonatlicher Kündigung in der Filiale der »Deutschen Bank« zu +Sidney, wo es viereinhalbes Prozent trug; die Anleihe konnte also auch, +solange sie nicht verbraucht war, als eine werbende betrachtet werden, +die anderthalb Prozent Überschuß im Jahre erbrachte. + +Aber Jakob Silberland war praktisch und fand einen Weg, um die +Unterbringung der restlichen hundertachtzigtausend Mark der Anleihe zu +erzwingen. Es war nämlich festgesetzt worden, daß alle Staatsarbeiter – +und das waren ja vorläufig alle sieben Gründer – ein jährliches Gehalt +von fünftausend Mark beziehen sollten. Die spätere, erweiterte +Gemeinschaft mochte diese Bestimmung bestätigen, abändern oder umstoßen; +sie galt vorläufig nur für das erste Jahr. + +Da jetzt von getrenntem Haushalt noch keine Rede sein konnte, wurden die +Notdürfte des Lebens gemeinsam bezogen und entsprechend vom Gehalte +abgezogen. Der Rest sollte bar ausgezahlt werden. Jakob Silberland +setzte aber durch, daß nur die Hälfte dieses Geldes bar ausgezahlt +wurde, die andere Hälfte aber in jenen Anleihepapieren, von denen zu +diesem Zwecke die in Frage stehenden hundertundachtzigtausend Mark in +Scheinen von je hundert Mark ausgegeben wurden. Sogar gegen den +Zinsverlust in der Zeit vor Unterbringung der ganzen Summe verstand +Jakob Silberland die Staatskasse zu schützen, indem er diese Papiere +nicht zum Nominalwert, sondern mit einem jährlichen Aufschlage von +anderthalb Prozent ausgab. + +Inzwischen arbeiteten die anderen in der heißen Sonne. Ihre erste Sorge +galt der Zuführung von Trinkwasser, dessen tägliche Herstellung im +Destillationsapparate zu langwierig war. Man verzichtete vorläufig auf +die Herstellung einer wirklichen, unterirdischen Wasserleitung, begnügte +sich vielmehr damit, den kleinen Bach durch Spalten und Rinnen in die +Bucht zu leiten, wobei zwar ziemlich viele Sprengungen, aber nur wenig +Mauerungsarbeiten notwendig waren. In den folgenden Wochen arbeitete +Edgar Allan an dem Stadtplane, während die anderen fünf kleinere, aber +notwendige Arbeiten ausführten. Es war beschlossen worden, sofort nach +der Fertigstellung von Allans Plänen an den Häuserbau zu gehen, und zwar +sollten die Häuser in der Reihenfolge gebaut werden, in der die Gründer +sich endgiltig zur Übersiedelung auf die Insel bereit erklärt hatten. + + + + +Die Sonne war untergegangen, und schon wenige Minuten später umhüllte +tiefe Nacht die Insel. Nur wenn eine Welle sich am Strande brach, +leuchtete für eine Sekunde grünlich-weiß der Gischt auf. + +Die Sieben lagen, des starken Nachttaues wegen in leichte Decken +gehüllt, schweigend um das Feuer, das sie der Stimmung wegen entzündet +hatten, und sahen zum strahlenden Sternenhimmel empor. + +Keiner sprach ein Wort. + +Viertelstunde auf Viertelstunde verrann; unbeweglich lagen die Männer +da, nur ihre Gedanken arbeiteten bei dem ewigen Rhythmus des +Wellenschlages. + +Endlich setzte Melchior sich auf. Mit zusammengezogenen Brauen starrte +er vor sich hin, und das leise flackernde Feuer ließ seine scharfen Züge +unheimlich erscheinen. Nach einer Weile hob er den Kopf und sagte zu +Paul Seebeck: + +»Herr Seebeck, darf ich auf jenes Gespräch zurückkommen, das wir vor +mehreren Monaten in Berlin führten?« + +Seebeck drehte sich halb herum und sah ihn fragend an. Seine Rechte +spielte mit einigen Kieseln. + +Melchior sagte: + +»Unser Gespräch fing so an: ich fragte Sie, weshalb man nicht die +Menschen ohne weiteres hier hersetzen könnte, damit sich die langsam +entstehende Gemeinschaft selbst jenen absoluten Staat aufbaue, den wir +hier künstlich schaffen wollen. Sie antworteten, daß die Menschen so +vieles zu vergessen hätten, bevor sie reif würden, Sie gebrauchten das +Wort Masseninstinkte – erinnern Sie sich noch?« + +Paul Seebeck nickte. Nechlidow, der an der anderen Seite des Feuers lag, +war aufgestanden und hatte sich dicht neben Melchior gesetzt. Dieser +fuhr fort: + +»Ich habe darüber nachgedacht und habe zunächst folgende Formel +gefunden: Sie wollen die tierischen Masseninstinkte durch das +menschliche Massenbewußtsein ersetzen.« + +Paul Seebeck nickte und hörte auf, mit den Steinchen zu spielen. +Nechlidow beugte sich mit offenem Munde und glänzenden Augen weit +vornüber. Edgar Allan aber sagte gleichmütig im Hintergrunde: + +»Glauben Sie denn wirklich, daß das geht? Wir, die etwas besonderes zu +sagen haben, haben die Pflicht, uns die besten Bedingungen zu schaffen, +um das Betreffende zu sagen und können dann mit gutem Gewissen abtreten. +Denn wir erleben doch nicht, daß die Masse uns versteht; in manchen +Fällen geschieht es später – meistens wohl überhaupt nicht. Aber wir +haben die Pflicht, das zu geben, was wir geben können, gleichgiltig, ob +es genommen wird oder nicht. Auf die Masse warten können wir aber nicht. +Dazu ist unsere Zeit zu kostbar. Wir müssen es ihr anheimstellen, ob sie +uns nachhumpeln will oder nicht. Die Geschichte machen wir und nicht die +Masse.« + +Verlegenes Schweigen folgte diesen Worten. Seebeck griff wieder nach +seinen Steinchen. Jakob Silberland sagte: + +»Nein, Herr Allan, Sie begehen den Fehler, überhaupt einen Unterschied +zwischen Führern und Masse zu konstruieren. Das geht nicht. Ich will +damit nicht nur sagen, daß es sich hier nur um graduelle, niemals +prinzipielle Unterschiede handeln kann, da es so unzählige Gebiete gibt, +auf denen irgend jemand führt; soziale, politische, religiöse, +literarische, vegetarische, alkoholgegnerische und weiß Gott noch was +für Führer gehören auf jedem anderen Gebiete wieder zu der geführten +Masse; es handelt sich also immer nur um eine partielle, niemals um eine +absolute Führerstellung, und erst die Resultante aller dieser großen +und kleinen Bewegungen stellt die Geschichte der Menschheit dar, +sondern –« + +Er stand auf und hob dozierend einen Finger: + +»Daß die Mitglieder eines heutigen Staates vollständig, die Mitglieder +der ganzen Menschheit zum großen Teile, dasselbe sind, was die einzelnen +Teile eines Korallenriffs, die einzelnen Zellen im menschlichen Körper +sind: Glieder eines größeren Individuums, die durch die Arbeitsteilung +und die darin liegende Verzichtleistung auf universelle Tätigkeit, als +Ganzes mehr zu vollbringen vermögen, als das Einzelwesen kann. Kurz und +gut, wir leben eigentlich schon im sozialistischen Zukunftsstaate, nur +daß die Staatsformen, der äußere Ausdruck der inneren Organisation, +immer um einige hundert Jahre zurück sind, ebenso wie der jeweilige +Stand der Orthographie immer die gesprochene Sprache vor einigen hundert +Jahren darstellt. Alles Unglück kommt aus dieser Inkongruenz von Form +und Inhalt – und die wollen wir ja hier abschaffen, indem wir die +Staatsform einige hundert Jahre Entwicklung überspringen lassen und sie +genau dem gegenwärtigen Stande der menschlichen Organisation anpassen.« + +»Sind die Staatsformen wirklich im Rückstande?« mischte sich Herr von +Rochow ins Gespräch. »Ich möchte lieber sagen, daß sie eine viel +vorgeschrittenere, gleichsam idealisierte Menschheit voraussetzen. +Denken Sie doch an das Institut der Ehe, das die Monogamie voraussetzt, +die es doch praktisch so gut wie gar nicht gibt.« + +Jetzt sprang Melchior auf und streckte flehend die Arme aus. Er rief: +»Nicht mehr, ich flehe Sie an, heute Abend nicht mehr! Ich sehe jetzt, +wo das Problem liegt – lassen Sie mir nur etwas Zeit!« + +Verwundert und ein wenig gekränkt sahen die anderen ihn an. Seine +Erregung war aber so echt, seine Stimme so flehend, dabei seine magere +Gestalt im Feuerscheine so grotesk, daß sich der Ärger bald in Achtung +und Mitleid verwandelte. Doch hätte die Situation peinlich werden +können, hätte Otto Meyer sie nicht aufgelöst. Er sagte nämlich +gemütlich: + +»Ja, Kinder, was strengt ihr euch unnötig an, wenn Herr Melchior so +liebenswürdig ist, alle Denkarbeit für uns zu übernehmen, und für die +endgiltige Lösung aller Weltprobleme garantiert.« + +Alle lachten; nur Melchior hatte nichts gehört. Mit gekrümmtem Rücken +saß er da und starrte vor sich hin. + +Nach einer kleinen Pause sagte Edgar Allan: + +»Wir wollen also von der Theorie auf die Praxis übergehen. Ich bin +nämlich heute mit meinem Stadtplan fertig geworden. Wir können morgen +vielleicht einen kleinen Rundgang durchs Gelände machen, und ich kann +Ihnen dann genau erklären, wie ich alles meine. Ich habe natürlich +versucht, die Natur so genau wie möglich zu verstehen und sie ihrer +eigenen Struktur entsprechend auszubauen. Die Stadt soll sich der +Bildung der Felsen eng anschließen; sie darf ja kein Fremdkörper auf der +Insel sein, sondern ein organischer Teil von ihr, ihre Blüte. Na, das +sind ja Gemeinplätze«, sagte er aufstehend, »aber ich habe auch einige +gute Ideen gehabt. In der Sohle unserer Mulde möchte ich die Hauptstraße +haben, die alle Terrassen verbindet und dann vielleicht später weiter +auf das Hochland geführt wird. Die achte große Terrasse – Sie wissen, +die breite, hinter der die Steigung so viel steiler wird, so daß die +Straße dort in starken Serpentinen weitergeführt werden müßte – möchte +ich den öffentlichen Gebäuden vorbehalten, einem Volkshause für +Versammlungen und ähnlichen Dingen. + +Am Strande, in der Richtung auf die Irenenbucht zu, könnte eine +einreihige Straße von Fischerhäuschen liegen; dort rechts, wo die Wand +ziemlich steil ist, wäre nur Platz für einige, wenige Häuser. Das ist +eine ganz ideale Stelle für Sonderlinge, die von dort aus höhnisch auf +die Stadt hinabsehen wollen. Auf solche Käuze müssen wir ja auch +vorbereitet sein. Vielleicht beschließt sogar einer von uns sein Leben +dort.« + +»Aber jetzt will ich Ihnen meine Hauptgedanken sagen, meine Herren«, +fuhr er lebhaft fort. »Sehen Sie, der Bach wird auf absehbare Zeit +hinaus für die Wasserzufuhr völlig ausreichen. Wir müssen aber den +ganzen Fluß herunter bringen, denn dann können wir hier im Laufe einiger +Jahre eine Vegetation schaffen, wozu die Natur viele hundert Jahre +brauchen würde. Und das Überspringen von Zeiträumen ist ja unsere +Hauptbeschäftigung hier. Die Sache läßt sich ausgezeichnet machen. Ich +habe alles ganz genau geprüft. Der Fluß muß zunächst in das tiefe Becken +geleitet werden, das auch sicher früher einen See beherbergt hat – falls +Seebecks Theorie richtig ist, daß die Insel nur vorübergehend unter das +Meer gesunken ist. Ebenso sicher ist natürlich auch diese Mulde das +frühere Flußtal. + +Der Wall, der das Becken gegen unser Tal abschließt, ist durchgängig +höher, als der zum Meere. Besser könnte die Sache überhaupt nicht +liegen, denn so hat das Staubecken ein natürliches Sicherheitsventil. +Wir brauchen niemals eine Überschwemmung der Stadt zu befürchten, denn +das überschüssige Wasser wird immer gleich ins Meer stürzen. Wir müssen +nur ziemlich tief im Becken eine große Röhre anbringen, die den Wall in +der Richtung auf die Stadt zu durchbohrt. Dann haben wir, unabhängig von +dem jeweiligen Wasserstande des Staubeckens, einen gleichmäßigen +Wasserstrom. + +Oben, bei der Terrasse, die ich für die öffentlichen Gebäude reservieren +will, soll sich der Fluß dann teilen. Der Hauptarm soll der Hauptstraße +folgen; ich will aber unzählige, kleine Bäche von ihm ableiten, so daß +fast jedes Haus an fließendem Wasser liegt. – Natürlich wird das +Trinkwasser davon unabhängig in geschlossenen Röhren geleitet. – So gut +wie alle Häuser werden ja auf kleinere oder größere Terrassen zu liegen +kommen, also auf wagerechten Grund. Mit Hilfe des Wassers können wir +nicht nur öffentliche Anlagen schaffen, sondern jedes Haus kann seinen +Garten haben. Ich denke dabei nicht nur an die Schönheit, sondern +besonders an die Regulierung der Atmosphäre. + +Wenn wir auf Kloaken verzichten und alle Abfälle den Gärten zugute +kommen lassen, haben wir schon etwas; aber das genügt vorläufig nicht. +Wir müssen vielmehr einen ganz energischen Anfang machen. Ich schlage +einfach vor, irgend eine recht schwere, fruchtbare Lehmerde aus +Australien hierher transportieren zu lassen und damit die Gartenflächen +etwa einen Meter hoch zu bedecken. Wenn wir uns dann Bäume mit recht +starken, tiefgehenden Wurzeln pflanzen, werden die dann schon eine +allmähliche Lockerung des Bodens besorgen. Es gibt ja Bäume, die +eigentlich nur einen Halt in einer dünnen Humusschicht brauchen, und +ihre Kraft aus dem Felsen selbst ziehen: manche Nadelhölzer, auch +Birkenarten. Das alles müßte natürlich mit einem großzügigen Gärtner +besprochen werden. + +Meine Skizzen zu den Häusern selbst werde ich Ihnen morgen zeigen. Ich +glaube, jetzt den richtigen Stil gefunden zu haben. Ich habe eine stark +betonte Horizontale mit flachen Kurven verschmolzen – na ja, das alles +morgen. + +Aber jetzt möchte ich noch etwas sagen: es ist ein schöner Gedanke, hier +alles aus eigenen Kräften auszuführen; aber eigentlich ist es doch nur +eine unpraktische Sentimentalität. Wir verschwenden Zeit und Kraft auf +Dinge, die jeder Kuli machen könnte. Sollten wir nicht lieber einige +hundert Arbeiter aus Sidney kommen lassen, um diese rein körperlichen +Arbeiten für uns auszuführen? Dann kämen wir doch viel schneller +vorwärts. Es ist nur ein Vorschlag –« + +Nechlidow sprang auf: + +»Nein, nein«, rief er. »Keine Kompromisse! Damit finge die Lüge an, die +alles durchsetzen würde. Wir müssen unseren Prinzipien treu bleiben. +Solche scheinbar – und nur scheinbar – praktische Erwägungen haben die +große Unwahrheit in die Welt hineingebracht. Wenn unser Leben hier einen +Zweck hat, so ist es der, zu beweisen, daß das strenge Festhalten am +großen Gedanken, am Menschheitsgedanken auch praktisch am weitesten +führt.« + +»Ich erlaubte mir nur einen Vorschlag«, antwortete Edgar Allan höflich. +»Da er auf Widerspruch stößt, ziehe ich ihn hiermit zurück.« + +Das Feuer war bei Allans Rede langsam zusammengesintert; jetzt war es +nahe am Verlöschen, aber niemand dachte daran, es wieder anzufachen. In +ihre Decken gehüllt, lagen die Sieben schweigend da und sahen zum +glänzenden Sternenhimmel empor. + + + + +Als der Tag sich jährte, an dem die sieben Gründer die Insel betreten +hatten, lag die »Prinzessin Irene« in vollem Flaggenschmuck vor der +Bucht. Als die Hochflut kam und die Klippen bedeckte, schleppten die +beiden zierlichen Dampfbarkassen schwere Boote mit Menschen und +Hausgerät ans Land. Auf der improvisierten Landungsbrücke standen Paul +Seebeck und Melchior und begrüßten die Ankömmlinge, während die anderen +Fünf eifrig damit beschäftigt waren, ihnen Unterkunft in den großen +Schuppen und Zelten zu bereiten, die zu diesem Zwecke errichtet waren. +Denn die Häuser mußten ja erst gebaut werden und zwar in derselben +Reihenfolge, in der die endgiltigen Erklärungen eingelaufen waren. + +Dreihundertfünfzig erwachsene Personen trafen an diesem Tage ein: +tüchtige Handwerker mit gesetzten Gesichtern, Kaufleute, die aus irgend +einem Grunde nicht vorwärts gekommen waren und nicht wenige +unbestimmbaren oder unsicheren Berufes, die erst hier ihr wirkliches +Vaterland wußten. – + +Es ergab sich von selbst, daß die sieben Gründer nicht mehr wie früher +selbst Hand an alle Arbeit legen konnten: Organisation und Leitung nahm +ihre Zeit und ihre Kräfte völlig in Anspruch. Hauptmann a. D. von Rochow +übernahm die Leitung beim Bau der Straße und der öffentlichen Anlagen; +Edgar Allan hatte Tag und Nacht als Architekt zu tun; Otto Meyer hatte +einen Teil von Jakob Silberlands Tätigkeit übernommen, der nur noch die +Rechnungssachen versah, und Paul Seebeck hatte mit der Oberleitung und +persönlicher Inanspruchnahme durch die Kolonisten mehr als genug zu tun. +Nechlidow und Melchior wären den andern als Assistenten willkommen +gewesen; beide erklärten aber ein für allemal, daß sie einfache Arbeiter +bleiben wollten. + +Bei der fieberhaften Tätigkeit entstand schnell Haus auf Haus, und froh +vertauschte man Schuppen oder Zelt mit dem festen Dache. Damit wurden +auch immer mehr Kräfte frei, so daß in immer größerem Maßstabe an den +Straßen und den öffentlichen Gebäuden gearbeitet werden konnte. Die +Wasseranlage wurde nach Edgar Allans Plänen durchgeführt, und die +Dampfer der »Australisch-Neu-Seeländischen Transportgesellschaft« mußten +halbwöchentlich verkehren und konnten doch kaum die Masse des benötigten +Materials bewältigen. + +Jedesmal, wenn die »Prinzessin Irene« vor der Bucht hielt, brachten +ihre Boote Dutzende von neuen Ansiedlern auf die Insel. + +Als das Jahr verflossen war, stand die Stadt da. + + + + +Auf den amphitheatralisch ansteigenden Bänken in der großen, +flachgewölbten Halle des Volkshauses saßen dreihundertfünfzig Männer und +Frauen und hinter ihnen drängten sich wohl zweihundert auf den Tribünen. +An einem langen Tische auf einem kleinen Podium im Brennpunkte des +Kreisbogens saßen die sieben Gründer. + +Nicht zum ersten Male waren die Glieder der Gemeinschaft hier +versammelt; aber doch zeigten alle Gesichter einen seltsamen Glanz. Vor +zwei Jahren hatten an diesem Tage die sieben Gründer die Insel betreten, +und heute waren dreihundertfünfzig Männer und Frauen vollberechtigte +Bürger geworden. Sie waren heute hier versammelt, um zum ersten Male +ihre Rechte auszuüben. + +Paul Seebeck erhob sich von seinem Stuhle, und sofort trat atemlose +Stille ein. Er richtete sich hoch auf, warf einen langen Blick über die +Versammlung und lächelte glücklich. Dann sagte er: + +»Meine Damen und Herren! + +Im Namen meiner Freunde heiße ich Sie hier willkommen! In der +gemeinsamen Arbeit dieses Jahres haben wir Werte geschaffen, die uns +und unsere Enkel überdauern werden. Wir danken Ihnen für Ihre treue +Mitarbeit. + +Bis jetzt sind wir sieben Ihre Führer gewesen, nicht aus Hochmut oder +Herrschsucht, sondern nur, weil wir anfangs eine größere Sachkenntnis +hatten. + +Jetzt legen wir unsere Mandate in Ihre Hände. Sie mögen prüfen, was Sie +von den Bestimmungen, die wir getroffen haben, beibehalten wollen und +was nicht. Vorbehaltlos übergeben wir Ihnen unsere Rechte und Pflichten. + +Bevor wir in die Verhandlungen eintreten, müssen wir einen Vorsitzenden +haben. Als den in solchen Dingen gewandtesten erlaube ich mir, Herrn Dr. +Silberland vorzuschlagen. Es wird kein anderer Vorschlag laut – also +bitte ich Herrn Dr. Silberland, den Vorsitz dieser Versammlung zu +übernehmen.« + +Ein erstauntes und verschwommenes Gemurmel wurde laut, als die sechs vom +Podium herunterschritten und auf der vordersten Bank Platz nahmen. + +Jakob Silberland war der Situation durchaus gewachsen; er gab ein kurzes +Glockenzeichen und sagte: + +»Sie werden mir ein Wort des Dankes an Herrn Seebeck erlauben. Ich weiß, +daß ich im Sinne der ganzen Versammlung spreche, wenn ich sage: in +diesem Augenblicke, wo Herr Seebeck aufgehört hat, unser offizieller +Führer zu sein, wollen wir ihm versichern, daß er immer und ewig unser +geistiger Führer bleiben wird. Denn wir wissen alles, was wir ihm +schulden: seine Initiative, seine Energie, sein praktischer Blick, sein +Glaube an den Menschen haben die Errichtung des stolzen Werkes +ermöglicht, das wir hier vor uns sehen. Und wenn wir alle längst im +Grabe liegen, wird der Name Paul Seebeck für immer mit goldenen +Buchstaben im Buche der Menschheit stehen.« + +Zögernd hatten sich die Versammelten erhoben; Paul Seebeck war sitzen +geblieben und starrte in tötlicher Verlegenheit vor sich hin. Jakob +Silberland sah einen Augenblick lang auf die stehende Versammlung und +wußte augenscheinlich nicht recht, was er mit ihr anfangen sollte. +Hilfesuchend sah er Otto Meyer an, der nur mit größter Mühe ein Lachen +herunterschluckte. Herrn von Rochows Gesicht strahlte. Er ging zu Paul +Seebeck und drückte ihm die Hand. + +Plötzlich bekam Jakob Silberland einen rettenden Gedanken; er griff zur +Glocke, läutete kurz und sagte, während die Versammlung sich +geräuschvoll wieder setzte: + +»Ich ersuche jetzt Herrn Seebeck als ersten, einen Überblick über die +verflossenen zwei Jahre zu geben.« + +Paul Seebeck trat mit einigen schnellen Schritten auf das Podium und +sagte: + +»Was hier geschehen ist und was wir hier wollen, wissen Sie ja alle, und +ich brauche nicht mit feierlichen Worten darauf einzugehen. Was ich +getan habe, glaube ich verantworten zu können. + +Nur auf einen Punkt möchte ich hinweisen: ich bin, wie Sie ja alle +wissen, Reichskommissar mit den Rechten und Pflichten eines solchen. Ich +habe aber vom Reichskolonialamt die Ermächtigung erwirkt, mein Amt einem +andern, das heißt, meinem jetzt zu wählenden Nachfolger zu übertragen. +Sobald die Wahl vor sich gegangen ist, werde ich es tun. Ich deponiere +hier beim Vorsitzenden der Versammlung eine unterzeichnete und datierte +offizielle Benachrichtigung an das Reichskolonialamt, wo nur noch der +Name des neuen Reichskommissars auszufüllen ist.« + +Er verbeugte sich kurz und ging zu seinem Platze zurück. + +Jakob Silberland gab ein Glockenzeichen und sagte: + +»Da ich jetzt selbst das Wort ergreifen möchte, um über die Verwaltung +der öffentlichen Gelder Rechenschaft abzulegen, bitte ich um Erlaubnis, +den Vorsitz so lange an Herrn Referendar Meyer abzutreten. – Da kein +Widerspruch erfolgt, tue ich es hiermit. – Herr Referendar, darf ich +bitten.« + +Otto Meyer schritt gravitätisch auf das Podium und flüsterte Jakob +Silberland zu: + +»Na, Sie werden staunen: zunächst werde ich mal die ganze Zeit durch +bimmeln, dann kriegen Sie drei Ordnungsrufe, und ich fordere Sie auf, +den Saal zu verlassen.« + +Jakob Silberland sah ihm erschreckt ins Gesicht: + +»Um Gotteswillen –« + +Er kam nicht weiter, denn Otto Meyer läutete und sagte: + +»Herr Dr. Jakob Silberland hat das Wort.« + +Jakob Silberland suchte stehend allerhand Papiere zusammen, die auf dem +Tische lagen und sagte: + +»Ich kann jetzt natürlich nur in großen Zügen ein Bild von der +finanziellen Lage geben; ich werde Sie später bitten, eine Kommission zu +wählen, um meine Bücher in allen Einzelheiten nachzuprüfen. + +Wir sind, wie Sie wissen, mit einer dreiprozentigen inneren Anleihe in +der Höhe von einer Million Mark belastet. Dieses Geld hat uns, solange +es noch teilweise auf der Bank lag, einen Zinsenüberschuß von +zehntausendachthundertdreiundfünfzig Mark und einundsiebzig Pfennigen +gebracht. + +Wir haben zweihundertachtunddreißig Schildkröten verkauft. Sie wissen +ja, daß wir nach dem Urteile der Sachverständigen dazu gezwungen waren, +da der Platz für die Tiere nicht ausreichte, und sie sonst einfach +fortgewandert wären. Dafür haben wir die Summe von fünf Millionen, +achthundertsechsundvierzigtausend siebenhundert und einundzwanzig Mark +und elf Pfennigen eingenommen. Wir hatten also sechs Millionen +achthundertsiebenundfünfzigtausend fünfhundertvierundsiebzig Mark +zweiundachtzig Pfennig bares Geld zur Verfügung. + +Unsere Ausgaben waren folgende: Gehälter: abzüglich der Mietsbeträge +eine Million siebenhundertachtunddreißigtausend fünfhunderteinundzwanzig +Mark. Hausbau: drei Millionen achthundertsiebenundfünfzigtausend +einhundertachtundsechzig Mark und zweiundvierzig Pfennige. Straßenbau, +Anlage des Bewässerungssystems, Trinkwasserleitung, Hafenanlagen, Erde +haben zusammen zwei Millionen, sechshunderttausend vierhundertachtundneunzig +Mark sieben Pfennige gekostet. Verschiedenes kostete zusammen +zweihundertachttausend neunhundertdreizehn Mark, neunundzwanzig +Pfennige. Unsere gesamten Ausgaben betrugen also: acht Millionen, +vierhundertfünftausend einhundert Mark und achtundsiebzig Pfennige. Wir +schließen diese zweijährige Periode mit einem Defizit von anderthalb +Millionen, siebenundvierzigtausend fünfhundertfünfundzwanzig Mark und +sechsundneunzig Pfennigen ab. + +Hierzu ist zu bemerken, daß wir dieses Defizit ja jeden Tag aus der +Irenenbucht decken können; vielleicht sind wir sogar gezwungen, noch +hundert Schildkröten herauszunehmen, um einen geordneten Zuchtbetrieb +möglich zu machen. Dann, daß wir in diesen zwei Jahren einen großen Teil +der Stadtanlage ausgeführt haben, so daß wir in der Zukunft nur einen +geringen Posten dafür aufzuwenden haben werden. Dann, daß das für den +Hausbau aufgewendete Geld sich mit neun Prozent verzinst. Die jährliche +Miete beträgt zwar zehn Prozent der Baukosten, doch stellen wir ein +Prozent für einen Reparaturfond zurück. Trotz dieses Defizits ist unsere +finanzielle Stellung also sehr günstig.« + +Jakob Silberland setzte sich, und Otto Meyer verließ das Podium. Im +Hinunterschreiten flüsterte er Jakob Silberland zu: + +»Bis an mein Lebensende werde ich nicht begreifen, weshalb ich hier +heraufkrabbeln mußte. Aber wundervoll war es da oben.« + +Jetzt erhielt Edgar Allan das Wort. Er kniff die Lippen zusammen und +blickte über die Köpfe der Versammlung weg. Er sagte: + +»Was ich gemacht habe, kann jeder Mensch sehen; ich hoffe, den hier +vorherrschenden Geschmack getroffen zu haben. Jedenfalls habe ich alles +getan, was in meinen Kräften stand.« + +Jakob Silberland stand auf, gab wieder ein Glockenzeichen und sagte: + +»Wünscht jemand aus der Versammlung das Wort? – Nicht? – Dann können wir +zur Wahl schreiten. Hierzu ist zu bemerken, daß sich bis jetzt die +Notwendigkeit von fünf Ämtern ergeben hat und zwar der folgenden: eines +Vorstehers der Gemeinschaft, eines Schriftführers, eines +Geschäftsführers, eines Architekten und eines Leiters der öffentlichen +Anlagen. Zunächst wäre die Frage zu entscheiden, ob diese Ämter in der +bisherigen Form weiterbestehen sollen. Weiterhin kann ich mitteilen, daß +die bisherigen Inhaber dieser Ämter die bisher geltenden Bestimmungen +zusammengefaßt haben. Ihre Nachfolger hätten dazu Stellung zu nehmen und +ihre eventuellen Änderungsvorschläge der Versammlung zu unterbreiten. +Ich erlaube mir daher, folgende Geschäftsordnung vorzuschlagen: zunächst +erfolgt die Feststellung der Ämter, dann die Wahlen zu ihnen. Die so +gewählten neuen Beamten hätten Stellung zu den bisherigen Gesetzen zu +nehmen und ihre eventuellen Änderungsvorschläge einer späteren +Versammlung zur Beschlußfassung zu unterbreiten. Schlägt jemand eine +andere Geschäftsordnung vor? – Nicht? – Dann schreiten wir zu Punkt +eins: Debatte über die bisherigen Ämter. Wer wünscht das Wort hierzu?« + +Jetzt erhob sich endlich im Hintergrunde ein Mann und sagte grob: + +»Ich meine, daß alles gut war, wie es war, und daß dieselben Herren oben +bleiben sollen, denn die verstehen es doch am besten.« + +Aller Augen hatten sich dem Redner zugewandt, der sich jetzt die Stirn +eifrig mit einem roten Taschentuche rieb. + +Jakob Silberland mußte zweimal läuten, bis das beifällige Gemurmel +verstummte; dann sagte er: + +»Der verehrte Herr Vorredner hat sich gleich zu den zwei ersten Punkten +der Tagesordnung geäußert, und zwar schlägt er Beibehaltung der alten +Ämter und Wiederwahl der bisherigen Beamten vor. Ist die Versammlung +damit einverstanden, daß diese beiden Punkte gemeinsam behandelt +werden?« + +Jetzt kam Leben in die Versammlung, und von allen Seiten ertönten +Beifallsrufe und Zustimmungsäußerungen. Da richtete Jakob Silberland +sich stolz auf und sagte: + +»Die ganz überwiegende Mehrheit wünscht die gemeinsame Behandlung beider +Punkte. Ich stelle also den Vorschlag des Vorredners zur Abstimmung, +die bisherigen Beamten zu ihren bisherigen Ämtern wieder zu wählen.« + +Jetzt wich die Schüchternheit von der Versammlung. Die Beifallsrufe +bekamen einen fast animalischen Charakter. Es wurde geschrieen, +geklatscht und getrampelt. + +Edgar Allan beugte sich zu Paul Seebeck und flüsterte ihm zu: + +»Sehen Sie, wie sie bei dem Gedanken aufleben, wieder unter die Peitsche +zu kommen. Wie ein Alp hat die Vorstellung auf ihnen gelastet, daß sie +frei wären.« + +Paul Seebeck seufzte und schwieg. + +Endlich war es Jakob Silberland gelungen, mit seiner Glocke den Lärm zu +übertönen. Sein Gesicht strahlte vor Freude und Stolz. + +»Ich bitte diejenigen aufzustehen, die gegen den Vorschlag sind«, sagte +er lächelnd. Und ebenfalls heiter lächelnd blieb die Versammlung sitzen. + +Auf einen Wink von Jakob Silberland kamen Paul Seebeck, Edgar Allan, +Otto Meyer und Herr von Rochow wieder auf das Podium. Paul Seebeck +begann mit niedergeschlagenen Augen zu sprechen: + +»Im Namen der anderen Herren danke ich Ihnen für Ihr Vertrauen. Die von +dem Vorsitzenden vorgeschlagene und von Ihnen angenommene +Geschäftsordnung bestimmt als nächsten Punkt die Vorlegung der bis +jetzt bestehenden Gesetze samt unseren Vorschlägen. – Da wir der Lage +der Dinge nach nicht nötig haben, uns mit dem fraglichen Materiale erst +bekannt zu machen, können wir das jetzt gleich erledigen und brauchen +keine spätere Versammlung dazu.« + +Jakob Silberland reichte ihm einige Papiere. Paul Seebeck blätterte +etwas in ihnen und sah dann auf: + +»Ich will mir erlauben, das folgende Exposé vorzulesen, das wir sieben +Gründer gemeinsam ausgearbeitet haben. Ich bitte, Änderungsvorschläge +sofort vorzubringen, damit das, was unwidersprochen bleibt, als +genehmigt angesehen werden kann. Ich möchte mir vorbehalten, in einigen +Vorträgen oder in anderer Form die Gesetze vom rein-menschlichen +Standpunkte aus zu erläutern – hier mögen sie rein praktisch angesehen +werden.« + +Er schwieg einen Augenblick; dann hob er ein Blatt in die Höhe und las: + +»Die Gesetze der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel. – Erstens: Die +Schildkröteninsel ist ein Teil des deutschen Kolonialbesitzes. Der +jeweilige Vorsteher der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel ist in +seiner Eigenschaft als Reichskommissar dem Staatssekretariat der +Kolonien des Deutschen Reiches verantwortlich. + +»Es ist dies nur eine Formsache«, erläuterte er aufblickend, »unter der +selbstverständlichen Voraussetzung, daß der jeweilige Reichskommissar +nichts gegen die Interessen des deutschen Reiches unternimmt, hat er ja +– vom Reiche aus – unbeschränkte Vollmacht. + +Zweitens: Nach einjährigem Aufenthalte erhält jeder Ansiedler und jede +Ansiedlerin über einundzwanzig Jahre volles Bürgerrecht. + +Drittens: Die Versammlung aller Bürger erläßt alle Gesetze, besetzt +Ämter, bestimmt Ausgaben und Einnahmen der Gemeinschaft; sie faßt alle +Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit. + +Viertens: Der Gemeinschaft gehören folgende Dinge, die nie Privatbesitz +werden können: der Grund und Boden mit Gebäuden, Gärten, Straßenanlagen, +Wasser und Mineralien, dazu der Tierbestand der Irenenbucht. Häuser und +Gärten, die dem Privatgebrauche bestimmt sind, werden verpachtet, wobei +die jährliche Pacht zehn Prozent von den Bau- und Anlagekosten beträgt. +Die Instandhaltung erfolgt auf Kosten der Gemeinschaft. Die Pacht ist +unkündbar, solange der Pächter seinen Verpflichtungen nachkommt. + +Fünftens: Alle Beamten und Arbeiter der Gemeinschaft beziehen ein +jährliches Gehalt von fünftausend Mark und werden auf mindestens ein +Jahr angestellt. + +Sechstens: Schule, Krankenpflege, Alters- und +Arbeitsunfähigkeitsunterstützung ist Sache der Gemeinschaft. + +Siebentens: Jeder Bürger hat das unbeschränkbare Recht der freien +Meinungsäußerung. – + +Achtens –« + +Er hielt einen Augenblick inne und sah auf die Versammlung, die sich +ganz still verhielt. Dann legte er die Papiere auf den Tisch und sagte: + +»Heute muß ein Schritt von großer Bedeutung unternommen werden. Bis +jetzt sind wir alle Beamte gewesen; von heute ab ist es weder notwendig, +noch wünschenswert. Wir brauchen vorläufig nur etwa ein Drittel der +bisherigen Arbeitskräfte für den Dienst in der Gemeinschaft; die anderen +zwei Drittel können sich jetzt freie Berufe ergreifen. Diejenigen, die +auf ein weiteres Jahr im Dienste der Gemeinschaft stehen wollen, können +sich später bei unserem Schriftführer, Herrn Otto Meyer, melden.« + +Er sah mit leuchtenden Augen geradeaus: + +»Ich bin kein Freund der Phrase. Aber ich darf wohl sagen, daß der +heutige Tag in der Geschichte der Menschheit unvergeßlich bleiben kann. +Helfen Sie mir dazu.« + +Und die Verhandlungen nahmen ihren Fortgang. + + + + +Am Abend desselben Tages standen die sieben Gründer auf dem Balkon von +Paul Seebecks Haus und sahen auf die Stadt hinunter. Wie leuchtende +Perlenschnüre zogen sich die Reihen der Straßenlaternen durch das samtne +Dunkel und zeigten hier deutlich, dort verschwommen die Silhouetten der +Häuser. Und diese wiederum warfen aus ihren Fenstern einige scharfe und +harte Lichtbündel in die Nacht. + +»Unsere Gründung«, sagte Herr von Rochow und bewegte wie segnend die +Arme, »unser großes Kind, das wir geboren haben, und das so traut und +doch wieder so fremd dort unter uns liegt. Ein eigener, lebendiger +Körper.« + +»Und was sind wir in diesem Körper?« fragte Paul Seebeck, die Arme über +der Brust verschränkt haltend. + +»Doch wohl das Gehirn«, sagte Nechlidow ruhig. + +»Und eben so fremd dem Körper, wie das Gehirn dem menschlichen Körper, +der seine eigenen Wege geht, ohne sich um sein Gehirn zu kümmern«, fügte +Edgar Allan hinzu. + +Melchior griff sich mit der Linken an die Stirn. + +»Der Körper lebt nach eigenen Gesetzen, kümmert sich nicht um das +Gehirn, und die Menschheit ein Körper, ein lebendiger Körper, mit +eigener Seele«, murmelte er. »Da liegt es ja!« schrie er auf. + +Otto Meyer schlug ihn begütigend auf die Schulter: + +»Nehmen Sie die Sache nur mit Ruhe. Sie brauchen die Welträtsel noch +nicht heute abend zu lösen. Lassen Sie sich noch einige Tage Zeit. Die +übrige Menschheit hat ja einige Tausend Jahre über sie nachgedacht, ohne +sie zu lösen.« + +Melchior sah dem Spötter ins Gesicht. Am ganzen Leibe vor Erregung +zitternd, sagte er: + +»Nicht die Welträtsel; aber das Problem des Menschen. Ich sehe jetzt, wo +es liegt, sehe es klarer und klarer.« + + + + +Gabriele, jetzt brauche ich Sie. Helfen Sie mir, die Menschen zur +Freiheit zu erziehen. Sie wollen das Bewußtsein der Freiheit haben, aber +wagen nicht, sie zu gebrauchen. + +Ich glaubte, die Elite der Menschen hier zu versammeln; ich sah die +starken, freien Gesichter, die kühnen, rücksichtslosen Augen – und setzt +man sie zusammen, wärmen sie sich wie eine Herde Schafe aneinander. + +Und wir sieben stehen draußen, unverstanden und unverstehend. + +Kommen Sie, die Mutter, kommen Sie und seien Sie ein Bindeglied zwischen +uns und jenen, zwischen unserem Werke und unseren Gedanken. + + Seebeck. + + + + +Trotz des Regens war Paul Seebeck in seinem Motorboote zur »Prinzessin +Irene« hinausgefahren, um Frau von Zeuthen noch am Deck zu begrüßen. + +Im Rauchsalon des Dampfers erwartete sie ihn mit ihren Kindern. Alle +drei waren schon im Mantel. + +Als sie sich begrüßt und eine halbe Stunde zusammen geplaudert hatten, +sagte Frau von Zeuthen: + +»Ich habe Ihnen wieder einen Menschen mitgebracht. Seien Sie lieb zu +ihm, dann wird er wertvoll für Sie und Ihr Werk sein. – Felix, bitte +Herrn de la Rouvière herzukommen.« + +Felix sprang hinaus. Paul Seebeck erhob sich und blieb erwartungsvoll +stehen. Unwillkürlich zuckte er aber zusammen, als er Herrn de la +Rouvière sah, denn dieser war ein Krüppel. Er war nicht größer wie ein +achtjähriger Knabe und hatte auch das Gesicht eines solchen. Seine Beine +waren dick und kurz, seine Arme und die schwarzbehaarten Hände aber wohl +noch größer, als die eines erwachsenen Mannes. Er blieb bescheiden im +Türrahmen stehen. + +Frau von Zeuthen sagte: + +»Seine Vorfahren hat der Pöbel aus Frankreich vertrieben, und derselbe +Pöbel machte dem Urenkel das Leben in Deutschland unmöglich. Nur hat er +sich andere Waffen gewählt, die aber nicht weniger verletzen. Bei Ihnen +sucht er eine Heimat, Seebeck!« + +Seebeck trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand, die der Krüppel fast +schmerzhaft fest drückte: + +»Seien Sie hier willkommen«, sagte er herzlich und sah ihm gerade ins +Gesicht. Aber sein Lächeln erstarrte, als er in de la Rouvières Augen +blickte. Sie schienen ihm plötzlich einen fast tierischen Ausdruck von +Hunger zu bekommen. Aber im nächsten Augenblicke war dieser Ausdruck +verschwunden, und der Krüppel stand wieder so bescheiden wie vorher da. + +Im Augenblick vermochte Paul Seebeck nicht mehr mit ihm zu sprechen; er +wandte sich daher an Frau von Zeuthen, die zusammen mit ihren Kindern +etwas in den Hintergrund getreten war, und sagte: + +»Darf ich Ihnen ein Amt anbieten, Gabriele? Ich kann doch wohl +voraussetzen, daß Sie sich auch in äußerem Sinne nützlich machen +wollen?« + +Frau von Zeuthen trat lächelnd heran: + +»Ich habe noch nie in meinem Leben ein Amt verwaltet. Vielleicht kann +ich es hier. Wozu wollen Sie mich denn machen?« + +»Zur Archivarin«, sagte Paul Seebeck. »Bis jetzt hat die Sekretärin, die +ich mir habe geben lassen, auch das Archiv verwaltet. Aber die Arbeit +wird ihr zu viel, und außerdem paßt sie nicht recht dazu.« + +Gabriele dachte einen Augenblick nach; dann sagte sie: + +»Ich danke Ihnen und freue mich auf diese Arbeit. Ich kann jetzt nur +unklar sehen, worin sie besteht, und die Dame wird mich erst in die +Einzelheiten einführen müssen. Ich stelle es mir schön vor, im stillen +Zimmer zu sitzen und das unbegreiflich große und bunte Leben durch die +festen Formen zu ahnen, in denen es sich grob und kalt niedergeschlagen +hat.« + +Paul Seebeck nickte ihr zu. Dann wandte er sich an Herrn de la Rouvière: + +»Und wie denken Sie sich Ihre Zukunft hier? Wünschen Sie einen freien +Beruf zu ergreifen, oder denken Sie an ein Amt?« + +»Darf ich meine Zukunft nicht in Ihre Hände legen, Herr Seebeck?« +antwortete der Krüppel und sah ihn treu und gut an. + +»Wenn Sie mir soviel Vertrauen schenken wollen«, erwiderte Paul Seebeck +und sah ihm gerade ins Gesicht. + +»Aber was soll ich machen, Paul?« sagte Hedwig und ergriff +einschmeichelnd seine Hand. + +»Du? Ich glaube, wir werden dich als Kindergärtnerin brauchen können; +unser Erziehungswesen liegt überhaupt recht im argen und muß erst +gründlich organisiert werden«, fügte er, zu Frau von Zeuthen gewandt, +erläuternd hinzu. Dann sah er sich nach Felix um; aber dieser sagte +nichts, starrte ihn aber mit seinen großen, glänzenden Augen unverwandt +an. + +Frau von Zeuthen brach das sekundenlange Schweigen: + +»Wie steht’s aber um die Dienstboten?« + +»Dafür haben wir gesorgt; die jungen Leute zwischen sechzehn und +einundzwanzig sind verpflichtet, sich irgendwie nützlich zu machen. +Unsere jungen Damen sind Dienstmädchen, Krankenpflegerinnen oder +Kinderfräuleins, die Jungen sind Laufburschen oder Hilfsarbeiter. Dafür +bekommen sie etwas Taschengeld. Sie sehen, wir haben auch unsere +allgemeine Wehrpflicht. Dispens wird nur erteilt, wenn Lust und Begabung +zu selbständiger Tätigkeit vorliegt.« + +»Und was machen Sie mit Ihren Verbrechern, Seebeck?« fragte Frau von +Zeuthen wieder. + +»Verbrechen sind noch nicht vorgekommen und werden wohl auch nie +vorkommen. Einige geringfügige Übertretungen haben wir mit Geldstrafen +belegt. – Dagegen haben wir »bürgerliche Rechtsstreitigkeiten«, wie Otto +Meyer sich ausdrückt, in überraschend großer Anzahl, und da standen wir +vor einer Schwierigkeit. Es war eine starke Stimmung vorhanden, ein +Gesetzbuch auszuarbeiten, oder wenigstens einen unserer Juristen als +Richter einzusetzen. Ich wollte natürlich nicht ein starres, eiskaltes +Gesetzbuch in unser flutendes Leben werfen, und ebensowenig einen +unserer, in ihrem Fach trotz allem verknöcherten Juristen anstellen. +Schließlich setzte ich durch, daß die Monatsversammlungen alle +Streitigkeiten durch Beschluß entscheiden.« + +Frau von Zeuthen nickte und schwieg. Dann fragte sie: + +»Wo sollen wir eigentlich wohnen?« + +»Oh, dafür habe ich gesorgt,« antwortete Paul Seebeck schnell. »Ich habe +Ihnen ein fünfzimmriges Haus reservieren lassen; wenn es Ihnen nicht +gefällt, baue ich Ihnen ein anderes. Ich erlaubte mir, die +ordnungsgemäße Reihe etwas zu durchbrechen«, fügte er lächelnd hinzu. + +Frau von Zeuthen drohte scherzend mit dem Finger: + +»Ihr Prinzip haben Sie durchbrochen? Diese Schandtat hätte ich Ihnen +nicht zugetraut.« + +»Durfte ich Ihretwegen nicht eine Ausnahme machen?« gab Paul Seebeck +zurück. + +»Aber was werden die andern dazu sagen?« + +»Die andern? Ach Gott, Gabriele, die Verwaltung bringt es mit sich, daß +wir so viele Dinge selbständig machen müssen – nachträglich wird dann +alles gut geheißen.« + +»Aber doch nicht, wenn Sie die grundlegenden Prinzipien verletzen.« + +»Doch nur den Buchstaben, nicht den Sinn. – Ich scheue mich nicht ein +Prinzip zu verletzen, wenn ich mir dadurch endlose Umwege spare und auf +kürzerem Wege gerade das Ziel, den Sinn jenes Prinzips erfülle.« + +»Aber betreten Sie damit nicht einen gefährlichen Boden? Wäre es nicht +vielleicht doch besser, jene Umwege zu machen?« + +»Nicht so lange ich so genau weiß, was ich will, und so klar mein Ziel +vor Augen sehe. – Und hier liegt die Sache ja so klar: Ihre Mitarbeit +ist für uns alle so ungeheuer wichtig, daß es meine Pflicht ist, Ihnen +so schnell wie möglich volle Arbeitsmöglichkeit zu schaffen. Ob Fischer +Petersen einige Wochen länger in der Baracke leben muß, erscheint mir, +dagegen gehalten, als von geringerer Bedeutung.« + +»Wenn aber Fischer Petersen sein Recht verlangt?« + +»Wenn er es doch täte, Gabriele! Helfen Sie mir, ihn dazu zu erziehen! +Und auch Sie, Herr de la Rouvière, müssen mir dazu helfen.« + + + + +»Fräulein Erhardt«, meldete das Dienstmädchen, und Frau von Zeuthen +erhob sich vom Divan, auf dem sie in halb liegender Stellung ein Buch +gelesen hatte. + +Ein dunkellockiges Mädchen mit schwarzen, träumerischen Augen trat ein. +Sie trug ein loses Reformkleid, das den Hals frei ließ. Unter dem Arme +hatte sie eine schwarze dicke Aktenmappe, die einen ungraziösen +Widerspruch zu der lieblichen Erscheinung des Mädchens darstellte. + +»Gnädige Frau«, sagte sie und sank halb in die Knie. + +Frau von Zeuthen war auf sie zugetreten, hatte sie bei der Hand +ergriffen und fragte erstaunt: + +»Sind Sie wirklich Herrn Seebecks Privatsekretärin?« + +»Gewiß«, antwortete Fräulein Erhardt. »Schon seit drei Monaten.« + +Frau von Zeuthen nahm ihr die Aktenmappe ab und legte diese auf einen +Tisch. Dann bat sie Fräulein Erhardt, im tiefen Ledersessel Platz zu +nehmen, setzte sich selbst auf den Divan und lehnte sich halb zurück. + +»Erzählen Sie«, sagte sie dann. + +»Ich habe nicht viel zu erzählen, gnädige Frau«, sagte Fräulein Erhardt. +»Wie manche andere kam ich mit vielen unklaren Erwartungen und +Hoffnungen hierher. In den ersten Tagen fühlte ich mich recht +unglücklich hier in all der Geschäftigkeit und wußte gar nicht, was ich +selbst beginnen sollte. Da verlangte Herr Seebeck von der Gemeinschaft +eine Privatsekretärin – die anderen Herren hatten schon längst +irgendwelche Hilfe bekommen – und ich meldete mich zu der Stellung. Das +ist alles, gnädige Frau«, sagte sie und strich ihr Kleid glatt. + +»Und wie war es in Ihrer Stellung?« fragte Frau von Zeuthen. + +Über Fräulein Erhardts bleiches Gesicht glitt etwas Farbe. Sie sagte +lebhaft: + +»Es ist wunderschön, mit Herrn Seebeck zusammenzuarbeiten. Nur verlangt +er von den anderen Menschen ebensoviel wie von sich selbst. Und so viel +Wissen und Arbeitskraft hat doch kein anderer Mensch.« + +Die Tür wurde aufgerissen, und naß und zerzaust stürmte Felix herein. + +»Weißt du Mutter, was Paul Herrn de la Rouvière vorgeschlagen hat? Er +soll hier eine Zeitung gründen und außerdem die Protokolle der +Versammlungen führen.« + +»Schön, schön mein Junge«, sagte sie aufstehend. Erst jetzt gewahrte +Felix Fräulein Erhardt, die gleichfalls aufgestanden und etwas +zurückgetreten war. Er wurde glühend rot im Gesicht. + +Frau von Zeuthen legte ihm den Arm um die Schulter und führte ihn +Fräulein Erhardt zu. + +»Mein Sohn Felix«, sagte sie. + +Felix verbeugte sich ungeschickt und reichte Fräulein Erhardt die Hand, +die jene einen Augenblick lang festhielt. + +»Entschuldigen Sie, ich hatte Sie nicht gesehen«, sagte er. + +Fräulein Erhardt schüttelte langsam den Kopf: + +»Das tut nichts«, sagte sie und sah Felix mit ihren großen, schwarzen +Augen an. + +Frau von Zeuthen sah die Beiden aufmerksam an; dann wandte sie sich dem +Tisch zu, auf den sie die Aktenmappe gelegt hatte, und sagte: + +»Willst du etwas bei uns bleiben, mein Junge? Fräulein Erhardt und ich +haben allerlei zu besprechen, was dich wohl auch interessiert. Sie will +mich in meinen neuen Beruf als Reichsarchivarin einführen.« + +»Bleiben Sie doch, Herr von Zeuthen«, sagte Fräulein Erhardt bittend, +und Felix setzte sich bescheiden in eine Ecke. + +Fräulein Erhardt aber öffnete die Aktenmappe und erklärte Frau von +Zeuthen, wie sie das Archiv bisher verwaltet hatte. + + + + +In der nächsten Sitzung der Vorsteherschaft brachte Paul Seebeck auch +die Schulfrage zur Sprache und legte einen Schulplan vor, den er +gemeinsam mit Frau von Zeuthen ausgearbeitet hatte. Die anderen fanden +nur wenig daran auszusetzen, und bald hatte der Plan die Form gefunden, +in der er der Gemeinschaft vorgelegt werden sollte. Als die Arbeit +beendet war, bat Paul Seebeck die anderen Herren, bei ihm zum Abendessen +zu bleiben und teilte gleichzeitig mit, daß er auch Frau von Zeuthen, +Nechlidow und Melchior eingeladen hätte. + +Bei Tisch fragte Frau von Zeuthen nach dem Schicksale des Entwurfs, und +Paul Seebeck machte sie mit den geringfügigen Änderungen bekannt. + +»Es ist doch fast eine Vergewaltigung«, sagte Edgar Allan plötzlich, +»daß man so einem armen Wurme tausend Dinge beibringt, auf die es von +selbst nie verfallen wäre – lauter fertige, geprägte Begriffe, ein +fertiges Weltbild, eine fertige Sprache. Nichts darf sich das Kind +selber bilden, muß alles das gläubig hinnehmen, was die früheren +Generationen ihm vorgekaut haben.« + +»Na, wissen Sie was«, sagte Otto Meyer. »Wollen Sie die Kinder gleich +nach der Geburt in die Wüste schicken, um sich Sprache und Bildung ganz +aus eigener Kraft zu bauen? Ich glaube, Sie würden zu Ihrer Überraschung +einige entzückende Orang-Utans vorfinden.« + +Aber Edgar Allan hatte sich in seinem Gedanken festgebissen und ließ +sich nicht beirren. Sein Mund verzog sich nur ein wenig spöttisch, als +er Melchiors heißes Gesicht sah. Er wandte sich Otto Meyer zu und sagte +ungewöhnlich lebhaft: + +»Doch nicht, Herr Referendar. Die Kinder würden doch eine gewisse +Disposition im Gehirn von ihren kultivierten Eltern mitbekommen haben, +die sie eben doch auf eine etwas höhere Stufe als den Orang-Utan stellen +würde.« + +»Aha!« sagte Otto Meyer. »Da setzen Sie aber die kultivierten Eltern +voraus. Seien Sie jetzt aber etwas radikaler in Ihren Gedanken und +setzen Sie den Fall, daß alle Kinder von Weltbeginn an in die Wüste +geschickt worden wären. Dann hätten sie keine kultivierten Eltern, +mithin hätten die Kinder eben auch nicht jene Kultur-Disposition im +Gehirn, wären also doch reine Orang-Utans.« + +Edgar Allan lehnte sich in seinem Stuhle zurück und legte Messer und +Gabel hin. + +»Sie wollen mich aufs Glatteis führen, Herr Referendar, und sprechen +dabei nur meinen Gedanken aus.« + +Jetzt hielten alle mit dem Essen ein. Ganz leise klirrte es, als die +Eßgeräte auf die Teller und Messerbänke gelegt wurden. Edgar Allan sah +sich im Kreise um und sagte lächelnd: + +»Ich weiß wirklich nicht, ob mein Gedanke eine so ungeteilte +Aufmerksamkeit verdient. Er ist nicht viel mehr als ein logisches +Experiment, doch scheint er mir wert zu sein, zu Ende gedacht zu werden. +– Sehen Sie, meine Herren, und Sie, gnädige Frau, die so liebenswürdig +sind, zuzuhören. Ich meine folgendes: eine gewisse Disposition zur +Weiterentwicklung muß schon im Menschenaffen gelegen haben, der unser +aller Stammvater ist, und zwar schon lange vor der Sprache, mithin vor +Logik, geformten Begriffen und Möglichkeit einer Fortentwicklung anders +als durch die Vererbung jener Kulturdisposition. Die Entwicklung ging +ungeheuer langsam, aber sie schritt fort. Da kommt mit der Sprache ein +ganz neues Element herein, ein völlig unnatürliches: die Erfahrungen +werden nicht nur durch Vererbung jener Kulturdisposition den folgenden +Geschlechtern überliefert, sondern in rein abstrakter Form, sie werden +gesagt, und das Kind lernt sie als etwas zunächst Fremdes, ihm +unnatürlich Hohes. Und so geht das weiter. Mit Hilfe der Sprache +bekommen die Begriffe ein eigenes Leben, eine selbsttätige Existenz, und +immer größer wird die Kluft zwischen dem natürlichen Menschen, der ja +auch immer mit einer, eine Nuance höheren, Kulturdisposition geboren +wird, und dem, zu dem die Sprache mit allen ihren Anhängseln uns macht. +Wenn wir unseren Kindern weder Sprache noch sonst etwas mitgeben würden, +als nur unsere Kulturdisposition, würden sie kurz gesagt harmonische und +glückliche Menschen sein und nicht jenen Zwist zwischen dem eigenen und +dem angelernten Ich in sich tragen, der uns alle verzehrt.« – Nach einer +kurzen Pause fuhr er fort: »Stellen Sie sich einen Eskimo vor, den man +aus Grönland nach Berlin gebracht hat, und der sich dort im Laufe +einiger Monate akklimatisiert hat. Er trägt unsere Kleidung, benimmt +sich korrekt, aber trotz alles angelernten Anstandes, den das Milieu ihm +aufdrängt, in dem er sich gezwungenermaßen befindet, gehen seine +Gedanken und Triebe ganz andere, viel primitivere, brutalere Wege. Er +spielt dauernd Theater. Statt der rauhen Prosa, die ihm natürlich wäre, +muß er unausgesetzt hohe Verse sprechen und diese mit einstudierten +Gesten und Mienen begleiten. Der gute Mann hat im Laufe einiger Monate +oder Jahre eine Entwicklung, die naturgemäß Tausende von Jahren +gebraucht hätte, überspringen müssen, und seine ganze Existenz wird zu +einer einzigen Lüge. Seien wir einmal ehrlich: ist das nicht ganz genau +unsere Lage? – Ich überlasse Ihnen, die Parallele zwischen der +Eingewöhnung des Eskimos in unsere Kultur und unserer Erziehung zu +ziehen.« + +Minutenlanges Schweigen folgte. Dann ergriff Herr von Rochow das Wort: + +»Ich finde Ihren Gedanken wundervoll und unwiderleglich. Und doch, sehe +ich die Sache von einer anderen Seite an, komme ich zu einem ganz +anderen Resultat. Wenn ich mir nämlich einfach den jetzigen Menschen und +seine Sprache vorstelle, würde ich sagen, daß Sprache und Begriffe nicht +mit ihm Schritt gehalten haben, sondern zurückgeblieben sind und +tatsächlich nicht das auszudrücken vermögen, was wir denken und fühlen. +Und doch finde ich Ihre Gedanken unwiderleglich.« + +Er schwieg; Edgar Allan sah sich im Kreise um, als erwartete er weitere +Meinungsäußerungen. Sein Blick blieb an Melchior haften, der ihn mit +aufgerissenen Augen und offenem Munde anstarrte. + +Jakob Silberland räusperte sich und sagte: + +»Wie sonderbar. Vor einigen Jahren, als wir sieben noch ganz allein hier +auf der Insel waren, führten wir ein Gespräch über Staatsformen im +Verhältnis zum Menschen. Und auch dort stießen wir auf denselben +Widerspruch, daß sie sowohl als fortgeschritten, wie auch als +zurückgeblieben in bezug auf den Menschen angesehen werden könnten.« + +»Seltsam, daß derselbe Widerspruch heute in ganz anderem Zusammenhange +wieder auftaucht. Ach, ich entsinne mich deutlich jenes Gespräches«, +sagte Herr von Rochow. + +»Na, das Problem ist doch ganz dasselbe«, sagte Otto Meyer. »Formen, die +die Menschen im Zusammenspiele schaffen, in ihrem Verhältnisse zum +einzelnen Menschen. Apropos »Problem«, Herr Melchior, haben Sie es +gelöst?« + +Aber Melchior hörte ihn nicht. + +Edgar Allan ergriff wieder das Wort: »Ich finde etwas Niederdrückendes +darin, daß die Arbeit des Einzelnen durch diese geistigen Verkehrsmittel +zum Allgemeingut werden. Jeder Idiot schmarotzt an uns, saugt unsere +Gedanken aus, verwässert sie bis zur Karrikatur – siehe die christliche +Kirche im Verhältnis zu ihrem Gründer – und ist dann stolz auf seine +Eigenschaft als Kulturmensch. Ich sehe darin eine Ungerechtigkeit.« + +»Nein«, sagte Jakob Silberland, »Sie irren. Sie gehen von einer längst +abgetanen Weltanschauung aus. Sie vergessen den springenden Punkt: es +gäbe keinen großen Menschen, wenn es nicht ein Milieu gegeben hätte, +das ihn zeugte. Die großen Menschen schulden ihre Existenz der Masse, +und diese wiederum ihnen. Das ist ein ewiges Wechsel- und Zusammenspiel; +eine natürliche Funktion des großen Organismus Menschheit.« + +»Sie haben viel gelernt, verehrter Herr Doktor Silberland,« sagte Edgar +Allan mit leichtem Spotte. »Außer den Begriffsbrillen, die die gütige +Menschheit so liebenswürdig ist, uns in den ersten Jahren unserer +Kindheit auf unsere Nase zu setzen, haben Sie auch noch einige grüne und +blaue und seltsam gestrichelte aus eigener Initiative aufgesetzt. Ich +beneide Sie um Ihr geordnetes Weltbild, bezweifle aber doch, daß es sich +mit der Wirklichkeit deckt. Wenn ich von dem mir Eingeprägten absehe, +wenn ich unbefangen auf die Wirklichkeit sehe – etwas, wozu Sie als +gebildeter Mensch überhaupt nicht mehr imstande sind – sehe ich statt +unserer fiktiven Ordnung in der Welt nur ein ungeheures, rätselhaftes +Chaos. + +Alle unsere Moralbegriffe, Staatsformen, Sprache, Gedanken sind doch nur +ganz schwache, ganz schiefe Reflexe der inneren Entwicklungsgesetze der +Menschheit, die wir nicht kennen und nie kennen werden. Denn diese +kindlichen Abstraktionen haben nicht nur ein eigenes Leben bekommen und +entfernen sich demnach mehr und mehr von den Realitäten, sie werden +auch als primär angesehen, und man soll sich nach ihnen richten. Das ist +nicht das Problem der Menschheit, aber der Wahnsinn der Menschheit. Und +jeder Einzelne von uns hat keine andere Aufgabe, als soviel wie möglich +das Gelernte zu vergessen und in die Tiefen des eigenen Ichs +herabzusteigen, zu seinem eigenen Wesen, und sich dort über seine +Stellung im Chaos zu orientieren. Auf irgend einem, noch so kleinen +Gebiete wird er sich Meister wissen, dort seine Arbeit ausführen und die +übrige Menschheit ihrem Schicksal überlassen. Wenn jeder so dächte, +kämen wir vielleicht wieder in eine gesunde Entwicklung hinein. Wenn wir +auf das forzierte Tempo verzichten, was die Menschheit bis jetzt +angewendet hat, und uns einige millionenmal langsamer entwickeln, wird +vielleicht noch einmal etwas aus den Menschen statt der Schattenwesen, +die wir jetzt darstellen. Was meinen Sie, Seebeck?« + +»Ich finde den Gedankengang sehr interessant. Auch sehr wertvoll. Es +ergeben sich aus ihm aber so viele Perspektiven, daß man Zeit braucht, +um zu ihm Stellung zu nehmen. So im Augenblicke kann ich es nicht. Ich +werde darüber nachdenken.« + +Jetzt sprang Nechlidow mit einer solchen Heftigkeit auf, daß der Stuhl +umfiel, auf dem er gesessen hatte. Er schrie: + +»Es wird ja immer toller; jetzt ist es aber wirklich genug. Ich +wenigstens habe keine Lust mehr, länger an der Komödie mitzuspielen. Wir +kamen hierher, um die großen Menschheitsgedanken zu verwirklichen, die +große, ruhige Linie auszufüllen. Und was geschieht? Hier ein +Kompromißchen und dort ein Kompromißchen; überall Halbheiten, nichts +Ganzes. Alles Wankelmütigkeit und Wunsch nach dem behaglichen, ruhigen +Fahrwasser, nur um Gotteswillen keinen energischen Schritt. Was ist aus +den Idealen geworden, mit denen wir hierherzogen? Phrasen, Worte, +Andeutungen, keine Tat, keine Wirklichkeit. + +Und heute kommt die Krone des Ganzen. Hier im Kreise der Gründer stellt +Herr Allan seine logischen Experimente an, die weiter nichts sind, als +eine Beschimpfung der menschlichen Vernunft, eine Erniedrigung der +Sozietät. Wenn Herr Allan den dummen Orang-Utan wirklich so viel höher +stellt, als den vernünftigen Menschen, mag er zu den Orang-Utans gehen. +Aber statt ihn zurechtzuweisen, hören Sie sein kindisches und frivoles +Geschwätz ernsthaft an, antworten ihm sogar, wollen sich die Sache sogar +noch genauer überlegen. + +Ich aber glaube an die menschliche Vernunft, die vielleicht sogar einmal +in Allans Nachkommen die Sehnsucht zum Affen ertöten und volle Menschen +aus ihnen machen wird. + +Euch gebe ich auf; aber noch nicht die Sache, mit der ihr nur noch +spielt. Ich werde versuchen, ob ich sie noch aus dem Schlamme retten +kann, in dem ihr sie festgefahren habt.« + +Er verließ das Zimmer und schlug die Tür mit Gewalt hinter sich zu. + + + + +Edgar Allan und Felix waren am Ende der Straße an der linken Seite der +Bucht angelangt. Vor ihnen lag die ziemlich steile Felswand, wo es nur +an einigen, und ziemlich weit von einander abliegenden Plätzen möglich +war, Häuser zu bauen. + +Beide trugen, des strömenden Regens wegen, dicke Gummimäntel und hohe +Stiefel. + +»Sehen Sie, Felix«, sagte Edgar Allan stehen bleibend und wandte sein +scharfes Gesicht dem Knaben zu. »Hier ist der gebahnte Weg zu Ende, und +die Steine fangen an. Hinter uns liegt die behagliche Wärme der Masse.« +Die hagere, sehnige Gestalt hoch aufrichtend, sagte er, »ich bin der +Erste, der hier hinaus zieht, aber glauben Sie mir, die andern sechs +werden mir hierher folgen. Auch Nechlidow, obgleich er mich ermorden +könnte, wenn ich es ihm jetzt sagte.« + +Felix sah dem starken und einsamen Manne halb bewundernd und halb +zweifelnd ins Gesicht. Er antwortete nichts. + +Dann stiegen sie weiter, über die Felsblöcke und durch die schäumenden +Regenbäche, und suchten einen Platz für Allans neues Haus. + + + + +In diesem Jahre war die Regenzeit heftiger als je vorher und machte +fast jede Beschäftigung außer dem Hause unmöglich. Es war ein Glück, daß +Edgar Allan bei der Stadtanlage so genau alle Eventualitäten berechnet +hatte; sonst wäre wohl manches der kleinen Gärtchen fortgeschwemmt +worden. + +Paul Seebeck benutzte die Zeit der allgemeinen Untätigkeit zur +Durchführung eines Planes, den er schon lange gehegt hatte. +Allwöchentlich fanden jetzt im Volkshause Vorträge statt, die dann in +der nächsten Nummer der von Herrn de la Rouvière mit Geschick geleiteten +»Inselzeitung« gedruckt wurden. + +Paul Seebeck selbst hatte den ersten Vortrag gehalten; ihm folgte Jakob +Silberland mit einem ganzen Zyklus volkswirtschaftlicher Vorträge, und +nach ihm behandelte Herr von Rochow verschiedene schöngeistige Gebiete. + +Die »Inselzeitung« erwies sich nicht nur als notwendig, sondern auch als +Machtfaktor: der Krüppel hatte der öffentlichen Kritik einen breiten +Raum geschaffen, und mancher sprach lieber hier unter dem Schutze des +Redaktionsgeheimnisses seine Meinung aus, als in den Versammlungen der +Gemeinschaft. Herr de la Rouvière versah die Eingesandts mit +zustimmenden oder abfälligen Glossen, und deshalb galt es, sich mit ihm +gut zu stellen, wenn man einen Erfolg wünschte. Und Herr de la Rouvière +empfing die Besucher an seinem Schreibtische, der so niedrige Beine wie +der eines Knaben hatte, und besprach stundenlang mit dem Besucher dessen +Anliegen, so daß jener mit der Gewißheit davon ging, daß seine Sache in +guten Händen lag. + +Gelegentlich suchte Herr de la Rouvière Frau von Zeuthen auf, und dort +traf er zuweilen um die Teestunde Paul Seebeck, der einige freundliche +Fragen an ihn richtete, die er bescheiden beantwortete, worauf er +gewöhnlich bald fortging. + +Als Frau von Zeuthen und Paul Seebeck so eines Tages allein geblieben +waren, sagte sie: + +»Ist es nicht eine Freude, zu sehen, wie er sich hier entwickelt. Da +haben Sie wieder einem Menschen freie Entfaltungsmöglichkeit gegeben, +einen Nährboden, wo er Wurzeln schlagen kann.« + +Paul Seebeck antwortete nicht; Frau von Zeuthen sah ihn mit ihren +großen, strahlenden Augen an und sagte: + +»Sie stehen so sehr im Tagesbetriebe, müssen sich zu sehr mit +widerwärtigen Kleinigkeiten herumschlagen. Hätten Sie etwas mehr Distanz +– was Sie der Natur der Sache nach im Augenblicke nicht haben können – +würden Sie sehen, wieviel Sie schon erreicht haben. Selbst in Nechlidows +Überspanntheit liegt so viel Größe, die geweckt zu haben Ihr Verdienst +ist.« + +Paul Seebeck war aufgestanden und ging nervös im Zimmer auf und ab. Dann +blieb er vor Frau von Zeuthen stehen: + +»Es gibt Augenblicke«, sagte er, »wo ich meine, daß Nechlidow recht hat. +Wenn ich aber dann an meinem Schreibtische sitze, meine Papiere +heraussuche und mich frage, was ich denn hätte anders machen sollen, +dann finde ich nichts. Es gibt so viele Gegenstände bei der Verwaltung +eines Staates, die einfach in einer ganz bestimmten Weise und nicht +anders erledigt werden müssen, ganz gleichgiltig, ob man konservativ +oder liberal oder sonst etwas ist. Vom grünen Tische sehen manche Dinge +eben ganz anders aus, als in der Praxis, und besonders für den, der die +Verantwortung trägt. + +Ich verstehe jetzt so gut eine Erscheinung, die mich früher so oft +erstaunt hat: wenn in einem parlamentarisch regierten Lande die +bisherige Oppositionspartei ans Ruder kommt und ihre bisherigen Führer +Minister werden, erfolgt fast immer ein Bruch zwischen ihnen und ihrer +eigenen Partei, die ihnen den Verrat an den Parteiprinzipien vorwirft. +Die Sache liegt natürlich einfach so, daß unzählige Dinge – namentlich +in der Verwaltung – mit Prinzipien gar nichts zu tun haben und ihrer +Natur nach erledigt werden müssen. – Ich habe mir schon früher das +gedacht, aber jetzt begreife ich es erst wirklich. + +Hier kann man natürlich keine Grenze ziehen; es ist aber doch ein +Unterschied, ob man überhaupt ein Ziel vor Augen hat, oder, auf ein paar +bequeme Schlagwörter gestützt, alles ruhig fortwursteln läßt. In dieser +Beziehung habe ich ein reines Gewissen.« + +Paul Seebeck blieb stehn; er biß sich auf die Lippen und sagte: + +»Wissen Sie, Gabriele, was ich mir selbst in jenen einsamen Stunden +sage, wo man ehrlich gegen sich selbst ist? Ich will es Ihnen bekennen: +wir schaffen hier nicht die realen Werte, die wir schaffen wollten, und +unser ganzes Werk war vom ersten Augenblick an eine Unmöglichkeit. Das +unendliche Leben läßt sich überhaupt nur in einem Sinne formen, und das +ist in der Kunst, die immer einseitig und beschränkt und deshalb +vollkommen ist. Silberland hat mich einmal einen Künstler genannt, und +ich fühle, daß er recht hat, obwohl ich weder dichte noch male. Aber wie +jeder schaffende Künstler hatte ich ein starres, unvollkommenes +Material, in das ich den rauschenden Strom des Lebens zwängen wollte. +Das waren die staatlichen Begriffe. – Wie hat doch Edgar Allan recht, +und wie Nechlidow! – Aber statt zu sagen: als Künstler gebe ich eine +ganz einseitige Stilisierung des Lebens, aber ich forme nimmermehr das +Leben selbst, sagte ich: hier ist das Leben in seinen natürlichen +Formen. Ich habe die unendliche Mannigfaltigkeit des Lebens unterschätzt +und sehe, daß es an sich weder begreiflich noch faßbar ist, wenn man es +eben nicht als Künstler einseitig stilisiert, und es in seinem Reichtum +vorbeifluten läßt. + +Und sehen Sie, Gabriele, dann sage ich mir: wir schufen hier nicht den +Staat, und er wird nie geschaffen werden, wenn er sich nicht selbst +aufbaut, wir schufen nur eine Fiktion des Staates, lassen die andern ein +Theaterstück aufführen, dessen Autoren und Regisseure wir sind. Aber sie +spielen nur so lange Theater, wie sie in unserem Bannkreise sind, nicht +eine Minute länger! Dann gehen sie nach Hause und führen ein Leben, von +dem wir nichts wissen, und das uns auch nicht interessiert. + +Aber dann, Gabriele, dann sehe ich Menschen wie Silberland, die ohne zu +zweifeln, arbeiten und an die Vollendung glauben. Und dann glaube ich +auch selbst wieder daran, daß aus der Komödie Wahrheit werde.« + +Er setzte sich in den tiefen Ledersessel, stützte das Kinn in die Hand +und sah vor sich in den Raum. Frau von Zeuthen stand auf, trat vor ihn +hin und legte ihre beiden Hände ihm auf die Schultern: + +»Seebeck, ich gab Ihnen meinen Segen zu diesem Werke; ich gebe ihn Ihnen +noch einmal zu seiner Vollendung.« + +Er sank vor ihr nieder und umschlang mit solcher Heftigkeit ihre Knie, +daß die hohe Frau schwankte. Da faßte er ihre Hände und drückte sie an +sein Gesicht: + +»Gabriele«, sagte er, »ich bin so einsam, so fürchterlich einsam. Und +die Nächte sind so lang. Wenn alle die quälenden Gedanken kommen, dann +sehne ich mich nach Ihnen, Gabriele, nach dir, du Hohe, Reine. Komm zu +mir mit deinen kühlen, weißen Händen. Ich bin so fürchterlich allein.« + +Sie hob ihn auf und zog ihn an sich. Er lehnte seinen Kopf an ihre Brust +und schluchzte. + +Langsam führte sie ihn zum Divan. Aber da sank Seebeck aufs neue vor ihr +hin und barg sein Gesicht in ihren Schoß. Der große, starke Mann bebte +am ganzen Körper, sie strich ihm lind über das Haar. + +»Mut, Mut!« flüsterte sie ihm zu. »Ich kann nicht zu dir kommen; jetzt +kann ich nicht zu dir kommen. Du würdest dein Werk vergessen und das +darfst du nicht. Diese Insel ist der Inhalt deines Lebens; ihr mußt du +leben, wenn es nötig ist, mußt – wirst du für sie zu sterben verstehen. +Ihretwegen mußt du das Opfer deines Menschentums bringen.« Sie beugte +sich tief zu ihm hinab und legte ihre kühle Wange an seine heiße: + +»Glaubst du denn nicht, in wieviel schweren Nächten ich mich nach dir +gesehnt habe, du starker, du guter Mann. Aber ich weiß, daß ich dich +deinem Werke entziehen würde, statt es zu fördern. Und das darf nicht +sein. Was ist das Liebesglück zweier armseliger Menschlein im Vergleich +mit deinem Werke! Sei stark,« sagte sie, während sie sich wieder +aufrichtete, »dazu will ich dir helfen. Aber deine Einsamkeit ist dein +größtes Gut, sie gebar die neue Gemeinschaft, sie wird sie zur Höhe +erziehen. Aber du darfst kein armer, schwacher Mensch werden: mehr wie +ein Mensch mußt du sein.« + +Da erhob Paul Seebeck den Kopf aus Frau von Zeuthens Schoß. Seine Augen +wurden groß und starr. Langsam und schwer sprach er die Worte: + +»Und ich schwöre Ihnen, Gabriele, von dieser Stunde an nur meinem Werke +zu leben, und wenn es nötig ist, dafür zu sterben.« + +Er stand schnell auf und trat ans Fenster. Durch den strömenden Regen +blinkten einige Lichter, einige erleuchtete Fenster. Langsam drehte er +sich herum und sah erst jetzt, daß das Zimmer fast dunkel war. Nur im +Umriß sah er Frau von Zeuthen auf dem Divan sitzen. Mit gesenktem Haupte +und schleppenden Schritten trat er auf sie zu, ergriff ihre Hand, die +sie ihm nicht entzog, hielt sie lange in der seinen und zog sie dann +langsam an seine Lippen. + +Da erhob sich Frau von Zeuthen: + +»Geh jetzt«, sagte sie fast hart, »geh zu deiner Arbeit.« + +Er neigte kaum merklich den Kopf und verließ mit schnellen Schritten das +Zimmer. + + + + +Der niederströmende Regen wurde schwächer. Man sah statt des ewig +gleichmäßigen Graus am Himmel wieder Wolken, die langsam und schwer +weiterzogen. Zuweilen blickte sogar ein blaues Stückchen Himmel aus +ihnen hervor. Und endlich, endlich war der Himmel wieder rein, und die +Sonne schien. + +Ein schwerer, warmer Brodem stieg von den Gärten auf und lag wie ein +Dunst von Leben und Fruchtbarkeit über der Stadt. Die Wasserrinnen an +den Abhängen versiegten, in wenigen Tagen waren die Straßen wieder +trocken. + +Da wollte Paul Seebeck Frau von Zeuthens Kindern eine Freude machen und +ließ sich zwei kräftige Pferdchen mit dicken, behaarten Beinen kommen. + +An einem Sonntage machten sich Hedwig und Felix auf, um das Innere der +Insel zu erforschen. In den Satteltaschen hatten sie Essen für sich mit, +und auf den Rücken der Pferdchen hatten sie Heu aufgeschnallt. + +Sie ritten langsam die Hauptstraße hinauf; als sie aber die Plattform +erreichten, auf der das Volkshaus stand, stiegen sie ab, um die Tiere +nicht zu überanstrengen, und führten sie am Zügel die Serpentinen +hinauf. Als sie auf dem Hochplateau standen, sahen sie die Pyramide des +Vulkans riesenhaft und scharf in die Höhe ragen. Ein ganz dünnes +Wölkchen – kaum mehr als ein Schleier – schwebte über seiner Spitze. + +»Da müssen wir hinauf«, sagte Felix und half Hedwig wieder in den +Sattel, »was meinst du?« + +Hedwig gab mit der Peitsche ihrem Pferdchen einen kleinen Schlag: + +»Komm«, rief sie und galoppierte voran. + +Sie waren immer noch auf dem gebahnten Wege, der der Arbeit am +Staubecken wegen angelegt worden war, und nach einer halben Stunde +hatten sie dieses erreicht. Sie sprangen von den Pferden, an denen der +Schweiß herunterrann und setzten sich auf einige Steinblöcke. + +Vor ihnen lag ruhig der See, aber von dem Meere her klang ein donnerndes +Getöse zu ihnen hin. + +»Weißt du, was Allan mir erzählt hat?« fragte Felix. »Er will im See +einen künstlichen Schlammboden machen und Fische hineinsetzen. Er sagte, +das wäre gar nicht so schlimm, er wüßte nur nicht, wie er verhindern +sollte, daß die Fische mit dem Wasserfalle ins Meer gerissen würden. +Aber das findet er sicher auch noch heraus!« + +»Fische? Wie nett. Aber dann soll er auch Vögel hierherbringen.« + +»Daran hat er auch schon gedacht; er will überhaupt alle möglichen Tiere +hier wild aussetzen. Er weiß nur noch nicht welche. Aber er sagte, daß +nach zehn Jahren die Insel alle möglichen Pflanzen und Tiere haben wird. +Ich soll ihm bei der Arbeit helfen. Du, das wird wundervoll!« rief er. + +»Aber wie sollen hier Tiere leben?« fragte Hedwig zweifelnd und sah sich +in der öden Steinwüste um. + +»Das geht schon. Allan sagte, das schwerste wären die Säugetiere. Mit +den Fischen ist es nicht so schlimm, er will Tang massenhaft aus dem +Meere hierherbringen und dann Süßwasserpflanzen hineinstecken. Wenn das +alles richtig in Gang gekommen ist, bringt er Insekten und zuletzt die +Fische. – Und mit den Vögeln, sagt er, wäre die Sache einfacher: einige +Möven brüten ja schon. Man sollte nur an irgend einer Stelle, die so +weit von der Stadt weg ist, daß der Gestank nicht hinkommt, regelmäßig +tote Fische hinlegen, aber furchtbar viele natürlich, und dann würden +die Vögel schon kommen. Aber wie er das mit den Säugetieren machen will, +weiß er noch nicht recht; er sagt, es könnten zunächst nur Tiere sein, +die von Fischen oder Vögeln leben. – Und bei der ganzen Arbeit soll ich +ihm helfen, ist das nicht wundervoll?« rief er. + +Hedwig sah voll Neid ihren Bruder an. Aber dann veränderte sich ihr +Gesicht. Fast furchtsam fragte sie: + +»Du Felix, sag mal, glaubst du, daß alles noch gut geht?« + +»Weshalb soll es denn nicht gut gehen?« + +»Ja, siehst du, ich ging neulich etwas mit Herrn de la Rouvière +spazieren, und da kam Nechlidow, und die beiden sprachen zusammen. +Nechlidow war ganz wütend und sagte immer wieder, daß Paul alles +zerstört hätte. Dann sagte er auch etwas zu mir, was ich nicht +verstand –« + +»Nechlidow ist ein Idiot!« unterbrach sie Felix mit Nachdruck. »Allan +sagt, daß gerade jetzt alles gut gehen wird, seitdem Paul eingesehen +hat, daß er alles allein machen muß und nicht mehr darauf hört, was alle +die da sagen.« + +Aus irgend einem Grunde war es Hedwig peinlich, dies Gespräch +fortzusetzen. Sie sagte, während sie ihrem Pferdchen den dicken Hals +streichelte: + +»Sollen wir nicht jetzt zum Wasserfall reiten? Er ist sicher +wunderschön.« + +Dagegen hatte Felix nichts einzuwenden, und so bestiegen sie ihre Pferde +und ritten dem Staubecken entlang auf das Meer zu. Bald schob sich ein +breiter Steinwall zwischen sie und das Becken und warf einen tiefen und +kühlen Schatten auf sie. Sie trieben ihre Pferde zum Galopp an und +standen plötzlich einige Schritte vor dem steilen Abfall zum Meere. Sie +hörten ein Donnern, Zischen und Brausen, konnten den Wasserfall aber +nicht sehen. Rasch entschlossen sprangen sie von den Pferden, ließen sie +stehen und kletterten an dem Steinwalle empor. Er war höher, als sie +sich ihn vorgestellt hatten, aber endlich standen sie doch oben. Sie +sahen sich um: hinter ihnen streckten sich die drei Vorgebirge ins Meer, +zwischen denen die Stadt und die Irenenbucht eingebettet lagen, und vor +ihnen das große Wasserbecken, das in seiner ganzen Breitseite zum Meere +hinab überfloß. Sie sahen die Wasserfläche in ruhigem Zuge bis zum Rande +gleiten und dort entsetzt, verzweifelt, mit wahnsinnigem Schmerzgeheul +in die Tiefe stürzen, hier auf einem Vorsprung aufprallend, dort an +einer Klippe zerschellend, daß der Riese in tausend und abertausend +glitzernde Tropfen zersprang, die erschrocken versuchten, sich wieder +zusammenzufinden, und sich doch erst wieder im großen Meere trafen, das +weit hinaus mit weißem Schaum bedeckt war. + +Als sie sich satt gesehen hatten, traten sie langsam den Rückweg zu +ihren Pferden an und ritten in scharfem Galopp im Schatten. Erst als der +Steinwall sich wieder abflachte, und sie in den brennenden Sonnenschein +hinauskamen, mäßigten sie ihr Tempo. Sie kamen an die Stelle, wo durch +die große unterirdische Röhre das Wasser zur Stadt abfloß; dumpf dröhnte +es da unter den Hufen der Pferde. Sie ritten weiter am Becken entlang +bis dorthin, wo der Fluß hereintrat und folgten diesem weiter in der +Richtung auf den Vulkan zu. Oft mußten sie den Fluß verlassen, weil +Steinblöcke im Wege lagen, aber sie trafen doch immer wieder auf ihn. +Zuweilen floß er breit und behäbig dahin, zuweilen rauschte er +unheimlich an einer schmalen Stelle, oder teilte sich auch mitunter in +viele Zweige, die sich aber immer wieder bald vereinigten. Hedwig und +Felix kamen über breite Streifen feinen Sandes, in dem die Pferde bis +über die Hufe einsanken. + +Nach mehreren Stunden hielten sie an, sprangen von den Pferden, gaben +ihnen von dem mitgebrachten Heu zu fressen und nahmen ihnen auch die +Sättel ab. Dann hielten sie Umschau: so weit sie sehen konnten, umgab +sie graublau und gelb die Steinwüste, aus der sich nur flache Rücken +emporhoben. Und vor ihnen lag, kaum merklich in seiner Größe gewachsen, +der Vulkan. Und die Sonne brannte heiß auf sie nieder und gab den +Steinen einen blendenden Schimmer, der die Augen schmerzen machte. + +Da setzte sich Hedwig plötzlich auf einen Stein und begann zu +schluchzen: sie konnte die große Einsamkeit nicht ertragen, ihr war es +zu viel des Schweigens. Felix fragte nicht; er verstand sie und fühlte +dieselbe Angst wie sie, aber er beherrschte sich. Doch zitterten seine +Hände, als er die Pferde wieder sattelte; er sagte aber ruhig: + +»Der Vulkan ist ja viel weiter, als ich dachte; wir können heute nicht +mehr hinkommen. Wollen wir nicht wieder nach Hause reiten?« + +Hedwig nickte; sie konnte nicht sprechen. Und so schnell es die Hitze +erlaubte, ritten sie nach Hause, zu den Menschen, zur Stadt. + + + + +Wieder war der Jahrestag der Gründung herangekommen, und die +Gemeinschaft war versammelt. Die Vorsteher hatten Rechenschaft über das +verflossene Jahr abgelegt. Es sollte jetzt zur Neuwahl geschritten +werden. + +»Wünscht jemand das Wort?« fragte Jakob Silberland, der wie immer den +Vorsitz innehatte. »Nicht? Dann –« + +»Ich bitte um das Wort«, rief Nechlidow überlaut und ging auf’s Podium. +Die Versammlung verharrte in eisigem Schweigen. Jakob Silberland sah +überrascht Paul Seebeck an; aber dessen Gesicht war hart und +verschlossen. Auf der Tribüne aber beugte sich ein Mädchenkopf mit +glänzenden, braunen Augen über die Brüstung. + +Nechlidow richtete sich straff auf, verschränkte die Arme über der Brust +und sagte: + +»Es tut mir leid, daß ich die hier übliche gemütliche Handhabung der +Geschäfte ein wenig störe. Hätte ich mich jetzt nicht zum Worte +gemeldet, wäre die Wiederwahl des bisherigen Vorstehers wohl glatt +erfolgt. Ich aber möchte verhindern, daß sie überhaupt erfolgt.« + +Er sah Paul Seebeck an, und dieser erwiderte starr den Blick. Dann ließ +Nechlidow seine Augen wieder über die Versammlung gleiten und fuhr fort: + +»Wenn jetzt nicht ein energischer Schritt getan wird, verläuft die mit +solchem Pathos angelegte Sache kläglich im Sumpf. + +Hier geht zwar alles gut, ich fürchte fast zu gut; niemand hungert und +jeder hat ein Dach über seinem Kopf – aber deswegen kamen wir nicht +hierher. + +Wir kamen hierher, um der Lüge zu entfliehen, die unser gesamtes +Gesellschaftsleben durchzieht und sind jetzt dabei, eine ärgere und +verabscheuungswürdigere Lüge zu stiften. + +Hier kann nur eines helfen: das felsenfeste Vertrauen auf die +menschliche Vernunft und das Abschütteln jener Herren, die den Ursprung +alles Übels in der menschlichen Vernunft sehen. Wir müssen die großen +und klaren Gesetze befolgen, die sich an der menschlichen Vernunft +ergeben und dürfen sie nicht verwischen und im geheimen verspotten, wie +es Herr Seebeck und seine Kreaturen tun. + +Fragen Sie sich: was hat unsere Gemeinschaft neues gebracht als neue +Phrasen? Ist hier wirklich ein neuer Geist? Wer wagt die Frage zu +bejahen! Ist nicht vielmehr das Umgekehrte geschehen, daß einige, +wenige Männer durch Worte und Scheingesetze, die sie nur äußerlich, in +gröbstem Sinne befolgen, gestützt, einfach ihren Launen folgen, tun und +lassen, was ihnen gefällt? Wer wagt die Frage zu verneinen! + +Die Gemütlichkeit und die persönliche Rücksichtnahme – dieses ganze +Spinngewebe von Gefühlsduseleien, das uns zu ersticken droht, muß fort. + +Ich verkenne nicht, daß wir Paul Seebeck großen Dank schulden; aber +unsere Dankbarkeit darf uns nicht hindern, kalt und klar zu sehen. Und +wenn wir das tun, können wir nur eins sagen: Seebecks Zeit ist vorbei. +Er ist ein großer Gründer, aber ein schlechter Ausbauer. + +Ich bitte die Versammlung, nicht Paul Seebeck sondern mich zum Vorsteher +zu wählen; mich treibt kein Ehrgeiz, sondern nur die Liebe zur Sache. +Und ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, daß ich keine Sentimentalitäten +und persönlichen Rücksichten kenne.« + +Mit zusammengekniffenen Lippen verließ Nechlidow das Podium. Jakob +Silberland sah ihm verstört nach. + +In der eisigen Stille dort unten entstand eine ganz leise Bewegung, ein +Rücken auf den Bänken, ein Murmeln, ein Flüstern und zuletzt klang ein +Gewirr von Worten, Namen – + +Edgar Allan hatte mehrmals von der Seite her forschend in Paul Seebecks +Gesicht geblickt und jedesmal hatte er zufrieden gelächelt, wenn er +Seebecks starre Züge sah. + +Jetzt erhob sich im Hintergrunde die schwere Gestalt eines Handwerkers: + +»Wenn wir Herrn Seebeck nicht wieder wählen dürfen, dann doch lieber den +Herrn Rouvière. Den kennen wir, der versteht seine Sache.« + +Edgar Allan drehte sich herum; freundlich lächelnd rief er dem Sprecher +zu: + +»Sie dürfen Seebeck wieder wählen, guter Freund. Sie brauchen nicht +immer das zu tun, was der letzte Redner gesagt hat.« + +Aber seine Worte verloren sich; de la Rouvières Name hatte gezündet; von +allen Seiten erscholl er, gerufen, gebrüllt. + +Kreidebleich im Gesichte stand der Krüppel auf: + +»Ich bitte Sie um Gotteswillen, wählen Sie mich nicht! Das geht nicht.« + +Stille trat ein. Aber eine grobe Stimme zerriß sie: + +»Weshalb denn nicht? So war’s doch ausgemacht.« + +Jetzt hatte Jakob Silberland seine Ruhe wiedergefunden. Er läutete +energisch und sagte: + +»Wer meldet sich zum Worte?« + +Paul Seebeck gab ein leichtes Zeichen mit der Hand und ging auf das +Podium. Ruhig und geschäftsmäßig sagte er: + +»Ich möchte nur einige Worte zur Klärung der Situation sagen. Es sind +als Gegenkandidaten zwei Herren genannt worden, von denen allerdings der +eine die Absicht zu haben scheint, eine eventuelle Wahl nicht +anzunehmen. Bei aller Hochachtung vor den persönlichen Eigenschaften der +beiden Herren und der Überzeugung von der absoluten Lauterkeit ihrer +Absichten, glaube ich nicht, daß einer von ihnen imstande ist, das +verantwortungsvolle Amt eines Vorstehers der Gemeinschaft zu verwalten. +Ich glaube nicht, daß die Herren auch nur eine Ahnung von den +Schwierigkeiten dieser Stellung haben; ihre Wahl würde nicht einen +Fortschritt, sondern den Ruin unserer ganzen jahrelangen Arbeit +bedeuten. + +Nun kann ich Sie allerdings nicht daran hindern, einen der beiden Herren +zu wählen; Sie können mich aber nicht zwingen, dem Gewählten meine +Stellung als Reichskommissar zu übergeben. Die werde ich beibehalten und +werde von den unbeschränkten Vollmachten Gebrauch machen, die sie mir +gibt, sobald ich sehe, daß die Dinge eine Wendung nehmen, die ich für +unrichtig halte. Wenn Sie aber einen Nachfolger wählen, der wirklich +imstande ist, mein Amt zu übernehmen, gehe ich gern.« + +Er verbeugte sich leicht und ging zu seinem Platz zurück. + +»Bravo!« rief Edgar Allan, und dieser Ruf wurde von einem vielstimmigen +»Pfui!« beantwortet. Nechlidow sprang auf und schrie: + +»Das ist die Revolution! Jetzt wissen wir, was wir von dem Manne zu +erwarten haben.« + +Jakob Silberland läutete und läutete, aber erst nach mehreren Minuten +gelang es ihm, den Sturm zu übertönen. Ganz heiser sagte er, während der +Schweiß ihm in zwei Rinnen die Wangen entlang lief: + +»Wünscht jemand noch das Wort? Herr Nechlidow, bitte!« + +Nechlidow sprach von seinem Platze aus: + +»Nachdem der bisherige Vorsteher offen den Bruch der Verfassung erklärt +hat, behalten wir uns alle Schritte vor, wie auch die Abstimmung +ausfallen mag.« + +Unter steigendem Gemurmel wurden die Stimmzettel verteilt und wieder +eingesammelt. Als Otto Meyer Jakob Silberland die Urne überreichte, +trat lautloses Schweigen ein. Einen Zettel nach dem anderen öffnete +Jakob Silberland und rief laut den darauf stehenden Namen. Otto Meyer +notierte die einzelnen Stimmen und zählte sie dann zusammen. Dann +verkündete Jakob Silberland das Resultat: + +»Die Stimmen verteilen sich wie folgt: + +Herr Seebeck zweihundertdreiundachtzig Stimmen; + +Herr Nechlidow zweihundertsiebenunddreißig Stimmen; + +Herr de la Rouvière einhundertachtundsiebzig Stimmen. + +Elf Zettel sind blank. + +Demnach ist Herr Seebeck ordnungsgemäß zum Vorsteher der Gemeinschaft +wiedergewählt worden.« + +»Aber von einer Minorität!« brüllte Nechlidow. »Ich verlange Stichwahl +zwischen ihm und mir.« + +»Herr Seebeck ist verfassungsgemäß gewählt worden«, donnerte Jakob +Silberland ihm entgegen. + +Jetzt erhob sich ein so unbeschreiblicher Lärm, daß Jakob Silberland +nicht mehr Ruhe stiften konnte. Er setzte deshalb seinen Hut auf und +deutete damit an, daß die Sitzung unterbrochen sei. Als auch das noch +keinen Eindruck machte, verließ er mit seinen Freunden den Saal, gefolgt +von der Mehrzahl der Versammelten. Zurückblickend sah er, daß Nechlidow +auf dem Podium stand und eifrig auf die Zurückgebliebenen einredete. + + + + +Frau von Zeuthen stand in einem ausgeschnittenen schwarzen +Schleppkleide hochaufgerichtet vor dem Krüppel, der die langen Arme mit +den schwarzbehaarten Händen demütig hängen ließ: + +»Sagen Sie mir, Herr de la Rouvière, was hatte das zu bedeuten, daß man +Sie als Seebecks Nachfolger vorschlug?« + +»Gnädige Frau, es ist mir selbst vollständig unerklärlich. Ich habe +nicht die geringste Veranlassung dazu gegeben. Wie sollte ich auch nur +auf den Gedanken kommen!« + +»Aber Herr de la Rouvière, wenn Sie, trotz Ihrer Erklärung, mehrere +hundert Stimmen erhielten, so zeigt das, daß viele Sie für den +designierten Nachfolger Seebecks hielten und Ihre Erklärung nur für ein +Scheinmanöver ansahen. Wir stehen da vor einem System von Intriguen, an +dem das Mißtrauen, das Nechlidow aussät, nur zum Teil Schuld haben kann. +Sie müssen doch mindestens eine Vermutung haben, wie dieser seltsame +Mißgriff geschehen konnte.« + +Sie sah mit großen, braunen Augen ernst auf ihn nieder, und unter diesem +Blicke wurde der Krüppel gleichsam noch kleiner: + +»Gnädige Frau«, stieß er hervor. »Ich habe nicht gegen Herrn Seebeck +intriguiert; im Gegenteil, ich habe den geringen Einfluß, den meine +Stellung mir gab, nur dazu benutzt, die keimende Unzufriedenheit zu +beruhigen und in vernünftige und sachliche Bahnen zu leiten. Und die +Resultate meiner Tätigkeit liegen ja offen zutage.« Er wies auf eine +Nummer der »Inselzeitung«, die sich auf dem Tische befand. + +Frau von Zeuthen schüttelte den Kopf: + +»Diese Erklärung genügt mir nicht; sie verschleiert nur. Ich will mehr +wissen.« + +Herr de la Rouvière trat einen Schritt zurück und hob gleichzeitig die +langen Arme: + +»Gnädige Frau, Sie, die hoch oben stehen, wo wir niemals hinkommen +können – können Sie nicht verstehen, daß wir uns nach der Höhe sehnen?« + +Frau von Zeuthen setzte sich auf den Divan; ein Schleier legte sich über +ihre Augen, aber sie sagte nichts. Herr de la Rouvière trat etwas näher +und hielt sich an einer Stuhllehne fest. + +»Verspottet oder bemitleidet habe ich mein Leben verbracht; niemand +wollte mich als vollen Menschen anerkennen. Dann brachten Sie mich +hierher, und hier fand ich zum ersten Male in meinem Leben ein +Arbeitsfeld. Ich wurde ein Mensch unter Menschen. Ich dachte an Sie und +wollte Ihnen Ehre machen, wollte Sie, die Unerreichbare, erreichen.« + +Frau von Zeuthen senkte den Kopf; ihr Blick ruhte unbeweglich auf ihren +beiden weißen Händen. + +»Die Menschen kamen zu mir, und ich kam ihnen entgegen. Viele haben mich +um Rat gefragt, und ich habe ihnen nach bestem Gewissen geantwortet. Ich +genoß Vertrauen, aber ich habe es nicht mißbraucht. Ich wollte nur +helfen, dem Einzelnen und der Gemeinschaft helfen. Die anderen aber +haben mich mißverstanden; sie glaubten, ich wollte sie beherrschen. Und +das wurde mir erst gestern klar.« + +Frau von Zeuthen erhob sich: + +»Ich kann Ihnen heute nicht antworten«, sagte sie, »ich muß Sie bitten, +mich jetzt allein zu lassen.« + +Er ließ den Stuhl los, an dem er sich festgeklammert hatte und trat +dicht an sie heran: + +»Schicken Sie mich nicht so fort! Sagen Sie, daß Sie mich verstanden +haben!« + +»Ich glaube Sie zu verstehen«, sagte sie langsam, aber sie nahm nicht +die Hand, die er nach ihr ausstreckte. »Aber gehen Sie jetzt; ich muß +allein sein.« + +Und Herr de la Rouvière ging. + + + + +Felix schämte sich doch, seine damalige Forschungsreise so kurz +abgebrochen zu haben, und ohne die geringsten Entdeckungen zurückgekehrt +zu sein. Obgleich er den größten Teil der Schuld seiner Schwester +zuschob, konnte er sich doch nicht vergeben, nicht mehr Standhaftigkeit +gezeigt zu haben. Andererseits sagte er sich auch, daß sie viel zu +planlos losgezogen seien, so unvorbereitet, daß sie nicht einmal die +Entfernung des Vulkans gekannt hatten. + +Jetzt saß er fast jeden Nachmittag bei Paul Seebeck und studierte dessen +Karten und Pläne, von denen fast alle – bis auf diejenigen, die die +nächste Umgebung und die künstlichen Anlagen betrafen – noch aus der +Zeit stammten, wo Paul Seebeck ganz allein auf der Insel geweilt hatte. + +Paul Seebeck gab ihm alle Hilfsmittel, über die er verfügte, darunter +auch mehrere Lehrbücher der Geologie und der verwandten Wissenschaften, +und unterstützte ihn auch soweit mit Erklärungen, wie seine knappe Zeit +es erlaubte. Fast immer freilich verliefen diese Nachmittage so, daß +Paul Seebeck, mit der Zigarre in der Hand im Zimmer auf- und abgehend, +Fräulein Erhardt Briefe diktierte, die diese stenographierte, um sie +dann später auf der Schreibmaschine zu übertragen, während Felix, über +sein Material gebeugt, still in einer Ecke saß. War Paul Seebeck mit dem +Diktate fertig, ging er zu Felix, machte ihn auf einige besondere Dinge +aufmerksam oder löste dem Knaben Zweifel, soweit er dazu imstande war, +und verließ dann das Zimmer. Gewöhnlich packte Felix dann bald seine +Sachen zusammen und ging nach Hause, denn es war ihm unangenehm, mit +Fräulein Erhardt allein zu sein. + +Aber als er wieder einmal mit einem kurzen Abschiedswort fortgehen +wollte, drehte Fräulein Erhardt sich auf ihrem Rundsessel herum und +fragte ihn: + +»Sind Sie jetzt bald mit Ihren Plänen fertig, Herr von Zeuthen? Wann +ziehen Sie los?« + +Felix besann sich einen Augenblick, dann sagte er: + +»Eigentlich bin ich schon fertig. Ich will nur warten, bis es etwas +kühler geworden ist. Aber das wird es wohl schon in den allernächsten +Tagen werden.« + +Fräulein Erhardt faltete die Hände über den Knieen und beugte sich nach +vorn; sie fragte: + +»Darf ich Sie auf Ihrer Reise begleiten, Herr von Zeuthen?« + +Felix sah sie überrascht an: + +»Ja, wenn es Ihnen Freude macht, natürlich. Aber sie wird wenigstens +eine Woche dauern.« + +Fräulein Erhardt stand auf und reichte ihm die Hand: + +»Ich danke Ihnen.« + +Felix war etwas verwirrt, und um seine Ratlosigkeit zu verdecken, küßte +er Fräulein Erhardts Hand. Sie ließ die ihre einen Augenblick in der +seinen ruhen. Dann trat er an den Tisch zurück und suchte eine von +Seebecks ersten Kartenskizzen heraus. + +»Sehen Sie«, sagte er, »bis an den Fuß des Vulkans geht die Hochebene. +Die kenne ich jetzt, und da ist nichts zu holen. Steinplatten, Geröll +und zuweilen Sandstrecken. Und dasselbe sagt Paul; er ist da überall +gewesen und hat nichts gefunden. Ich kann mir auch nicht denken, daß da +irgend etwas sein sollte. Aber dort am Fuße des Vulkans, hier, wo Paul +die Striche gemacht hat, sagt er, wäre eine Masse von Schluchten. Er ist +nicht weiter gekommen, weil er keine Zeit hatte. Dort ist der Boden auch +zuweilen so heiß gewesen, daß er ihn nicht betreten konnte. Da müßten +wir also hin. Ich dachte, an einem Tage direkt bis zu den Schluchten zu +reiten – Sie können doch reiten, Fräulein Erhardt?« + +»Ja, aber ich habe kein Pferd.« + +»Das tut nichts, Sie können das von Hedwig nehmen. – Ja, und dann +müssen wir sehen, was wir da oben finden. Natürlich müssen wir auch auf +den Vulkan steigen.« + +»Ich werde Herrn Seebeck bitten, mir jetzt meinen Urlaub zu geben«, +sagte Fräulein Erhardt. »Ich freue mich sehr auf die Reise, Herr von +Zeuthen.« + +Felix verbeugte sich etwas ungeschickt und ging. + +Schon in den nächsten Tagen nahm die Hitze ab; kühle Winde strichen über +die Insel und führten leichte, graue Wolkenzüge mit; ja, gelegentlich +fielen sogar einige Regentropfen. Jetzt, zwischen Sommerhitze und +Regenperiode, war die geeignete Zeit für einen längeren Ausflug +gekommen. + +Am Tage vor ihrem Aufbruch hatte sich Paul Seebeck mehrere Stunden von +seiner Arbeit frei gemacht und half den beiden bei ihren Vorbereitungen. +Er sorgte dafür, daß sie Proviant für vierzehn Tage, und auch sonst +alles Notwendige, doch nichts Überflüssiges mit hatten. Was die Pferde +anging, riet Seebeck, sie nach der Ankunft einfach loszulassen; sie +würden dann ohne weiteres nach Hause laufen. Felix und Fräulein Erhardt +müßten dann allerdings zu Fuß heimkehren. Auf dem Hinwege brauchten sie +aber unbedingt die Pferde, des Transportes ihrer Sachen wegen. + +Noch vor der Morgendämmerung brachen sie auf, und gerade, als sie das +Volkshaus erreichten, hob sich die Sonne über den Horizont. Der Nachttau +verschwand bald von den Steinen, aber trotz des wolkenlosen Himmels +wurde es nicht heiß. Die Spitze des Vulkans lag vollkommen frei von +Wolken und Schleiern vor ihnen. + +Sie ritten in langsamem Trabe an dem Staubecken vorbei und kamen auch zu +der Stelle, wo sich Felix und Hedwig damals zur Umkehr entschlossen +hatten. Erst zur Mittagsstunde stiegen sie von den Pferden. Felix +öffnete einige Konservenbüchsen und bot Fräulein Erhardt vom Inhalte an. +Als sie gegessen hatten, warf er sich auf den Boden, zog eine seiner +Kartenskizzen hervor und bemühte sich, sich über ihren gegenwärtigen +Standort zu orientieren. Fräulein Erhardt saß inzwischen auf einem Stein +und schaute abwechselnd auf ihren Reisegenossen und auf die starre +Steinwüste. Nach zweistündiger Rast brachen sie wieder auf. Sie hielten +streng die Richtung auf den Vulkan ein, mußten aber immer größere Umwege +machen, um tiefe Spalten im Boden zu umreiten. Das Gelände wurde auch +immer welliger, und gleichzeitig trat mehr und mehr Geröll und Grus auf. +Das Geräusch vom Flusse her war vollkommen verstummt, aber immer höher +und breiter reckte sich der Vulkan. Aus dem regelmäßigen Kegel lösten +sich immer größere Vorsprünge heraus, und tiefe Einschnitte zeigten sich +an seinen Wänden. + +Auch das ganze Bild der Gegend hatte sich verändert. Es gab keine Ebene +mehr, aus der sich plötzlich scharf umgrenzt der Vulkan erhob. Ebene und +Vulkan kamen einander entgegen, verwischten in ihrer zunehmenden +Zerklüftung ihre Gegensätze und verschmolzen zuletzt zu einem wilden +Körper. + +Fräulein Erhardt und Felix ritten an hohen Felsblöcken vorbei, mußten +oft im Zickzackwege an steilen Geröllhalden hinab- und hinaufreiten. Das +Traben war unmöglich geworden, und im mühsamen Schreiten wiegten die +kleinen, starken Pferdchen rhythmisch die Köpfe. + +Die Spitze des Vulkans war zurückgetreten und zuletzt ganz hinter einer +hohen Felswand versunken. Und hier hielten die beiden an, um im Schutze +der Felswand die Nacht zu verbringen. Sie nahmen das Gepäck von den +Pferden, gaben ihnen den letzten Rest des mitgebrachten Heus zu fressen, +nahmen ihnen dann das Zaumzeug ab und banden es an den Sätteln fest. Die +klugen Tierchen blieben erst schnuppernd stehen, gingen einige Schritte +heimwärts und wandten dann wieder die Köpfe nach Felix zurück. Da dieser +aber keine Miene machte, sie zurückzuhalten, setzten sie sich in +langsamen Trott und waren bald hinter den Felsen verschwunden. + +Während Fräulein Erhardt und Felix fast schweigend ihr Abendessen +einnahmen, wurden die Schatten unheimlich lang und kalt, krochen an den +Felswänden empor, hier und da leuchtete noch eine Spitze, ein +Vorsprung – + +Wenige Minuten später war es dunkel, und sofort legte sich ein schwerer +Tau auf Gesicht und Kleider. + +Felix zündete eine kleine Lampe an und ordnete in ihrem schwachen +Lichtscheine die mitgebrachten Sachen. Er rollte die Schlafsäcke auf und +stellte die Konserven in eine kleine Spalte, die er – um sie vor den +Sonnenstrahlen zu schützen – noch mit einem flachen Steine zudeckte. +Dann kroch er in seinen Schlafsack, gähnte, wünschte Fräulein Erhardt +eine gute Nacht und schlief fest ein. Fräulein Erhardt aber blieb noch +lange auf ihrem Steinblock sitzen; zuweilen bewegte sie fröstelnd die +Schultern. Zuletzt ging sie vorsichtig zu Felix, kniete neben den +Schläfer hin, beugte ihr bleiches Gesicht über ihn und küßte ihn leise +auf die Stirn. Felix rührte sich nicht. Da ging Fräulein Erhardt +gesenkten Hauptes zurück und legte sich endlich zur Ruhe. + +Als sie am Morgen aufwachte, war Felix fort. Sie sprang schnell auf und +brachte ihre zerdrückten Kleider, so gut es sich machen ließ, in +Ordnung. Felix kam erst nach einer Stunde. Er war beim Flusse gewesen +und hatte Wasser geholt. Er setzte das Wasser über den Spirituskocher +und sagte: + +»Wissen Sie, was ich herausgefunden habe, Fräulein Erhardt? Wir sind vom +Wege ein tüchtiges Stück nach links abgekommen. Die Spalten, von denen +Paul mir erzählt hat, habe ich sehn können, wie ich zum Fluß ging. Hier +ist sicher überhaupt noch nie ein Mensch gewesen. Am liebsten möchte ich +die Spalten in Frieden lassen und noch weiter nach links, also nach +Süden, gehn.« + +Er stürzte in großer Hast seinen Tee hinunter und ging dann zum nächsten +Hügel, wo er eine mächtige Steinpyramide errichtete. + +»So, jetzt können wir unsere Sachen immer wieder finden«, sagte er. +»Sind Sie fertig?« + +Fräulein Erhardt war fertig und bereit, ihm zu folgen. + +Sie gingen an der Felswand entlang und kamen nach einer halben Stunde an +eine Geröllhalde. Hier stiegen sie höher hinauf, bis sie an einen Absatz +kamen, von dem aus sie Umschau halten wollten. Aber sie konnten nicht +weit sehen; hätten sie nicht gewußt, daß sie sich am Abhange des Vulkans +befanden, der sich hoch über die Ebene reckte – hier hätten sie es nicht +feststellen können, denn an allen Seiten sahen sie nur ein Gewirr von +Felsen und Schutthügeln, das jede Aussicht versperrte. Nur an einem +einzigen Punkte, gerade zwischen zwei Basaltfelsen, konnten sie die +Ebene und sogar ein Streifchen des hellschimmernden Meeres sehn. + +Sie gingen weiter; Felix immer zwanzig Schritte voraus. Das Gefälle war +jetzt viel geringer, und das Geröll wurde oft durch Strecken von +graublauem Sande und Lehm unterbrochen, aus dem oft kleine Quellen +entsprangen, die aber alle bald wieder im Gerölle verschwanden. +Plötzlich schrie Felix leicht auf: er war mit dem einen Bein bis zum +Knie in ein Schlammloch gesunken. Fräulein Erhardt eilte erbleichend zu +ihm, aber er hatte sich schon wieder beruhigt und zeigte ihr lachend das +schmutzige Bein und das Loch, in dem sich jetzt gurgelnd trübes Wasser +ansammelte. Aber Felix war durch den Vorfall vorsichtiger geworden; er +umging die immer häufiger auftretenden feuchten, dunklen Strecken, bis +sie endlich wieder auf festen Basaltgrund kamen. Hier sah Felix auf die +Uhr: sie waren schon drei Stunden ununterbrochen gestiegen. Dann setzte +er sich auf einen Stein, um Fräulein Erhardt zu erwarten, nahm sich +einen Stein und kratzte den Schmutz vom Strumpf und Stiefel. +Naserümpfend warf er den Stein fort, denn das Zeug hatte einen widrigen, +fauligen Geruch. + +Als Fräulein Erhardt neben ihm stand, reichte er ihr eine Tafel +Schokolade und rückte gleichzeitig etwas auf seinem Steine zur Seite, um +auch ihr Platz zu machen. Aber sie bemerkte es nicht; nachdenklich +knabberte sie an der Schokolade und blickte dabei vor sich auf den +Boden. + +Etwas gelangweilt und mißvergnügt sah Felix sie an; aber dann wurden +seine Züge plötzlich weich, und er wandte sich ab. + +»Sehen Sie doch, wie schön es hier ist«, sagte er und streckte die Hand +aus. + +Fräulein Erhardt sah erst ihn mit ihren großen, schwarzen Augen an, dann +drehte sie sich ganz langsam umher. Jetzt waren die Felsen, die ihnen +vorher den Blick versperrt hatten, tief unten versunken. Sie hoben sich +kaum merkbar über die Ebene, die breit und flach dort unten lag. Ein +schmales Silberband – der Fluß – zog sich in Windungen hindurch; dort +lag ein kleiner hell spiegelnder Fleck – das Staubecken, und hinten, +weit hinten, das Meer – + +Fräulein Erhardt hatte die Hand auf Felix’ Schulter gelegt, und er +empfand wohlig den leichten Druck. Aber dann merkte er ihre Wärme durch +seine Kleider dringen, und das verursachte ihm ein unbehagliches Gefühl. +Er stand auf: + +»Wir haben keine Zeit, Fräulein Erhardt, wenn wir heute noch hinauf +wollen«, sagte er. + +»Dann lassen Sie uns weitergehn«, antwortete sie einfach und schlug die +Augen nieder. + +Sie stiegen weiter. Plötzlich blieb Felix stehen. + +»Riechen Sie nichts, Fräulein Erhardt?« fragte er. + +Sie sog die Luft ein: + +»Ja, das ist doch Meergeruch!« sagte sie erstaunt. + +Felix schüttelte den Kopf: + +»Ich finde es auch. Aber das ist doch ganz unmöglich. Wir sind doch ganz +weit vom Meere, und außerdem so hoch –« + +Aber je höher sie kamen, um so stärker wurde der unverkennbare +Tanggeruch. Außerdem waren immer wieder große, feuchte Lehmflecke +zwischen den Felsen. Um sie zu umgehn, mußten sie mehrmals an den +zackigen Felsen emporklettern. + +Auf einmal lag wieder die Spitze des Vulkans in ihrer bekannten Form vor +ihnen, nur daß sie jetzt in der Nähe scharf und zackig aussah. Aber +zwischen dem Vulkane und ihnen lag in einem langen und breiten Becken +grünlich und fett schimmernd ein großer See. Jetzt nach dem heißen +Sommer war der Wasserspiegel weit zurückgetreten, und die lehmigen Ufer +waren mit ungeheuren Massen von Tang und vertrockneten Algen bedeckt. + +Skelette von Fischen lagen zu Tausenden herum, ebenso die Reste von +großen Seesternen und Krebsen. + +Jetzt kam ein Windhauch und trieb Fräulein Erhardt und Felix den Gestank +ins Gesicht. Trotzdem machte sich Felix an den Abstieg, während Fräulein +Erhardt oben blieb. Sie sah ihm nach, wie er von Stein zu Stein +hinuntersprang und dann unten am Rande des Wassers entlang ging. Nach +einer Weile kam er, hochrot im Gesicht, den Abhang wieder +hinaufgestürmt. + +»Wissen Sie was, Fräulein Erhardt?« rief er, noch ganz atemlos. »Im +Wasser wimmelt es von Fischen und Krebsen! Es sieht genau so aus, wie in +der Irenenbucht.« + +Sie gingen einige Schritte zurück, so daß sie der Geruch nicht mehr so +belästigte. Dann fragte Fräulein Erhardt: + +»Wie wollen Sie diese sonderbare Erscheinung erklären, Herr von +Zeuthen?« + +Felix dachte nach. + +»Paul glaubt ja, daß die ganze Insel in etwas anderer Form schon früher +da war, untersank und dann jetzt bei der Bildung des großen Vulkans +wieder aufstieg. Es wäre ja möglich, daß wir hier den früheren Krater +vor uns haben, in dem sich unter dem Meere alle die Tiere und Pflanzen +angesiedelt haben. Wie die Insel aufstieg, hat sich diese ganze +abflußlose Schüssel mit ihrem ganzen Inhalte mit gehoben und bildet +jetzt tausend Meter über dem Meere einen Salzsee. Das muß ich Allan +erzählen, der wird gleich etwas großartiges daraus machen.« Und Felix +begann gleich Fräulein Erhardt großzügige Pläne zu entwickeln, wie man +durch eine regulierte Wasserzufuhr verhindern könnte, daß der Spiegel +sich in der Trockenheit senkte. Die konstante Höhe des Wassers wäre die +erste Grundlage für weitere Arbeiten. Dann müßte man Fische +hineinbringen, die sowohl im Meere wie in Flüssen leben könnten und die +sich dann dem langsamen, aber unvermeidlichen, allmählichen Salzverluste +des Wassers anpassen würden. Und ebensolche Pflanzen. Dann Vögel +herlocken, den überflüssigen Tang als Dünger für Anlagen verwenden – oh, +es würde schon alles gehn; Allan würde hier mitten in der Steinwüste ein +Paradies schaffen. + +Sie gingen weiter, des Geruches wegen immer so, daß ein Wall zwischen +ihnen und dem See lag. Zuweilen konnten sie es sich doch nicht versagen, +die paar Schritte hinaufzulaufen, um sich das Wasser wieder anzusehen, +das sich mehr und mehr zur Seite schob. Gleichzeitig versank die Spitze +des Vulkans wieder hinter vorspringenden Felsen. Nun konnten Fräulein +Erhardt und Felix wieder höher steigen, aber nur schräg aufwärts, so daß +sie immer mehr nach rechts gerieten. Jetzt befanden sie sich ungefähr +über ihrem Schlafplatze, eine halbe Stunde über der Quelle des Flusses +und dann über jenem Gewirre von Schluchten und Rissen. Der See war +vollkommen verschwunden. + +Plötzlich hielt Felix an; er faßte erregt Fräulein Erhardts Hand: + +»Sehn Sie dort unten, was ist jetzt das?« + +Fräulein Erhardt sah hin: in etwas geringerer Höhe, als in der, wo sie +standen, lagen rötlich-gelbe Erdwellen, aus denen Dampf entstieg, hier +als verteilter Dunst, dort in kleinen, festen Strahlen. + +»Wollen Sie hingehn?« fragte Fräulein Erhardt. + +»Natürlich, da müssen wir hin.« + +»Aber dann kommen wir heute nicht mehr auf den Vulkan.« + +»Dann gehn wir morgen hin. Wir haben ja Zeit. Aber das da muß ich +untersuchen.« + +Und er ging so schnell, lief lange Strecken, daß Fräulein Erhardt ihm +nicht zu folgen vermochte. Als sie erst die halbe Strecke zurückgelegt +hatte, kam ihr Felix schon wieder entgegen. + +»Sehen Sie, was ich hier habe!« rief er und zeigte ihr einige +grobkörnige, gelbliche Steinbrocken. + +»Ist das nicht Schwefel?« fragte sie erstaunt. + +»Ja, alle die gelben Hügel da unten bestehen aus Schwefelbrei und Lehm. +Man muß vorsichtig sein, daß man da nicht versinkt. Und überall sind +heiße Quellen, die entsetzlich nach Schwefelwasserstoff riechen. Gott, +wie schön ist das alles.« + +Fräulein Erhardt sah erst dem Knaben in das heiße, strahlende Gesicht +und wandte sich dann langsam ab. Sie ließ den Blick über die weite Ebene +schweifen, die, vom vielfach gewundenen Flusse durchzogen, dort unter +ihnen lag. Sie folgte mit dem Auge der großen Linie des Horizontes, wo +Meer und lichtblauer Himmel sich trafen, sie sah auf die starren +Steinblöcke um sich, sah die Spitze des Vulkans in die Höhe ragen – + +»Ist es nicht prachtvoll, daß es hier so etwas gibt?« sagte Felix +ungeduldig und etwas ärgerlich. + +Mit einem gütigen Lächeln wandte sie sich ihm zu. + +»Gewiß ist das schön«, sagte sie. »Glauben Sie, daß es eine praktische +Bedeutung hat?« + +Felix wurde eifrig. Natürlich müßte man hier Schwefelminen anlegen – + +Ob es ihm nicht leid täte, die Unberührtheit der Natur zu zerstören? Oh, +Allan würde es so machen, daß es eine Verschönerung, eine Funktion der +Natur würde, eine natürliche Fortentwicklung, wie das Wachsen des Mooses +auf den Felsen. + +»Allan und immer wieder Allan!« dachte Fräulein Erhardt und sah zu +Boden. »Hat er denn keinen Gedanken mehr für andere Menschen übrig?« + +»Was machen wir jetzt?« sagte Felix. »Auf die Spitze können wir nicht +mehr kommen. Es ist ja schon vier Uhr. Wir können noch gerade vor der +Dunkelheit unten sein. Dann haben wir aber morgen wieder dieselbe +Geschichte. Ich glaube, es wäre am vernünftigsten, einfach hier zu +übernachten. Ich habe noch drei große Konservenbüchsen mit Fleisch und +eine ganze Masse Schokolade in meinem Rucksack. Damit können wir, wenn +wir etwas sparen, gut noch zwei Tage auskommen. + +Sobald wir dann wieder unten sind, können wir uns wieder satt essen. Was +meinen Sie dazu?« + +Fräulein Erhardt sah sich um und suchte sich vorzustellen, wie man hier +auf den nackten Steinen schlafen sollte. + +»Ja«, sagte sie etwas zögernd. + +»Gut, dann steigen wir jetzt noch so hoch wir können. Vielleicht können +wir dann schon morgen Abend wieder unten sein.« + +Sie stiegen noch zwei Stunden. Der Weg bot keine besonderen +Schwierigkeiten mehr, so daß sie im Gehen wirklich die immer großartiger +werdende Aussicht genießen konnten. + +Als sich die Sonne dem Horizonte näherte, sahen sie, daß sie nur noch +wenige Stunden bis zum Gipfel brauchen würden. Eine kleine Terrasse mit +Lehmboden und einem kleinen Wässerchen wählten sie als Schlafplatz. +Felix knöpfte seine Jacke zu, steckte die Hände in die Hosentaschen, +wünschte Fräulein Erhardt eine gute Nacht und schloß die Augen. Sie sah +ihn mit ihren großen Augen an, sah im rasch fortschreitenden Dunkel +seine Knabengestalt undeutlicher und undeutlicher werden. Sie fröstelte, +sie zitterte; Angst und Sehnsucht überfielen sie. Mit einem Aufschrei +warf sie sich auf den Schläfer und küßte ihm Augen und Mund. + +Felix erwachte wieder, machte eine Bewegung, wie um sie abzuschütteln +und zog sie dann tief aufatmend an sich. + + + + +Die Nachricht von Felix’ Entdeckungen erweckte naturgemäß großes +Interesse in der Stadt. Paul Seebeck schlug ihm vor, er solle im +Volkshause einen Vortrag über seine Reise mit Fräulein Erhardt halten; +aber dazu ließ sich Felix nicht bereit finden. + +»Ich habe die Sache schon so oft erzählt; ich kann sie nicht noch einmal +erzählen«, sagte er. + +Dabei hatte er sie mit allen Einzelheiten – doch nicht denen rein +persönlicher Natur – und allen seinen Gedanken, die sich an das +Geschehene knüpften, nur einem Einzigen ordentlich erzählt, und das war +Edgar Allan. Und wenige Tage darauf – der Architekt hatte nur einige +dringende Arbeiten fertig gemacht – ritten er und Felix, trotz des +feinen, aber ständigen Regens, der die Regenzeit einleitete, zum +Vulkane. + +Als sie nach einigen Tagen zurückgekehrt waren, bewahrten sie absolutes +Stillschweigen über die Resultate ihrer genauen Untersuchungen. Aber die +beiden, der Mann und der Knabe, saßen täglich stundenlang zusammen. + +Erst nach zwei Wochen waren sie so weit, daß sie die Vorsteher ins +Vertrauen zogen, und gleichzeitig erschien eine kleine Notiz in der +»Inselzeitung« des Inhalts, daß sich die Schwefellager als abbauwert +erwiesen hätten. + +In der nächsten Monatsversammlung der Gemeinschaft legte dann Jakob +Silberland die von Edgar Allan und Felix ausgearbeiteten und von der +Vorsteherschaft gutgeheißenen Pläne vor. Es handelte sich um nichts +weniger, als die Errichtung einer zweiten Stadt dort auf halber Höhe des +Vulkans; einer Stadt, die sich gleicherweise um das Schwefelgebiet wie +den See gruppieren sollte. Die Schwefelminen sollten abgebaut, die +Quellen aber zu Heilzwecken verwendet werden. Am Seeufer sollten die +Wohnhäuser liegen. Otto Meyer verteilte Vervielfältigungen von Edgar +Allans Skizze, aus denen in großen Zügen die geplante Verbindung von +Minenstadt und Bade- und Luftkurort zu ersehen war. + +Die Kredite, die zur Durchführung notwendig waren, waren nicht groß; +Edgar Allan verlangte nur die Anlage einer für Lastautomobile fahrbaren +Straße zum Vulkane und die Anschaffung der wenigen Maschinen, die zur +Hebung des fast an der Oberfläche liegenden Schwefels dienen sollten. +Die späteren Anlagen sollten aus der Hälfte der Erträgnisse der +Schwefelminen bestritten werden, wobei die andere Hälfte der +Gemeinschaft zufallen sollte. Und diese Kredite wurden natürlich ohne +Widerspruch bewilligt. + +Darauf bat Jakob Silberland um Urlaub aus seinem Amte bis zur nächsten +Jahresversammlung, wo er sich über die endgiltige Niederlage seines +Mandats entscheiden würde. Vorläufig wollte er die geschäftliche Leitung +des neuen Unternehmens übernehmen. Der erbetene Urlaub wurde ihm +gewährt, und als sein Stellvertreter wurde der durch Zuruf +vorgeschlagene Herr de la Rouvière gewählt, der die Wahl mit einigen +Dankesworten annahm. + + + + +Dr. Jakob Silberland hatte Otto Meyer aufgesucht, mit dem er ein +Gesetzbuch für die Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel entwarf, und +jetzt standen sie von ihrer Arbeit auf. Der Nationalökonom reckte sich +und sagte: + +»Sie sind eigentlich der Einzige hier, der eine wirklich gemütliche +Wohnung hat; Ihre wunderschönen, orientalischen Teppiche und die dunklen +Möbel –« + +»Na, wissen Sie was, Doktor. Die schöne Frau wohnt doch noch ganz +anders.« + +Jakob Silberland zuckte die Achseln: + +»Weiß nicht. Sie hat ja alles sehr nett und sehr geschmackvoll +eingerichtet, aber ich kann bei ihr nun mal nicht warm werden. Ich +glaube, sie hat zu viel Luft in ihren Zimmern.« + +Der lange, blonde, jüdische Referendar lachte: + +»Ja, da haben Sie wieder mal recht; nichts auf der Welt macht eine +Wohnung so gemütlich, wie Staub und alter Tabaksrauch – ein Lehrsatz, +den man übrigens auch gut und gern auf die große Welt übertragen kann. +Finden Sie es vielleicht hier in unserem reinlichen und korrekten Staat +gemütlich? Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich mich zuweilen +nach den ehrwürdigen, europäischen Spinngeweben sehne.« + +Jakob Silberland war ernst geworden; er dachte einen Augenblick nach, +dann sagte er eifrig: + +»Sie können nicht so die Parallele zwischen Zimmer und Welt ziehen. Was +im Zimmer erlaubt ist, kann draußen ein Verbrechen sein. Im Gegenteil +fürchte ich, daß wir schon einige Spinnen hier haben, und wir müssen für +einen kräftigen Besen sorgen, um die Gewebe wegzufegen.« + +Otto Meyer klopfte ihm auf die Schulter: + +»Nehmen Sie die Geschichte nicht so tragisch. So war es nicht gemeint.« + +»Das weiß ich schon; Sie wollten nur einen Witz machen. Aber gerade im +Witze sagt man oft Dinge, die man sonst nicht auszusprechen wagt.« + +»Aber liebster Doktor, Sie brauchen meine Worte nicht als Bibelweisheit +aufzufassen. Ich kann Ihnen versichern, daß ich kein Philosoph bin.« + +»Gerade deshalb – Halloh!« + +Es hatte geklingelt und Melchior war eingetreten. Er war augenscheinlich +ohne Mantel gekommen, denn er triefte von Wasser. + +»Guten Tag, Herr wissenschaftlich gebildeter Bauarbeiter!« Mit diesen +Worten begrüßte ihn Otto Meyer und schüttelte ihm die Hand. + +»Störe ich?« fragte Melchior und blieb an der Türe stehen. + +»Durchaus nicht«, sagte Jakob Silberland und ging auf ihn zu. »Im +Gegenteil, Sie sind uns sehr willkommen. Nachher kommt auch Seebeck. Wir +wollten später zu Ihnen gehn; wir haben Wichtiges mit Ihnen zu +besprechen.« + +»Einen Augenblick«, sagte Otto Meyer und ging in sein Schlafzimmer, aus +dem er mit einem großen, rosa Bademantel zurückkehrte, den er mit +ernsthaftem Gesicht um Melchiors Schultern hängte. Er stülpte ihm auch +die Kapuze über den Kopf. + +»So«, sagte er, »jetzt werden Sie sich nicht erkälten.« + +Melchior ließ sich alles ruhig gefallen. Er setzte sich, und seine +heißen, tiefliegenden Augen wanderten zwischen den Beiden hin und her. + +»Was wollen Sie von mir?« fragte er. + +Otto Meyer zog die Hängelampe herunter, nahm Kuppel und Zylinder ab, +putzte den Docht und zündete ihn dann an. Dabei sagte er: + +»Ich soll ein neues Amt übernehmen, und da wollten wir Sie fragen, ob +Sie an meine Stelle rücken wollten.« + +Melchior schüttelte langsam den Kopf: + +»Das geht nicht«, sagte er, »das wissen Sie ja.« + +»Hören Sie mal«, sagte Jakob Silberland. »Wir wissen ja alle, aus +welchen Motiven Sie bisher die Übernahme eines Amtes abgelehnt haben und +einfacher Arbeiter geblieben sind. Sie wollten Studien machen und dabei +Ihrem Studienobjekte so nah wie möglich sein. Das ist nicht nur +verständlich, sondern sogar sehr vernünftig. Jetzt liegen sie aber so, +daß wir Ihre Mitarbeit brauchen, dringend brauchen, und deshalb bitten +wir Sie, aus dem Zuschauerraum auf die Bühne zu steigen.« + +Melchior schüttelte den Kopf: + +»Wir gingen von der Voraussetzung aus, daß alle Arbeit gleichwertig sei; +deshalb muß es gleichgiltig sein, ob ich Vorsteher der Gemeinschaft oder +Maurer bin.« + +»Nein, da irren Sie sich gewaltig«, sagte Jakob Silberland mit +hochgezogenen Brauen und ging nervös im Zimmer auf und ab. »Allerdings +betrachten wir alle Arbeit als gleichwertig, was sich schon darin +äußert, daß alle Arbeiter den gleichen Lohn beziehen. Doch ist dabei +selbstverständliche Voraussetzung, daß jeder an dem richtigen Platze +steht. Es ist eine doppelte Verschwendung menschlicher Energie, den +geistigen Arbeiter an die körperliche Arbeit zu stellen, die er doch +nicht so versehen kann, wie der Muskelmensch. Das ist doch die Grundlage +einer jeden vernünftigen Gesellschaftsordnung, daß jeder ganz genau die +Arbeit tut, zu der er am besten geeignet ist. Das ist doch gerade der +Wahnsinn der üblichen Gesellschaftsordnungen, daß die Angehörigen +gewisser Familien geistige Berufe ergreifen müssen, wenn sie auch +tausendmal besser zu Handwerkern paßten, während der geborene geistige +Arbeiter aus der Unterklasse nur in Ausnahmefällen auf den ihm seiner +natürlichen Anlage nach zukommenden Platz kommt.« + +Melchior war aufgesprungen. Erregt wollte er seinen Arm ausstrecken, +aber der verfing sich in den Falten des Bademantels, ein Vorgang, der +Otto Meyer ein Schmunzeln entlockte. Er verbiß es aber und sagte: + +»Und dann noch eins, Herr Melchior: Sie haben ja Ihr berühmtes Problem, +auf dessen Lösung wir alle gespannt sind. Schaun Sie mal, bis jetzt +haben Sie die Geschichte von unten angesehn, wie wäre es, wenn Sie sie +auch einmal von oben ansähen? Glauben Sie nicht, daß Ihnen dann manche +Dinge klarer würden? Das wäre doch auch ein Gesichtspunkt, nicht wahr?« + +Melchior hatte den Bademantel abgestreift. + +»Oh Gott, oh Gott, was sagen Sie mir da alles, darüber werde ich +nachdenken. Aber ich glaube, Sie haben Recht, meine Herren.« + +»Na also«, sagte Otto Meyer und unterdrückte ein Gähnen. + +Melchior war dicht an ihn herangetreten. + +»Aber ich begreife die Menschen noch nicht, mit denen ich jetzt +jahrelang tagtäglich zusammenarbeite. Wäre es nicht besser, solange bei +ihnen zu bleiben, bis ich wirklich die Gesetze ihres Lebens kennte?« + +Otto Meyer machte ein nachdenkliches Gesicht: + +»Vielleicht, ja wahrscheinlich, werden Sie die Sache dann gerade besser +verstehen können, wenn Sie etwas Abstand gewinnen. Sie können ja dann +später mit neuen Gesichtspunkten an dieselben Probleme gehen.« + +Melchior setzte sich wieder und starrte vor sich hin. Dann hob er die +Augen und sah den blonden Juden an. + +»Sehen Sie, Herr Referendar«, sagte er langsam, »deswegen kam ich zu +Ihnen. Ich wollte Sie um Ihre Meinung fragen. Sie erinnern sich doch +gewiß noch an jene Gespräche, besonders an das letzte, wo Herr Edgar +Allan seine Theorie vortrug. Sie haben natürlich auch darüber +nachgedacht. Sehen Sie, die eine, sehr interessante Frage, weshalb man +die staatlichen Formen im weitesten Sinne, das, was Herr Edgar Allan +kurz die Begriffe nennt, sowohl als fortgeschrittener, wie auch als +zurückgebliebener in bezug auf den tatsächlichen Zustand der Menschheit +ansehen könnte, möchte ich beiseite lassen. Denn mir scheint – ich bitte +Sie, passen Sie auf, meine Herren – daß jene Begriffe mit den Gesetzen, +nach denen die Menschheit tatsächlich lebt und sich entwickelt, +überhaupt nichts zu tun haben.« + +»Donnerwetter!« rief Jakob Silberland und fuhr sich mit der Hand durch +das lange, blauschwarze Haar. + +»Herr Doktor Silberland, ich bitte Sie, sich folgendes zu überlegen: +stellen Sie sich doch eine chinesische Millionenstadt ohne Verwaltung, +ohne Gesetze und ohne Polizei vor, die trotzdem lebt, wie ein geordneter +Organismus lebt, nur durch die ungeschriebenen, inneren Gesetze +erhalten –« + +»Wie lange waren Sie in China, Herr Melchior?« fragte Otto Meyer +interessiert. + +»Ich? Ich war nie da, aber ich kann mir doch vorstellen, wie das ist.« + +»Hm. Ich meine, wenn Sie China nicht so genau kennen, es wäre doch +immerhin möglich, wenigstens denkbar, daß die chinesischen Städte auch +wie die unserigen eine geordnete Verwaltung hätten.« + +Melchior schwieg und dachte nach. Dann sagte er: + +»Aber dann denken Sie doch bitte an einen Ameisenhaufen, der doch wohl +die geordnetste Organisation auf der Welt darstellt – wo ist da +Verwaltung und Regierung? Und doch geht alles in der besten Ordnung.« + +Melchior sah, daß es um Otto Meyers Mund zuckte, und er fürchtete eine +indiskrete Frage nach dem Ursprung seiner Kenntnisse der Ameisen. +Deshalb fuhr er schnell fort: + +»Die Beispiele tun gar nichts zur Sache. Tag für Tag habe ich diese +ungeschriebenen Gesetze herausgefühlt und ich weiß, daß ich deshalb mit +meinen Arbeitskollegen keine wirkliche Fühlung gewinnen konnte, weil ich +diese instinktiven Gesetze intellektuell suchte.« + +»Sie suchen Probleme, wo es keine gibt«, sagte Jakob Silberland. »Die +ungeschriebenen Gesetze, die Sie sehr richtig als die instinktiven +bezeichnen, sind die, die sich aus den natürlichen, animalischen +Bedürfnissen des Menschen: Hunger, Liebestrieb und so weiter ergeben. +Die geschriebenen Gesetze dagegen stellen eine recht hilflose +Kodifikation dieser aus den animalischen Bedürfnissen im weitesten Sinne +sich ergebenden praktischen Folgerungen für die Sozietät dar, die immer +in ihrem tatsächlichen Zustande die genaueste Abwägung der realen +Stärke- und Bedürfnisverhältnisse darstellt. Die Gesetze hinken +natürlich immer nach. Und das ist ja unser Bestreben hier, so wenig wie +irgend möglich mit festen Gesetzen zu arbeiten, sondern alles so fluid +zu lassen, wie es geht. Gesetze stellen in ihrer starren Abstraktion +immer einen Fremdkörper im zuckenden, lebendigen Organismus der +menschlichen Gesellschaft dar.« + +Melchior ließ die Hand schlaff auf die Stuhllehne fallen: + +»Da sitzen wir wieder fest. Aber Dr. Allan scheint doch recht zu haben, +wenn er sagt, daß die Begriffe ein eigenes, lebensfremdes Dasein führen. +Und wie ist das möglich, daß sie gleichzeitig ein höheres und ein +tieferes Niveau als die Menschheit darstellen! In diesem Rätsel liegt +doch der Schlüssel zum Problem verborgen.« + +Otto Meyer räusperte sich: + +»Wahrscheinlich ist die Sache einfach so, daß man sie, von zwei +verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtend, verschieden sieht. Vom +Tale aus gesehen sind sie hoch, vom Berge aus erscheinen sie tief, weil +sie eben auf halber Höhe liegen.« + +Melchior sprang auf. Seine Augen waren aufgerissen: + +»Ich bitte Sie, mehr! Wie ist Ihr Gedankengang?« + +Otto Meyer lachte: + +»Um Gotteswillen beruhigen Sie sich. Ich habe gar keinen Gedankengang. +Ich meinte nur ganz harmlos, daß wenn Sie behaupten, daß der Teppich +grün ist, Silberland ihn dagegen für gelb hält, er vermutlich auf der +einen Seite grün und auf der anderen gelb ist.« + +Melchior sah ihn verständnislos an; dann sank er gleichsam in sich +zusammen. Nach einer Weile sagte er leise: + +»Ich weiß, daß Sie mich verspotten, und doch haben Sie mir damit +geholfen. Ich sehe jetzt wieder den Weg vor mir. Ich danke Ihnen.« + +»Bitte, bitte, gern geschehen«, sagte Otto Meyer und stand auf. Er hatte +draußen Schritte gehört. Es war Paul Seebeck. + +»Ah, Melchior, Sie«, sagte er eintretend. »Schön, daß ich Sie hier +treffe. Dann können wir die Sache ja gleich besprechen. Ich habe nämlich +fast gar keine Zeit. – Grüß Gott, Jakob.« + +»Wir haben Herrn Melchior schon die Sache vorgetragen; er ist auch +einverstanden«, erklärte Jakob Silberland. + +»So? Schön. Es handelt sich also darum«, sagte Paul Seebeck, sich +setzend, »daß das bisherige Verfahren, bei dem alle Streitigkeiten von +der Monatsversammlung geschlichtet werden, auf die Dauer nicht +durchführbar ist. In Zukunft soll die Monatsversammlung nur noch +Berufungsinstanz sein, vielleicht sogar erst dritte Instanz. Zunächst +sollen alle Sachen jedenfalls von einem Richter entschieden werden, vor +allem die reinen Bagatellsachen. Ob wir als nächste Instanz die +Vorstandschaft nehmen, oder gleich die Monatsversammlung, müssen wir uns +noch überlegen. Praktisch kommt es ja auf dasselbe hinaus, da die +Versammlung ja fast immer gemäß den Vorschlägen der Vorstandschaft +beschließt. Na, wir werden sehen, wie sich das am besten formulieren +läßt. Jedenfalls soll Otto Meyer der Richter sein. Und Sie würden wir +bitten, seine Stellung zu übernehmen. Wenn Sie einverstanden sind, würde +ich Ihnen vorschlagen, bis zur nächsten Jahresversammlung als Otto +Meyers Gehilfe zu arbeiten, um mit den Geschäften vertraut zu werden. +Auf der Jahresversammlung lassen wir dann entsprechend beschließen. Die +Sache wird uns natürlich ohne weiteres genehmigt; die Leute sind ja nur +froh, wenn wir ihnen wieder ein Stück Denkarbeit abnehmen. Sind Sie +einverstanden?« + +»Ja, Herr Seebeck, ich würde ja gern ein Amt übernehmen, seitdem ich +eingesehen habe, daß meine Anschauungen einseitig bleiben müssen, +solange ich nur einfacher Arbeiter bin. Aber hinter dem, was Sie jetzt +sagten, liegt noch so viel verborgen, was ich erst durchdenken muß. +Wollen Sie mir nicht einige Tage Bedenkzeit lassen?« + +»Ich kann es nicht, lieber Melchior. Es ist unmöglich. Ich habe alles +aufs Genaueste durchdacht und weiß, daß es richtig ist. Ich bitte Sie, +sich jetzt sofort zu entscheiden.« Seebeck hatte seine Augen kalt und +streng auf Melchior gerichtet, und dieser krümmte sich unter dem Blick. +Endlich sagte er: + +»Herr Seebeck, ich vertraute Ihnen, als ich hierherkam. Ich tue es auch +jetzt noch, obgleich ich Sie nicht mehr verstehe. Ich nehme Ihren +Vorschlag an.« + +»Ich danke Ihnen«, sagte Seebeck aufstehend. »Aber jetzt muß ich wieder +an meine Arbeit.« + +Er ging aber nicht nach Hause, sondern an den Strand. Dort saß er, trotz +des strömenden Regens, lange auf einem Steine und sah zu, wie ein Licht +nach dem andern erlosch. Zuletzt auch die Straßenlaternen. Da erhob er +sich, und der große, starke Mann ging langsam, mit schleppenden +Schritten wie ein Kranker, die Straße hinauf. Vor Frau von Zeuthens Haus +blieb er stehen; nur die verhängten Fenster ihres Schlafzimmers waren +erleuchtet. Wie er weitergehen wollte, hörte er bei ihrer Haustüre ein +Geräusch. Schnell trat er etwas zur Seite und sah hin. Die Tür wurde +geöffnet, und eine dunkle Gestalt trat heraus, sah sich scheu um und +kam dann mit seltsamen Schritten näher. Paul Seebeck sah den kurzen +Oberleib mit den langen Armen. Kein Zweifel: es war der Krüppel. + +Das Licht in Frau von Zeuthens Schlafzimmer erlosch. + +Paul Seebeck ließ Herrn de la Rouvière vorbei gehen und im Dunkel +verschwinden. Dann richtete er sich stramm auf, biß die Zähne zusammen +und ging nach Hause. + +Auf seinem Schreibtisch stand Frau von Zeuthens Bild; er nahm es, sah +ihm lange in die Augen, küßte es und setzte sich dann an seine Arbeit. + + + + +Schon als die Schwefelquellen erst notdürftig eingefaßt waren, und die +ersten Baracken am See standen, bildete der »Vulkan«, wie die +entstehende Stadt kurz genannt wurde, einen beliebten Ausflugsort. Die +schweren Lastautomobile waren auch zur Mitnahme einiger Personen +eingerichtet, aber das genügte bald nicht mehr. Sobald die Straße +gebrauchsfertig war, ließ Jakob Silberland als Geschäftsführer einige +Personenautomobile kommen, die den täglich anwachsenden Verkehr kaum zu +bewältigen vermochten. Natürlich war es unmöglich, in der Schnelligkeit +genügende Unterkunftshäuser zu schaffen, aber da fand Edgar Allan einen +Ausweg. In den Schluchten am Fuße des Vulkans ließen sich mit ganz +geringer Mühe mit Hilfe von Segeltuchdächern und Fußmatten Wohnstätten +improvisieren, die im warmen, regenlosen Sommer ausreichten. + +Es kamen auch Fremde zum »Vulkan«; die Durchreisenden, die oft einige +Tage oder Wochen auf der in Deutschland natürlich vielbesprochenen +Schildkröteninsel verweilten, versäumten nicht, die neuentstandene +zweite Stadt zu besuchen, und nachdem erst die großen Schwefelbäder in +ordnungsmäßen Betrieb gesetzt worden waren, wurden sie nicht zum +geringsten Teil von den Besuchern der Insel benutzt. + +Einer der ersten Besucher war übrigens ein Herr von Hahnemann, ein bei +Neu-Guinea stationierter Marineoffizier, der auf der Schildkröteninsel +seinen Urlaub verbrachte. Dieser Herr von Hahnemann fiel eigentlich +besonders durch seine Wißbegierde auf; man sah ihn oft stundenlang mit +einfachen Arbeitern im Gespräch. Auch hatte er bei den Vorstehern und +einigen anderen hervortretenden Persönlichkeiten, wie Nechlidow, Herren +de la Rouvière und Frau von Zeuthen Besuche gemacht und wurde auch von +diesen gelegentlich eingeladen. + +Einige Tage vor seiner Abreise kam Herr von Hahnemann zu Paul Seebeck, +um sich zu verabschieden. Paul Seebeck empfing ihn, wie er schon so +manchen derartigen Besucher empfangen hatte, mit dem sehnlichen Wunsche, +daß dieser ihn bald wieder allein ließe. Da Herr von Hahnemann aber +blieb, fragte er ihn nach Verlauf einer Stunde: + +»Haben Sie vielleicht ein besonderes Anliegen? Wenn ich Ihnen irgend +eine besondere Aufklärung geben könnte –?« + +»Sie sind außerordentlich liebenswürdig«, antwortete der Offizier mit +einer leichten Verbeugung. »Entschuldigen Sie die etwas indiskrete +Frage mit meinem großen Interesse: wie denken Sie sich die Zukunft, Herr +Seebeck?« + +Paul Seebeck sah ihn zweifelnd an. Dann stand er auf und ging zum +Fenster. + +»Ich verstehe Ihre Frage nicht recht. Wir werden so weiterarbeiten wie +bisher.« Und dabei sah er seinem Besucher gerade in die Augen. + +»Pardon, gewiß. Ich meinte aber, wie denken Sie sich in Zukunft Ihre +persönliche Stellung zu der Sache?« + +»Solange ich das Vertrauen der Mehrheit habe«, sagte Paul Seebeck +ziemlich schroff, »bleibe ich hier auf meinem Posten.« + +Herr von Hahnemann stand auf: + +»Aber die haben Sie ja nicht mehr. Auf der letzten Jahresversammlung +sind Sie von einer Minorität nur deshalb gewählt worden, weil sich die +oppositionellen Stimmen auf zwei Kandidaten verteilten.« + +»Herr von Hahnemann«, sagte Seebeck und trat dicht vor ihn hin. »Ich bin +ordnungsgemäß gewählt worden, und damit ist dieser Punkt erledigt. Im +Übrigen bedauere ich, mich mit einem Außenstehenden nicht über innere +Verhältnisse unserer Gemeinschaft aussprechen zu können.« + +»Herr Seebeck, ich verstehe Ihre Erregung über meine taktlosen Fragen +durchaus. Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, daß ich – nicht +nur als Privatmann hier bin.« + +Seebeck setzte sich an seinen Schreibtisch und fragte ganz ruhig: + +»Sie sind im Auftrage der Reichsregierung hier?« + +»Ja«, sagte Herr von Hahnemann. »Es war eine Klage eingelaufen, und ich +wurde hierher geschickt, um ihre Grundlagen zu prüfen. Zu meinem +Bedauern fand ich sie bestätigt.« + +»Darf ich Sie fragen, wer außer Nechlidow die Klage unterzeichnet hat, +deren Inhalt ich mir denken kann«, fragte Paul Seebeck zwischen den +Zähnen. + +»Ich bedaure, Ihnen darauf die Antwort verweigern zu müssen. Sie sagen +selbst, daß Sie sich den Inhalt der Klageschrift denken können, damit +erübrigt sich, auf die einzelnen Punkte einzugehn. Ich bin völlig +unbefangen hierhergekommen und habe alles mit eigenen Augen geprüft, +besonders das Protokoll jener Sitzung. Da ich mich leider von der +Stichhaltigkeit jener Klage überzeugen mußte, sehe ich mich zu meinem +Bedauern genötigt, von meinen Vollmachten Gebrauch zu machen. Sie müssen +die Reichsregierung verstehen, Herr Seebeck. Wenn hier nur einige +Idealisten auf einem unfruchtbaren Felseneilande säßen, könnte man sie +ja in Gottes Namen machen lassen, was sie wollten, und ihre Experimente +mit Wohlwollen und Interesse betrachten. Da es sich jetzt aber schon um +Hunderte handelt, die Zahl der Ansiedler wahrscheinlich noch bedeutend +steigen wird, und ferner das Interesse des Reichs an diesem Teile seines +Kolonialbesitzes durch die Schwefelfunde noch erhöht ist, ist es nicht +nur das gute Recht, sondern die Pflicht des Reiches, hier absolut +korrekte Zustände zu schaffen.« + +Er machte eine Pause, als erwartete er eine Antwort; aber Paul Seebeck +sagte nichts, sah ihm nur ruhig ins Gesicht. Der Offizier wurde nervös +unter diesem Blicke; er holte aus seiner Brusttasche einige Papiere, +sowie ein kleines Etui hervor. + +»Herr Seebeck, auch für den Fall, daß sich jene Klage als stichhaltig +erweisen sollte, will die Reichsregierung in Anbetracht Ihrer +unbestreitbaren großen Verdienste Ihnen auch nur den Schatten einer +Demütigung ersparen. Sie verlangt nichts, als daß Sie Ihr Mandat als +Reichskommissar niederlegen, und wird dann von sich aus einen neuen +ernennen. Was wir gesprochen haben, bleibt unter uns. Und hier haben Sie +noch einen ausdrücklichen Gnadenbeweis.« Dabei legte er das kleine Etui +auf den Schreibtisch. + +»Das Ding enthält vermutlich einen Orden«, sagte Paul Seebeck +aufstehend. »Bitte stecken Sie ihn wieder ein. Wollen Sie so +liebenswürdig sein, mir eine Frage zu beantworten: Was wird geschehen +wenn ich mich jetzt weigere, das Reichskommissariat freiwillig +niederzulegen?« + +Der Offizier war aufgesprungen: + +Ȇberlegen Sie sich, was Sie sagen.« + +»Ich habe es mir überlegt.« + +»Das ist ein Affront.« + +Seebeck zuckte die Achseln: + +»Nicht gegen Sie, verehrter Herr von Hahnemann. Sie sind ja nur +Werkzeug. Sie spielen in einer Komödie mit, glauben Regisseur zu sein +und sind nur Puppe. Soll ich Ihnen sagen, weshalb ich gehen soll? Nicht, +weil es hier schlecht geht, nicht weil ich meine Stellung mißbraucht +habe, sondern weil alles gut geht, besser geht, als es sich die Herren +dort in Berlin je träumen ließen. Weil wir mit unserer Arbeit vorwärts +kommen. Wir haben hier etwas Brauchbares geschaffen, haben die +Durchführbarkeit gewisser Utopieen erwiesen, und das ist der springende +Punkt. Alles andere ist ja nur Vorwand. Einige kleine Schwierigkeiten, +die die Durchführung einer großen Sache naturgemäß mit sich führt, die +Nörgeleien und Quertreibereien irgendwelcher Personen, die gar nicht +verstehen, worum es sich hier handelt, geben den bequemen Vorwand, um +alles zu vernichten. Ein Reichskommissar aus Berlin hier, hier in meinem +Werke! Nein mein Freund. Nehmen Sie Ihr Ding da mit und schämen Sie +sich, bei einer so unwürdigen Komödie mitzuwirken. Erzählen Sie den +Herren in Berlin, daß Paul Seebeck nicht für einen lausigen Orden sein +Lebenswerk verkauft. Das Reichskommissariat lege ich nicht nieder.« + +»Ich will – durchaus gegen meine Gewohnheit – die Spitze überhört haben, +die meine Person betrifft, um die unerhörte Beschuldigung +zurückzuweisen, die Sie gegen die Reichsregierung gerichtet haben. Sie +fühlen sich in einer schwachen Position und sehen deshalb voll +ungerechtfertigter Bitterkeit auf alle anderen. Überlegen Sie sich doch: +die Reichsregierung hat Sie mit dem größten Wohlwollen behandelt; was +soll die Regierung aber anders tun, als Ihnen in schonendster Form den +Abschied nahezulegen, wenn sich die Mehrzahl Ihrer eigenen Bürger gegen +Sie erklärt? Und mehr, wenn die Klage sich als berechtigt erweist? Sie +selbst tragen allein Schuld an dieser Wendung der Dinge, jetzt müssen +Sie auch die Konsequenzen ziehen. Legen Sie das Reichskommissariat +nieder!« + +»Ich tue es nicht!« + +»Dann wird man Sie dazu zwingen!« + +»Versuchen Sie es!« sagte Paul Seebeck und ging in sein Schlafzimmer, +dessen Tür er hinter sich zuschlug. + + + + +Sobald die »Prinzessin Irene« mit Herrn von Hahnemann an Bord die Anker +gelichtet hatte, berief Paul Seebeck die Vorsteher der Gemeinschaft zu +sich und zwar die offiziellen Inhaber der Ämter, nicht ihre ständigen +Stellvertreter. Das war auffällig, denn die ständigen Stellvertreter, +wie zum Beispiele Herr de la Rouvière, pflegten sonst immer zu den +Sitzungen zugezogen zu werden. Paul Seebeck schickte auch Fräulein +Erhardt fort, die gewöhnlich bei den Sitzungen das Protokoll geführt +hatte, und schloß aufs Sorgfältigste alle Türen und Fenster seines +Arbeitszimmers. Seine Freunde sahen erstaunt seinem Tun zu; als er ihnen +aber dann seine Unterredung mit Herrn von Hahnemann erzählt hatte, die +schon drei Tage zurücklag, über die beide Teilnehmer aber bisher +völliges Stillschweigen bewahrt hatten, begriffen sie ihn. Ein langes +Schweigen folgte seinem Berichte. + +Als erster ergriff Herr von Rochow das Wort: + +»Man kann Nechlidow nicht einmal einen Vorwurf machen; er hat nur aus +den reinsten Motiven heraus gehandelt, freilich ohne die Tragweite +seines Vorgehens auch nur im Entferntesten zu übersehen.« + +»Ach wissen Sie was, Herr von Rochow«, unterbrach ihn Paul Seebeck +müde, »es mußte einmal so kommen. Ob Nechlidow oder ein anderer nun den +entscheidenden Schritt tat. Aber bei Gott«, rief er aufstehend, »ich +lasse mir mein Werk nicht zerstören. Und was würde es helfen, daß die +Leute einen von unseren Leuten zum Kommissar machen; sie werden schon +dafür sorgen, daß es ein richtiger Eunuche ist, der ihren Willen tut. +Was eine unfähige Verwaltung aus lebenskräftigen Kolonien machen kann, +sieht man ja deutlich genug aus unseren afrikanischen Kolonien.« + +»Besonders, wenn man an die englischen Nachbarkolonien denkt«, sagte +Jakob Silberland. + +»Gehen wir doch zu England«, sagte Otto Meyer gemütlich; »die werden uns +schon in Frieden lassen; die Engländer wissen, daß die Kolonieen von +Männern gemacht werden und nicht von Korpsstudenten.« + +Seebeck sah ihn starr an. + +»Bitte«, sagte er. + +»Ich meine«, sagte Otto Meyer, »wir haben keinen Grund, das positive +Resultat unserer Arbeit zerstören zu lassen, bloß weil einige Geheimräte +im Kolonialamt Bauchschmerzen haben. Wenn die Deutschen eine anständige +Kolonie nicht haben können, erklären wir uns für autonom und lassen uns +dann von England annektieren. Sowas läßt sich doch machen, deswegen +braucht man doch nicht gleich tragisch zu werden.« + +»Das wäre Revolution«, sagte Hauptmann a. D. von Rochow ernst. + +Paul Seebeck dachte nach; dann fuhr er heftig auf: + +»Ist das unsere Schuld? Was gehen wir das Reich an? Wir haben den Leuten +nicht einen Pfennig gekostet; alles haben wir allein gemacht, mit +unserer Arbeit, unserem Gelde. Jetzt wo die Sache nahezu vollendet ist, +wollen sie es nicht etwa übernehmen, um es in unserem Sinne +fortzuführen, sondern sie wollen es zerstören. Ich bitte Sie, stellen +Sie sich doch hier einen Berliner Gouverneur vor! Oder noch schlimmer, +einen hiesigen Idioten, der die Puppe der Herren da oben ist! Aber das +erlaube ich nie! Vorläufig bin ich hier.« + +»Also, erwäge doch meinen Vorschlag. Ich glaube, das ist der einzige +Ausweg.« + +Jakob Silberland stand auf und trippelte auf seinen kurzen Beinchen im +Zimmer auf und ab: + +»Wir wollen doch zunächst mal überlegen, was jetzt geschehen wird. Vom +nächsten Hafen aus telegraphiert der Mann nach Berlin, daß Seebeck sich +weigert, freiwillig zurückzutreten; die Antwort lautet wahrscheinlich, +daß Herr von Hahnemann Vollmacht erhält, Seebeck abzusetzen, und +entweder er oder ein anderer wird vorläufig Reichskommissar hier, bis +sie den richtigen Idioten herausgefunden haben. Hahnemann kann vor einem +Monat überhaupt nicht wieder hier sein; das wäre das allerfrühste. +Vorläufig kann man Seebeck nichts tun. Daß er sich weigert, freiwillig +seinen Abschied zu nehmen, ist kein Verbrechen. Kritisch wird die Sache +erst, wenn ihm das Reichskommissariat entzogen wird, und er sich nicht +darum kümmert. Dann kommt ein Kriegsschiff und nimmt ihn als Aufrührer +mit. Bis dahin würde aber mindestens ein zweiter Monat vergehen. In +diesen zwei Monaten müßte alles entschieden sein; denn wenn wir offenen +Aufruhr begehen und uns nicht durchsetzen, sind wir verloren.« + +Seebeck hatte sich wieder gesetzt; ruhig sagte er: + +»Kinder, ihr beide wißt Bescheid im Staatsrecht. Existiert denn +überhaupt eine Möglichkeit, sich von England annektieren zu lassen?« + +»Gewiß, die Möglichkeit ist da. Einer von uns müßte mit dem nächsten +Schiffe nach Sidney und sehen, was er dort ausrichten kann«, sagte Jakob +Silberland eifrig. + +»Wenn Herr von Rochow als Fachmann mir helfen will, baue ich Ihnen in +sechs Wochen Befestigungen auf, die dem Kriegsschiff eine harte Nuß zu +knacken geben werden. Eine Landung zu verhindern, ist bei unserem Hafen +eine Kleinigkeit, einige Seeminen genügen«, fügte der hagere Architekt +hinzu. + +»Ich beschwöre Sie, meine Herren, überlegen Sie sich, was Sie tun +wollen! Revolution, Vaterlandsverrat!« rief Herr von Rochow. + +»Das Vaterland hat uns verraten, nicht wir das Vaterland«, sagte Paul +Seebeck scharf. »Aber ich will Sie zu nichts verleiten, was Ihrem +Gewissen widerspricht. Noch ist es Zeit für Sie alle, sich +zurückzuziehen. Ich aber bleibe hier ...« + +»Und ich bleibe bei Ihnen«, sagte Herr von Rochow und ergriff Seebecks +Hand. »Ich bleibe bei Ihnen, was auch kommen mag.« + +»Ich auch«, sagte Otto Meyer und zündete sich eine Zigarette an. + +»Wo bekommen wir aber das Geld her?« fragte Jakob Silberland. »Es +handelt sich doch jedenfalls um Hunderttausende.« + +»Wir müssen es uns natürlich ganz korrekt bewilligen lassen«, erklärte +Otto Meyer, »sonst wird die Sache zu deutlich. Wir sagen einfach, daß +bei der dauernden Spannung zwischen England und Deutschland die +Befestigung unvermeidlich ist. Und da wir ja leider Spione im Lande +haben, können wir sagen, daß die Bewahrung militärischer Geheimnisse in +einem kleinen Kreise – hier also in der Vorsteherschaft – eine absolute +Notwendigkeit ist. Übrigens wäre es am besten, in aller Heimlichkeit so +viel zu bauen, wie nur irgend geht und sich die Kredite nachträglich +bewilligen zu lassen. Denn wenn man draußen erfährt, daß wir +befestigten, wird das Kriegsschiff mit Windeseile angerannt kommen.« + +Paul Seebeck war ans Fenster getreten und blickte hinaus: + +»Schade, schade, daß es so kommen mußte.« sagte er. + +»Was brauchen wir eigentlich,« wandte sich Otto Meyer an Herrn von +Rochow, »eine Strandbatterie und –« + +Hauptmann a. D. von Rochow schüttelte den Kopf: + +»Eine Strandbatterie hat gar keinen Sinn; die schießt ein Kriegsschiff +in einer Viertelstunde zusammen. Nein, ein schweres Festungsgeschütz und +einige Maschinengewehre hier oben für alle Eventualitäten genügen. Das +Hauptgewicht müssen wir auf die Seeminen legen. Die natürlich mit +elektrischer Zündung von hier oben aus.« + +»Ist das nun alles eine Kette von Zufällen oder war es eine +Notwendigkeit? Mußte es so kommen?« sagte Seebeck, noch immer am Fenster +stehend und hinausblickend. + +»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, sagte Otto Meyer und klopfte ihm +auf die Schulter, »die Probleme sind dem tüchtigen Melchior reserviert. +Wir können ja handeln, brauchen also nicht nachzudenken.« + +»Bravo!« rief Edgar Allan. + +Und dann begannen die Vorsteher der Gemeinschaft, die zu unternehmenden +Schritte bis in die kleinste Einzelheit zu beraten. Erst bei Tagesgrauen +trennten sie sich, und da war alles beschlossen. + + + + +Wie schon oft in der letzten Zeit holte Nechlidow seine junge Freundin +um fünf Uhr vom Kindergarten ab, nachdem Hedwig ihre kleinen Schützlinge +entlassen hatte. + +Die beiden gingen schweigend durch die lange, einreihige Fischerstraße +bis zur letzten Landspitze, die die bewohnte Bucht von der Irenenbucht +schied. + +»Wissen Sie, Hedwig, was Herr von Hahnemann mitgenommen hat?« fragte +Nechlidow, als sie dort auf einer gewaltigen Klippe saßen, »Paul +Seebecks Abschiedsgesuch.« + +Hedwig sah ihn erschreckt an: + +»Woher wissen Sie das?« + +»Ja, ich weiß es. Herr von Hahnemann war hier, um die Richtigkeit meiner +Klagen zu prüfen; er hat mir selbst gesagt, daß er sie in allen Punkten +berechtigt gefunden hätte. Ich sprach ihn, gerade als er zu Herrn +Seebeck hinaufgehen wollte. Ja, jetzt ist es mit Seebecks +Selbstherrschaft vorbei – jetzt werden wir die Sache wieder in Ordnung +bringen.« + +»Sind Sie ganz sicher, daß Sie Recht haben?« fragte Hedwig leise. + +»Seien Sie nicht traurig, liebe Hedwig. Es tut mir selbst um Seebeck +leid, denn ich achte ihn als Menschen. Aber die Sache geht vor. Und +Seebeck ist schwach, viel zu schwach, um sie durchzuführen. Seien Sie +aufrichtig, was ist von den Idealen übrig geblieben, mit denen wir +hierher kamen? Wodurch unterscheidet sich unsere »Gemeinschaft« von +irgend einem beliebigen Staate? Nur durch Phrasen. In Wirklichkeit ist +alles genau dasselbe. Sehen Sie, Hedwig, in jener entscheidenden Sitzung +in Berlin sagte ich zu Paul Seebeck, daß es nur ein Mittel gäbe, um +nicht in die Verlogenheit aller anderen Staaten hineinzugeraten, und daß +dieses das absolute Festhalten an der menschlichen Vernunft sei. Er gab +mir recht, er ist intelligent genug, das einzusehen, aber zu schwach, es +durchzuführen. Der Todfeind aller Kultur, aller Fortentwicklung der +Menschheit, die Sentimentalität liegt ihm so tief im Blute, daß sie +stärker als alle Vernunft ist. Hier brauchen wir Männer, klare, +vernünftige Männerköpfe, Kerle wie Herrn de la Rouvière, aber keine +träumerischen, weibischen Dichter wie Seebeck.« + +Hedwig hatte ihm ängstlich zugehört: + +»Aber Paul ist doch so gut.« + +»Eben deshalb muß er fort. Das ist ja gerade sein Fehler. Güte, Liebe – +was sind das für Begriffe. Mißverstandene Naturtriebe. Heutzutage +lieben Männer einander; was ist das für ein Unsinn! Oder ein Mann und +eine Frau lieben einander, aber kommen aus irgend einem Grunde nicht +zusammen. Denken Sie doch nur alle die kindischen Romane. Liebe ist der +Wunsch nach dem Kinde, also ist sie nur dort wahr und nicht verlogen, wo +zwei Menschen zusammen ein Kind haben wollen, sonst nicht. Seitdem wir +aber das wissen, brauchen wir doch keine Dichter und keine Gefühle mehr. +Wir haben doch die Vernunft, und die verirrt sich nie; wie oft tun das +aber die unklaren, mystischen Gefühle. Sehen Sie doch, was so ein Gefühl +für Bocksprünge macht: aus dem Triebe nach dem Kinde wird die Liebe, die +alles mögliche verbindet, was mit dem Wunsche nach dem Kinde, nach der +Zukunft der Menschheit, nicht das Geringste mehr zu schaffen hat; aus +der Liebe wird die Güte und aus Güte und Rücksichtnahme nach allen +Seiten ruiniert Seebeck diesen Staat, der eine neue Menschheit hätte +gebären können. Ach was hätte hier werden können, wenn Seebeck stark +gewesen wäre.« + +»Aber hier geht alles doch so gut –« unterbrach ihn Hedwig schüchtern. + +»Ungeheure Lügen sind hier gebaut, und die florieren glänzend, das ist +wahr.« + +Hedwig war aufgestanden und wandte sich langsam der Stadt zu. Nechlidow +ging ihr nach und faßte sie bei der Hand: + +»Liebe Hedwig« – sagte er bittend. + +Aber sie riß sich los. Aus ihren großen, braunen Augen quollen Tränen. + +»Ich will kein Kind von Ihnen haben, Herr Nechlidow«, sagte sie mit +zuckenden Lippen. Dann machte sie sich schnell von ihm los und lief der +Stadt zu. + +Nechlidow folgte ihr langsam. + + + + +Als die Kredite für die in Hinblick auf die Spannung zwischen England +und Deutschland notwendigen Befestigungen bewilligt wurden, war nicht +viel mehr zu tun, als das Festungsgeschütz zu montieren, das zusammen +mit den beiden Maschinengeschützen in der bombensicheren Kasematte im +Felsen unter Seebecks Haus Platz finden sollte. Denn Hauptmann von +Rochow hatte als Fachmann diese Stelle als die geeignetste gewählt, ganz +abgesehen davon, daß sich nur hier die Arbeiten in völliger Heimlichkeit +hatten vornehmen lassen. Ein mit Stahlplatten bedeckter Schacht führte +von Paul Seebecks Kohlenkeller mehrere Meter tief hinab, und dort unten +war ein Gewölbe ausgehauen, in dem die Geschütze stehen sollten. + +Nur drei lange, schmale Schießscharten führten hinaus, und die lagen +gerade über den Dächern der auf der nächsten Terrasse stehenden +doppelten Häuserreihe, so daß diese fast mit Sicherheit die den +Geschützen zugedachten Schüsse auffangen würde. + +Die Seeminen hatten die Vorsteher in mehreren Nächten allein versenkt, +und ihr Lageplan war in den Händen der Archivarin gut aufgehoben. Es +war nicht so schwer, diese Arbeiten in voller Heimlichkeit auszuführen, +als vielmehr gleichzeitig auch den Ausbau des »Vulkans« zu versehen, zum +mindesten scheinbar, damit die plötzliche Arbeitseinstellung dort oben +kein Mißtrauen erweckte. + +Aber es ging. Die vier Männer arbeiteten mit eiserner Energie Tag und +Nacht – nur vier waren sie jetzt, denn Jakob Silberland weilte in +Sidney, wie es hieß, um größere Abschlüsse über den gewonnenen Schwefel +zu erreichen. Und auf den riesigen Kisten, die die Geschützteile und die +Munition enthielten, stand harmlos das Wort: »Maschinen«. + +Sechs Wochen nach seiner Abreise kam Herr von Hahnemann wieder zur +»Schildkröteninsel«. Diesmal auf einem Torpedoboot. In Paradeuniform +stieg er ans Land und begab sich eine Stunde später zu Paul Seebeck. +Dieser empfing ihn mit gelassener Höflichkeit und bat ihn, Platz zu +nehmen. Der Offizier dankte mit einer Verbeugung, blieb aber stehen, +während Paul Seebeck sich an seinen Schreibtisch setzte. + +»Sie bringen mir meine Abberufung, Herr von Hahnemann?« fragte er ruhig. + +»Herr Seebeck, bei der großen persönlichen Achtung, die ich für Sie +hege, erlaubte ich mir, in meinem Berichte unsere letzte Unterredung +wohl wahrheitsgetreu, doch – etwas harmloser zu schildern, als sie sich +zugetragen hat. Es steht Ihnen noch heute frei, freiwillig das +Reichskommissariat niederzulegen; trotz allem.« + +»Ich tue es nicht«, antwortete Paul Seebeck und sah ihm gerade ins +Gesicht. + +»Ist das Ihr letztes Wort?« + +»Ja.« + +»Dann habe ich hiermit die Ehre, Ihnen kraft meiner Vollmachten Ihr +Abberufungsschreiben zu überreichen«, sagte der Offizier und legte ein +versiegeltes Kuvert auf den Schreibtisch. »Wollen Sie die +Liebenswürdigkeit haben, mir den Empfang zu bestätigen.« + +»Mit Vergnügen«, antwortete Paul Seebeck, entnahm einer Schublade einen +Briefbogen und schrieb einige Zeilen darauf. »Ist es so recht?« Und er +reichte dem Offizier das Blatt, das dieser aufmerksam las und es dann in +seine Brieftasche schob. + +»Gewiß, Herr Seebeck. Ich danke Ihnen. Damit ist die Sache erledigt. Ich +verstehe aber nicht, weshalb Sie es so weit kommen ließen.« + +»Ich pflege einem Briefträger nicht die Unterschrift für einen +eingeschriebenen Brief zu verweigern – wozu soll ich dem nichtsahnenden +Manne Schwierigkeiten machen. Er erfüllt ja nur seine Pflicht. Jetzt ist +also der Brief ordnungsgemäß mein Eigentum geworden, und ich kann damit +machen, was ich will.« Damit nahm er das versiegelte Kuvert und zerriß +es mit seinem Inhalt in kleine Fetzen, die er in seinen Papierkorb warf. +Dann wandte er sich wieder dem Offiziere zu und sah ihm ruhig ins +Gesicht. + +Herr von Hahnemann trat einen Schritt zurück; sein Gesicht war +kreidebleich. + +»Wissen Sie, was das heißt?« rief er. + +»Ja«, sagte Paul Seebeck, »das heißt Aufruhr.« + +»Wollen Sie sich denn dem aussetzen, daß man Sie mit Waffengewalt +zwingt, den Willen der Reichsregierung anzuerkennen?« + +»Was wollen Sie damit sagen, Herr von Hahnemann?« fragte Paul Seebeck +freundlich. + +Der Offizier hatte sich wieder etwas gefaßt. Seine Stimme bekam etwas +vom scharfen Kommandoklang, als er sagte: + +»Ein Kriegsschiff wird kommen und Sie als Gefangenen mitnehmen.« + +»Ach so einfach ist die Sache? Aber wenn ich mich nun mit Gewalt der +Gewalt widersetze?« + +»Dann werden Sie standrechtlich erschossen.« + +Paul Seebeck stand auf; er überlegte einen Augenblick. Dann ging er an +dem Offizier vorbei zur Wand, hob ein Gemälde vom Nagel, wobei eine +Stahlplatte sichtbar wurde, die der Tür eines in die Mauer +eingelassenen Geldschrankes ähnlich war. Dann zog er einen Schlüsselbund +aus der Tasche und blickte auf: + +»Sie sind Marineoffizier, nicht wahr?« + +Herr von Hahnemann neigte bejahend den Kopf. + +»Dann sind sie auch natürlich imstande, Entfernungen auf dem Wasser +abzuschätzen. Darf ich Sie bitten, hier ans Fenster zu treten? Danke. +Sehen Sie die letzte flache Klippe dort rechts? Schön. Sehen Sie in +gerader Richtung drei Kilometer weiter. Bitte halten Sie den Punkt im +Auge.« + +Seebeck war an den Schrank getreten und öffnete das Geheimschloß. Bei +dem Geräusch wandte sich der Offizier unwillkürlich wieder nach ihm um +und sah, daß der Schrank ein Tastbrett wie das einer Schreibmaschine +enthielt. + +»Ich habe Sie ersucht, jenen Punkt im Auge zu behalten«, sagte Paul +Seebeck scharf. Der Offizier kniff die Lippen zusammen und blickte +wieder hinaus. Paul Seebeck drückte rasch auf einen der Knöpfe und +schlug dann die Stahltür zu. Im selben Augenblick erhob sich bei dem +angegebenen Punkte auf dem Meere eine gewaltige Wasserpyramide, blieb +einige Sekunden stehen und brach dann in sich zusammen. Erst eine halbe +Minute später klang ein dumpfes Grollen herüber. Der mit Schaum bedeckte +Wasserspiegel war in wilde Bewegung geraten. Selbst im Hafen +schaukelten die Schiffe. + +Herr von Hahnemann sah Seebeck stumm an; dann verbeugte er sich und +verließ das Zimmer. + +Er ging so schnell er konnte die Straße hinunter, an allen denen vorbei, +die ihn wieder erkannten und ansprechen wollten, und stand eine +Viertelstunde später in Herrn de la Rouvières Haus. + +Der Krüppel bestürmte ihn mit Fragen, aber Herr von Hahnemann schüttelte +nur unwillig den Kopf. Er fragte: + +»Wissen Sie, daß die Insel befestigt ist?« + +Herr de la Rouvière fuhr erstaunt auf: + +»Daß sie befestigt ist? Das ist doch unmöglich. Erst vorgestern wurde +doch die Befestigung beschlossen.« + +Herr von Hahnemann lachte kurz auf: + +»Herr Seebeck scheint keine große Achtung vor der Monatsversammlung zu +haben. Jedenfalls ist die Insel schon befestigt, und die Versammlung hat +etwas zu bauen beschlossen, was faktisch schon da ist. Er wird es wohl +schon oft so gemacht haben. Ich will Ihnen etwas sagen«, fuhr er fort, +wobei er dicht an den Krüppel herantrat, »ich habe Herrn Seebeck die +Enthebung aus seinem Amte mitgeteilt, die er aber ignoriert. Er muß also +mit Gewalt entfernt werden. Hier ist kein anderer Ausweg tunlich. Bei +den Befestigungen ist es aber ohne Blutvergießen nicht möglich, und das +zu verhindern ist meine Pflicht. – Sie haben sich ja Ihres großen +Einflusses und Ihrer Verbindungen hier gerühmt; beweisen Sie mir jetzt, +daß Sie wahr gesprochen haben. Und dann – die Reichsregierung kann Herrn +Nechlidow als früherem, russischem Flüchtling kein Amt übergeben, aber +Ihnen, dem Träger eines alten Adelsnamens, der Sie außerdem hier +praktisch in die Geschäfte eingearbeitet sind, könnte ich das +Reichskommissariat übertragen. Die Vollmacht dazu habe ich. Die +Reichsregierung will unter keinen Umständen einen Kommissar von Berlin +hierher senden; sie hat mich beauftragt, einer hiesigen geeigneten +Persönlichkeit das Kommissariat zu übergeben, um jeden Schein eines +gewaltsamen Eingriffes zu vermeiden. Also schaffen Sie mir die +Befestigungspläne und Sie sind Reichskommissar!« + +Die Augen des Krüppels glänzten: + +»Das wird nicht schwer sein, Herr von Hahnemann. Wenn Sie so +liebenswürdig sein wollen, eine halbe Stunde hier zu warten, komme ich +mit den Plänen.« + +»Wissen Sie denn, wo sie sind?« + +»Jedenfalls doch im Archiv; und Frau von Zeuthen ist meine gute +Freundin.« + +»Ah!« Über das Gesicht des Marineoffiziers glitt ein gemeines Lächeln. + +»Sie verstehen, Herr von Hahnemann? Eine Frau kann aus Edelmut sterben, +aber sie kann sich keinem Skandal aussetzen. Am wenigsten sie, die +Keusche, Reine, sie, die Unerreichbare, die ich doch erreichen konnte – +wie alles andere auch.« + +Der Offizier war wieder ganz ernst geworden: + +»Wie Sie das machen, ist Ihre Sache. Aber nicht die Originale selbst, +die könnten später vermißt werden, sondern Sie müssen die Pläne +kopieren, verstehen Sie? Und Niemand darf etwas davon erfahren, dafür +müssen Sie sorgen. Sonst wird die Sache einfach verändert, und wir +sitzen da.« + +»Keine Sorge, Herr von Hahnemann, bleiben Sie nur ruhig hier; ich bin +bald wieder zurück.« + +Und die langen Arme schlenkernd und eifrig vor sich hinmurmelnd, +stolperte der Krüppel die Hauptstraße hinauf. Bei Frau von Zeuthens Haus +angekommen, sagte er dem Dienstmädchen, er käme in Geschäften und wurde +natürlich sofort eingelassen. + +Mit Siegermiene trat er in Frau von Zeuthens Arbeitszimmer, aber er sank +gleichsam in sich zusammen, als er in ihre strahlenden, braunen Augen +blickte. Er wollte sich ihr nähern, aber sie hob abweisend die Hand. Da +blieb er bescheiden an der Türe stehn. + +»Geschäfte, Herr de la Rouvière?« fragte sie ruhig. + +»Ja, gnädige Frau. Ich muß Sie um die Befestigungspläne bitten, die Sie +ja als Archivarin in Verwahrung haben.« + +»Nein«, sagte Frau von Zeuthen, »die Pläne habe ich allerdings. Sie gehn +aber nur die Vorsteher an. Und so weit haben Sie es doch noch nicht +gebracht.« + +Mit eingezogenem Kopfe sah er sie von unten an. + +»Gnädige Frau, ich bin – Reichskommissar an Paul Seebecks Stelle.« + +Frau von Zeuthen lachte laut auf und sah ihm belustigt ins Gesicht. + +Der Krüppel biß die Zähne zusammen. + +»Gnädige Frau«, sagte er drohend. + +»Wenn Ihre Geschäfte so sonderbarer Natur sind, brauchen wir sie nicht +länger zu diskutieren. Gehen Sie, Herr Reichskommissar.« Damit drehte +sie ihm den Rücken zu und setzte sich an ihren Schreibtisch. + +Mit leisen, schleichenden Schritten näherte er sich ihr. Sie stand auf +und wandte sich ihm zu. Mit beiden Händen hielt sie sich rückwärts am +Schreibtische fest. + +»Weshalb gehen Sie nicht«, sagte sie herrisch, aber ihre Stimme zitterte +dabei. + +»Ich muß die Pläne haben«, sagte er, dicht bei ihr, und hob dabei die +langen Arme mit den schwarzbehaarten Händen. + +»Aber ich gebe sie Ihnen nicht und damit gut. Gehen Sie! Jetzt bestätigt +sich also meine Vermutung, daß Sie zu den Verrätern gehören. Gehen Sie, +mit Ihnen bin ich fertig.« + +»Gnädige Frau«, die Stimme des Krüppels war ganz sanft, »Sie scheinen +sehr leicht zu vergessen!« Er schritt auf die Tür zu, faßte die Klinke +und drehte sich wieder nach Frau von Zeuthen um. »Soll ich wirklich +allen Leuten erzählen, was in einer gewissen Nacht zwischen uns +vorgefallen ist?« Er richtete sich auf und sagte kameradschaftlich: +»Geben Sie mir doch lieber die Pläne.« + +Frau von Zeuthen ging zu ihrem großen Schranke, öffnete diesen aber +nicht, sondern holte aus dem Winkel zwischen ihm und der Wand Felix’ +Reitpeitsche hervor. Sie wog sie prüfend in der Hand, trat dann schnell +auf Herrn de la Rouvière zu und schlug sie ihm zweimal mit aller Kraft +durchs Gesicht. Dann warf sie die Peitsche fort und blieb hoch +aufgerichtet vor ihm stehn. Er sah sie eine Weile ganz verständnislos +an, griff dann mit beiden Händen an sein schmerzendes Gesicht und +taumelte hinaus. + +Vor der Haustüre blieb er stehn und nickte bedächtig mit dem Kopfe. Dann +ging er langsam, sehr langsam, die Hauptstraße hinauf, am Volkshause +vorbei und weiter am Flusse entlang zum Staubecken. Er ging dorthin, wo +der Fluß in das Becken eintrat, sah lange auf das Wasser und stieg dann +langsam und fröstelnd hinein. Er glitt aus, schrie auf, sah auf der +Straße das Lastautomobil halten, sah ihm Leute entsteigen, die ihm +zuwinkten, zuriefen; er wollte ans Ufer zurück, aber schon hatte ihn die +Oberströmung erfaßt. Langsam führte sie ihn fort; er hörte das Brausen +des Wasserfalles näher und näher, die Strömung wurde stärker, immer +stärker, das Brausen kam näher, näher, jetzt – + +Sechshundert Meter war die Felswand hoch, von der das Wasser senkrecht +in das Meer stürzte. + +Und am selben Abende verließ Herr von Hahnemann auf seinem Torpedoboot +unverrichteter Sache die Schildkröteninsel. + + + + +Eine außerordentliche Versammlung der Gemeinschaft – das war noch nie +dagewesen. Und doch war niemand erstaunt, als die Vorsteherschaft durch +Maueranschlag zu dieser einlud; es lag so viel ungelöste Spannung in der +Luft, soviele Vermutungen waren nur halb ausgesprochen, von Mund zu Mund +gegangen, daß alle es als eine Erleichterung empfanden, eine klare +Darstellung aller jener unverständlichen Vorgänge zu erhalten. Und das +galt nicht nur von der Bürgerschaft – gerade die Vorsteher fühlten +stärker als je die Kluft, die sie von den Anderen trennte, und wollten +auch Kenntnis von allen dunklen Strömungen erhalten, von denen sie nur +den letzten Wellenschlag gefühlt hatten. + +Erst als die Gemeinschaft vollzählig versammelt war, betraten die +Vorsteher den großen Saal des Volkshauses. Otto Meyer übernahm als +Stellvertreter des abwesenden Jakob Silberland den Vorsitz. Sogleich, +nachdem auf ein Glockenzeichen Ruhe eingetreten war, mehr als Ruhe: +Totenstille, erhob sich Paul Seebeck. Sein Gesicht war bleich, +erschreckend bleich, und seine Augen lagen schwarz umrändert tief in den +Höhlen. + +»Liebe Freunde«, sagte er, »jetzt ist die ernsteste Stunde gekommen, +die wir bis jetzt hier erlebt haben. Jetzt handelt es sich um ein klares +Ja oder Nein. Jetzt muß entschieden werden, ob der Staat, den wir alle +in treuer Zusammenarbeit errichtet haben, zerstört werden darf oder +nicht. Wir können das Unglück noch abwenden. Noch können wir unser Werk +uns und unseren Kindern erhalten. Aber ein mutiger Schritt ist dazu +notwendig. + +Wir haben Verräter im eigenen Lager gehabt, gemeine Schurken, die, um +sich selbst vorwärts zu bringen, die Zukunft der Gemeinschaft opferten, +und wieder andere, die aus einem falschen, kurzsichtigen Idealismus +heraus, in bester Absicht, den Feind ins Land riefen. Vielleicht sehen +sie jetzt ein, wie unverantwortlich leichtsinnig sie gehandelt haben und +benutzen jetzt die Gelegenheit, ihr Unrecht wieder gutzumachen. Aber +auch sie waren nur Werkzeuge, boten nur den erwünschten Vorwand zur +Vernichtung unseres Werkes etwas früher, als es sonst geschehen wäre. +Was geschah, mußte geschehen, früher oder später, und deshalb hat es +keinen Zweck, Betrachtungen über Verschuldungen anzustellen oder +Vorwürfe zu erheben. Jetzt muß gehandelt werden. Die Sache liegt so: das +Deutsche Reich will uns nicht mehr unsere Freiheit lassen, man sieht +dort, daß wir hier die Durchführbarkeit freier Ideen beweisen und +fürchtet die Einwirkung dieser Ideen auf die eigenen, innerpolitischen +Verhältnisse. Jemand, der die gegenwärtig in Deutschland herrschende +ultrareaktionäre Strömung kennt, versteht diese Furcht der zur Zeit +regierenden Clique nur zu gut. Das wäre aber doch für uns nur ein Grund +mehr, sollte ich meinen, unser Werk bis zum letzten Punkte +durchzuführen, statt uns einfach vor Beschränktheit oder Bosheit zu +ducken. Jetzt kommt aber eine große, große Frage, die ich Sie in aller +Ruhe zu überlegen bitte: wenn wir uns hierher einen schnoddrigen +Berliner Assessor setzen lassen, ist zwar unsere Arbeit vernichtet, und +wir haben hier Zustände wie im schwärzesten Preußen, aber Sie haben +Ruhe. Wenn wir uns aber das nicht gefallen lassen, sind wir Aufrührer +und damit rechtlos, nach den heute üblichen Anschauungen nicht viel mehr +wie wilde Tiere. Und da wird nicht gefragt weshalb wir uns nicht beugen, +die Tatsache, daß wir es nicht tun, genügt. Kein Mensch in dem dumpfen +Berliner Ministerium wird verstehen, daß man Menschheitsideale über +hündischen Gehorsam stellt. Solche Gedanken sind uns reserviert. + +Ich bin aber nicht so verblendet, Sie zu einem nutzlosen Widerstande zu +verleiten, der nur den sicheren Untergang von uns allen bedeuten würde. +Es gibt einen Ausweg, und das ist dieser: wir erklären uns autonom und +lassen uns dann von England annektieren. Als englische Kolonie können +wir sicher sein, völlig ungestört weiter arbeiten zu können. Dazu haben +wir noch einige Wochen Zeit; Herr Doktor Silberland ist gegenwärtig in +Sidney, und ich werde nachher die Versammlung um die Ermächtigung +bitten, Herrn Doktor Silberland zur Vornahme der notwendigen Schritte zu +beauftragen. + +Was ich bis jetzt getan habe, geht nur mich selbst an und kann für +keinen anderen Bürger der Gemeinschaft nachteilige Folgen haben, solange +sich die Gemeinschaft nicht solidarisch mit mir erklärt. Sie brauchen +also nicht zu fürchten, daß ich Sie in irgend eine schwere Situation +hineingebracht habe. Sie können ganz frei beschließen. + +Wenn Ihnen unsere Sache aber lieb ist«, und Paul Seebecks müde Augen +bekamen Glanz und Feuer, »wenn Sie als Männer für Ihr Werk eintreten +wollen, dann können wir es retten. Bevor ein Kriegsschiff hier ist, +können wir unsere Befestigungen vollenden und können uns halten, bis wir +unter englischem Schutze stehen. + +Ich mag darüber nichts mehr sagen, ich will Sie zu keinem folgenschweren +Entschlusse überreden, den Sie später bereuen. Überlegen Sie es sich in +Ruhe.« + +Das eiskalte Schweigen, mit dem Paul Seebecks Rede angehört worden war, +dauerte noch fort, als er wieder auf seinem Platze saß. Dann erklang +hinter ihm eine Stimme: + +»Nechlidow soll antworten; wo steckt er?« + +Eine andere Stimme antwortete: + +»Der kommt nie mehr zu den Versammlungen.« + +Und schwer und hart sagte eine dritte Stimme: + +»Nechlidow ist ein Lump, mag er sich ersäufen wie der andere. Ich halte +zu Herrn Seebeck.« + +Jetzt wich die Starre von der Versammlung; man redete, schrie +durcheinander, die Gesichter wurden rot, Arme wurden bewegt, der Lärm +stieg und stieg – + +Paul Seebeck trat wieder auf das Podium, aber er konnte nicht sprechen. +Die Leute verließen ihre Plätze, umdrängten ihn, drückten seine Hände, +jeder, jeder einzelne wollte ihm Treue geloben. + +Paul Seebeck wollte reden, wollte ihnen danken, aber er stammelte nur +einige Worte und sank dann bewußtlos um. Er hörte nur noch Edgar Allans +schneidend scharfe Stimme: + +»Aber jetzt bitte nicht nur Worte, Leute, auch Taten.« + +Paul Seebeck wurde in ein anstoßendes Zimmer getragen und Frau von +Zeuthen und Otto Meyer übernahmen seine Pflege. + +Inzwischen wurden die Verhandlungen unter Herrn von Rochows Vorsitz +fortgesetzt. Paul Seebecks Vorschläge wurden einstimmig genehmigt, +obwohl sich manche recht zögernd von den Sitzen erhoben. Unter dem +brausenden Beifall der Versammlung verkündete Herr von Rochow darauf die +Autonomie der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel. + + + + +Noch immer keine Entscheidung von Sidney. Bei der immer stärkeren +Spannung zwischen England und Deutschland wäre der Ausbruch eines +Krieges in der allernächsten Zeit höchst wahrscheinlich, schrieb Jakob +Silberland. Dann wäre die Annektion selbstverständlich. Bis dahin müßte +man sich halten. + +Und mit allen Kräften wurde gearbeitet. Fünfzig unverheiratete Männer +wurden vom Hauptmann von Rochow im Gewehrschießen eingedrillt. Die +Vorsteher und außer ihnen Felix und Melchior übten sich an den +Geschützen, und manche Klippe da draußen im Meere war von den schweren +Granaten des Festungsgeschützes bei Schießübungen getroffen, in die Luft +geflogen. + +Der »Vulkan« wurde inzwischen zur Aufnahme aller Nichtkämpfer +eingerichtet. Welchem Zwecke die Gebäude dort auch ursprünglich bestimmt +waren, jetzt wurde alles zu Wohnstätten eingerichtet, sogar die +Umkleidezellen des Schwefelbades. Ein Fieber hatte alle ergriffen, ein +Freiheitsrausch, und als sich nach fünf Wochen am Horizonte die +Rauchsäule des Kreuzers zeigte, wurde er von den kampffrohen Männern mit +Jubel begrüßt. Man war bereit, ihn zu empfangen. Vor Seebecks Haus +standen in Reih und Glied die Infanteristen mit ihren Mausergewehren, +die Stahlläden vor den Geschützscharten in Seebecks Keller waren +aufgeklappt und die Geschütze nach vorn gerollt. Vier Meter ragte der +hellgraue Lauf des Festungsgeschützes heraus. Es wurde von Edgar Allan +und Felix bedient, während Otto Meyer und Melchior an den beiden +Maschinengewehren standen. + +Oben in Paul Seebecks Arbeitszimmer standen er und Frau von Zeuthen. Vor +ihnen auf dem Schreibtische lag der Lageplan der Seeminen; die Stahltür +an der Wand stand offen und zeigte die sechzig weißen Tasten. + +»Wie weit ist das Schiff jetzt?« fragte Frau von Zeuthen. + +Paul Seebeck sah prüfend durch sein Fernglas: + +»Zehn Kilometer, schätze ich es jetzt.« + +Einige Minuten später hielt der Kreuzer an. Ein weißes Wölkchen erhob +sich und eine halbe Minute später rollten drei dumpfe Schüsse über die +Stadt. + +»Die waren blind!« rief Hauptmann von Rochow herauf. + +»Noch zwei Kilometer, und das Schiff kommt in den Bereich unserer +Minen.« + +Aber der Kreuzer drehte sich auf der Stelle und wandte der Stadt seine +Breitseite zu. + +»Ja, da draußen konnten wir leider keine Minen legen, es ist zu tief«, +sagte Paul Seebeck. »Aber hierher kommen können sie doch nicht. Und +Silberland wird ja bald kommen; er weiß ja, daß in diesen Tagen der +Kreuzer kommen mußte. Solange müssen wir uns eben halten. Das können wir +auch.« + +»Und wenn es nichts wird?« + +Es zuckte um Paul Seebecks Mundwinkel, als er sagte: + +»Sie wissen, daß ich für mein Werk sterben kann.« + +Das Haustelephon, das den Keller mit Paul Seebecks Arbeitszimmer +verband, klingelte. Seebeck nahm das Hörrohr: + +»Ja.« + +»Hier Allan. Was meinen Sie, sollen wir nicht den Salut beantworten? Es +ist doch unhöflich, einen Gruß nicht zu erwidern.« + +»Schön, aber blind. Wir wollen nicht anfangen.« + +Das Haus bebte in seinen Fugen, als der Schuß krachte. + +Einige Minuten später kam die Antwort: im Hafen stieg eine Wassersäule +auf, der ein doppelter Knall folgte. + +»Was jetzt?« – telephonierte Allan herauf. + +»Abwarten, ob sie wirklich ernst machen. Je mehr Zeit wir gewinnen, +desto besser«, gab Paul Seebeck zurück. + +Aber Minute auf Minute verrann, eine Stunde, eine zweite, und nichts +geschah. + +»Die Herren erwarten wohl, daß wir die bewußte weiße Fahne aufziehen«, +sagte Paul Seebeck zu Frau von Zeuthen. + +Da hüllte sich plötzlich der Kreuzer in eine einzige Rauchwolke. Im +Hafen erhob sich eine ungeheure Wasser- und Staubwolke, der ein +donnerndes, krachendes Getöse folgte. Wie sich die Wolke verzogen hatte, +sah man, daß alle Hafenanlagen mit der Landungsbrücke und den +Lagerhäusern in Trümmern lagen. Die am Quai liegenden Fischerboote waren +fast sämtliche verschwunden. Aber das wild wogende Meer war mit Trümmern +und Balken bedeckt. + +Und Schuß auf Schuß folgte, aber alle galten nur dem Hafen. + +»Sie wollen uns so lange schonen, wie es geht, und das gefällt mir sehr, +damit gewinnen wir Zeit«, sagte Paul Seebeck zu Frau von Zeuthen. Dann +telephonierte er zu Allan: + +»Wir dürfen erst schießen, wenn sie die Stadt selbst beschießen. Nicht +vorher.« + +Von unten her klangen Rufe, die man bei dem Getöse nicht verstehen +konnte. Frau von Zeuthen trat ans Fenster und sah hinunter. + +Auf ihrem völlig erschöpften Pferdchen ritt Hedwig die Hauptstraße +hinunter, drängte sich durch die Infanteristen und stürmte die Treppe +hinauf: + +»Der Dampfer von Sidney liegt da hinten, dicht an der Insel; man kann +ihn vom Vulkane aus sehen. Herr Silberland ist in einem Ruderboote vom +Dampfer abgestoßen, ich konnte ihn ganz deutlich erkennen. Der Dampfer +fuhr dann wieder weg.« + +Paul Seebeck war aufgesprungen: + +»Wo liegt der Dampfer? Wo?« + +Hedwig beschrieb ihm die Stelle. + +»Hierher rudern! War er allein?« + +»Ja.« + +»Um Gotteswillen, das sind ja über dreißig Kilometer. Wenn er das +aushält. Wann war das?« + +»Ich mußte zuerst herunterlaufen und mein Pferd holen. Ich bin so +schnell geritten, wie ich konnte. Aber drei Stunden ist es mindestens +her.« + +»Dann kann er in zwei Stunden hier sein.« + +Frau von Zeuthen strich ihrer Tochter über das erhitzte Gesicht: + +»Leg dich etwas auf Pauls Bett, mein Kind, und ruh dich aus. Aber dann +mußt du wieder zurückreiten, hörst du?« + +»Darf ich nicht hier bleiben, Mutter?« + +»Nein, das geht nicht, Kind.« + +»Aber Fräulein Erhardt kommt auch, sie geht sogar zu Fuß, ich habe sie +überholt.« + +»Wenn du ihr auf dem Rückwege wieder begegnest, sag ihr, daß sie +umkehren soll«, sagte Paul Seebeck. »Aber geh jetzt Kind und ruh dich +etwas aus. Oder willst du etwas zu essen haben?« + +Hedwig schüttelte schmollend den Kopf und ging in Paul Seebecks +Schlafzimmer. + +»Also nur noch zwei Stunden, dann wissen wir Bescheid«, sagte Paul +Seebeck aufatmend. »Wenn Silberland es nur aushält.« + +Hedwig war in Paul Seebecks Schlafzimmer gegangen, aber sie legte sich +nur für einige Minuten auf sein Bett. Leise öffnete sie dann die Tür zum +Badezimmer, schlüpfte durch dieses in die Küche und ging die +Hintertreppe hinunter. Mit einigen Sprüngen hatte sie unbemerkt die +nächsten Häuser erreicht und ging jetzt durch die kleinen Gäßchen, die +die einzelnen Terrassen mit einander verbanden, zum Meere hinunter. In +kurzen Zwischenräumen schlugen noch immer die Granaten in den Hafen. + +Hedwig ging zu Nechlidows Häuschen, das gerade am Anfang der +Fischerstraße lag. Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Türe und trat +ein. + +Es war still im ganzen Hause. Hedwig trat ins Wohnzimmer ein. Hier war +es fast dunkel, denn die Fenstervorhänge waren dicht zugezogen. + +Nechlidow erhob sich von seinem flachen Sofa zu einer halbsitzenden +Stellung. + +»Sie kommen zu mir, dem Verfehmten? Wird man Sie nicht steinigen, wenn +man das erfährt?« + +Ein scharfer Knall in der Nähe, dem ein anhaltendes Prasseln und Krachen +von niederstürzenden Mauerteilen folgte, ließ ihn aufstehen. Er trat zum +Fenster und zog die Vorhänge zurück. Das gegenüberliegende Haus hatte +sich in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandelt. + +Nechlidow lachte bitter auf: + +»Meine Schuld, nicht wahr?« + +»Herr Nechlidow«, sagte Hedwig bittend und trat an ihn heran. »Glauben +Sie nicht doch, daß Paul recht gehandelt hat?« + +»Bei Gott, er hatte nicht recht, und wenn ich tausendmal daran Schuld +trage, daß jetzt alles zusammenbricht. Ich habe das nicht gewollt. Ich +habe nicht vorausgesehen, daß es so kommen würde. Aber es ist besser, +daß diese riesige Lüge zusammengeschossen wird, als daß sie weiter lebt. +Wer weiß, vielleicht kommen die englischen Schiffe noch rechtzeitig, +und dann baue ich die Stadt wieder auf. Und wenn sie nicht kommen, um so +besser, dann ist eine Halbheit weniger auf der Welt.« + +»Sind Sie wirklich schuld daran?« fragte Hedwig schüchtern. + +Nechlidow legte ihr beide Hände auf die Schultern und sah ihr in die +braunen Augen: + +»Weshalb kommen Sie mit dieser Frage zu mir?« + +»Weil ich wissen will, was Sie sind.« + +»Nein, Hedwig, es ist nicht meine Schuld. Die Leute sind daran schuld, +sie sind ja alle behext, haben ihr bischen Vernunft ganz verloren. Wenn +Seebeck aus lauter Sentimentalität die Dummheit begeht, seine Entlassung +zu verweigern, weshalb ihm dann zustimmen, weshalb es zur Revolution +kommen lassen! Wir hätten alles so glatt machen können, Seebeck hätte +gehen müssen, Rouvière wäre Reichskommissar geworden. Aber da kam wieder +der sinnlose Selbstmord von Rouvière dazwischen, und damit war alles +verloren. Denn Rouvière hatte die Leute in der Tasche. Ja, und jetzt +gehen mir dieselben Menschen, die unsere Klageschrift unterschrieben +haben, wie einem Pestkranken aus dem Wege und lassen sich Seebecks +schöner Augen wegen von ihm in den Tod führen. Eine Kette von +unbegreiflichen Sentimentalitäten war wie immer der Grund alles +Unglücks. Mein Fehler war nur, daß ich auf die Vernunft der Menschen +vertraute. Das ist die Wahrheit, Hedwig.« + +»Aber was soll jetzt kommen? Was werden Sie tun?« + +»Ich? Ich warte, bis meine Zeit gekommen ist. Die da drüben mögen sich +gegenseitig zerfleischen, wenn sie noch nicht reif für die Vernunft +sind. Ich glaube an sie und an ihren endlichen Sieg. Ich glaube an die +Menschheit.« + +Hedwig sah vor sich hin. Dann schüttelte sie ihren Lockenkopf: + +»Wollen wir nicht noch einmal zu unserer Landspitze hinausgehen? Wer +weiß, wann wir wieder zusammen sein können.« + +Und sie gingen Hand in Hand die Treppe hinunter und traten auf die +Straße. Da schoß dicht vor ihnen auf der Straße ein blendend weißes +Licht auf. Nechlidow taumelte zurück. Hedwig stieß einen leichten Schrei +aus und fiel flach auf das Gesicht. + +Nechlidow sprang auf sie zu, hob sie auf, drückte sie an seine Brust – +sie schlug die Augen auf, lächelte noch einmal, wollte die Hand heben, +aber ließ sie schlaff wieder fallen. Ihr Haupt sank zurück – + + * * * * * + +Ein Ruderboot wandte sich um die Landspitze, die die bewohnte Bucht von +der Irenenbucht schied. + +»Das ist Silberland«, rief Paul Seebeck Frau von Zeuthen zu. + +Er lief die Treppe hinunter, auf die Straße, schrie Hauptmann von Rochow +zu: + +»Bleiben Sie hier. Handeln Sie nach Ihrem Gutdünken!« und stürzte dem +Hafen zu. Mehrere Granaten schlugen in seiner Nähe ein und bedeckten ihn +mit Staub. Unten angekommen, sah er um sich. Alles lag schon in +Trümmern. In der Fischerstraße standen nur noch einige Häuser. Und +horch! das Prasseln auf den Steinen, das Klirren an Fensterscheiben, die +kleinen Springbrunnen auf dem Meere. Also hatten sie schon die +Maschinengewehre in Tätigkeit gesetzt. + +Da kam das Ruderboot. Jakob Silberland stand auf und rief etwas, was +Seebeck des Lärmes wegen nicht verstehen konnte. Jakob Silberland setzte +sich wieder an die Ruder. Jetzt war er nur noch zwanzig Schritte vom +Strande entfernt. Wieder stand er auf. Sein Gesicht war verzerrt, Blut +floß von seinen Händen herunter. Er schrie: + +»Entente cordiale zwischen England und Deutschland; damit ist der +Weltfriede endgiltig gesichert.« + +Klack, klack, klack klang es im Boote und im Wasser – Jakob Silberland +fuhr sich mit der Hand ins lange schwarze Haar und brach dann auf der +Bootsbank zusammen. Langsam füllte sich das durchlöcherte Boot mit +Wasser und sank. + +Paul Seebeck blieb mit verschränkten Armen stehn und sah das Boot +versinken. + +Da legte sich eine Hand auf seine Schulter und er sah in Nechlidows +bleiches Gesicht. An den Kleidern hatte er große Blutflecke. Er fragte: + +»Darf ich zusammen mit Ihnen sterben, Herr Seebeck?« + +Seebeck reichte ihm die Hand: + +»Lassen Sie uns zusammen sterben, Sie für Ihre Idee, ich für mein Werk.« + +Nechlidow schüttelte den Kopf: + +»Ich sehe nichts mehr, weiß von keiner Vernunft mehr. Ich sehe nur noch +einen Strom, dessen Wellen uns in die Höhe hoben, als wir ihn zu leiten +glaubten, und der uns jetzt mitleidlos wieder in seine Strudel zieht. +Aber ich sehe nicht, wohin er geht. Ich sehe nur noch Sie und will mit +Ihnen zusammen sterben.« + +»Kommen Sie«, sagte Seebeck. »Wir wollen den anderen sagen, daß wir alle +sterben müssen.« + +Aber auch oben hatte man Jakob Silberlands Untergang gesehen. + +»Jetzt ist es genug!« rief Edgar Allan Hauptmann von Rochow zu. Dieser +nickte. Und einige Minuten später donnerte das schwere Festungsgeschütz, +begleitet vom Knattern der beiden Maschinengewehre. + +Dies war aber nur ein Signal für den Kreuzer, seinerseits das Feuer zu +verstärken. Und jetzt galten seine Schüsse nicht mehr dem Hafen. Überall +schlugen die Granaten in die obere Stadt. An vielen Stellen brannten die +Häuser. + +Da kamen Paul Seebeck und Nechlidow zusammen die Straße herauf. Die +Leute umdrängten sie, fragten, aber die beiden gingen hinauf in das +Seebecksche Arbeitszimmer. Dort trat Paul Seebeck ans Fenster, wartete, +bis das Feuer für einen Augenblick verstummte und rief dann mit scharfer +klarer Stimme: + +»Wir bekommen keine Hilfe von England. Wer ist bereit, mit uns für unser +Werk zu sterben?« + +Die Gesichter dort unten wurden groß. Wutschreie ertönten. Drohende +Fäuste wurden emporgereckt. Aus dem Gebrülle waren nur einzelne Worte +verständlich: + +»Wir wollen uns nicht hinschlachten lassen!« + +»Wir sind verraten.« + +»Wir wollen die da oben ausliefern und uns ergeben ...« + +»Drehen Sie die Geschichte herum«, sagte Edgar Allan zu Felix, und der +gehorchte. Die noch rauchende Mündung des Festungsgeschützes war auf die +Infanteristen gerichtet. + +Da liefen sie, warfen die Gewehre fort, liefen, was sie konnten, nur +fort, dem sicheren Hochlande, dem Leben, der Zukunft zu. Nur einer +drehte sich um und feuerte einen Schuß ab, bevor er den anderen gleich +sein Gewehr fortwarf. + +Edgar Allan brach, ins Herz getroffen, lautlos zusammen. + +An seine Stelle trat Nechlidow. Niemand fragte ihn, weshalb er gekommen +sei, niemand machte ihm Vorwürfe. Man drückte ihm die Hand, und +schweigend trat er an das Geschütz. + +Hauptmann von Rochow warf noch einen Blick auf seine fliehenden +Soldaten, dann ging er zu Seebeck hinauf. + +Seebeck konnte ihm nur flüchtig zunicken, denn jetzt geschah draußen +etwas Sonderbares: der Kreuzer stellte sein Feuern ein, und die +Dampfbarkasse wurde ins Wasser gesenkt. Von der anderen Seite kam ein +bemanntes Boot, das die Barkasse in Schlepptau nahm. + +»Hört mit dem Schießen auf«, telephonierte Seebeck hinunter. »Vielleicht +kommen die in friedlicher Absicht.« Aber so scharf er auch hinsah, er +konnte keine weiße Fahne bemerken. + +»Sind denn die Leute wahnsinnig? Sie wissen doch, daß Seeminen da +draußen liegen!« rief Seebeck. + +Die Dampfbarkasse nahm aber nicht den Weg nach dem Hafen zu, sondern +fuhr auf die Landspitze bei der Irenenbucht zu. + +»Die glauben, daß da keine Minen liegen und wollen da landen. Herr von +Rochow, ich bitte Sie!« Hauptmann von Rochow stürzte zum Tastbrett, und +Paul Seebeck beugte sich über den Plan. Die Barkasse kam näher, war +jetzt bei der flachen Klippe – + +Fragend sah Herr von Rochow Seebeck an, der mit verschränkten Armen und +zusammengepreßten Lippen ans Fenster getreten war. + +»Siebenunddreißig, achtunddreißig, zweiundvierzig«, sagte er kurz und +scharf. + +Wie um einen Akkord zu spielen, drückte Hauptmann von Rochow die drei +Tasten nieder, und draußen schoß ein ungeheurer Wasserberg in die Luft +und stürzte dann mit donnerndem Gebrüll zusammen. Boote und Klippe waren +verschwunden. + +Herr von Rochow griff sich mit beiden Händen taumelnd an den Kopf: + +»Deutsche, deutsche Soldaten«, murmelte er wie irrsinnig. Dann richtete +er sich kerzengerade auf, zog einen Revolver aus der Tasche und schoß +sich in die Schläfe. + +Seebeck wandte sich beim Knalle um; spöttisch lächelnd sah er auf die +Leiche. + +Frau von Zeuthen war entsetzt aufgesprungen. Dann setzte sie sich +wieder auf ihren Stuhl. Seebeck trat auf sie zu: + +»Gehen Sie jetzt, Gabriele. Denn dem, was jetzt kommen wird, sind die +Nerven keiner Frau gewachsen. Gehen Sie, Sie müssen sich Ihren Kindern +erhalten.« + +Sie stand auf und schüttelte energisch den Kopf: + +»Ich bleibe bei Ihnen, meinetwegen –« + +»Nichts geschieht Ihretwegen«, unterbrach sie Seebeck schroff. Dann +setzte er aber sanft hinzu: »Denken Sie an Ihre Kinder, Gabriele. Sie +haben noch eine Aufgabe auf dieser Welt, wir nicht mehr. Und nehmen Sie +Felix mit; wozu soll er sich hier verbluten. Sie können ihm nach zehn +Jahren erzählen, was sich hier alles vor seinen Augen abgespielt hat. +Dann wird er es verstehen und davon lernen. Und grüßen Sie Ihre kleine +Hedwig von mir.« + +Da sank Frau von Zeuthen vor ihm nieder und küßte seine Hände. Er hob +sie auf und zog sie an seine Brust. Draußen krachten wieder die +Granaten, und unten donnerte das Festungsgeschütz, begleitet vom +Knattern der beiden Maschinengewehre. + +Frau von Zeuthen riß sich los: + +»Felix muß bei Ihnen bleiben, Seebeck! Das Opfer muß ich Ihnen bringen. +Er ist ein Mann. Er soll Ihr Geschick teilen. Ich gehe zu Hedwig.« + +Paul Seebeck trat ans Telephon. + +»Felix soll herauf kommen.« + +Das schwere Geschütz verstummte und Felix kam herauf. + +»Was gibt’s?« + +»Du mußt deine Mutter zum Vulkane zurückbegleiten.« + +»Aber Paul!« + +»Du mußt! Hol dein Pferd für deine Mutter.« + +»Paul, ich will bei dir bleiben.« + +»Felix, es hat keinen Sinn mehr. Denk was für ein Leben du noch haben +kannst und denk an deine Mutter.« Er legte den Arm um Felix Schulter und +führte ihn Frau von Zeuthen zu: + +»Wollen Sie wirklich Ihren Jungen hier lassen?« + +Da schlang die Mutter die Arme um ihr Kind, unter strömenden Tränen rief +sie: + +»Felix, komm mit mir!« + +Er entwand sich ihren Armen und sah Paul Seebeck an. Dieser sagte: + +»Du sollst mein Erbe sein, Felix; sieh zu, ob du mein Werk fortführen +kannst, und das mit mehr Glück. Geh meines Werkes wegen.« + +Felix kämpfte mit sich. Dann sah er mit seinen strahlenden, braunen +Augen Paul Seebeck an und sagte: + +»Aber das verspreche ich dir, Paul, ich werde mich ebenso halten wie +du.« + +Paul Seebeck strich ihm über das Haar. + +»Gut, mein Junge. – Aber geh jetzt und hol dein Pferd.« + +Jetzt ging die Sonne unter, und der Kreuzer stellte sein Feuern ein. +Wenige Minuten später war es dunkle Nacht, in der hier und da die +Flammen von den brennenden Häusern emporloderten. + +Da hob sich riesengroß die rotgelbe Scheibe des Vollmondes über den +Horizont, beleuchtete den Kreuzer und sein Werk. Schaurig sahen im +kalten Lichte die Trümmer aus. Und nun begann der Kreuzer wieder zu +feuern; unter donnerndem Krachen stürzte das große Volkshaus zusammen. + +»Kommen Sie, Gabriele, jetzt ist keine Zeit mehr zu verlieren.« Er +begleitete sie bis zur Hauptstraße und weiter bis zu den rauchenden +Trümmern des Volkshauses. Da tauchte ein Schatten hinter ihnen auf, und +Felix holte sie auf seinem Pferde ein. + +»Ich möchte nur noch schnell von den anderen Abschied nehmen, geh nur +voraus, Mutter!« rief er und galoppierte zurück. + +»Leben Sie wohl, Gabriele. Mein Versprechen habe ich gehalten, nicht +wahr?« Und dann wandte er sich schnell ab und ging hinunter. + +Frau von Zeuthen ging langsam den Berg hinauf und weiter auf der Straße +hin. Als sie das Staubecken erreichte, schrak sie zusammen, denn vor ihr +erhob sich eine dunkle Gestalt. Aber der Mond erleuchtete ein bekanntes +Gesicht. + +»Fräulein Erhardt?« + +»Ja, gnädige Frau!« + +»Wollen Sie zur Stadt?« + +»Ich kann nicht mehr gehen, ich bin so müde. Wo ist Felix?« + +»Er ist in einigen Minuten hier. Ist Ihnen nicht Hedwig begegnet?« + +Fräulein Erhardt schüttelte den Kopf: + +»Nein, aber ich glaube, ich habe mehrmals auf dem Wege geschlafen. Sie +wird an mir vorbeigeritten sein, ohne daß ich sie bemerkte. Aber Felix +kommt, mein Felix!« + +Frau von Zeuthen hatte sich neben sie gesetzt und strich ihr sanft über +den Leib. Da schlang Fräulein Erhardt die Arme um ihren Hals und +flüsterte ihr zu: + +»Ich habe ja ein Kind von ihm.« + +Frau von Zeuthen küßte sie: + +»Liebe Tochter«, sagte sie. + +Dann schwiegen sie beide, saßen im bleichen Lichte des Vollmondes einsam +auf der Ebene und warteten, warteten – – + +Als Paul Seebeck von der Hauptstraße wieder auf sein Haus zu einbog, +blieb er wie erstarrt stehen, denn aus dem Kellerfenster schoß eine +Stichflamme, der ohrenbetäubender Knall folgte. Paul Seebeck griff sich +an die Stirn und stürzte dann hin. Dichter, beißender Rauch quoll aus +den Fenstern, verhüllte die Läufe der drei Geschütze – + +Er sprang die Treppe hinunter, von unten klang ihm leises Wimmern +entgegen. Die Lampe war verlöscht, aber das weiche Dämmerlicht der +Mondnacht erfüllte den Raum. + +Auf dem Boden lag Nechlidow in den letzten Zügen, der ganze Leib war ihm +aufgerissen. Über den Verschluß des Geschützes gebeugt lag Felix. Paul +Seebeck hob ihn auf. Felix schlug die Augen auf und lächelte: + +»Du, Paul, ich wollte Nechlidow doch wieder helfen; er konnte das +Geschütz nicht allein bedienen.« + +Paul Seebeck betastete ihn. Auf der rechten Brustseite war ein kleiner +nasser Fleck. Seebeck riß die Kleider auf; das Blut strömte. + +»Muß ich sterben, Paul? Dann grüß die andern.« + +»Nein, nein du bleibst leben. Hab keine Angst. Schlaf jetzt nur etwas.« + +»Ja«, sagte Felix, »ich bin so müde.« + +Und Paul Seebeck bettete den sterbenden Knaben so gut er konnte auf den +Boden. + +Unter seinem Maschinengeschütz lag Otto Meyer, ein Granatsplitter hatte +ihm den Oberschenkel zerfetzt. Er reichte Seebeck die Hand: + +»Du, sag mal, kannst du mir nicht irgend einen passenden Ausspruch +empfehlen? Ich kann doch nicht so ganz klanglos sterben. »Ich sterbe für +die Freiheit«, oder etwas ähnliches?« + +»Du stirbst, weil du ein anständiger Kerl bist.« + +»Also gut: ich sterbe, damit die Anständigkeit lebe! Bravo. Schluß. – Es +war so schön, mit dir zusammenzuarbeiten, Seebeck. Ich danke dir dafür.« + +Dann sank er zurück. + +Paul Seebeck trat an Melchior heran, der bewußtlos in einer Blutlache an +der Wand lag. Wie er ihn untersuchte, schlug er die Augen auf: + +»Herr Seebeck, Sie? Gut, daß Sie kommen. Ich habe es gefunden!« + +»Was haben Sie gefunden?« + +»Das Problem der Menschheit habe ich gefunden. Hören Sie!« Er versuchte +sich aufzurichten, aber sank wieder zusammen. + +»Das Problem der Menschheit!« Seebeck lachte auf. »Da draußen haben Sie +das Problem der Menschheit!« Und er wies auf das Kriegsschiff hinaus, +das jetzt langsam sein Feuern einstellte. + +»Seebeck, schämen Sie sich! Wer wird einen Spezialfall verallgemeinern. +Hören Sie, ich habe nicht mehr viel Zeit, glaube ich.« + +Paul Seebeck verschränkte die Arme und sah dem Sterbenden gerade ins +Gesicht. + +»Ich höre«, sagte er. + +»Sie erinnern sich noch an alle unsere Gespräche? Sie alle haben am +Problem mitgearbeitet, Sie alle haben mir Bausteine gegeben. Jetzt habe +ich aber die Formel gefunden. Sie erinnern sich, daß alle Fragen immer +wieder auf denselben toten Punkt kamen, daß man die Begriffe +gleichzeitig als fortgeschrittener, wie auch als rückständig in den +Bezug auf den realen Stand der Menschheit ansehen kann. Da kam Herr Otto +Meyer mit dem Einfall, daß sie von zwei verschiedenen Gesichtspunkten +aus betrachtet sein müßten, um verschieden zu erscheinen. Lebt er noch?« + +»Nein, er ist tot.« + +»Schade, es hätte ihn sicher interessiert. Sehen Sie, Herr Seebeck, +jetzt habe ich die beiden Standpunkte; den niedrigen des einzelnen +Menschen und den hohen der gesamten Menschheit. Wenn sich aus uns allen +kleinen gleichgiltigen Einzelwesen jetzt das ungeheure Individuum der +Menschheit aufbaut – solange ich selbst unter den Arbeitern lebte, habe +ich diese Kristallisation gefühlt, aber nicht begriffen, ich fühlte, wie +sich die Zellen instinktiv zusammenschlossen, obwohl sich jede einzelne +krampfhaft dagegen wehrte – dann müssen ja unsere Gedanken klein sein, +die der Menschheit sind aber groß, für uns ebenso unbegreiflich groß, +wie die Zelle in unserem Körper nichts von unseren Gedanken versteht, +und doch baut sie Körper und Leben auf. + +Aber da haben wir als Ausgleich jene Begriffe, halb einzel-menschlich, +halb universal-menschlich, dem Menschen zu hoch, der Menschheit zu +niedrig. Sie zeigen weder den Standpunkt des Menschen, noch den der +Menschheit, sondern gerade die noch ungelöste Spannung zwischen beiden +Teilen. + +Prüfen Sie es doch nur an irgend einem Beispiele: denken Sie an die Ehe. +Dem einzelnen Menschen ein praktisch fast unerreichbares Ideal, für die +Menschheit veraltet. Denn vom hohen Standpunkte der Menschheit aus +gesehen, gleichen sich die im Einzelfalle eintretenden Hindernisse aus; +und für den Gesamtdurchschnitt wird dann die Ehe nicht zu hoch, sondern +zu niedrig. + +Oder denken Sie an die Orthographie einer Sprache, die zwar scheinbar +rückständig ist, in Wirklichkeit aber die großen, ewigen Gesetze und +Wandlungen der Sprache, dieses Gutes nicht eines Einzelnen, sondern der +Menschheit wiedergibt.« + +»Und wie erklären Sie dieses Beispiel hier?« fragte Paul Seebeck und +wies auf die Leichen um sie her. + +»Ach was hat das zu sagen, daß einige Zellen absterben. Ein kleiner +Entzündungsprozeß im Körper der Menschheit, weiter nichts.« + +»Ja, ja«, sagte Paul Seebeck. + +»Und sehen Sie doch, daß die großen Taten nie vom einzelnen ausgeführt +werden, sondern nur von der Masse, vom Individuum Menschheit. Das ist ja +auch selbstverständlich, denn der Natur der Dinge nach muß die auf einer +millionenmal höheren Stufe stehende Menschheit auch höhere Gedanken +haben. Wie selten opfert sich ein einzelner für eine Idee, und wie +leicht tun es tausende zusammen, weil nicht mehr der Einzelne denkt, +sondern die Masse an sich.« + +»Aber hat uns nicht hier die Masse verraten, und bleiben nicht wir +einzelne zurück?« + +»Kommt das nicht auch in unserem Körper vor, in dem sich die einzelnen +Blutkörperchen gegenseitig auffressen, statt zusammen zum höheren Zwecke +als dem ihrer Einzelexistenz zu wirken? Krankheitserscheinungen, weiter +nichts. Und eben so, wie trotz aller Krankheiten der menschliche Körper +sich weiter entwickelt, so wird es auch die Menschheit tun, um später +wieder Zelle eines neuen, unermeßlich hohen Individuums zu werden. Bis +sich schließlich das Universum in einem unendlich weiteren Sinne, als +wir armselige Einzelzellchen es heute begreifen können, zu einem großen +Organismus zusammenschließt. Und da wird die Erlösung sein, der Zweck +des Daseins. Ich sterbe«, fuhr er mit schwächerer Stimme fort, »aber Sie +leben ja noch. Gehen Sie zu den Menschen und sagen Sie ihnen, daß ich +ihr Geheimnis gelöst habe.« + +Paul Seebeck schüttelte langsam den Kopf: + +»Ich gehe nicht mehr zu den Menschen, Melchior.« + +Jetzt richtete sich der Sterbende mit seiner letzten Kraft auf: + +»Sie müssen, Seebeck, sonst habe ich das alles umsonst gedacht. Das darf +doch nicht sein!« + +»Nein«, sagte Paul Seebeck hart, »Sie sollen das alles umsonst gedacht +haben. Mag Ihr Leben verschwendet sein, wie das von uns allen.« + +Da brach Melchior zusammen. + +Nun fiel das bleiche Mondlicht durch die Fenster und beleuchtete die +vier Leichen und die Geschütze. Sinnend blieb Paul Seebeck stehen. Er +schaute auf das Meer hinaus, das so friedlich dalag. Aber dort in der +Ferne das Ungeheuer, jetzt nicht mehr feuerspeiend. + +Paul Seebeck setzte sich neben Felix’ Leiche hin und wartete. Aber ihm +war keine Granate bestimmt. Da küßte er des Knaben eiskalte Stirn und +ging hinaus. Er ging an den Trümmern des Volkshauses vorbei, die sich +gespenstig in die Höhe reckten, zur Irenenbucht hinunter. Langsam stieg +er die Stufen hinab und setzte sich unten auf die Felsplatte. Er sah die +breiten Rücken der Riesenschildkröten feucht im Mondlichte glänzen, sah +sie die Köpfe erheben – + +Da ließ er sich langsam ins Wasser gleiten. Die Tiere tauchten +erschreckt unter. Er wollte schwimmen, weiter hinaus ins Meer wollte er, +aber er verfing sich in den langen Schlingpflanzen. Er kämpfte, um sich +zu befreien, aber sie ließen ihn nicht los. Da gab er nach und ließ sich +vom Wasser tragen. Es umfing ihn so lau und weich. Aber wie er sich +nicht mehr bewegte, beruhigten sich die Tiere wieder. Er sah ihre +glänzenden Rücken herankommen, dicht vor ihm tauchte ein riesiger, +schwarzer Kopf aus dem Wasser auf, schob sich langsam näher, ein +breites, zahnloses Maul öffnete sich – – + + + + +IM GLEICHEN VERLAGE ERSCHIEN: + +HANS FRANCK +THIES UND PETER +DER ROMAN EINER FREUNDSCHAFT + +PREIS BROSCH. M. 3.50, GEBUNDEN IN LEINEN M. 4.50 + +_Neue Freie Presse_: In der Freundschaft sind Fehler Verbrechen! Davon +handelt der Roman. Es ist die Tragödie restlos angestrebter +Freundesvereinigung, jener Freundschaft, die in der völligen +Umklammerung und Einschließung des geliebten Wesens dessen Menschenrecht +mit Füßen tritt, die sich selbst mordet. »Thieß und Peter« ist ein +Bekenntnisbuch, warm und sprudelnd vom Herzen gespeist. So ist Hans +Francks schöpferischer Erstling eine starke Hoffnung, die am schönsten +eingelöst scheint auf gleichem Weg. Hebbels unerbittlicher Geist und +Otto Ludwigs eherne Erzählerkunst scheinen hier in einem bewegten Kopfe +unserer Zeit wiedergeboren zu sein, der reiche bleibende Früchte +verspricht. Die Sprache ist von elastischer Härte und bringt großartige +Bilder von starker Energie. + +_Saale-Zeitung_: Oft, hundertmal, ist die Liebe zweier Männer besungen, +zerstört, angegriffen worden, niemals in der intensiven Art wie hier. +Hans Franck ist es gelungen, sein Thema restlos zu durchleben, zu +erfassen, in sich aufzunehmen, es in die Form der Kunst zu gießen und +geläutert herauszuschälen. Das Thema selbst hat Franck restlos +erschöpft, ohne auch nur die geringsten Seitensprünge zu machen. Hatte +sein Name auch zuvor schon einen guten Klang, so ist Franck mit diesem +Roman in die Reihe unserer ersten deutschen Dichter gerückt. Der Roman +wird in der Geschichte des deutschen Romans noch eine Rolle spielen. + + +IM GLEICHEN VERLAG ERSCHIEN FERNER: + +GRETE MEISEL-HESS +DIE INTELLEKTUELLEN +ROMAN + +PREIS BROSCHIERT M. 5–, ELEGANT IN LEINW. M. 6– + +_Anna Croissant-Rüst_: Die Disziplin in ihrem Roman und der Aufbau sind +bewundernswert. Die Helden des Romans, Olga, Stanislaus sind in allen +Konturen und Linien ungeheuer scharf gezeichnet und wohl geraten. Dr. +Emmerich, auch Koszinsky sind sehr gute Typen, überhaupt ist ein +Reichtum von Personen und Ideen in dem Roman, daß sich manche von den +herkömmlichen Romanmodeschneiderinnen 10 Romane daraus zurechtschneidern +könnten. Das quillt alles nur so über und ist doch in straffen Banden +gehalten. + +_Neue Freie Presse_. Manfred Wallentin ist in ihr der vorgeahnte Typus +des Menschen der Zukunft und der Schönheit, der Typus des moralischen +Übermenschen, im Sinne einer Herrennatur, die Beladene und Bedrückte +führend durch das Leben geleitet. Die anderen Figuren des Romanes, +strebende, wankende, strauchelnde und wieder sich erhebende Männer und +Frauen, verkörpern den Geist dieser Gruppe der Intellektuellen in +mannigfacher Gestalt. Zu klarem Relief sind die verschiedenen Charaktere +gearbeitet, ein jeder stellt ein Beispiel – das Typische seiner Art. +Nirgends groteske Verzerrung oder leichtfertiges Fertigwerden mit +komplizierten Gedanken. Philosophische, theosophische, soziale +Erörterungen kommen in streng geführten Dialogen zur Diskussion, wandeln +sich hier in poetisch wohltuend gemäßigter Form zu pulsendem Leben. + +_Neues Wiener Tageblatt_. Frau Meisel-Heß hat sich schon durch ein Werk +über »Die sexuelle Krise« in die Scharen der sozialreformatorischen +Streiter gestellt, während sie in ihrer »Stimme«, das ihr feinstes Buch +bleibt, eine individualistisch vertiefte Studie gibt – jeder +nachdenkliche moderne Mensch wird den Roman mit großem Interesse lesen. + +A. E. FISCHER, Buch- und Kunstdruckerei, GERA-R. + + + +[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf +Grundlage der 1912 bei Oesterheld erschienenen Ausgabe erstellt. Die +nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem +Originaltext vorgenommenen Korrekturen. + +p 019: steigen drei Reketen -> Raketen +p 022: Zeitungsberichte erkennen liessen. -> ließen +p 027: [Komma ergänzt] Blatt beugte, »der Flächeninhalt +p 030: Einen grosszügigen Künstler -> großzügigen +p 031: lächend wieder aufblickend -> lächelnd +p 033: dadurch abschliessende Form -> abschließende +p 035: Paul Seebecks Ichtyosauren -> Ichthyosauren +p 041: [Anführungszeichen entfernt] »Durch den Schriftsteller -> Durch +p 044: [Komma ergänzt] daran erinnerte, daß +p 045: du willst gleieh -> gleich +p 050: [Vereinheitlicht] im Cafe Stephanie gesessen -> Café +p 052: auf und abgehend -> auf- und abgehend +p 054: [Punkt ergänzt] Dann lief er tief errötend aus der Tür. +p 055: [Anführungszeichen korrigiert] einer von den Unsrigen.« +p 059: [Zeichen ergänzt] also [ ]in Vorrecht -> ein +p 058: fuhr erfort[ ], -> er fort, +p 062: fragte Seebeck die Hand -> fragte Seebeck, die Hand +p 063: ausgewachene Riesenschildkröte -> ausgewachsene +p 063: Das es jetzt ... nicht mehr gibt, -> Da +p 065: bilden kann, ohne das -> daß +p 067: alle sozialen und sozial-psychologischen Phänomen -> Phänomene +p 069: Schwäche und Dumheit -> Dummheit +p 072: Jacob Silberland den geringsten Kummer -> Jakob +p 075: Rhytmus -> Rhythmus +p 076: [Anführungszeichen korrigiert] erinnern Sie sich noch?« +p 089: an Herren Seebeck erlauben -> Herrn +p 090: Denn wir wissen alles, was wir ihm schulden -> alle +p 090: [Punkt ergänzt] im Buche der Menschheit stehen.« +p 092: allerhand Papier zusammen, die -> Papiere +p 093: [Komma entfernt] fünfhunderteinundzwanzig, Mark. +p 097: geklatscht und gestrampelt -> getrampelt +p 106: antworetete der Krüppel -> antwortete +p 108: [Komma ergänzt] Rechtsstreitigkeiten«, wie [...] ausdrückt +p 108: alle Steitigkeiten durch -> Streitigkeiten +p 116: [Vereinheitlicht] Orang-Utans vorfinden«. -> vorfinden.« +p 122: Arbeit ausführen nnd -> und +p 122: die wir jetzt darstellen, -> darstellen. +p 139: [Punkt ergänzt] Schatten auf sie. +p 145: stand der Krüppel auf; -> auf: +p 151: [Punkt ergänzt] die sich auf dem Tische befand. +p 156: Proviant für viezehn Tage -> vierzehn +p 167: [Anführungszeichen korrigiert] praktische Bedeutung hat?« +p 183: [Vereinheitlicht] der Vorstandsschaft -> Vorstandschaft +p 201: [Anführungszeichen korrigiert] »Woher wissen Sie das?« +p 213: [Vereinheitlicht] Herr Reichkommissar -> Reichskommissar +p 214: Reipeitsche -> Reitpeitsche +p 227: ihr auf den Rückwege -> dem +p 233: [Anführungszeichen korrigiert] »Wir sind verraten.« +p 233: [Ellipse ergänzt] ausliefern und uns ergeben .. « -> ...« +p 241: [Punkt ergänzt] Gut, daß Sie kommen. +p 245: der menschlichen Körper sich -> menschliche +p 247: Neue Freie Prese -> Presse +p 248: ERSCHIEN FENRER -> FERNER + +Die Originalschreibweise wurde prinzipiell beibehalten, insbesondere bei +folgenden Wörtern: + +p 011: grinzend +p 058: Karrikatur +p 074, 172: endgiltig +p 178: kennte ] + + + +[Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from the Oesterheld +edition, published around 1912. The table below lists all corrections +applied to the original text. + +p 019: steigen drei Reketen -> Raketen +p 022: Zeitungsberichte erkennen liessen. -> ließen +p 027: [added comma] Blatt beugte, »der Flächeninhalt +p 030: Einen grosszügigen Künstler -> großzügigen +p 031: lächend wieder aufblickend -> lächelnd +p 033: dadurch abschliessende Form -> abschließende +p 035: Paul Seebecks Ichtyosauren -> Ichthyosauren +p 041: [removed quotes] »Durch den Schriftsteller -> Durch +p 044: [added comma] daran erinnerte, daß +p 045: du willst gleieh -> gleich +p 050: [unified] im Cafe Stephanie gesessen -> Café +p 052: auf und abgehend -> auf- und abgehend +p 054: [added period] Dann lief er tief errötend aus der Tür. +p 055: [corrected quotes] einer von den Unsrigen.« +p 059: [added character] also [ ]in Vorrecht -> ein +p 058: fuhr erfort[ ], -> er fort, +p 062: fragte Seebeck die Hand -> fragte Seebeck, die Hand +p 063: ausgewachene Riesenschildkröte -> ausgewachsene +p 063: Das es jetzt ... nicht mehr gibt, -> Da +p 065: bilden kann, ohne das -> daß +p 067: alle sozialen und sozial-psychologischen Phänomen -> Phänomene +p 069: Schwäche und Dumheit -> Dummheit +p 072: Jacob Silberland den geringsten Kummer -> Jakob +p 075: Rhytmus -> Rhythmus +p 076: [corrected quotes] erinnern Sie sich noch?« +p 089: an Herren Seebeck erlauben -> Herrn +p 090: Denn wir wissen alles, was wir ihm schulden -> alle +p 090: [added period] im Buche der Menschheit stehen.« +p 092: allerhand Papier zusammen, die -> Papiere +p 093: [removed comma] fünfhunderteinundzwanzig, Mark. +p 097: geklatscht und gestrampelt -> getrampelt +p 106: antworetete der Krüppel -> antwortete +p 108: [added comma] Rechtsstreitigkeiten«, wie [...] ausdrückt +p 108: alle Steitigkeiten durch -> Streitigkeiten +p 116: [unified] Orang-Utans vorfinden«. -> vorfinden.« +p 122: Arbeit ausführen nnd -> und +p 122: die wir jetzt darstellen, -> darstellen. +p 139: [added period] Schatten auf sie. +p 145: stand der Krüppel auf; -> auf: +p 151: [added period] die sich auf dem Tische befand. +p 156: Proviant für viezehn Tage -> vierzehn +p 167: [corrected quotes] praktische Bedeutung hat?« +p 183: [unified] der Vorstandsschaft -> Vorstandschaft +p 201: [corrected quotes] »Woher wissen Sie das?« +p 213: [unified] Herr Reichkommissar -> Reichskommissar +p 214: Reipeitsche -> Reitpeitsche +p 227: ihr auf den Rückwege -> dem +p 233: [corrected quotes] »Wir sind verraten.« +p 233: [completed ellipsis] ausliefern und uns ergeben .. « -> ...« +p 241: [added period] Gut, daß Sie kommen. +p 245: der menschlichen Körper sich -> menschliche +p 247: Neue Freie Prese -> Presse +p 248: ERSCHIEN FENRER -> FERNER + +The original spelling has been maintained throughout the book, +particularly for the following words: + +p 011: grinzend +p 058: Karrikatur +p 074, 172: endgiltig +p 178: kennte ] + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Phantasten, by Erich von Mendelssohn + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PHANTASTEN *** + +***** This file should be named 18620-0.txt or 18620-0.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/1/8/6/2/18620/ + +Produced by Markus Brenner and the Online Distributed +Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. 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Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + http://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. diff --git a/18620-0.zip b/18620-0.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..d7fa1da --- /dev/null +++ b/18620-0.zip diff --git a/18620-8.txt b/18620-8.txt new file mode 100644 index 0000000..2e0ab64 --- /dev/null +++ b/18620-8.txt @@ -0,0 +1,6162 @@ +The Project Gutenberg EBook of Phantasten, by Erich von Mendelssohn + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Phantasten + +Author: Erich von Mendelssohn + +Release Date: June 19, 2006 [EBook #18620] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PHANTASTEN *** + + + + +Produced by Markus Brenner and the Online Distributed +Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + + + + + ERICH VON MENDELSSOHN + + PHANTASTEN + + ROMAN + + + + BERLIN 1912 + VERLEGT BEI OESTERHELD & CO. + + + + Copyright 1912 + by Oesterheld & Co. Berlin W. 15 + + + +GESCHRIEBEN IM SOMMER 1911 + + +ALEXANDRA JEGOROWNA +zugeeignet + + + + +Vor neun Tagen hatte der Lloyddampfer »Prinzessin Irene« Sidney +verlassen, und deshalb übte der Anblick des grenzenlosen Wassers keinen +Reiz mehr auf die Passagiere aus. Am wenigsten an einem Tage wie heute, +wo ein feiner Staubregen durch alle Kleider drang und einen frösteln +machte. Für solche Tage hatte man ja in den Salons alle die +Annehmlichkeiten, die ein moderner Luxusdampfer bietet. + +Als Paul Seebeck auf das Deck hinaus trat, schlug er den Kragen seines +langen, englischen Überziehers hoch und schaute sich um. Ein Augenblick +genügte ihm, um festzustellen, daß er ganz allein war. Wohl hatte ihm +der Kapitän ein für allemal die Erlaubnis gegeben, so oft es ihm gefiele +zu ihm auf die Kommandobrücke zu kommen - denn Seebeck störte nie, am +wenigsten durch unnötige Fragen, seine Anwesenheit verkürzte dagegen die +lange Wacht - doch Paul Seebeck scheute sich, die anderen Passagiere auf +seine bevorzugte Stellung aufmerksam zu machen, um dem Kapitän keine +Unannehmlichkeiten zu bereiten. + +Jetzt stand der große, starke, doch etwas fette Mann neben dem kleinen +Kapitän auf der Kommandobrücke. + +»Schade, daß das Wetter heute so trübe ist«, sagte der Kapitän, »sonst +könnten wir dort im Nordosten die Santa-Cruz-Inseln sehen.« Er rollte +die Seekarte auf und wies mit dem zusammengeklappten Zirkel auf den +Punkt, wo das Schiff sich im Augenblicke befand. »Aber ich glaube, daß +es bald etwas aufhellen wird.« + +Paul Seebeck nahm ein Fernglas, sah erst nach Nordosten und folgte dann +weiter dem Horizonte. + +Der Kapitän fuhr fort: + +»Morgen kommen wir sozusagen aus den englischen Gewässern heraus und in +deutsche hinein.« + +Paul Seebeck ließ das Glas sinken: + +»Deutsche Gewässer, Herr Kapitän?« + +»Nun ja, die des Bismarckarchipels.« + +Paul Seebeck hob wieder das Glas und schaute unverwandt nach Norden, +dann reichte er es dem Kapitän und sah auf den Himmel: + +»Sie haben natürlich wieder Recht, es wird wirklich heller. Aber gerade +dort vor uns liegen dicke Wolken. Sehen Sie mal hin.« + +Der Kapitän sah erst durch das Glas in der angegebenen Richtung, dann +mit bloßen Augen und dann wieder durch das Glas. Schließlich sagte er +kopfschüttelnd: + +»Merkwürdig.« + +»Befürchten Sie ein Gewitter, Herr Kapitän?« fragte Paul Seebeck +gleichmütig. + +»Ich weiß gar nicht, was ich aus dem Ding machen soll. Nein, eine +Gewitterwolke ist es nicht.« + +Jetzt wandte sich der Matrose, der das Steuerrad bediente, grinzend +herum und sagte breit: + +»Herr Kapitän, die ist ja von einem Vulkane!« + +Der Kapitän war so interessiert, daß er gar nicht daran dachte, den +Matrosen zurechtzuweisen. Er rollte die Seekarte wieder auf, bestimmte +die augenblickliche Lage des Schiffes ganz genau, prüfte den Kompaß und +sagte dann: + +»Unmöglich, dort liegt kein Land.« + +Eine halbe Stunde verging, und alle schwiegen; der Kapitän und Paul +Seebeck schauten aber abwechselnd durch das Fernglas auf die schwere, +dunkelgraue Wolke. Endlich sagte Paul Seebeck: + +»Das ist und bleibt ein Vulkan mit der berühmten, pinienartigen +Rauchsäule, und wenn er nicht auf der Karte steht, ist es ein Fehler der +Karte, und nicht des Vulkans.« + +Der Kapitän schüttelte ungläubig den Kopf: + +»Es kann nur eine sonderbar geformte Wolke sein; es ist ganz undenkbar, +hier mitten auf einer so befahrenen Route eine neue Insel zu entdecken.« + +»Aber wenn es eine neu entstandene wäre, Herr Kapitän?« warf Paul +Seebeck ein. »Denken Sie doch an die große Flutwelle vor zwei Monaten, +die die ganze nördliche und östliche Küste Australiens überschwemmt +hat.« + +»Donnerwetter!« rief der Kapitän. »Das wäre ja -« + +Er wollte das Glas heben, aber jetzt kam von der Seite her ein feiner, +durchdringender Staubregen, der in wenigen Augenblicken die Aussicht +verschleierte. Die Herren hüllten sich fester in ihre Mäntel. + +Der Regen wurde stärker und stärker, und außerdem brach schnell die +Nacht herein. + +»Kommen Sie in meine Kabine«, sagte endlich der Kapitän. »Ich möchte die +Sache gern mit dem Ersten Offizier besprechen, und außerdem wird uns +jetzt ein warmer Punsch ganz gesund sein.« + +»Danke, gern.« + +Wie der Kapitän dem Ersten Offizier die Möglichkeit andeutete, in der +Nähe einer neu entstandenen Insel zu sein, eilte dieser sofort auf die +Kommandobrücke, um selbst Umschau zu halten, kehrte aber bald enttäuscht +zurück, da er des Dunkels und des Regens wegen nichts hatte wahrnehmen +können. + +Als die drei Herren in der Kajüte bei einem Glase Punsch zusammensaßen +und der Kapitän mit dem Ersten Offizier alle Eventualitäten und die +vorzunehmenden Maßnahmen besprach, zog sich Paul Seebeck in eine Ecke +zurück und schwieg, wobei er doch aufmerksam dem Gespräch lauschte, das +immer mehr an Fluß verlor und zuletzt ganz aufhörte. Schließlich saßen +die Drei schweigend da, und jeder hing seinen Gedanken nach. + +Endlich sah der Kapitän nach der Uhr: + +»Meine Herren, jetzt sind wir schon drei Stunden hier unten. Wie wäre +es, wenn wir wieder hinaufgingen und nach unserer Wolkeninsel sähen?« + +Paul Seebeck lachte laut auf: + +»Bravo, Herr Kapitän. Vielleicht hat sie sich schon längst aufgelöst, +während wir sie hier in aller Ruhe erobern.« + +Als sie auf Deck hinaustraten, sahen sie, daß Nebel und Regen völlig +verschwunden waren, und daß klar der Mond schien. Passagiere gingen +plaudernd und rauchend auf und ab, oder saßen, in Plaids gehüllt, auf +Feldstühlen. Paul Seebeck hatte aber seine gewohnte Zurückhaltung völlig +aufgegeben und folgte zusammen mit dem Ersten Offizier dem Kapitän auf +die Kommandobrücke. + +Jetzt war kein Zweifel mehr möglich: vor ihnen lag, steil dem Meere +entsteigend, ein Vulkan, über dessen kegelförmiger Spitze - aber ohne +diese zu berühren - eine ungeheure, blauschwarze Wolke schwebte. Durch +das Fernglas sah man in einigen Rissen am Krater die Lava glühend +herabsinken. + +Als Erster brach Paul Seebeck das Schweigen: + +»Wie weit, Herr Kapitän -?« fragte er. Der Kapitän drehte sich schnell +herum und betrachtete Paul Seebeck ganz fremd, als ob er seine Gedanken +erst sammeln müßte. Dann schaute er wieder auf den Vulkan und sagte: + +»Sechzig Seemeilen schätze ich.« + +»Dann sind wir also in vier Stunden dort?« + +»Ja, wenn die Lotungen uns nicht zu lange aufhalten.« + +»Ach, Sie glauben, daß sich der ganze Meeresboden gehoben hat?« + +»Ich muß wenigstens mit der Möglichkeit rechnen.« + +Der Erste Offizier hatte inzwischen unausgesetzt den Vulkan durch das +Nachtglas angesehen. Jetzt sagte er: + +»Herr Kapitän, der Vulkan liegt auf einem ziemlich breiten Hochlande. +Wir scheinen eine Insel von ganz achtbarer Größe da vor uns zu haben.« + +Paul Seebeck senkte den Kopf und sah vor sich hin. Dann ging gleichsam +ein Ruck durch ihn; er strammte sich auf, sah dem Kapitän fest in die +Augen und sagte langsam: + +»Herr Kapitän, jetzt ist es zehn Uhr; Sie sagten selbst, daß wir vor +vier Stunden nicht dort sein können, also nicht vor zwei Uhr nachts. Um +Zwölf wird aber alles elektrische Licht ausgelöscht, so daß dann kein +Passagier mehr auf sein kann. Sie, der Herr Erste Offizier und ich sind +die Einzigen, die wissen, daß wir dort eine neu entstandene Insel vor +uns haben. Die anderen haben nichts gesehen, oder wenn sie die Insel +gesehen haben, ist sie ihnen nicht weiter aufgefallen. Wollen Sie mich +um zwei Uhr an Land setzen und Schweigen bewahren?« + +Der Kapitän sah ihn überrascht an: »Herr Seebeck - überlegen Sie sich's +- eine neuentstandene, vulkanische Insel! Heißer Boden! Ich habe doch +die Verantwortung, auch für Sie. Und dann - in das Schiffsbuch muß ich +die Sache doch eintragen.« + +Paul Seebeck preßte die Lippen zusammen: »Gewiß, gewiß -« + +Nach kurzem Schweigen fuhr er auf. »Herr Kapitän, ich habe nichts +Unrechtes vor. Ich will die Insel für das Deutsche Reich in Besitz +nehmen. Machen Sie Ihre Eintragungen in das Schiffsbuch, es wird sie ja +niemand anders als die Rhederei sehen. Wollen Sie Beide mir aber +versprechen, das heißt, können Sie mir versprechen, absolutes Schweigen +zu bewahren, Sie und die Herren in Bremen, die das Schiffsbuch eventuell +lesen? Absolutes Schweigen nur drei Tage lang zu bewahren? Wenn im Laufe +dieser drei Tage nicht telegraphisch eine Bitte vom Reichskolonialamt +eingelaufen ist, länger zu schweigen, sind Sie völlig frei.« + +Der Kapitän sah Paul Seebeck an. + +»Einem andern würde ich ein solches Versprechen nicht geben, das mir +meine Stellung kosten kann. Ihnen gebe ich es.« + +»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän, Sie werden es nicht zu bereuen haben.« + +»Auch ich gebe Ihnen das Versprechen«, fügte der Erste Offizier hinzu. + +Paul Seebeck senkte dankend den Kopf. + +Nach einer Weile wandte sich der Kapitän wieder Paul Seebeck zu: + +»Verstehe ich Sie recht, wollen Sie sofort von Bremen nach Berlin +fahren?« + +Paul Seebeck schaute auf: + +»Nein, ich bleibe dort und gebe Ihnen einen Brief an einen Freund mit, +der alles für mich ordnen wird.« + +Der Kapitän schüttelte den Kopf: + +»Ich kann Sie nicht an Land setzen lassen, Herr Seebeck. Die +Verantwortung übernehme ich nicht.« + +»Ich werde in meinem eigenen Motorboot hinüberfahren.« + +»Ich werde Sie leider daran verhindern müssen.« + +»Herr Kapitän! Glauben Sie das verantworten zu können?« + +Der Kapitän stutzte einen Augenblick. Dann schlug er Seebeck lachend auf +die Schulter und sagte: + +»Ich kann Sie ja nicht mit Gewalt festhalten, dazu wissen Sie zu genau, +was Sie wollen. Aber erklären Sie mir doch, wie Sie sich alles denken.« + +Wieder sah Paul Seebeck dem Kapitän fest ins Gesicht und sagte ganz +langsam: + +»Ich habe mein Motorboot, mein Zelt und Konserven für zwei Monate. Ich +werde Sie bitten, mir drei gewöhnliche Feuerwerksraketen zu geben. Sie +haben sie ja an Bord zur Unterhaltung Ihres Publikums. Wir machen das +Motorboot mit allem Inhalt klar, so daß wir es in einigen Minuten ins +Wasser setzen können. Wir kommen ja dicht an der Insel vorbei. Sobald +wir vom Schiffe aus einen Landungsplatz sehen, setzen Sie mich ins +Wasser. Sie sind dann so liebenswürdig, mit halber Kraft +weiterzufahren. Komme ich glücklich ans Land, lasse ich alle drei +Raketen aufsteigen, und Sie dampfen ruhig weiter. Ich verspreche Ihnen, +es erst dann zu tun, wenn ich heil und gesund am Lande bin. Lasse ich +nur zwei Raketen steigen, bedeutet das, daß ich nicht landen kann und +Sie auf mich warten müssen. Eine Rakete allein heißt, daß ich in Gefahr +bin, und Sie mir ein Boot zu Hilfe schicken müssen. Einverstanden?« + +»Ja, unter der Bedingung, daß Sie sich vom Schiff noch so viele +Konserven mitnehmen, daß Sie für ein halbes Jahr versorgt sind. Nach +drei Monaten bin ich zwar wieder hier -« + +»Und mein Freund, Jakob Silberland, ist dann mit Ihnen.« + +»Der Herr, der zum Kolonialamt gehen soll?« + +»Derselbe. Ich danke Ihnen, Herr Kapitän.« + +»Sie haben mir nichts zu danken. Ich bitte Sie nur, in meine Kabine zu +gehen und sich alles noch einmal in Ruhe zu überlegen. Dort können Sie +auch Ihren Brief schreiben. Lassen Sie sich auch Ihr Abendessen dorthin +bringen, damit Sie ganz ungestört sind. In einer Stunde komme ich zu +Ihnen hinunter, und wir können dann alles bis ins Kleinste besprechen.« + +Paul Seebeck verließ mit einer leichten Verbeugung die Kommandobrücke. + +- - - Drei Stunden nach Mitternacht lag der Dampfer eine Seemeile vor +dem steil abfallenden, zerrissenen Ufer entfernt, das vom Mondlichte +schwarz und groß auf das Wasser gezeichnet wurde. + +Leise Kommandorufe ertönen - ein Krahn dreht sich, und unter +Kettengerassel sinkt ein Motorboot auf die kaum gekräuselte +Wasserfläche. Halblaute Abschiedsrufe, ein Winken und Grüßen, der Motor +wird eingestellt, und das Boot saust davon. Langsam und schwer brodelt +es unter der Schraube des Dampfers, und jetzt setzt sich der Koloß in +Bewegung. + +Der Kapitän steht auf der Kommandobrücke und verfolgt mit dem Nachtglase +das Motorboot. Jetzt verschwindet es hinter einer Klippe, taucht dann +tief in den Mondschatten, biegt um einen Felsen und ist fort. Eine +Viertelstunde später steigen drei Raketen fast gleichzeitig in die Luft. +Aufatmend stellt der Kapitän den Telegraphen auf »Volldampf«. + + + + +Als Dr. phil. et jur. Jakob Silberland unter dem Schutze seines +übermäßig großen Schirmes dem Café Stephanie zueilte, gab es nicht +Wenige, die trotz des strömenden Regens stehen blieben und ihm +wohlwollend lächelnd nachblickten. Das war auch nicht wunderlich, denn +Jakob Silberland bildete eine sonderbare Figur. Auf kurzen Beinchen saß +ein dicker Leib mit viel zu langen Armen, und im Gesichte bildeten die +heiteren, offenen Augen einen seltsamen Gegensatz zu der +scharfgekrümmten Nase und der hohen, ausdrucksvollen Stirn, über die das +blauschwarze Haar in einigen glänzenden, langen Strähnen fiel. + +Sobald Jakob Silberland das Café betreten hatte, holte er sich vom +Ständer sechs oder acht Zeitungen und legte sie auf einen Tisch am +Fenster. Dann erst hängte er Schirm und Hut an einen Haken, wobei er +doch ständig seine Zeitungen im Auge behielt. Als er seinen Mantel +auszog, wobei ein abgetragener und etwas fleckiger Gehrock sichtbar +wurde, eilte der Kellner hilfsbereit herbei und sagte: + +»Guten Tag, Herr Doktor. Heute früh war der Briefträger mit einem +eingeschriebenen Brief für den Herrn Doktor da. Ich sagte ihm, er solle +am Nachmittage wiederkommen, dann wäre der Herr Doktor bestimmt hier.« + +Dr. Silberland sagte nur: »Danke« und eilte auf seinen kurzen Beinchen +zu seinen Zeitungen, in denen eben ein anderer Gast zu blättern begann. +Als er sich richtig zurechtgesetzt und seine Zeitungen sortiert hatte, +bestellte er einen Kaffee und begann, die Brust an den Tischrand +gedrückt, eifrig zu lesen. Gerade als er die Kreuzzeitung mit +gerunzelter Stirn fortlegte und aufatmend nach dem »Vorwärts« griff, +erschien, vom Kellner geführt, der Briefträger an seinem Tische und +übergab ihm einen eingeschriebenen Brief. Silberland erkannte sofort die +Handschrift seines Freundes Paul Seebeck, schob mit einer energischen +Armbewegung die Zeitungen zur Seite, quittierte, gab dem Briefträger +zwanzig Pfennige und öffnete den Brief. Hierbei fiel ein +zusammengefaltetes Checkformular heraus, das Silberland sofort in seine +Brieftasche steckte. Der Brief lautete: + + + »An Bord des Lloyddampfers »Prinzessin Irene«. + + Lieber Jakob! + + Von dem wenig befriedigenden Ausfall meiner australischen + Expedition wirst du durch die Zeitungen erfahren haben. Übrigens + war der Verlauf viel kläglicher, als die Zeitungsberichte erkennen + ließen. + + Ich freue mich aber jetzt, daß ich so mißgestimmt und so + unzufrieden mit mir selbst die Rückreise antrat, denn dadurch hatte + ich gerade die richtige Disposition zu neuen Dingen, die + ernsthafter sind. + + Paß mal auf: wir haben eine neuentstandene, vulkanische Insel + entdeckt, und zwar bin ich der erste, der sie sah. Ich bin dort + geblieben und habe sie für das Deutsche Reich in Besitz genommen. + Die Sache ist Geheimnis, nur der Kapitän und der Erste Offizier von + der »Prinzessin Irene« wissen davon, und die schweigen. + + Wo die Insel liegt, usw., kannst du von diesen beiden Herren + erfahren. + + Bitte geh sofort nach Berlin, zum Reichskolonialamt, und laß mir + eine unbeschränkte Vollmacht als Reichskommissar ausstellen, so daß + ich bis auf weiteres mit der Insel machen kann, was ich will. Die + Leute sollen aber schweigen, bis erst feststeht, ob die Insel + bewohnbar ist oder nicht. Sonst ist die Blamage nachher zu groß. Du + gibst natürlich sofort deine alberne Stellung bei den »Neuesten« + auf und kommst mit der »Prinzessin Irene« hierher. Ein Scheck auf + zehntausend Mark liegt bei: bezahl alle deine Schulden, daß du + vollständig unabhängig bist. Mach sonst aber nicht zu viele + Ausgaben, denn ich werde hier mein Geld wohl sehr nötig brauchen. + Eine Tropenausrüstung mußt du aber haben. + + Du verstehst, was ich will: ich denke an unsere Gespräche über den + absolut korrekten Staat, der durch keinerlei Traditionen und + Rücksichten gehemmt ist. Wir haben ja oft darüber debattiert, wie + ein solcher moderner Staat auszugestalten sei - hier können wir ihn + gründen, wenn auch nur in einem kleinen Maßstabe. + + Alle Einzelheiten überlasse ich dir, nur besorge mir die Vollmacht + und komm her. Setz dich aber auch mit dem Kapitän in Verbindung. + Der Mann ist praktisch und wird dich über Einzelheiten informieren. + + Entschuldige die Kürze. Ich kann dir aber in dieser Eile nicht alle + meine Gedanken auseinandersetzen; es ist wohl auch unnötig, + eigentlich ergibt sich ja alles von selbst. + + Überlege dir aber jeden Schritt, den du tust. + + Gruß + dein Paul S.« + + +Als Jakob Silberland diesen Brief zu Ende gelesen hatte, fuhr er sich +mehrmals mit der Hand durch das lange, schwarze Haar. Dann rührte er +bedächtig seinen Kaffee um, der längst kalt geworden war. Gerade, wie er +ihn trinken wollte, kam der Kellner und sagte: + +»Herr Doktor, die Redaktion fragt am Telephon, ob Sie noch hier wären.« + +»Sagen Sie, ich wäre gegangen«, gab Silberland zur Antwort, »und bringen +Sie mir eine Zigarre.« + +»Wie gewöhnlich eine zu Zehn?« + +»Ja - nein, eine zu Fünfzig!« sagte Jakob Silberland würdevoll. »Und +besorgen Sie mir ein Auto.« + +»Sehr wohl, Herr Doktor«, sagte der Kellner mit der solchen ungewohnten +Aufwendungen zukommenden Ehrerbietung. + +Jakob Silberland aber fuhr, die feine Zigarre in der Hand, im Auto zur +Dresdener Bank, wo er den Scheck einlöste, und unternahm dann eine +längere Rundfahrt durch die Stadt, um alle seine kleinen und größeren +Schulden zu bezahlen, die zusammen kaum zweitausend Mark betrugen. +Zuletzt begab er sich auf seine Redaktion, wo er gegen Stellung eines +Vertreters leicht entlassen wurde, da er kein angenehmer Kollege gewesen +war. + +Mit dem Abendschnellzuge fuhr er nach Berlin. + + + + +Drei Monate später saßen Paul Seebeck und Jakob Silberland in ihren +blendend weißen Flanellanzügen auf einem Steinblock am Strande, rauchten +ihre kurzen, englischen Pfeifen und sahen der langsam verschwindenden +»Prinzessin Irene« nach. Endlich sagte Jakob Silberland: + +»Etwas Urweltliches liegt über der ganzen Insel: der Vulkan, die nackten +Felsen, der Mangel jeglichen tierischen Lautes - es kommt mir fast vor, +als ob ich um viele Millionen von Jahren in der Zeit zurückversetzt sei. +Es würde mich gar nicht wundern, wenn plötzlich ein Ichthyosaurus oder +sonst irgend ein Ungeheuer aus dem Wasser auftauchte.« + +Paul Seebeck hatte nachdenklich seine Pfeife ausklopfend ihm zugehört. +Jetzt hob er den Kopf und sagte lächelnd: + +»Die Ungeheuer wirst du schon noch zu sehen bekommen. Nur etwas Geduld.« + +Jakob Silberland lachte: + +»Hast du hier eine Ichthyosauren-Farm angelegt? Das Geschäft dürfte doch +kaum lohnend sein. Sobald die Zoologischen Gärten versorgt sind, würde +der Weltbedarf gedeckt sein, und was dann?« + +Es zuckte um Seebecks Mundwinkel, als ob er mit Mühe ein Lächeln +unterdrückte. + +»Aber wovon wollen wir hier sonst leben, wenn nicht von Ichthyosauren? +Es gibt ja keinen Grashalm auf der ganzen Insel, keinen Vogel, keinen +Floh, nichts. Soweit ich als gebildeter geologischer Laie urteilen kann, +ist auch das Vorkommen von wertvollen Mineralien zum mindesten höchst +unwahrscheinlich. Da bleiben doch nur die Ichthyosauren übrig. Außerdem +finde ich den Gedanken sehr ansprechend, daß der modernste aller Staaten +von urweltlichen Tieren lebt. Damit schließt sich zurückgreifend der +Ring und löscht die Zeit aus. Anfang und Ende berühren sich.« + +Jakob Silberland sprang auf: + +»Ist das dein Ernst?« + +Seebeck blieb sitzen und sagte gemütlich: + +»Du sollst etwas Geduld haben. Ich werde dir meine Saurierfarm schon +zeigen. Die größte Ichthyomuttersau habe ich übrigens voll Dankbarkeit +gegen das gütige Schicksal »Prinzessin Irene« getauft.« + +Damit stand er auf und ging zu seinem Zelt, das einige Schritte +rückwärts im Schutze einer schrägen Felswand stand. Er kam mit einigen +Papierrollen zurück. + +»Sieh mal her«, sagte er, indem er die Blätter entfaltete und jedes an +den vier Ecken mit Steinchen beschwerte, »hier habe ich, so gut ich es +allein machen konnte, die Insel aufgenommen. Die Küste und diese Bucht +habe ich recht genau, im Inneren bin ich flüchtiger gewesen und außerdem +habe ich größere Strecken der heißen Lava wegen nicht betreten können. +Hier hast du die ganze Insel mit den Schären eins zu dreihunderttausend«, +fuhr er fort, wobei er sich über das betreffende Blatt beugte, »der +Flächeninhalt beträgt ungefähr zwölfhundert Quadratkilometer, wovon der +Vulkan allein fast vierzig bedeckt. Hier ist unsere Bucht eins zu +zehntausend. Sie ist mit der Nebenbucht dort rechts von uns überhaupt +die einzige Bucht der ganzen Insel. Ich habe sie bei Tiefebbe +aufgenommen. Die rote Küstenlinie und die rot gezeichneten Schären +beziehen sich auf Tiefebbe, die entsprechenden blauen Linien auf +Hochflut. Du siehst, daß unzählige Schären und Klippen nur bei Tiefebbe +über die Wasserfläche emporragen. Bei Tiefebbe ist überhaupt nur eine +einzige, schmale und dabei stark gewundene Rinne selbst für mein +kleines, flaches Motorboot passierbar. Ich kam glücklicherweise bei +Hochflut, sonst wäre ich überhaupt nie lebendig hier ans Land +gekommen.« Mit der Hand aufs Meer weisend, sagte er: »Die äußerste +Felsenspitze dort links ist etwa siebenhundert Meter hoch und fünf +Kilometer von uns entfernt, die dort rechts dreihundert Meter hoch und +vier Kilometer entfernt. Die Entfernung zwischen beiden beträgt drei +Kilometer. Diese Bucht stellt den einzigen Hafen, überhaupt die einzige +Landungsmöglichkeit dar. Zwischen der Spitze rechts und dem Kap, das ein +wenig darüber hervorragt, liegt eine zweite, breite, aber sehr flache +Bucht mit unzähligen Felsen und Klippen. Dahin kann man zu Wasser, aus +Gründen, die dir später klar werden, nicht kommen, und vom Lande aus nur +mit Hilfe eines Seiles. Sogar ich als Bergsteiger habe dort nur schwer +hinunterklettern können. Diese zweite Bucht habe ich Irenenbucht +getauft, der einzige Name, den ich bisher hier einer Örtlichkeit gegeben +habe.« Lächelnd setzte er hinzu: »Dort liegt also meine +Ichthyosaurenfarm.« + +Bevor der überraschte Silberland sich zu einem Worte sammeln konnte, +fuhr Paul Seebeck fort: + +»Denk dir unsern Standort hier als Mittelpunkt eines Kreises mit dem +Radius von fünf Kilometern, also der Entfernung des Kap dort links. Dann +bezeichnet der Kreisbogen ziemlich genau die Grenze eines submarinen +Plateaus, auf dem alle diese Schären liegen. Wie tief der Meeresboden +außerhalb dieses Plateaus ist, weiß ich nicht; mein Lot ist hundert +Meter lang und mit ihm habe ich draußen nirgendwo Grund gefunden. Sehr +tief kann er aber doch nicht sein, denn auch da draußen liegen ja, wie +du siehst, einige vereinzelte Klippen. Das Plateau bricht aber steil ab; +ich vermute, der Schären da draußen wegen und auch aus anderen Gründen, +aber ein zweites, allerdings viel tiefer liegendes, submarines Plateau. +Der größte Teil der Insel ist eine im großen Ganzen wagerechte +Hochebene, vier- bis siebenhundert Meter über dem Meeresspiegel, die +überall fast senkrecht abbricht. Dann - ja, der große Vulkan - +neunzehnhundert Meter hoch, diese Mulde, mit ihren sechs +Quadratkilometern Fläche, die stufenweise, amphitheatralisch, wenn du +willst, bis zur Plateauhöhe emporsteigt - damit ist wohl die Topographie +der Insel erschöpft. Ich habe sonst nicht viel Bemerkenswertes auf +meinen Streifzügen entdeckt, höchstens wäre ein seltsames Durcheinander +von Schluchten erwähnenswert, das am Fußpunkte des Vulkanes liegt und +mich da am Weiterkommen hinderte.« + +»Und wie denkst du dir die Entstehung der Insel?« fragte Jakob +Silberland. + +»Ich bin kein Geologe. Daß die Insel erst jetzt entstanden ist, glaube +ich nicht. Sie wird schon einmal dagewesen sein, und zwar viel größer +als jetzt, ist dann unter die Oberfläche des Meeres gesunken und hat +sich jetzt wieder darüber gehoben, doch nicht bis zu ihrer +ursprünglichen Höhe. Und zwar glaube ich nicht, daß sie sehr lange unten +gewesen ist, einige hundert Jahre höchstens.« + +»Woher kannst du das wissen?« + +»Die Steine sehen mir nicht aus, als ob sie lange Meeresboden gebildet +hätten.« + +Damit stand Paul Seebeck auf, rollte seine Kartenskizzen zusammen und +brachte sie in sein Zelt. Als er zurückkam, sagte er, vor Jakob +Silberland stehen bleibend: + +»Ist das nicht ein ganz idealer Grund für eine Stadt? Alle Straßenzüge, +sogar die Plätze der einzelnen Häuser sind von der Natur vorausbestimmt. +Ich kann mir die ganze Stadt so lebendig vorstellen, wie sie sich den +Felsen anschmiegt, wie sie in ihrer Struktur den Stufen folgt. Aber wir +müssen einen Architekten haben, der einen ganz neuen Stil schaffen kann. +Einen großzügigen Künstler wie Edgar Allan. Dort oben -« und er wies mit +der Hand auf einen vorspringenden Felsen - »soll mein Haus stehen. Von +dort aus kann ich alles übersehen.« + +»Du fühlst dich schon jetzt als König?« + +»König? Nein, nein!« wehrte Paul Seebeck erschrocken ab. Er sah still +vor sich hin. Dann sagte er, lächelnd wieder aufblickend: + +»Komm jetzt. Wir wollen etwas zu Abend essen. Dann werde ich dir meine +Ichthyosaurenfarm zeigen.« + +Da es fast Windstille war, beschlossen sie, vor dem Zelte ihre Mahlzeit +einzunehmen. Als Jakob Silberland sah, daß Paul Seebeck seinen +Destillationsapparat aufstellte, und Wasser vom Meere holte, fragte er +besorgt: + +»Gibt es denn gar kein Trinkwasser auf der Insel?« + +»Doch, es gibt einen Bach hier in der Nähe, der wohl zur Versorgung +einer kleinen Stadt ausreichen dürfte, und weiter oben einen großen +Fluß. Es wird aber nicht leicht sein, ihn einzufangen und hier herunter +zu leiten, denn er fällt mehrere Kilometer von hier in einem schönen +Wasserfalle direkt vom Hochplateau aus ins Meer.« + +Als sie gegessen hatten - der Kapitän hatte Jakob Silberland einen Korb +mit frischem Fleisch und Gemüse aus den Vorräten des Schiffes +mitgegeben, so daß Paul Seebeck nach den vielen Wochen mit +Konservennahrung endlich einmal etwas anderes bekommen hatte - rief +Jakob Silberland: + +»Aber jetzt will ich nicht länger warten; jetzt mußt du mir deine +Ichthyosauren vorführen. Ich bin wirklich sehr gespannt, zu erfahren, +wovon wir hier leben sollen, besonders, was wir von hier exportieren +können.« + +»Schön«, sagte Seebeck. »Komm!« + +Sie stiegen langsam in der mit Geröll bedeckten Mulde bergauf, und Paul +Seebeck erklärte dabei seinem Freunde, wie er sich die Anlage der Stadt +dachte. Der sonst so redselige Jakob Silberland sprach auch jetzt nur +wenig; zu sehr beschäftigten seinen Geist die Perspektiven auf die +Zukunft, die ihm ja tausend Träume zu verwirklichen versprach. + +Als sie die Plateauhöhe erreicht hatten, blieb Seebeck stehen und sagte: + +»Wenn man nicht ein anständiger Mensch wäre, könnte man bei dem Gedanken +ganz sentimental werden, daß dieses reine, unberührte Land, das keine +Geschichte und keine Vorzeit hat, eine Gemeinschaft von Menschen auf +sich wachsen und blühen sehen wird, die auch jungfräulich frei, ohne +Verbindung mit der übrigen Menschheit, ohne morsche Traditionen und ohne +überlieferten Zwang, irrende Sterne im großen Raume sind und die hier +sich nur auf Grund ihres reinen Menschentums zusammenfinden und hier +zusammenarbeiten werden. In der Traditionslosigkeit unseres zukünftigen +Staates sehe ich seine Bedeutung. Daß ich einigen Hundert oder Tausend +Menschen, die sonst in keinen Rahmen passen, hier freie +Entwicklungsmöglichkeiten und Glück zu geben vermag, genügt mir nicht. +Vom ersten Augenblick an war mir dieser Staat ein Begriff, ein +Kunstwerk, eine formale Befreiung. Ebenso, wie der Künstler durch seine +reine Darstellung befreit, durch die einseitige, aber dadurch +abschließende Form Klarheit im Chaos schafft, soll für die übrigen +Menschen der Gedanke an unsere reine Insel eine geistige Erlösung sein.« + +»Du siehst nicht weit genug«, sagte Jakob Silberland, wobei er sich mit +der Hand durch sein blauschwarzes, strähniges Haar fuhr und erregt mit +seinen kurzen Beinchen trippelte. »Du sprichst als Künstler. Ich bin +Praktiker und als solcher sehe ich noch eine Gewißheit: die +Institutionen, die hier entstehen, die wir hier schaffen werden, werden +beachtet, nachgeahmt werden, und unser Staat wird das Seinige dazu +beitragen, daß sich die Menschheit aus den Ketten löst, in die +Gewalttätigkeit, Dummheit und Herrschsucht sie gelegt haben. Sie wird +durch uns lernen, frei zu sein, frei in der geschlossenen Gemeinschaft +zu werden. Man muß ihr nur einmal zeigen, daß es möglich ist.« + +Paul Seebeck sah mit seinen großen Augen dem Freunde gerade ins +Gesicht: + +»Ich hoffe, daß es so wird, wie du sagst. Es ist ja auch sehr +wahrscheinlich. Umsomehr, als wir ja kaum einen bestimmten Ausschnitt +aus der Menschheit darstellen werden, nicht einen besonderen Typus, +sondern gerade einen Extrakt aus der ganzen Menschheit. Stelle dir doch +nur vor, was für Menschen zu uns kommen werden«, fuhr er lebhaft fort, +wobei er sich in der Richtung auf die Irenenbucht zum Gehen wandte, +»jedenfalls keine Durchschnittsmenschen, die irgendwo warm und zufrieden +in ihren Nestern sitzen, sondern die Unzufriedenen, Bedrückten, +Heimatlosen, alle die von einander entferntesten Extreme, die nur das +eine verbindet: der Ekel vor der Verlogenheit der Gesellschaft, die +Sehnsucht nach dem freien, dem wirklichen Menschen, dem Menschen, der +jeder einzelne sein könnte, wenn ihn nicht die Ketten der Tradition zum +Herdentiere erniedrigten. Hierher werden sie kommen und nichts +mitbringen, als ihr innerstes, freies Menschentum, und ihre Gemeinschaft +wird die Erlösung des Menschen, des Ebenbildes Gottes sein.« + +Jetzt standen sie vor dem steilen Abfalle zur Irenenbucht. Paul Seebeck +blickte noch eine Weile schweigend und mit glänzenden Augen auf das +Meer. Dann sagte er lächelnd zu seinem Freunde, wobei er auf die Bucht +unter ihnen mit ihrem Gewirr von Klippen und Sandbänken wies: + +»Also dort unten hausen und grausen meine Ichthyosauren.« + +Für Jakob Silberland kam dieser Sprung von Paul Seebecks feierlichen +Worten zum leichten Scherze so überraschend, und außerdem wußte er gar +nicht, was er aus Paul Seebecks Ichthyosauren machen sollte, daß er +schweigend seinem Freunde mit Hilfe von Strickleitern, Eisenklammern und +natürlichen Felszacken in die Tiefe folgte. Da beide geübte Bergsteiger +waren, ging der Abstieg schnell von statten. + +Als sie unten auf einer breiten Felsplatte angekommen waren und auf das +Wasser sahen, das hier schlammig und voll von grünen Algen war, sagte +Paul Seebeck: + +»Setz dich jetzt hier in den Schatten und verhalte dich ganz ruhig.« + +Jakob Silberland tat, wie ihm geheißen. Er sah, daß Paul Seebecks +umherschweifender Blick immer wieder zu einer tiefen dunklen Spalte in +der Felsenwand zurückkehrte. Er schaute scharf hin und glaubte, einen +schweren Körper herausgleiten zu sehen, der kein Fisch sein konnte. +Ängstlich sah er Paul Seebeck an, aber dieser lächelte nur. + +Jetzt hob sich zwanzig Schritte von ihm entfernt, ein riesiger, +schwarzer Kopf aus dem Wasser, ein breites, zahnloses Maul öffnete +sich - - + +Mit einem Entsetzensschrei sprang Silberland auf. Sofort verschwand der +Kopf im Wasser. Paul Seebeck aber sagte lachend: + +»Du sollst mir meine Tiere nicht scheu machen.« + +»Was sind das für Tiere?« fragte Jakob Silberland, noch am ganzen Körper +zitternd. + +»Schildkröten, mein Junge, allerdings reichlich große.« + +»Riesenschildkröten?« fragte Jakob Silberland aufatmend. + +»Ja. Und zwar sind es reine Wassertiere. Ich habe sie nie länger als für +Minuten am Lande gesehen. - Sei ruhig, hier können sie nicht +heraufkrabbeln. - Am Tage sieht man sie immer nur ganz flüchtig. Aber in +hellen Mondscheinnächten habe ich sie oft viele Stunden lang beobachtet. +Sie können schwimmen, tun es aber fast nie. Sie kriechen auf dem Boden +hin. Es gibt unzählige hier. Die größten waren über vier Meter lang. + +Ich traute mich nie recht, mit meinem Motorboote vom Meere her in die +Bucht zu fahren, um die Tiere nicht zu erschrecken. Außerdem würden die +unzähligen Sandbänke und Klippen, die du siehst, die Sache fast +unmöglich gemacht haben, ganz abgesehen von den riesigen Algen, die +meiner Schiffsschraube wohl das Leben gekostet hätten. Aber toll ist es +hier. Zuweilen habe ich tief unten im Wasser die Leuchtorgane von +elektrischen Fischen aufblitzen sehen, und bei Tiefebbe liegen die +phantastischsten Tiefseetiere hier herum. Soviel ich sehen konnte, ist +der Meeresboden hier auch nicht nackt, wie bei der großen Bucht, sondern +sieht wie ein submariner Urwald aus, der sich weit hinaus ins Meer +erstreckt. Meine Auffassung ist, daß sich mit der Hebung der Insel diese +unterseeische Oase auch gehoben hat. Wie sie in dieses Gestein +hereinkommt, weiß ich nicht. Vielleicht ruht sie auf Lehm. Jedenfalls +ist sie da, und die Schildkröten mit ihr. + +Wenn wir vernünftig sind und keinen Raubbau treiben, können wir durch +die Tiere eine dauernde Einnahmequelle haben, die für die ganze Insel +ausreichen wird. Dazu kommt noch der Fischfang. - Du siehst, unser Staat +braucht keine Not zu leiden.« + +Sie warteten noch eine halbe Stunde, aber kein Tier ließ sich mehr +blicken. So traten sie den Rückweg an. + + + + +Paul Seebeck saß mit seinem Studienfreunde, dem Architekten Edgar Allan +zusammen im Café Bauer in Berlin. Paul Seebeck war trotz der frühen +Nachmittagsstunde im Frack, denn er hatte am Vormittage mehrere +Staatssekretäre und andere höheren Beamte aufgesucht. Jetzt hatte er +alle offiziellen Schritte getan; da er aber am Abend ins Theater wollte, +wollte er sich nicht erst die Mühe machen, sich für die wenigen Stunden +nochmals umzuziehen. Deshalb war er im Frack geblieben, und es störte +ihn nicht, daß er dadurch etwas Aufsehen erregte. + +Edgar Allan war lang und knochig und hatte eine etwas eingefallene +Brust. Auch in seinem scharfgeschnittenen Gesichte verleugnete sich der +englische Halbteil seines Blutes nicht. + +Paul Seebeck sah durchs Fenster auf die Straße hinaus. Edgar Allan +stützte seine Ellbogen auf den Tisch und verbarg sein Gesicht in den +langen, mageren Händen. Als er es nach einigen Minuten wieder erhob, sah +er, daß Paul Seebeck ihn jetzt mit seinen großen Augen forschend +anblickte. + +Edgar Allan sah ihn erst fremd an, dann verzog sich sein Gesicht. Er +sagte erregt: + +»Ich bin übrigens nicht nur mit meiner Klage vom Reichsgericht +abgewiesen; das Warenhaus hat mit seiner Widerklage sogar erreicht, daß +ich zu einer Entschädigung verurteilt wurde. Alle Sachverständigen waren +darin einig, daß mein Bau nicht den Voraussetzungen des Kontraktes +entsprach. Fast meine ganzen Ersparnisse habe ich hingeben müssen.« Dann +fuhr er ruhiger fort: »Die Leute haben aber recht, ich kann kein +einzelnes Haus bauen; ich verstehe überhaupt nicht, wie jemand das kann. +Man soll mir einmal den Bau einer ganzen Stadt übertragen, dann werde +ich schon zeigen, wozu ich tauge.« + +Paul Seebeck senkte seine Augen und sah dann wieder zum Fenster hinaus. + +Plötzlich legte Edgar Allan seine Hand auf seinen Arm: + +»Wollen Sie mich mitnehmen?« fragte er. + +Paul Seebeck wandte sich herum und sah ihm gerade in die Augen: + +»Ja«, sagte er, »gerade solche Menschen wie Sie suche ich, brauche ich. +Ich wollte Sie nur aus dem Grunde nicht auffordern, weil ich nicht will, +daß jemand anders als ganz aus freien Stücken zu uns kommt. Halloh!« +rief er, aufstehend, einen vorbeigehenden, jungen, blonden, +hochgewachsenen Herrn zu, der, das »Berliner Tageblatt« in der Hand, +sich gerade nach einem freien Tische umsah. + +»Herrgott bist du plötzlich in Berlin?« fragte der Angesprochene im +höchsten Grade erstaunt. »Noch dazu im Frack? Ich dachte, du wärst +Kaffernhäuptling oder Seeräuber oder so etwas ähnliches geworden.« + +»Noch nicht«, erwiderte Paul Seebeck. »Aber meine amtliche Bestallung +als Seeräuber habe ich seit heute Vormittag in der Tasche. Gestatten die +Herren, daß ich vorstelle: mein Schulkamerad stud. jur. Otto Meyer, +Architekt Edgar Allan.« + +»Referendar Meyer, wenn ich bitten darf«, sagte der junge Mann, wobei er +Edgar Allan die Hand reichte, die dieser höflich nahm. + +Als alle drei wieder saßen, fragte Paul Seebeck seinen Schulkameraden: + +»Woher weißt du eigentlich von der ganzen Geschichte?« + +»Du mußt mir Diskretion versprechen«, sagte Otto Meyer feierlich. + +»Gewiß.« + +»Also die Sache steht lang und breit da drin -«, er wies auf die +Zeitung, die er noch immer in der Linken hielt - »sogar in der +halbamtlichen Fassung des Wolffschen Bureaus.« + +»Zeig doch mal«, sagte Seebeck und griff nach dem Blatte. + +»Nein, ich werde es vorlesen, sonst verstehst du es nicht richtig.« Und +er las: + +»Eine Erweiterung des deutschen Kolonialbesitzes? + +Durch den Schriftsteller und Forschungsreisenden Paul Seebeck wurde da +und da eine unbewohnte, vulkanische Insel mit einem Flächenraume von +zwölfhundert Quadratkilometern entdeckt und für das Deutsche Reich in +Besitz genommen. Da auf und bei der fraglichen Insel auch nicht das +allergeringste zu holen ist -« + +»Willst du vielleicht die Güte haben, ungefähr das zu lesen, was +dasteht?« unterbrach Seebeck den Lesenden. »Die Sache interessiert mich +nämlich.« + +Otto Meyer las weiter: + +»Da die fragliche Insel augenscheinlich nur als Wohnsitz einiger, +weniger Menschen in Betracht kommen kann und nicht für eine eigentliche +Kolonie, ließ der Staatssekretär des Kolonialamtes dem Entdecker der +Insel, Herrn Paul Seebeck, bis auf weiteres freie Hand in allen Fragen +der Besiedelung der Insel, wobei er ihn auf Widerruf zum Reichskommissar +mit allen Rechten und Pflichten eines solchen ernannte. + +Diese Ernennung, die selbstverständlich im Einverständnisse mit dem +Reichskanzler erfolgte, ist als eine Konzession an die durch das +Scheitern der preußischen Wahlreform verstimmten linksstehenden Parteien +aufzufassen. Die Konservativen beruhigte der Reichskanzler durch das +bindende Versprechen, daß die Insel in drei Jahren ebenso still und +leise verschwinden würde, wie sie aufgetaucht ist -« + +Paul Seebeck und Edgar Allan lachten. Otto Meyer reichte Paul Seebeck +die Zeitung und dieser las die Notiz aufmerksam durch. Als er das Blatt +fortlegte, fragte Otto Meyer: + +»Ist es wirklich dein Ernst, dort eine Republik zu gründen? Eine +republikanisch regierte, deutsche Kolonie?« + +»Ja, machst du mit?« + +»Mit Vergnügen, aber nur als Justizminister«, sagte Otto Meyer ruhig. + +»Als Justizminister? Hm. Daran hatte ich eigentlich nicht gedacht. Ich +dachte eher als Staatslausejunge, als offizielles, destruktives +Element.« + +»Du bist furchtbar liebenswürdig«, antwortete Otto Meyer, ohne im +geringsten beleidigt zu sein. »Aber sag mal, willst du nicht morgen bei +uns zu Mittag essen? Meine Eltern würden sich doch sehr freuen, dich +mit australischem Ruhme bedeckt, dazu noch als zukünftigen Imperator Rex +begrüßen zu können.« + +»Schön. Wie früher um Drei?« + +»Ja.« + +Jetzt erhob sich Edgar Allan und nahm Abschied. Paul Seebeck begleitete +ihn, so wie er war, in Frack und ohne Hut, auf die Straße hinaus. Als er +zurückkam, fragte Otto Meyer: + +»Was hast du dir denn da für einen steifen Engländer aufgegabelt?« + +»Na, er ist mehr Deutscher als Engländer. Deutsche Mutter und in +Deutschland erzogen. Er ist sonst auch gar nicht steif, hat nur jetzt +recht unangenehme Sachen durchgemacht. Ich hoffe, daß er mit mir kommt - +und uns unsere Stadt baut. Er ist gerade der Typus Mensch, den wir +brauchen; das heißt, er ist gerade kein Typus, sondern ein Mensch.« + +»Ich bitte dich, sei nicht so schrecklich geistreich«, sagte Otto Meyer. +»Sonst bekomme ich Magenschmerzen.« + +»Entschuldige mich einen Augenblick«, sagte Paul Seebeck aufstehend und +ging auf Jakob Silberland zu, der gerade zur Tür hereintrat. Paul +Seebeck stellte ihm Otto Meyer vor, und als sie wieder Platz genommen +hatten, sagte er: + +»Edgar Allan kommt mit. Noch ein paar Leute, und wir können anfangen.« + +»Kommt er? Gut! Da haben wir ja einen ganzen Kerl gewonnen. Ja, du, was +ich sagen wollte - mir sind noch einige Leute eingefallen - aber man +kann ja nicht gut jemand auffordern. Und wie soll man es sonst diesen +Leuten nahelegen?« + +»Gar nicht, natürlich«, antwortete Paul Seebeck. »Wer nicht freiwillig, +aus innerstem Instinkt zu uns kommt, mag fortbleiben. Die brauchen wir, +die uns zufällig finden, weil sie uns brauchen.« + +»Ja, ja«, sagte Jakob Silberland etwas verlegen. »Aber wir müssen doch +einen Anfang haben. Wir zwei, drei Menschen können uns dort nicht +festsetzen und auf die anderen warten. Damit würden wir uns nur +lächerlich machen und gar nichts erreichen.« + +»Du irrst. Wir müssen gerade hingehen und uns der Lächerlichkeit +aussetzen.« + +»Ich fürchte nur, daß wir zwei, mit Edgar Allan also drei, unser ganzes +Leben lang allein auf der Insel hocken werden.« + +Otto Meyer, der offenbar fürchtete, Zeuge eines Streites der beiden +Freunde zu werden, verabschiedete sich, wobei er Seebeck daran +erinnerte, daß er morgen zum Mittagessen zu kommen versprochen hätte. + +Der Streit brach aber nicht aus, im Gegenteil, Paul Seebeck sagte ganz +ruhig, wobei er seinem Freunde gerade ins Gesicht blickte: + +»Ich verstehe dich vollkommen; du willst gleich mit einem gewissen +Material anfangen. Ich glaube, du machst dir unnötige Sorgen. Es werden +mehr zu uns kommen, als wir brauchen können. Du wirst sehen, daß viele +gleich mit uns kommen wollen. Aber jetzt mußt du mich entschuldigen«, +brach er ab, wobei er auf die Uhr sah. »Ich will ins Theater.« + +Als Paul Seebeck gegangen war, setzte sich Jakob Silberland richtig in +der Ecke zurecht und ließ sich vom Kellner alle Abendblätter bringen und +las die - je nach der politischen Richtung der betreffenden Zeitung - +wohlwollenden, abwartenden oder gehässigen Glossen zur halbamtlichen +Wolff-Nachricht. Nach einer Stunde war er aber müde vom Lesen; er lehnte +sich zurück und ließ sich sein letztes Gespräch mit Paul Seebeck noch +einmal durch den Kopf gehen. Je mehr er nachdachte, umsoweniger hielt er +Paul Seebecks Ansicht für richtig; er glaubte vielmehr, daß man sich +einen gewissen, soliden Kern sammeln müßte, um den sich dann die +Gemeinschaft kristallisieren könnte. Aber einfach abwarten - nein. +Lieber organisieren, aufbauen. + +Und als ihm das als das richtige klar vor Augen stand, beschloß er, +einen Mann aufzusuchen, den er sich als wertvollen Mitarbeiter an der +Sache denken konnte, nämlich den russischen Flüchtling Nechlidow. + + + + +Durch schwere, dunkle Vorhänge gedämpft, fiel das Licht in den Salon, +in dem die hohe Frauengestalt stand. Das schwarze Schleppkleid ließ Hals +und Gesicht noch weißer erscheinen, und die großen braunen Augen +leuchteten. + +»Warum kommen Sie erst jetzt zu mir?« fragte Frau von Zeuthen Paul +Seebeck, der noch Hut und Stock in der Hand haltend vor ihr stand. + +»Wie schön Sie sind!« erwiderte Seebeck und küßte ihre Hand. +»Unveränderlich schön wie ein edles Bild, das Zeiten und Geschehnis +überdauert.« + +Ihr Lächeln war nicht der Art als ob sie seine Worte als Schmeichelei +auffaßte. Sie sagte: + +»Jetzt müssen Sie mir aber alles, alles erzählen. Ich habe die Zeitungen +gelesen und allerhand gehört. Das will ich jetzt aber vergessen und +alles neu und rein von Ihnen hören.« + +Sie setzte sich auf den Divan und wies mit der Hand auf einen Armstuhl +neben dem Rauchtischchen, aber Paul Seebeck blieb stehen: + +»In Ihrem Hause ist eine Ruhe wie sonst nirgendwo auf der Welt. Sie sind +einige Jahrhunderte zu spät auf die Welt gekommen, Gabriele. Sie passen +nicht in unser Zeitalter. Sie gehörten nach Italien zur Zeit der +Wiedergeburt, und in Ihren Räumen hätten sich die edelsten Männer +versammelt, um ernst und gewichtig die Fragen zu erörtern -« + +»Sie wollten mir doch etwas erzählen«, unterbrach ihn Frau von Zeuthen, +wobei sie sich zurücklehnte. + +Paul Seebeck legte Hut und Stock fort und setzte sich in den Armstuhl. + +»Also, ich kam von Sidney zurück -« + +»Nicht so schnell. Verzeihen Sie, daß ich Sie unterbreche. Aber Sie +dürfen Australien nicht überspringen.« + +»Über Australien kann ich leider nicht viel berichten. Ich kam hin - Sie +kennen ja meinen Expeditionsplan, er stand ja auch in allen Zeitungen - +und wie ich dort war, sah ich, daß meine ganze Expedition eigentlich +überflüssig war. Von dem, was ich als Neuland erforschen wollte, ist der +größte Teil in seinen großen Zügen schon bekannt, sogar schon +aufgenommen, und es reizte mich nicht, mich nur mit den Bagatellen +abzugeben, die natürlich auch von wissenschaftlichem Interesse sind -« + +»Da Sie ja mehr Abenteurer als Wissenschaftler sind.« + +»Vielleicht, vielleicht liegt der Wert meines Abenteuertums gerade +darin, daß ich nur große Dinge entdecken kann, nicht Kleinigkeiten +untersuchen. Ich kann nur die großen Dinge sehen und räume dann gern das +Feld dem Gelehrten, der dann nach Herzenslust messen und forschen mag. +Schon am ersten Tage in Sidney, wo ich in der Bibliothek der +Geographischen Gesellschaft saß und mir das ganze Material durchsah, +sank mir der Mut. Ich sah wohl, daß da noch unendlich viel zu tun war, +aber fast nichts für mich. + +Ich unternahm die Expedition trotzdem - ich war ja dazu verpflichtet - +aber ohne Freude. Dadurch kam auch das Sprunghafte, Unsichere herein, +das manche Zeitungen mit Recht gerügt haben, und kehrte vorzeitig +zurück.« + +»Ich las in der Zeitung, daß die furchtbaren Stürme und +Überschwemmungen, die der großen Flutwelle folgten, Sie zur Rückkehr +gezwungen hätten.« + +»Ich nahm das mehr als Vorwand. Hätte ich ernstlich gewollt, hätte ich +schon dort bleiben können. Ich kehrte aber nach Sidney zurück.« + +»Und dann?« + +»Ja, dann sah ich vom Dampfer aus meine Insel, deren Entstehung +natürlich die große Flutwelle verursacht hat. Und da beschloß ich, auf +ihr meinen Staat zu gründen.« + +»So schnell?« + +»Ja, wissen Sie, Gabriele«, fuhr Paul Seebeck lebhafter fort, »zwischen +der Entdeckung der Insel und meiner Ankunft lagen ja viele Stunden. Und +eine Stunde ist lang, wenn man allein auf einem Schiffe steht und ganz +ungestört seinen Gedanken nachhängen kann. Und unser Plan eines wirklich +modernen Staates auf breitester, demokratischer Grundlage, aber mit dem +Prinzipe der größten persönlichen Freiheit war ja schon lange fertig.« + +»Wer ist »wir«?« + +»Mein Freund Silberland, ein Journalist und radikaler Politiker aus +München, ein kluger Mensch, der unendlich viel in seinem Leben +gearbeitet hat und dem es immer schlecht gegangen ist, und ich. In +meiner Münchener Zeit sind wir oft nächtelang im Café Stephanie gesessen +oder im Englischen Garten herumgegangen und haben dabei immer nur +unseren Staat besprochen. Sie werden verstehen, daß zwei Menschen wie er +und ich sich in einer solchen Frage aufs Glücklichste ergänzen können.« + +Frau von Zeuthen nickte und Paul Seebeck fuhr fort: + +»Wie ich also die Insel sah und wußte, daß sie herrenloses Land +darstellte, schrieb ich vom Dampfer aus einige Zeilen an Silberland. +Ich erinnerte ihn an unsere Träume und bat ihn, hinzukommen. Ich schrieb +ihm, er solle mir eine Vollmacht als Reichskommissar verschaffen. Er kam +auch, der gute Kerl, steckte seinen Beruf und seine Stellung auf und +kam. Aber das Kolonialamt hatte ihm doch nur eine sehr vorsichtige, sehr +provisorische Vollmacht für mich mitgegeben und verlangte, mich selbst +zu sehen und zu hören. So mußte ich also nach Berlin kommen.« Und Paul +Seebeck schwieg, wobei er vor sich auf den Teppich sah. + +»War Ihnen denn das so unangenehm?« fragte Frau von Zeuthen. + +»Ja. Wenigstens zuerst. Ich hatte schon viele Wochen ganz allein auf +meiner Felseninsel zugebracht und fühlte mich dort so heimisch, daß es +mir schwer wurde, sie wieder zu verlassen. Und besonders fürchtete ich, +sie mit etwas anderen Augen zu sehen, wenn ich nach dem Aufenthalt in +Europa zu ihr zurückkehrte.« + +»Wie denn?« fragte Frau von Zeuthen mit ihrem klugen Lächeln. + +Er sah sie an und sagte langsam: + +»Ich fürchtete, meine Insel nicht mehr so rein zu empfinden, nicht mehr +so ganz als Symbol der Unberührtheit, kurz, nicht mehr so persönlich, +mehr als eine von den vielen, ein Kuriosum, keine Offenbarung - Sie +verstehen?« + +Frau von Zeuthen nickte. + +»Und weshalb sind Sie jetzt doch froh, hierher gekommen zu sein?« fragte +sie nach einer kleinen Pause. + +»Weil ich sehe, wie wertvoll es für mich ist, etwas Distanz bekommen zu +haben - nicht nur aus praktischen Gründen.« Wieder schwieg er und sah +vor sich hin. + +»Dann habe ich hier auch einige Menschen wiedergefunden, die ich für +meine Arbeit brauche. Und« - hier sank er vom Stuhle und ergriff ihre +Hand und küßte sie - »eine Frau, die ich immer fragen muß, ob ich auch +auf dem rechten Wege bin.« + +Sie strich ihm mit ihrer schönen, weißen Hand über sein Haar. + +»Wollen Sie mir auch diesmal Ihren Segen mitgeben?« fragte er, lächelnd +zu ihr aufblickend. + +»Ja«, sagte sie. »Und wenn Sie mich brauchen, komme ich zu Ihnen.« + +Er küßte noch einmal ihre Hand und erhob sich dann. Im Zimmer auf- und +abgehend, fuhr er lebhaft fort: + +»Und wie bezaubernd die Idee wirklichen Neulandes, einer freien +menschlichen Gemeinschaft ohne alle Traditionen wirkt. Ich kenne von der +Schule her einen jungen Studenten, jetzt ist er übrigens Referendar, der +fünf Jahre jünger ist als ich. Einen richtigen Berliner Juden, obwohl er +nicht so aussieht. Glänzend begabt, daß jede Arbeit für ihn Spielerei +ist, frech wie ein Dachshund, nie um eine Antwort verlegen, immer witzig +und nichts auf der Welt ernst nehmend. Dabei ein seelenguter Kerl und +immer hilfsbereiter Kamerad. Wir treffen uns hier zufällig im Café, und +er benutzt die Gelegenheit, um tausend dumme Witze über unsere Insel zu +machen. Am Tage darauf esse ich bei seinen Eltern. Auch dort schont er +mich durchaus nicht. Wie wir nach dem Essen bei einer Zigarre allein in +seinem Zimmer sind, sagt er mir plötzlich in vollem Ernste, daß er mit +uns kommen will, um dann sofort darüber dumme Witze zu machen. Aber ich +bin überzeugt, daß es ihm im Grunde seines Herzens tiefernst ist, und +daß er gerade durch seinen absoluten Mangel an Sentimentalität ein sehr +gesundes Element darstellen wird.« + +Er blieb stehen und lauschte, denn auf dem Korridore wurde ein Trampeln +und eifriges Tuscheln laut. Frau von Zeuthen erhob sich vom Divan. + +»Die Kinder«, sagte sie. + +Gleich darauf wurde auch die Tür aufgerissen und die dreizehnjährige +Hedwig stürmte herein. Sobald sie Paul Seebeck erblickte, schlang sie +beide Arme um seinen Hals und hüpfte vor Freude. Paul Seebeck konnte +sich nur mit Mühe soweit von ihr befreien, um dem etwas verlegen hinter +ihr stehenden zwölfjährigen Felix wenigstens flüchtig die Hand drücken +zu können. Noch halb an Paul Seebeck hängend, begann Hedwig, ihrer +Mutter übersprudelnd ein Schulerlebnis zu erzählen, doch Frau von +Zeuthen unterbrach sie: + +»Macht euch jetzt schnell zum Mittagsessen fertig, Kinder. Wir essen +heute früher als sonst. Dann kannst du uns alles erzählen, Hedwig.« + +Ein wenig schmollend zog Hedwig ab, Felix wandte sich in der Tür noch +einmal zögernd um, dann ging er schnell zu Paul Seebeck und flüsterte +ihm zu: + +»Ich habe alles gelesen; ich weiß alles. Ich will zu dir auf deine Insel +kommen.« Dann lief er tief errötend aus der Tür. + +Während die Schritte der Kinder auf dem Korridore verklangen, wandte +sich Frau von Zeuthen an Paul Seebeck: + +»Ich erwarte noch einen Gast -« + +»Herrn von Rochow?« fragte Seebeck. + +»Rochow? Nein ... Wie kommen Sie auf ihn?« + +»Ach, ich bin in den letzten Tagen oft mit ihm zusammen gewesen; er ist +ja einer von den Unsrigen.« + +»So? Das freut mich wirklich.« + +»Er war einer von denen, an die ich von Anfang an dachte, und er kam +auch gleich zu mir. - Ja, und gestern sagte er mir, daß wir uns wohl +auch bald bei Ihnen treffen würden.« + +»Rochow ist immer bei mir willkommen; er kommt vielleicht auch später +zum Tee zu mir. Wissen Sie übrigens, daß er seinen Abschied nehmen +mußte?« + +»Nein, weshalb denn?« + +»Ich weiß es nicht genau. Es handelte sich um eine Soldatenmißhandlung, +wo Rochow in irgendwelcher inkorrekten Weise zu sehr für den Soldaten +gegen den schuldigen Leutnant eingetreten ist. Aber jetzt zum +Mittagessen erwarte ich einen jungen Freund, der Ihnen vielleicht große +Freude machen wird.« + +Es klingelte, und bald darauf stand ein bleicher, junger Mann mit +tiefliegenden, rotumränderten Augen in der Tür. Man sah seiner Kleidung +an, daß sie mit großer Mühe ordentlich instand gehalten war. Frau von +Zeuthen ging auf ihn zu, führte ihn an der Hand zu Seebeck und sagte: + +»Da haben Sie meinen Melchior. Seht zu, ob ihr nicht Freunde werden +könnt.« + +Und während die beiden Männer einander forschend und suchend in die +Augen sahen, öffnete sie die Tür zum anstoßenden Eßzimmer, wo Hedwig und +Felix bereits ungeduldig warteten. + + + + +Auf dem großen Tische in Paul Seebecks Hotelzimmer, der mit Zeitungen, +Broschüren und Papieren bedeckt war, standen zwei schwere, fünfarmige +Leuchter und erhellten die Gesichter der kleinen Versammlung. Erst jetzt +waren sie zum ersten Male offiziell versammelt; so hatte es Paul Seebeck +gewollt. Mehrere Wochen hatte er ihnen Zeit gelassen, um alles in Ruhe +zu überlegen und sich einander kennen zu lernen. + +Alle sieben waren da: am Tischende saßen Paul Seebeck, Jakob Silberland +und Hauptmann a. D. von Rochow, dann kamen Edgar Allan und Referendar +Otto Meyer, zuletzt Nechlidow. Der junge Melchior saß gesenkten Hauptes +etwas im Hintergrunde und zuweilen hob sich sein bleiches, +abgearbeitetes Gesicht aus dem Dunkel. + +Paul Seebeck stand auf, und aller Augen wandten sich ihm zu. Er sagte: + +»Ich habe ungefähr dreihundert Anfragen und Anmeldungen erhalten, habe +aber Alle gebeten, sich etwas zu gedulden. Wir sind jetzt sieben, und +das ist vorläufig genug, um die Sache in Gang zu bringen. Sobald wir +die Umrißlinien gezogen haben, mögen die Anderen kommen, um sie +auszufüllen oder zu verändern. Nun liegt die Gefahr vor«, fuhr er fort, +wobei er den Kopf senkte und sich auf die eingezogene Oberlippe biß, +»daß wir sieben auch in Zukunft eine bevorzugte Stellung einnehmen. Das +darf natürlich nicht sein. Das wäre eine Oligarchie statt einer +Demokratie.« + +Nechlidow hob den Kopf und rief: + +»Was bis zum heutigen Tage noch jede Demokratie gewesen ist, besonders +in der wahnsinnigen Karrikatur des Parlamentarismus.« + +Paul Seebeck sah ihm gerade ins Gesicht: + +»Tragen Sie das Ihrige dazu bei, Herr Nechlidow, daß unser Staat nicht +an dieser Klippe strandet.« + +Es ging ein Leuchten durch Nechlidows vergrämtes Gesicht; er sagte +nichts, nickte nur. + +»Nun läßt sich aber nicht leugnen, daß wir sieben Gründer, eben als +solche, vorläufig eine Sonderstellung einnehmen. Wir müssen nur dafür +sorgen, daß diese Sonderstellung nicht länger dauert, als unbedingt +notwendig ist. Ich schlage deshalb folgendes vor: jeder Ansiedler, +selbstverständlich Mann wie Frau, ist nach einjährigem Aufenthalt auf +der Insel vollberechtigter Bürger. Wir sieben Gründer bleiben das erste +Jahr allein auf der Insel und genießen das einzige Vorrecht, in diesem +Jahre über uns selbst und den Staat, den wir ja allein repräsentieren, +zu verfügen. Dieses Vorrecht ist natürlich nur ein anderer Ausdruck für +alle unsere Pflichten und unsere Arbeit. Vom opportunistischen +Standpunkte aus gesehen also ein Vorrecht, von recht zweifelhaftem +Werte, vom moralischen Standpunkte ein Recht in der tief innersten +Bedeutung des Wortes.« + +Jetzt konnte Otto Meyer sich nicht mehr beherrschen, er mußte Jakob +Silberland zuflüstern: + +»Daß der Kerl seine geistreichen Bemerkungen nie sein lassen kann.« + +Halb verlegen und belustigt, suchte Silberland nach einer Antwort; +plötzlich aber erhob sich zum allgemeinen Erstaunen Melchior und sagte: + +»Darf ich eine Frage stellen? Da ist etwas, was ich nicht verstehe.« + +»Bitte«, sagte Seebeck. + +Melchior zog die Brauen zusammen und versuchte augenscheinlich seine +Frage scharf zu formulieren; er sagte dann: + +»Nach alledem, was ich verstanden zu haben glaube, soll dieser Staat im +Großen wie im Kleinen keine willkürliche Konstruktion darstellen, +ebensowenig eine Gemeinschaft, die nur auf einen bestimmten Typus +Mensch zugeschnitten ist. Wenn Sie mir den trivialen Ausdruck erlauben +wollen, soll es nicht nur der ideale, sondern auch der normale Staat +sein.« + +Paul Seebeck nickte. Melchior sah ihn an: + +»Ein Staat, oder wohl besser: eine Gemeinschaft, deren Bau aus der Natur +des Menschen an sich, des zweibeinigen Säugetieres: Mensch, abgeleitet +ist, nicht wahr?« + +Wieder nickte Paul Seebeck, obgleich nicht so ganz zustimmend. Melchior +war aber so in seinen Gedanken vertieft, daß er nichts um sich her sah. +Er fuhr fort: + +»Sie müssen mich recht verstehen, ich will nicht kritisieren, nur +fragen. Wie läßt sich die Idee eines solchen Staates damit vereinigen, +daß erst große Vorarbeiten nötig sind? Daß die Ansiedler sich erst ein +ganzes Jahr lang akklimatisieren sollen? Würde es nicht genügen, die +Menschen einfach in die Freiheit zu setzen, so daß sie selbst kraft +ihrer Menschennatur sich die neue Gemeinschaft schaffen können? Wenn +ihre Gedanken richtig sind, müßte der so sich selbst aufbauende Staat +genau ebenso werden, wie der Ihrige, der doch - zunächst wenigstens - +ein theoretisches, aus den jetzigen Staatsformen abstrahiertes Gebäude +darstellt; nur mit dem Unterschiede, daß der sich selbst aufbauende +Staat natürlicher wäre, ohne die Fehlerquellen, die bei dem Ihrigen, der +theoretischen Grundlage wegen, möglich sind.« + +»Bravo!« rief Nechlidow. »Der Mann kann denken.« + +»Sie müssen mich richtig verstehen,« fuhr Melchior fast ängstlich fort, +»ich vertrete gar keinen Standpunkt, ich sehe nur ein Problem und bitte +Sie, es mir zu lösen. Sie haben natürlich alles das genau bedacht, Herr +Seebeck?« Er richtete sich ganz auf und sah Seebeck gespannt an. Aber +plötzlich verzog sich sein Gesicht, es wurde kreidebleich, er schwankte +etwas, griff rückwärts nach der Stuhllehne, so daß der Stuhl sich auf +einem Beine drehte, und Melchior sank, die Stuhllehne noch immer in der +Hand, bewußtlos neben den Stuhl hin, der auf ihn fiel. + +Alle sprangen entsetzt auf. Paul Seebeck war mit einigen Schritten bei +ihm, hob ihn leicht wie ein Kind auf, klingelte nach dem Kellner, ließ +sich ein freies Zimmer zeigen und bettete den Ohnmächtigen dort. Er +löste ihm die Kleider auf Brust und Leib und flößte ihm dann Milch ein. +Melchior schlug schon nach einigen Minuten die Augen wieder auf und sah +unsicher um sich. Paul Seebeck fragte ihn besorgt: + +»Fühlen Sie sich jetzt wieder wohl?« + +»Ja, ja«, sagte Melchior zerstreut. »Das hat nichts zu sagen.« Sein +Blick fiel auf die gefüllte Milchkanne. Mit zitternden Händen schenkte +er sich ein Glas ein und stürzte es hinunter. Er sah dankbar zu Seebeck +auf: + +»Ich danke Ihnen, Sie sind so gut zu mir.« + +»Wünschen Sie irgend etwas?« fragte Seebeck, die Hand schon bei der +elektrischen Klingel. + +»Ja, wenn ich etwas essen dürfte -« antwortete Melchior zögernd. »Ich +werde zuweilen schwach, wenn ich hungrig bin.« + +»Haben Sie denn heute Abend noch nichts gegessen?« fragte Seebeck +besorgt. + +»Heute Abend?« Melchior lächelte schwach. »Gestern und heute habe ich +nichts gegessen. Wenn ich jetzt nur ein Stückchen Brot haben kann, ist +mir gleich wieder gut.« + +Der Kellner trat ein, und Seebeck bestellte, trotz Melchiors +verlegen-abwehrender Handbewegungen ein ordentliches Abendessen, doch +verlangte er nur Speisen, die in wenigen Minuten fertig sein konnten. +Während dieses kurzen Gespräches schlummerte Melchior ein. Paul Seebeck +überzeugte sich, daß sein Atem ruhig ging und verließ dann zusammen mit +dem Kellner das Zimmer. + +Als er zu seinen Gästen zurückkehrte, wurde er von allen Seiten nach +Melchiors Befinden gefragt. Er gab aber nur kurze, sachliche Antworten +und schlug dann lächelnd vor, wieder zur Arbeit überzugehen. Diesmal +ergriff er aber nicht das Wort, sondern bat Jakob Silberland, zu +erklären, wie sie ihren Staat zu finanzieren gedächten. + +Jakob Silberland stand eifrig auf, und begann: + +»Die finanzielle Grundlage unseres Staates ist als durchaus gesund zu +bezeichnen. Wir haben Aktiven in den Naturschätzen, die fast ohne +Betriebskapital zu heben sind. Nach dem Urteil von Sachverständigen +repräsentiert eine ausgewachsene Riesenschildkröte allein an Schildkrott +einen Wert von fünfundzwanzigtausend Mark, dazu kommt noch ihr Fleisch +im Werte von ungefähr dreihundert Mark. Ein genaues Studium muß ergeben, +wieviele Tiere man im Jahre erlegen darf, ohne Raubbau zu treiben; +jedenfalls für mehrere Hunderttausende, vielleicht Millionen. Diese +Einnahmequelle muß dem Staate selbst verbleiben. + +Daß der Grund und Boden für immer gemeinsames Eigentum bleiben muß, ist +ja selbstverständlich, ebenso die auf ihm stehenden Häuser, denn ein +Privatbesitz an Boden läßt sich nur solange rechtfertigen, wie es +herrenloses Land in genügender Menge gibt, so daß jeder andere sich +gleichfalls - wenn er will - einen genügenden Platz sichern kann. Da es +jetzt - speziell bei uns - herrenloses Land so gut wie nicht mehr gibt, +oder bald nicht mehr geben wird, ist Privatbesitz am Grund und Boden ein +Unding. + +Wir brauchen nur etwas flüssige Mittel, um die notwendigen Bauten und +Anlagen ausführen zu können. Wir schlagen vor, das Geld durch eine +innere Anleihe aufzubringen, die rasch zu amortisieren wäre. Diese +Anleihe müßte natürlich eine innere sein, um ausländischem Kapital +keinen Einfluß zu geben ...« + +Die Tür knarrte leise; aller Augen wandten sich ihr zu, und Jakob +Silberland brach ab. Mit schleppenden Schritten kam Melchior herein und +blieb verlegen stehen. Da sich aber alle Anwesenden Mühe gaben, ihn so +unbefangen wie möglich zu behandeln, atmete er schnell auf und nahm +seinen früheren Platz wieder ein. Jakob Silberland räusperte sich und +wollte in seinem Vortrage fortfahren, konnte aber die Aufmerksamkeit +nicht mehr sammeln. Paul Seebeck schlug deshalb vor, eine Viertelstunde +lang zu pausieren. Da niemand widersprach, ließ er Tee und kleine +Butterbrötchen, sowie auch einige Flaschen Wein kommen, was die Herren, +auf- und abgehend, zu sich nahmen. + +Paul Seebeck trat zu Melchior heran: + +»Haben Sie jetzt ordentlich gegessen?« fragte er. + +»Ja, ja«, antwortete Melchior, zerstreut auf den Boden blickend. Dann +schlug er die Augen auf: + +»Herr Seebeck«, sagte er, »Sie sind mir noch eine Antwort schuldig.« + +Paul Seebeck griff sich unwillkürlich an die Stirn; er verfolgte +rückläufig die Vorgänge des Abends und kam damit auch auf Melchiors +Frage. + +»Überlegen Sie sich, wie viel die Menschen vergessen müssen, ehe sie +reif für eine neue Gemeinschaft werden; vergessen, was sie selbst, und +das, was ihre Vorfahren gelernt haben: die Masseninstinkte. Um die zu +bekämpfen und zu vergessen, genügt weder die Möglichkeit, noch der Wille +zur Freiheit - zwei Voraussetzungen, die bei uns glücklicherweise +gegeben sind - eine große Arbeit jedes einzelnen an sich und an der +Gemeinschaft ist notwendig. Unterschätzen Sie unser Vorhaben nicht; es +gilt nichts weniger, als einen neuen Typus Mensch heranzuziehen, einen +Typus, der eine Gemeinschaft von Individualitäten bilden kann, ohne daß +diese zu einer homogenen Masse wird.« + +»Sie gebrauchen dauernd das Wort: Typus im Sinne von Individuum. Ich +finde das fast verdächtig.« + +»Ach Gott, was ist denn dabei verdächtig?« sagte Paul Seebeck +gleichmütig. »Typus - Art - was Sie wollen. Sie wissen ja, was ich +meine, da spielt der Ausdruck doch keine Rolle.« + +Melchior schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen zusammen: + +»Was Sie meinen, scheint an und für sich so klar zu sein, daß ein etwas +schiefer Ausdruck keine Unklarheit hereinbringen kann. Ich kann aber +doch nicht anders, als gerade hinter diesem schiefen Ausdruck ein +Problem zu sehen, nämlich dieses: daß Sie gar nicht den freien Menschen +an sich brauchen können und entsprechend heranziehen wollen, sondern nur +einen ganz bestimmten Typus des freien Menschen.« + +Paul Seebeck hatte anfangs lächelnd zugehört, dann wurde er aber ganz +ernst. Stehenbleibend, sagte er fast feierlich: + +»Es gibt keinen Staat und keine Gemeinschaft der Welt, wo der +Verbrecher, der Kinderschänder Raum fände. Wohl aber läßt sich eine +Gemeinschaft denken, die dem Verbrechen keinen Nährboden gibt. Was +stellen Sie sich denn überhaupt unter dem »freien« Menschen vor? - Doch +nicht den, der ungehindert absonderlichen Gelüsten folgen kann? Gerade +der in irgend einer Weise perverse Mensch ist im höchsten Grade unfrei. +Frei sein heißt: von seiner eigenen Vergangenheit frei sein, von +Traditionen und Vorurteilen frei sein, heißt Rückkehr zu einer Norm, die +es kaum noch gibt. + +In diesem Sinne haben Sie Recht: ich erkenne wirklich nur einen Typus +des freien Menschen an; aber der ist sehr umfassend, nämlich alle +einschließend, die in irgend einer Weise für die Gemeinschaft im höheren +Sinne brauchbar, oder was dasselbe ist, notwendig sind.« + +»Ja, ja«, sagte Melchior nachdenklich. »Ich glaube schon, daß ich Ihnen +zustimmen werde, wenn ich in Ruhe alles richtig bedacht habe.« + +Paul Seebeck sah ihm gerade ins Gesicht: + +»Beantworten Sie mir bitte eine Frage: weshalb kommen Sie überhaupt zu +uns? Ich sehe, daß Sie ernst arbeiten und daß Sie aufrichtig sind, uns +also willkommen sein müssen - aber was wollen Sie von uns?« + +Melchior sah mit zusammengezogenen Brauen vor sich hin: + +»Ich muß aus zwei Gründen zu Ihnen. Erstens glaube ich bei Ihnen alle +sozialen und sozial-psychologischen Phänomene im status nascendi, also +in reinster und dabei konzentriertester Form zu finden. Also aus +wissenschaftlichem Interesse. Dann glaube ich dort einmal ein +Arbeitsfeld zu haben, wo die praktische Arbeit nicht vergeudete Zeit +bedeutet.« + +»Sie werden kein angenehmer Mitarbeiter sein, aber ein wertvoller.« Und +er drückte Melchiors heiße Hand. + +Hinter ihnen erklang ein leises Klirren. Sie wandten sich um und sahen, +daß Jakob Silberland an sein Glas schlug, augenscheinlich in der +Absicht, eine Rede zu halten. Er trippelte nervös auf seinen kurzen +Beinchen hin und her und fuhr sich mehrmals mit der Hand durch sein +langes, schwarzes Haar. Die anderen Herren saßen um den Tisch herum mit +aufmerksamen und vielleicht etwas verlegenen Gesichtern. Paul Seebeck +und Melchior blieben im Hintergrunde stehen. + +Melchior sah mit einem Blicke, der fast ein Werben um Liebe enthielt, zu +Paul Seebeck auf und flüsterte ihm zu, wobei er errötete: + +»Sie müssen mir helfen, dann werde ich finden, was ich suche - dort auf +Ihrer Insel werde ich das Geheimnis der Menschheit finden.« + +Paul Seebeck nickte ihm freundlich zu. Er konnte ihm nicht mehr +antworten, denn Jakob Silberland begann: + +»Darf ich einige Worte sagen? Ich will nicht schwulstig sein, obwohl ich +mich beherrschen muß, es nicht zu werden. Aber ohne jede Übertreibung +kann man wohl sagen, daß von diesem Tage an eine neue Periode der +Menschheitsgeschichte ansetzt. Unser Anfang ist bescheiden, aber unsere +Bestrebungen werden Früchte tragen, deren Größe wir heute noch gar nicht +übersehen können. Statt grotesker Verzerrungen den wirklichen Staat, die +wirkliche Gemeinschaft von Menschen.« + +»Gegründet auf die menschliche Vernunft«, unterbrach Nechlidow, von +seinem Stuhle aufspringend, den Redner. »Weg mit den Sentimentalitäten, +die nur Ausbeutung, Schwäche und Dummheit verschleiern sollen. Laßt uns +die neue Menschheit auf die Vernunft aufbauen. Vernunft allein kann den +Menschen weiterbringen. Gefühle erniedrigen ihn zum Tiere. Aber streng +und ehrlich müssen wir sein.« + +Otto Meyer hatte mit einem spöttischen Lächeln den beiden zugehört; +jetzt aber wurde sein Gesicht ganz ernst. Er machte eine Bewegung, als +ob er aufstehen wollte, besann sich dann aber wieder. Herr von Rochow +hatte wohl zu viel Wein getrunken, denn sein Lächeln wurde blöder und +blöder, und seine treuherzigen, blauen Augen verschwammen immer mehr. +Edgar Allan hörte nur halb zu; mit einem Bleistiftstumpfe entwarf er auf +dem weißen Tischtuche Hütten und Häuser in einem Stile, der in +merkwürdiger Weise eine stark betonte Horizontale mit flachen +Bogenlinien verknüpfte. + +Jetzt trat Paul Seebeck mit einigen raschen Schritten an den Tisch und +sagte: + +»Meine Freunde! Heute Abend ist es zu spät, um noch alle die +Einzelheiten zu erörtern, die ich gern besprochen hätte. Aber dazu haben +wir ja die vielen Wochen auf dem Schiffe. + +Nur eins: das ist jetzt der Abschied vom behaglichen Leben, von +Großstadttrubel und den Vergnügungen. Jetzt beginnt für uns die Arbeit. +Es liegt nur an uns, diese Arbeit so anzufassen, daß sie für Andere und +uns selbst größeres gestaltet, als sonst je möglich wäre. Eine schwere +Zukunft liegt vor uns, aber eine große.« + + + + +Die Sachverständigen waren nach Sidney zurückgekehrt. Alles war geprüft +worden: der mutmaßliche Ertrag der anzulegenden Schildkrötenkultur, der +Fischreichtum des Meeres, die Brauchbarkeit der Steine zum Hausbau, das +Wasser, die auf der Insel vorkommenden Minerale - und jetzt saß Jakob +Silberland den ganzen Tag in seinem Zelte an einem Holztische und +rechnete, wobei er unausgesetzt die kurzen Beinchen bewegte und sich +nicht selten mit den Händen durch das schwarze, strähnige Haar fuhr. Die +andern sechs aber arbeiteten draußen in der glühenden Sonne, um erst am +Abend zu den Zelten zurückzukehren. In den Stunden, wo sie dann am +Strande lagen und auf das Meer hinaussahen, war manch ein gewichtiges +Wort gefallen. + +Jakob Silberland hatte viel zu tun: die gesamte Korrespondenz lag in +seinen Händen, ebenso die Buchführung und die Verwaltung der Gelder. Er +hatte die wöchentliche Verbindung mit Sidney durch einen kleineren +Dampfer der »Australisch-Neu-Seeländischen Transport-Gesellschaft« +zustande gebracht, und jetzt galt es für ihn, auf eine geraume Zeit +hinaus den Bedarf an Geräten, Baumaterial und anderen Dingen +vorauszusehen und geschickt auf die einzelnen Wochen zu verteilen, damit +der Verkehr sich für die Gesellschaft lohnte. + +Von diesen schwierigen Berechnungen bereitete die schwerste und +verantwortungsvollste Arbeit - die Verwaltung der Gelder - Jakob +Silberland den geringsten Kummer. Es war beschlossen worden, eine in +fünfzehn Jahren zu amortisierende, dreiprozentige innere Anleihe in der +Höhe von einer Million Mark aufzunehmen. In fünf Jahren hofften sie, mit +dem größten Teile der Bauten und Anlagen fertig zu sein und wollten dann +die Anleihe jährlich mit hunderttausend Mark amortisieren. Besondere +Bestimmungen verhinderten den Handel mit diesen Papieren, um keinem +Außenstehenden auch nur den geringsten Einfluß zu erlauben. Herr von +Rochow und Paul Seebeck hatten ihr ganzes Vermögen - eine halbe Million +und zweihundertfünfzigtausend Mark - in diesen Papieren angelegt, Otto +Meyer konnte fünfzigtausend beisteuern, und Edgar Allan zwanzigtausend. +- Jakob Silberland, Nechlidow und Melchior besaßen nichts, konnten also +auch nicht die fehlenden hundertachtzigtausend aufbringen, etwas, was +Jakob Silberland in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer sehr +bedauerte. Bis jetzt war nämlich das Kapital nur in ganz geringem +Umfange angegriffen, und der weitaus größte Teil des Geldes lag mit +sechsmonatlicher Kündigung in der Filiale der »Deutschen Bank« zu +Sidney, wo es viereinhalbes Prozent trug; die Anleihe konnte also auch, +solange sie nicht verbraucht war, als eine werbende betrachtet werden, +die anderthalb Prozent Überschuß im Jahre erbrachte. + +Aber Jakob Silberland war praktisch und fand einen Weg, um die +Unterbringung der restlichen hundertachtzigtausend Mark der Anleihe zu +erzwingen. Es war nämlich festgesetzt worden, daß alle Staatsarbeiter - +und das waren ja vorläufig alle sieben Gründer - ein jährliches Gehalt +von fünftausend Mark beziehen sollten. Die spätere, erweiterte +Gemeinschaft mochte diese Bestimmung bestätigen, abändern oder umstoßen; +sie galt vorläufig nur für das erste Jahr. + +Da jetzt von getrenntem Haushalt noch keine Rede sein konnte, wurden die +Notdürfte des Lebens gemeinsam bezogen und entsprechend vom Gehalte +abgezogen. Der Rest sollte bar ausgezahlt werden. Jakob Silberland +setzte aber durch, daß nur die Hälfte dieses Geldes bar ausgezahlt +wurde, die andere Hälfte aber in jenen Anleihepapieren, von denen zu +diesem Zwecke die in Frage stehenden hundertundachtzigtausend Mark in +Scheinen von je hundert Mark ausgegeben wurden. Sogar gegen den +Zinsverlust in der Zeit vor Unterbringung der ganzen Summe verstand +Jakob Silberland die Staatskasse zu schützen, indem er diese Papiere +nicht zum Nominalwert, sondern mit einem jährlichen Aufschlage von +anderthalb Prozent ausgab. + +Inzwischen arbeiteten die anderen in der heißen Sonne. Ihre erste Sorge +galt der Zuführung von Trinkwasser, dessen tägliche Herstellung im +Destillationsapparate zu langwierig war. Man verzichtete vorläufig auf +die Herstellung einer wirklichen, unterirdischen Wasserleitung, begnügte +sich vielmehr damit, den kleinen Bach durch Spalten und Rinnen in die +Bucht zu leiten, wobei zwar ziemlich viele Sprengungen, aber nur wenig +Mauerungsarbeiten notwendig waren. In den folgenden Wochen arbeitete +Edgar Allan an dem Stadtplane, während die anderen fünf kleinere, aber +notwendige Arbeiten ausführten. Es war beschlossen worden, sofort nach +der Fertigstellung von Allans Plänen an den Häuserbau zu gehen, und zwar +sollten die Häuser in der Reihenfolge gebaut werden, in der die Gründer +sich endgiltig zur Übersiedelung auf die Insel bereit erklärt hatten. + + + + +Die Sonne war untergegangen, und schon wenige Minuten später umhüllte +tiefe Nacht die Insel. Nur wenn eine Welle sich am Strande brach, +leuchtete für eine Sekunde grünlich-weiß der Gischt auf. + +Die Sieben lagen, des starken Nachttaues wegen in leichte Decken +gehüllt, schweigend um das Feuer, das sie der Stimmung wegen entzündet +hatten, und sahen zum strahlenden Sternenhimmel empor. + +Keiner sprach ein Wort. + +Viertelstunde auf Viertelstunde verrann; unbeweglich lagen die Männer +da, nur ihre Gedanken arbeiteten bei dem ewigen Rhythmus des +Wellenschlages. + +Endlich setzte Melchior sich auf. Mit zusammengezogenen Brauen starrte +er vor sich hin, und das leise flackernde Feuer ließ seine scharfen Züge +unheimlich erscheinen. Nach einer Weile hob er den Kopf und sagte zu +Paul Seebeck: + +»Herr Seebeck, darf ich auf jenes Gespräch zurückkommen, das wir vor +mehreren Monaten in Berlin führten?« + +Seebeck drehte sich halb herum und sah ihn fragend an. Seine Rechte +spielte mit einigen Kieseln. + +Melchior sagte: + +»Unser Gespräch fing so an: ich fragte Sie, weshalb man nicht die +Menschen ohne weiteres hier hersetzen könnte, damit sich die langsam +entstehende Gemeinschaft selbst jenen absoluten Staat aufbaue, den wir +hier künstlich schaffen wollen. Sie antworteten, daß die Menschen so +vieles zu vergessen hätten, bevor sie reif würden, Sie gebrauchten das +Wort Masseninstinkte - erinnern Sie sich noch?« + +Paul Seebeck nickte. Nechlidow, der an der anderen Seite des Feuers lag, +war aufgestanden und hatte sich dicht neben Melchior gesetzt. Dieser +fuhr fort: + +»Ich habe darüber nachgedacht und habe zunächst folgende Formel +gefunden: Sie wollen die tierischen Masseninstinkte durch das +menschliche Massenbewußtsein ersetzen.« + +Paul Seebeck nickte und hörte auf, mit den Steinchen zu spielen. +Nechlidow beugte sich mit offenem Munde und glänzenden Augen weit +vornüber. Edgar Allan aber sagte gleichmütig im Hintergrunde: + +»Glauben Sie denn wirklich, daß das geht? Wir, die etwas besonderes zu +sagen haben, haben die Pflicht, uns die besten Bedingungen zu schaffen, +um das Betreffende zu sagen und können dann mit gutem Gewissen abtreten. +Denn wir erleben doch nicht, daß die Masse uns versteht; in manchen +Fällen geschieht es später - meistens wohl überhaupt nicht. Aber wir +haben die Pflicht, das zu geben, was wir geben können, gleichgiltig, ob +es genommen wird oder nicht. Auf die Masse warten können wir aber nicht. +Dazu ist unsere Zeit zu kostbar. Wir müssen es ihr anheimstellen, ob sie +uns nachhumpeln will oder nicht. Die Geschichte machen wir und nicht die +Masse.« + +Verlegenes Schweigen folgte diesen Worten. Seebeck griff wieder nach +seinen Steinchen. Jakob Silberland sagte: + +»Nein, Herr Allan, Sie begehen den Fehler, überhaupt einen Unterschied +zwischen Führern und Masse zu konstruieren. Das geht nicht. Ich will +damit nicht nur sagen, daß es sich hier nur um graduelle, niemals +prinzipielle Unterschiede handeln kann, da es so unzählige Gebiete gibt, +auf denen irgend jemand führt; soziale, politische, religiöse, +literarische, vegetarische, alkoholgegnerische und weiß Gott noch was +für Führer gehören auf jedem anderen Gebiete wieder zu der geführten +Masse; es handelt sich also immer nur um eine partielle, niemals um eine +absolute Führerstellung, und erst die Resultante aller dieser großen +und kleinen Bewegungen stellt die Geschichte der Menschheit dar, +sondern -« + +Er stand auf und hob dozierend einen Finger: + +»Daß die Mitglieder eines heutigen Staates vollständig, die Mitglieder +der ganzen Menschheit zum großen Teile, dasselbe sind, was die einzelnen +Teile eines Korallenriffs, die einzelnen Zellen im menschlichen Körper +sind: Glieder eines größeren Individuums, die durch die Arbeitsteilung +und die darin liegende Verzichtleistung auf universelle Tätigkeit, als +Ganzes mehr zu vollbringen vermögen, als das Einzelwesen kann. Kurz und +gut, wir leben eigentlich schon im sozialistischen Zukunftsstaate, nur +daß die Staatsformen, der äußere Ausdruck der inneren Organisation, +immer um einige hundert Jahre zurück sind, ebenso wie der jeweilige +Stand der Orthographie immer die gesprochene Sprache vor einigen hundert +Jahren darstellt. Alles Unglück kommt aus dieser Inkongruenz von Form +und Inhalt - und die wollen wir ja hier abschaffen, indem wir die +Staatsform einige hundert Jahre Entwicklung überspringen lassen und sie +genau dem gegenwärtigen Stande der menschlichen Organisation anpassen.« + +»Sind die Staatsformen wirklich im Rückstande?« mischte sich Herr von +Rochow ins Gespräch. »Ich möchte lieber sagen, daß sie eine viel +vorgeschrittenere, gleichsam idealisierte Menschheit voraussetzen. +Denken Sie doch an das Institut der Ehe, das die Monogamie voraussetzt, +die es doch praktisch so gut wie gar nicht gibt.« + +Jetzt sprang Melchior auf und streckte flehend die Arme aus. Er rief: +»Nicht mehr, ich flehe Sie an, heute Abend nicht mehr! Ich sehe jetzt, +wo das Problem liegt - lassen Sie mir nur etwas Zeit!« + +Verwundert und ein wenig gekränkt sahen die anderen ihn an. Seine +Erregung war aber so echt, seine Stimme so flehend, dabei seine magere +Gestalt im Feuerscheine so grotesk, daß sich der Ärger bald in Achtung +und Mitleid verwandelte. Doch hätte die Situation peinlich werden +können, hätte Otto Meyer sie nicht aufgelöst. Er sagte nämlich +gemütlich: + +»Ja, Kinder, was strengt ihr euch unnötig an, wenn Herr Melchior so +liebenswürdig ist, alle Denkarbeit für uns zu übernehmen, und für die +endgiltige Lösung aller Weltprobleme garantiert.« + +Alle lachten; nur Melchior hatte nichts gehört. Mit gekrümmtem Rücken +saß er da und starrte vor sich hin. + +Nach einer kleinen Pause sagte Edgar Allan: + +»Wir wollen also von der Theorie auf die Praxis übergehen. Ich bin +nämlich heute mit meinem Stadtplan fertig geworden. Wir können morgen +vielleicht einen kleinen Rundgang durchs Gelände machen, und ich kann +Ihnen dann genau erklären, wie ich alles meine. Ich habe natürlich +versucht, die Natur so genau wie möglich zu verstehen und sie ihrer +eigenen Struktur entsprechend auszubauen. Die Stadt soll sich der +Bildung der Felsen eng anschließen; sie darf ja kein Fremdkörper auf der +Insel sein, sondern ein organischer Teil von ihr, ihre Blüte. Na, das +sind ja Gemeinplätze«, sagte er aufstehend, »aber ich habe auch einige +gute Ideen gehabt. In der Sohle unserer Mulde möchte ich die Hauptstraße +haben, die alle Terrassen verbindet und dann vielleicht später weiter +auf das Hochland geführt wird. Die achte große Terrasse - Sie wissen, +die breite, hinter der die Steigung so viel steiler wird, so daß die +Straße dort in starken Serpentinen weitergeführt werden müßte - möchte +ich den öffentlichen Gebäuden vorbehalten, einem Volkshause für +Versammlungen und ähnlichen Dingen. + +Am Strande, in der Richtung auf die Irenenbucht zu, könnte eine +einreihige Straße von Fischerhäuschen liegen; dort rechts, wo die Wand +ziemlich steil ist, wäre nur Platz für einige, wenige Häuser. Das ist +eine ganz ideale Stelle für Sonderlinge, die von dort aus höhnisch auf +die Stadt hinabsehen wollen. Auf solche Käuze müssen wir ja auch +vorbereitet sein. Vielleicht beschließt sogar einer von uns sein Leben +dort.« + +»Aber jetzt will ich Ihnen meine Hauptgedanken sagen, meine Herren«, +fuhr er lebhaft fort. »Sehen Sie, der Bach wird auf absehbare Zeit +hinaus für die Wasserzufuhr völlig ausreichen. Wir müssen aber den +ganzen Fluß herunter bringen, denn dann können wir hier im Laufe einiger +Jahre eine Vegetation schaffen, wozu die Natur viele hundert Jahre +brauchen würde. Und das Überspringen von Zeiträumen ist ja unsere +Hauptbeschäftigung hier. Die Sache läßt sich ausgezeichnet machen. Ich +habe alles ganz genau geprüft. Der Fluß muß zunächst in das tiefe Becken +geleitet werden, das auch sicher früher einen See beherbergt hat - falls +Seebecks Theorie richtig ist, daß die Insel nur vorübergehend unter das +Meer gesunken ist. Ebenso sicher ist natürlich auch diese Mulde das +frühere Flußtal. + +Der Wall, der das Becken gegen unser Tal abschließt, ist durchgängig +höher, als der zum Meere. Besser könnte die Sache überhaupt nicht +liegen, denn so hat das Staubecken ein natürliches Sicherheitsventil. +Wir brauchen niemals eine Überschwemmung der Stadt zu befürchten, denn +das überschüssige Wasser wird immer gleich ins Meer stürzen. Wir müssen +nur ziemlich tief im Becken eine große Röhre anbringen, die den Wall in +der Richtung auf die Stadt zu durchbohrt. Dann haben wir, unabhängig von +dem jeweiligen Wasserstande des Staubeckens, einen gleichmäßigen +Wasserstrom. + +Oben, bei der Terrasse, die ich für die öffentlichen Gebäude reservieren +will, soll sich der Fluß dann teilen. Der Hauptarm soll der Hauptstraße +folgen; ich will aber unzählige, kleine Bäche von ihm ableiten, so daß +fast jedes Haus an fließendem Wasser liegt. - Natürlich wird das +Trinkwasser davon unabhängig in geschlossenen Röhren geleitet. - So gut +wie alle Häuser werden ja auf kleinere oder größere Terrassen zu liegen +kommen, also auf wagerechten Grund. Mit Hilfe des Wassers können wir +nicht nur öffentliche Anlagen schaffen, sondern jedes Haus kann seinen +Garten haben. Ich denke dabei nicht nur an die Schönheit, sondern +besonders an die Regulierung der Atmosphäre. + +Wenn wir auf Kloaken verzichten und alle Abfälle den Gärten zugute +kommen lassen, haben wir schon etwas; aber das genügt vorläufig nicht. +Wir müssen vielmehr einen ganz energischen Anfang machen. Ich schlage +einfach vor, irgend eine recht schwere, fruchtbare Lehmerde aus +Australien hierher transportieren zu lassen und damit die Gartenflächen +etwa einen Meter hoch zu bedecken. Wenn wir uns dann Bäume mit recht +starken, tiefgehenden Wurzeln pflanzen, werden die dann schon eine +allmähliche Lockerung des Bodens besorgen. Es gibt ja Bäume, die +eigentlich nur einen Halt in einer dünnen Humusschicht brauchen, und +ihre Kraft aus dem Felsen selbst ziehen: manche Nadelhölzer, auch +Birkenarten. Das alles müßte natürlich mit einem großzügigen Gärtner +besprochen werden. + +Meine Skizzen zu den Häusern selbst werde ich Ihnen morgen zeigen. Ich +glaube, jetzt den richtigen Stil gefunden zu haben. Ich habe eine stark +betonte Horizontale mit flachen Kurven verschmolzen - na ja, das alles +morgen. + +Aber jetzt möchte ich noch etwas sagen: es ist ein schöner Gedanke, hier +alles aus eigenen Kräften auszuführen; aber eigentlich ist es doch nur +eine unpraktische Sentimentalität. Wir verschwenden Zeit und Kraft auf +Dinge, die jeder Kuli machen könnte. Sollten wir nicht lieber einige +hundert Arbeiter aus Sidney kommen lassen, um diese rein körperlichen +Arbeiten für uns auszuführen? Dann kämen wir doch viel schneller +vorwärts. Es ist nur ein Vorschlag -« + +Nechlidow sprang auf: + +»Nein, nein«, rief er. »Keine Kompromisse! Damit finge die Lüge an, die +alles durchsetzen würde. Wir müssen unseren Prinzipien treu bleiben. +Solche scheinbar - und nur scheinbar - praktische Erwägungen haben die +große Unwahrheit in die Welt hineingebracht. Wenn unser Leben hier einen +Zweck hat, so ist es der, zu beweisen, daß das strenge Festhalten am +großen Gedanken, am Menschheitsgedanken auch praktisch am weitesten +führt.« + +»Ich erlaubte mir nur einen Vorschlag«, antwortete Edgar Allan höflich. +»Da er auf Widerspruch stößt, ziehe ich ihn hiermit zurück.« + +Das Feuer war bei Allans Rede langsam zusammengesintert; jetzt war es +nahe am Verlöschen, aber niemand dachte daran, es wieder anzufachen. In +ihre Decken gehüllt, lagen die Sieben schweigend da und sahen zum +glänzenden Sternenhimmel empor. + + + + +Als der Tag sich jährte, an dem die sieben Gründer die Insel betreten +hatten, lag die »Prinzessin Irene« in vollem Flaggenschmuck vor der +Bucht. Als die Hochflut kam und die Klippen bedeckte, schleppten die +beiden zierlichen Dampfbarkassen schwere Boote mit Menschen und +Hausgerät ans Land. Auf der improvisierten Landungsbrücke standen Paul +Seebeck und Melchior und begrüßten die Ankömmlinge, während die anderen +Fünf eifrig damit beschäftigt waren, ihnen Unterkunft in den großen +Schuppen und Zelten zu bereiten, die zu diesem Zwecke errichtet waren. +Denn die Häuser mußten ja erst gebaut werden und zwar in derselben +Reihenfolge, in der die endgiltigen Erklärungen eingelaufen waren. + +Dreihundertfünfzig erwachsene Personen trafen an diesem Tage ein: +tüchtige Handwerker mit gesetzten Gesichtern, Kaufleute, die aus irgend +einem Grunde nicht vorwärts gekommen waren und nicht wenige +unbestimmbaren oder unsicheren Berufes, die erst hier ihr wirkliches +Vaterland wußten. - + +Es ergab sich von selbst, daß die sieben Gründer nicht mehr wie früher +selbst Hand an alle Arbeit legen konnten: Organisation und Leitung nahm +ihre Zeit und ihre Kräfte völlig in Anspruch. Hauptmann a. D. von Rochow +übernahm die Leitung beim Bau der Straße und der öffentlichen Anlagen; +Edgar Allan hatte Tag und Nacht als Architekt zu tun; Otto Meyer hatte +einen Teil von Jakob Silberlands Tätigkeit übernommen, der nur noch die +Rechnungssachen versah, und Paul Seebeck hatte mit der Oberleitung und +persönlicher Inanspruchnahme durch die Kolonisten mehr als genug zu tun. +Nechlidow und Melchior wären den andern als Assistenten willkommen +gewesen; beide erklärten aber ein für allemal, daß sie einfache Arbeiter +bleiben wollten. + +Bei der fieberhaften Tätigkeit entstand schnell Haus auf Haus, und froh +vertauschte man Schuppen oder Zelt mit dem festen Dache. Damit wurden +auch immer mehr Kräfte frei, so daß in immer größerem Maßstabe an den +Straßen und den öffentlichen Gebäuden gearbeitet werden konnte. Die +Wasseranlage wurde nach Edgar Allans Plänen durchgeführt, und die +Dampfer der »Australisch-Neu-Seeländischen Transportgesellschaft« mußten +halbwöchentlich verkehren und konnten doch kaum die Masse des benötigten +Materials bewältigen. + +Jedesmal, wenn die »Prinzessin Irene« vor der Bucht hielt, brachten +ihre Boote Dutzende von neuen Ansiedlern auf die Insel. + +Als das Jahr verflossen war, stand die Stadt da. + + + + +Auf den amphitheatralisch ansteigenden Bänken in der großen, +flachgewölbten Halle des Volkshauses saßen dreihundertfünfzig Männer und +Frauen und hinter ihnen drängten sich wohl zweihundert auf den Tribünen. +An einem langen Tische auf einem kleinen Podium im Brennpunkte des +Kreisbogens saßen die sieben Gründer. + +Nicht zum ersten Male waren die Glieder der Gemeinschaft hier +versammelt; aber doch zeigten alle Gesichter einen seltsamen Glanz. Vor +zwei Jahren hatten an diesem Tage die sieben Gründer die Insel betreten, +und heute waren dreihundertfünfzig Männer und Frauen vollberechtigte +Bürger geworden. Sie waren heute hier versammelt, um zum ersten Male +ihre Rechte auszuüben. + +Paul Seebeck erhob sich von seinem Stuhle, und sofort trat atemlose +Stille ein. Er richtete sich hoch auf, warf einen langen Blick über die +Versammlung und lächelte glücklich. Dann sagte er: + +»Meine Damen und Herren! + +Im Namen meiner Freunde heiße ich Sie hier willkommen! In der +gemeinsamen Arbeit dieses Jahres haben wir Werte geschaffen, die uns +und unsere Enkel überdauern werden. Wir danken Ihnen für Ihre treue +Mitarbeit. + +Bis jetzt sind wir sieben Ihre Führer gewesen, nicht aus Hochmut oder +Herrschsucht, sondern nur, weil wir anfangs eine größere Sachkenntnis +hatten. + +Jetzt legen wir unsere Mandate in Ihre Hände. Sie mögen prüfen, was Sie +von den Bestimmungen, die wir getroffen haben, beibehalten wollen und +was nicht. Vorbehaltlos übergeben wir Ihnen unsere Rechte und Pflichten. + +Bevor wir in die Verhandlungen eintreten, müssen wir einen Vorsitzenden +haben. Als den in solchen Dingen gewandtesten erlaube ich mir, Herrn Dr. +Silberland vorzuschlagen. Es wird kein anderer Vorschlag laut - also +bitte ich Herrn Dr. Silberland, den Vorsitz dieser Versammlung zu +übernehmen.« + +Ein erstauntes und verschwommenes Gemurmel wurde laut, als die sechs vom +Podium herunterschritten und auf der vordersten Bank Platz nahmen. + +Jakob Silberland war der Situation durchaus gewachsen; er gab ein kurzes +Glockenzeichen und sagte: + +»Sie werden mir ein Wort des Dankes an Herrn Seebeck erlauben. Ich weiß, +daß ich im Sinne der ganzen Versammlung spreche, wenn ich sage: in +diesem Augenblicke, wo Herr Seebeck aufgehört hat, unser offizieller +Führer zu sein, wollen wir ihm versichern, daß er immer und ewig unser +geistiger Führer bleiben wird. Denn wir wissen alles, was wir ihm +schulden: seine Initiative, seine Energie, sein praktischer Blick, sein +Glaube an den Menschen haben die Errichtung des stolzen Werkes +ermöglicht, das wir hier vor uns sehen. Und wenn wir alle längst im +Grabe liegen, wird der Name Paul Seebeck für immer mit goldenen +Buchstaben im Buche der Menschheit stehen.« + +Zögernd hatten sich die Versammelten erhoben; Paul Seebeck war sitzen +geblieben und starrte in tötlicher Verlegenheit vor sich hin. Jakob +Silberland sah einen Augenblick lang auf die stehende Versammlung und +wußte augenscheinlich nicht recht, was er mit ihr anfangen sollte. +Hilfesuchend sah er Otto Meyer an, der nur mit größter Mühe ein Lachen +herunterschluckte. Herrn von Rochows Gesicht strahlte. Er ging zu Paul +Seebeck und drückte ihm die Hand. + +Plötzlich bekam Jakob Silberland einen rettenden Gedanken; er griff zur +Glocke, läutete kurz und sagte, während die Versammlung sich +geräuschvoll wieder setzte: + +»Ich ersuche jetzt Herrn Seebeck als ersten, einen Überblick über die +verflossenen zwei Jahre zu geben.« + +Paul Seebeck trat mit einigen schnellen Schritten auf das Podium und +sagte: + +»Was hier geschehen ist und was wir hier wollen, wissen Sie ja alle, und +ich brauche nicht mit feierlichen Worten darauf einzugehen. Was ich +getan habe, glaube ich verantworten zu können. + +Nur auf einen Punkt möchte ich hinweisen: ich bin, wie Sie ja alle +wissen, Reichskommissar mit den Rechten und Pflichten eines solchen. Ich +habe aber vom Reichskolonialamt die Ermächtigung erwirkt, mein Amt einem +andern, das heißt, meinem jetzt zu wählenden Nachfolger zu übertragen. +Sobald die Wahl vor sich gegangen ist, werde ich es tun. Ich deponiere +hier beim Vorsitzenden der Versammlung eine unterzeichnete und datierte +offizielle Benachrichtigung an das Reichskolonialamt, wo nur noch der +Name des neuen Reichskommissars auszufüllen ist.« + +Er verbeugte sich kurz und ging zu seinem Platze zurück. + +Jakob Silberland gab ein Glockenzeichen und sagte: + +»Da ich jetzt selbst das Wort ergreifen möchte, um über die Verwaltung +der öffentlichen Gelder Rechenschaft abzulegen, bitte ich um Erlaubnis, +den Vorsitz so lange an Herrn Referendar Meyer abzutreten. - Da kein +Widerspruch erfolgt, tue ich es hiermit. - Herr Referendar, darf ich +bitten.« + +Otto Meyer schritt gravitätisch auf das Podium und flüsterte Jakob +Silberland zu: + +»Na, Sie werden staunen: zunächst werde ich mal die ganze Zeit durch +bimmeln, dann kriegen Sie drei Ordnungsrufe, und ich fordere Sie auf, +den Saal zu verlassen.« + +Jakob Silberland sah ihm erschreckt ins Gesicht: + +»Um Gotteswillen -« + +Er kam nicht weiter, denn Otto Meyer läutete und sagte: + +»Herr Dr. Jakob Silberland hat das Wort.« + +Jakob Silberland suchte stehend allerhand Papiere zusammen, die auf dem +Tische lagen und sagte: + +»Ich kann jetzt natürlich nur in großen Zügen ein Bild von der +finanziellen Lage geben; ich werde Sie später bitten, eine Kommission zu +wählen, um meine Bücher in allen Einzelheiten nachzuprüfen. + +Wir sind, wie Sie wissen, mit einer dreiprozentigen inneren Anleihe in +der Höhe von einer Million Mark belastet. Dieses Geld hat uns, solange +es noch teilweise auf der Bank lag, einen Zinsenüberschuß von +zehntausendachthundertdreiundfünfzig Mark und einundsiebzig Pfennigen +gebracht. + +Wir haben zweihundertachtunddreißig Schildkröten verkauft. Sie wissen +ja, daß wir nach dem Urteile der Sachverständigen dazu gezwungen waren, +da der Platz für die Tiere nicht ausreichte, und sie sonst einfach +fortgewandert wären. Dafür haben wir die Summe von fünf Millionen, +achthundertsechsundvierzigtausend siebenhundert und einundzwanzig Mark +und elf Pfennigen eingenommen. Wir hatten also sechs Millionen +achthundertsiebenundfünfzigtausend fünfhundertvierundsiebzig Mark +zweiundachtzig Pfennig bares Geld zur Verfügung. + +Unsere Ausgaben waren folgende: Gehälter: abzüglich der Mietsbeträge +eine Million siebenhundertachtunddreißigtausend fünfhunderteinundzwanzig +Mark. Hausbau: drei Millionen achthundertsiebenundfünfzigtausend +einhundertachtundsechzig Mark und zweiundvierzig Pfennige. Straßenbau, +Anlage des Bewässerungssystems, Trinkwasserleitung, Hafenanlagen, Erde +haben zusammen zwei Millionen, sechshunderttausend vierhundertachtundneunzig +Mark sieben Pfennige gekostet. Verschiedenes kostete zusammen +zweihundertachttausend neunhundertdreizehn Mark, neunundzwanzig +Pfennige. Unsere gesamten Ausgaben betrugen also: acht Millionen, +vierhundertfünftausend einhundert Mark und achtundsiebzig Pfennige. Wir +schließen diese zweijährige Periode mit einem Defizit von anderthalb +Millionen, siebenundvierzigtausend fünfhundertfünfundzwanzig Mark und +sechsundneunzig Pfennigen ab. + +Hierzu ist zu bemerken, daß wir dieses Defizit ja jeden Tag aus der +Irenenbucht decken können; vielleicht sind wir sogar gezwungen, noch +hundert Schildkröten herauszunehmen, um einen geordneten Zuchtbetrieb +möglich zu machen. Dann, daß wir in diesen zwei Jahren einen großen Teil +der Stadtanlage ausgeführt haben, so daß wir in der Zukunft nur einen +geringen Posten dafür aufzuwenden haben werden. Dann, daß das für den +Hausbau aufgewendete Geld sich mit neun Prozent verzinst. Die jährliche +Miete beträgt zwar zehn Prozent der Baukosten, doch stellen wir ein +Prozent für einen Reparaturfond zurück. Trotz dieses Defizits ist unsere +finanzielle Stellung also sehr günstig.« + +Jakob Silberland setzte sich, und Otto Meyer verließ das Podium. Im +Hinunterschreiten flüsterte er Jakob Silberland zu: + +»Bis an mein Lebensende werde ich nicht begreifen, weshalb ich hier +heraufkrabbeln mußte. Aber wundervoll war es da oben.« + +Jetzt erhielt Edgar Allan das Wort. Er kniff die Lippen zusammen und +blickte über die Köpfe der Versammlung weg. Er sagte: + +»Was ich gemacht habe, kann jeder Mensch sehen; ich hoffe, den hier +vorherrschenden Geschmack getroffen zu haben. Jedenfalls habe ich alles +getan, was in meinen Kräften stand.« + +Jakob Silberland stand auf, gab wieder ein Glockenzeichen und sagte: + +»Wünscht jemand aus der Versammlung das Wort? - Nicht? - Dann können wir +zur Wahl schreiten. Hierzu ist zu bemerken, daß sich bis jetzt die +Notwendigkeit von fünf Ämtern ergeben hat und zwar der folgenden: eines +Vorstehers der Gemeinschaft, eines Schriftführers, eines +Geschäftsführers, eines Architekten und eines Leiters der öffentlichen +Anlagen. Zunächst wäre die Frage zu entscheiden, ob diese Ämter in der +bisherigen Form weiterbestehen sollen. Weiterhin kann ich mitteilen, daß +die bisherigen Inhaber dieser Ämter die bisher geltenden Bestimmungen +zusammengefaßt haben. Ihre Nachfolger hätten dazu Stellung zu nehmen und +ihre eventuellen Änderungsvorschläge der Versammlung zu unterbreiten. +Ich erlaube mir daher, folgende Geschäftsordnung vorzuschlagen: zunächst +erfolgt die Feststellung der Ämter, dann die Wahlen zu ihnen. Die so +gewählten neuen Beamten hätten Stellung zu den bisherigen Gesetzen zu +nehmen und ihre eventuellen Änderungsvorschläge einer späteren +Versammlung zur Beschlußfassung zu unterbreiten. Schlägt jemand eine +andere Geschäftsordnung vor? - Nicht? - Dann schreiten wir zu Punkt +eins: Debatte über die bisherigen Ämter. Wer wünscht das Wort hierzu?« + +Jetzt erhob sich endlich im Hintergrunde ein Mann und sagte grob: + +»Ich meine, daß alles gut war, wie es war, und daß dieselben Herren oben +bleiben sollen, denn die verstehen es doch am besten.« + +Aller Augen hatten sich dem Redner zugewandt, der sich jetzt die Stirn +eifrig mit einem roten Taschentuche rieb. + +Jakob Silberland mußte zweimal läuten, bis das beifällige Gemurmel +verstummte; dann sagte er: + +»Der verehrte Herr Vorredner hat sich gleich zu den zwei ersten Punkten +der Tagesordnung geäußert, und zwar schlägt er Beibehaltung der alten +Ämter und Wiederwahl der bisherigen Beamten vor. Ist die Versammlung +damit einverstanden, daß diese beiden Punkte gemeinsam behandelt +werden?« + +Jetzt kam Leben in die Versammlung, und von allen Seiten ertönten +Beifallsrufe und Zustimmungsäußerungen. Da richtete Jakob Silberland +sich stolz auf und sagte: + +»Die ganz überwiegende Mehrheit wünscht die gemeinsame Behandlung beider +Punkte. Ich stelle also den Vorschlag des Vorredners zur Abstimmung, +die bisherigen Beamten zu ihren bisherigen Ämtern wieder zu wählen.« + +Jetzt wich die Schüchternheit von der Versammlung. Die Beifallsrufe +bekamen einen fast animalischen Charakter. Es wurde geschrieen, +geklatscht und getrampelt. + +Edgar Allan beugte sich zu Paul Seebeck und flüsterte ihm zu: + +»Sehen Sie, wie sie bei dem Gedanken aufleben, wieder unter die Peitsche +zu kommen. Wie ein Alp hat die Vorstellung auf ihnen gelastet, daß sie +frei wären.« + +Paul Seebeck seufzte und schwieg. + +Endlich war es Jakob Silberland gelungen, mit seiner Glocke den Lärm zu +übertönen. Sein Gesicht strahlte vor Freude und Stolz. + +»Ich bitte diejenigen aufzustehen, die gegen den Vorschlag sind«, sagte +er lächelnd. Und ebenfalls heiter lächelnd blieb die Versammlung sitzen. + +Auf einen Wink von Jakob Silberland kamen Paul Seebeck, Edgar Allan, +Otto Meyer und Herr von Rochow wieder auf das Podium. Paul Seebeck +begann mit niedergeschlagenen Augen zu sprechen: + +»Im Namen der anderen Herren danke ich Ihnen für Ihr Vertrauen. Die von +dem Vorsitzenden vorgeschlagene und von Ihnen angenommene +Geschäftsordnung bestimmt als nächsten Punkt die Vorlegung der bis +jetzt bestehenden Gesetze samt unseren Vorschlägen. - Da wir der Lage +der Dinge nach nicht nötig haben, uns mit dem fraglichen Materiale erst +bekannt zu machen, können wir das jetzt gleich erledigen und brauchen +keine spätere Versammlung dazu.« + +Jakob Silberland reichte ihm einige Papiere. Paul Seebeck blätterte +etwas in ihnen und sah dann auf: + +»Ich will mir erlauben, das folgende Exposé vorzulesen, das wir sieben +Gründer gemeinsam ausgearbeitet haben. Ich bitte, Änderungsvorschläge +sofort vorzubringen, damit das, was unwidersprochen bleibt, als +genehmigt angesehen werden kann. Ich möchte mir vorbehalten, in einigen +Vorträgen oder in anderer Form die Gesetze vom rein-menschlichen +Standpunkte aus zu erläutern - hier mögen sie rein praktisch angesehen +werden.« + +Er schwieg einen Augenblick; dann hob er ein Blatt in die Höhe und las: + +»Die Gesetze der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel. - Erstens: Die +Schildkröteninsel ist ein Teil des deutschen Kolonialbesitzes. Der +jeweilige Vorsteher der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel ist in +seiner Eigenschaft als Reichskommissar dem Staatssekretariat der +Kolonien des Deutschen Reiches verantwortlich. + +»Es ist dies nur eine Formsache«, erläuterte er aufblickend, »unter der +selbstverständlichen Voraussetzung, daß der jeweilige Reichskommissar +nichts gegen die Interessen des deutschen Reiches unternimmt, hat er ja +- vom Reiche aus - unbeschränkte Vollmacht. + +Zweitens: Nach einjährigem Aufenthalte erhält jeder Ansiedler und jede +Ansiedlerin über einundzwanzig Jahre volles Bürgerrecht. + +Drittens: Die Versammlung aller Bürger erläßt alle Gesetze, besetzt +Ämter, bestimmt Ausgaben und Einnahmen der Gemeinschaft; sie faßt alle +Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit. + +Viertens: Der Gemeinschaft gehören folgende Dinge, die nie Privatbesitz +werden können: der Grund und Boden mit Gebäuden, Gärten, Straßenanlagen, +Wasser und Mineralien, dazu der Tierbestand der Irenenbucht. Häuser und +Gärten, die dem Privatgebrauche bestimmt sind, werden verpachtet, wobei +die jährliche Pacht zehn Prozent von den Bau- und Anlagekosten beträgt. +Die Instandhaltung erfolgt auf Kosten der Gemeinschaft. Die Pacht ist +unkündbar, solange der Pächter seinen Verpflichtungen nachkommt. + +Fünftens: Alle Beamten und Arbeiter der Gemeinschaft beziehen ein +jährliches Gehalt von fünftausend Mark und werden auf mindestens ein +Jahr angestellt. + +Sechstens: Schule, Krankenpflege, Alters- und +Arbeitsunfähigkeitsunterstützung ist Sache der Gemeinschaft. + +Siebentens: Jeder Bürger hat das unbeschränkbare Recht der freien +Meinungsäußerung. - + +Achtens -« + +Er hielt einen Augenblick inne und sah auf die Versammlung, die sich +ganz still verhielt. Dann legte er die Papiere auf den Tisch und sagte: + +»Heute muß ein Schritt von großer Bedeutung unternommen werden. Bis +jetzt sind wir alle Beamte gewesen; von heute ab ist es weder notwendig, +noch wünschenswert. Wir brauchen vorläufig nur etwa ein Drittel der +bisherigen Arbeitskräfte für den Dienst in der Gemeinschaft; die anderen +zwei Drittel können sich jetzt freie Berufe ergreifen. Diejenigen, die +auf ein weiteres Jahr im Dienste der Gemeinschaft stehen wollen, können +sich später bei unserem Schriftführer, Herrn Otto Meyer, melden.« + +Er sah mit leuchtenden Augen geradeaus: + +»Ich bin kein Freund der Phrase. Aber ich darf wohl sagen, daß der +heutige Tag in der Geschichte der Menschheit unvergeßlich bleiben kann. +Helfen Sie mir dazu.« + +Und die Verhandlungen nahmen ihren Fortgang. + + + + +Am Abend desselben Tages standen die sieben Gründer auf dem Balkon von +Paul Seebecks Haus und sahen auf die Stadt hinunter. Wie leuchtende +Perlenschnüre zogen sich die Reihen der Straßenlaternen durch das samtne +Dunkel und zeigten hier deutlich, dort verschwommen die Silhouetten der +Häuser. Und diese wiederum warfen aus ihren Fenstern einige scharfe und +harte Lichtbündel in die Nacht. + +»Unsere Gründung«, sagte Herr von Rochow und bewegte wie segnend die +Arme, »unser großes Kind, das wir geboren haben, und das so traut und +doch wieder so fremd dort unter uns liegt. Ein eigener, lebendiger +Körper.« + +»Und was sind wir in diesem Körper?« fragte Paul Seebeck, die Arme über +der Brust verschränkt haltend. + +»Doch wohl das Gehirn«, sagte Nechlidow ruhig. + +»Und eben so fremd dem Körper, wie das Gehirn dem menschlichen Körper, +der seine eigenen Wege geht, ohne sich um sein Gehirn zu kümmern«, fügte +Edgar Allan hinzu. + +Melchior griff sich mit der Linken an die Stirn. + +»Der Körper lebt nach eigenen Gesetzen, kümmert sich nicht um das +Gehirn, und die Menschheit ein Körper, ein lebendiger Körper, mit +eigener Seele«, murmelte er. »Da liegt es ja!« schrie er auf. + +Otto Meyer schlug ihn begütigend auf die Schulter: + +»Nehmen Sie die Sache nur mit Ruhe. Sie brauchen die Welträtsel noch +nicht heute abend zu lösen. Lassen Sie sich noch einige Tage Zeit. Die +übrige Menschheit hat ja einige Tausend Jahre über sie nachgedacht, ohne +sie zu lösen.« + +Melchior sah dem Spötter ins Gesicht. Am ganzen Leibe vor Erregung +zitternd, sagte er: + +»Nicht die Welträtsel; aber das Problem des Menschen. Ich sehe jetzt, wo +es liegt, sehe es klarer und klarer.« + + + + +Gabriele, jetzt brauche ich Sie. Helfen Sie mir, die Menschen zur +Freiheit zu erziehen. Sie wollen das Bewußtsein der Freiheit haben, aber +wagen nicht, sie zu gebrauchen. + +Ich glaubte, die Elite der Menschen hier zu versammeln; ich sah die +starken, freien Gesichter, die kühnen, rücksichtslosen Augen - und setzt +man sie zusammen, wärmen sie sich wie eine Herde Schafe aneinander. + +Und wir sieben stehen draußen, unverstanden und unverstehend. + +Kommen Sie, die Mutter, kommen Sie und seien Sie ein Bindeglied zwischen +uns und jenen, zwischen unserem Werke und unseren Gedanken. + + Seebeck. + + + + +Trotz des Regens war Paul Seebeck in seinem Motorboote zur »Prinzessin +Irene« hinausgefahren, um Frau von Zeuthen noch am Deck zu begrüßen. + +Im Rauchsalon des Dampfers erwartete sie ihn mit ihren Kindern. Alle +drei waren schon im Mantel. + +Als sie sich begrüßt und eine halbe Stunde zusammen geplaudert hatten, +sagte Frau von Zeuthen: + +»Ich habe Ihnen wieder einen Menschen mitgebracht. Seien Sie lieb zu +ihm, dann wird er wertvoll für Sie und Ihr Werk sein. - Felix, bitte +Herrn de la Rouvière herzukommen.« + +Felix sprang hinaus. Paul Seebeck erhob sich und blieb erwartungsvoll +stehen. Unwillkürlich zuckte er aber zusammen, als er Herrn de la +Rouvière sah, denn dieser war ein Krüppel. Er war nicht größer wie ein +achtjähriger Knabe und hatte auch das Gesicht eines solchen. Seine Beine +waren dick und kurz, seine Arme und die schwarzbehaarten Hände aber wohl +noch größer, als die eines erwachsenen Mannes. Er blieb bescheiden im +Türrahmen stehen. + +Frau von Zeuthen sagte: + +»Seine Vorfahren hat der Pöbel aus Frankreich vertrieben, und derselbe +Pöbel machte dem Urenkel das Leben in Deutschland unmöglich. Nur hat er +sich andere Waffen gewählt, die aber nicht weniger verletzen. Bei Ihnen +sucht er eine Heimat, Seebeck!« + +Seebeck trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand, die der Krüppel fast +schmerzhaft fest drückte: + +»Seien Sie hier willkommen«, sagte er herzlich und sah ihm gerade ins +Gesicht. Aber sein Lächeln erstarrte, als er in de la Rouvières Augen +blickte. Sie schienen ihm plötzlich einen fast tierischen Ausdruck von +Hunger zu bekommen. Aber im nächsten Augenblicke war dieser Ausdruck +verschwunden, und der Krüppel stand wieder so bescheiden wie vorher da. + +Im Augenblick vermochte Paul Seebeck nicht mehr mit ihm zu sprechen; er +wandte sich daher an Frau von Zeuthen, die zusammen mit ihren Kindern +etwas in den Hintergrund getreten war, und sagte: + +»Darf ich Ihnen ein Amt anbieten, Gabriele? Ich kann doch wohl +voraussetzen, daß Sie sich auch in äußerem Sinne nützlich machen +wollen?« + +Frau von Zeuthen trat lächelnd heran: + +»Ich habe noch nie in meinem Leben ein Amt verwaltet. Vielleicht kann +ich es hier. Wozu wollen Sie mich denn machen?« + +»Zur Archivarin«, sagte Paul Seebeck. »Bis jetzt hat die Sekretärin, die +ich mir habe geben lassen, auch das Archiv verwaltet. Aber die Arbeit +wird ihr zu viel, und außerdem paßt sie nicht recht dazu.« + +Gabriele dachte einen Augenblick nach; dann sagte sie: + +»Ich danke Ihnen und freue mich auf diese Arbeit. Ich kann jetzt nur +unklar sehen, worin sie besteht, und die Dame wird mich erst in die +Einzelheiten einführen müssen. Ich stelle es mir schön vor, im stillen +Zimmer zu sitzen und das unbegreiflich große und bunte Leben durch die +festen Formen zu ahnen, in denen es sich grob und kalt niedergeschlagen +hat.« + +Paul Seebeck nickte ihr zu. Dann wandte er sich an Herrn de la Rouvière: + +»Und wie denken Sie sich Ihre Zukunft hier? Wünschen Sie einen freien +Beruf zu ergreifen, oder denken Sie an ein Amt?« + +»Darf ich meine Zukunft nicht in Ihre Hände legen, Herr Seebeck?« +antwortete der Krüppel und sah ihn treu und gut an. + +»Wenn Sie mir soviel Vertrauen schenken wollen«, erwiderte Paul Seebeck +und sah ihm gerade ins Gesicht. + +»Aber was soll ich machen, Paul?« sagte Hedwig und ergriff +einschmeichelnd seine Hand. + +»Du? Ich glaube, wir werden dich als Kindergärtnerin brauchen können; +unser Erziehungswesen liegt überhaupt recht im argen und muß erst +gründlich organisiert werden«, fügte er, zu Frau von Zeuthen gewandt, +erläuternd hinzu. Dann sah er sich nach Felix um; aber dieser sagte +nichts, starrte ihn aber mit seinen großen, glänzenden Augen unverwandt +an. + +Frau von Zeuthen brach das sekundenlange Schweigen: + +»Wie steht's aber um die Dienstboten?« + +»Dafür haben wir gesorgt; die jungen Leute zwischen sechzehn und +einundzwanzig sind verpflichtet, sich irgendwie nützlich zu machen. +Unsere jungen Damen sind Dienstmädchen, Krankenpflegerinnen oder +Kinderfräuleins, die Jungen sind Laufburschen oder Hilfsarbeiter. Dafür +bekommen sie etwas Taschengeld. Sie sehen, wir haben auch unsere +allgemeine Wehrpflicht. Dispens wird nur erteilt, wenn Lust und Begabung +zu selbständiger Tätigkeit vorliegt.« + +»Und was machen Sie mit Ihren Verbrechern, Seebeck?« fragte Frau von +Zeuthen wieder. + +»Verbrechen sind noch nicht vorgekommen und werden wohl auch nie +vorkommen. Einige geringfügige Übertretungen haben wir mit Geldstrafen +belegt. - Dagegen haben wir »bürgerliche Rechtsstreitigkeiten«, wie Otto +Meyer sich ausdrückt, in überraschend großer Anzahl, und da standen wir +vor einer Schwierigkeit. Es war eine starke Stimmung vorhanden, ein +Gesetzbuch auszuarbeiten, oder wenigstens einen unserer Juristen als +Richter einzusetzen. Ich wollte natürlich nicht ein starres, eiskaltes +Gesetzbuch in unser flutendes Leben werfen, und ebensowenig einen +unserer, in ihrem Fach trotz allem verknöcherten Juristen anstellen. +Schließlich setzte ich durch, daß die Monatsversammlungen alle +Streitigkeiten durch Beschluß entscheiden.« + +Frau von Zeuthen nickte und schwieg. Dann fragte sie: + +»Wo sollen wir eigentlich wohnen?« + +»Oh, dafür habe ich gesorgt,« antwortete Paul Seebeck schnell. »Ich habe +Ihnen ein fünfzimmriges Haus reservieren lassen; wenn es Ihnen nicht +gefällt, baue ich Ihnen ein anderes. Ich erlaubte mir, die +ordnungsgemäße Reihe etwas zu durchbrechen«, fügte er lächelnd hinzu. + +Frau von Zeuthen drohte scherzend mit dem Finger: + +»Ihr Prinzip haben Sie durchbrochen? Diese Schandtat hätte ich Ihnen +nicht zugetraut.« + +»Durfte ich Ihretwegen nicht eine Ausnahme machen?« gab Paul Seebeck +zurück. + +»Aber was werden die andern dazu sagen?« + +»Die andern? Ach Gott, Gabriele, die Verwaltung bringt es mit sich, daß +wir so viele Dinge selbständig machen müssen - nachträglich wird dann +alles gut geheißen.« + +»Aber doch nicht, wenn Sie die grundlegenden Prinzipien verletzen.« + +»Doch nur den Buchstaben, nicht den Sinn. - Ich scheue mich nicht ein +Prinzip zu verletzen, wenn ich mir dadurch endlose Umwege spare und auf +kürzerem Wege gerade das Ziel, den Sinn jenes Prinzips erfülle.« + +»Aber betreten Sie damit nicht einen gefährlichen Boden? Wäre es nicht +vielleicht doch besser, jene Umwege zu machen?« + +»Nicht so lange ich so genau weiß, was ich will, und so klar mein Ziel +vor Augen sehe. - Und hier liegt die Sache ja so klar: Ihre Mitarbeit +ist für uns alle so ungeheuer wichtig, daß es meine Pflicht ist, Ihnen +so schnell wie möglich volle Arbeitsmöglichkeit zu schaffen. Ob Fischer +Petersen einige Wochen länger in der Baracke leben muß, erscheint mir, +dagegen gehalten, als von geringerer Bedeutung.« + +»Wenn aber Fischer Petersen sein Recht verlangt?« + +»Wenn er es doch täte, Gabriele! Helfen Sie mir, ihn dazu zu erziehen! +Und auch Sie, Herr de la Rouvière, müssen mir dazu helfen.« + + + + +»Fräulein Erhardt«, meldete das Dienstmädchen, und Frau von Zeuthen +erhob sich vom Divan, auf dem sie in halb liegender Stellung ein Buch +gelesen hatte. + +Ein dunkellockiges Mädchen mit schwarzen, träumerischen Augen trat ein. +Sie trug ein loses Reformkleid, das den Hals frei ließ. Unter dem Arme +hatte sie eine schwarze dicke Aktenmappe, die einen ungraziösen +Widerspruch zu der lieblichen Erscheinung des Mädchens darstellte. + +»Gnädige Frau«, sagte sie und sank halb in die Knie. + +Frau von Zeuthen war auf sie zugetreten, hatte sie bei der Hand +ergriffen und fragte erstaunt: + +»Sind Sie wirklich Herrn Seebecks Privatsekretärin?« + +»Gewiß«, antwortete Fräulein Erhardt. »Schon seit drei Monaten.« + +Frau von Zeuthen nahm ihr die Aktenmappe ab und legte diese auf einen +Tisch. Dann bat sie Fräulein Erhardt, im tiefen Ledersessel Platz zu +nehmen, setzte sich selbst auf den Divan und lehnte sich halb zurück. + +»Erzählen Sie«, sagte sie dann. + +»Ich habe nicht viel zu erzählen, gnädige Frau«, sagte Fräulein Erhardt. +»Wie manche andere kam ich mit vielen unklaren Erwartungen und +Hoffnungen hierher. In den ersten Tagen fühlte ich mich recht +unglücklich hier in all der Geschäftigkeit und wußte gar nicht, was ich +selbst beginnen sollte. Da verlangte Herr Seebeck von der Gemeinschaft +eine Privatsekretärin - die anderen Herren hatten schon längst +irgendwelche Hilfe bekommen - und ich meldete mich zu der Stellung. Das +ist alles, gnädige Frau«, sagte sie und strich ihr Kleid glatt. + +»Und wie war es in Ihrer Stellung?« fragte Frau von Zeuthen. + +Über Fräulein Erhardts bleiches Gesicht glitt etwas Farbe. Sie sagte +lebhaft: + +»Es ist wunderschön, mit Herrn Seebeck zusammenzuarbeiten. Nur verlangt +er von den anderen Menschen ebensoviel wie von sich selbst. Und so viel +Wissen und Arbeitskraft hat doch kein anderer Mensch.« + +Die Tür wurde aufgerissen, und naß und zerzaust stürmte Felix herein. + +»Weißt du Mutter, was Paul Herrn de la Rouvière vorgeschlagen hat? Er +soll hier eine Zeitung gründen und außerdem die Protokolle der +Versammlungen führen.« + +»Schön, schön mein Junge«, sagte sie aufstehend. Erst jetzt gewahrte +Felix Fräulein Erhardt, die gleichfalls aufgestanden und etwas +zurückgetreten war. Er wurde glühend rot im Gesicht. + +Frau von Zeuthen legte ihm den Arm um die Schulter und führte ihn +Fräulein Erhardt zu. + +»Mein Sohn Felix«, sagte sie. + +Felix verbeugte sich ungeschickt und reichte Fräulein Erhardt die Hand, +die jene einen Augenblick lang festhielt. + +»Entschuldigen Sie, ich hatte Sie nicht gesehen«, sagte er. + +Fräulein Erhardt schüttelte langsam den Kopf: + +»Das tut nichts«, sagte sie und sah Felix mit ihren großen, schwarzen +Augen an. + +Frau von Zeuthen sah die Beiden aufmerksam an; dann wandte sie sich dem +Tisch zu, auf den sie die Aktenmappe gelegt hatte, und sagte: + +»Willst du etwas bei uns bleiben, mein Junge? Fräulein Erhardt und ich +haben allerlei zu besprechen, was dich wohl auch interessiert. Sie will +mich in meinen neuen Beruf als Reichsarchivarin einführen.« + +»Bleiben Sie doch, Herr von Zeuthen«, sagte Fräulein Erhardt bittend, +und Felix setzte sich bescheiden in eine Ecke. + +Fräulein Erhardt aber öffnete die Aktenmappe und erklärte Frau von +Zeuthen, wie sie das Archiv bisher verwaltet hatte. + + + + +In der nächsten Sitzung der Vorsteherschaft brachte Paul Seebeck auch +die Schulfrage zur Sprache und legte einen Schulplan vor, den er +gemeinsam mit Frau von Zeuthen ausgearbeitet hatte. Die anderen fanden +nur wenig daran auszusetzen, und bald hatte der Plan die Form gefunden, +in der er der Gemeinschaft vorgelegt werden sollte. Als die Arbeit +beendet war, bat Paul Seebeck die anderen Herren, bei ihm zum Abendessen +zu bleiben und teilte gleichzeitig mit, daß er auch Frau von Zeuthen, +Nechlidow und Melchior eingeladen hätte. + +Bei Tisch fragte Frau von Zeuthen nach dem Schicksale des Entwurfs, und +Paul Seebeck machte sie mit den geringfügigen Änderungen bekannt. + +»Es ist doch fast eine Vergewaltigung«, sagte Edgar Allan plötzlich, +»daß man so einem armen Wurme tausend Dinge beibringt, auf die es von +selbst nie verfallen wäre - lauter fertige, geprägte Begriffe, ein +fertiges Weltbild, eine fertige Sprache. Nichts darf sich das Kind +selber bilden, muß alles das gläubig hinnehmen, was die früheren +Generationen ihm vorgekaut haben.« + +»Na, wissen Sie was«, sagte Otto Meyer. »Wollen Sie die Kinder gleich +nach der Geburt in die Wüste schicken, um sich Sprache und Bildung ganz +aus eigener Kraft zu bauen? Ich glaube, Sie würden zu Ihrer Überraschung +einige entzückende Orang-Utans vorfinden.« + +Aber Edgar Allan hatte sich in seinem Gedanken festgebissen und ließ +sich nicht beirren. Sein Mund verzog sich nur ein wenig spöttisch, als +er Melchiors heißes Gesicht sah. Er wandte sich Otto Meyer zu und sagte +ungewöhnlich lebhaft: + +»Doch nicht, Herr Referendar. Die Kinder würden doch eine gewisse +Disposition im Gehirn von ihren kultivierten Eltern mitbekommen haben, +die sie eben doch auf eine etwas höhere Stufe als den Orang-Utan stellen +würde.« + +»Aha!« sagte Otto Meyer. »Da setzen Sie aber die kultivierten Eltern +voraus. Seien Sie jetzt aber etwas radikaler in Ihren Gedanken und +setzen Sie den Fall, daß alle Kinder von Weltbeginn an in die Wüste +geschickt worden wären. Dann hätten sie keine kultivierten Eltern, +mithin hätten die Kinder eben auch nicht jene Kultur-Disposition im +Gehirn, wären also doch reine Orang-Utans.« + +Edgar Allan lehnte sich in seinem Stuhle zurück und legte Messer und +Gabel hin. + +»Sie wollen mich aufs Glatteis führen, Herr Referendar, und sprechen +dabei nur meinen Gedanken aus.« + +Jetzt hielten alle mit dem Essen ein. Ganz leise klirrte es, als die +Eßgeräte auf die Teller und Messerbänke gelegt wurden. Edgar Allan sah +sich im Kreise um und sagte lächelnd: + +»Ich weiß wirklich nicht, ob mein Gedanke eine so ungeteilte +Aufmerksamkeit verdient. Er ist nicht viel mehr als ein logisches +Experiment, doch scheint er mir wert zu sein, zu Ende gedacht zu werden. +- Sehen Sie, meine Herren, und Sie, gnädige Frau, die so liebenswürdig +sind, zuzuhören. Ich meine folgendes: eine gewisse Disposition zur +Weiterentwicklung muß schon im Menschenaffen gelegen haben, der unser +aller Stammvater ist, und zwar schon lange vor der Sprache, mithin vor +Logik, geformten Begriffen und Möglichkeit einer Fortentwicklung anders +als durch die Vererbung jener Kulturdisposition. Die Entwicklung ging +ungeheuer langsam, aber sie schritt fort. Da kommt mit der Sprache ein +ganz neues Element herein, ein völlig unnatürliches: die Erfahrungen +werden nicht nur durch Vererbung jener Kulturdisposition den folgenden +Geschlechtern überliefert, sondern in rein abstrakter Form, sie werden +gesagt, und das Kind lernt sie als etwas zunächst Fremdes, ihm +unnatürlich Hohes. Und so geht das weiter. Mit Hilfe der Sprache +bekommen die Begriffe ein eigenes Leben, eine selbsttätige Existenz, und +immer größer wird die Kluft zwischen dem natürlichen Menschen, der ja +auch immer mit einer, eine Nuance höheren, Kulturdisposition geboren +wird, und dem, zu dem die Sprache mit allen ihren Anhängseln uns macht. +Wenn wir unseren Kindern weder Sprache noch sonst etwas mitgeben würden, +als nur unsere Kulturdisposition, würden sie kurz gesagt harmonische und +glückliche Menschen sein und nicht jenen Zwist zwischen dem eigenen und +dem angelernten Ich in sich tragen, der uns alle verzehrt.« - Nach einer +kurzen Pause fuhr er fort: »Stellen Sie sich einen Eskimo vor, den man +aus Grönland nach Berlin gebracht hat, und der sich dort im Laufe +einiger Monate akklimatisiert hat. Er trägt unsere Kleidung, benimmt +sich korrekt, aber trotz alles angelernten Anstandes, den das Milieu ihm +aufdrängt, in dem er sich gezwungenermaßen befindet, gehen seine +Gedanken und Triebe ganz andere, viel primitivere, brutalere Wege. Er +spielt dauernd Theater. Statt der rauhen Prosa, die ihm natürlich wäre, +muß er unausgesetzt hohe Verse sprechen und diese mit einstudierten +Gesten und Mienen begleiten. Der gute Mann hat im Laufe einiger Monate +oder Jahre eine Entwicklung, die naturgemäß Tausende von Jahren +gebraucht hätte, überspringen müssen, und seine ganze Existenz wird zu +einer einzigen Lüge. Seien wir einmal ehrlich: ist das nicht ganz genau +unsere Lage? - Ich überlasse Ihnen, die Parallele zwischen der +Eingewöhnung des Eskimos in unsere Kultur und unserer Erziehung zu +ziehen.« + +Minutenlanges Schweigen folgte. Dann ergriff Herr von Rochow das Wort: + +»Ich finde Ihren Gedanken wundervoll und unwiderleglich. Und doch, sehe +ich die Sache von einer anderen Seite an, komme ich zu einem ganz +anderen Resultat. Wenn ich mir nämlich einfach den jetzigen Menschen und +seine Sprache vorstelle, würde ich sagen, daß Sprache und Begriffe nicht +mit ihm Schritt gehalten haben, sondern zurückgeblieben sind und +tatsächlich nicht das auszudrücken vermögen, was wir denken und fühlen. +Und doch finde ich Ihre Gedanken unwiderleglich.« + +Er schwieg; Edgar Allan sah sich im Kreise um, als erwartete er weitere +Meinungsäußerungen. Sein Blick blieb an Melchior haften, der ihn mit +aufgerissenen Augen und offenem Munde anstarrte. + +Jakob Silberland räusperte sich und sagte: + +»Wie sonderbar. Vor einigen Jahren, als wir sieben noch ganz allein hier +auf der Insel waren, führten wir ein Gespräch über Staatsformen im +Verhältnis zum Menschen. Und auch dort stießen wir auf denselben +Widerspruch, daß sie sowohl als fortgeschritten, wie auch als +zurückgeblieben in bezug auf den Menschen angesehen werden könnten.« + +»Seltsam, daß derselbe Widerspruch heute in ganz anderem Zusammenhange +wieder auftaucht. Ach, ich entsinne mich deutlich jenes Gespräches«, +sagte Herr von Rochow. + +»Na, das Problem ist doch ganz dasselbe«, sagte Otto Meyer. »Formen, die +die Menschen im Zusammenspiele schaffen, in ihrem Verhältnisse zum +einzelnen Menschen. Apropos »Problem«, Herr Melchior, haben Sie es +gelöst?« + +Aber Melchior hörte ihn nicht. + +Edgar Allan ergriff wieder das Wort: »Ich finde etwas Niederdrückendes +darin, daß die Arbeit des Einzelnen durch diese geistigen Verkehrsmittel +zum Allgemeingut werden. Jeder Idiot schmarotzt an uns, saugt unsere +Gedanken aus, verwässert sie bis zur Karrikatur - siehe die christliche +Kirche im Verhältnis zu ihrem Gründer - und ist dann stolz auf seine +Eigenschaft als Kulturmensch. Ich sehe darin eine Ungerechtigkeit.« + +»Nein«, sagte Jakob Silberland, »Sie irren. Sie gehen von einer längst +abgetanen Weltanschauung aus. Sie vergessen den springenden Punkt: es +gäbe keinen großen Menschen, wenn es nicht ein Milieu gegeben hätte, +das ihn zeugte. Die großen Menschen schulden ihre Existenz der Masse, +und diese wiederum ihnen. Das ist ein ewiges Wechsel- und Zusammenspiel; +eine natürliche Funktion des großen Organismus Menschheit.« + +»Sie haben viel gelernt, verehrter Herr Doktor Silberland,« sagte Edgar +Allan mit leichtem Spotte. »Außer den Begriffsbrillen, die die gütige +Menschheit so liebenswürdig ist, uns in den ersten Jahren unserer +Kindheit auf unsere Nase zu setzen, haben Sie auch noch einige grüne und +blaue und seltsam gestrichelte aus eigener Initiative aufgesetzt. Ich +beneide Sie um Ihr geordnetes Weltbild, bezweifle aber doch, daß es sich +mit der Wirklichkeit deckt. Wenn ich von dem mir Eingeprägten absehe, +wenn ich unbefangen auf die Wirklichkeit sehe - etwas, wozu Sie als +gebildeter Mensch überhaupt nicht mehr imstande sind - sehe ich statt +unserer fiktiven Ordnung in der Welt nur ein ungeheures, rätselhaftes +Chaos. + +Alle unsere Moralbegriffe, Staatsformen, Sprache, Gedanken sind doch nur +ganz schwache, ganz schiefe Reflexe der inneren Entwicklungsgesetze der +Menschheit, die wir nicht kennen und nie kennen werden. Denn diese +kindlichen Abstraktionen haben nicht nur ein eigenes Leben bekommen und +entfernen sich demnach mehr und mehr von den Realitäten, sie werden +auch als primär angesehen, und man soll sich nach ihnen richten. Das ist +nicht das Problem der Menschheit, aber der Wahnsinn der Menschheit. Und +jeder Einzelne von uns hat keine andere Aufgabe, als soviel wie möglich +das Gelernte zu vergessen und in die Tiefen des eigenen Ichs +herabzusteigen, zu seinem eigenen Wesen, und sich dort über seine +Stellung im Chaos zu orientieren. Auf irgend einem, noch so kleinen +Gebiete wird er sich Meister wissen, dort seine Arbeit ausführen und die +übrige Menschheit ihrem Schicksal überlassen. Wenn jeder so dächte, +kämen wir vielleicht wieder in eine gesunde Entwicklung hinein. Wenn wir +auf das forzierte Tempo verzichten, was die Menschheit bis jetzt +angewendet hat, und uns einige millionenmal langsamer entwickeln, wird +vielleicht noch einmal etwas aus den Menschen statt der Schattenwesen, +die wir jetzt darstellen. Was meinen Sie, Seebeck?« + +»Ich finde den Gedankengang sehr interessant. Auch sehr wertvoll. Es +ergeben sich aus ihm aber so viele Perspektiven, daß man Zeit braucht, +um zu ihm Stellung zu nehmen. So im Augenblicke kann ich es nicht. Ich +werde darüber nachdenken.« + +Jetzt sprang Nechlidow mit einer solchen Heftigkeit auf, daß der Stuhl +umfiel, auf dem er gesessen hatte. Er schrie: + +»Es wird ja immer toller; jetzt ist es aber wirklich genug. Ich +wenigstens habe keine Lust mehr, länger an der Komödie mitzuspielen. Wir +kamen hierher, um die großen Menschheitsgedanken zu verwirklichen, die +große, ruhige Linie auszufüllen. Und was geschieht? Hier ein +Kompromißchen und dort ein Kompromißchen; überall Halbheiten, nichts +Ganzes. Alles Wankelmütigkeit und Wunsch nach dem behaglichen, ruhigen +Fahrwasser, nur um Gotteswillen keinen energischen Schritt. Was ist aus +den Idealen geworden, mit denen wir hierherzogen? Phrasen, Worte, +Andeutungen, keine Tat, keine Wirklichkeit. + +Und heute kommt die Krone des Ganzen. Hier im Kreise der Gründer stellt +Herr Allan seine logischen Experimente an, die weiter nichts sind, als +eine Beschimpfung der menschlichen Vernunft, eine Erniedrigung der +Sozietät. Wenn Herr Allan den dummen Orang-Utan wirklich so viel höher +stellt, als den vernünftigen Menschen, mag er zu den Orang-Utans gehen. +Aber statt ihn zurechtzuweisen, hören Sie sein kindisches und frivoles +Geschwätz ernsthaft an, antworten ihm sogar, wollen sich die Sache sogar +noch genauer überlegen. + +Ich aber glaube an die menschliche Vernunft, die vielleicht sogar einmal +in Allans Nachkommen die Sehnsucht zum Affen ertöten und volle Menschen +aus ihnen machen wird. + +Euch gebe ich auf; aber noch nicht die Sache, mit der ihr nur noch +spielt. Ich werde versuchen, ob ich sie noch aus dem Schlamme retten +kann, in dem ihr sie festgefahren habt.« + +Er verließ das Zimmer und schlug die Tür mit Gewalt hinter sich zu. + + + + +Edgar Allan und Felix waren am Ende der Straße an der linken Seite der +Bucht angelangt. Vor ihnen lag die ziemlich steile Felswand, wo es nur +an einigen, und ziemlich weit von einander abliegenden Plätzen möglich +war, Häuser zu bauen. + +Beide trugen, des strömenden Regens wegen, dicke Gummimäntel und hohe +Stiefel. + +»Sehen Sie, Felix«, sagte Edgar Allan stehen bleibend und wandte sein +scharfes Gesicht dem Knaben zu. »Hier ist der gebahnte Weg zu Ende, und +die Steine fangen an. Hinter uns liegt die behagliche Wärme der Masse.« +Die hagere, sehnige Gestalt hoch aufrichtend, sagte er, »ich bin der +Erste, der hier hinaus zieht, aber glauben Sie mir, die andern sechs +werden mir hierher folgen. Auch Nechlidow, obgleich er mich ermorden +könnte, wenn ich es ihm jetzt sagte.« + +Felix sah dem starken und einsamen Manne halb bewundernd und halb +zweifelnd ins Gesicht. Er antwortete nichts. + +Dann stiegen sie weiter, über die Felsblöcke und durch die schäumenden +Regenbäche, und suchten einen Platz für Allans neues Haus. + + + + +In diesem Jahre war die Regenzeit heftiger als je vorher und machte +fast jede Beschäftigung außer dem Hause unmöglich. Es war ein Glück, daß +Edgar Allan bei der Stadtanlage so genau alle Eventualitäten berechnet +hatte; sonst wäre wohl manches der kleinen Gärtchen fortgeschwemmt +worden. + +Paul Seebeck benutzte die Zeit der allgemeinen Untätigkeit zur +Durchführung eines Planes, den er schon lange gehegt hatte. +Allwöchentlich fanden jetzt im Volkshause Vorträge statt, die dann in +der nächsten Nummer der von Herrn de la Rouvière mit Geschick geleiteten +»Inselzeitung« gedruckt wurden. + +Paul Seebeck selbst hatte den ersten Vortrag gehalten; ihm folgte Jakob +Silberland mit einem ganzen Zyklus volkswirtschaftlicher Vorträge, und +nach ihm behandelte Herr von Rochow verschiedene schöngeistige Gebiete. + +Die »Inselzeitung« erwies sich nicht nur als notwendig, sondern auch als +Machtfaktor: der Krüppel hatte der öffentlichen Kritik einen breiten +Raum geschaffen, und mancher sprach lieber hier unter dem Schutze des +Redaktionsgeheimnisses seine Meinung aus, als in den Versammlungen der +Gemeinschaft. Herr de la Rouvière versah die Eingesandts mit +zustimmenden oder abfälligen Glossen, und deshalb galt es, sich mit ihm +gut zu stellen, wenn man einen Erfolg wünschte. Und Herr de la Rouvière +empfing die Besucher an seinem Schreibtische, der so niedrige Beine wie +der eines Knaben hatte, und besprach stundenlang mit dem Besucher dessen +Anliegen, so daß jener mit der Gewißheit davon ging, daß seine Sache in +guten Händen lag. + +Gelegentlich suchte Herr de la Rouvière Frau von Zeuthen auf, und dort +traf er zuweilen um die Teestunde Paul Seebeck, der einige freundliche +Fragen an ihn richtete, die er bescheiden beantwortete, worauf er +gewöhnlich bald fortging. + +Als Frau von Zeuthen und Paul Seebeck so eines Tages allein geblieben +waren, sagte sie: + +»Ist es nicht eine Freude, zu sehen, wie er sich hier entwickelt. Da +haben Sie wieder einem Menschen freie Entfaltungsmöglichkeit gegeben, +einen Nährboden, wo er Wurzeln schlagen kann.« + +Paul Seebeck antwortete nicht; Frau von Zeuthen sah ihn mit ihren +großen, strahlenden Augen an und sagte: + +»Sie stehen so sehr im Tagesbetriebe, müssen sich zu sehr mit +widerwärtigen Kleinigkeiten herumschlagen. Hätten Sie etwas mehr Distanz +- was Sie der Natur der Sache nach im Augenblicke nicht haben können - +würden Sie sehen, wieviel Sie schon erreicht haben. Selbst in Nechlidows +Überspanntheit liegt so viel Größe, die geweckt zu haben Ihr Verdienst +ist.« + +Paul Seebeck war aufgestanden und ging nervös im Zimmer auf und ab. Dann +blieb er vor Frau von Zeuthen stehen: + +»Es gibt Augenblicke«, sagte er, »wo ich meine, daß Nechlidow recht hat. +Wenn ich aber dann an meinem Schreibtische sitze, meine Papiere +heraussuche und mich frage, was ich denn hätte anders machen sollen, +dann finde ich nichts. Es gibt so viele Gegenstände bei der Verwaltung +eines Staates, die einfach in einer ganz bestimmten Weise und nicht +anders erledigt werden müssen, ganz gleichgiltig, ob man konservativ +oder liberal oder sonst etwas ist. Vom grünen Tische sehen manche Dinge +eben ganz anders aus, als in der Praxis, und besonders für den, der die +Verantwortung trägt. + +Ich verstehe jetzt so gut eine Erscheinung, die mich früher so oft +erstaunt hat: wenn in einem parlamentarisch regierten Lande die +bisherige Oppositionspartei ans Ruder kommt und ihre bisherigen Führer +Minister werden, erfolgt fast immer ein Bruch zwischen ihnen und ihrer +eigenen Partei, die ihnen den Verrat an den Parteiprinzipien vorwirft. +Die Sache liegt natürlich einfach so, daß unzählige Dinge - namentlich +in der Verwaltung - mit Prinzipien gar nichts zu tun haben und ihrer +Natur nach erledigt werden müssen. - Ich habe mir schon früher das +gedacht, aber jetzt begreife ich es erst wirklich. + +Hier kann man natürlich keine Grenze ziehen; es ist aber doch ein +Unterschied, ob man überhaupt ein Ziel vor Augen hat, oder, auf ein paar +bequeme Schlagwörter gestützt, alles ruhig fortwursteln läßt. In dieser +Beziehung habe ich ein reines Gewissen.« + +Paul Seebeck blieb stehn; er biß sich auf die Lippen und sagte: + +»Wissen Sie, Gabriele, was ich mir selbst in jenen einsamen Stunden +sage, wo man ehrlich gegen sich selbst ist? Ich will es Ihnen bekennen: +wir schaffen hier nicht die realen Werte, die wir schaffen wollten, und +unser ganzes Werk war vom ersten Augenblick an eine Unmöglichkeit. Das +unendliche Leben läßt sich überhaupt nur in einem Sinne formen, und das +ist in der Kunst, die immer einseitig und beschränkt und deshalb +vollkommen ist. Silberland hat mich einmal einen Künstler genannt, und +ich fühle, daß er recht hat, obwohl ich weder dichte noch male. Aber wie +jeder schaffende Künstler hatte ich ein starres, unvollkommenes +Material, in das ich den rauschenden Strom des Lebens zwängen wollte. +Das waren die staatlichen Begriffe. - Wie hat doch Edgar Allan recht, +und wie Nechlidow! - Aber statt zu sagen: als Künstler gebe ich eine +ganz einseitige Stilisierung des Lebens, aber ich forme nimmermehr das +Leben selbst, sagte ich: hier ist das Leben in seinen natürlichen +Formen. Ich habe die unendliche Mannigfaltigkeit des Lebens unterschätzt +und sehe, daß es an sich weder begreiflich noch faßbar ist, wenn man es +eben nicht als Künstler einseitig stilisiert, und es in seinem Reichtum +vorbeifluten läßt. + +Und sehen Sie, Gabriele, dann sage ich mir: wir schufen hier nicht den +Staat, und er wird nie geschaffen werden, wenn er sich nicht selbst +aufbaut, wir schufen nur eine Fiktion des Staates, lassen die andern ein +Theaterstück aufführen, dessen Autoren und Regisseure wir sind. Aber sie +spielen nur so lange Theater, wie sie in unserem Bannkreise sind, nicht +eine Minute länger! Dann gehen sie nach Hause und führen ein Leben, von +dem wir nichts wissen, und das uns auch nicht interessiert. + +Aber dann, Gabriele, dann sehe ich Menschen wie Silberland, die ohne zu +zweifeln, arbeiten und an die Vollendung glauben. Und dann glaube ich +auch selbst wieder daran, daß aus der Komödie Wahrheit werde.« + +Er setzte sich in den tiefen Ledersessel, stützte das Kinn in die Hand +und sah vor sich in den Raum. Frau von Zeuthen stand auf, trat vor ihn +hin und legte ihre beiden Hände ihm auf die Schultern: + +»Seebeck, ich gab Ihnen meinen Segen zu diesem Werke; ich gebe ihn Ihnen +noch einmal zu seiner Vollendung.« + +Er sank vor ihr nieder und umschlang mit solcher Heftigkeit ihre Knie, +daß die hohe Frau schwankte. Da faßte er ihre Hände und drückte sie an +sein Gesicht: + +»Gabriele«, sagte er, »ich bin so einsam, so fürchterlich einsam. Und +die Nächte sind so lang. Wenn alle die quälenden Gedanken kommen, dann +sehne ich mich nach Ihnen, Gabriele, nach dir, du Hohe, Reine. Komm zu +mir mit deinen kühlen, weißen Händen. Ich bin so fürchterlich allein.« + +Sie hob ihn auf und zog ihn an sich. Er lehnte seinen Kopf an ihre Brust +und schluchzte. + +Langsam führte sie ihn zum Divan. Aber da sank Seebeck aufs neue vor ihr +hin und barg sein Gesicht in ihren Schoß. Der große, starke Mann bebte +am ganzen Körper, sie strich ihm lind über das Haar. + +»Mut, Mut!« flüsterte sie ihm zu. »Ich kann nicht zu dir kommen; jetzt +kann ich nicht zu dir kommen. Du würdest dein Werk vergessen und das +darfst du nicht. Diese Insel ist der Inhalt deines Lebens; ihr mußt du +leben, wenn es nötig ist, mußt - wirst du für sie zu sterben verstehen. +Ihretwegen mußt du das Opfer deines Menschentums bringen.« Sie beugte +sich tief zu ihm hinab und legte ihre kühle Wange an seine heiße: + +»Glaubst du denn nicht, in wieviel schweren Nächten ich mich nach dir +gesehnt habe, du starker, du guter Mann. Aber ich weiß, daß ich dich +deinem Werke entziehen würde, statt es zu fördern. Und das darf nicht +sein. Was ist das Liebesglück zweier armseliger Menschlein im Vergleich +mit deinem Werke! Sei stark,« sagte sie, während sie sich wieder +aufrichtete, »dazu will ich dir helfen. Aber deine Einsamkeit ist dein +größtes Gut, sie gebar die neue Gemeinschaft, sie wird sie zur Höhe +erziehen. Aber du darfst kein armer, schwacher Mensch werden: mehr wie +ein Mensch mußt du sein.« + +Da erhob Paul Seebeck den Kopf aus Frau von Zeuthens Schoß. Seine Augen +wurden groß und starr. Langsam und schwer sprach er die Worte: + +»Und ich schwöre Ihnen, Gabriele, von dieser Stunde an nur meinem Werke +zu leben, und wenn es nötig ist, dafür zu sterben.« + +Er stand schnell auf und trat ans Fenster. Durch den strömenden Regen +blinkten einige Lichter, einige erleuchtete Fenster. Langsam drehte er +sich herum und sah erst jetzt, daß das Zimmer fast dunkel war. Nur im +Umriß sah er Frau von Zeuthen auf dem Divan sitzen. Mit gesenktem Haupte +und schleppenden Schritten trat er auf sie zu, ergriff ihre Hand, die +sie ihm nicht entzog, hielt sie lange in der seinen und zog sie dann +langsam an seine Lippen. + +Da erhob sich Frau von Zeuthen: + +»Geh jetzt«, sagte sie fast hart, »geh zu deiner Arbeit.« + +Er neigte kaum merklich den Kopf und verließ mit schnellen Schritten das +Zimmer. + + + + +Der niederströmende Regen wurde schwächer. Man sah statt des ewig +gleichmäßigen Graus am Himmel wieder Wolken, die langsam und schwer +weiterzogen. Zuweilen blickte sogar ein blaues Stückchen Himmel aus +ihnen hervor. Und endlich, endlich war der Himmel wieder rein, und die +Sonne schien. + +Ein schwerer, warmer Brodem stieg von den Gärten auf und lag wie ein +Dunst von Leben und Fruchtbarkeit über der Stadt. Die Wasserrinnen an +den Abhängen versiegten, in wenigen Tagen waren die Straßen wieder +trocken. + +Da wollte Paul Seebeck Frau von Zeuthens Kindern eine Freude machen und +ließ sich zwei kräftige Pferdchen mit dicken, behaarten Beinen kommen. + +An einem Sonntage machten sich Hedwig und Felix auf, um das Innere der +Insel zu erforschen. In den Satteltaschen hatten sie Essen für sich mit, +und auf den Rücken der Pferdchen hatten sie Heu aufgeschnallt. + +Sie ritten langsam die Hauptstraße hinauf; als sie aber die Plattform +erreichten, auf der das Volkshaus stand, stiegen sie ab, um die Tiere +nicht zu überanstrengen, und führten sie am Zügel die Serpentinen +hinauf. Als sie auf dem Hochplateau standen, sahen sie die Pyramide des +Vulkans riesenhaft und scharf in die Höhe ragen. Ein ganz dünnes +Wölkchen - kaum mehr als ein Schleier - schwebte über seiner Spitze. + +»Da müssen wir hinauf«, sagte Felix und half Hedwig wieder in den +Sattel, »was meinst du?« + +Hedwig gab mit der Peitsche ihrem Pferdchen einen kleinen Schlag: + +»Komm«, rief sie und galoppierte voran. + +Sie waren immer noch auf dem gebahnten Wege, der der Arbeit am +Staubecken wegen angelegt worden war, und nach einer halben Stunde +hatten sie dieses erreicht. Sie sprangen von den Pferden, an denen der +Schweiß herunterrann und setzten sich auf einige Steinblöcke. + +Vor ihnen lag ruhig der See, aber von dem Meere her klang ein donnerndes +Getöse zu ihnen hin. + +»Weißt du, was Allan mir erzählt hat?« fragte Felix. »Er will im See +einen künstlichen Schlammboden machen und Fische hineinsetzen. Er sagte, +das wäre gar nicht so schlimm, er wüßte nur nicht, wie er verhindern +sollte, daß die Fische mit dem Wasserfalle ins Meer gerissen würden. +Aber das findet er sicher auch noch heraus!« + +»Fische? Wie nett. Aber dann soll er auch Vögel hierherbringen.« + +»Daran hat er auch schon gedacht; er will überhaupt alle möglichen Tiere +hier wild aussetzen. Er weiß nur noch nicht welche. Aber er sagte, daß +nach zehn Jahren die Insel alle möglichen Pflanzen und Tiere haben wird. +Ich soll ihm bei der Arbeit helfen. Du, das wird wundervoll!« rief er. + +»Aber wie sollen hier Tiere leben?« fragte Hedwig zweifelnd und sah sich +in der öden Steinwüste um. + +»Das geht schon. Allan sagte, das schwerste wären die Säugetiere. Mit +den Fischen ist es nicht so schlimm, er will Tang massenhaft aus dem +Meere hierherbringen und dann Süßwasserpflanzen hineinstecken. Wenn das +alles richtig in Gang gekommen ist, bringt er Insekten und zuletzt die +Fische. - Und mit den Vögeln, sagt er, wäre die Sache einfacher: einige +Möven brüten ja schon. Man sollte nur an irgend einer Stelle, die so +weit von der Stadt weg ist, daß der Gestank nicht hinkommt, regelmäßig +tote Fische hinlegen, aber furchtbar viele natürlich, und dann würden +die Vögel schon kommen. Aber wie er das mit den Säugetieren machen will, +weiß er noch nicht recht; er sagt, es könnten zunächst nur Tiere sein, +die von Fischen oder Vögeln leben. - Und bei der ganzen Arbeit soll ich +ihm helfen, ist das nicht wundervoll?« rief er. + +Hedwig sah voll Neid ihren Bruder an. Aber dann veränderte sich ihr +Gesicht. Fast furchtsam fragte sie: + +»Du Felix, sag mal, glaubst du, daß alles noch gut geht?« + +»Weshalb soll es denn nicht gut gehen?« + +»Ja, siehst du, ich ging neulich etwas mit Herrn de la Rouvière +spazieren, und da kam Nechlidow, und die beiden sprachen zusammen. +Nechlidow war ganz wütend und sagte immer wieder, daß Paul alles +zerstört hätte. Dann sagte er auch etwas zu mir, was ich nicht +verstand -« + +»Nechlidow ist ein Idiot!« unterbrach sie Felix mit Nachdruck. »Allan +sagt, daß gerade jetzt alles gut gehen wird, seitdem Paul eingesehen +hat, daß er alles allein machen muß und nicht mehr darauf hört, was alle +die da sagen.« + +Aus irgend einem Grunde war es Hedwig peinlich, dies Gespräch +fortzusetzen. Sie sagte, während sie ihrem Pferdchen den dicken Hals +streichelte: + +»Sollen wir nicht jetzt zum Wasserfall reiten? Er ist sicher +wunderschön.« + +Dagegen hatte Felix nichts einzuwenden, und so bestiegen sie ihre Pferde +und ritten dem Staubecken entlang auf das Meer zu. Bald schob sich ein +breiter Steinwall zwischen sie und das Becken und warf einen tiefen und +kühlen Schatten auf sie. Sie trieben ihre Pferde zum Galopp an und +standen plötzlich einige Schritte vor dem steilen Abfall zum Meere. Sie +hörten ein Donnern, Zischen und Brausen, konnten den Wasserfall aber +nicht sehen. Rasch entschlossen sprangen sie von den Pferden, ließen sie +stehen und kletterten an dem Steinwalle empor. Er war höher, als sie +sich ihn vorgestellt hatten, aber endlich standen sie doch oben. Sie +sahen sich um: hinter ihnen streckten sich die drei Vorgebirge ins Meer, +zwischen denen die Stadt und die Irenenbucht eingebettet lagen, und vor +ihnen das große Wasserbecken, das in seiner ganzen Breitseite zum Meere +hinab überfloß. Sie sahen die Wasserfläche in ruhigem Zuge bis zum Rande +gleiten und dort entsetzt, verzweifelt, mit wahnsinnigem Schmerzgeheul +in die Tiefe stürzen, hier auf einem Vorsprung aufprallend, dort an +einer Klippe zerschellend, daß der Riese in tausend und abertausend +glitzernde Tropfen zersprang, die erschrocken versuchten, sich wieder +zusammenzufinden, und sich doch erst wieder im großen Meere trafen, das +weit hinaus mit weißem Schaum bedeckt war. + +Als sie sich satt gesehen hatten, traten sie langsam den Rückweg zu +ihren Pferden an und ritten in scharfem Galopp im Schatten. Erst als der +Steinwall sich wieder abflachte, und sie in den brennenden Sonnenschein +hinauskamen, mäßigten sie ihr Tempo. Sie kamen an die Stelle, wo durch +die große unterirdische Röhre das Wasser zur Stadt abfloß; dumpf dröhnte +es da unter den Hufen der Pferde. Sie ritten weiter am Becken entlang +bis dorthin, wo der Fluß hereintrat und folgten diesem weiter in der +Richtung auf den Vulkan zu. Oft mußten sie den Fluß verlassen, weil +Steinblöcke im Wege lagen, aber sie trafen doch immer wieder auf ihn. +Zuweilen floß er breit und behäbig dahin, zuweilen rauschte er +unheimlich an einer schmalen Stelle, oder teilte sich auch mitunter in +viele Zweige, die sich aber immer wieder bald vereinigten. Hedwig und +Felix kamen über breite Streifen feinen Sandes, in dem die Pferde bis +über die Hufe einsanken. + +Nach mehreren Stunden hielten sie an, sprangen von den Pferden, gaben +ihnen von dem mitgebrachten Heu zu fressen und nahmen ihnen auch die +Sättel ab. Dann hielten sie Umschau: so weit sie sehen konnten, umgab +sie graublau und gelb die Steinwüste, aus der sich nur flache Rücken +emporhoben. Und vor ihnen lag, kaum merklich in seiner Größe gewachsen, +der Vulkan. Und die Sonne brannte heiß auf sie nieder und gab den +Steinen einen blendenden Schimmer, der die Augen schmerzen machte. + +Da setzte sich Hedwig plötzlich auf einen Stein und begann zu +schluchzen: sie konnte die große Einsamkeit nicht ertragen, ihr war es +zu viel des Schweigens. Felix fragte nicht; er verstand sie und fühlte +dieselbe Angst wie sie, aber er beherrschte sich. Doch zitterten seine +Hände, als er die Pferde wieder sattelte; er sagte aber ruhig: + +»Der Vulkan ist ja viel weiter, als ich dachte; wir können heute nicht +mehr hinkommen. Wollen wir nicht wieder nach Hause reiten?« + +Hedwig nickte; sie konnte nicht sprechen. Und so schnell es die Hitze +erlaubte, ritten sie nach Hause, zu den Menschen, zur Stadt. + + + + +Wieder war der Jahrestag der Gründung herangekommen, und die +Gemeinschaft war versammelt. Die Vorsteher hatten Rechenschaft über das +verflossene Jahr abgelegt. Es sollte jetzt zur Neuwahl geschritten +werden. + +»Wünscht jemand das Wort?« fragte Jakob Silberland, der wie immer den +Vorsitz innehatte. »Nicht? Dann -« + +»Ich bitte um das Wort«, rief Nechlidow überlaut und ging auf's Podium. +Die Versammlung verharrte in eisigem Schweigen. Jakob Silberland sah +überrascht Paul Seebeck an; aber dessen Gesicht war hart und +verschlossen. Auf der Tribüne aber beugte sich ein Mädchenkopf mit +glänzenden, braunen Augen über die Brüstung. + +Nechlidow richtete sich straff auf, verschränkte die Arme über der Brust +und sagte: + +»Es tut mir leid, daß ich die hier übliche gemütliche Handhabung der +Geschäfte ein wenig störe. Hätte ich mich jetzt nicht zum Worte +gemeldet, wäre die Wiederwahl des bisherigen Vorstehers wohl glatt +erfolgt. Ich aber möchte verhindern, daß sie überhaupt erfolgt.« + +Er sah Paul Seebeck an, und dieser erwiderte starr den Blick. Dann ließ +Nechlidow seine Augen wieder über die Versammlung gleiten und fuhr fort: + +»Wenn jetzt nicht ein energischer Schritt getan wird, verläuft die mit +solchem Pathos angelegte Sache kläglich im Sumpf. + +Hier geht zwar alles gut, ich fürchte fast zu gut; niemand hungert und +jeder hat ein Dach über seinem Kopf - aber deswegen kamen wir nicht +hierher. + +Wir kamen hierher, um der Lüge zu entfliehen, die unser gesamtes +Gesellschaftsleben durchzieht und sind jetzt dabei, eine ärgere und +verabscheuungswürdigere Lüge zu stiften. + +Hier kann nur eines helfen: das felsenfeste Vertrauen auf die +menschliche Vernunft und das Abschütteln jener Herren, die den Ursprung +alles Übels in der menschlichen Vernunft sehen. Wir müssen die großen +und klaren Gesetze befolgen, die sich an der menschlichen Vernunft +ergeben und dürfen sie nicht verwischen und im geheimen verspotten, wie +es Herr Seebeck und seine Kreaturen tun. + +Fragen Sie sich: was hat unsere Gemeinschaft neues gebracht als neue +Phrasen? Ist hier wirklich ein neuer Geist? Wer wagt die Frage zu +bejahen! Ist nicht vielmehr das Umgekehrte geschehen, daß einige, +wenige Männer durch Worte und Scheingesetze, die sie nur äußerlich, in +gröbstem Sinne befolgen, gestützt, einfach ihren Launen folgen, tun und +lassen, was ihnen gefällt? Wer wagt die Frage zu verneinen! + +Die Gemütlichkeit und die persönliche Rücksichtnahme - dieses ganze +Spinngewebe von Gefühlsduseleien, das uns zu ersticken droht, muß fort. + +Ich verkenne nicht, daß wir Paul Seebeck großen Dank schulden; aber +unsere Dankbarkeit darf uns nicht hindern, kalt und klar zu sehen. Und +wenn wir das tun, können wir nur eins sagen: Seebecks Zeit ist vorbei. +Er ist ein großer Gründer, aber ein schlechter Ausbauer. + +Ich bitte die Versammlung, nicht Paul Seebeck sondern mich zum Vorsteher +zu wählen; mich treibt kein Ehrgeiz, sondern nur die Liebe zur Sache. +Und ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, daß ich keine Sentimentalitäten +und persönlichen Rücksichten kenne.« + +Mit zusammengekniffenen Lippen verließ Nechlidow das Podium. Jakob +Silberland sah ihm verstört nach. + +In der eisigen Stille dort unten entstand eine ganz leise Bewegung, ein +Rücken auf den Bänken, ein Murmeln, ein Flüstern und zuletzt klang ein +Gewirr von Worten, Namen - + +Edgar Allan hatte mehrmals von der Seite her forschend in Paul Seebecks +Gesicht geblickt und jedesmal hatte er zufrieden gelächelt, wenn er +Seebecks starre Züge sah. + +Jetzt erhob sich im Hintergrunde die schwere Gestalt eines Handwerkers: + +»Wenn wir Herrn Seebeck nicht wieder wählen dürfen, dann doch lieber den +Herrn Rouvière. Den kennen wir, der versteht seine Sache.« + +Edgar Allan drehte sich herum; freundlich lächelnd rief er dem Sprecher +zu: + +»Sie dürfen Seebeck wieder wählen, guter Freund. Sie brauchen nicht +immer das zu tun, was der letzte Redner gesagt hat.« + +Aber seine Worte verloren sich; de la Rouvières Name hatte gezündet; von +allen Seiten erscholl er, gerufen, gebrüllt. + +Kreidebleich im Gesichte stand der Krüppel auf: + +»Ich bitte Sie um Gotteswillen, wählen Sie mich nicht! Das geht nicht.« + +Stille trat ein. Aber eine grobe Stimme zerriß sie: + +»Weshalb denn nicht? So war's doch ausgemacht.« + +Jetzt hatte Jakob Silberland seine Ruhe wiedergefunden. Er läutete +energisch und sagte: + +»Wer meldet sich zum Worte?« + +Paul Seebeck gab ein leichtes Zeichen mit der Hand und ging auf das +Podium. Ruhig und geschäftsmäßig sagte er: + +»Ich möchte nur einige Worte zur Klärung der Situation sagen. Es sind +als Gegenkandidaten zwei Herren genannt worden, von denen allerdings der +eine die Absicht zu haben scheint, eine eventuelle Wahl nicht +anzunehmen. Bei aller Hochachtung vor den persönlichen Eigenschaften der +beiden Herren und der Überzeugung von der absoluten Lauterkeit ihrer +Absichten, glaube ich nicht, daß einer von ihnen imstande ist, das +verantwortungsvolle Amt eines Vorstehers der Gemeinschaft zu verwalten. +Ich glaube nicht, daß die Herren auch nur eine Ahnung von den +Schwierigkeiten dieser Stellung haben; ihre Wahl würde nicht einen +Fortschritt, sondern den Ruin unserer ganzen jahrelangen Arbeit +bedeuten. + +Nun kann ich Sie allerdings nicht daran hindern, einen der beiden Herren +zu wählen; Sie können mich aber nicht zwingen, dem Gewählten meine +Stellung als Reichskommissar zu übergeben. Die werde ich beibehalten und +werde von den unbeschränkten Vollmachten Gebrauch machen, die sie mir +gibt, sobald ich sehe, daß die Dinge eine Wendung nehmen, die ich für +unrichtig halte. Wenn Sie aber einen Nachfolger wählen, der wirklich +imstande ist, mein Amt zu übernehmen, gehe ich gern.« + +Er verbeugte sich leicht und ging zu seinem Platz zurück. + +»Bravo!« rief Edgar Allan, und dieser Ruf wurde von einem vielstimmigen +»Pfui!« beantwortet. Nechlidow sprang auf und schrie: + +»Das ist die Revolution! Jetzt wissen wir, was wir von dem Manne zu +erwarten haben.« + +Jakob Silberland läutete und läutete, aber erst nach mehreren Minuten +gelang es ihm, den Sturm zu übertönen. Ganz heiser sagte er, während der +Schweiß ihm in zwei Rinnen die Wangen entlang lief: + +»Wünscht jemand noch das Wort? Herr Nechlidow, bitte!« + +Nechlidow sprach von seinem Platze aus: + +»Nachdem der bisherige Vorsteher offen den Bruch der Verfassung erklärt +hat, behalten wir uns alle Schritte vor, wie auch die Abstimmung +ausfallen mag.« + +Unter steigendem Gemurmel wurden die Stimmzettel verteilt und wieder +eingesammelt. Als Otto Meyer Jakob Silberland die Urne überreichte, +trat lautloses Schweigen ein. Einen Zettel nach dem anderen öffnete +Jakob Silberland und rief laut den darauf stehenden Namen. Otto Meyer +notierte die einzelnen Stimmen und zählte sie dann zusammen. Dann +verkündete Jakob Silberland das Resultat: + +»Die Stimmen verteilen sich wie folgt: + +Herr Seebeck zweihundertdreiundachtzig Stimmen; + +Herr Nechlidow zweihundertsiebenunddreißig Stimmen; + +Herr de la Rouvière einhundertachtundsiebzig Stimmen. + +Elf Zettel sind blank. + +Demnach ist Herr Seebeck ordnungsgemäß zum Vorsteher der Gemeinschaft +wiedergewählt worden.« + +»Aber von einer Minorität!« brüllte Nechlidow. »Ich verlange Stichwahl +zwischen ihm und mir.« + +»Herr Seebeck ist verfassungsgemäß gewählt worden«, donnerte Jakob +Silberland ihm entgegen. + +Jetzt erhob sich ein so unbeschreiblicher Lärm, daß Jakob Silberland +nicht mehr Ruhe stiften konnte. Er setzte deshalb seinen Hut auf und +deutete damit an, daß die Sitzung unterbrochen sei. Als auch das noch +keinen Eindruck machte, verließ er mit seinen Freunden den Saal, gefolgt +von der Mehrzahl der Versammelten. Zurückblickend sah er, daß Nechlidow +auf dem Podium stand und eifrig auf die Zurückgebliebenen einredete. + + + + +Frau von Zeuthen stand in einem ausgeschnittenen schwarzen +Schleppkleide hochaufgerichtet vor dem Krüppel, der die langen Arme mit +den schwarzbehaarten Händen demütig hängen ließ: + +»Sagen Sie mir, Herr de la Rouvière, was hatte das zu bedeuten, daß man +Sie als Seebecks Nachfolger vorschlug?« + +»Gnädige Frau, es ist mir selbst vollständig unerklärlich. Ich habe +nicht die geringste Veranlassung dazu gegeben. Wie sollte ich auch nur +auf den Gedanken kommen!« + +»Aber Herr de la Rouvière, wenn Sie, trotz Ihrer Erklärung, mehrere +hundert Stimmen erhielten, so zeigt das, daß viele Sie für den +designierten Nachfolger Seebecks hielten und Ihre Erklärung nur für ein +Scheinmanöver ansahen. Wir stehen da vor einem System von Intriguen, an +dem das Mißtrauen, das Nechlidow aussät, nur zum Teil Schuld haben kann. +Sie müssen doch mindestens eine Vermutung haben, wie dieser seltsame +Mißgriff geschehen konnte.« + +Sie sah mit großen, braunen Augen ernst auf ihn nieder, und unter diesem +Blicke wurde der Krüppel gleichsam noch kleiner: + +»Gnädige Frau«, stieß er hervor. »Ich habe nicht gegen Herrn Seebeck +intriguiert; im Gegenteil, ich habe den geringen Einfluß, den meine +Stellung mir gab, nur dazu benutzt, die keimende Unzufriedenheit zu +beruhigen und in vernünftige und sachliche Bahnen zu leiten. Und die +Resultate meiner Tätigkeit liegen ja offen zutage.« Er wies auf eine +Nummer der »Inselzeitung«, die sich auf dem Tische befand. + +Frau von Zeuthen schüttelte den Kopf: + +»Diese Erklärung genügt mir nicht; sie verschleiert nur. Ich will mehr +wissen.« + +Herr de la Rouvière trat einen Schritt zurück und hob gleichzeitig die +langen Arme: + +»Gnädige Frau, Sie, die hoch oben stehen, wo wir niemals hinkommen +können - können Sie nicht verstehen, daß wir uns nach der Höhe sehnen?« + +Frau von Zeuthen setzte sich auf den Divan; ein Schleier legte sich über +ihre Augen, aber sie sagte nichts. Herr de la Rouvière trat etwas näher +und hielt sich an einer Stuhllehne fest. + +»Verspottet oder bemitleidet habe ich mein Leben verbracht; niemand +wollte mich als vollen Menschen anerkennen. Dann brachten Sie mich +hierher, und hier fand ich zum ersten Male in meinem Leben ein +Arbeitsfeld. Ich wurde ein Mensch unter Menschen. Ich dachte an Sie und +wollte Ihnen Ehre machen, wollte Sie, die Unerreichbare, erreichen.« + +Frau von Zeuthen senkte den Kopf; ihr Blick ruhte unbeweglich auf ihren +beiden weißen Händen. + +»Die Menschen kamen zu mir, und ich kam ihnen entgegen. Viele haben mich +um Rat gefragt, und ich habe ihnen nach bestem Gewissen geantwortet. Ich +genoß Vertrauen, aber ich habe es nicht mißbraucht. Ich wollte nur +helfen, dem Einzelnen und der Gemeinschaft helfen. Die anderen aber +haben mich mißverstanden; sie glaubten, ich wollte sie beherrschen. Und +das wurde mir erst gestern klar.« + +Frau von Zeuthen erhob sich: + +»Ich kann Ihnen heute nicht antworten«, sagte sie, »ich muß Sie bitten, +mich jetzt allein zu lassen.« + +Er ließ den Stuhl los, an dem er sich festgeklammert hatte und trat +dicht an sie heran: + +»Schicken Sie mich nicht so fort! Sagen Sie, daß Sie mich verstanden +haben!« + +»Ich glaube Sie zu verstehen«, sagte sie langsam, aber sie nahm nicht +die Hand, die er nach ihr ausstreckte. »Aber gehen Sie jetzt; ich muß +allein sein.« + +Und Herr de la Rouvière ging. + + + + +Felix schämte sich doch, seine damalige Forschungsreise so kurz +abgebrochen zu haben, und ohne die geringsten Entdeckungen zurückgekehrt +zu sein. Obgleich er den größten Teil der Schuld seiner Schwester +zuschob, konnte er sich doch nicht vergeben, nicht mehr Standhaftigkeit +gezeigt zu haben. Andererseits sagte er sich auch, daß sie viel zu +planlos losgezogen seien, so unvorbereitet, daß sie nicht einmal die +Entfernung des Vulkans gekannt hatten. + +Jetzt saß er fast jeden Nachmittag bei Paul Seebeck und studierte dessen +Karten und Pläne, von denen fast alle - bis auf diejenigen, die die +nächste Umgebung und die künstlichen Anlagen betrafen - noch aus der +Zeit stammten, wo Paul Seebeck ganz allein auf der Insel geweilt hatte. + +Paul Seebeck gab ihm alle Hilfsmittel, über die er verfügte, darunter +auch mehrere Lehrbücher der Geologie und der verwandten Wissenschaften, +und unterstützte ihn auch soweit mit Erklärungen, wie seine knappe Zeit +es erlaubte. Fast immer freilich verliefen diese Nachmittage so, daß +Paul Seebeck, mit der Zigarre in der Hand im Zimmer auf- und abgehend, +Fräulein Erhardt Briefe diktierte, die diese stenographierte, um sie +dann später auf der Schreibmaschine zu übertragen, während Felix, über +sein Material gebeugt, still in einer Ecke saß. War Paul Seebeck mit dem +Diktate fertig, ging er zu Felix, machte ihn auf einige besondere Dinge +aufmerksam oder löste dem Knaben Zweifel, soweit er dazu imstande war, +und verließ dann das Zimmer. Gewöhnlich packte Felix dann bald seine +Sachen zusammen und ging nach Hause, denn es war ihm unangenehm, mit +Fräulein Erhardt allein zu sein. + +Aber als er wieder einmal mit einem kurzen Abschiedswort fortgehen +wollte, drehte Fräulein Erhardt sich auf ihrem Rundsessel herum und +fragte ihn: + +»Sind Sie jetzt bald mit Ihren Plänen fertig, Herr von Zeuthen? Wann +ziehen Sie los?« + +Felix besann sich einen Augenblick, dann sagte er: + +»Eigentlich bin ich schon fertig. Ich will nur warten, bis es etwas +kühler geworden ist. Aber das wird es wohl schon in den allernächsten +Tagen werden.« + +Fräulein Erhardt faltete die Hände über den Knieen und beugte sich nach +vorn; sie fragte: + +»Darf ich Sie auf Ihrer Reise begleiten, Herr von Zeuthen?« + +Felix sah sie überrascht an: + +»Ja, wenn es Ihnen Freude macht, natürlich. Aber sie wird wenigstens +eine Woche dauern.« + +Fräulein Erhardt stand auf und reichte ihm die Hand: + +»Ich danke Ihnen.« + +Felix war etwas verwirrt, und um seine Ratlosigkeit zu verdecken, küßte +er Fräulein Erhardts Hand. Sie ließ die ihre einen Augenblick in der +seinen ruhen. Dann trat er an den Tisch zurück und suchte eine von +Seebecks ersten Kartenskizzen heraus. + +»Sehen Sie«, sagte er, »bis an den Fuß des Vulkans geht die Hochebene. +Die kenne ich jetzt, und da ist nichts zu holen. Steinplatten, Geröll +und zuweilen Sandstrecken. Und dasselbe sagt Paul; er ist da überall +gewesen und hat nichts gefunden. Ich kann mir auch nicht denken, daß da +irgend etwas sein sollte. Aber dort am Fuße des Vulkans, hier, wo Paul +die Striche gemacht hat, sagt er, wäre eine Masse von Schluchten. Er ist +nicht weiter gekommen, weil er keine Zeit hatte. Dort ist der Boden auch +zuweilen so heiß gewesen, daß er ihn nicht betreten konnte. Da müßten +wir also hin. Ich dachte, an einem Tage direkt bis zu den Schluchten zu +reiten - Sie können doch reiten, Fräulein Erhardt?« + +»Ja, aber ich habe kein Pferd.« + +»Das tut nichts, Sie können das von Hedwig nehmen. - Ja, und dann +müssen wir sehen, was wir da oben finden. Natürlich müssen wir auch auf +den Vulkan steigen.« + +»Ich werde Herrn Seebeck bitten, mir jetzt meinen Urlaub zu geben«, +sagte Fräulein Erhardt. »Ich freue mich sehr auf die Reise, Herr von +Zeuthen.« + +Felix verbeugte sich etwas ungeschickt und ging. + +Schon in den nächsten Tagen nahm die Hitze ab; kühle Winde strichen über +die Insel und führten leichte, graue Wolkenzüge mit; ja, gelegentlich +fielen sogar einige Regentropfen. Jetzt, zwischen Sommerhitze und +Regenperiode, war die geeignete Zeit für einen längeren Ausflug +gekommen. + +Am Tage vor ihrem Aufbruch hatte sich Paul Seebeck mehrere Stunden von +seiner Arbeit frei gemacht und half den beiden bei ihren Vorbereitungen. +Er sorgte dafür, daß sie Proviant für vierzehn Tage, und auch sonst +alles Notwendige, doch nichts Überflüssiges mit hatten. Was die Pferde +anging, riet Seebeck, sie nach der Ankunft einfach loszulassen; sie +würden dann ohne weiteres nach Hause laufen. Felix und Fräulein Erhardt +müßten dann allerdings zu Fuß heimkehren. Auf dem Hinwege brauchten sie +aber unbedingt die Pferde, des Transportes ihrer Sachen wegen. + +Noch vor der Morgendämmerung brachen sie auf, und gerade, als sie das +Volkshaus erreichten, hob sich die Sonne über den Horizont. Der Nachttau +verschwand bald von den Steinen, aber trotz des wolkenlosen Himmels +wurde es nicht heiß. Die Spitze des Vulkans lag vollkommen frei von +Wolken und Schleiern vor ihnen. + +Sie ritten in langsamem Trabe an dem Staubecken vorbei und kamen auch zu +der Stelle, wo sich Felix und Hedwig damals zur Umkehr entschlossen +hatten. Erst zur Mittagsstunde stiegen sie von den Pferden. Felix +öffnete einige Konservenbüchsen und bot Fräulein Erhardt vom Inhalte an. +Als sie gegessen hatten, warf er sich auf den Boden, zog eine seiner +Kartenskizzen hervor und bemühte sich, sich über ihren gegenwärtigen +Standort zu orientieren. Fräulein Erhardt saß inzwischen auf einem Stein +und schaute abwechselnd auf ihren Reisegenossen und auf die starre +Steinwüste. Nach zweistündiger Rast brachen sie wieder auf. Sie hielten +streng die Richtung auf den Vulkan ein, mußten aber immer größere Umwege +machen, um tiefe Spalten im Boden zu umreiten. Das Gelände wurde auch +immer welliger, und gleichzeitig trat mehr und mehr Geröll und Grus auf. +Das Geräusch vom Flusse her war vollkommen verstummt, aber immer höher +und breiter reckte sich der Vulkan. Aus dem regelmäßigen Kegel lösten +sich immer größere Vorsprünge heraus, und tiefe Einschnitte zeigten sich +an seinen Wänden. + +Auch das ganze Bild der Gegend hatte sich verändert. Es gab keine Ebene +mehr, aus der sich plötzlich scharf umgrenzt der Vulkan erhob. Ebene und +Vulkan kamen einander entgegen, verwischten in ihrer zunehmenden +Zerklüftung ihre Gegensätze und verschmolzen zuletzt zu einem wilden +Körper. + +Fräulein Erhardt und Felix ritten an hohen Felsblöcken vorbei, mußten +oft im Zickzackwege an steilen Geröllhalden hinab- und hinaufreiten. Das +Traben war unmöglich geworden, und im mühsamen Schreiten wiegten die +kleinen, starken Pferdchen rhythmisch die Köpfe. + +Die Spitze des Vulkans war zurückgetreten und zuletzt ganz hinter einer +hohen Felswand versunken. Und hier hielten die beiden an, um im Schutze +der Felswand die Nacht zu verbringen. Sie nahmen das Gepäck von den +Pferden, gaben ihnen den letzten Rest des mitgebrachten Heus zu fressen, +nahmen ihnen dann das Zaumzeug ab und banden es an den Sätteln fest. Die +klugen Tierchen blieben erst schnuppernd stehen, gingen einige Schritte +heimwärts und wandten dann wieder die Köpfe nach Felix zurück. Da dieser +aber keine Miene machte, sie zurückzuhalten, setzten sie sich in +langsamen Trott und waren bald hinter den Felsen verschwunden. + +Während Fräulein Erhardt und Felix fast schweigend ihr Abendessen +einnahmen, wurden die Schatten unheimlich lang und kalt, krochen an den +Felswänden empor, hier und da leuchtete noch eine Spitze, ein +Vorsprung - + +Wenige Minuten später war es dunkel, und sofort legte sich ein schwerer +Tau auf Gesicht und Kleider. + +Felix zündete eine kleine Lampe an und ordnete in ihrem schwachen +Lichtscheine die mitgebrachten Sachen. Er rollte die Schlafsäcke auf und +stellte die Konserven in eine kleine Spalte, die er - um sie vor den +Sonnenstrahlen zu schützen - noch mit einem flachen Steine zudeckte. +Dann kroch er in seinen Schlafsack, gähnte, wünschte Fräulein Erhardt +eine gute Nacht und schlief fest ein. Fräulein Erhardt aber blieb noch +lange auf ihrem Steinblock sitzen; zuweilen bewegte sie fröstelnd die +Schultern. Zuletzt ging sie vorsichtig zu Felix, kniete neben den +Schläfer hin, beugte ihr bleiches Gesicht über ihn und küßte ihn leise +auf die Stirn. Felix rührte sich nicht. Da ging Fräulein Erhardt +gesenkten Hauptes zurück und legte sich endlich zur Ruhe. + +Als sie am Morgen aufwachte, war Felix fort. Sie sprang schnell auf und +brachte ihre zerdrückten Kleider, so gut es sich machen ließ, in +Ordnung. Felix kam erst nach einer Stunde. Er war beim Flusse gewesen +und hatte Wasser geholt. Er setzte das Wasser über den Spirituskocher +und sagte: + +»Wissen Sie, was ich herausgefunden habe, Fräulein Erhardt? Wir sind vom +Wege ein tüchtiges Stück nach links abgekommen. Die Spalten, von denen +Paul mir erzählt hat, habe ich sehn können, wie ich zum Fluß ging. Hier +ist sicher überhaupt noch nie ein Mensch gewesen. Am liebsten möchte ich +die Spalten in Frieden lassen und noch weiter nach links, also nach +Süden, gehn.« + +Er stürzte in großer Hast seinen Tee hinunter und ging dann zum nächsten +Hügel, wo er eine mächtige Steinpyramide errichtete. + +»So, jetzt können wir unsere Sachen immer wieder finden«, sagte er. +»Sind Sie fertig?« + +Fräulein Erhardt war fertig und bereit, ihm zu folgen. + +Sie gingen an der Felswand entlang und kamen nach einer halben Stunde an +eine Geröllhalde. Hier stiegen sie höher hinauf, bis sie an einen Absatz +kamen, von dem aus sie Umschau halten wollten. Aber sie konnten nicht +weit sehen; hätten sie nicht gewußt, daß sie sich am Abhange des Vulkans +befanden, der sich hoch über die Ebene reckte - hier hätten sie es nicht +feststellen können, denn an allen Seiten sahen sie nur ein Gewirr von +Felsen und Schutthügeln, das jede Aussicht versperrte. Nur an einem +einzigen Punkte, gerade zwischen zwei Basaltfelsen, konnten sie die +Ebene und sogar ein Streifchen des hellschimmernden Meeres sehn. + +Sie gingen weiter; Felix immer zwanzig Schritte voraus. Das Gefälle war +jetzt viel geringer, und das Geröll wurde oft durch Strecken von +graublauem Sande und Lehm unterbrochen, aus dem oft kleine Quellen +entsprangen, die aber alle bald wieder im Gerölle verschwanden. +Plötzlich schrie Felix leicht auf: er war mit dem einen Bein bis zum +Knie in ein Schlammloch gesunken. Fräulein Erhardt eilte erbleichend zu +ihm, aber er hatte sich schon wieder beruhigt und zeigte ihr lachend das +schmutzige Bein und das Loch, in dem sich jetzt gurgelnd trübes Wasser +ansammelte. Aber Felix war durch den Vorfall vorsichtiger geworden; er +umging die immer häufiger auftretenden feuchten, dunklen Strecken, bis +sie endlich wieder auf festen Basaltgrund kamen. Hier sah Felix auf die +Uhr: sie waren schon drei Stunden ununterbrochen gestiegen. Dann setzte +er sich auf einen Stein, um Fräulein Erhardt zu erwarten, nahm sich +einen Stein und kratzte den Schmutz vom Strumpf und Stiefel. +Naserümpfend warf er den Stein fort, denn das Zeug hatte einen widrigen, +fauligen Geruch. + +Als Fräulein Erhardt neben ihm stand, reichte er ihr eine Tafel +Schokolade und rückte gleichzeitig etwas auf seinem Steine zur Seite, um +auch ihr Platz zu machen. Aber sie bemerkte es nicht; nachdenklich +knabberte sie an der Schokolade und blickte dabei vor sich auf den +Boden. + +Etwas gelangweilt und mißvergnügt sah Felix sie an; aber dann wurden +seine Züge plötzlich weich, und er wandte sich ab. + +»Sehen Sie doch, wie schön es hier ist«, sagte er und streckte die Hand +aus. + +Fräulein Erhardt sah erst ihn mit ihren großen, schwarzen Augen an, dann +drehte sie sich ganz langsam umher. Jetzt waren die Felsen, die ihnen +vorher den Blick versperrt hatten, tief unten versunken. Sie hoben sich +kaum merkbar über die Ebene, die breit und flach dort unten lag. Ein +schmales Silberband - der Fluß - zog sich in Windungen hindurch; dort +lag ein kleiner hell spiegelnder Fleck - das Staubecken, und hinten, +weit hinten, das Meer - + +Fräulein Erhardt hatte die Hand auf Felix' Schulter gelegt, und er +empfand wohlig den leichten Druck. Aber dann merkte er ihre Wärme durch +seine Kleider dringen, und das verursachte ihm ein unbehagliches Gefühl. +Er stand auf: + +»Wir haben keine Zeit, Fräulein Erhardt, wenn wir heute noch hinauf +wollen«, sagte er. + +»Dann lassen Sie uns weitergehn«, antwortete sie einfach und schlug die +Augen nieder. + +Sie stiegen weiter. Plötzlich blieb Felix stehen. + +»Riechen Sie nichts, Fräulein Erhardt?« fragte er. + +Sie sog die Luft ein: + +»Ja, das ist doch Meergeruch!« sagte sie erstaunt. + +Felix schüttelte den Kopf: + +»Ich finde es auch. Aber das ist doch ganz unmöglich. Wir sind doch ganz +weit vom Meere, und außerdem so hoch -« + +Aber je höher sie kamen, um so stärker wurde der unverkennbare +Tanggeruch. Außerdem waren immer wieder große, feuchte Lehmflecke +zwischen den Felsen. Um sie zu umgehn, mußten sie mehrmals an den +zackigen Felsen emporklettern. + +Auf einmal lag wieder die Spitze des Vulkans in ihrer bekannten Form vor +ihnen, nur daß sie jetzt in der Nähe scharf und zackig aussah. Aber +zwischen dem Vulkane und ihnen lag in einem langen und breiten Becken +grünlich und fett schimmernd ein großer See. Jetzt nach dem heißen +Sommer war der Wasserspiegel weit zurückgetreten, und die lehmigen Ufer +waren mit ungeheuren Massen von Tang und vertrockneten Algen bedeckt. + +Skelette von Fischen lagen zu Tausenden herum, ebenso die Reste von +großen Seesternen und Krebsen. + +Jetzt kam ein Windhauch und trieb Fräulein Erhardt und Felix den Gestank +ins Gesicht. Trotzdem machte sich Felix an den Abstieg, während Fräulein +Erhardt oben blieb. Sie sah ihm nach, wie er von Stein zu Stein +hinuntersprang und dann unten am Rande des Wassers entlang ging. Nach +einer Weile kam er, hochrot im Gesicht, den Abhang wieder +hinaufgestürmt. + +»Wissen Sie was, Fräulein Erhardt?« rief er, noch ganz atemlos. »Im +Wasser wimmelt es von Fischen und Krebsen! Es sieht genau so aus, wie in +der Irenenbucht.« + +Sie gingen einige Schritte zurück, so daß sie der Geruch nicht mehr so +belästigte. Dann fragte Fräulein Erhardt: + +»Wie wollen Sie diese sonderbare Erscheinung erklären, Herr von +Zeuthen?« + +Felix dachte nach. + +»Paul glaubt ja, daß die ganze Insel in etwas anderer Form schon früher +da war, untersank und dann jetzt bei der Bildung des großen Vulkans +wieder aufstieg. Es wäre ja möglich, daß wir hier den früheren Krater +vor uns haben, in dem sich unter dem Meere alle die Tiere und Pflanzen +angesiedelt haben. Wie die Insel aufstieg, hat sich diese ganze +abflußlose Schüssel mit ihrem ganzen Inhalte mit gehoben und bildet +jetzt tausend Meter über dem Meere einen Salzsee. Das muß ich Allan +erzählen, der wird gleich etwas großartiges daraus machen.« Und Felix +begann gleich Fräulein Erhardt großzügige Pläne zu entwickeln, wie man +durch eine regulierte Wasserzufuhr verhindern könnte, daß der Spiegel +sich in der Trockenheit senkte. Die konstante Höhe des Wassers wäre die +erste Grundlage für weitere Arbeiten. Dann müßte man Fische +hineinbringen, die sowohl im Meere wie in Flüssen leben könnten und die +sich dann dem langsamen, aber unvermeidlichen, allmählichen Salzverluste +des Wassers anpassen würden. Und ebensolche Pflanzen. Dann Vögel +herlocken, den überflüssigen Tang als Dünger für Anlagen verwenden - oh, +es würde schon alles gehn; Allan würde hier mitten in der Steinwüste ein +Paradies schaffen. + +Sie gingen weiter, des Geruches wegen immer so, daß ein Wall zwischen +ihnen und dem See lag. Zuweilen konnten sie es sich doch nicht versagen, +die paar Schritte hinaufzulaufen, um sich das Wasser wieder anzusehen, +das sich mehr und mehr zur Seite schob. Gleichzeitig versank die Spitze +des Vulkans wieder hinter vorspringenden Felsen. Nun konnten Fräulein +Erhardt und Felix wieder höher steigen, aber nur schräg aufwärts, so daß +sie immer mehr nach rechts gerieten. Jetzt befanden sie sich ungefähr +über ihrem Schlafplatze, eine halbe Stunde über der Quelle des Flusses +und dann über jenem Gewirre von Schluchten und Rissen. Der See war +vollkommen verschwunden. + +Plötzlich hielt Felix an; er faßte erregt Fräulein Erhardts Hand: + +»Sehn Sie dort unten, was ist jetzt das?« + +Fräulein Erhardt sah hin: in etwas geringerer Höhe, als in der, wo sie +standen, lagen rötlich-gelbe Erdwellen, aus denen Dampf entstieg, hier +als verteilter Dunst, dort in kleinen, festen Strahlen. + +»Wollen Sie hingehn?« fragte Fräulein Erhardt. + +»Natürlich, da müssen wir hin.« + +»Aber dann kommen wir heute nicht mehr auf den Vulkan.« + +»Dann gehn wir morgen hin. Wir haben ja Zeit. Aber das da muß ich +untersuchen.« + +Und er ging so schnell, lief lange Strecken, daß Fräulein Erhardt ihm +nicht zu folgen vermochte. Als sie erst die halbe Strecke zurückgelegt +hatte, kam ihr Felix schon wieder entgegen. + +»Sehen Sie, was ich hier habe!« rief er und zeigte ihr einige +grobkörnige, gelbliche Steinbrocken. + +»Ist das nicht Schwefel?« fragte sie erstaunt. + +»Ja, alle die gelben Hügel da unten bestehen aus Schwefelbrei und Lehm. +Man muß vorsichtig sein, daß man da nicht versinkt. Und überall sind +heiße Quellen, die entsetzlich nach Schwefelwasserstoff riechen. Gott, +wie schön ist das alles.« + +Fräulein Erhardt sah erst dem Knaben in das heiße, strahlende Gesicht +und wandte sich dann langsam ab. Sie ließ den Blick über die weite Ebene +schweifen, die, vom vielfach gewundenen Flusse durchzogen, dort unter +ihnen lag. Sie folgte mit dem Auge der großen Linie des Horizontes, wo +Meer und lichtblauer Himmel sich trafen, sie sah auf die starren +Steinblöcke um sich, sah die Spitze des Vulkans in die Höhe ragen - + +»Ist es nicht prachtvoll, daß es hier so etwas gibt?« sagte Felix +ungeduldig und etwas ärgerlich. + +Mit einem gütigen Lächeln wandte sie sich ihm zu. + +»Gewiß ist das schön«, sagte sie. »Glauben Sie, daß es eine praktische +Bedeutung hat?« + +Felix wurde eifrig. Natürlich müßte man hier Schwefelminen anlegen - + +Ob es ihm nicht leid täte, die Unberührtheit der Natur zu zerstören? Oh, +Allan würde es so machen, daß es eine Verschönerung, eine Funktion der +Natur würde, eine natürliche Fortentwicklung, wie das Wachsen des Mooses +auf den Felsen. + +»Allan und immer wieder Allan!« dachte Fräulein Erhardt und sah zu +Boden. »Hat er denn keinen Gedanken mehr für andere Menschen übrig?« + +»Was machen wir jetzt?« sagte Felix. »Auf die Spitze können wir nicht +mehr kommen. Es ist ja schon vier Uhr. Wir können noch gerade vor der +Dunkelheit unten sein. Dann haben wir aber morgen wieder dieselbe +Geschichte. Ich glaube, es wäre am vernünftigsten, einfach hier zu +übernachten. Ich habe noch drei große Konservenbüchsen mit Fleisch und +eine ganze Masse Schokolade in meinem Rucksack. Damit können wir, wenn +wir etwas sparen, gut noch zwei Tage auskommen. + +Sobald wir dann wieder unten sind, können wir uns wieder satt essen. Was +meinen Sie dazu?« + +Fräulein Erhardt sah sich um und suchte sich vorzustellen, wie man hier +auf den nackten Steinen schlafen sollte. + +»Ja«, sagte sie etwas zögernd. + +»Gut, dann steigen wir jetzt noch so hoch wir können. Vielleicht können +wir dann schon morgen Abend wieder unten sein.« + +Sie stiegen noch zwei Stunden. Der Weg bot keine besonderen +Schwierigkeiten mehr, so daß sie im Gehen wirklich die immer großartiger +werdende Aussicht genießen konnten. + +Als sich die Sonne dem Horizonte näherte, sahen sie, daß sie nur noch +wenige Stunden bis zum Gipfel brauchen würden. Eine kleine Terrasse mit +Lehmboden und einem kleinen Wässerchen wählten sie als Schlafplatz. +Felix knöpfte seine Jacke zu, steckte die Hände in die Hosentaschen, +wünschte Fräulein Erhardt eine gute Nacht und schloß die Augen. Sie sah +ihn mit ihren großen Augen an, sah im rasch fortschreitenden Dunkel +seine Knabengestalt undeutlicher und undeutlicher werden. Sie fröstelte, +sie zitterte; Angst und Sehnsucht überfielen sie. Mit einem Aufschrei +warf sie sich auf den Schläfer und küßte ihm Augen und Mund. + +Felix erwachte wieder, machte eine Bewegung, wie um sie abzuschütteln +und zog sie dann tief aufatmend an sich. + + + + +Die Nachricht von Felix' Entdeckungen erweckte naturgemäß großes +Interesse in der Stadt. Paul Seebeck schlug ihm vor, er solle im +Volkshause einen Vortrag über seine Reise mit Fräulein Erhardt halten; +aber dazu ließ sich Felix nicht bereit finden. + +»Ich habe die Sache schon so oft erzählt; ich kann sie nicht noch einmal +erzählen«, sagte er. + +Dabei hatte er sie mit allen Einzelheiten - doch nicht denen rein +persönlicher Natur - und allen seinen Gedanken, die sich an das +Geschehene knüpften, nur einem Einzigen ordentlich erzählt, und das war +Edgar Allan. Und wenige Tage darauf - der Architekt hatte nur einige +dringende Arbeiten fertig gemacht - ritten er und Felix, trotz des +feinen, aber ständigen Regens, der die Regenzeit einleitete, zum +Vulkane. + +Als sie nach einigen Tagen zurückgekehrt waren, bewahrten sie absolutes +Stillschweigen über die Resultate ihrer genauen Untersuchungen. Aber die +beiden, der Mann und der Knabe, saßen täglich stundenlang zusammen. + +Erst nach zwei Wochen waren sie so weit, daß sie die Vorsteher ins +Vertrauen zogen, und gleichzeitig erschien eine kleine Notiz in der +»Inselzeitung« des Inhalts, daß sich die Schwefellager als abbauwert +erwiesen hätten. + +In der nächsten Monatsversammlung der Gemeinschaft legte dann Jakob +Silberland die von Edgar Allan und Felix ausgearbeiteten und von der +Vorsteherschaft gutgeheißenen Pläne vor. Es handelte sich um nichts +weniger, als die Errichtung einer zweiten Stadt dort auf halber Höhe des +Vulkans; einer Stadt, die sich gleicherweise um das Schwefelgebiet wie +den See gruppieren sollte. Die Schwefelminen sollten abgebaut, die +Quellen aber zu Heilzwecken verwendet werden. Am Seeufer sollten die +Wohnhäuser liegen. Otto Meyer verteilte Vervielfältigungen von Edgar +Allans Skizze, aus denen in großen Zügen die geplante Verbindung von +Minenstadt und Bade- und Luftkurort zu ersehen war. + +Die Kredite, die zur Durchführung notwendig waren, waren nicht groß; +Edgar Allan verlangte nur die Anlage einer für Lastautomobile fahrbaren +Straße zum Vulkane und die Anschaffung der wenigen Maschinen, die zur +Hebung des fast an der Oberfläche liegenden Schwefels dienen sollten. +Die späteren Anlagen sollten aus der Hälfte der Erträgnisse der +Schwefelminen bestritten werden, wobei die andere Hälfte der +Gemeinschaft zufallen sollte. Und diese Kredite wurden natürlich ohne +Widerspruch bewilligt. + +Darauf bat Jakob Silberland um Urlaub aus seinem Amte bis zur nächsten +Jahresversammlung, wo er sich über die endgiltige Niederlage seines +Mandats entscheiden würde. Vorläufig wollte er die geschäftliche Leitung +des neuen Unternehmens übernehmen. Der erbetene Urlaub wurde ihm +gewährt, und als sein Stellvertreter wurde der durch Zuruf +vorgeschlagene Herr de la Rouvière gewählt, der die Wahl mit einigen +Dankesworten annahm. + + + + +Dr. Jakob Silberland hatte Otto Meyer aufgesucht, mit dem er ein +Gesetzbuch für die Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel entwarf, und +jetzt standen sie von ihrer Arbeit auf. Der Nationalökonom reckte sich +und sagte: + +»Sie sind eigentlich der Einzige hier, der eine wirklich gemütliche +Wohnung hat; Ihre wunderschönen, orientalischen Teppiche und die dunklen +Möbel -« + +»Na, wissen Sie was, Doktor. Die schöne Frau wohnt doch noch ganz +anders.« + +Jakob Silberland zuckte die Achseln: + +»Weiß nicht. Sie hat ja alles sehr nett und sehr geschmackvoll +eingerichtet, aber ich kann bei ihr nun mal nicht warm werden. Ich +glaube, sie hat zu viel Luft in ihren Zimmern.« + +Der lange, blonde, jüdische Referendar lachte: + +»Ja, da haben Sie wieder mal recht; nichts auf der Welt macht eine +Wohnung so gemütlich, wie Staub und alter Tabaksrauch - ein Lehrsatz, +den man übrigens auch gut und gern auf die große Welt übertragen kann. +Finden Sie es vielleicht hier in unserem reinlichen und korrekten Staat +gemütlich? Ich muß zu meiner Schande gestehen, daß ich mich zuweilen +nach den ehrwürdigen, europäischen Spinngeweben sehne.« + +Jakob Silberland war ernst geworden; er dachte einen Augenblick nach, +dann sagte er eifrig: + +»Sie können nicht so die Parallele zwischen Zimmer und Welt ziehen. Was +im Zimmer erlaubt ist, kann draußen ein Verbrechen sein. Im Gegenteil +fürchte ich, daß wir schon einige Spinnen hier haben, und wir müssen für +einen kräftigen Besen sorgen, um die Gewebe wegzufegen.« + +Otto Meyer klopfte ihm auf die Schulter: + +»Nehmen Sie die Geschichte nicht so tragisch. So war es nicht gemeint.« + +»Das weiß ich schon; Sie wollten nur einen Witz machen. Aber gerade im +Witze sagt man oft Dinge, die man sonst nicht auszusprechen wagt.« + +»Aber liebster Doktor, Sie brauchen meine Worte nicht als Bibelweisheit +aufzufassen. Ich kann Ihnen versichern, daß ich kein Philosoph bin.« + +»Gerade deshalb - Halloh!« + +Es hatte geklingelt und Melchior war eingetreten. Er war augenscheinlich +ohne Mantel gekommen, denn er triefte von Wasser. + +»Guten Tag, Herr wissenschaftlich gebildeter Bauarbeiter!« Mit diesen +Worten begrüßte ihn Otto Meyer und schüttelte ihm die Hand. + +»Störe ich?« fragte Melchior und blieb an der Türe stehen. + +»Durchaus nicht«, sagte Jakob Silberland und ging auf ihn zu. »Im +Gegenteil, Sie sind uns sehr willkommen. Nachher kommt auch Seebeck. Wir +wollten später zu Ihnen gehn; wir haben Wichtiges mit Ihnen zu +besprechen.« + +»Einen Augenblick«, sagte Otto Meyer und ging in sein Schlafzimmer, aus +dem er mit einem großen, rosa Bademantel zurückkehrte, den er mit +ernsthaftem Gesicht um Melchiors Schultern hängte. Er stülpte ihm auch +die Kapuze über den Kopf. + +»So«, sagte er, »jetzt werden Sie sich nicht erkälten.« + +Melchior ließ sich alles ruhig gefallen. Er setzte sich, und seine +heißen, tiefliegenden Augen wanderten zwischen den Beiden hin und her. + +»Was wollen Sie von mir?« fragte er. + +Otto Meyer zog die Hängelampe herunter, nahm Kuppel und Zylinder ab, +putzte den Docht und zündete ihn dann an. Dabei sagte er: + +»Ich soll ein neues Amt übernehmen, und da wollten wir Sie fragen, ob +Sie an meine Stelle rücken wollten.« + +Melchior schüttelte langsam den Kopf: + +»Das geht nicht«, sagte er, »das wissen Sie ja.« + +»Hören Sie mal«, sagte Jakob Silberland. »Wir wissen ja alle, aus +welchen Motiven Sie bisher die Übernahme eines Amtes abgelehnt haben und +einfacher Arbeiter geblieben sind. Sie wollten Studien machen und dabei +Ihrem Studienobjekte so nah wie möglich sein. Das ist nicht nur +verständlich, sondern sogar sehr vernünftig. Jetzt liegen sie aber so, +daß wir Ihre Mitarbeit brauchen, dringend brauchen, und deshalb bitten +wir Sie, aus dem Zuschauerraum auf die Bühne zu steigen.« + +Melchior schüttelte den Kopf: + +»Wir gingen von der Voraussetzung aus, daß alle Arbeit gleichwertig sei; +deshalb muß es gleichgiltig sein, ob ich Vorsteher der Gemeinschaft oder +Maurer bin.« + +»Nein, da irren Sie sich gewaltig«, sagte Jakob Silberland mit +hochgezogenen Brauen und ging nervös im Zimmer auf und ab. »Allerdings +betrachten wir alle Arbeit als gleichwertig, was sich schon darin +äußert, daß alle Arbeiter den gleichen Lohn beziehen. Doch ist dabei +selbstverständliche Voraussetzung, daß jeder an dem richtigen Platze +steht. Es ist eine doppelte Verschwendung menschlicher Energie, den +geistigen Arbeiter an die körperliche Arbeit zu stellen, die er doch +nicht so versehen kann, wie der Muskelmensch. Das ist doch die Grundlage +einer jeden vernünftigen Gesellschaftsordnung, daß jeder ganz genau die +Arbeit tut, zu der er am besten geeignet ist. Das ist doch gerade der +Wahnsinn der üblichen Gesellschaftsordnungen, daß die Angehörigen +gewisser Familien geistige Berufe ergreifen müssen, wenn sie auch +tausendmal besser zu Handwerkern paßten, während der geborene geistige +Arbeiter aus der Unterklasse nur in Ausnahmefällen auf den ihm seiner +natürlichen Anlage nach zukommenden Platz kommt.« + +Melchior war aufgesprungen. Erregt wollte er seinen Arm ausstrecken, +aber der verfing sich in den Falten des Bademantels, ein Vorgang, der +Otto Meyer ein Schmunzeln entlockte. Er verbiß es aber und sagte: + +»Und dann noch eins, Herr Melchior: Sie haben ja Ihr berühmtes Problem, +auf dessen Lösung wir alle gespannt sind. Schaun Sie mal, bis jetzt +haben Sie die Geschichte von unten angesehn, wie wäre es, wenn Sie sie +auch einmal von oben ansähen? Glauben Sie nicht, daß Ihnen dann manche +Dinge klarer würden? Das wäre doch auch ein Gesichtspunkt, nicht wahr?« + +Melchior hatte den Bademantel abgestreift. + +»Oh Gott, oh Gott, was sagen Sie mir da alles, darüber werde ich +nachdenken. Aber ich glaube, Sie haben Recht, meine Herren.« + +»Na also«, sagte Otto Meyer und unterdrückte ein Gähnen. + +Melchior war dicht an ihn herangetreten. + +»Aber ich begreife die Menschen noch nicht, mit denen ich jetzt +jahrelang tagtäglich zusammenarbeite. Wäre es nicht besser, solange bei +ihnen zu bleiben, bis ich wirklich die Gesetze ihres Lebens kennte?« + +Otto Meyer machte ein nachdenkliches Gesicht: + +»Vielleicht, ja wahrscheinlich, werden Sie die Sache dann gerade besser +verstehen können, wenn Sie etwas Abstand gewinnen. Sie können ja dann +später mit neuen Gesichtspunkten an dieselben Probleme gehen.« + +Melchior setzte sich wieder und starrte vor sich hin. Dann hob er die +Augen und sah den blonden Juden an. + +»Sehen Sie, Herr Referendar«, sagte er langsam, »deswegen kam ich zu +Ihnen. Ich wollte Sie um Ihre Meinung fragen. Sie erinnern sich doch +gewiß noch an jene Gespräche, besonders an das letzte, wo Herr Edgar +Allan seine Theorie vortrug. Sie haben natürlich auch darüber +nachgedacht. Sehen Sie, die eine, sehr interessante Frage, weshalb man +die staatlichen Formen im weitesten Sinne, das, was Herr Edgar Allan +kurz die Begriffe nennt, sowohl als fortgeschrittener, wie auch als +zurückgebliebener in bezug auf den tatsächlichen Zustand der Menschheit +ansehen könnte, möchte ich beiseite lassen. Denn mir scheint - ich bitte +Sie, passen Sie auf, meine Herren - daß jene Begriffe mit den Gesetzen, +nach denen die Menschheit tatsächlich lebt und sich entwickelt, +überhaupt nichts zu tun haben.« + +»Donnerwetter!« rief Jakob Silberland und fuhr sich mit der Hand durch +das lange, blauschwarze Haar. + +»Herr Doktor Silberland, ich bitte Sie, sich folgendes zu überlegen: +stellen Sie sich doch eine chinesische Millionenstadt ohne Verwaltung, +ohne Gesetze und ohne Polizei vor, die trotzdem lebt, wie ein geordneter +Organismus lebt, nur durch die ungeschriebenen, inneren Gesetze +erhalten -« + +»Wie lange waren Sie in China, Herr Melchior?« fragte Otto Meyer +interessiert. + +»Ich? Ich war nie da, aber ich kann mir doch vorstellen, wie das ist.« + +»Hm. Ich meine, wenn Sie China nicht so genau kennen, es wäre doch +immerhin möglich, wenigstens denkbar, daß die chinesischen Städte auch +wie die unserigen eine geordnete Verwaltung hätten.« + +Melchior schwieg und dachte nach. Dann sagte er: + +»Aber dann denken Sie doch bitte an einen Ameisenhaufen, der doch wohl +die geordnetste Organisation auf der Welt darstellt - wo ist da +Verwaltung und Regierung? Und doch geht alles in der besten Ordnung.« + +Melchior sah, daß es um Otto Meyers Mund zuckte, und er fürchtete eine +indiskrete Frage nach dem Ursprung seiner Kenntnisse der Ameisen. +Deshalb fuhr er schnell fort: + +»Die Beispiele tun gar nichts zur Sache. Tag für Tag habe ich diese +ungeschriebenen Gesetze herausgefühlt und ich weiß, daß ich deshalb mit +meinen Arbeitskollegen keine wirkliche Fühlung gewinnen konnte, weil ich +diese instinktiven Gesetze intellektuell suchte.« + +»Sie suchen Probleme, wo es keine gibt«, sagte Jakob Silberland. »Die +ungeschriebenen Gesetze, die Sie sehr richtig als die instinktiven +bezeichnen, sind die, die sich aus den natürlichen, animalischen +Bedürfnissen des Menschen: Hunger, Liebestrieb und so weiter ergeben. +Die geschriebenen Gesetze dagegen stellen eine recht hilflose +Kodifikation dieser aus den animalischen Bedürfnissen im weitesten Sinne +sich ergebenden praktischen Folgerungen für die Sozietät dar, die immer +in ihrem tatsächlichen Zustande die genaueste Abwägung der realen +Stärke- und Bedürfnisverhältnisse darstellt. Die Gesetze hinken +natürlich immer nach. Und das ist ja unser Bestreben hier, so wenig wie +irgend möglich mit festen Gesetzen zu arbeiten, sondern alles so fluid +zu lassen, wie es geht. Gesetze stellen in ihrer starren Abstraktion +immer einen Fremdkörper im zuckenden, lebendigen Organismus der +menschlichen Gesellschaft dar.« + +Melchior ließ die Hand schlaff auf die Stuhllehne fallen: + +»Da sitzen wir wieder fest. Aber Dr. Allan scheint doch recht zu haben, +wenn er sagt, daß die Begriffe ein eigenes, lebensfremdes Dasein führen. +Und wie ist das möglich, daß sie gleichzeitig ein höheres und ein +tieferes Niveau als die Menschheit darstellen! In diesem Rätsel liegt +doch der Schlüssel zum Problem verborgen.« + +Otto Meyer räusperte sich: + +»Wahrscheinlich ist die Sache einfach so, daß man sie, von zwei +verschiedenen Gesichtspunkten aus betrachtend, verschieden sieht. Vom +Tale aus gesehen sind sie hoch, vom Berge aus erscheinen sie tief, weil +sie eben auf halber Höhe liegen.« + +Melchior sprang auf. Seine Augen waren aufgerissen: + +»Ich bitte Sie, mehr! Wie ist Ihr Gedankengang?« + +Otto Meyer lachte: + +»Um Gotteswillen beruhigen Sie sich. Ich habe gar keinen Gedankengang. +Ich meinte nur ganz harmlos, daß wenn Sie behaupten, daß der Teppich +grün ist, Silberland ihn dagegen für gelb hält, er vermutlich auf der +einen Seite grün und auf der anderen gelb ist.« + +Melchior sah ihn verständnislos an; dann sank er gleichsam in sich +zusammen. Nach einer Weile sagte er leise: + +»Ich weiß, daß Sie mich verspotten, und doch haben Sie mir damit +geholfen. Ich sehe jetzt wieder den Weg vor mir. Ich danke Ihnen.« + +»Bitte, bitte, gern geschehen«, sagte Otto Meyer und stand auf. Er hatte +draußen Schritte gehört. Es war Paul Seebeck. + +»Ah, Melchior, Sie«, sagte er eintretend. »Schön, daß ich Sie hier +treffe. Dann können wir die Sache ja gleich besprechen. Ich habe nämlich +fast gar keine Zeit. - Grüß Gott, Jakob.« + +»Wir haben Herrn Melchior schon die Sache vorgetragen; er ist auch +einverstanden«, erklärte Jakob Silberland. + +»So? Schön. Es handelt sich also darum«, sagte Paul Seebeck, sich +setzend, »daß das bisherige Verfahren, bei dem alle Streitigkeiten von +der Monatsversammlung geschlichtet werden, auf die Dauer nicht +durchführbar ist. In Zukunft soll die Monatsversammlung nur noch +Berufungsinstanz sein, vielleicht sogar erst dritte Instanz. Zunächst +sollen alle Sachen jedenfalls von einem Richter entschieden werden, vor +allem die reinen Bagatellsachen. Ob wir als nächste Instanz die +Vorstandschaft nehmen, oder gleich die Monatsversammlung, müssen wir uns +noch überlegen. Praktisch kommt es ja auf dasselbe hinaus, da die +Versammlung ja fast immer gemäß den Vorschlägen der Vorstandschaft +beschließt. Na, wir werden sehen, wie sich das am besten formulieren +läßt. Jedenfalls soll Otto Meyer der Richter sein. Und Sie würden wir +bitten, seine Stellung zu übernehmen. Wenn Sie einverstanden sind, würde +ich Ihnen vorschlagen, bis zur nächsten Jahresversammlung als Otto +Meyers Gehilfe zu arbeiten, um mit den Geschäften vertraut zu werden. +Auf der Jahresversammlung lassen wir dann entsprechend beschließen. Die +Sache wird uns natürlich ohne weiteres genehmigt; die Leute sind ja nur +froh, wenn wir ihnen wieder ein Stück Denkarbeit abnehmen. Sind Sie +einverstanden?« + +»Ja, Herr Seebeck, ich würde ja gern ein Amt übernehmen, seitdem ich +eingesehen habe, daß meine Anschauungen einseitig bleiben müssen, +solange ich nur einfacher Arbeiter bin. Aber hinter dem, was Sie jetzt +sagten, liegt noch so viel verborgen, was ich erst durchdenken muß. +Wollen Sie mir nicht einige Tage Bedenkzeit lassen?« + +»Ich kann es nicht, lieber Melchior. Es ist unmöglich. Ich habe alles +aufs Genaueste durchdacht und weiß, daß es richtig ist. Ich bitte Sie, +sich jetzt sofort zu entscheiden.« Seebeck hatte seine Augen kalt und +streng auf Melchior gerichtet, und dieser krümmte sich unter dem Blick. +Endlich sagte er: + +»Herr Seebeck, ich vertraute Ihnen, als ich hierherkam. Ich tue es auch +jetzt noch, obgleich ich Sie nicht mehr verstehe. Ich nehme Ihren +Vorschlag an.« + +»Ich danke Ihnen«, sagte Seebeck aufstehend. »Aber jetzt muß ich wieder +an meine Arbeit.« + +Er ging aber nicht nach Hause, sondern an den Strand. Dort saß er, trotz +des strömenden Regens, lange auf einem Steine und sah zu, wie ein Licht +nach dem andern erlosch. Zuletzt auch die Straßenlaternen. Da erhob er +sich, und der große, starke Mann ging langsam, mit schleppenden +Schritten wie ein Kranker, die Straße hinauf. Vor Frau von Zeuthens Haus +blieb er stehen; nur die verhängten Fenster ihres Schlafzimmers waren +erleuchtet. Wie er weitergehen wollte, hörte er bei ihrer Haustüre ein +Geräusch. Schnell trat er etwas zur Seite und sah hin. Die Tür wurde +geöffnet, und eine dunkle Gestalt trat heraus, sah sich scheu um und +kam dann mit seltsamen Schritten näher. Paul Seebeck sah den kurzen +Oberleib mit den langen Armen. Kein Zweifel: es war der Krüppel. + +Das Licht in Frau von Zeuthens Schlafzimmer erlosch. + +Paul Seebeck ließ Herrn de la Rouvière vorbei gehen und im Dunkel +verschwinden. Dann richtete er sich stramm auf, biß die Zähne zusammen +und ging nach Hause. + +Auf seinem Schreibtisch stand Frau von Zeuthens Bild; er nahm es, sah +ihm lange in die Augen, küßte es und setzte sich dann an seine Arbeit. + + + + +Schon als die Schwefelquellen erst notdürftig eingefaßt waren, und die +ersten Baracken am See standen, bildete der »Vulkan«, wie die +entstehende Stadt kurz genannt wurde, einen beliebten Ausflugsort. Die +schweren Lastautomobile waren auch zur Mitnahme einiger Personen +eingerichtet, aber das genügte bald nicht mehr. Sobald die Straße +gebrauchsfertig war, ließ Jakob Silberland als Geschäftsführer einige +Personenautomobile kommen, die den täglich anwachsenden Verkehr kaum zu +bewältigen vermochten. Natürlich war es unmöglich, in der Schnelligkeit +genügende Unterkunftshäuser zu schaffen, aber da fand Edgar Allan einen +Ausweg. In den Schluchten am Fuße des Vulkans ließen sich mit ganz +geringer Mühe mit Hilfe von Segeltuchdächern und Fußmatten Wohnstätten +improvisieren, die im warmen, regenlosen Sommer ausreichten. + +Es kamen auch Fremde zum »Vulkan«; die Durchreisenden, die oft einige +Tage oder Wochen auf der in Deutschland natürlich vielbesprochenen +Schildkröteninsel verweilten, versäumten nicht, die neuentstandene +zweite Stadt zu besuchen, und nachdem erst die großen Schwefelbäder in +ordnungsmäßen Betrieb gesetzt worden waren, wurden sie nicht zum +geringsten Teil von den Besuchern der Insel benutzt. + +Einer der ersten Besucher war übrigens ein Herr von Hahnemann, ein bei +Neu-Guinea stationierter Marineoffizier, der auf der Schildkröteninsel +seinen Urlaub verbrachte. Dieser Herr von Hahnemann fiel eigentlich +besonders durch seine Wißbegierde auf; man sah ihn oft stundenlang mit +einfachen Arbeitern im Gespräch. Auch hatte er bei den Vorstehern und +einigen anderen hervortretenden Persönlichkeiten, wie Nechlidow, Herren +de la Rouvière und Frau von Zeuthen Besuche gemacht und wurde auch von +diesen gelegentlich eingeladen. + +Einige Tage vor seiner Abreise kam Herr von Hahnemann zu Paul Seebeck, +um sich zu verabschieden. Paul Seebeck empfing ihn, wie er schon so +manchen derartigen Besucher empfangen hatte, mit dem sehnlichen Wunsche, +daß dieser ihn bald wieder allein ließe. Da Herr von Hahnemann aber +blieb, fragte er ihn nach Verlauf einer Stunde: + +»Haben Sie vielleicht ein besonderes Anliegen? Wenn ich Ihnen irgend +eine besondere Aufklärung geben könnte -?« + +»Sie sind außerordentlich liebenswürdig«, antwortete der Offizier mit +einer leichten Verbeugung. »Entschuldigen Sie die etwas indiskrete +Frage mit meinem großen Interesse: wie denken Sie sich die Zukunft, Herr +Seebeck?« + +Paul Seebeck sah ihn zweifelnd an. Dann stand er auf und ging zum +Fenster. + +»Ich verstehe Ihre Frage nicht recht. Wir werden so weiterarbeiten wie +bisher.« Und dabei sah er seinem Besucher gerade in die Augen. + +»Pardon, gewiß. Ich meinte aber, wie denken Sie sich in Zukunft Ihre +persönliche Stellung zu der Sache?« + +»Solange ich das Vertrauen der Mehrheit habe«, sagte Paul Seebeck +ziemlich schroff, »bleibe ich hier auf meinem Posten.« + +Herr von Hahnemann stand auf: + +»Aber die haben Sie ja nicht mehr. Auf der letzten Jahresversammlung +sind Sie von einer Minorität nur deshalb gewählt worden, weil sich die +oppositionellen Stimmen auf zwei Kandidaten verteilten.« + +»Herr von Hahnemann«, sagte Seebeck und trat dicht vor ihn hin. »Ich bin +ordnungsgemäß gewählt worden, und damit ist dieser Punkt erledigt. Im +Übrigen bedauere ich, mich mit einem Außenstehenden nicht über innere +Verhältnisse unserer Gemeinschaft aussprechen zu können.« + +»Herr Seebeck, ich verstehe Ihre Erregung über meine taktlosen Fragen +durchaus. Ich möchte Sie aber darauf aufmerksam machen, daß ich - nicht +nur als Privatmann hier bin.« + +Seebeck setzte sich an seinen Schreibtisch und fragte ganz ruhig: + +»Sie sind im Auftrage der Reichsregierung hier?« + +»Ja«, sagte Herr von Hahnemann. »Es war eine Klage eingelaufen, und ich +wurde hierher geschickt, um ihre Grundlagen zu prüfen. Zu meinem +Bedauern fand ich sie bestätigt.« + +»Darf ich Sie fragen, wer außer Nechlidow die Klage unterzeichnet hat, +deren Inhalt ich mir denken kann«, fragte Paul Seebeck zwischen den +Zähnen. + +»Ich bedaure, Ihnen darauf die Antwort verweigern zu müssen. Sie sagen +selbst, daß Sie sich den Inhalt der Klageschrift denken können, damit +erübrigt sich, auf die einzelnen Punkte einzugehn. Ich bin völlig +unbefangen hierhergekommen und habe alles mit eigenen Augen geprüft, +besonders das Protokoll jener Sitzung. Da ich mich leider von der +Stichhaltigkeit jener Klage überzeugen mußte, sehe ich mich zu meinem +Bedauern genötigt, von meinen Vollmachten Gebrauch zu machen. Sie müssen +die Reichsregierung verstehen, Herr Seebeck. Wenn hier nur einige +Idealisten auf einem unfruchtbaren Felseneilande säßen, könnte man sie +ja in Gottes Namen machen lassen, was sie wollten, und ihre Experimente +mit Wohlwollen und Interesse betrachten. Da es sich jetzt aber schon um +Hunderte handelt, die Zahl der Ansiedler wahrscheinlich noch bedeutend +steigen wird, und ferner das Interesse des Reichs an diesem Teile seines +Kolonialbesitzes durch die Schwefelfunde noch erhöht ist, ist es nicht +nur das gute Recht, sondern die Pflicht des Reiches, hier absolut +korrekte Zustände zu schaffen.« + +Er machte eine Pause, als erwartete er eine Antwort; aber Paul Seebeck +sagte nichts, sah ihm nur ruhig ins Gesicht. Der Offizier wurde nervös +unter diesem Blicke; er holte aus seiner Brusttasche einige Papiere, +sowie ein kleines Etui hervor. + +»Herr Seebeck, auch für den Fall, daß sich jene Klage als stichhaltig +erweisen sollte, will die Reichsregierung in Anbetracht Ihrer +unbestreitbaren großen Verdienste Ihnen auch nur den Schatten einer +Demütigung ersparen. Sie verlangt nichts, als daß Sie Ihr Mandat als +Reichskommissar niederlegen, und wird dann von sich aus einen neuen +ernennen. Was wir gesprochen haben, bleibt unter uns. Und hier haben Sie +noch einen ausdrücklichen Gnadenbeweis.« Dabei legte er das kleine Etui +auf den Schreibtisch. + +»Das Ding enthält vermutlich einen Orden«, sagte Paul Seebeck +aufstehend. »Bitte stecken Sie ihn wieder ein. Wollen Sie so +liebenswürdig sein, mir eine Frage zu beantworten: Was wird geschehen +wenn ich mich jetzt weigere, das Reichskommissariat freiwillig +niederzulegen?« + +Der Offizier war aufgesprungen: + +»Überlegen Sie sich, was Sie sagen.« + +»Ich habe es mir überlegt.« + +»Das ist ein Affront.« + +Seebeck zuckte die Achseln: + +»Nicht gegen Sie, verehrter Herr von Hahnemann. Sie sind ja nur +Werkzeug. Sie spielen in einer Komödie mit, glauben Regisseur zu sein +und sind nur Puppe. Soll ich Ihnen sagen, weshalb ich gehen soll? Nicht, +weil es hier schlecht geht, nicht weil ich meine Stellung mißbraucht +habe, sondern weil alles gut geht, besser geht, als es sich die Herren +dort in Berlin je träumen ließen. Weil wir mit unserer Arbeit vorwärts +kommen. Wir haben hier etwas Brauchbares geschaffen, haben die +Durchführbarkeit gewisser Utopieen erwiesen, und das ist der springende +Punkt. Alles andere ist ja nur Vorwand. Einige kleine Schwierigkeiten, +die die Durchführung einer großen Sache naturgemäß mit sich führt, die +Nörgeleien und Quertreibereien irgendwelcher Personen, die gar nicht +verstehen, worum es sich hier handelt, geben den bequemen Vorwand, um +alles zu vernichten. Ein Reichskommissar aus Berlin hier, hier in meinem +Werke! Nein mein Freund. Nehmen Sie Ihr Ding da mit und schämen Sie +sich, bei einer so unwürdigen Komödie mitzuwirken. Erzählen Sie den +Herren in Berlin, daß Paul Seebeck nicht für einen lausigen Orden sein +Lebenswerk verkauft. Das Reichskommissariat lege ich nicht nieder.« + +»Ich will - durchaus gegen meine Gewohnheit - die Spitze überhört haben, +die meine Person betrifft, um die unerhörte Beschuldigung +zurückzuweisen, die Sie gegen die Reichsregierung gerichtet haben. Sie +fühlen sich in einer schwachen Position und sehen deshalb voll +ungerechtfertigter Bitterkeit auf alle anderen. Überlegen Sie sich doch: +die Reichsregierung hat Sie mit dem größten Wohlwollen behandelt; was +soll die Regierung aber anders tun, als Ihnen in schonendster Form den +Abschied nahezulegen, wenn sich die Mehrzahl Ihrer eigenen Bürger gegen +Sie erklärt? Und mehr, wenn die Klage sich als berechtigt erweist? Sie +selbst tragen allein Schuld an dieser Wendung der Dinge, jetzt müssen +Sie auch die Konsequenzen ziehen. Legen Sie das Reichskommissariat +nieder!« + +»Ich tue es nicht!« + +»Dann wird man Sie dazu zwingen!« + +»Versuchen Sie es!« sagte Paul Seebeck und ging in sein Schlafzimmer, +dessen Tür er hinter sich zuschlug. + + + + +Sobald die »Prinzessin Irene« mit Herrn von Hahnemann an Bord die Anker +gelichtet hatte, berief Paul Seebeck die Vorsteher der Gemeinschaft zu +sich und zwar die offiziellen Inhaber der Ämter, nicht ihre ständigen +Stellvertreter. Das war auffällig, denn die ständigen Stellvertreter, +wie zum Beispiele Herr de la Rouvière, pflegten sonst immer zu den +Sitzungen zugezogen zu werden. Paul Seebeck schickte auch Fräulein +Erhardt fort, die gewöhnlich bei den Sitzungen das Protokoll geführt +hatte, und schloß aufs Sorgfältigste alle Türen und Fenster seines +Arbeitszimmers. Seine Freunde sahen erstaunt seinem Tun zu; als er ihnen +aber dann seine Unterredung mit Herrn von Hahnemann erzählt hatte, die +schon drei Tage zurücklag, über die beide Teilnehmer aber bisher +völliges Stillschweigen bewahrt hatten, begriffen sie ihn. Ein langes +Schweigen folgte seinem Berichte. + +Als erster ergriff Herr von Rochow das Wort: + +»Man kann Nechlidow nicht einmal einen Vorwurf machen; er hat nur aus +den reinsten Motiven heraus gehandelt, freilich ohne die Tragweite +seines Vorgehens auch nur im Entferntesten zu übersehen.« + +»Ach wissen Sie was, Herr von Rochow«, unterbrach ihn Paul Seebeck +müde, »es mußte einmal so kommen. Ob Nechlidow oder ein anderer nun den +entscheidenden Schritt tat. Aber bei Gott«, rief er aufstehend, »ich +lasse mir mein Werk nicht zerstören. Und was würde es helfen, daß die +Leute einen von unseren Leuten zum Kommissar machen; sie werden schon +dafür sorgen, daß es ein richtiger Eunuche ist, der ihren Willen tut. +Was eine unfähige Verwaltung aus lebenskräftigen Kolonien machen kann, +sieht man ja deutlich genug aus unseren afrikanischen Kolonien.« + +»Besonders, wenn man an die englischen Nachbarkolonien denkt«, sagte +Jakob Silberland. + +»Gehen wir doch zu England«, sagte Otto Meyer gemütlich; »die werden uns +schon in Frieden lassen; die Engländer wissen, daß die Kolonieen von +Männern gemacht werden und nicht von Korpsstudenten.« + +Seebeck sah ihn starr an. + +»Bitte«, sagte er. + +»Ich meine«, sagte Otto Meyer, »wir haben keinen Grund, das positive +Resultat unserer Arbeit zerstören zu lassen, bloß weil einige Geheimräte +im Kolonialamt Bauchschmerzen haben. Wenn die Deutschen eine anständige +Kolonie nicht haben können, erklären wir uns für autonom und lassen uns +dann von England annektieren. Sowas läßt sich doch machen, deswegen +braucht man doch nicht gleich tragisch zu werden.« + +»Das wäre Revolution«, sagte Hauptmann a. D. von Rochow ernst. + +Paul Seebeck dachte nach; dann fuhr er heftig auf: + +»Ist das unsere Schuld? Was gehen wir das Reich an? Wir haben den Leuten +nicht einen Pfennig gekostet; alles haben wir allein gemacht, mit +unserer Arbeit, unserem Gelde. Jetzt wo die Sache nahezu vollendet ist, +wollen sie es nicht etwa übernehmen, um es in unserem Sinne +fortzuführen, sondern sie wollen es zerstören. Ich bitte Sie, stellen +Sie sich doch hier einen Berliner Gouverneur vor! Oder noch schlimmer, +einen hiesigen Idioten, der die Puppe der Herren da oben ist! Aber das +erlaube ich nie! Vorläufig bin ich hier.« + +»Also, erwäge doch meinen Vorschlag. Ich glaube, das ist der einzige +Ausweg.« + +Jakob Silberland stand auf und trippelte auf seinen kurzen Beinchen im +Zimmer auf und ab: + +»Wir wollen doch zunächst mal überlegen, was jetzt geschehen wird. Vom +nächsten Hafen aus telegraphiert der Mann nach Berlin, daß Seebeck sich +weigert, freiwillig zurückzutreten; die Antwort lautet wahrscheinlich, +daß Herr von Hahnemann Vollmacht erhält, Seebeck abzusetzen, und +entweder er oder ein anderer wird vorläufig Reichskommissar hier, bis +sie den richtigen Idioten herausgefunden haben. Hahnemann kann vor einem +Monat überhaupt nicht wieder hier sein; das wäre das allerfrühste. +Vorläufig kann man Seebeck nichts tun. Daß er sich weigert, freiwillig +seinen Abschied zu nehmen, ist kein Verbrechen. Kritisch wird die Sache +erst, wenn ihm das Reichskommissariat entzogen wird, und er sich nicht +darum kümmert. Dann kommt ein Kriegsschiff und nimmt ihn als Aufrührer +mit. Bis dahin würde aber mindestens ein zweiter Monat vergehen. In +diesen zwei Monaten müßte alles entschieden sein; denn wenn wir offenen +Aufruhr begehen und uns nicht durchsetzen, sind wir verloren.« + +Seebeck hatte sich wieder gesetzt; ruhig sagte er: + +»Kinder, ihr beide wißt Bescheid im Staatsrecht. Existiert denn +überhaupt eine Möglichkeit, sich von England annektieren zu lassen?« + +»Gewiß, die Möglichkeit ist da. Einer von uns müßte mit dem nächsten +Schiffe nach Sidney und sehen, was er dort ausrichten kann«, sagte Jakob +Silberland eifrig. + +»Wenn Herr von Rochow als Fachmann mir helfen will, baue ich Ihnen in +sechs Wochen Befestigungen auf, die dem Kriegsschiff eine harte Nuß zu +knacken geben werden. Eine Landung zu verhindern, ist bei unserem Hafen +eine Kleinigkeit, einige Seeminen genügen«, fügte der hagere Architekt +hinzu. + +»Ich beschwöre Sie, meine Herren, überlegen Sie sich, was Sie tun +wollen! Revolution, Vaterlandsverrat!« rief Herr von Rochow. + +»Das Vaterland hat uns verraten, nicht wir das Vaterland«, sagte Paul +Seebeck scharf. »Aber ich will Sie zu nichts verleiten, was Ihrem +Gewissen widerspricht. Noch ist es Zeit für Sie alle, sich +zurückzuziehen. Ich aber bleibe hier ...« + +»Und ich bleibe bei Ihnen«, sagte Herr von Rochow und ergriff Seebecks +Hand. »Ich bleibe bei Ihnen, was auch kommen mag.« + +»Ich auch«, sagte Otto Meyer und zündete sich eine Zigarette an. + +»Wo bekommen wir aber das Geld her?« fragte Jakob Silberland. »Es +handelt sich doch jedenfalls um Hunderttausende.« + +»Wir müssen es uns natürlich ganz korrekt bewilligen lassen«, erklärte +Otto Meyer, »sonst wird die Sache zu deutlich. Wir sagen einfach, daß +bei der dauernden Spannung zwischen England und Deutschland die +Befestigung unvermeidlich ist. Und da wir ja leider Spione im Lande +haben, können wir sagen, daß die Bewahrung militärischer Geheimnisse in +einem kleinen Kreise - hier also in der Vorsteherschaft - eine absolute +Notwendigkeit ist. Übrigens wäre es am besten, in aller Heimlichkeit so +viel zu bauen, wie nur irgend geht und sich die Kredite nachträglich +bewilligen zu lassen. Denn wenn man draußen erfährt, daß wir +befestigten, wird das Kriegsschiff mit Windeseile angerannt kommen.« + +Paul Seebeck war ans Fenster getreten und blickte hinaus: + +»Schade, schade, daß es so kommen mußte.« sagte er. + +»Was brauchen wir eigentlich,« wandte sich Otto Meyer an Herrn von +Rochow, »eine Strandbatterie und -« + +Hauptmann a. D. von Rochow schüttelte den Kopf: + +»Eine Strandbatterie hat gar keinen Sinn; die schießt ein Kriegsschiff +in einer Viertelstunde zusammen. Nein, ein schweres Festungsgeschütz und +einige Maschinengewehre hier oben für alle Eventualitäten genügen. Das +Hauptgewicht müssen wir auf die Seeminen legen. Die natürlich mit +elektrischer Zündung von hier oben aus.« + +»Ist das nun alles eine Kette von Zufällen oder war es eine +Notwendigkeit? Mußte es so kommen?« sagte Seebeck, noch immer am Fenster +stehend und hinausblickend. + +»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, sagte Otto Meyer und klopfte ihm +auf die Schulter, »die Probleme sind dem tüchtigen Melchior reserviert. +Wir können ja handeln, brauchen also nicht nachzudenken.« + +»Bravo!« rief Edgar Allan. + +Und dann begannen die Vorsteher der Gemeinschaft, die zu unternehmenden +Schritte bis in die kleinste Einzelheit zu beraten. Erst bei Tagesgrauen +trennten sie sich, und da war alles beschlossen. + + + + +Wie schon oft in der letzten Zeit holte Nechlidow seine junge Freundin +um fünf Uhr vom Kindergarten ab, nachdem Hedwig ihre kleinen Schützlinge +entlassen hatte. + +Die beiden gingen schweigend durch die lange, einreihige Fischerstraße +bis zur letzten Landspitze, die die bewohnte Bucht von der Irenenbucht +schied. + +»Wissen Sie, Hedwig, was Herr von Hahnemann mitgenommen hat?« fragte +Nechlidow, als sie dort auf einer gewaltigen Klippe saßen, »Paul +Seebecks Abschiedsgesuch.« + +Hedwig sah ihn erschreckt an: + +»Woher wissen Sie das?« + +»Ja, ich weiß es. Herr von Hahnemann war hier, um die Richtigkeit meiner +Klagen zu prüfen; er hat mir selbst gesagt, daß er sie in allen Punkten +berechtigt gefunden hätte. Ich sprach ihn, gerade als er zu Herrn +Seebeck hinaufgehen wollte. Ja, jetzt ist es mit Seebecks +Selbstherrschaft vorbei - jetzt werden wir die Sache wieder in Ordnung +bringen.« + +»Sind Sie ganz sicher, daß Sie Recht haben?« fragte Hedwig leise. + +»Seien Sie nicht traurig, liebe Hedwig. Es tut mir selbst um Seebeck +leid, denn ich achte ihn als Menschen. Aber die Sache geht vor. Und +Seebeck ist schwach, viel zu schwach, um sie durchzuführen. Seien Sie +aufrichtig, was ist von den Idealen übrig geblieben, mit denen wir +hierher kamen? Wodurch unterscheidet sich unsere »Gemeinschaft« von +irgend einem beliebigen Staate? Nur durch Phrasen. In Wirklichkeit ist +alles genau dasselbe. Sehen Sie, Hedwig, in jener entscheidenden Sitzung +in Berlin sagte ich zu Paul Seebeck, daß es nur ein Mittel gäbe, um +nicht in die Verlogenheit aller anderen Staaten hineinzugeraten, und daß +dieses das absolute Festhalten an der menschlichen Vernunft sei. Er gab +mir recht, er ist intelligent genug, das einzusehen, aber zu schwach, es +durchzuführen. Der Todfeind aller Kultur, aller Fortentwicklung der +Menschheit, die Sentimentalität liegt ihm so tief im Blute, daß sie +stärker als alle Vernunft ist. Hier brauchen wir Männer, klare, +vernünftige Männerköpfe, Kerle wie Herrn de la Rouvière, aber keine +träumerischen, weibischen Dichter wie Seebeck.« + +Hedwig hatte ihm ängstlich zugehört: + +»Aber Paul ist doch so gut.« + +»Eben deshalb muß er fort. Das ist ja gerade sein Fehler. Güte, Liebe - +was sind das für Begriffe. Mißverstandene Naturtriebe. Heutzutage +lieben Männer einander; was ist das für ein Unsinn! Oder ein Mann und +eine Frau lieben einander, aber kommen aus irgend einem Grunde nicht +zusammen. Denken Sie doch nur alle die kindischen Romane. Liebe ist der +Wunsch nach dem Kinde, also ist sie nur dort wahr und nicht verlogen, wo +zwei Menschen zusammen ein Kind haben wollen, sonst nicht. Seitdem wir +aber das wissen, brauchen wir doch keine Dichter und keine Gefühle mehr. +Wir haben doch die Vernunft, und die verirrt sich nie; wie oft tun das +aber die unklaren, mystischen Gefühle. Sehen Sie doch, was so ein Gefühl +für Bocksprünge macht: aus dem Triebe nach dem Kinde wird die Liebe, die +alles mögliche verbindet, was mit dem Wunsche nach dem Kinde, nach der +Zukunft der Menschheit, nicht das Geringste mehr zu schaffen hat; aus +der Liebe wird die Güte und aus Güte und Rücksichtnahme nach allen +Seiten ruiniert Seebeck diesen Staat, der eine neue Menschheit hätte +gebären können. Ach was hätte hier werden können, wenn Seebeck stark +gewesen wäre.« + +»Aber hier geht alles doch so gut -« unterbrach ihn Hedwig schüchtern. + +»Ungeheure Lügen sind hier gebaut, und die florieren glänzend, das ist +wahr.« + +Hedwig war aufgestanden und wandte sich langsam der Stadt zu. Nechlidow +ging ihr nach und faßte sie bei der Hand: + +»Liebe Hedwig« - sagte er bittend. + +Aber sie riß sich los. Aus ihren großen, braunen Augen quollen Tränen. + +»Ich will kein Kind von Ihnen haben, Herr Nechlidow«, sagte sie mit +zuckenden Lippen. Dann machte sie sich schnell von ihm los und lief der +Stadt zu. + +Nechlidow folgte ihr langsam. + + + + +Als die Kredite für die in Hinblick auf die Spannung zwischen England +und Deutschland notwendigen Befestigungen bewilligt wurden, war nicht +viel mehr zu tun, als das Festungsgeschütz zu montieren, das zusammen +mit den beiden Maschinengeschützen in der bombensicheren Kasematte im +Felsen unter Seebecks Haus Platz finden sollte. Denn Hauptmann von +Rochow hatte als Fachmann diese Stelle als die geeignetste gewählt, ganz +abgesehen davon, daß sich nur hier die Arbeiten in völliger Heimlichkeit +hatten vornehmen lassen. Ein mit Stahlplatten bedeckter Schacht führte +von Paul Seebecks Kohlenkeller mehrere Meter tief hinab, und dort unten +war ein Gewölbe ausgehauen, in dem die Geschütze stehen sollten. + +Nur drei lange, schmale Schießscharten führten hinaus, und die lagen +gerade über den Dächern der auf der nächsten Terrasse stehenden +doppelten Häuserreihe, so daß diese fast mit Sicherheit die den +Geschützen zugedachten Schüsse auffangen würde. + +Die Seeminen hatten die Vorsteher in mehreren Nächten allein versenkt, +und ihr Lageplan war in den Händen der Archivarin gut aufgehoben. Es +war nicht so schwer, diese Arbeiten in voller Heimlichkeit auszuführen, +als vielmehr gleichzeitig auch den Ausbau des »Vulkans« zu versehen, zum +mindesten scheinbar, damit die plötzliche Arbeitseinstellung dort oben +kein Mißtrauen erweckte. + +Aber es ging. Die vier Männer arbeiteten mit eiserner Energie Tag und +Nacht - nur vier waren sie jetzt, denn Jakob Silberland weilte in +Sidney, wie es hieß, um größere Abschlüsse über den gewonnenen Schwefel +zu erreichen. Und auf den riesigen Kisten, die die Geschützteile und die +Munition enthielten, stand harmlos das Wort: »Maschinen«. + +Sechs Wochen nach seiner Abreise kam Herr von Hahnemann wieder zur +»Schildkröteninsel«. Diesmal auf einem Torpedoboot. In Paradeuniform +stieg er ans Land und begab sich eine Stunde später zu Paul Seebeck. +Dieser empfing ihn mit gelassener Höflichkeit und bat ihn, Platz zu +nehmen. Der Offizier dankte mit einer Verbeugung, blieb aber stehen, +während Paul Seebeck sich an seinen Schreibtisch setzte. + +»Sie bringen mir meine Abberufung, Herr von Hahnemann?« fragte er ruhig. + +»Herr Seebeck, bei der großen persönlichen Achtung, die ich für Sie +hege, erlaubte ich mir, in meinem Berichte unsere letzte Unterredung +wohl wahrheitsgetreu, doch - etwas harmloser zu schildern, als sie sich +zugetragen hat. Es steht Ihnen noch heute frei, freiwillig das +Reichskommissariat niederzulegen; trotz allem.« + +»Ich tue es nicht«, antwortete Paul Seebeck und sah ihm gerade ins +Gesicht. + +»Ist das Ihr letztes Wort?« + +»Ja.« + +»Dann habe ich hiermit die Ehre, Ihnen kraft meiner Vollmachten Ihr +Abberufungsschreiben zu überreichen«, sagte der Offizier und legte ein +versiegeltes Kuvert auf den Schreibtisch. »Wollen Sie die +Liebenswürdigkeit haben, mir den Empfang zu bestätigen.« + +»Mit Vergnügen«, antwortete Paul Seebeck, entnahm einer Schublade einen +Briefbogen und schrieb einige Zeilen darauf. »Ist es so recht?« Und er +reichte dem Offizier das Blatt, das dieser aufmerksam las und es dann in +seine Brieftasche schob. + +»Gewiß, Herr Seebeck. Ich danke Ihnen. Damit ist die Sache erledigt. Ich +verstehe aber nicht, weshalb Sie es so weit kommen ließen.« + +»Ich pflege einem Briefträger nicht die Unterschrift für einen +eingeschriebenen Brief zu verweigern - wozu soll ich dem nichtsahnenden +Manne Schwierigkeiten machen. Er erfüllt ja nur seine Pflicht. Jetzt ist +also der Brief ordnungsgemäß mein Eigentum geworden, und ich kann damit +machen, was ich will.« Damit nahm er das versiegelte Kuvert und zerriß +es mit seinem Inhalt in kleine Fetzen, die er in seinen Papierkorb warf. +Dann wandte er sich wieder dem Offiziere zu und sah ihm ruhig ins +Gesicht. + +Herr von Hahnemann trat einen Schritt zurück; sein Gesicht war +kreidebleich. + +»Wissen Sie, was das heißt?« rief er. + +»Ja«, sagte Paul Seebeck, »das heißt Aufruhr.« + +»Wollen Sie sich denn dem aussetzen, daß man Sie mit Waffengewalt +zwingt, den Willen der Reichsregierung anzuerkennen?« + +»Was wollen Sie damit sagen, Herr von Hahnemann?« fragte Paul Seebeck +freundlich. + +Der Offizier hatte sich wieder etwas gefaßt. Seine Stimme bekam etwas +vom scharfen Kommandoklang, als er sagte: + +»Ein Kriegsschiff wird kommen und Sie als Gefangenen mitnehmen.« + +»Ach so einfach ist die Sache? Aber wenn ich mich nun mit Gewalt der +Gewalt widersetze?« + +»Dann werden Sie standrechtlich erschossen.« + +Paul Seebeck stand auf; er überlegte einen Augenblick. Dann ging er an +dem Offizier vorbei zur Wand, hob ein Gemälde vom Nagel, wobei eine +Stahlplatte sichtbar wurde, die der Tür eines in die Mauer +eingelassenen Geldschrankes ähnlich war. Dann zog er einen Schlüsselbund +aus der Tasche und blickte auf: + +»Sie sind Marineoffizier, nicht wahr?« + +Herr von Hahnemann neigte bejahend den Kopf. + +»Dann sind sie auch natürlich imstande, Entfernungen auf dem Wasser +abzuschätzen. Darf ich Sie bitten, hier ans Fenster zu treten? Danke. +Sehen Sie die letzte flache Klippe dort rechts? Schön. Sehen Sie in +gerader Richtung drei Kilometer weiter. Bitte halten Sie den Punkt im +Auge.« + +Seebeck war an den Schrank getreten und öffnete das Geheimschloß. Bei +dem Geräusch wandte sich der Offizier unwillkürlich wieder nach ihm um +und sah, daß der Schrank ein Tastbrett wie das einer Schreibmaschine +enthielt. + +»Ich habe Sie ersucht, jenen Punkt im Auge zu behalten«, sagte Paul +Seebeck scharf. Der Offizier kniff die Lippen zusammen und blickte +wieder hinaus. Paul Seebeck drückte rasch auf einen der Knöpfe und +schlug dann die Stahltür zu. Im selben Augenblick erhob sich bei dem +angegebenen Punkte auf dem Meere eine gewaltige Wasserpyramide, blieb +einige Sekunden stehen und brach dann in sich zusammen. Erst eine halbe +Minute später klang ein dumpfes Grollen herüber. Der mit Schaum bedeckte +Wasserspiegel war in wilde Bewegung geraten. Selbst im Hafen +schaukelten die Schiffe. + +Herr von Hahnemann sah Seebeck stumm an; dann verbeugte er sich und +verließ das Zimmer. + +Er ging so schnell er konnte die Straße hinunter, an allen denen vorbei, +die ihn wieder erkannten und ansprechen wollten, und stand eine +Viertelstunde später in Herrn de la Rouvières Haus. + +Der Krüppel bestürmte ihn mit Fragen, aber Herr von Hahnemann schüttelte +nur unwillig den Kopf. Er fragte: + +»Wissen Sie, daß die Insel befestigt ist?« + +Herr de la Rouvière fuhr erstaunt auf: + +»Daß sie befestigt ist? Das ist doch unmöglich. Erst vorgestern wurde +doch die Befestigung beschlossen.« + +Herr von Hahnemann lachte kurz auf: + +»Herr Seebeck scheint keine große Achtung vor der Monatsversammlung zu +haben. Jedenfalls ist die Insel schon befestigt, und die Versammlung hat +etwas zu bauen beschlossen, was faktisch schon da ist. Er wird es wohl +schon oft so gemacht haben. Ich will Ihnen etwas sagen«, fuhr er fort, +wobei er dicht an den Krüppel herantrat, »ich habe Herrn Seebeck die +Enthebung aus seinem Amte mitgeteilt, die er aber ignoriert. Er muß also +mit Gewalt entfernt werden. Hier ist kein anderer Ausweg tunlich. Bei +den Befestigungen ist es aber ohne Blutvergießen nicht möglich, und das +zu verhindern ist meine Pflicht. - Sie haben sich ja Ihres großen +Einflusses und Ihrer Verbindungen hier gerühmt; beweisen Sie mir jetzt, +daß Sie wahr gesprochen haben. Und dann - die Reichsregierung kann Herrn +Nechlidow als früherem, russischem Flüchtling kein Amt übergeben, aber +Ihnen, dem Träger eines alten Adelsnamens, der Sie außerdem hier +praktisch in die Geschäfte eingearbeitet sind, könnte ich das +Reichskommissariat übertragen. Die Vollmacht dazu habe ich. Die +Reichsregierung will unter keinen Umständen einen Kommissar von Berlin +hierher senden; sie hat mich beauftragt, einer hiesigen geeigneten +Persönlichkeit das Kommissariat zu übergeben, um jeden Schein eines +gewaltsamen Eingriffes zu vermeiden. Also schaffen Sie mir die +Befestigungspläne und Sie sind Reichskommissar!« + +Die Augen des Krüppels glänzten: + +»Das wird nicht schwer sein, Herr von Hahnemann. Wenn Sie so +liebenswürdig sein wollen, eine halbe Stunde hier zu warten, komme ich +mit den Plänen.« + +»Wissen Sie denn, wo sie sind?« + +»Jedenfalls doch im Archiv; und Frau von Zeuthen ist meine gute +Freundin.« + +»Ah!« Über das Gesicht des Marineoffiziers glitt ein gemeines Lächeln. + +»Sie verstehen, Herr von Hahnemann? Eine Frau kann aus Edelmut sterben, +aber sie kann sich keinem Skandal aussetzen. Am wenigsten sie, die +Keusche, Reine, sie, die Unerreichbare, die ich doch erreichen konnte - +wie alles andere auch.« + +Der Offizier war wieder ganz ernst geworden: + +»Wie Sie das machen, ist Ihre Sache. Aber nicht die Originale selbst, +die könnten später vermißt werden, sondern Sie müssen die Pläne +kopieren, verstehen Sie? Und Niemand darf etwas davon erfahren, dafür +müssen Sie sorgen. Sonst wird die Sache einfach verändert, und wir +sitzen da.« + +»Keine Sorge, Herr von Hahnemann, bleiben Sie nur ruhig hier; ich bin +bald wieder zurück.« + +Und die langen Arme schlenkernd und eifrig vor sich hinmurmelnd, +stolperte der Krüppel die Hauptstraße hinauf. Bei Frau von Zeuthens Haus +angekommen, sagte er dem Dienstmädchen, er käme in Geschäften und wurde +natürlich sofort eingelassen. + +Mit Siegermiene trat er in Frau von Zeuthens Arbeitszimmer, aber er sank +gleichsam in sich zusammen, als er in ihre strahlenden, braunen Augen +blickte. Er wollte sich ihr nähern, aber sie hob abweisend die Hand. Da +blieb er bescheiden an der Türe stehn. + +»Geschäfte, Herr de la Rouvière?« fragte sie ruhig. + +»Ja, gnädige Frau. Ich muß Sie um die Befestigungspläne bitten, die Sie +ja als Archivarin in Verwahrung haben.« + +»Nein«, sagte Frau von Zeuthen, »die Pläne habe ich allerdings. Sie gehn +aber nur die Vorsteher an. Und so weit haben Sie es doch noch nicht +gebracht.« + +Mit eingezogenem Kopfe sah er sie von unten an. + +»Gnädige Frau, ich bin - Reichskommissar an Paul Seebecks Stelle.« + +Frau von Zeuthen lachte laut auf und sah ihm belustigt ins Gesicht. + +Der Krüppel biß die Zähne zusammen. + +»Gnädige Frau«, sagte er drohend. + +»Wenn Ihre Geschäfte so sonderbarer Natur sind, brauchen wir sie nicht +länger zu diskutieren. Gehen Sie, Herr Reichskommissar.« Damit drehte +sie ihm den Rücken zu und setzte sich an ihren Schreibtisch. + +Mit leisen, schleichenden Schritten näherte er sich ihr. Sie stand auf +und wandte sich ihm zu. Mit beiden Händen hielt sie sich rückwärts am +Schreibtische fest. + +»Weshalb gehen Sie nicht«, sagte sie herrisch, aber ihre Stimme zitterte +dabei. + +»Ich muß die Pläne haben«, sagte er, dicht bei ihr, und hob dabei die +langen Arme mit den schwarzbehaarten Händen. + +»Aber ich gebe sie Ihnen nicht und damit gut. Gehen Sie! Jetzt bestätigt +sich also meine Vermutung, daß Sie zu den Verrätern gehören. Gehen Sie, +mit Ihnen bin ich fertig.« + +»Gnädige Frau«, die Stimme des Krüppels war ganz sanft, »Sie scheinen +sehr leicht zu vergessen!« Er schritt auf die Tür zu, faßte die Klinke +und drehte sich wieder nach Frau von Zeuthen um. »Soll ich wirklich +allen Leuten erzählen, was in einer gewissen Nacht zwischen uns +vorgefallen ist?« Er richtete sich auf und sagte kameradschaftlich: +»Geben Sie mir doch lieber die Pläne.« + +Frau von Zeuthen ging zu ihrem großen Schranke, öffnete diesen aber +nicht, sondern holte aus dem Winkel zwischen ihm und der Wand Felix' +Reitpeitsche hervor. Sie wog sie prüfend in der Hand, trat dann schnell +auf Herrn de la Rouvière zu und schlug sie ihm zweimal mit aller Kraft +durchs Gesicht. Dann warf sie die Peitsche fort und blieb hoch +aufgerichtet vor ihm stehn. Er sah sie eine Weile ganz verständnislos +an, griff dann mit beiden Händen an sein schmerzendes Gesicht und +taumelte hinaus. + +Vor der Haustüre blieb er stehn und nickte bedächtig mit dem Kopfe. Dann +ging er langsam, sehr langsam, die Hauptstraße hinauf, am Volkshause +vorbei und weiter am Flusse entlang zum Staubecken. Er ging dorthin, wo +der Fluß in das Becken eintrat, sah lange auf das Wasser und stieg dann +langsam und fröstelnd hinein. Er glitt aus, schrie auf, sah auf der +Straße das Lastautomobil halten, sah ihm Leute entsteigen, die ihm +zuwinkten, zuriefen; er wollte ans Ufer zurück, aber schon hatte ihn die +Oberströmung erfaßt. Langsam führte sie ihn fort; er hörte das Brausen +des Wasserfalles näher und näher, die Strömung wurde stärker, immer +stärker, das Brausen kam näher, näher, jetzt - + +Sechshundert Meter war die Felswand hoch, von der das Wasser senkrecht +in das Meer stürzte. + +Und am selben Abende verließ Herr von Hahnemann auf seinem Torpedoboot +unverrichteter Sache die Schildkröteninsel. + + + + +Eine außerordentliche Versammlung der Gemeinschaft - das war noch nie +dagewesen. Und doch war niemand erstaunt, als die Vorsteherschaft durch +Maueranschlag zu dieser einlud; es lag so viel ungelöste Spannung in der +Luft, soviele Vermutungen waren nur halb ausgesprochen, von Mund zu Mund +gegangen, daß alle es als eine Erleichterung empfanden, eine klare +Darstellung aller jener unverständlichen Vorgänge zu erhalten. Und das +galt nicht nur von der Bürgerschaft - gerade die Vorsteher fühlten +stärker als je die Kluft, die sie von den Anderen trennte, und wollten +auch Kenntnis von allen dunklen Strömungen erhalten, von denen sie nur +den letzten Wellenschlag gefühlt hatten. + +Erst als die Gemeinschaft vollzählig versammelt war, betraten die +Vorsteher den großen Saal des Volkshauses. Otto Meyer übernahm als +Stellvertreter des abwesenden Jakob Silberland den Vorsitz. Sogleich, +nachdem auf ein Glockenzeichen Ruhe eingetreten war, mehr als Ruhe: +Totenstille, erhob sich Paul Seebeck. Sein Gesicht war bleich, +erschreckend bleich, und seine Augen lagen schwarz umrändert tief in den +Höhlen. + +»Liebe Freunde«, sagte er, »jetzt ist die ernsteste Stunde gekommen, +die wir bis jetzt hier erlebt haben. Jetzt handelt es sich um ein klares +Ja oder Nein. Jetzt muß entschieden werden, ob der Staat, den wir alle +in treuer Zusammenarbeit errichtet haben, zerstört werden darf oder +nicht. Wir können das Unglück noch abwenden. Noch können wir unser Werk +uns und unseren Kindern erhalten. Aber ein mutiger Schritt ist dazu +notwendig. + +Wir haben Verräter im eigenen Lager gehabt, gemeine Schurken, die, um +sich selbst vorwärts zu bringen, die Zukunft der Gemeinschaft opferten, +und wieder andere, die aus einem falschen, kurzsichtigen Idealismus +heraus, in bester Absicht, den Feind ins Land riefen. Vielleicht sehen +sie jetzt ein, wie unverantwortlich leichtsinnig sie gehandelt haben und +benutzen jetzt die Gelegenheit, ihr Unrecht wieder gutzumachen. Aber +auch sie waren nur Werkzeuge, boten nur den erwünschten Vorwand zur +Vernichtung unseres Werkes etwas früher, als es sonst geschehen wäre. +Was geschah, mußte geschehen, früher oder später, und deshalb hat es +keinen Zweck, Betrachtungen über Verschuldungen anzustellen oder +Vorwürfe zu erheben. Jetzt muß gehandelt werden. Die Sache liegt so: das +Deutsche Reich will uns nicht mehr unsere Freiheit lassen, man sieht +dort, daß wir hier die Durchführbarkeit freier Ideen beweisen und +fürchtet die Einwirkung dieser Ideen auf die eigenen, innerpolitischen +Verhältnisse. Jemand, der die gegenwärtig in Deutschland herrschende +ultrareaktionäre Strömung kennt, versteht diese Furcht der zur Zeit +regierenden Clique nur zu gut. Das wäre aber doch für uns nur ein Grund +mehr, sollte ich meinen, unser Werk bis zum letzten Punkte +durchzuführen, statt uns einfach vor Beschränktheit oder Bosheit zu +ducken. Jetzt kommt aber eine große, große Frage, die ich Sie in aller +Ruhe zu überlegen bitte: wenn wir uns hierher einen schnoddrigen +Berliner Assessor setzen lassen, ist zwar unsere Arbeit vernichtet, und +wir haben hier Zustände wie im schwärzesten Preußen, aber Sie haben +Ruhe. Wenn wir uns aber das nicht gefallen lassen, sind wir Aufrührer +und damit rechtlos, nach den heute üblichen Anschauungen nicht viel mehr +wie wilde Tiere. Und da wird nicht gefragt weshalb wir uns nicht beugen, +die Tatsache, daß wir es nicht tun, genügt. Kein Mensch in dem dumpfen +Berliner Ministerium wird verstehen, daß man Menschheitsideale über +hündischen Gehorsam stellt. Solche Gedanken sind uns reserviert. + +Ich bin aber nicht so verblendet, Sie zu einem nutzlosen Widerstande zu +verleiten, der nur den sicheren Untergang von uns allen bedeuten würde. +Es gibt einen Ausweg, und das ist dieser: wir erklären uns autonom und +lassen uns dann von England annektieren. Als englische Kolonie können +wir sicher sein, völlig ungestört weiter arbeiten zu können. Dazu haben +wir noch einige Wochen Zeit; Herr Doktor Silberland ist gegenwärtig in +Sidney, und ich werde nachher die Versammlung um die Ermächtigung +bitten, Herrn Doktor Silberland zur Vornahme der notwendigen Schritte zu +beauftragen. + +Was ich bis jetzt getan habe, geht nur mich selbst an und kann für +keinen anderen Bürger der Gemeinschaft nachteilige Folgen haben, solange +sich die Gemeinschaft nicht solidarisch mit mir erklärt. Sie brauchen +also nicht zu fürchten, daß ich Sie in irgend eine schwere Situation +hineingebracht habe. Sie können ganz frei beschließen. + +Wenn Ihnen unsere Sache aber lieb ist«, und Paul Seebecks müde Augen +bekamen Glanz und Feuer, »wenn Sie als Männer für Ihr Werk eintreten +wollen, dann können wir es retten. Bevor ein Kriegsschiff hier ist, +können wir unsere Befestigungen vollenden und können uns halten, bis wir +unter englischem Schutze stehen. + +Ich mag darüber nichts mehr sagen, ich will Sie zu keinem folgenschweren +Entschlusse überreden, den Sie später bereuen. Überlegen Sie es sich in +Ruhe.« + +Das eiskalte Schweigen, mit dem Paul Seebecks Rede angehört worden war, +dauerte noch fort, als er wieder auf seinem Platze saß. Dann erklang +hinter ihm eine Stimme: + +»Nechlidow soll antworten; wo steckt er?« + +Eine andere Stimme antwortete: + +»Der kommt nie mehr zu den Versammlungen.« + +Und schwer und hart sagte eine dritte Stimme: + +»Nechlidow ist ein Lump, mag er sich ersäufen wie der andere. Ich halte +zu Herrn Seebeck.« + +Jetzt wich die Starre von der Versammlung; man redete, schrie +durcheinander, die Gesichter wurden rot, Arme wurden bewegt, der Lärm +stieg und stieg - + +Paul Seebeck trat wieder auf das Podium, aber er konnte nicht sprechen. +Die Leute verließen ihre Plätze, umdrängten ihn, drückten seine Hände, +jeder, jeder einzelne wollte ihm Treue geloben. + +Paul Seebeck wollte reden, wollte ihnen danken, aber er stammelte nur +einige Worte und sank dann bewußtlos um. Er hörte nur noch Edgar Allans +schneidend scharfe Stimme: + +»Aber jetzt bitte nicht nur Worte, Leute, auch Taten.« + +Paul Seebeck wurde in ein anstoßendes Zimmer getragen und Frau von +Zeuthen und Otto Meyer übernahmen seine Pflege. + +Inzwischen wurden die Verhandlungen unter Herrn von Rochows Vorsitz +fortgesetzt. Paul Seebecks Vorschläge wurden einstimmig genehmigt, +obwohl sich manche recht zögernd von den Sitzen erhoben. Unter dem +brausenden Beifall der Versammlung verkündete Herr von Rochow darauf die +Autonomie der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel. + + + + +Noch immer keine Entscheidung von Sidney. Bei der immer stärkeren +Spannung zwischen England und Deutschland wäre der Ausbruch eines +Krieges in der allernächsten Zeit höchst wahrscheinlich, schrieb Jakob +Silberland. Dann wäre die Annektion selbstverständlich. Bis dahin müßte +man sich halten. + +Und mit allen Kräften wurde gearbeitet. Fünfzig unverheiratete Männer +wurden vom Hauptmann von Rochow im Gewehrschießen eingedrillt. Die +Vorsteher und außer ihnen Felix und Melchior übten sich an den +Geschützen, und manche Klippe da draußen im Meere war von den schweren +Granaten des Festungsgeschützes bei Schießübungen getroffen, in die Luft +geflogen. + +Der »Vulkan« wurde inzwischen zur Aufnahme aller Nichtkämpfer +eingerichtet. Welchem Zwecke die Gebäude dort auch ursprünglich bestimmt +waren, jetzt wurde alles zu Wohnstätten eingerichtet, sogar die +Umkleidezellen des Schwefelbades. Ein Fieber hatte alle ergriffen, ein +Freiheitsrausch, und als sich nach fünf Wochen am Horizonte die +Rauchsäule des Kreuzers zeigte, wurde er von den kampffrohen Männern mit +Jubel begrüßt. Man war bereit, ihn zu empfangen. Vor Seebecks Haus +standen in Reih und Glied die Infanteristen mit ihren Mausergewehren, +die Stahlläden vor den Geschützscharten in Seebecks Keller waren +aufgeklappt und die Geschütze nach vorn gerollt. Vier Meter ragte der +hellgraue Lauf des Festungsgeschützes heraus. Es wurde von Edgar Allan +und Felix bedient, während Otto Meyer und Melchior an den beiden +Maschinengewehren standen. + +Oben in Paul Seebecks Arbeitszimmer standen er und Frau von Zeuthen. Vor +ihnen auf dem Schreibtische lag der Lageplan der Seeminen; die Stahltür +an der Wand stand offen und zeigte die sechzig weißen Tasten. + +»Wie weit ist das Schiff jetzt?« fragte Frau von Zeuthen. + +Paul Seebeck sah prüfend durch sein Fernglas: + +»Zehn Kilometer, schätze ich es jetzt.« + +Einige Minuten später hielt der Kreuzer an. Ein weißes Wölkchen erhob +sich und eine halbe Minute später rollten drei dumpfe Schüsse über die +Stadt. + +»Die waren blind!« rief Hauptmann von Rochow herauf. + +»Noch zwei Kilometer, und das Schiff kommt in den Bereich unserer +Minen.« + +Aber der Kreuzer drehte sich auf der Stelle und wandte der Stadt seine +Breitseite zu. + +»Ja, da draußen konnten wir leider keine Minen legen, es ist zu tief«, +sagte Paul Seebeck. »Aber hierher kommen können sie doch nicht. Und +Silberland wird ja bald kommen; er weiß ja, daß in diesen Tagen der +Kreuzer kommen mußte. Solange müssen wir uns eben halten. Das können wir +auch.« + +»Und wenn es nichts wird?« + +Es zuckte um Paul Seebecks Mundwinkel, als er sagte: + +»Sie wissen, daß ich für mein Werk sterben kann.« + +Das Haustelephon, das den Keller mit Paul Seebecks Arbeitszimmer +verband, klingelte. Seebeck nahm das Hörrohr: + +»Ja.« + +»Hier Allan. Was meinen Sie, sollen wir nicht den Salut beantworten? Es +ist doch unhöflich, einen Gruß nicht zu erwidern.« + +»Schön, aber blind. Wir wollen nicht anfangen.« + +Das Haus bebte in seinen Fugen, als der Schuß krachte. + +Einige Minuten später kam die Antwort: im Hafen stieg eine Wassersäule +auf, der ein doppelter Knall folgte. + +»Was jetzt?« - telephonierte Allan herauf. + +»Abwarten, ob sie wirklich ernst machen. Je mehr Zeit wir gewinnen, +desto besser«, gab Paul Seebeck zurück. + +Aber Minute auf Minute verrann, eine Stunde, eine zweite, und nichts +geschah. + +»Die Herren erwarten wohl, daß wir die bewußte weiße Fahne aufziehen«, +sagte Paul Seebeck zu Frau von Zeuthen. + +Da hüllte sich plötzlich der Kreuzer in eine einzige Rauchwolke. Im +Hafen erhob sich eine ungeheure Wasser- und Staubwolke, der ein +donnerndes, krachendes Getöse folgte. Wie sich die Wolke verzogen hatte, +sah man, daß alle Hafenanlagen mit der Landungsbrücke und den +Lagerhäusern in Trümmern lagen. Die am Quai liegenden Fischerboote waren +fast sämtliche verschwunden. Aber das wild wogende Meer war mit Trümmern +und Balken bedeckt. + +Und Schuß auf Schuß folgte, aber alle galten nur dem Hafen. + +»Sie wollen uns so lange schonen, wie es geht, und das gefällt mir sehr, +damit gewinnen wir Zeit«, sagte Paul Seebeck zu Frau von Zeuthen. Dann +telephonierte er zu Allan: + +»Wir dürfen erst schießen, wenn sie die Stadt selbst beschießen. Nicht +vorher.« + +Von unten her klangen Rufe, die man bei dem Getöse nicht verstehen +konnte. Frau von Zeuthen trat ans Fenster und sah hinunter. + +Auf ihrem völlig erschöpften Pferdchen ritt Hedwig die Hauptstraße +hinunter, drängte sich durch die Infanteristen und stürmte die Treppe +hinauf: + +»Der Dampfer von Sidney liegt da hinten, dicht an der Insel; man kann +ihn vom Vulkane aus sehen. Herr Silberland ist in einem Ruderboote vom +Dampfer abgestoßen, ich konnte ihn ganz deutlich erkennen. Der Dampfer +fuhr dann wieder weg.« + +Paul Seebeck war aufgesprungen: + +»Wo liegt der Dampfer? Wo?« + +Hedwig beschrieb ihm die Stelle. + +»Hierher rudern! War er allein?« + +»Ja.« + +»Um Gotteswillen, das sind ja über dreißig Kilometer. Wenn er das +aushält. Wann war das?« + +»Ich mußte zuerst herunterlaufen und mein Pferd holen. Ich bin so +schnell geritten, wie ich konnte. Aber drei Stunden ist es mindestens +her.« + +»Dann kann er in zwei Stunden hier sein.« + +Frau von Zeuthen strich ihrer Tochter über das erhitzte Gesicht: + +»Leg dich etwas auf Pauls Bett, mein Kind, und ruh dich aus. Aber dann +mußt du wieder zurückreiten, hörst du?« + +»Darf ich nicht hier bleiben, Mutter?« + +»Nein, das geht nicht, Kind.« + +»Aber Fräulein Erhardt kommt auch, sie geht sogar zu Fuß, ich habe sie +überholt.« + +»Wenn du ihr auf dem Rückwege wieder begegnest, sag ihr, daß sie +umkehren soll«, sagte Paul Seebeck. »Aber geh jetzt Kind und ruh dich +etwas aus. Oder willst du etwas zu essen haben?« + +Hedwig schüttelte schmollend den Kopf und ging in Paul Seebecks +Schlafzimmer. + +»Also nur noch zwei Stunden, dann wissen wir Bescheid«, sagte Paul +Seebeck aufatmend. »Wenn Silberland es nur aushält.« + +Hedwig war in Paul Seebecks Schlafzimmer gegangen, aber sie legte sich +nur für einige Minuten auf sein Bett. Leise öffnete sie dann die Tür zum +Badezimmer, schlüpfte durch dieses in die Küche und ging die +Hintertreppe hinunter. Mit einigen Sprüngen hatte sie unbemerkt die +nächsten Häuser erreicht und ging jetzt durch die kleinen Gäßchen, die +die einzelnen Terrassen mit einander verbanden, zum Meere hinunter. In +kurzen Zwischenräumen schlugen noch immer die Granaten in den Hafen. + +Hedwig ging zu Nechlidows Häuschen, das gerade am Anfang der +Fischerstraße lag. Mit klopfendem Herzen öffnete sie die Türe und trat +ein. + +Es war still im ganzen Hause. Hedwig trat ins Wohnzimmer ein. Hier war +es fast dunkel, denn die Fenstervorhänge waren dicht zugezogen. + +Nechlidow erhob sich von seinem flachen Sofa zu einer halbsitzenden +Stellung. + +»Sie kommen zu mir, dem Verfehmten? Wird man Sie nicht steinigen, wenn +man das erfährt?« + +Ein scharfer Knall in der Nähe, dem ein anhaltendes Prasseln und Krachen +von niederstürzenden Mauerteilen folgte, ließ ihn aufstehen. Er trat zum +Fenster und zog die Vorhänge zurück. Das gegenüberliegende Haus hatte +sich in einen rauchenden Trümmerhaufen verwandelt. + +Nechlidow lachte bitter auf: + +»Meine Schuld, nicht wahr?« + +»Herr Nechlidow«, sagte Hedwig bittend und trat an ihn heran. »Glauben +Sie nicht doch, daß Paul recht gehandelt hat?« + +»Bei Gott, er hatte nicht recht, und wenn ich tausendmal daran Schuld +trage, daß jetzt alles zusammenbricht. Ich habe das nicht gewollt. Ich +habe nicht vorausgesehen, daß es so kommen würde. Aber es ist besser, +daß diese riesige Lüge zusammengeschossen wird, als daß sie weiter lebt. +Wer weiß, vielleicht kommen die englischen Schiffe noch rechtzeitig, +und dann baue ich die Stadt wieder auf. Und wenn sie nicht kommen, um so +besser, dann ist eine Halbheit weniger auf der Welt.« + +»Sind Sie wirklich schuld daran?« fragte Hedwig schüchtern. + +Nechlidow legte ihr beide Hände auf die Schultern und sah ihr in die +braunen Augen: + +»Weshalb kommen Sie mit dieser Frage zu mir?« + +»Weil ich wissen will, was Sie sind.« + +»Nein, Hedwig, es ist nicht meine Schuld. Die Leute sind daran schuld, +sie sind ja alle behext, haben ihr bischen Vernunft ganz verloren. Wenn +Seebeck aus lauter Sentimentalität die Dummheit begeht, seine Entlassung +zu verweigern, weshalb ihm dann zustimmen, weshalb es zur Revolution +kommen lassen! Wir hätten alles so glatt machen können, Seebeck hätte +gehen müssen, Rouvière wäre Reichskommissar geworden. Aber da kam wieder +der sinnlose Selbstmord von Rouvière dazwischen, und damit war alles +verloren. Denn Rouvière hatte die Leute in der Tasche. Ja, und jetzt +gehen mir dieselben Menschen, die unsere Klageschrift unterschrieben +haben, wie einem Pestkranken aus dem Wege und lassen sich Seebecks +schöner Augen wegen von ihm in den Tod führen. Eine Kette von +unbegreiflichen Sentimentalitäten war wie immer der Grund alles +Unglücks. Mein Fehler war nur, daß ich auf die Vernunft der Menschen +vertraute. Das ist die Wahrheit, Hedwig.« + +»Aber was soll jetzt kommen? Was werden Sie tun?« + +»Ich? Ich warte, bis meine Zeit gekommen ist. Die da drüben mögen sich +gegenseitig zerfleischen, wenn sie noch nicht reif für die Vernunft +sind. Ich glaube an sie und an ihren endlichen Sieg. Ich glaube an die +Menschheit.« + +Hedwig sah vor sich hin. Dann schüttelte sie ihren Lockenkopf: + +»Wollen wir nicht noch einmal zu unserer Landspitze hinausgehen? Wer +weiß, wann wir wieder zusammen sein können.« + +Und sie gingen Hand in Hand die Treppe hinunter und traten auf die +Straße. Da schoß dicht vor ihnen auf der Straße ein blendend weißes +Licht auf. Nechlidow taumelte zurück. Hedwig stieß einen leichten Schrei +aus und fiel flach auf das Gesicht. + +Nechlidow sprang auf sie zu, hob sie auf, drückte sie an seine Brust - +sie schlug die Augen auf, lächelte noch einmal, wollte die Hand heben, +aber ließ sie schlaff wieder fallen. Ihr Haupt sank zurück - + + * * * * * + +Ein Ruderboot wandte sich um die Landspitze, die die bewohnte Bucht von +der Irenenbucht schied. + +»Das ist Silberland«, rief Paul Seebeck Frau von Zeuthen zu. + +Er lief die Treppe hinunter, auf die Straße, schrie Hauptmann von Rochow +zu: + +»Bleiben Sie hier. Handeln Sie nach Ihrem Gutdünken!« und stürzte dem +Hafen zu. Mehrere Granaten schlugen in seiner Nähe ein und bedeckten ihn +mit Staub. Unten angekommen, sah er um sich. Alles lag schon in +Trümmern. In der Fischerstraße standen nur noch einige Häuser. Und +horch! das Prasseln auf den Steinen, das Klirren an Fensterscheiben, die +kleinen Springbrunnen auf dem Meere. Also hatten sie schon die +Maschinengewehre in Tätigkeit gesetzt. + +Da kam das Ruderboot. Jakob Silberland stand auf und rief etwas, was +Seebeck des Lärmes wegen nicht verstehen konnte. Jakob Silberland setzte +sich wieder an die Ruder. Jetzt war er nur noch zwanzig Schritte vom +Strande entfernt. Wieder stand er auf. Sein Gesicht war verzerrt, Blut +floß von seinen Händen herunter. Er schrie: + +»Entente cordiale zwischen England und Deutschland; damit ist der +Weltfriede endgiltig gesichert.« + +Klack, klack, klack klang es im Boote und im Wasser - Jakob Silberland +fuhr sich mit der Hand ins lange schwarze Haar und brach dann auf der +Bootsbank zusammen. Langsam füllte sich das durchlöcherte Boot mit +Wasser und sank. + +Paul Seebeck blieb mit verschränkten Armen stehn und sah das Boot +versinken. + +Da legte sich eine Hand auf seine Schulter und er sah in Nechlidows +bleiches Gesicht. An den Kleidern hatte er große Blutflecke. Er fragte: + +»Darf ich zusammen mit Ihnen sterben, Herr Seebeck?« + +Seebeck reichte ihm die Hand: + +»Lassen Sie uns zusammen sterben, Sie für Ihre Idee, ich für mein Werk.« + +Nechlidow schüttelte den Kopf: + +»Ich sehe nichts mehr, weiß von keiner Vernunft mehr. Ich sehe nur noch +einen Strom, dessen Wellen uns in die Höhe hoben, als wir ihn zu leiten +glaubten, und der uns jetzt mitleidlos wieder in seine Strudel zieht. +Aber ich sehe nicht, wohin er geht. Ich sehe nur noch Sie und will mit +Ihnen zusammen sterben.« + +»Kommen Sie«, sagte Seebeck. »Wir wollen den anderen sagen, daß wir alle +sterben müssen.« + +Aber auch oben hatte man Jakob Silberlands Untergang gesehen. + +»Jetzt ist es genug!« rief Edgar Allan Hauptmann von Rochow zu. Dieser +nickte. Und einige Minuten später donnerte das schwere Festungsgeschütz, +begleitet vom Knattern der beiden Maschinengewehre. + +Dies war aber nur ein Signal für den Kreuzer, seinerseits das Feuer zu +verstärken. Und jetzt galten seine Schüsse nicht mehr dem Hafen. Überall +schlugen die Granaten in die obere Stadt. An vielen Stellen brannten die +Häuser. + +Da kamen Paul Seebeck und Nechlidow zusammen die Straße herauf. Die +Leute umdrängten sie, fragten, aber die beiden gingen hinauf in das +Seebecksche Arbeitszimmer. Dort trat Paul Seebeck ans Fenster, wartete, +bis das Feuer für einen Augenblick verstummte und rief dann mit scharfer +klarer Stimme: + +»Wir bekommen keine Hilfe von England. Wer ist bereit, mit uns für unser +Werk zu sterben?« + +Die Gesichter dort unten wurden groß. Wutschreie ertönten. Drohende +Fäuste wurden emporgereckt. Aus dem Gebrülle waren nur einzelne Worte +verständlich: + +»Wir wollen uns nicht hinschlachten lassen!« + +»Wir sind verraten.« + +»Wir wollen die da oben ausliefern und uns ergeben ...« + +»Drehen Sie die Geschichte herum«, sagte Edgar Allan zu Felix, und der +gehorchte. Die noch rauchende Mündung des Festungsgeschützes war auf die +Infanteristen gerichtet. + +Da liefen sie, warfen die Gewehre fort, liefen, was sie konnten, nur +fort, dem sicheren Hochlande, dem Leben, der Zukunft zu. Nur einer +drehte sich um und feuerte einen Schuß ab, bevor er den anderen gleich +sein Gewehr fortwarf. + +Edgar Allan brach, ins Herz getroffen, lautlos zusammen. + +An seine Stelle trat Nechlidow. Niemand fragte ihn, weshalb er gekommen +sei, niemand machte ihm Vorwürfe. Man drückte ihm die Hand, und +schweigend trat er an das Geschütz. + +Hauptmann von Rochow warf noch einen Blick auf seine fliehenden +Soldaten, dann ging er zu Seebeck hinauf. + +Seebeck konnte ihm nur flüchtig zunicken, denn jetzt geschah draußen +etwas Sonderbares: der Kreuzer stellte sein Feuern ein, und die +Dampfbarkasse wurde ins Wasser gesenkt. Von der anderen Seite kam ein +bemanntes Boot, das die Barkasse in Schlepptau nahm. + +»Hört mit dem Schießen auf«, telephonierte Seebeck hinunter. »Vielleicht +kommen die in friedlicher Absicht.« Aber so scharf er auch hinsah, er +konnte keine weiße Fahne bemerken. + +»Sind denn die Leute wahnsinnig? Sie wissen doch, daß Seeminen da +draußen liegen!« rief Seebeck. + +Die Dampfbarkasse nahm aber nicht den Weg nach dem Hafen zu, sondern +fuhr auf die Landspitze bei der Irenenbucht zu. + +»Die glauben, daß da keine Minen liegen und wollen da landen. Herr von +Rochow, ich bitte Sie!« Hauptmann von Rochow stürzte zum Tastbrett, und +Paul Seebeck beugte sich über den Plan. Die Barkasse kam näher, war +jetzt bei der flachen Klippe - + +Fragend sah Herr von Rochow Seebeck an, der mit verschränkten Armen und +zusammengepreßten Lippen ans Fenster getreten war. + +»Siebenunddreißig, achtunddreißig, zweiundvierzig«, sagte er kurz und +scharf. + +Wie um einen Akkord zu spielen, drückte Hauptmann von Rochow die drei +Tasten nieder, und draußen schoß ein ungeheurer Wasserberg in die Luft +und stürzte dann mit donnerndem Gebrüll zusammen. Boote und Klippe waren +verschwunden. + +Herr von Rochow griff sich mit beiden Händen taumelnd an den Kopf: + +»Deutsche, deutsche Soldaten«, murmelte er wie irrsinnig. Dann richtete +er sich kerzengerade auf, zog einen Revolver aus der Tasche und schoß +sich in die Schläfe. + +Seebeck wandte sich beim Knalle um; spöttisch lächelnd sah er auf die +Leiche. + +Frau von Zeuthen war entsetzt aufgesprungen. Dann setzte sie sich +wieder auf ihren Stuhl. Seebeck trat auf sie zu: + +»Gehen Sie jetzt, Gabriele. Denn dem, was jetzt kommen wird, sind die +Nerven keiner Frau gewachsen. Gehen Sie, Sie müssen sich Ihren Kindern +erhalten.« + +Sie stand auf und schüttelte energisch den Kopf: + +»Ich bleibe bei Ihnen, meinetwegen -« + +»Nichts geschieht Ihretwegen«, unterbrach sie Seebeck schroff. Dann +setzte er aber sanft hinzu: »Denken Sie an Ihre Kinder, Gabriele. Sie +haben noch eine Aufgabe auf dieser Welt, wir nicht mehr. Und nehmen Sie +Felix mit; wozu soll er sich hier verbluten. Sie können ihm nach zehn +Jahren erzählen, was sich hier alles vor seinen Augen abgespielt hat. +Dann wird er es verstehen und davon lernen. Und grüßen Sie Ihre kleine +Hedwig von mir.« + +Da sank Frau von Zeuthen vor ihm nieder und küßte seine Hände. Er hob +sie auf und zog sie an seine Brust. Draußen krachten wieder die +Granaten, und unten donnerte das Festungsgeschütz, begleitet vom +Knattern der beiden Maschinengewehre. + +Frau von Zeuthen riß sich los: + +»Felix muß bei Ihnen bleiben, Seebeck! Das Opfer muß ich Ihnen bringen. +Er ist ein Mann. Er soll Ihr Geschick teilen. Ich gehe zu Hedwig.« + +Paul Seebeck trat ans Telephon. + +»Felix soll herauf kommen.« + +Das schwere Geschütz verstummte und Felix kam herauf. + +»Was gibt's?« + +»Du mußt deine Mutter zum Vulkane zurückbegleiten.« + +»Aber Paul!« + +»Du mußt! Hol dein Pferd für deine Mutter.« + +»Paul, ich will bei dir bleiben.« + +»Felix, es hat keinen Sinn mehr. Denk was für ein Leben du noch haben +kannst und denk an deine Mutter.« Er legte den Arm um Felix Schulter und +führte ihn Frau von Zeuthen zu: + +»Wollen Sie wirklich Ihren Jungen hier lassen?« + +Da schlang die Mutter die Arme um ihr Kind, unter strömenden Tränen rief +sie: + +»Felix, komm mit mir!« + +Er entwand sich ihren Armen und sah Paul Seebeck an. Dieser sagte: + +»Du sollst mein Erbe sein, Felix; sieh zu, ob du mein Werk fortführen +kannst, und das mit mehr Glück. Geh meines Werkes wegen.« + +Felix kämpfte mit sich. Dann sah er mit seinen strahlenden, braunen +Augen Paul Seebeck an und sagte: + +»Aber das verspreche ich dir, Paul, ich werde mich ebenso halten wie +du.« + +Paul Seebeck strich ihm über das Haar. + +»Gut, mein Junge. - Aber geh jetzt und hol dein Pferd.« + +Jetzt ging die Sonne unter, und der Kreuzer stellte sein Feuern ein. +Wenige Minuten später war es dunkle Nacht, in der hier und da die +Flammen von den brennenden Häusern emporloderten. + +Da hob sich riesengroß die rotgelbe Scheibe des Vollmondes über den +Horizont, beleuchtete den Kreuzer und sein Werk. Schaurig sahen im +kalten Lichte die Trümmer aus. Und nun begann der Kreuzer wieder zu +feuern; unter donnerndem Krachen stürzte das große Volkshaus zusammen. + +»Kommen Sie, Gabriele, jetzt ist keine Zeit mehr zu verlieren.« Er +begleitete sie bis zur Hauptstraße und weiter bis zu den rauchenden +Trümmern des Volkshauses. Da tauchte ein Schatten hinter ihnen auf, und +Felix holte sie auf seinem Pferde ein. + +»Ich möchte nur noch schnell von den anderen Abschied nehmen, geh nur +voraus, Mutter!« rief er und galoppierte zurück. + +»Leben Sie wohl, Gabriele. Mein Versprechen habe ich gehalten, nicht +wahr?« Und dann wandte er sich schnell ab und ging hinunter. + +Frau von Zeuthen ging langsam den Berg hinauf und weiter auf der Straße +hin. Als sie das Staubecken erreichte, schrak sie zusammen, denn vor ihr +erhob sich eine dunkle Gestalt. Aber der Mond erleuchtete ein bekanntes +Gesicht. + +»Fräulein Erhardt?« + +»Ja, gnädige Frau!« + +»Wollen Sie zur Stadt?« + +»Ich kann nicht mehr gehen, ich bin so müde. Wo ist Felix?« + +»Er ist in einigen Minuten hier. Ist Ihnen nicht Hedwig begegnet?« + +Fräulein Erhardt schüttelte den Kopf: + +»Nein, aber ich glaube, ich habe mehrmals auf dem Wege geschlafen. Sie +wird an mir vorbeigeritten sein, ohne daß ich sie bemerkte. Aber Felix +kommt, mein Felix!« + +Frau von Zeuthen hatte sich neben sie gesetzt und strich ihr sanft über +den Leib. Da schlang Fräulein Erhardt die Arme um ihren Hals und +flüsterte ihr zu: + +»Ich habe ja ein Kind von ihm.« + +Frau von Zeuthen küßte sie: + +»Liebe Tochter«, sagte sie. + +Dann schwiegen sie beide, saßen im bleichen Lichte des Vollmondes einsam +auf der Ebene und warteten, warteten - - + +Als Paul Seebeck von der Hauptstraße wieder auf sein Haus zu einbog, +blieb er wie erstarrt stehen, denn aus dem Kellerfenster schoß eine +Stichflamme, der ohrenbetäubender Knall folgte. Paul Seebeck griff sich +an die Stirn und stürzte dann hin. Dichter, beißender Rauch quoll aus +den Fenstern, verhüllte die Läufe der drei Geschütze - + +Er sprang die Treppe hinunter, von unten klang ihm leises Wimmern +entgegen. Die Lampe war verlöscht, aber das weiche Dämmerlicht der +Mondnacht erfüllte den Raum. + +Auf dem Boden lag Nechlidow in den letzten Zügen, der ganze Leib war ihm +aufgerissen. Über den Verschluß des Geschützes gebeugt lag Felix. Paul +Seebeck hob ihn auf. Felix schlug die Augen auf und lächelte: + +»Du, Paul, ich wollte Nechlidow doch wieder helfen; er konnte das +Geschütz nicht allein bedienen.« + +Paul Seebeck betastete ihn. Auf der rechten Brustseite war ein kleiner +nasser Fleck. Seebeck riß die Kleider auf; das Blut strömte. + +»Muß ich sterben, Paul? Dann grüß die andern.« + +»Nein, nein du bleibst leben. Hab keine Angst. Schlaf jetzt nur etwas.« + +»Ja«, sagte Felix, »ich bin so müde.« + +Und Paul Seebeck bettete den sterbenden Knaben so gut er konnte auf den +Boden. + +Unter seinem Maschinengeschütz lag Otto Meyer, ein Granatsplitter hatte +ihm den Oberschenkel zerfetzt. Er reichte Seebeck die Hand: + +»Du, sag mal, kannst du mir nicht irgend einen passenden Ausspruch +empfehlen? Ich kann doch nicht so ganz klanglos sterben. »Ich sterbe für +die Freiheit«, oder etwas ähnliches?« + +»Du stirbst, weil du ein anständiger Kerl bist.« + +»Also gut: ich sterbe, damit die Anständigkeit lebe! Bravo. Schluß. - Es +war so schön, mit dir zusammenzuarbeiten, Seebeck. Ich danke dir dafür.« + +Dann sank er zurück. + +Paul Seebeck trat an Melchior heran, der bewußtlos in einer Blutlache an +der Wand lag. Wie er ihn untersuchte, schlug er die Augen auf: + +»Herr Seebeck, Sie? Gut, daß Sie kommen. Ich habe es gefunden!« + +»Was haben Sie gefunden?« + +»Das Problem der Menschheit habe ich gefunden. Hören Sie!« Er versuchte +sich aufzurichten, aber sank wieder zusammen. + +»Das Problem der Menschheit!« Seebeck lachte auf. »Da draußen haben Sie +das Problem der Menschheit!« Und er wies auf das Kriegsschiff hinaus, +das jetzt langsam sein Feuern einstellte. + +»Seebeck, schämen Sie sich! Wer wird einen Spezialfall verallgemeinern. +Hören Sie, ich habe nicht mehr viel Zeit, glaube ich.« + +Paul Seebeck verschränkte die Arme und sah dem Sterbenden gerade ins +Gesicht. + +»Ich höre«, sagte er. + +»Sie erinnern sich noch an alle unsere Gespräche? Sie alle haben am +Problem mitgearbeitet, Sie alle haben mir Bausteine gegeben. Jetzt habe +ich aber die Formel gefunden. Sie erinnern sich, daß alle Fragen immer +wieder auf denselben toten Punkt kamen, daß man die Begriffe +gleichzeitig als fortgeschrittener, wie auch als rückständig in den +Bezug auf den realen Stand der Menschheit ansehen kann. Da kam Herr Otto +Meyer mit dem Einfall, daß sie von zwei verschiedenen Gesichtspunkten +aus betrachtet sein müßten, um verschieden zu erscheinen. Lebt er noch?« + +»Nein, er ist tot.« + +»Schade, es hätte ihn sicher interessiert. Sehen Sie, Herr Seebeck, +jetzt habe ich die beiden Standpunkte; den niedrigen des einzelnen +Menschen und den hohen der gesamten Menschheit. Wenn sich aus uns allen +kleinen gleichgiltigen Einzelwesen jetzt das ungeheure Individuum der +Menschheit aufbaut - solange ich selbst unter den Arbeitern lebte, habe +ich diese Kristallisation gefühlt, aber nicht begriffen, ich fühlte, wie +sich die Zellen instinktiv zusammenschlossen, obwohl sich jede einzelne +krampfhaft dagegen wehrte - dann müssen ja unsere Gedanken klein sein, +die der Menschheit sind aber groß, für uns ebenso unbegreiflich groß, +wie die Zelle in unserem Körper nichts von unseren Gedanken versteht, +und doch baut sie Körper und Leben auf. + +Aber da haben wir als Ausgleich jene Begriffe, halb einzel-menschlich, +halb universal-menschlich, dem Menschen zu hoch, der Menschheit zu +niedrig. Sie zeigen weder den Standpunkt des Menschen, noch den der +Menschheit, sondern gerade die noch ungelöste Spannung zwischen beiden +Teilen. + +Prüfen Sie es doch nur an irgend einem Beispiele: denken Sie an die Ehe. +Dem einzelnen Menschen ein praktisch fast unerreichbares Ideal, für die +Menschheit veraltet. Denn vom hohen Standpunkte der Menschheit aus +gesehen, gleichen sich die im Einzelfalle eintretenden Hindernisse aus; +und für den Gesamtdurchschnitt wird dann die Ehe nicht zu hoch, sondern +zu niedrig. + +Oder denken Sie an die Orthographie einer Sprache, die zwar scheinbar +rückständig ist, in Wirklichkeit aber die großen, ewigen Gesetze und +Wandlungen der Sprache, dieses Gutes nicht eines Einzelnen, sondern der +Menschheit wiedergibt.« + +»Und wie erklären Sie dieses Beispiel hier?« fragte Paul Seebeck und +wies auf die Leichen um sie her. + +»Ach was hat das zu sagen, daß einige Zellen absterben. Ein kleiner +Entzündungsprozeß im Körper der Menschheit, weiter nichts.« + +»Ja, ja«, sagte Paul Seebeck. + +»Und sehen Sie doch, daß die großen Taten nie vom einzelnen ausgeführt +werden, sondern nur von der Masse, vom Individuum Menschheit. Das ist ja +auch selbstverständlich, denn der Natur der Dinge nach muß die auf einer +millionenmal höheren Stufe stehende Menschheit auch höhere Gedanken +haben. Wie selten opfert sich ein einzelner für eine Idee, und wie +leicht tun es tausende zusammen, weil nicht mehr der Einzelne denkt, +sondern die Masse an sich.« + +»Aber hat uns nicht hier die Masse verraten, und bleiben nicht wir +einzelne zurück?« + +»Kommt das nicht auch in unserem Körper vor, in dem sich die einzelnen +Blutkörperchen gegenseitig auffressen, statt zusammen zum höheren Zwecke +als dem ihrer Einzelexistenz zu wirken? Krankheitserscheinungen, weiter +nichts. Und eben so, wie trotz aller Krankheiten der menschliche Körper +sich weiter entwickelt, so wird es auch die Menschheit tun, um später +wieder Zelle eines neuen, unermeßlich hohen Individuums zu werden. Bis +sich schließlich das Universum in einem unendlich weiteren Sinne, als +wir armselige Einzelzellchen es heute begreifen können, zu einem großen +Organismus zusammenschließt. Und da wird die Erlösung sein, der Zweck +des Daseins. Ich sterbe«, fuhr er mit schwächerer Stimme fort, »aber Sie +leben ja noch. Gehen Sie zu den Menschen und sagen Sie ihnen, daß ich +ihr Geheimnis gelöst habe.« + +Paul Seebeck schüttelte langsam den Kopf: + +»Ich gehe nicht mehr zu den Menschen, Melchior.« + +Jetzt richtete sich der Sterbende mit seiner letzten Kraft auf: + +»Sie müssen, Seebeck, sonst habe ich das alles umsonst gedacht. Das darf +doch nicht sein!« + +»Nein«, sagte Paul Seebeck hart, »Sie sollen das alles umsonst gedacht +haben. Mag Ihr Leben verschwendet sein, wie das von uns allen.« + +Da brach Melchior zusammen. + +Nun fiel das bleiche Mondlicht durch die Fenster und beleuchtete die +vier Leichen und die Geschütze. Sinnend blieb Paul Seebeck stehen. Er +schaute auf das Meer hinaus, das so friedlich dalag. Aber dort in der +Ferne das Ungeheuer, jetzt nicht mehr feuerspeiend. + +Paul Seebeck setzte sich neben Felix' Leiche hin und wartete. Aber ihm +war keine Granate bestimmt. Da küßte er des Knaben eiskalte Stirn und +ging hinaus. Er ging an den Trümmern des Volkshauses vorbei, die sich +gespenstig in die Höhe reckten, zur Irenenbucht hinunter. Langsam stieg +er die Stufen hinab und setzte sich unten auf die Felsplatte. Er sah die +breiten Rücken der Riesenschildkröten feucht im Mondlichte glänzen, sah +sie die Köpfe erheben - + +Da ließ er sich langsam ins Wasser gleiten. Die Tiere tauchten +erschreckt unter. Er wollte schwimmen, weiter hinaus ins Meer wollte er, +aber er verfing sich in den langen Schlingpflanzen. Er kämpfte, um sich +zu befreien, aber sie ließen ihn nicht los. Da gab er nach und ließ sich +vom Wasser tragen. Es umfing ihn so lau und weich. Aber wie er sich +nicht mehr bewegte, beruhigten sich die Tiere wieder. Er sah ihre +glänzenden Rücken herankommen, dicht vor ihm tauchte ein riesiger, +schwarzer Kopf aus dem Wasser auf, schob sich langsam näher, ein +breites, zahnloses Maul öffnete sich - - + + + + +IM GLEICHEN VERLAGE ERSCHIEN: + +HANS FRANCK +THIES UND PETER +DER ROMAN EINER FREUNDSCHAFT + +PREIS BROSCH. M. 3.50, GEBUNDEN IN LEINEN M. 4.50 + +_Neue Freie Presse_: In der Freundschaft sind Fehler Verbrechen! Davon +handelt der Roman. Es ist die Tragödie restlos angestrebter +Freundesvereinigung, jener Freundschaft, die in der völligen +Umklammerung und Einschließung des geliebten Wesens dessen Menschenrecht +mit Füßen tritt, die sich selbst mordet. »Thieß und Peter« ist ein +Bekenntnisbuch, warm und sprudelnd vom Herzen gespeist. So ist Hans +Francks schöpferischer Erstling eine starke Hoffnung, die am schönsten +eingelöst scheint auf gleichem Weg. Hebbels unerbittlicher Geist und +Otto Ludwigs eherne Erzählerkunst scheinen hier in einem bewegten Kopfe +unserer Zeit wiedergeboren zu sein, der reiche bleibende Früchte +verspricht. Die Sprache ist von elastischer Härte und bringt großartige +Bilder von starker Energie. + +_Saale-Zeitung_: Oft, hundertmal, ist die Liebe zweier Männer besungen, +zerstört, angegriffen worden, niemals in der intensiven Art wie hier. +Hans Franck ist es gelungen, sein Thema restlos zu durchleben, zu +erfassen, in sich aufzunehmen, es in die Form der Kunst zu gießen und +geläutert herauszuschälen. Das Thema selbst hat Franck restlos +erschöpft, ohne auch nur die geringsten Seitensprünge zu machen. Hatte +sein Name auch zuvor schon einen guten Klang, so ist Franck mit diesem +Roman in die Reihe unserer ersten deutschen Dichter gerückt. Der Roman +wird in der Geschichte des deutschen Romans noch eine Rolle spielen. + + +IM GLEICHEN VERLAG ERSCHIEN FERNER: + +GRETE MEISEL-HESS +DIE INTELLEKTUELLEN +ROMAN + +PREIS BROSCHIERT M. 5-, ELEGANT IN LEINW. M. 6- + +_Anna Croissant-Rüst_: Die Disziplin in ihrem Roman und der Aufbau sind +bewundernswert. Die Helden des Romans, Olga, Stanislaus sind in allen +Konturen und Linien ungeheuer scharf gezeichnet und wohl geraten. Dr. +Emmerich, auch Koszinsky sind sehr gute Typen, überhaupt ist ein +Reichtum von Personen und Ideen in dem Roman, daß sich manche von den +herkömmlichen Romanmodeschneiderinnen 10 Romane daraus zurechtschneidern +könnten. Das quillt alles nur so über und ist doch in straffen Banden +gehalten. + +_Neue Freie Presse_. Manfred Wallentin ist in ihr der vorgeahnte Typus +des Menschen der Zukunft und der Schönheit, der Typus des moralischen +Übermenschen, im Sinne einer Herrennatur, die Beladene und Bedrückte +führend durch das Leben geleitet. Die anderen Figuren des Romanes, +strebende, wankende, strauchelnde und wieder sich erhebende Männer und +Frauen, verkörpern den Geist dieser Gruppe der Intellektuellen in +mannigfacher Gestalt. Zu klarem Relief sind die verschiedenen Charaktere +gearbeitet, ein jeder stellt ein Beispiel - das Typische seiner Art. +Nirgends groteske Verzerrung oder leichtfertiges Fertigwerden mit +komplizierten Gedanken. Philosophische, theosophische, soziale +Erörterungen kommen in streng geführten Dialogen zur Diskussion, wandeln +sich hier in poetisch wohltuend gemäßigter Form zu pulsendem Leben. + +_Neues Wiener Tageblatt_. Frau Meisel-Heß hat sich schon durch ein Werk +über »Die sexuelle Krise« in die Scharen der sozialreformatorischen +Streiter gestellt, während sie in ihrer »Stimme«, das ihr feinstes Buch +bleibt, eine individualistisch vertiefte Studie gibt - jeder +nachdenkliche moderne Mensch wird den Roman mit großem Interesse lesen. + +A. E. FISCHER, Buch- und Kunstdruckerei, GERA-R. + + + +[Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf +Grundlage der 1912 bei Oesterheld erschienenen Ausgabe erstellt. Die +nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem +Originaltext vorgenommenen Korrekturen. + +p 019: steigen drei Reketen -> Raketen +p 022: Zeitungsberichte erkennen liessen. -> ließen +p 027: [Komma ergänzt] Blatt beugte, »der Flächeninhalt +p 030: Einen grosszügigen Künstler -> großzügigen +p 031: lächend wieder aufblickend -> lächelnd +p 033: dadurch abschliessende Form -> abschließende +p 035: Paul Seebecks Ichtyosauren -> Ichthyosauren +p 041: [Anführungszeichen entfernt] »Durch den Schriftsteller -> Durch +p 044: [Komma ergänzt] daran erinnerte, daß +p 045: du willst gleieh -> gleich +p 050: [Vereinheitlicht] im Cafe Stephanie gesessen -> Café +p 052: auf und abgehend -> auf- und abgehend +p 054: [Punkt ergänzt] Dann lief er tief errötend aus der Tür. +p 055: [Anführungszeichen korrigiert] einer von den Unsrigen.« +p 059: [Zeichen ergänzt] also [ ]in Vorrecht -> ein +p 058: fuhr erfort[ ], -> er fort, +p 062: fragte Seebeck die Hand -> fragte Seebeck, die Hand +p 063: ausgewachene Riesenschildkröte -> ausgewachsene +p 063: Das es jetzt ... nicht mehr gibt, -> Da +p 065: bilden kann, ohne das -> daß +p 067: alle sozialen und sozial-psychologischen Phänomen -> Phänomene +p 069: Schwäche und Dumheit -> Dummheit +p 072: Jacob Silberland den geringsten Kummer -> Jakob +p 075: Rhytmus -> Rhythmus +p 076: [Anführungszeichen korrigiert] erinnern Sie sich noch?« +p 089: an Herren Seebeck erlauben -> Herrn +p 090: Denn wir wissen alles, was wir ihm schulden -> alle +p 090: [Punkt ergänzt] im Buche der Menschheit stehen.« +p 092: allerhand Papier zusammen, die -> Papiere +p 093: [Komma entfernt] fünfhunderteinundzwanzig, Mark. +p 097: geklatscht und gestrampelt -> getrampelt +p 106: antworetete der Krüppel -> antwortete +p 108: [Komma ergänzt] Rechtsstreitigkeiten«, wie [...] ausdrückt +p 108: alle Steitigkeiten durch -> Streitigkeiten +p 116: [Vereinheitlicht] Orang-Utans vorfinden«. -> vorfinden.« +p 122: Arbeit ausführen nnd -> und +p 122: die wir jetzt darstellen, -> darstellen. +p 139: [Punkt ergänzt] Schatten auf sie. +p 145: stand der Krüppel auf; -> auf: +p 151: [Punkt ergänzt] die sich auf dem Tische befand. +p 156: Proviant für viezehn Tage -> vierzehn +p 167: [Anführungszeichen korrigiert] praktische Bedeutung hat?« +p 183: [Vereinheitlicht] der Vorstandsschaft -> Vorstandschaft +p 201: [Anführungszeichen korrigiert] »Woher wissen Sie das?« +p 213: [Vereinheitlicht] Herr Reichkommissar -> Reichskommissar +p 214: Reipeitsche -> Reitpeitsche +p 227: ihr auf den Rückwege -> dem +p 233: [Anführungszeichen korrigiert] »Wir sind verraten.« +p 233: [Ellipse ergänzt] ausliefern und uns ergeben .. « -> ...« +p 241: [Punkt ergänzt] Gut, daß Sie kommen. +p 245: der menschlichen Körper sich -> menschliche +p 247: Neue Freie Prese -> Presse +p 248: ERSCHIEN FENRER -> FERNER + +Die Originalschreibweise wurde prinzipiell beibehalten, insbesondere bei +folgenden Wörtern: + +p 011: grinzend +p 058: Karrikatur +p 074, 172: endgiltig +p 178: kennte ] + + + +[Transcriber's Note: This ebook has been prepared from the Oesterheld +edition, published around 1912. The table below lists all corrections +applied to the original text. + +p 019: steigen drei Reketen -> Raketen +p 022: Zeitungsberichte erkennen liessen. -> ließen +p 027: [added comma] Blatt beugte, »der Flächeninhalt +p 030: Einen grosszügigen Künstler -> großzügigen +p 031: lächend wieder aufblickend -> lächelnd +p 033: dadurch abschliessende Form -> abschließende +p 035: Paul Seebecks Ichtyosauren -> Ichthyosauren +p 041: [removed quotes] »Durch den Schriftsteller -> Durch +p 044: [added comma] daran erinnerte, daß +p 045: du willst gleieh -> gleich +p 050: [unified] im Cafe Stephanie gesessen -> Café +p 052: auf und abgehend -> auf- und abgehend +p 054: [added period] Dann lief er tief errötend aus der Tür. +p 055: [corrected quotes] einer von den Unsrigen.« +p 059: [added character] also [ ]in Vorrecht -> ein +p 058: fuhr erfort[ ], -> er fort, +p 062: fragte Seebeck die Hand -> fragte Seebeck, die Hand +p 063: ausgewachene Riesenschildkröte -> ausgewachsene +p 063: Das es jetzt ... nicht mehr gibt, -> Da +p 065: bilden kann, ohne das -> daß +p 067: alle sozialen und sozial-psychologischen Phänomen -> Phänomene +p 069: Schwäche und Dumheit -> Dummheit +p 072: Jacob Silberland den geringsten Kummer -> Jakob +p 075: Rhytmus -> Rhythmus +p 076: [corrected quotes] erinnern Sie sich noch?« +p 089: an Herren Seebeck erlauben -> Herrn +p 090: Denn wir wissen alles, was wir ihm schulden -> alle +p 090: [added period] im Buche der Menschheit stehen.« +p 092: allerhand Papier zusammen, die -> Papiere +p 093: [removed comma] fünfhunderteinundzwanzig, Mark. +p 097: geklatscht und gestrampelt -> getrampelt +p 106: antworetete der Krüppel -> antwortete +p 108: [added comma] Rechtsstreitigkeiten«, wie [...] ausdrückt +p 108: alle Steitigkeiten durch -> Streitigkeiten +p 116: [unified] Orang-Utans vorfinden«. -> vorfinden.« +p 122: Arbeit ausführen nnd -> und +p 122: die wir jetzt darstellen, -> darstellen. +p 139: [added period] Schatten auf sie. +p 145: stand der Krüppel auf; -> auf: +p 151: [added period] die sich auf dem Tische befand. +p 156: Proviant für viezehn Tage -> vierzehn +p 167: [corrected quotes] praktische Bedeutung hat?« +p 183: [unified] der Vorstandsschaft -> Vorstandschaft +p 201: [corrected quotes] »Woher wissen Sie das?« +p 213: [unified] Herr Reichkommissar -> Reichskommissar +p 214: Reipeitsche -> Reitpeitsche +p 227: ihr auf den Rückwege -> dem +p 233: [corrected quotes] »Wir sind verraten.« +p 233: [completed ellipsis] ausliefern und uns ergeben .. « -> ...« +p 241: [added period] Gut, daß Sie kommen. +p 245: der menschlichen Körper sich -> menschliche +p 247: Neue Freie Prese -> Presse +p 248: ERSCHIEN FENRER -> FERNER + +The original spelling has been maintained throughout the book, +particularly for the following words: + +p 011: grinzend +p 058: Karrikatur +p 074, 172: endgiltig +p 178: kennte ] + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Phantasten, by Erich von Mendelssohn + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PHANTASTEN *** + +***** This file should be named 18620-8.txt or 18620-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/1/8/6/2/18620/ + +Produced by Markus Brenner and the Online Distributed +Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Phantasten + +Author: Erich von Mendelssohn + +Release Date: June 19, 2006 [EBook #18620] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PHANTASTEN *** + + + + +Produced by Markus Brenner and the Online Distributed +Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + + + + + +</pre> + + +<!-- +<p><a class="page" name="Page_1" id="Page_1" title="1"></a>[Blank Page]</p> +<p><a class="page" name="Page_2" id="Page_2" title="2"></a>[Blank Page]</p> +--> +<p><a class="page" name="Page_3" id="Page_3" title="3"></a></p> +<div class="titlepage"> +<h2>ERICH VON MENDELSSOHN</h2> + +<h1>PHANTASTEN</h1> + +<h3>ROMAN</h3> + +<h4>BERLIN 1912<br /> +VERLEGT BEI OESTERHELD & CO.</h4> +</div> + +<div class="textbody"> +<p><a class="page" name="Page_4" id="Page_4" title="4"></a></p> +<p class="copyright">Copyright 1912<br /> +by Oesterheld & Co. Berlin W. 15</p> + +<p><a class="page" name="Page_5" id="Page_5" title="5"></a></p> +<p class="writtenin">GESCHRIEBEN IM SOMMER 1911</p> + +<!-- <p><a class="page" name="Page_6" id="Page_6" title="6"></a>[Blank Page]</p> --> + +<p><a class="page" name="Page_7" id="Page_7" title="7"></a></p> +<p class="dedication"> +<span class="name">ALEXANDRA JEGOROWNA<br /></span> +zugeeignet</p> + +<!-- <p><a class="page" name="Page_8" id="Page_8" title="8"></a>[Blank Page]</p> --> + + + + +<p><a class="page" name="Page_9" id="Page_9" title="9"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Vor</span> neun Tagen hatte der Lloyddampfer +»Prinzessin Irene« Sidney verlassen, und deshalb +übte der Anblick des grenzenlosen Wassers +keinen Reiz mehr auf die Passagiere aus. Am +wenigsten an einem Tage wie heute, wo ein feiner +Staubregen durch alle Kleider drang und einen +frösteln machte. Für solche Tage hatte man ja +in den Salons alle die Annehmlichkeiten, die ein +moderner Luxusdampfer bietet.</p> + +<p>Als Paul Seebeck auf das Deck hinaus trat, +schlug er den Kragen seines langen, englischen +Überziehers hoch und schaute sich um. Ein Augenblick +genügte ihm, um festzustellen, daß er ganz +allein war. Wohl hatte ihm der Kapitän ein für +allemal die Erlaubnis gegeben, so oft es ihm gefiele +zu ihm auf die Kommandobrücke zu kommen +– denn Seebeck störte nie, am wenigsten durch +unnötige Fragen, seine Anwesenheit verkürzte dagegen +die lange Wacht – doch Paul Seebeck +scheute sich, die anderen Passagiere auf seine bevorzugte +Stellung aufmerksam zu machen, um dem +Kapitän keine Unannehmlichkeiten zu bereiten.</p> + +<p><a class="page" name="Page_10" id="Page_10" title="10"></a>Jetzt stand der große, starke, doch etwas fette +Mann neben dem kleinen Kapitän auf der Kommandobrücke.</p> + +<p>»Schade, daß das Wetter heute so trübe ist«, +sagte der Kapitän, »sonst könnten wir dort im +Nordosten die Santa-Cruz-Inseln sehen.« Er rollte +die Seekarte auf und wies mit dem zusammengeklappten +Zirkel auf den Punkt, wo das Schiff +sich im Augenblicke befand. »Aber ich glaube, +daß es bald etwas aufhellen wird.«</p> + +<p>Paul Seebeck nahm ein Fernglas, sah erst nach +Nordosten und folgte dann weiter dem Horizonte.</p> + +<p>Der Kapitän fuhr fort:</p> + +<p>»Morgen kommen wir sozusagen aus den englischen +Gewässern heraus und in deutsche hinein.«</p> + +<p>Paul Seebeck ließ das Glas sinken:</p> + +<p>»Deutsche Gewässer, Herr Kapitän?«</p> + +<p>»Nun ja, die des Bismarckarchipels.«</p> + +<p>Paul Seebeck hob wieder das Glas und schaute +unverwandt nach Norden, dann reichte er es dem +Kapitän und sah auf den Himmel:</p> + +<p>»Sie haben natürlich wieder Recht, es wird +wirklich heller. Aber gerade dort vor uns liegen +dicke Wolken. Sehen Sie mal hin.«</p> + +<p>Der Kapitän sah erst durch das Glas in der +angegebenen Richtung, dann mit bloßen Augen +<a class="page" name="Page_11" id="Page_11" title="11"></a>und dann wieder durch das Glas. Schließlich sagte +er kopfschüttelnd:</p> + +<p>»Merkwürdig.«</p> + +<p>»Befürchten Sie ein Gewitter, Herr Kapitän?« +fragte Paul Seebeck gleichmütig.</p> + +<p>»Ich weiß gar nicht, was ich aus dem Ding +machen soll. Nein, eine Gewitterwolke ist es +nicht.«</p> + +<p>Jetzt wandte sich der Matrose, der das Steuerrad +bediente, grinzend herum und sagte breit:</p> + +<p>»Herr Kapitän, die ist ja von einem Vulkane!«</p> + +<p>Der Kapitän war so interessiert, daß er gar nicht +daran dachte, den Matrosen zurechtzuweisen. Er +rollte die Seekarte wieder auf, bestimmte die +augenblickliche Lage des Schiffes ganz genau, +prüfte den Kompaß und sagte dann:</p> + +<p>»Unmöglich, dort liegt kein Land.«</p> + +<p>Eine halbe Stunde verging, und alle schwiegen; +der Kapitän und Paul Seebeck schauten aber abwechselnd +durch das Fernglas auf die schwere, +dunkelgraue Wolke. Endlich sagte Paul Seebeck:</p> + +<p>»Das ist und bleibt ein Vulkan mit der berühmten, +pinienartigen Rauchsäule, und wenn er nicht auf +der Karte steht, ist es ein Fehler der Karte, und +nicht des Vulkans.«</p> + +<p>Der Kapitän schüttelte ungläubig den Kopf:</p> + +<p><a class="page" name="Page_12" id="Page_12" title="12"></a>»Es kann nur eine sonderbar geformte Wolke +sein; es ist ganz undenkbar, hier mitten auf einer +so befahrenen Route eine neue Insel zu entdecken.«</p> + +<p>»Aber wenn es eine neu entstandene wäre, Herr +Kapitän?« warf Paul Seebeck ein. »Denken Sie +doch an die große Flutwelle vor zwei Monaten, +die die ganze nördliche und östliche Küste Australiens +überschwemmt hat.«</p> + +<p>»Donnerwetter!« rief der Kapitän. »Das wäre +ja –«</p> + +<p>Er wollte das Glas heben, aber jetzt kam von der +Seite her ein feiner, durchdringender Staubregen, +der in wenigen Augenblicken die Aussicht verschleierte. +Die Herren hüllten sich fester in ihre +Mäntel.</p> + +<p>Der Regen wurde stärker und stärker, und außerdem +brach schnell die Nacht herein.</p> + +<p>»Kommen Sie in meine Kabine«, sagte endlich +der Kapitän. »Ich möchte die Sache gern mit +dem Ersten Offizier besprechen, und außerdem +wird uns jetzt ein warmer Punsch ganz gesund sein.«</p> + +<p>»Danke, gern.«</p> + +<p>Wie der Kapitän dem Ersten Offizier die Möglichkeit +andeutete, in der Nähe einer neu entstandenen +Insel zu sein, eilte dieser sofort auf die +Kommandobrücke, um selbst Umschau zu halten, +kehrte aber bald enttäuscht zurück, da er des +<a class="page" name="Page_13" id="Page_13" title="13"></a>Dunkels und des Regens wegen nichts hatte wahrnehmen +können.</p> + +<p>Als die drei Herren in der Kajüte bei einem +Glase Punsch zusammensaßen und der Kapitän +mit dem Ersten Offizier alle Eventualitäten und +die vorzunehmenden Maßnahmen besprach, zog +sich Paul Seebeck in eine Ecke zurück und schwieg, +wobei er doch aufmerksam dem Gespräch lauschte, +das immer mehr an Fluß verlor und zuletzt ganz +aufhörte. Schließlich saßen die Drei schweigend +da, und jeder hing seinen Gedanken nach.</p> + +<p>Endlich sah der Kapitän nach der Uhr:</p> + +<p>»Meine Herren, jetzt sind wir schon drei Stunden +hier unten. Wie wäre es, wenn wir wieder hinaufgingen +und nach unserer Wolkeninsel sähen?«</p> + +<p>Paul Seebeck lachte laut auf:</p> + +<p>»Bravo, Herr Kapitän. Vielleicht hat sie sich +schon längst aufgelöst, während wir sie hier in +aller Ruhe erobern.«</p> + +<p>Als sie auf Deck hinaustraten, sahen sie, daß +Nebel und Regen völlig verschwunden waren, und +daß klar der Mond schien. Passagiere gingen +plaudernd und rauchend auf und ab, oder saßen, +in Plaids gehüllt, auf Feldstühlen. Paul Seebeck +hatte aber seine gewohnte Zurückhaltung völlig +aufgegeben und folgte zusammen mit dem Ersten +Offizier dem Kapitän auf die Kommandobrücke.</p> + +<p><a class="page" name="Page_14" id="Page_14" title="14"></a>Jetzt war kein Zweifel mehr möglich: vor ihnen +lag, steil dem Meere entsteigend, ein Vulkan, über +dessen kegelförmiger Spitze – aber ohne diese zu +berühren – eine ungeheure, blauschwarze Wolke +schwebte. Durch das Fernglas sah man in einigen +Rissen am Krater die Lava glühend herabsinken.</p> + +<p>Als Erster brach Paul Seebeck das Schweigen:</p> + +<p>»Wie weit, Herr Kapitän –?« fragte er. Der +Kapitän drehte sich schnell herum und betrachtete +Paul Seebeck ganz fremd, als ob er seine Gedanken +erst sammeln müßte. Dann schaute er wieder +auf den Vulkan und sagte:</p> + +<p>»Sechzig Seemeilen schätze ich.«</p> + +<p>»Dann sind wir also in vier Stunden dort?«</p> + +<p>»Ja, wenn die Lotungen uns nicht zu lange aufhalten.«</p> + +<p>»Ach, Sie glauben, daß sich der ganze Meeresboden +gehoben hat?«</p> + +<p>»Ich muß wenigstens mit der Möglichkeit rechnen.«</p> + +<p>Der Erste Offizier hatte inzwischen unausgesetzt +den Vulkan durch das Nachtglas angesehen. Jetzt +sagte er:</p> + +<p>»Herr Kapitän, der Vulkan liegt auf einem +ziemlich breiten Hochlande. Wir scheinen eine +Insel von ganz achtbarer Größe da vor uns zu +haben.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_15" id="Page_15" title="15"></a>Paul Seebeck senkte den Kopf und sah vor sich +hin. Dann ging gleichsam ein Ruck durch ihn; +er strammte sich auf, sah dem Kapitän fest in +die Augen und sagte langsam:</p> + +<p>»Herr Kapitän, jetzt ist es zehn Uhr; Sie sagten +selbst, daß wir vor vier Stunden nicht dort sein +können, also nicht vor zwei Uhr nachts. Um Zwölf +wird aber alles elektrische Licht ausgelöscht, so +daß dann kein Passagier mehr auf sein kann. Sie, +der Herr Erste Offizier und ich sind die Einzigen, +die wissen, daß wir dort eine neu entstandene +Insel vor uns haben. Die anderen haben nichts +gesehen, oder wenn sie die Insel gesehen haben, +ist sie ihnen nicht weiter aufgefallen. Wollen Sie +mich um zwei Uhr an Land setzen und Schweigen +bewahren?«</p> + +<p>Der Kapitän sah ihn überrascht an: »Herr +Seebeck – überlegen Sie sich’s – eine neuentstandene, +vulkanische Insel! Heißer Boden! Ich +habe doch die Verantwortung, auch für Sie. Und +dann – in das Schiffsbuch muß ich die Sache doch +eintragen.«</p> + +<p>Paul Seebeck preßte die Lippen zusammen: +»Gewiß, gewiß –«</p> + +<p>Nach kurzem Schweigen fuhr er auf. »Herr +Kapitän, ich habe nichts Unrechtes vor. Ich will +die Insel für das Deutsche Reich in Besitz nehmen. +<a class="page" name="Page_16" id="Page_16" title="16"></a>Machen Sie Ihre Eintragungen in das Schiffsbuch, +es wird sie ja niemand anders als die Rhederei +sehen. Wollen Sie Beide mir aber versprechen, das +heißt, können Sie mir versprechen, absolutes +Schweigen zu bewahren, Sie und die Herren in +Bremen, die das Schiffsbuch eventuell lesen? Absolutes +Schweigen nur drei Tage lang zu bewahren? +Wenn im Laufe dieser drei Tage nicht telegraphisch +eine Bitte vom Reichskolonialamt eingelaufen ist, +länger zu schweigen, sind Sie völlig frei.«</p> + +<p>Der Kapitän sah Paul Seebeck an.</p> + +<p>»Einem andern würde ich ein solches Versprechen +nicht geben, das mir meine Stellung kosten kann. +Ihnen gebe ich es.«</p> + +<p>»Ich danke Ihnen, Herr Kapitän, Sie werden es +nicht zu bereuen haben.«</p> + +<p>»Auch ich gebe Ihnen das Versprechen«, fügte +der Erste Offizier hinzu.</p> + +<p>Paul Seebeck senkte dankend den Kopf.</p> + +<p>Nach einer Weile wandte sich der Kapitän wieder +Paul Seebeck zu:</p> + +<p>»Verstehe ich Sie recht, wollen Sie sofort von +Bremen nach Berlin fahren?«</p> + +<p>Paul Seebeck schaute auf:</p> + +<p>»Nein, ich bleibe dort und gebe Ihnen einen +Brief an einen Freund mit, der alles für mich +ordnen wird.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_17" id="Page_17" title="17"></a>Der Kapitän schüttelte den Kopf:</p> + +<p>»Ich kann Sie nicht an Land setzen lassen, +Herr Seebeck. Die Verantwortung übernehme ich +nicht.«</p> + +<p>»Ich werde in meinem eigenen Motorboot hinüberfahren.«</p> + +<p>»Ich werde Sie leider daran verhindern müssen.«</p> + +<p>»Herr Kapitän! Glauben Sie das verantworten +zu können?«</p> + +<p>Der Kapitän stutzte einen Augenblick. Dann +schlug er Seebeck lachend auf die Schulter und +sagte:</p> + +<p>»Ich kann Sie ja nicht mit Gewalt festhalten, +dazu wissen Sie zu genau, was Sie wollen. Aber +erklären Sie mir doch, wie Sie sich alles denken.«</p> + +<p>Wieder sah Paul Seebeck dem Kapitän fest ins +Gesicht und sagte ganz langsam:</p> + +<p>»Ich habe mein Motorboot, mein Zelt und Konserven +für zwei Monate. Ich werde Sie bitten, mir +drei gewöhnliche Feuerwerksraketen zu geben. Sie +haben sie ja an Bord zur Unterhaltung Ihres +Publikums. Wir machen das Motorboot mit allem +Inhalt klar, so daß wir es in einigen Minuten ins +Wasser setzen können. Wir kommen ja dicht an +der Insel vorbei. Sobald wir vom Schiffe aus einen +Landungsplatz sehen, setzen Sie mich ins Wasser. +Sie sind dann so liebenswürdig, mit halber Kraft +<a class="page" name="Page_18" id="Page_18" title="18"></a>weiterzufahren. Komme ich glücklich ans Land, +lasse ich alle drei Raketen aufsteigen, und Sie +dampfen ruhig weiter. Ich verspreche Ihnen, es +erst dann zu tun, wenn ich heil und gesund am +Lande bin. Lasse ich nur zwei Raketen steigen, +bedeutet das, daß ich nicht landen kann und Sie +auf mich warten müssen. Eine Rakete allein heißt, +daß ich in Gefahr bin, und Sie mir ein Boot zu Hilfe +schicken müssen. Einverstanden?«</p> + +<p>»Ja, unter der Bedingung, daß Sie sich vom Schiff +noch so viele Konserven mitnehmen, daß Sie für +ein halbes Jahr versorgt sind. Nach drei Monaten +bin ich zwar wieder hier –«</p> + +<p>»Und mein Freund, Jakob Silberland, ist dann +mit Ihnen.«</p> + +<p>»Der Herr, der zum Kolonialamt gehen soll?«</p> + +<p>»Derselbe. Ich danke Ihnen, Herr Kapitän.«</p> + +<p>»Sie haben mir nichts zu danken. Ich bitte +Sie nur, in meine Kabine zu gehen und sich alles +noch einmal in Ruhe zu überlegen. Dort können +Sie auch Ihren Brief schreiben. Lassen Sie sich +auch Ihr Abendessen dorthin bringen, damit Sie +ganz ungestört sind. In einer Stunde komme ich +zu Ihnen hinunter, und wir können dann alles bis +ins Kleinste besprechen.«</p> + +<p>Paul Seebeck verließ mit einer leichten Verbeugung +die Kommandobrücke.</p> + +<p><a class="page" name="Page_19" id="Page_19" title="19"></a>– – – Drei Stunden nach Mitternacht lag der +Dampfer eine Seemeile vor dem steil abfallenden, +zerrissenen Ufer entfernt, das vom Mondlichte +schwarz und groß auf das Wasser gezeichnet wurde.</p> + +<p>Leise Kommandorufe ertönen – ein Krahn dreht +sich, und unter Kettengerassel sinkt ein Motorboot +auf die kaum gekräuselte Wasserfläche. Halblaute +Abschiedsrufe, ein Winken und Grüßen, der Motor +wird eingestellt, und das Boot saust davon. Langsam +und schwer brodelt es unter der Schraube des +Dampfers, und jetzt setzt sich der Koloß in Bewegung.</p> + +<p>Der Kapitän steht auf der Kommandobrücke +und verfolgt mit dem Nachtglase das Motorboot. +Jetzt verschwindet es hinter einer Klippe, taucht +dann tief in den Mondschatten, biegt um einen +Felsen und ist fort. Eine Viertelstunde später +steigen drei Raketen fast gleichzeitig in die Luft. +Aufatmend stellt der Kapitän den Telegraphen +auf »Volldampf«.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_20" id="Page_20" title="20"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Als</span> Dr. phil. et jur. Jakob Silberland unter dem +Schutze seines übermäßig großen Schirmes +dem Café Stephanie zueilte, gab es nicht Wenige, +die trotz des strömenden Regens stehen blieben +und ihm wohlwollend lächelnd nachblickten. Das +war auch nicht wunderlich, denn Jakob Silberland +bildete eine sonderbare Figur. Auf kurzen +Beinchen saß ein dicker Leib mit viel zu langen +Armen, und im Gesichte bildeten die heiteren, +offenen Augen einen seltsamen Gegensatz zu der +scharfgekrümmten Nase und der hohen, ausdrucksvollen +Stirn, über die das blauschwarze +Haar in einigen glänzenden, langen Strähnen fiel.</p> + +<p>Sobald Jakob Silberland das Café betreten hatte, +holte er sich vom Ständer sechs oder acht Zeitungen +und legte sie auf einen Tisch am Fenster. Dann +erst hängte er Schirm und Hut an einen Haken, +wobei er doch ständig seine Zeitungen im Auge +behielt. Als er seinen Mantel auszog, wobei ein +abgetragener und etwas fleckiger Gehrock sichtbar +wurde, eilte der Kellner hilfsbereit herbei und +sagte:</p> + +<p><a class="page" name="Page_21" id="Page_21" title="21"></a>»Guten Tag, Herr Doktor. Heute früh war der +Briefträger mit einem eingeschriebenen Brief für +den Herrn Doktor da. Ich sagte ihm, er solle am +Nachmittage wiederkommen, dann wäre der Herr +Doktor bestimmt hier.«</p> + +<p>Dr. Silberland sagte nur: »Danke« und eilte +auf seinen kurzen Beinchen zu seinen Zeitungen, +in denen eben ein anderer Gast zu blättern begann. +Als er sich richtig zurechtgesetzt und seine Zeitungen +sortiert hatte, bestellte er einen Kaffee und +begann, die Brust an den Tischrand gedrückt, +eifrig zu lesen. Gerade als er die Kreuzzeitung mit +gerunzelter Stirn fortlegte und aufatmend nach +dem »Vorwärts« griff, erschien, vom Kellner geführt, +der Briefträger an seinem Tische und übergab +ihm einen eingeschriebenen Brief. Silberland erkannte +sofort die Handschrift seines Freundes +Paul Seebeck, schob mit einer energischen Armbewegung +die Zeitungen zur Seite, quittierte, gab +dem Briefträger zwanzig Pfennige und öffnete den +Brief. Hierbei fiel ein zusammengefaltetes Checkformular +heraus, das Silberland sofort in seine +Brieftasche steckte. Der Brief lautete:</p> + +<p>»An Bord des Lloyddampfers »Prinzessin Irene«.</p> + +<p class="center">Lieber Jakob!</p> + +<div class="blockquot"><p>Von dem wenig befriedigenden Ausfall meiner +australischen Expedition wirst du durch die +<a class="page" name="Page_22" id="Page_22" title="22"></a>Zeitungen erfahren haben. Übrigens war der +Verlauf viel kläglicher, als die Zeitungsberichte +erkennen ließen.</p> + +<p>Ich freue mich aber jetzt, daß ich so mißgestimmt +und so unzufrieden mit mir selbst die +Rückreise antrat, denn dadurch hatte ich gerade +die richtige Disposition zu neuen Dingen, die +ernsthafter sind.</p> + +<p>Paß mal auf: wir haben eine neuentstandene, +vulkanische Insel entdeckt, und zwar bin ich der +erste, der sie sah. Ich bin dort geblieben und +habe sie für das Deutsche Reich in Besitz genommen. +Die Sache ist Geheimnis, nur der +Kapitän und der Erste Offizier von der »Prinzessin +Irene« wissen davon, und die schweigen.</p> + +<p>Wo die Insel liegt, usw., kannst du von diesen +beiden Herren erfahren.</p> + +<p>Bitte geh sofort nach Berlin, zum Reichskolonialamt, +und laß mir eine unbeschränkte +Vollmacht als Reichskommissar ausstellen, so +daß ich bis auf weiteres mit der Insel machen +kann, was ich will. Die Leute sollen aber schweigen, +bis erst feststeht, ob die Insel bewohnbar +ist oder nicht. Sonst ist die Blamage nachher +zu groß. Du gibst natürlich sofort deine alberne +Stellung bei den »Neuesten« auf und kommst +mit der »Prinzessin Irene« hierher. Ein Scheck +<a class="page" name="Page_23" id="Page_23" title="23"></a>auf zehntausend Mark liegt bei: bezahl alle +deine Schulden, daß du vollständig unabhängig +bist. Mach sonst aber nicht zu viele Ausgaben, +denn ich werde hier mein Geld wohl sehr nötig +brauchen. Eine Tropenausrüstung mußt du aber +haben.</p> + +<p>Du verstehst, was ich will: ich denke an unsere +Gespräche über den absolut korrekten Staat, +der durch keinerlei Traditionen und Rücksichten +gehemmt ist. Wir haben ja oft darüber debattiert, +wie ein solcher moderner Staat auszugestalten +sei – hier können wir ihn gründen, wenn auch +nur in einem kleinen Maßstabe.</p> + +<p>Alle Einzelheiten überlasse ich dir, nur besorge +mir die Vollmacht und komm her. Setz +dich aber auch mit dem Kapitän in Verbindung. +Der Mann ist praktisch und wird dich über +Einzelheiten informieren.</p> + +<p>Entschuldige die Kürze. Ich kann dir aber +in dieser Eile nicht alle meine Gedanken auseinandersetzen; +es ist wohl auch unnötig, eigentlich +ergibt sich ja alles von selbst.</p> + +<p>Überlege dir aber jeden Schritt, den du tust.</p> + +<p class="regards">Gruß</p> + +<p class="signature">dein Paul S.«</p> +</div> + +<p>Als Jakob Silberland diesen Brief zu Ende gelesen +hatte, fuhr er sich mehrmals mit der Hand +<a class="page" name="Page_24" id="Page_24" title="24"></a>durch das lange, schwarze Haar. Dann rührte er +bedächtig seinen Kaffee um, der längst kalt geworden +war. Gerade, wie er ihn trinken wollte, +kam der Kellner und sagte:</p> + +<p>»Herr Doktor, die Redaktion fragt am Telephon, +ob Sie noch hier wären.«</p> + +<p>»Sagen Sie, ich wäre gegangen«, gab Silberland +zur Antwort, »und bringen Sie mir eine Zigarre.«</p> + +<p>»Wie gewöhnlich eine zu Zehn?«</p> + +<p>»Ja – nein, eine zu Fünfzig!« sagte Jakob +Silberland würdevoll. »Und besorgen Sie mir ein +Auto.«</p> + +<p>»Sehr wohl, Herr Doktor«, sagte der Kellner mit +der solchen ungewohnten Aufwendungen zukommenden +Ehrerbietung.</p> + +<p>Jakob Silberland aber fuhr, die feine Zigarre in +der Hand, im Auto zur Dresdener Bank, wo er +den Scheck einlöste, und unternahm dann eine +längere Rundfahrt durch die Stadt, um alle seine +kleinen und größeren Schulden zu bezahlen, die +zusammen kaum zweitausend Mark betrugen. Zuletzt +begab er sich auf seine Redaktion, wo er +gegen Stellung eines Vertreters leicht entlassen +wurde, da er kein angenehmer Kollege gewesen war.</p> + +<p>Mit dem Abendschnellzuge fuhr er nach Berlin.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_25" id="Page_25" title="25"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Drei</span> Monate später saßen Paul Seebeck und +Jakob Silberland in ihren blendend weißen Flanellanzügen +auf einem Steinblock am Strande, +rauchten ihre kurzen, englischen Pfeifen und sahen +der langsam verschwindenden »Prinzessin Irene« +nach. Endlich sagte Jakob Silberland:</p> + +<p>»Etwas Urweltliches liegt über der ganzen Insel: +der Vulkan, die nackten Felsen, der Mangel jeglichen +tierischen Lautes – es kommt mir fast vor, +als ob ich um viele Millionen von Jahren in der +Zeit zurückversetzt sei. Es würde mich gar nicht +wundern, wenn plötzlich ein Ichthyosaurus oder +sonst irgend ein Ungeheuer aus dem Wasser auftauchte.«</p> + +<p>Paul Seebeck hatte nachdenklich seine Pfeife +ausklopfend ihm zugehört. Jetzt hob er den Kopf +und sagte lächelnd:</p> + +<p>»Die Ungeheuer wirst du schon noch zu sehen +bekommen. Nur etwas Geduld.«</p> + +<p>Jakob Silberland lachte:</p> + +<p>»Hast du hier eine Ichthyosauren-Farm angelegt? +Das Geschäft dürfte doch kaum lohnend +<a class="page" name="Page_26" id="Page_26" title="26"></a>sein. Sobald die Zoologischen Gärten versorgt sind, +würde der Weltbedarf gedeckt sein, und was +dann?«</p> + +<p>Es zuckte um Seebecks Mundwinkel, als ob er +mit Mühe ein Lächeln unterdrückte.</p> + +<p>»Aber wovon wollen wir hier sonst leben, wenn +nicht von Ichthyosauren? Es gibt ja keinen Grashalm +auf der ganzen Insel, keinen Vogel, keinen +Floh, nichts. Soweit ich als gebildeter geologischer +Laie urteilen kann, ist auch das Vorkommen von +wertvollen Mineralien zum mindesten höchst unwahrscheinlich. +Da bleiben doch nur die Ichthyosauren +übrig. Außerdem finde ich den Gedanken +sehr ansprechend, daß der modernste aller Staaten +von urweltlichen Tieren lebt. Damit schließt sich +zurückgreifend der Ring und löscht die Zeit aus. +Anfang und Ende berühren sich.«</p> + +<p>Jakob Silberland sprang auf:</p> + +<p>»Ist das dein Ernst?«</p> + +<p>Seebeck blieb sitzen und sagte gemütlich:</p> + +<p>»Du sollst etwas Geduld haben. Ich werde dir +meine Saurierfarm schon zeigen. Die größte +Ichthyomuttersau habe ich übrigens voll Dankbarkeit +gegen das gütige Schicksal »Prinzessin +Irene« getauft.«</p> + +<p>Damit stand er auf und ging zu seinem Zelt, das +einige Schritte rückwärts im Schutze einer schrägen +<a class="page" name="Page_27" id="Page_27" title="27"></a>Felswand stand. Er kam mit einigen Papierrollen +zurück.</p> + +<p>»Sieh mal her«, sagte er, indem er die Blätter +entfaltete und jedes an den vier Ecken mit Steinchen +beschwerte, »hier habe ich, so gut ich es allein +machen konnte, die Insel aufgenommen. Die Küste +und diese Bucht habe ich recht genau, im Inneren +bin ich flüchtiger gewesen und außerdem habe ich +größere Strecken der heißen Lava wegen nicht +betreten können. Hier hast du die ganze Insel mit +den Schären eins zu dreihunderttausend«, fuhr er +fort, wobei er sich über das betreffende Blatt beugte, +»der Flächeninhalt beträgt ungefähr zwölfhundert +Quadratkilometer, wovon der Vulkan allein fast +vierzig bedeckt. Hier ist unsere Bucht eins zu zehntausend. +Sie ist mit der Nebenbucht dort rechts +von uns überhaupt die einzige Bucht der ganzen +Insel. Ich habe sie bei Tiefebbe aufgenommen. +Die rote Küstenlinie und die rot gezeichneten +Schären beziehen sich auf Tiefebbe, die entsprechenden +blauen Linien auf Hochflut. Du siehst, +daß unzählige Schären und Klippen nur bei Tiefebbe +über die Wasserfläche emporragen. Bei +Tiefebbe ist überhaupt nur eine einzige, schmale +und dabei stark gewundene Rinne selbst für mein +kleines, flaches Motorboot passierbar. Ich kam +glücklicherweise bei Hochflut, sonst wäre ich überhaupt +<a class="page" name="Page_28" id="Page_28" title="28"></a>nie lebendig hier ans Land gekommen.« +Mit der Hand aufs Meer weisend, sagte er: »Die +äußerste Felsenspitze dort links ist etwa siebenhundert +Meter hoch und fünf Kilometer von uns +entfernt, die dort rechts dreihundert Meter hoch +und vier Kilometer entfernt. Die Entfernung +zwischen beiden beträgt drei Kilometer. Diese +Bucht stellt den einzigen Hafen, überhaupt die +einzige Landungsmöglichkeit dar. Zwischen der +Spitze rechts und dem Kap, das ein wenig darüber +hervorragt, liegt eine zweite, breite, aber sehr +flache Bucht mit unzähligen Felsen und Klippen. +Dahin kann man zu Wasser, aus Gründen, die dir +später klar werden, nicht kommen, und vom Lande +aus nur mit Hilfe eines Seiles. Sogar ich als Bergsteiger +habe dort nur schwer hinunterklettern +können. Diese zweite Bucht habe ich Irenenbucht +getauft, der einzige Name, den ich bisher hier einer +Örtlichkeit gegeben habe.« Lächelnd setzte er +hinzu: »Dort liegt also meine Ichthyosaurenfarm.«</p> + +<p>Bevor der überraschte Silberland sich zu einem +Worte sammeln konnte, fuhr Paul Seebeck fort:</p> + +<p>»Denk dir unsern Standort hier als Mittelpunkt +eines Kreises mit dem Radius von fünf Kilometern, +also der Entfernung des Kap dort links. Dann +bezeichnet der Kreisbogen ziemlich genau die Grenze +eines submarinen Plateaus, auf dem alle diese +<a class="page" name="Page_29" id="Page_29" title="29"></a>Schären liegen. Wie tief der Meeresboden außerhalb +dieses Plateaus ist, weiß ich nicht; mein Lot ist +hundert Meter lang und mit ihm habe ich draußen +nirgendwo Grund gefunden. Sehr tief kann er +aber doch nicht sein, denn auch da draußen liegen +ja, wie du siehst, einige vereinzelte Klippen. Das +Plateau bricht aber steil ab; ich vermute, der +Schären da draußen wegen und auch aus anderen +Gründen, aber ein zweites, allerdings viel tiefer +liegendes, submarines Plateau. Der größte Teil +der Insel ist eine im großen Ganzen wagerechte +Hochebene, vier- bis siebenhundert Meter über dem +Meeresspiegel, die überall fast senkrecht abbricht. +Dann – ja, der große Vulkan – neunzehnhundert +Meter hoch, diese Mulde, mit ihren sechs Quadratkilometern +Fläche, die stufenweise, amphitheatralisch, +wenn du willst, bis zur Plateauhöhe emporsteigt +– damit ist wohl die Topographie der Insel +erschöpft. Ich habe sonst nicht viel Bemerkenswertes +auf meinen Streifzügen entdeckt, höchstens +wäre ein seltsames Durcheinander von Schluchten +erwähnenswert, das am Fußpunkte des Vulkanes +liegt und mich da am Weiterkommen hinderte.«</p> + +<p>»Und wie denkst du dir die Entstehung der +Insel?« fragte Jakob Silberland.</p> + +<p>»Ich bin kein Geologe. Daß die Insel erst jetzt +entstanden ist, glaube ich nicht. Sie wird schon +<a class="page" name="Page_30" id="Page_30" title="30"></a>einmal dagewesen sein, und zwar viel größer als +jetzt, ist dann unter die Oberfläche des Meeres gesunken +und hat sich jetzt wieder darüber gehoben, +doch nicht bis zu ihrer ursprünglichen Höhe. Und +zwar glaube ich nicht, daß sie sehr lange unten +gewesen ist, einige hundert Jahre höchstens.«</p> + +<p>»Woher kannst du das wissen?«</p> + +<p>»Die Steine sehen mir nicht aus, als ob sie +lange Meeresboden gebildet hätten.«</p> + +<p>Damit stand Paul Seebeck auf, rollte seine Kartenskizzen +zusammen und brachte sie in sein Zelt. +Als er zurückkam, sagte er, vor Jakob Silberland +stehen bleibend:</p> + +<p>»Ist das nicht ein ganz idealer Grund für eine +Stadt? Alle Straßenzüge, sogar die Plätze der einzelnen +Häuser sind von der Natur vorausbestimmt. +Ich kann mir die ganze Stadt so lebendig vorstellen, +wie sie sich den Felsen anschmiegt, wie sie in ihrer +Struktur den Stufen folgt. Aber wir müssen einen +Architekten haben, der einen ganz neuen Stil +schaffen kann. Einen großzügigen Künstler wie +Edgar Allan. Dort oben –« und er wies mit der +Hand auf einen vorspringenden Felsen – »soll +mein Haus stehen. Von dort aus kann ich alles +übersehen.«</p> + +<p>»Du fühlst dich schon jetzt als König?«</p> + +<p><a class="page" name="Page_31" id="Page_31" title="31"></a>»König? Nein, nein!« wehrte Paul Seebeck erschrocken +ab. Er sah still vor sich hin. Dann sagte +er, lächelnd wieder aufblickend:</p> + +<p>»Komm jetzt. Wir wollen etwas zu Abend essen. +Dann werde ich dir meine Ichthyosaurenfarm +zeigen.«</p> + +<p>Da es fast Windstille war, beschlossen sie, vor +dem Zelte ihre Mahlzeit einzunehmen. Als Jakob +Silberland sah, daß Paul Seebeck seinen Destillationsapparat +aufstellte, und Wasser vom Meere holte, +fragte er besorgt:</p> + +<p>»Gibt es denn gar kein Trinkwasser auf der +Insel?«</p> + +<p>»Doch, es gibt einen Bach hier in der Nähe, der +wohl zur Versorgung einer kleinen Stadt ausreichen +dürfte, und weiter oben einen großen Fluß. Es +wird aber nicht leicht sein, ihn einzufangen und +hier herunter zu leiten, denn er fällt mehrere +Kilometer von hier in einem schönen Wasserfalle +direkt vom Hochplateau aus ins Meer.«</p> + +<p>Als sie gegessen hatten – der Kapitän hatte +Jakob Silberland einen Korb mit frischem Fleisch +und Gemüse aus den Vorräten des Schiffes mitgegeben, +so daß Paul Seebeck nach den vielen +Wochen mit Konservennahrung endlich einmal +etwas anderes bekommen hatte – rief Jakob +Silberland:</p> + +<p><a class="page" name="Page_32" id="Page_32" title="32"></a>»Aber jetzt will ich nicht länger warten; jetzt +mußt du mir deine Ichthyosauren vorführen. Ich +bin wirklich sehr gespannt, zu erfahren, wovon wir +hier leben sollen, besonders, was wir von hier +exportieren können.«</p> + +<p>»Schön«, sagte Seebeck. »Komm!«</p> + +<p>Sie stiegen langsam in der mit Geröll bedeckten +Mulde bergauf, und Paul Seebeck erklärte dabei +seinem Freunde, wie er sich die Anlage der Stadt +dachte. Der sonst so redselige Jakob Silberland +sprach auch jetzt nur wenig; zu sehr beschäftigten +seinen Geist die Perspektiven auf die Zukunft, +die ihm ja tausend Träume zu verwirklichen versprach.</p> + +<p>Als sie die Plateauhöhe erreicht hatten, blieb +Seebeck stehen und sagte:</p> + +<p>»Wenn man nicht ein anständiger Mensch wäre, +könnte man bei dem Gedanken ganz sentimental +werden, daß dieses reine, unberührte Land, das +keine Geschichte und keine Vorzeit hat, eine Gemeinschaft +von Menschen auf sich wachsen und +blühen sehen wird, die auch jungfräulich frei, ohne +Verbindung mit der übrigen Menschheit, ohne +morsche Traditionen und ohne überlieferten Zwang, +irrende Sterne im großen Raume sind und die +hier sich nur auf Grund ihres reinen Menschentums +zusammenfinden und hier zusammenarbeiten werden. +<a class="page" name="Page_33" id="Page_33" title="33"></a>In der Traditionslosigkeit unseres zukünftigen +Staates sehe ich seine Bedeutung. Daß ich einigen +Hundert oder Tausend Menschen, die sonst in +keinen Rahmen passen, hier freie Entwicklungsmöglichkeiten +und Glück zu geben vermag, genügt +mir nicht. Vom ersten Augenblick an war mir +dieser Staat ein Begriff, ein Kunstwerk, eine formale +Befreiung. Ebenso, wie der Künstler durch +seine reine Darstellung befreit, durch die einseitige, +aber dadurch abschließende Form Klarheit +im Chaos schafft, soll für die übrigen +Menschen der Gedanke an unsere reine Insel eine +geistige Erlösung sein.«</p> + +<p>»Du siehst nicht weit genug«, sagte Jakob +Silberland, wobei er sich mit der Hand durch sein +blauschwarzes, strähniges Haar fuhr und erregt +mit seinen kurzen Beinchen trippelte. »Du sprichst +als Künstler. Ich bin Praktiker und als solcher +sehe ich noch eine Gewißheit: die Institutionen, +die hier entstehen, die wir hier schaffen werden, +werden beachtet, nachgeahmt werden, und unser +Staat wird das Seinige dazu beitragen, daß sich +die Menschheit aus den Ketten löst, in die Gewalttätigkeit, +Dummheit und Herrschsucht sie gelegt +haben. Sie wird durch uns lernen, frei zu sein, frei +in der geschlossenen Gemeinschaft zu werden. Man +muß ihr nur einmal zeigen, daß es möglich ist.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_34" id="Page_34" title="34"></a>Paul Seebeck sah mit seinen großen Augen dem +Freunde gerade ins Gesicht:</p> + +<p>»Ich hoffe, daß es so wird, wie du sagst. Es ist +ja auch sehr wahrscheinlich. Umsomehr, als wir +ja kaum einen bestimmten Ausschnitt aus der +Menschheit darstellen werden, nicht einen besonderen +Typus, sondern gerade einen Extrakt aus +der ganzen Menschheit. Stelle dir doch nur vor, +was für Menschen zu uns kommen werden«, fuhr +er lebhaft fort, wobei er sich in der Richtung auf +die Irenenbucht zum Gehen wandte, »jedenfalls +keine Durchschnittsmenschen, die irgendwo warm +und zufrieden in ihren Nestern sitzen, sondern die +Unzufriedenen, Bedrückten, Heimatlosen, alle die +von einander entferntesten Extreme, die nur das +eine verbindet: der Ekel vor der Verlogenheit der +Gesellschaft, die Sehnsucht nach dem freien, dem +wirklichen Menschen, dem Menschen, der jeder +einzelne sein könnte, wenn ihn nicht die Ketten +der Tradition zum Herdentiere erniedrigten. Hierher +werden sie kommen und nichts mitbringen, als +ihr innerstes, freies Menschentum, und ihre Gemeinschaft +wird die Erlösung des Menschen, des +Ebenbildes Gottes sein.«</p> + +<p>Jetzt standen sie vor dem steilen Abfalle zur +Irenenbucht. Paul Seebeck blickte noch eine Weile +schweigend und mit glänzenden Augen auf das +<a class="page" name="Page_35" id="Page_35" title="35"></a>Meer. Dann sagte er lächelnd zu seinem Freunde, +wobei er auf die Bucht unter ihnen mit ihrem Gewirr +von Klippen und Sandbänken wies:</p> + +<p>»Also dort unten hausen und grausen meine +Ichthyosauren.«</p> + +<p>Für Jakob Silberland kam dieser Sprung von +Paul Seebecks feierlichen Worten zum leichten +Scherze so überraschend, und außerdem wußte er +gar nicht, was er aus Paul Seebecks Ichthyosauren +machen sollte, daß er schweigend seinem Freunde +mit Hilfe von Strickleitern, Eisenklammern und +natürlichen Felszacken in die Tiefe folgte. Da +beide geübte Bergsteiger waren, ging der Abstieg +schnell von statten.</p> + +<p>Als sie unten auf einer breiten Felsplatte angekommen +waren und auf das Wasser sahen, das hier +schlammig und voll von grünen Algen war, sagte +Paul Seebeck:</p> + +<p>»Setz dich jetzt hier in den Schatten und verhalte +dich ganz ruhig.«</p> + +<p>Jakob Silberland tat, wie ihm geheißen. Er sah, +daß Paul Seebecks umherschweifender Blick immer +wieder zu einer tiefen dunklen Spalte in der Felsenwand +zurückkehrte. Er schaute scharf hin und +glaubte, einen schweren Körper herausgleiten zu +sehen, der kein Fisch sein konnte. Ängstlich sah +er Paul Seebeck an, aber dieser lächelte nur.</p> + +<p><a class="page" name="Page_36" id="Page_36" title="36"></a>Jetzt hob sich zwanzig Schritte von ihm entfernt, +ein riesiger, schwarzer Kopf aus dem Wasser, ein +breites, zahnloses Maul öffnete sich – –</p> + +<p>Mit einem Entsetzensschrei sprang Silberland +auf. Sofort verschwand der Kopf im Wasser. Paul +Seebeck aber sagte lachend:</p> + +<p>»Du sollst mir meine Tiere nicht scheu machen.«</p> + +<p>»Was sind das für Tiere?« fragte Jakob Silberland, +noch am ganzen Körper zitternd.</p> + +<p>»Schildkröten, mein Junge, allerdings reichlich +große.«</p> + +<p>»Riesenschildkröten?« fragte Jakob Silberland +aufatmend.</p> + +<p>»Ja. Und zwar sind es reine Wassertiere. Ich +habe sie nie länger als für Minuten am Lande gesehen. +– Sei ruhig, hier können sie nicht heraufkrabbeln. +– Am Tage sieht man sie immer nur +ganz flüchtig. Aber in hellen Mondscheinnächten +habe ich sie oft viele Stunden lang beobachtet. +Sie können schwimmen, tun es aber fast nie. Sie +kriechen auf dem Boden hin. Es gibt unzählige +hier. Die größten waren über vier Meter lang.</p> + +<p>Ich traute mich nie recht, mit meinem Motorboote +vom Meere her in die Bucht zu fahren, um +die Tiere nicht zu erschrecken. Außerdem würden +die unzähligen Sandbänke und Klippen, die du +siehst, die Sache fast unmöglich gemacht haben, +<a class="page" name="Page_37" id="Page_37" title="37"></a>ganz abgesehen von den riesigen Algen, die meiner +Schiffsschraube wohl das Leben gekostet hätten. +Aber toll ist es hier. Zuweilen habe ich tief unten +im Wasser die Leuchtorgane von elektrischen +Fischen aufblitzen sehen, und bei Tiefebbe liegen +die phantastischsten Tiefseetiere hier herum. Soviel +ich sehen konnte, ist der Meeresboden hier +auch nicht nackt, wie bei der großen Bucht, sondern +sieht wie ein submariner Urwald aus, der +sich weit hinaus ins Meer erstreckt. Meine Auffassung +ist, daß sich mit der Hebung der Insel +diese unterseeische Oase auch gehoben hat. Wie +sie in dieses Gestein hereinkommt, weiß ich nicht. +Vielleicht ruht sie auf Lehm. Jedenfalls ist sie +da, und die Schildkröten mit ihr.</p> + +<p>Wenn wir vernünftig sind und keinen Raubbau +treiben, können wir durch die Tiere eine dauernde +Einnahmequelle haben, die für die ganze Insel +ausreichen wird. Dazu kommt noch der Fischfang. +– Du siehst, unser Staat braucht keine Not zu +leiden.«</p> + +<p>Sie warteten noch eine halbe Stunde, aber kein +Tier ließ sich mehr blicken. So traten sie den +Rückweg an.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_38" id="Page_38" title="38"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Paul</span> Seebeck saß mit seinem Studienfreunde, +dem Architekten Edgar Allan zusammen im Café +Bauer in Berlin. Paul Seebeck war trotz der frühen +Nachmittagsstunde im Frack, denn er hatte am +Vormittage mehrere Staatssekretäre und andere +höheren Beamte aufgesucht. Jetzt hatte er alle +offiziellen Schritte getan; da er aber am Abend ins +Theater wollte, wollte er sich nicht erst die Mühe +machen, sich für die wenigen Stunden nochmals +umzuziehen. Deshalb war er im Frack geblieben, +und es störte ihn nicht, daß er dadurch etwas Aufsehen +erregte.</p> + +<p>Edgar Allan war lang und knochig und hatte eine +etwas eingefallene Brust. Auch in seinem scharfgeschnittenen +Gesichte verleugnete sich der englische +Halbteil seines Blutes nicht.</p> + +<p>Paul Seebeck sah durchs Fenster auf die Straße +hinaus. Edgar Allan stützte seine Ellbogen auf +den Tisch und verbarg sein Gesicht in den langen, +mageren Händen. Als er es nach einigen Minuten +wieder erhob, sah er, daß Paul Seebeck ihn jetzt +mit seinen großen Augen forschend anblickte.</p> + +<p><a class="page" name="Page_39" id="Page_39" title="39"></a>Edgar Allan sah ihn erst fremd an, dann verzog +sich sein Gesicht. Er sagte erregt:</p> + +<p>»Ich bin übrigens nicht nur mit meiner Klage +vom Reichsgericht abgewiesen; das Warenhaus hat +mit seiner Widerklage sogar erreicht, daß ich zu +einer Entschädigung verurteilt wurde. Alle Sachverständigen +waren darin einig, daß mein Bau +nicht den Voraussetzungen des Kontraktes entsprach. +Fast meine ganzen Ersparnisse habe ich +hingeben müssen.« Dann fuhr er ruhiger fort: +»Die Leute haben aber recht, ich kann kein einzelnes +Haus bauen; ich verstehe überhaupt nicht, +wie jemand das kann. Man soll mir einmal den +Bau einer ganzen Stadt übertragen, dann werde +ich schon zeigen, wozu ich tauge.«</p> + +<p>Paul Seebeck senkte seine Augen und sah dann +wieder zum Fenster hinaus.</p> + +<p>Plötzlich legte Edgar Allan seine Hand auf seinen +Arm:</p> + +<p>»Wollen Sie mich mitnehmen?« fragte er.</p> + +<p>Paul Seebeck wandte sich herum und sah ihm +gerade in die Augen:</p> + +<p>»Ja«, sagte er, »gerade solche Menschen wie +Sie suche ich, brauche ich. Ich wollte Sie nur aus +dem Grunde nicht auffordern, weil ich nicht will, +daß jemand anders als ganz aus freien Stücken zu +uns kommt. Halloh!« rief er, aufstehend, einen vorbeigehenden, +<a class="page" name="Page_40" id="Page_40" title="40"></a>jungen, blonden, hochgewachsenen +Herrn zu, der, das »Berliner Tageblatt« in der +Hand, sich gerade nach einem freien Tische umsah.</p> + +<p>»Herrgott bist du plötzlich in Berlin?« fragte +der Angesprochene im höchsten Grade erstaunt. +»Noch dazu im Frack? Ich dachte, du wärst +Kaffernhäuptling oder Seeräuber oder so etwas +ähnliches geworden.«</p> + +<p>»Noch nicht«, erwiderte Paul Seebeck. »Aber +meine amtliche Bestallung als Seeräuber habe ich +seit heute Vormittag in der Tasche. Gestatten die +Herren, daß ich vorstelle: mein Schulkamerad stud. +jur. Otto Meyer, Architekt Edgar Allan.«</p> + +<p>»Referendar Meyer, wenn ich bitten darf«, sagte +der junge Mann, wobei er Edgar Allan die Hand +reichte, die dieser höflich nahm.</p> + +<p>Als alle drei wieder saßen, fragte Paul Seebeck +seinen Schulkameraden:</p> + +<p>»Woher weißt du eigentlich von der ganzen +Geschichte?«</p> + +<p>»Du mußt mir Diskretion versprechen«, sagte +Otto Meyer feierlich.</p> + +<p>»Gewiß.«</p> + +<p>»Also die Sache steht lang und breit da drin –«, +er wies auf die Zeitung, die er noch immer in der +Linken hielt – »sogar in der halbamtlichen Fassung +des Wolffschen Bureaus.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_41" id="Page_41" title="41"></a>»Zeig doch mal«, sagte Seebeck und griff nach +dem Blatte.</p> + +<p>»Nein, ich werde es vorlesen, sonst verstehst du +es nicht richtig.« Und er las:</p> + +<p>»Eine Erweiterung des deutschen Kolonialbesitzes?</p> + +<p>Durch den Schriftsteller und Forschungsreisenden +Paul Seebeck wurde da und da eine unbewohnte, +vulkanische Insel mit einem Flächenraume von +zwölfhundert Quadratkilometern entdeckt und für +das Deutsche Reich in Besitz genommen. Da auf +und bei der fraglichen Insel auch nicht das allergeringste +zu holen ist –«</p> + +<p>»Willst du vielleicht die Güte haben, ungefähr +das zu lesen, was dasteht?« unterbrach Seebeck +den Lesenden. »Die Sache interessiert mich nämlich.«</p> + +<p>Otto Meyer las weiter:</p> + +<p>»Da die fragliche Insel augenscheinlich nur als +Wohnsitz einiger, weniger Menschen in Betracht +kommen kann und nicht für eine eigentliche Kolonie, +ließ der Staatssekretär des Kolonialamtes dem +Entdecker der Insel, Herrn Paul Seebeck, bis auf +weiteres freie Hand in allen Fragen der Besiedelung +der Insel, wobei er ihn auf Widerruf zum Reichskommissar +mit allen Rechten und Pflichten eines +solchen ernannte.</p> + +<p><a class="page" name="Page_42" id="Page_42" title="42"></a>Diese Ernennung, die selbstverständlich im Einverständnisse +mit dem Reichskanzler erfolgte, ist +als eine Konzession an die durch das Scheitern der +preußischen Wahlreform verstimmten linksstehenden +Parteien aufzufassen. Die Konservativen beruhigte +der Reichskanzler durch das bindende Versprechen, +daß die Insel in drei Jahren ebenso still +und leise verschwinden würde, wie sie aufgetaucht +ist –«</p> + +<p>Paul Seebeck und Edgar Allan lachten. Otto +Meyer reichte Paul Seebeck die Zeitung und dieser +las die Notiz aufmerksam durch. Als er das Blatt +fortlegte, fragte Otto Meyer:</p> + +<p>»Ist es wirklich dein Ernst, dort eine Republik +zu gründen? Eine republikanisch regierte, deutsche +Kolonie?«</p> + +<p>»Ja, machst du mit?«</p> + +<p>»Mit Vergnügen, aber nur als Justizminister«, +sagte Otto Meyer ruhig.</p> + +<p>»Als Justizminister? Hm. Daran hatte ich +eigentlich nicht gedacht. Ich dachte eher als +Staatslausejunge, als offizielles, destruktives Element.«</p> + +<p>»Du bist furchtbar liebenswürdig«, antwortete +Otto Meyer, ohne im geringsten beleidigt zu sein. +»Aber sag mal, willst du nicht morgen bei uns zu +Mittag essen? Meine Eltern würden sich doch sehr +<a class="page" name="Page_43" id="Page_43" title="43"></a>freuen, dich mit australischem Ruhme bedeckt, +dazu noch als zukünftigen Imperator Rex begrüßen +zu können.«</p> + +<p>»Schön. Wie früher um Drei?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>Jetzt erhob sich Edgar Allan und nahm Abschied. +Paul Seebeck begleitete ihn, so wie er war, in Frack +und ohne Hut, auf die Straße hinaus. Als er zurückkam, +fragte Otto Meyer:</p> + +<p>»Was hast du dir denn da für einen steifen Engländer +aufgegabelt?«</p> + +<p>»Na, er ist mehr Deutscher als Engländer. +Deutsche Mutter und in Deutschland erzogen. Er +ist sonst auch gar nicht steif, hat nur jetzt recht +unangenehme Sachen durchgemacht. Ich hoffe, +daß er mit mir kommt – und uns unsere Stadt +baut. Er ist gerade der Typus Mensch, den wir +brauchen; das heißt, er ist gerade kein Typus, +sondern ein Mensch.«</p> + +<p>»Ich bitte dich, sei nicht so schrecklich geistreich«, +sagte Otto Meyer. »Sonst bekomme ich +Magenschmerzen.«</p> + +<p>»Entschuldige mich einen Augenblick«, sagte +Paul Seebeck aufstehend und ging auf Jakob Silberland +zu, der gerade zur Tür hereintrat. Paul Seebeck +stellte ihm Otto Meyer vor, und als sie wieder +Platz genommen hatten, sagte er:</p> + +<p><a class="page" name="Page_44" id="Page_44" title="44"></a>»Edgar Allan kommt mit. Noch ein paar Leute, +und wir können anfangen.«</p> + +<p>»Kommt er? Gut! Da haben wir ja einen ganzen +Kerl gewonnen. Ja, du, was ich sagen wollte – +mir sind noch einige Leute eingefallen – aber man +kann ja nicht gut jemand auffordern. Und wie soll +man es sonst diesen Leuten nahelegen?«</p> + +<p>»Gar nicht, natürlich«, antwortete Paul Seebeck. +»Wer nicht freiwillig, aus innerstem Instinkt +zu uns kommt, mag fortbleiben. Die brauchen wir, +die uns zufällig finden, weil sie uns brauchen.«</p> + +<p>»Ja, ja«, sagte Jakob Silberland etwas verlegen. +»Aber wir müssen doch einen Anfang haben. Wir +zwei, drei Menschen können uns dort nicht festsetzen +und auf die anderen warten. Damit würden +wir uns nur lächerlich machen und gar nichts erreichen.«</p> + +<p>»Du irrst. Wir müssen gerade hingehen und uns +der Lächerlichkeit aussetzen.«</p> + +<p>»Ich fürchte nur, daß wir zwei, mit Edgar Allan +also drei, unser ganzes Leben lang allein auf der +Insel hocken werden.«</p> + +<p>Otto Meyer, der offenbar fürchtete, Zeuge eines +Streites der beiden Freunde zu werden, verabschiedete +sich, wobei er Seebeck daran erinnerte, +daß er morgen zum Mittagessen zu kommen versprochen +hätte.</p> + +<p><a class="page" name="Page_45" id="Page_45" title="45"></a>Der Streit brach aber nicht aus, im Gegenteil, +Paul Seebeck sagte ganz ruhig, wobei er seinem +Freunde gerade ins Gesicht blickte:</p> + +<p>»Ich verstehe dich vollkommen; du willst gleich +mit einem gewissen Material anfangen. Ich glaube, +du machst dir unnötige Sorgen. Es werden mehr +zu uns kommen, als wir brauchen können. Du +wirst sehen, daß viele gleich mit uns kommen +wollen. Aber jetzt mußt du mich entschuldigen«, +brach er ab, wobei er auf die Uhr sah. »Ich will +ins Theater.«</p> + +<p>Als Paul Seebeck gegangen war, setzte sich Jakob +Silberland richtig in der Ecke zurecht und ließ sich +vom Kellner alle Abendblätter bringen und las +die – je nach der politischen Richtung der betreffenden +Zeitung – wohlwollenden, abwartenden +oder gehässigen Glossen zur halbamtlichen Wolff-Nachricht. +Nach einer Stunde war er aber müde vom +Lesen; er lehnte sich zurück und ließ sich sein +letztes Gespräch mit Paul Seebeck noch einmal +durch den Kopf gehen. Je mehr er nachdachte, +umsoweniger hielt er Paul Seebecks Ansicht für +richtig; er glaubte vielmehr, daß man sich einen +gewissen, soliden Kern sammeln müßte, um den +sich dann die Gemeinschaft kristallisieren könnte. +Aber einfach abwarten – nein. Lieber organisieren, +aufbauen.</p> + +<p><a class="page" name="Page_46" id="Page_46" title="46"></a>Und als ihm das als das richtige klar vor Augen +stand, beschloß er, einen Mann aufzusuchen, den +er sich als wertvollen Mitarbeiter an der Sache +denken konnte, nämlich den russischen Flüchtling +Nechlidow.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_47" id="Page_47" title="47"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Durch</span> schwere, dunkle Vorhänge gedämpft, +fiel das Licht in den Salon, in dem die hohe +Frauengestalt stand. Das schwarze Schleppkleid +ließ Hals und Gesicht noch weißer erscheinen, und +die großen braunen Augen leuchteten.</p> + +<p>»Warum kommen Sie erst jetzt zu mir?« fragte +Frau von Zeuthen Paul Seebeck, der noch Hut +und Stock in der Hand haltend vor ihr stand.</p> + +<p>»Wie schön Sie sind!« erwiderte Seebeck und +küßte ihre Hand. »Unveränderlich schön wie ein +edles Bild, das Zeiten und Geschehnis überdauert.«</p> + +<p>Ihr Lächeln war nicht der Art als ob sie seine +Worte als Schmeichelei auffaßte. Sie sagte:</p> + +<p>»Jetzt müssen Sie mir aber alles, alles erzählen. +Ich habe die Zeitungen gelesen und allerhand gehört. +Das will ich jetzt aber vergessen und alles +neu und rein von Ihnen hören.«</p> + +<p>Sie setzte sich auf den Divan und wies mit der +Hand auf einen Armstuhl neben dem Rauchtischchen, +aber Paul Seebeck blieb stehen:</p> + +<p>»In Ihrem Hause ist eine Ruhe wie sonst nirgendwo +auf der Welt. Sie sind einige Jahrhunderte +<a class="page" name="Page_48" id="Page_48" title="48"></a>zu spät auf die Welt gekommen, Gabriele. Sie +passen nicht in unser Zeitalter. Sie gehörten nach +Italien zur Zeit der Wiedergeburt, und in Ihren +Räumen hätten sich die edelsten Männer versammelt, +um ernst und gewichtig die Fragen zu +erörtern –«</p> + +<p>»Sie wollten mir doch etwas erzählen«, unterbrach +ihn Frau von Zeuthen, wobei sie sich zurücklehnte.</p> + +<p>Paul Seebeck legte Hut und Stock fort und setzte +sich in den Armstuhl.</p> + +<p>»Also, ich kam von Sidney zurück –«</p> + +<p>»Nicht so schnell. Verzeihen Sie, daß ich Sie +unterbreche. Aber Sie dürfen Australien nicht +überspringen.«</p> + +<p>»Über Australien kann ich leider nicht viel berichten. +Ich kam hin – Sie kennen ja meinen +Expeditionsplan, er stand ja auch in allen Zeitungen +– und wie ich dort war, sah ich, daß meine +ganze Expedition eigentlich überflüssig war. Von +dem, was ich als Neuland erforschen wollte, ist der +größte Teil in seinen großen Zügen schon bekannt, +sogar schon aufgenommen, und es reizte mich nicht, +mich nur mit den Bagatellen abzugeben, die natürlich +auch von wissenschaftlichem Interesse sind –«</p> + +<p>»Da Sie ja mehr Abenteurer als Wissenschaftler +sind.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_49" id="Page_49" title="49"></a>»Vielleicht, vielleicht liegt der Wert meines +Abenteuertums gerade darin, daß ich nur große +Dinge entdecken kann, nicht Kleinigkeiten untersuchen. +Ich kann nur die großen Dinge sehen und +räume dann gern das Feld dem Gelehrten, der dann +nach Herzenslust messen und forschen mag. Schon +am ersten Tage in Sidney, wo ich in der Bibliothek +der Geographischen Gesellschaft saß und mir das +ganze Material durchsah, sank mir der Mut. Ich +sah wohl, daß da noch unendlich viel zu tun war, +aber fast nichts für mich.</p> + +<p>Ich unternahm die Expedition trotzdem – ich +war ja dazu verpflichtet – aber ohne Freude. Dadurch +kam auch das Sprunghafte, Unsichere herein, +das manche Zeitungen mit Recht gerügt haben, +und kehrte vorzeitig zurück.«</p> + +<p>»Ich las in der Zeitung, daß die furchtbaren +Stürme und Überschwemmungen, die der großen +Flutwelle folgten, Sie zur Rückkehr gezwungen +hätten.«</p> + +<p>»Ich nahm das mehr als Vorwand. Hätte ich +ernstlich gewollt, hätte ich schon dort bleiben +können. Ich kehrte aber nach Sidney zurück.«</p> + +<p>»Und dann?«</p> + +<p>»Ja, dann sah ich vom Dampfer aus meine Insel, +deren Entstehung natürlich die große Flutwelle +<a class="page" name="Page_50" id="Page_50" title="50"></a>verursacht hat. Und da beschloß ich, auf ihr +meinen Staat zu gründen.«</p> + +<p>»So schnell?«</p> + +<p>»Ja, wissen Sie, Gabriele«, fuhr Paul Seebeck +lebhafter fort, »zwischen der Entdeckung der Insel +und meiner Ankunft lagen ja viele Stunden. Und +eine Stunde ist lang, wenn man allein auf einem +Schiffe steht und ganz ungestört seinen Gedanken +nachhängen kann. Und unser Plan eines wirklich +modernen Staates auf breitester, demokratischer +Grundlage, aber mit dem Prinzipe der größten persönlichen +Freiheit war ja schon lange fertig.«</p> + +<p>»Wer ist »wir«?«</p> + +<p>»Mein Freund Silberland, ein Journalist und +radikaler Politiker aus München, ein kluger Mensch, +der unendlich viel in seinem Leben gearbeitet hat +und dem es immer schlecht gegangen ist, und ich. +In meiner Münchener Zeit sind wir oft nächtelang +im Café Stephanie gesessen oder im Englischen +Garten herumgegangen und haben dabei immer nur +unseren Staat besprochen. Sie werden verstehen, +daß zwei Menschen wie er und ich sich in einer +solchen Frage aufs Glücklichste ergänzen können.«</p> + +<p>Frau von Zeuthen nickte und Paul Seebeck fuhr +fort:</p> + +<p>»Wie ich also die Insel sah und wußte, daß sie +herrenloses Land darstellte, schrieb ich vom +<a class="page" name="Page_51" id="Page_51" title="51"></a>Dampfer aus einige Zeilen an Silberland. Ich erinnerte +ihn an unsere Träume und bat ihn, hinzukommen. +Ich schrieb ihm, er solle mir eine Vollmacht +als Reichskommissar verschaffen. Er kam +auch, der gute Kerl, steckte seinen Beruf und seine +Stellung auf und kam. Aber das Kolonialamt hatte +ihm doch nur eine sehr vorsichtige, sehr provisorische +Vollmacht für mich mitgegeben und verlangte, +mich selbst zu sehen und zu hören. So +mußte ich also nach Berlin kommen.« Und Paul +Seebeck schwieg, wobei er vor sich auf den Teppich +sah.</p> + +<p>»War Ihnen denn das so unangenehm?« fragte +Frau von Zeuthen.</p> + +<p>»Ja. Wenigstens zuerst. Ich hatte schon viele +Wochen ganz allein auf meiner Felseninsel zugebracht +und fühlte mich dort so heimisch, daß es +mir schwer wurde, sie wieder zu verlassen. Und +besonders fürchtete ich, sie mit etwas anderen +Augen zu sehen, wenn ich nach dem Aufenthalt +in Europa zu ihr zurückkehrte.«</p> + +<p>»Wie denn?« fragte Frau von Zeuthen mit +ihrem klugen Lächeln.</p> + +<p>Er sah sie an und sagte langsam:</p> + +<p>»Ich fürchtete, meine Insel nicht mehr so rein +zu empfinden, nicht mehr so ganz als Symbol der +<a class="page" name="Page_52" id="Page_52" title="52"></a>Unberührtheit, kurz, nicht mehr so persönlich, +mehr als eine von den vielen, ein Kuriosum, keine +Offenbarung – Sie verstehen?«</p> + +<p>Frau von Zeuthen nickte.</p> + +<p>»Und weshalb sind Sie jetzt doch froh, hierher +gekommen zu sein?« fragte sie nach einer kleinen +Pause.</p> + +<p>»Weil ich sehe, wie wertvoll es für mich ist, +etwas Distanz bekommen zu haben – nicht nur +aus praktischen Gründen.« Wieder schwieg er und +sah vor sich hin.</p> + +<p>»Dann habe ich hier auch einige Menschen +wiedergefunden, die ich für meine Arbeit brauche. +Und« – hier sank er vom Stuhle und ergriff ihre +Hand und küßte sie – »eine Frau, die ich immer +fragen muß, ob ich auch auf dem rechten Wege +bin.«</p> + +<p>Sie strich ihm mit ihrer schönen, weißen Hand +über sein Haar.</p> + +<p>»Wollen Sie mir auch diesmal Ihren Segen mitgeben?« +fragte er, lächelnd zu ihr aufblickend.</p> + +<p>»Ja«, sagte sie. »Und wenn Sie mich brauchen, +komme ich zu Ihnen.«</p> + +<p>Er küßte noch einmal ihre Hand und erhob sich +dann. Im Zimmer auf- und abgehend, fuhr er lebhaft +fort:</p> + +<p><a class="page" name="Page_53" id="Page_53" title="53"></a>»Und wie bezaubernd die Idee wirklichen Neulandes, +einer freien menschlichen Gemeinschaft +ohne alle Traditionen wirkt. Ich kenne von der +Schule her einen jungen Studenten, jetzt ist er +übrigens Referendar, der fünf Jahre jünger ist +als ich. Einen richtigen Berliner Juden, obwohl er +nicht so aussieht. Glänzend begabt, daß jede Arbeit +für ihn Spielerei ist, frech wie ein Dachshund, nie +um eine Antwort verlegen, immer witzig und nichts +auf der Welt ernst nehmend. Dabei ein seelenguter +Kerl und immer hilfsbereiter Kamerad. Wir treffen +uns hier zufällig im Café, und er benutzt die Gelegenheit, +um tausend dumme Witze über unsere +Insel zu machen. Am Tage darauf esse ich bei seinen +Eltern. Auch dort schont er mich durchaus nicht. +Wie wir nach dem Essen bei einer Zigarre allein +in seinem Zimmer sind, sagt er mir plötzlich in +vollem Ernste, daß er mit uns kommen will, um +dann sofort darüber dumme Witze zu machen. Aber +ich bin überzeugt, daß es ihm im Grunde seines +Herzens tiefernst ist, und daß er gerade durch +seinen absoluten Mangel an Sentimentalität ein +sehr gesundes Element darstellen wird.«</p> + +<p>Er blieb stehen und lauschte, denn auf dem +Korridore wurde ein Trampeln und eifriges Tuscheln +laut. Frau von Zeuthen erhob sich vom Divan.</p> + +<p>»Die Kinder«, sagte sie.</p> + +<p><a class="page" name="Page_54" id="Page_54" title="54"></a>Gleich darauf wurde auch die Tür aufgerissen und +die dreizehnjährige Hedwig stürmte herein. Sobald +sie Paul Seebeck erblickte, schlang sie beide +Arme um seinen Hals und hüpfte vor Freude. +Paul Seebeck konnte sich nur mit Mühe soweit von +ihr befreien, um dem etwas verlegen hinter ihr +stehenden zwölfjährigen Felix wenigstens flüchtig +die Hand drücken zu können. Noch halb an Paul +Seebeck hängend, begann Hedwig, ihrer Mutter +übersprudelnd ein Schulerlebnis zu erzählen, doch +Frau von Zeuthen unterbrach sie:</p> + +<p>»Macht euch jetzt schnell zum Mittagsessen +fertig, Kinder. Wir essen heute früher als sonst. +Dann kannst du uns alles erzählen, Hedwig.«</p> + +<p>Ein wenig schmollend zog Hedwig ab, Felix +wandte sich in der Tür noch einmal zögernd um, +dann ging er schnell zu Paul Seebeck und flüsterte +ihm zu:</p> + +<p>»Ich habe alles gelesen; ich weiß alles. Ich will +zu dir auf deine Insel kommen.« Dann lief er +tief errötend aus der Tür.</p> + +<p>Während die Schritte der Kinder auf dem Korridore +verklangen, wandte sich Frau von Zeuthen +an Paul Seebeck:</p> + +<p>»Ich erwarte noch einen Gast –«</p> + +<p>»Herrn von Rochow?« fragte Seebeck.</p> + +<p>»Rochow? Nein ... Wie kommen Sie auf ihn?«</p> + +<p><a class="page" name="Page_55" id="Page_55" title="55"></a>»Ach, ich bin in den letzten Tagen oft mit ihm +zusammen gewesen; er ist ja einer von den Unsrigen.«</p> + +<p>»So? Das freut mich wirklich.«</p> + +<p>»Er war einer von denen, an die ich von Anfang +an dachte, und er kam auch gleich zu mir. – Ja, +und gestern sagte er mir, daß wir uns wohl auch +bald bei Ihnen treffen würden.«</p> + +<p>»Rochow ist immer bei mir willkommen; er +kommt vielleicht auch später zum Tee zu mir. +Wissen Sie übrigens, daß er seinen Abschied nehmen +mußte?«</p> + +<p>»Nein, weshalb denn?«</p> + +<p>»Ich weiß es nicht genau. Es handelte sich um +eine Soldatenmißhandlung, wo Rochow in irgendwelcher +inkorrekten Weise zu sehr für den Soldaten +gegen den schuldigen Leutnant eingetreten ist. +Aber jetzt zum Mittagessen erwarte ich einen +jungen Freund, der Ihnen vielleicht große Freude +machen wird.«</p> + +<p>Es klingelte, und bald darauf stand ein bleicher, +junger Mann mit tiefliegenden, rotumränderten +Augen in der Tür. Man sah seiner Kleidung an, daß +sie mit großer Mühe ordentlich instand gehalten +war. Frau von Zeuthen ging auf ihn zu, führte +ihn an der Hand zu Seebeck und sagte:</p> + +<p>»Da haben Sie meinen Melchior. Seht zu, ob +ihr nicht Freunde werden könnt.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_56" id="Page_56" title="56"></a>Und während die beiden Männer einander forschend +und suchend in die Augen sahen, öffnete +sie die Tür zum anstoßenden Eßzimmer, wo Hedwig +und Felix bereits ungeduldig warteten.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_57" id="Page_57" title="57"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Auf</span> dem großen Tische in Paul Seebecks Hotelzimmer, +der mit Zeitungen, Broschüren und +Papieren bedeckt war, standen zwei schwere, fünfarmige +Leuchter und erhellten die Gesichter der +kleinen Versammlung. Erst jetzt waren sie zum +ersten Male offiziell versammelt; so hatte es Paul +Seebeck gewollt. Mehrere Wochen hatte er ihnen +Zeit gelassen, um alles in Ruhe zu überlegen und +sich einander kennen zu lernen.</p> + +<p>Alle sieben waren da: am Tischende saßen Paul +Seebeck, Jakob Silberland und Hauptmann a. D. +von Rochow, dann kamen Edgar Allan und Referendar +Otto Meyer, zuletzt Nechlidow. Der junge +Melchior saß gesenkten Hauptes etwas im Hintergrunde +und zuweilen hob sich sein bleiches, abgearbeitetes +Gesicht aus dem Dunkel.</p> + +<p>Paul Seebeck stand auf, und aller Augen wandten +sich ihm zu. Er sagte:</p> + +<p>»Ich habe ungefähr dreihundert Anfragen und +Anmeldungen erhalten, habe aber Alle gebeten, sich +etwas zu gedulden. Wir sind jetzt sieben, und das +<a class="page" name="Page_58" id="Page_58" title="58"></a>ist vorläufig genug, um die Sache in Gang zu +bringen. Sobald wir die Umrißlinien gezogen haben, +mögen die Anderen kommen, um sie auszufüllen +oder zu verändern. Nun liegt die Gefahr vor«, +fuhr er fort, wobei er den Kopf senkte und sich +auf die eingezogene Oberlippe biß, »daß wir sieben +auch in Zukunft eine bevorzugte Stellung einnehmen. +Das darf natürlich nicht sein. Das wäre eine +Oligarchie statt einer Demokratie.«</p> + +<p>Nechlidow hob den Kopf und rief:</p> + +<p>»Was bis zum heutigen Tage noch jede Demokratie +gewesen ist, besonders in der wahnsinnigen +Karrikatur des Parlamentarismus.«</p> + +<p>Paul Seebeck sah ihm gerade ins Gesicht:</p> + +<p>»Tragen Sie das Ihrige dazu bei, Herr Nechlidow, +daß unser Staat nicht an dieser Klippe strandet.«</p> + +<p>Es ging ein Leuchten durch Nechlidows vergrämtes +Gesicht; er sagte nichts, nickte nur.</p> + +<p>»Nun läßt sich aber nicht leugnen, daß wir sieben +Gründer, eben als solche, vorläufig eine Sonderstellung +einnehmen. Wir müssen nur dafür sorgen, +daß diese Sonderstellung nicht länger dauert, als +unbedingt notwendig ist. Ich schlage deshalb +folgendes vor: jeder Ansiedler, selbstverständlich +Mann wie Frau, ist nach einjährigem Aufenthalt +auf der Insel vollberechtigter Bürger. Wir sieben +Gründer bleiben das erste Jahr allein auf der Insel +<a class="page" name="Page_59" id="Page_59" title="59"></a>und genießen das einzige Vorrecht, in diesem Jahre +über uns selbst und den Staat, den wir ja allein +repräsentieren, zu verfügen. Dieses Vorrecht ist +natürlich nur ein anderer Ausdruck für alle unsere +Pflichten und unsere Arbeit. Vom opportunistischen +Standpunkte aus gesehen also ein Vorrecht, +von recht zweifelhaftem Werte, vom moralischen +Standpunkte ein Recht in der tief innersten Bedeutung +des Wortes.«</p> + +<p>Jetzt konnte Otto Meyer sich nicht mehr beherrschen, +er mußte Jakob Silberland zuflüstern:</p> + +<p>»Daß der Kerl seine geistreichen Bemerkungen +nie sein lassen kann.«</p> + +<p>Halb verlegen und belustigt, suchte Silberland +nach einer Antwort; plötzlich aber erhob sich zum +allgemeinen Erstaunen Melchior und sagte:</p> + +<p>»Darf ich eine Frage stellen? Da ist etwas, was +ich nicht verstehe.«</p> + +<p>»Bitte«, sagte Seebeck.</p> + +<p>Melchior zog die Brauen zusammen und versuchte +augenscheinlich seine Frage scharf zu formulieren; +er sagte dann:</p> + +<p>»Nach alledem, was ich verstanden zu haben +glaube, soll dieser Staat im Großen wie im Kleinen +keine willkürliche Konstruktion darstellen, ebensowenig +eine Gemeinschaft, die nur auf einen bestimmten +<a class="page" name="Page_60" id="Page_60" title="60"></a>Typus Mensch zugeschnitten ist. Wenn +Sie mir den trivialen Ausdruck erlauben wollen, +soll es nicht nur der ideale, sondern auch der +normale Staat sein.«</p> + +<p>Paul Seebeck nickte. Melchior sah ihn an:</p> + +<p>»Ein Staat, oder wohl besser: eine Gemeinschaft, +deren Bau aus der Natur des Menschen an sich, des +zweibeinigen Säugetieres: Mensch, abgeleitet ist, +nicht wahr?«</p> + +<p>Wieder nickte Paul Seebeck, obgleich nicht so +ganz zustimmend. Melchior war aber so in seinen +Gedanken vertieft, daß er nichts um sich her sah. +Er fuhr fort:</p> + +<p>»Sie müssen mich recht verstehen, ich will nicht +kritisieren, nur fragen. Wie läßt sich die Idee +eines solchen Staates damit vereinigen, daß erst +große Vorarbeiten nötig sind? Daß die Ansiedler +sich erst ein ganzes Jahr lang akklimatisieren sollen? +Würde es nicht genügen, die Menschen einfach in +die Freiheit zu setzen, so daß sie selbst kraft ihrer +Menschennatur sich die neue Gemeinschaft schaffen +können? Wenn ihre Gedanken richtig sind, müßte +der so sich selbst aufbauende Staat genau ebenso +werden, wie der Ihrige, der doch – zunächst +wenigstens – ein theoretisches, aus den jetzigen +Staatsformen abstrahiertes Gebäude darstellt; nur +mit dem Unterschiede, daß der sich selbst aufbauende +<a class="page" name="Page_61" id="Page_61" title="61"></a>Staat natürlicher wäre, ohne die Fehlerquellen, +die bei dem Ihrigen, der theoretischen +Grundlage wegen, möglich sind.«</p> + +<p>»Bravo!« rief Nechlidow. »Der Mann kann +denken.«</p> + +<p>»Sie müssen mich richtig verstehen,« fuhr Melchior +fast ängstlich fort, »ich vertrete gar keinen +Standpunkt, ich sehe nur ein Problem und bitte +Sie, es mir zu lösen. Sie haben natürlich alles das +genau bedacht, Herr Seebeck?« Er richtete sich +ganz auf und sah Seebeck gespannt an. Aber plötzlich +verzog sich sein Gesicht, es wurde kreidebleich, +er schwankte etwas, griff rückwärts nach der Stuhllehne, +so daß der Stuhl sich auf einem Beine drehte, +und Melchior sank, die Stuhllehne noch immer in +der Hand, bewußtlos neben den Stuhl hin, der +auf ihn fiel.</p> + +<p>Alle sprangen entsetzt auf. Paul Seebeck war +mit einigen Schritten bei ihm, hob ihn leicht wie +ein Kind auf, klingelte nach dem Kellner, ließ sich +ein freies Zimmer zeigen und bettete den Ohnmächtigen +dort. Er löste ihm die Kleider auf +Brust und Leib und flößte ihm dann Milch ein. +Melchior schlug schon nach einigen Minuten die +Augen wieder auf und sah unsicher um sich. Paul +Seebeck fragte ihn besorgt:</p> + +<p>»Fühlen Sie sich jetzt wieder wohl?«</p> + +<p><a class="page" name="Page_62" id="Page_62" title="62"></a>»Ja, ja«, sagte Melchior zerstreut. »Das hat +nichts zu sagen.« Sein Blick fiel auf die gefüllte +Milchkanne. Mit zitternden Händen schenkte er +sich ein Glas ein und stürzte es hinunter. Er sah +dankbar zu Seebeck auf:</p> + +<p>»Ich danke Ihnen, Sie sind so gut zu mir.«</p> + +<p>»Wünschen Sie irgend etwas?« fragte Seebeck, +die Hand schon bei der elektrischen Klingel.</p> + +<p>»Ja, wenn ich etwas essen dürfte –« antwortete +Melchior zögernd. »Ich werde zuweilen schwach, +wenn ich hungrig bin.«</p> + +<p>»Haben Sie denn heute Abend noch nichts gegessen?« +fragte Seebeck besorgt.</p> + +<p>»Heute Abend?« Melchior lächelte schwach. +»Gestern und heute habe ich nichts gegessen. +Wenn ich jetzt nur ein Stückchen Brot haben kann, +ist mir gleich wieder gut.«</p> + +<p>Der Kellner trat ein, und Seebeck bestellte, trotz +Melchiors verlegen-abwehrender Handbewegungen +ein ordentliches Abendessen, doch verlangte er +nur Speisen, die in wenigen Minuten fertig sein +konnten. Während dieses kurzen Gespräches +schlummerte Melchior ein. Paul Seebeck überzeugte +sich, daß sein Atem ruhig ging und verließ dann +zusammen mit dem Kellner das Zimmer.</p> + +<p>Als er zu seinen Gästen zurückkehrte, wurde er +von allen Seiten nach Melchiors Befinden gefragt. +<a class="page" name="Page_63" id="Page_63" title="63"></a>Er gab aber nur kurze, sachliche Antworten und +schlug dann lächelnd vor, wieder zur Arbeit überzugehen. +Diesmal ergriff er aber nicht das Wort, +sondern bat Jakob Silberland, zu erklären, wie sie +ihren Staat zu finanzieren gedächten.</p> + +<p>Jakob Silberland stand eifrig auf, und begann:</p> + +<p>»Die finanzielle Grundlage unseres Staates ist +als durchaus gesund zu bezeichnen. Wir haben +Aktiven in den Naturschätzen, die fast ohne Betriebskapital +zu heben sind. Nach dem Urteil von +Sachverständigen repräsentiert eine ausgewachsene +Riesenschildkröte allein an Schildkrott einen Wert +von fünfundzwanzigtausend Mark, dazu kommt +noch ihr Fleisch im Werte von ungefähr dreihundert +Mark. Ein genaues Studium muß ergeben, wieviele +Tiere man im Jahre erlegen darf, ohne Raubbau +zu treiben; jedenfalls für mehrere Hunderttausende, +vielleicht Millionen. Diese Einnahmequelle muß +dem Staate selbst verbleiben.</p> + +<p>Daß der Grund und Boden für immer gemeinsames +Eigentum bleiben muß, ist ja selbstverständlich, +ebenso die auf ihm stehenden Häuser, denn +ein Privatbesitz an Boden läßt sich nur solange +rechtfertigen, wie es herrenloses Land in genügender +Menge gibt, so daß jeder andere sich gleichfalls – +wenn er will – einen genügenden Platz sichern +kann. Da es jetzt – speziell bei uns – herrenloses +<a class="page" name="Page_64" id="Page_64" title="64"></a>Land so gut wie nicht mehr gibt, oder bald nicht +mehr geben wird, ist Privatbesitz am Grund und +Boden ein Unding.</p> + +<p>Wir brauchen nur etwas flüssige Mittel, um die +notwendigen Bauten und Anlagen ausführen zu +können. Wir schlagen vor, das Geld durch eine +innere Anleihe aufzubringen, die rasch zu amortisieren +wäre. Diese Anleihe müßte natürlich eine +innere sein, um ausländischem Kapital keinen +Einfluß zu geben ...«</p> + +<p>Die Tür knarrte leise; aller Augen wandten sich +ihr zu, und Jakob Silberland brach ab. Mit schleppenden +Schritten kam Melchior herein und blieb +verlegen stehen. Da sich aber alle Anwesenden +Mühe gaben, ihn so unbefangen wie möglich zu +behandeln, atmete er schnell auf und nahm seinen +früheren Platz wieder ein. Jakob Silberland +räusperte sich und wollte in seinem Vortrage fortfahren, +konnte aber die Aufmerksamkeit nicht mehr +sammeln. Paul Seebeck schlug deshalb vor, eine +Viertelstunde lang zu pausieren. Da niemand +widersprach, ließ er Tee und kleine Butterbrötchen, +sowie auch einige Flaschen Wein kommen, was +die Herren, auf- und abgehend, zu sich nahmen.</p> + +<p>Paul Seebeck trat zu Melchior heran:</p> + +<p>»Haben Sie jetzt ordentlich gegessen?« fragte +er.</p> + +<p><a class="page" name="Page_65" id="Page_65" title="65"></a>»Ja, ja«, antwortete Melchior, zerstreut auf den +Boden blickend. Dann schlug er die Augen +auf:</p> + +<p>»Herr Seebeck«, sagte er, »Sie sind mir noch eine +Antwort schuldig.«</p> + +<p>Paul Seebeck griff sich unwillkürlich an die Stirn; +er verfolgte rückläufig die Vorgänge des Abends +und kam damit auch auf Melchiors Frage.</p> + +<p>»Überlegen Sie sich, wie viel die Menschen vergessen +müssen, ehe sie reif für eine neue Gemeinschaft +werden; vergessen, was sie selbst, und das, +was ihre Vorfahren gelernt haben: die Masseninstinkte. +Um die zu bekämpfen und zu vergessen, +genügt weder die Möglichkeit, noch der Wille zur +Freiheit – zwei Voraussetzungen, die bei uns glücklicherweise +gegeben sind – eine große Arbeit jedes +einzelnen an sich und an der Gemeinschaft ist notwendig. +Unterschätzen Sie unser Vorhaben nicht; +es gilt nichts weniger, als einen neuen Typus +Mensch heranzuziehen, einen Typus, der eine +Gemeinschaft von Individualitäten bilden kann, +ohne daß diese zu einer homogenen Masse +wird.«</p> + +<p>»Sie gebrauchen dauernd das Wort: Typus im +Sinne von Individuum. Ich finde das fast verdächtig.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_66" id="Page_66" title="66"></a>»Ach Gott, was ist denn dabei verdächtig?« +sagte Paul Seebeck gleichmütig. »Typus – Art – +was Sie wollen. Sie wissen ja, was ich meine, da +spielt der Ausdruck doch keine Rolle.«</p> + +<p>Melchior schüttelte den Kopf und zog die Augenbrauen +zusammen:</p> + +<p>»Was Sie meinen, scheint an und für sich so +klar zu sein, daß ein etwas schiefer Ausdruck keine +Unklarheit hereinbringen kann. Ich kann aber +doch nicht anders, als gerade hinter diesem schiefen +Ausdruck ein Problem zu sehen, nämlich dieses: +daß Sie gar nicht den freien Menschen an sich +brauchen können und entsprechend heranziehen +wollen, sondern nur einen ganz bestimmten Typus +des freien Menschen.«</p> + +<p>Paul Seebeck hatte anfangs lächelnd zugehört, +dann wurde er aber ganz ernst. Stehenbleibend, +sagte er fast feierlich:</p> + +<p>»Es gibt keinen Staat und keine Gemeinschaft +der Welt, wo der Verbrecher, der Kinderschänder +Raum fände. Wohl aber läßt sich eine Gemeinschaft +denken, die dem Verbrechen keinen Nährboden +gibt. Was stellen Sie sich denn überhaupt unter +dem »freien« Menschen vor? – Doch nicht den, der +ungehindert absonderlichen Gelüsten folgen kann? +Gerade der in irgend einer Weise perverse Mensch +ist im höchsten Grade unfrei. Frei sein heißt: von +<a class="page" name="Page_67" id="Page_67" title="67"></a>seiner eigenen Vergangenheit frei sein, von Traditionen +und Vorurteilen frei sein, heißt Rückkehr +zu einer Norm, die es kaum noch gibt.</p> + +<p>In diesem Sinne haben Sie Recht: ich erkenne +wirklich nur einen Typus des freien Menschen an; +aber der ist sehr umfassend, nämlich alle einschließend, +die in irgend einer Weise für die Gemeinschaft +im höheren Sinne brauchbar, oder was dasselbe +ist, notwendig sind.«</p> + +<p>»Ja, ja«, sagte Melchior nachdenklich. »Ich +glaube schon, daß ich Ihnen zustimmen werde, +wenn ich in Ruhe alles richtig bedacht habe.«</p> + +<p>Paul Seebeck sah ihm gerade ins Gesicht:</p> + +<p>»Beantworten Sie mir bitte eine Frage: weshalb +kommen Sie überhaupt zu uns? Ich sehe, daß Sie +ernst arbeiten und daß Sie aufrichtig sind, uns +also willkommen sein müssen – aber was wollen +Sie von uns?«</p> + +<p>Melchior sah mit zusammengezogenen Brauen vor +sich hin:</p> + +<p>»Ich muß aus zwei Gründen zu Ihnen. Erstens +glaube ich bei Ihnen alle sozialen und sozial-psychologischen +Phänomene im status nascendi, also in +reinster und dabei konzentriertester Form zu finden. +Also aus wissenschaftlichem Interesse. Dann glaube +ich dort einmal ein Arbeitsfeld zu haben, wo die +praktische Arbeit nicht vergeudete Zeit bedeutet.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_68" id="Page_68" title="68"></a>»Sie werden kein angenehmer Mitarbeiter sein, +aber ein wertvoller.« Und er drückte Melchiors +heiße Hand.</p> + +<p>Hinter ihnen erklang ein leises Klirren. Sie +wandten sich um und sahen, daß Jakob Silberland +an sein Glas schlug, augenscheinlich in der Absicht, +eine Rede zu halten. Er trippelte nervös auf seinen +kurzen Beinchen hin und her und fuhr sich +mehrmals mit der Hand durch sein langes, schwarzes +Haar. Die anderen Herren saßen um den Tisch +herum mit aufmerksamen und vielleicht etwas verlegenen +Gesichtern. Paul Seebeck und Melchior +blieben im Hintergrunde stehen.</p> + +<p>Melchior sah mit einem Blicke, der fast ein +Werben um Liebe enthielt, zu Paul Seebeck auf +und flüsterte ihm zu, wobei er errötete:</p> + +<p>»Sie müssen mir helfen, dann werde ich finden, +was ich suche – dort auf Ihrer Insel werde ich +das Geheimnis der Menschheit finden.«</p> + +<p>Paul Seebeck nickte ihm freundlich zu. Er +konnte ihm nicht mehr antworten, denn Jakob +Silberland begann:</p> + +<p>»Darf ich einige Worte sagen? Ich will nicht +schwulstig sein, obwohl ich mich beherrschen muß, +es nicht zu werden. Aber ohne jede Übertreibung +kann man wohl sagen, daß von diesem Tage an +eine neue Periode der Menschheitsgeschichte ansetzt. +<a class="page" name="Page_69" id="Page_69" title="69"></a>Unser Anfang ist bescheiden, aber unsere +Bestrebungen werden Früchte tragen, deren Größe +wir heute noch gar nicht übersehen können. Statt +grotesker Verzerrungen den wirklichen Staat, die +wirkliche Gemeinschaft von Menschen.«</p> + +<p>»Gegründet auf die menschliche Vernunft«, +unterbrach Nechlidow, von seinem Stuhle aufspringend, +den Redner. »Weg mit den Sentimentalitäten, +die nur Ausbeutung, Schwäche und Dummheit +verschleiern sollen. Laßt uns die neue Menschheit +auf die Vernunft aufbauen. Vernunft allein +kann den Menschen weiterbringen. Gefühle erniedrigen +ihn zum Tiere. Aber streng und ehrlich +müssen wir sein.«</p> + +<p>Otto Meyer hatte mit einem spöttischen Lächeln +den beiden zugehört; jetzt aber wurde sein Gesicht +ganz ernst. Er machte eine Bewegung, als ob er +aufstehen wollte, besann sich dann aber wieder. +Herr von Rochow hatte wohl zu viel Wein getrunken, +denn sein Lächeln wurde blöder und blöder, +und seine treuherzigen, blauen Augen verschwammen +immer mehr. Edgar Allan hörte nur halb zu; +mit einem Bleistiftstumpfe entwarf er auf dem +weißen Tischtuche Hütten und Häuser in einem +Stile, der in merkwürdiger Weise eine stark betonte +Horizontale mit flachen Bogenlinien verknüpfte.</p> + +<p><a class="page" name="Page_70" id="Page_70" title="70"></a>Jetzt trat Paul Seebeck mit einigen raschen +Schritten an den Tisch und sagte:</p> + +<p>»Meine Freunde! Heute Abend ist es zu spät, +um noch alle die Einzelheiten zu erörtern, die ich +gern besprochen hätte. Aber dazu haben wir ja +die vielen Wochen auf dem Schiffe.</p> + +<p>Nur eins: das ist jetzt der Abschied vom behaglichen +Leben, von Großstadttrubel und den +Vergnügungen. Jetzt beginnt für uns die Arbeit. +Es liegt nur an uns, diese Arbeit so anzufassen, daß +sie für Andere und uns selbst größeres gestaltet, +als sonst je möglich wäre. Eine schwere Zukunft +liegt vor uns, aber eine große.«</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_71" id="Page_71" title="71"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Die</span> Sachverständigen waren nach Sidney zurückgekehrt. +Alles war geprüft worden: der +mutmaßliche Ertrag der anzulegenden Schildkrötenkultur, +der Fischreichtum des Meeres, die Brauchbarkeit +der Steine zum Hausbau, das Wasser, die +auf der Insel vorkommenden Minerale – und jetzt +saß Jakob Silberland den ganzen Tag in seinem +Zelte an einem Holztische und rechnete, wobei er +unausgesetzt die kurzen Beinchen bewegte und sich +nicht selten mit den Händen durch das schwarze, +strähnige Haar fuhr. Die andern sechs aber arbeiteten +draußen in der glühenden Sonne, um erst +am Abend zu den Zelten zurückzukehren. In +den Stunden, wo sie dann am Strande lagen und auf +das Meer hinaussahen, war manch ein gewichtiges +Wort gefallen.</p> + +<p>Jakob Silberland hatte viel zu tun: die gesamte +Korrespondenz lag in seinen Händen, ebenso die +Buchführung und die Verwaltung der Gelder. Er +hatte die wöchentliche Verbindung mit Sidney +durch einen kleineren Dampfer der »Australisch-Neu-Seeländischen +Transport-Gesellschaft« zustande +<a class="page" name="Page_72" id="Page_72" title="72"></a>gebracht, und jetzt galt es für ihn, auf eine +geraume Zeit hinaus den Bedarf an Geräten, Baumaterial +und anderen Dingen vorauszusehen und +geschickt auf die einzelnen Wochen zu verteilen, +damit der Verkehr sich für die Gesellschaft lohnte.</p> + +<p>Von diesen schwierigen Berechnungen bereitete +die schwerste und verantwortungsvollste Arbeit +– die Verwaltung der Gelder – Jakob Silberland +den geringsten Kummer. Es war beschlossen +worden, eine in fünfzehn Jahren zu amortisierende, +dreiprozentige innere Anleihe in der +Höhe von einer Million Mark aufzunehmen. In +fünf Jahren hofften sie, mit dem größten Teile +der Bauten und Anlagen fertig zu sein und +wollten dann die Anleihe jährlich mit hunderttausend +Mark amortisieren. Besondere Bestimmungen +verhinderten den Handel mit diesen +Papieren, um keinem Außenstehenden auch nur +den geringsten Einfluß zu erlauben. Herr von +Rochow und Paul Seebeck hatten ihr ganzes Vermögen +– eine halbe Million und zweihundertfünfzigtausend +Mark – in diesen Papieren angelegt, +Otto Meyer konnte fünfzigtausend beisteuern, und +Edgar Allan zwanzigtausend. – Jakob Silberland, +Nechlidow und Melchior besaßen nichts, konnten +also auch nicht die fehlenden hundertachtzigtausend +aufbringen, etwas, was Jakob Silberland +<a class="page" name="Page_73" id="Page_73" title="73"></a>in seiner Eigenschaft als Geschäftsführer sehr bedauerte. +Bis jetzt war nämlich das Kapital nur +in ganz geringem Umfange angegriffen, und der +weitaus größte Teil des Geldes lag mit sechsmonatlicher +Kündigung in der Filiale der »Deutschen +Bank« zu Sidney, wo es viereinhalbes Prozent +trug; die Anleihe konnte also auch, solange sie +nicht verbraucht war, als eine werbende betrachtet +werden, die anderthalb Prozent Überschuß im +Jahre erbrachte.</p> + +<p>Aber Jakob Silberland war praktisch und fand +einen Weg, um die Unterbringung der restlichen +hundertachtzigtausend Mark der Anleihe zu erzwingen. +Es war nämlich festgesetzt worden, daß +alle Staatsarbeiter – und das waren ja vorläufig +alle sieben Gründer – ein jährliches Gehalt von +fünftausend Mark beziehen sollten. Die spätere, +erweiterte Gemeinschaft mochte diese Bestimmung +bestätigen, abändern oder umstoßen; sie galt vorläufig +nur für das erste Jahr.</p> + +<p>Da jetzt von getrenntem Haushalt noch keine +Rede sein konnte, wurden die Notdürfte des Lebens +gemeinsam bezogen und entsprechend vom Gehalte +abgezogen. Der Rest sollte bar ausgezahlt werden. +Jakob Silberland setzte aber durch, daß nur die +Hälfte dieses Geldes bar ausgezahlt wurde, die +andere Hälfte aber in jenen Anleihepapieren, +<a class="page" name="Page_74" id="Page_74" title="74"></a>von denen zu diesem Zwecke die in Frage stehenden +hundertundachtzigtausend Mark in Scheinen von +je hundert Mark ausgegeben wurden. Sogar gegen +den Zinsverlust in der Zeit vor Unterbringung der +ganzen Summe verstand Jakob Silberland die +Staatskasse zu schützen, indem er diese Papiere +nicht zum Nominalwert, sondern mit einem jährlichen +Aufschlage von anderthalb Prozent ausgab.</p> + +<p>Inzwischen arbeiteten die anderen in der heißen +Sonne. Ihre erste Sorge galt der Zuführung von +Trinkwasser, dessen tägliche Herstellung im Destillationsapparate +zu langwierig war. Man verzichtete +vorläufig auf die Herstellung einer wirklichen, +unterirdischen Wasserleitung, begnügte sich vielmehr +damit, den kleinen Bach durch Spalten und +Rinnen in die Bucht zu leiten, wobei zwar ziemlich +viele Sprengungen, aber nur wenig Mauerungsarbeiten +notwendig waren. In den folgenden +Wochen arbeitete Edgar Allan an dem Stadtplane, +während die anderen fünf kleinere, aber notwendige +Arbeiten ausführten. Es war beschlossen worden, +sofort nach der Fertigstellung von Allans Plänen +an den Häuserbau zu gehen, und zwar sollten die +Häuser in der Reihenfolge gebaut werden, in der +die Gründer sich endgiltig zur Übersiedelung auf +die Insel bereit erklärt hatten.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_75" id="Page_75" title="75"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Die</span> Sonne war untergegangen, und schon wenige +Minuten später umhüllte tiefe Nacht die Insel. +Nur wenn eine Welle sich am Strande brach, leuchtete +für eine Sekunde grünlich-weiß der Gischt auf.</p> + +<p>Die Sieben lagen, des starken Nachttaues wegen +in leichte Decken gehüllt, schweigend um das Feuer, +das sie der Stimmung wegen entzündet hatten, und +sahen zum strahlenden Sternenhimmel empor.</p> + +<p>Keiner sprach ein Wort.</p> + +<p>Viertelstunde auf Viertelstunde verrann; unbeweglich +lagen die Männer da, nur ihre Gedanken +arbeiteten bei dem ewigen Rhythmus des Wellenschlages.</p> + +<p>Endlich setzte Melchior sich auf. Mit zusammengezogenen +Brauen starrte er vor sich hin, und das +leise flackernde Feuer ließ seine scharfen Züge unheimlich +erscheinen. Nach einer Weile hob er den +Kopf und sagte zu Paul Seebeck:</p> + +<p>»Herr Seebeck, darf ich auf jenes Gespräch zurückkommen, +das wir vor mehreren Monaten in +Berlin führten?«</p> + +<p><a class="page" name="Page_76" id="Page_76" title="76"></a>Seebeck drehte sich halb herum und sah ihn fragend +an. Seine Rechte spielte mit einigen Kieseln.</p> + +<p>Melchior sagte:</p> + +<p>»Unser Gespräch fing so an: ich fragte Sie, +weshalb man nicht die Menschen ohne weiteres +hier hersetzen könnte, damit sich die langsam entstehende +Gemeinschaft selbst jenen absoluten +Staat aufbaue, den wir hier künstlich schaffen +wollen. Sie antworteten, daß die Menschen so +vieles zu vergessen hätten, bevor sie reif würden, +Sie gebrauchten das Wort Masseninstinkte – erinnern +Sie sich noch?«</p> + +<p>Paul Seebeck nickte. Nechlidow, der an der +anderen Seite des Feuers lag, war aufgestanden und +hatte sich dicht neben Melchior gesetzt. Dieser +fuhr fort:</p> + +<p>»Ich habe darüber nachgedacht und habe zunächst +folgende Formel gefunden: Sie wollen die +tierischen Masseninstinkte durch das menschliche +Massenbewußtsein ersetzen.«</p> + +<p>Paul Seebeck nickte und hörte auf, mit den +Steinchen zu spielen. Nechlidow beugte sich mit +offenem Munde und glänzenden Augen weit vornüber. +Edgar Allan aber sagte gleichmütig im Hintergrunde:</p> + +<p>»Glauben Sie denn wirklich, daß das geht? +Wir, die etwas besonderes zu sagen haben, haben +<a class="page" name="Page_77" id="Page_77" title="77"></a>die Pflicht, uns die besten Bedingungen zu schaffen, +um das Betreffende zu sagen und können dann mit +gutem Gewissen abtreten. Denn wir erleben doch +nicht, daß die Masse uns versteht; in manchen +Fällen geschieht es später – meistens wohl überhaupt +nicht. Aber wir haben die Pflicht, das zu +geben, was wir geben können, gleichgiltig, ob es +genommen wird oder nicht. Auf die Masse warten +können wir aber nicht. Dazu ist unsere Zeit zu +kostbar. Wir müssen es ihr anheimstellen, ob sie +uns nachhumpeln will oder nicht. Die Geschichte +machen wir und nicht die Masse.«</p> + +<p>Verlegenes Schweigen folgte diesen Worten. +Seebeck griff wieder nach seinen Steinchen. Jakob +Silberland sagte:</p> + +<p>»Nein, Herr Allan, Sie begehen den Fehler, überhaupt +einen Unterschied zwischen Führern und +Masse zu konstruieren. Das geht nicht. Ich will +damit nicht nur sagen, daß es sich hier nur um +graduelle, niemals prinzipielle Unterschiede handeln +kann, da es so unzählige Gebiete gibt, auf denen +irgend jemand führt; soziale, politische, religiöse, +literarische, vegetarische, alkoholgegnerische und +weiß Gott noch was für Führer gehören auf jedem +anderen Gebiete wieder zu der geführten Masse; es +handelt sich also immer nur um eine partielle, +niemals um eine absolute Führerstellung, und erst +<a class="page" name="Page_78" id="Page_78" title="78"></a>die Resultante aller dieser großen und kleinen Bewegungen +stellt die Geschichte der Menschheit dar, +sondern –«</p> + +<p>Er stand auf und hob dozierend einen Finger:</p> + +<p>»Daß die Mitglieder eines heutigen Staates vollständig, +die Mitglieder der ganzen Menschheit zum +großen Teile, dasselbe sind, was die einzelnen +Teile eines Korallenriffs, die einzelnen Zellen im +menschlichen Körper sind: Glieder eines größeren +Individuums, die durch die Arbeitsteilung und die +darin liegende Verzichtleistung auf universelle +Tätigkeit, als Ganzes mehr zu vollbringen vermögen, +als das Einzelwesen kann. Kurz und gut, wir leben +eigentlich schon im sozialistischen Zukunftsstaate, +nur daß die Staatsformen, der äußere Ausdruck der +inneren Organisation, immer um einige hundert +Jahre zurück sind, ebenso wie der jeweilige Stand +der Orthographie immer die gesprochene Sprache +vor einigen hundert Jahren darstellt. Alles Unglück +kommt aus dieser Inkongruenz von Form +und Inhalt – und die wollen wir ja hier abschaffen, +indem wir die Staatsform einige hundert Jahre +Entwicklung überspringen lassen und sie genau +dem gegenwärtigen Stande der menschlichen Organisation +anpassen.«</p> + +<p>»Sind die Staatsformen wirklich im Rückstande?« +mischte sich Herr von Rochow ins Gespräch. »Ich +<a class="page" name="Page_79" id="Page_79" title="79"></a>möchte lieber sagen, daß sie eine viel vorgeschrittenere, +gleichsam idealisierte Menschheit voraussetzen. +Denken Sie doch an das Institut der Ehe, das die +Monogamie voraussetzt, die es doch praktisch so +gut wie gar nicht gibt.«</p> + +<p>Jetzt sprang Melchior auf und streckte flehend +die Arme aus. Er rief: »Nicht mehr, ich flehe Sie +an, heute Abend nicht mehr! Ich sehe jetzt, wo +das Problem liegt – lassen Sie mir nur etwas Zeit!«</p> + +<p>Verwundert und ein wenig gekränkt sahen die +anderen ihn an. Seine Erregung war aber so echt, +seine Stimme so flehend, dabei seine magere Gestalt +im Feuerscheine so grotesk, daß sich der Ärger +bald in Achtung und Mitleid verwandelte. Doch +hätte die Situation peinlich werden können, hätte +Otto Meyer sie nicht aufgelöst. Er sagte nämlich +gemütlich:</p> + +<p>»Ja, Kinder, was strengt ihr euch unnötig an, +wenn Herr Melchior so liebenswürdig ist, alle Denkarbeit +für uns zu übernehmen, und für die endgiltige +Lösung aller Weltprobleme garantiert.«</p> + +<p>Alle lachten; nur Melchior hatte nichts gehört. +Mit gekrümmtem Rücken saß er da und starrte vor +sich hin.</p> + +<p>Nach einer kleinen Pause sagte Edgar Allan:</p> + +<p>»Wir wollen also von der Theorie auf die Praxis +übergehen. Ich bin nämlich heute mit meinem +<a class="page" name="Page_80" id="Page_80" title="80"></a>Stadtplan fertig geworden. Wir können morgen +vielleicht einen kleinen Rundgang durchs Gelände +machen, und ich kann Ihnen dann genau erklären, +wie ich alles meine. Ich habe natürlich versucht, +die Natur so genau wie möglich zu verstehen und +sie ihrer eigenen Struktur entsprechend auszubauen. +Die Stadt soll sich der Bildung der Felsen +eng anschließen; sie darf ja kein Fremdkörper auf +der Insel sein, sondern ein organischer Teil von +ihr, ihre Blüte. Na, das sind ja Gemeinplätze«, +sagte er aufstehend, »aber ich habe auch einige gute +Ideen gehabt. In der Sohle unserer Mulde möchte +ich die Hauptstraße haben, die alle Terrassen verbindet +und dann vielleicht später weiter auf das +Hochland geführt wird. Die achte große Terrasse +– Sie wissen, die breite, hinter der die Steigung so +viel steiler wird, so daß die Straße dort in starken +Serpentinen weitergeführt werden müßte – +möchte ich den öffentlichen Gebäuden vorbehalten, +einem Volkshause für Versammlungen und ähnlichen +Dingen.</p> + +<p>Am Strande, in der Richtung auf die Irenenbucht +zu, könnte eine einreihige Straße von Fischerhäuschen +liegen; dort rechts, wo die Wand ziemlich +steil ist, wäre nur Platz für einige, wenige Häuser. +Das ist eine ganz ideale Stelle für Sonderlinge, die +von dort aus höhnisch auf die Stadt hinabsehen +<a class="page" name="Page_81" id="Page_81" title="81"></a>wollen. Auf solche Käuze müssen wir ja auch vorbereitet +sein. Vielleicht beschließt sogar einer von +uns sein Leben dort.«</p> + +<p>»Aber jetzt will ich Ihnen meine Hauptgedanken +sagen, meine Herren«, fuhr er lebhaft fort. »Sehen +Sie, der Bach wird auf absehbare Zeit hinaus für +die Wasserzufuhr völlig ausreichen. Wir müssen +aber den ganzen Fluß herunter bringen, denn dann +können wir hier im Laufe einiger Jahre eine Vegetation +schaffen, wozu die Natur viele hundert Jahre +brauchen würde. Und das Überspringen von Zeiträumen +ist ja unsere Hauptbeschäftigung hier. +Die Sache läßt sich ausgezeichnet machen. Ich +habe alles ganz genau geprüft. Der Fluß muß zunächst +in das tiefe Becken geleitet werden, das +auch sicher früher einen See beherbergt hat – falls +Seebecks Theorie richtig ist, daß die Insel nur vorübergehend +unter das Meer gesunken ist. Ebenso +sicher ist natürlich auch diese Mulde das frühere +Flußtal.</p> + +<p>Der Wall, der das Becken gegen unser Tal abschließt, +ist durchgängig höher, als der zum Meere. +Besser könnte die Sache überhaupt nicht liegen, +denn so hat das Staubecken ein natürliches Sicherheitsventil. +Wir brauchen niemals eine Überschwemmung +der Stadt zu befürchten, denn das +überschüssige Wasser wird immer gleich ins Meer +<a class="page" name="Page_82" id="Page_82" title="82"></a>stürzen. Wir müssen nur ziemlich tief im Becken +eine große Röhre anbringen, die den Wall in der +Richtung auf die Stadt zu durchbohrt. Dann +haben wir, unabhängig von dem jeweiligen Wasserstande +des Staubeckens, einen gleichmäßigen +Wasserstrom.</p> + +<p>Oben, bei der Terrasse, die ich für die öffentlichen +Gebäude reservieren will, soll sich der Fluß dann +teilen. Der Hauptarm soll der Hauptstraße folgen; +ich will aber unzählige, kleine Bäche von ihm ableiten, +so daß fast jedes Haus an fließendem Wasser +liegt. – Natürlich wird das Trinkwasser davon +unabhängig in geschlossenen Röhren geleitet. – +So gut wie alle Häuser werden ja auf kleinere +oder größere Terrassen zu liegen kommen, also auf +wagerechten Grund. Mit Hilfe des Wassers +können wir nicht nur öffentliche Anlagen schaffen, +sondern jedes Haus kann seinen Garten haben. +Ich denke dabei nicht nur an die Schönheit, sondern +besonders an die Regulierung der Atmosphäre.</p> + +<p>Wenn wir auf Kloaken verzichten und alle Abfälle +den Gärten zugute kommen lassen, haben wir +schon etwas; aber das genügt vorläufig nicht. Wir +müssen vielmehr einen ganz energischen Anfang +machen. Ich schlage einfach vor, irgend eine recht +schwere, fruchtbare Lehmerde aus Australien hierher +transportieren zu lassen und damit die Gartenflächen +<a class="page" name="Page_83" id="Page_83" title="83"></a>etwa einen Meter hoch zu bedecken. Wenn +wir uns dann Bäume mit recht starken, tiefgehenden +Wurzeln pflanzen, werden die dann schon eine allmähliche +Lockerung des Bodens besorgen. Es gibt +ja Bäume, die eigentlich nur einen Halt in einer +dünnen Humusschicht brauchen, und ihre Kraft +aus dem Felsen selbst ziehen: manche Nadelhölzer, +auch Birkenarten. Das alles müßte natürlich mit +einem großzügigen Gärtner besprochen werden.</p> + +<p>Meine Skizzen zu den Häusern selbst werde ich +Ihnen morgen zeigen. Ich glaube, jetzt den richtigen +Stil gefunden zu haben. Ich habe eine stark betonte +Horizontale mit flachen Kurven verschmolzen +– na ja, das alles morgen.</p> + +<p>Aber jetzt möchte ich noch etwas sagen: es ist +ein schöner Gedanke, hier alles aus eigenen Kräften +auszuführen; aber eigentlich ist es doch nur eine +unpraktische Sentimentalität. Wir verschwenden +Zeit und Kraft auf Dinge, die jeder Kuli machen +könnte. Sollten wir nicht lieber einige hundert +Arbeiter aus Sidney kommen lassen, um diese rein +körperlichen Arbeiten für uns auszuführen? Dann +kämen wir doch viel schneller vorwärts. Es ist +nur ein Vorschlag –«</p> + +<p>Nechlidow sprang auf:</p> + +<p>»Nein, nein«, rief er. »Keine Kompromisse! +Damit finge die Lüge an, die alles durchsetzen +<a class="page" name="Page_84" id="Page_84" title="84"></a>würde. Wir müssen unseren Prinzipien treu bleiben. +Solche scheinbar – und nur scheinbar – praktische +Erwägungen haben die große Unwahrheit in die +Welt hineingebracht. Wenn unser Leben hier einen +Zweck hat, so ist es der, zu beweisen, daß das strenge +Festhalten am großen Gedanken, am Menschheitsgedanken +auch praktisch am weitesten führt.«</p> + +<p>»Ich erlaubte mir nur einen Vorschlag«, antwortete +Edgar Allan höflich. »Da er auf Widerspruch +stößt, ziehe ich ihn hiermit zurück.«</p> + +<p>Das Feuer war bei Allans Rede langsam zusammengesintert; +jetzt war es nahe am Verlöschen, +aber niemand dachte daran, es wieder anzufachen. +In ihre Decken gehüllt, lagen die Sieben schweigend +da und sahen zum glänzenden Sternenhimmel +empor.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_85" id="Page_85" title="85"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Als</span> der Tag sich jährte, an dem die sieben Gründer +die Insel betreten hatten, lag die »Prinzessin +Irene« in vollem Flaggenschmuck vor der +Bucht. Als die Hochflut kam und die Klippen +bedeckte, schleppten die beiden zierlichen Dampfbarkassen +schwere Boote mit Menschen und Hausgerät +ans Land. Auf der improvisierten Landungsbrücke +standen Paul Seebeck und Melchior und +begrüßten die Ankömmlinge, während die anderen +Fünf eifrig damit beschäftigt waren, ihnen Unterkunft +in den großen Schuppen und Zelten zu bereiten, +die zu diesem Zwecke errichtet waren. Denn +die Häuser mußten ja erst gebaut werden und +zwar in derselben Reihenfolge, in der die endgiltigen +Erklärungen eingelaufen waren.</p> + +<p>Dreihundertfünfzig erwachsene Personen trafen +an diesem Tage ein: tüchtige Handwerker mit gesetzten +Gesichtern, Kaufleute, die aus irgend einem +Grunde nicht vorwärts gekommen waren und nicht +wenige unbestimmbaren oder unsicheren Berufes, +die erst hier ihr wirkliches Vaterland wußten. –</p> + +<p><a class="page" name="Page_86" id="Page_86" title="86"></a>Es ergab sich von selbst, daß die sieben Gründer +nicht mehr wie früher selbst Hand an alle Arbeit +legen konnten: Organisation und Leitung nahm +ihre Zeit und ihre Kräfte völlig in Anspruch. +Hauptmann a. D. von Rochow übernahm die Leitung +beim Bau der Straße und der öffentlichen Anlagen; +Edgar Allan hatte Tag und Nacht als Architekt +zu tun; Otto Meyer hatte einen Teil von Jakob +Silberlands Tätigkeit übernommen, der nur noch +die Rechnungssachen versah, und Paul Seebeck +hatte mit der Oberleitung und persönlicher Inanspruchnahme +durch die Kolonisten mehr als genug +zu tun. Nechlidow und Melchior wären den andern +als Assistenten willkommen gewesen; beide erklärten +aber ein für allemal, daß sie einfache Arbeiter +bleiben wollten.</p> + +<p>Bei der fieberhaften Tätigkeit entstand schnell +Haus auf Haus, und froh vertauschte man Schuppen +oder Zelt mit dem festen Dache. Damit wurden +auch immer mehr Kräfte frei, so daß in immer +größerem Maßstabe an den Straßen und den öffentlichen +Gebäuden gearbeitet werden konnte. Die +Wasseranlage wurde nach Edgar Allans Plänen +durchgeführt, und die Dampfer der »Australisch-Neu-Seeländischen +Transportgesellschaft« mußten +halbwöchentlich verkehren und konnten doch kaum +die Masse des benötigten Materials bewältigen.</p> + +<p><a class="page" name="Page_87" id="Page_87" title="87"></a>Jedesmal, wenn die »Prinzessin Irene« vor der +Bucht hielt, brachten ihre Boote Dutzende von +neuen Ansiedlern auf die Insel.</p> + +<p>Als das Jahr verflossen war, stand die Stadt da.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_88" id="Page_88" title="88"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Auf</span> den amphitheatralisch ansteigenden Bänken +in der großen, flachgewölbten Halle des Volkshauses +saßen dreihundertfünfzig Männer und Frauen +und hinter ihnen drängten sich wohl zweihundert +auf den Tribünen. An einem langen Tische auf +einem kleinen Podium im Brennpunkte des Kreisbogens +saßen die sieben Gründer.</p> + +<p>Nicht zum ersten Male waren die Glieder der +Gemeinschaft hier versammelt; aber doch zeigten +alle Gesichter einen seltsamen Glanz. Vor zwei +Jahren hatten an diesem Tage die sieben Gründer +die Insel betreten, und heute waren dreihundertfünfzig +Männer und Frauen vollberechtigte Bürger +geworden. Sie waren heute hier versammelt, um +zum ersten Male ihre Rechte auszuüben.</p> + +<p>Paul Seebeck erhob sich von seinem Stuhle, und +sofort trat atemlose Stille ein. Er richtete sich hoch +auf, warf einen langen Blick über die Versammlung +und lächelte glücklich. Dann sagte er:</p> + +<p> +»Meine Damen und Herren!<br /> +</p> + +<p>Im Namen meiner Freunde heiße ich Sie hier +willkommen! In der gemeinsamen Arbeit dieses +<a class="page" name="Page_89" id="Page_89" title="89"></a>Jahres haben wir Werte geschaffen, die uns und +unsere Enkel überdauern werden. Wir danken +Ihnen für Ihre treue Mitarbeit.</p> + +<p>Bis jetzt sind wir sieben Ihre Führer gewesen, +nicht aus Hochmut oder Herrschsucht, sondern nur, +weil wir anfangs eine größere Sachkenntnis hatten.</p> + +<p>Jetzt legen wir unsere Mandate in Ihre Hände. +Sie mögen prüfen, was Sie von den Bestimmungen, +die wir getroffen haben, beibehalten wollen und +was nicht. Vorbehaltlos übergeben wir Ihnen unsere +Rechte und Pflichten.</p> + +<p>Bevor wir in die Verhandlungen eintreten, müssen +wir einen Vorsitzenden haben. Als den in solchen +Dingen gewandtesten erlaube ich mir, Herrn Dr. +Silberland vorzuschlagen. Es wird kein anderer +Vorschlag laut – also bitte ich Herrn Dr. Silberland, +den Vorsitz dieser Versammlung zu übernehmen.«</p> + +<p>Ein erstauntes und verschwommenes Gemurmel +wurde laut, als die sechs vom Podium herunterschritten +und auf der vordersten Bank Platz nahmen.</p> + +<p>Jakob Silberland war der Situation durchaus gewachsen; +er gab ein kurzes Glockenzeichen und sagte:</p> + +<p>»Sie werden mir ein Wort des Dankes an Herrn +Seebeck erlauben. Ich weiß, daß ich im Sinne der +ganzen Versammlung spreche, wenn ich sage: in +diesem Augenblicke, wo Herr Seebeck aufgehört +<a class="page" name="Page_90" id="Page_90" title="90"></a>hat, unser offizieller Führer zu sein, wollen wir +ihm versichern, daß er immer und ewig unser +geistiger Führer bleiben wird. Denn wir wissen +alles, was wir ihm schulden: seine Initiative, seine +Energie, sein praktischer Blick, sein Glaube an den +Menschen haben die Errichtung des stolzen Werkes +ermöglicht, das wir hier vor uns sehen. Und wenn +wir alle längst im Grabe liegen, wird der Name +Paul Seebeck für immer mit goldenen Buchstaben +im Buche der Menschheit stehen.«</p> + +<p>Zögernd hatten sich die Versammelten erhoben; +Paul Seebeck war sitzen geblieben und starrte in +tötlicher Verlegenheit vor sich hin. Jakob Silberland +sah einen Augenblick lang auf die stehende +Versammlung und wußte augenscheinlich nicht +recht, was er mit ihr anfangen sollte. Hilfesuchend +sah er Otto Meyer an, der nur mit größter Mühe +ein Lachen herunterschluckte. Herrn von Rochows +Gesicht strahlte. Er ging zu Paul Seebeck und +drückte ihm die Hand.</p> + +<p>Plötzlich bekam Jakob Silberland einen rettenden +Gedanken; er griff zur Glocke, läutete kurz und +sagte, während die Versammlung sich geräuschvoll +wieder setzte:</p> + +<p>»Ich ersuche jetzt Herrn Seebeck als ersten, +einen Überblick über die verflossenen zwei Jahre +zu geben.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_91" id="Page_91" title="91"></a>Paul Seebeck trat mit einigen schnellen Schritten +auf das Podium und sagte:</p> + +<p>»Was hier geschehen ist und was wir hier wollen, +wissen Sie ja alle, und ich brauche nicht mit feierlichen +Worten darauf einzugehen. Was ich getan +habe, glaube ich verantworten zu können.</p> + +<p>Nur auf einen Punkt möchte ich hinweisen: ich +bin, wie Sie ja alle wissen, Reichskommissar mit +den Rechten und Pflichten eines solchen. Ich habe +aber vom Reichskolonialamt die Ermächtigung erwirkt, +mein Amt einem andern, das heißt, meinem +jetzt zu wählenden Nachfolger zu übertragen. Sobald +die Wahl vor sich gegangen ist, werde ich es +tun. Ich deponiere hier beim Vorsitzenden der +Versammlung eine unterzeichnete und datierte +offizielle Benachrichtigung an das Reichskolonialamt, +wo nur noch der Name des neuen Reichskommissars +auszufüllen ist.«</p> + +<p>Er verbeugte sich kurz und ging zu seinem Platze +zurück.</p> + +<p>Jakob Silberland gab ein Glockenzeichen und +sagte:</p> + +<p>»Da ich jetzt selbst das Wort ergreifen möchte, +um über die Verwaltung der öffentlichen Gelder +Rechenschaft abzulegen, bitte ich um Erlaubnis, +den Vorsitz so lange an Herrn Referendar Meyer +abzutreten. – Da kein Widerspruch erfolgt, tue +<a class="page" name="Page_92" id="Page_92" title="92"></a>ich es hiermit. – Herr Referendar, darf ich +bitten.«</p> + +<p>Otto Meyer schritt gravitätisch auf das Podium +und flüsterte Jakob Silberland zu:</p> + +<p>»Na, Sie werden staunen: zunächst werde ich +mal die ganze Zeit durch bimmeln, dann kriegen +Sie drei Ordnungsrufe, und ich fordere Sie auf, den +Saal zu verlassen.«</p> + +<p>Jakob Silberland sah ihm erschreckt ins Gesicht:</p> + +<p>»Um Gotteswillen –«</p> + +<p>Er kam nicht weiter, denn Otto Meyer läutete +und sagte:</p> + +<p>»Herr Dr. Jakob Silberland hat das Wort.«</p> + +<p>Jakob Silberland suchte stehend allerhand Papiere +zusammen, die auf dem Tische lagen und sagte:</p> + +<p>»Ich kann jetzt natürlich nur in großen Zügen +ein Bild von der finanziellen Lage geben; ich werde +Sie später bitten, eine Kommission zu wählen, um +meine Bücher in allen Einzelheiten nachzuprüfen.</p> + +<p>Wir sind, wie Sie wissen, mit einer dreiprozentigen +inneren Anleihe in der Höhe von einer Million +Mark belastet. Dieses Geld hat uns, solange es +noch teilweise auf der Bank lag, einen Zinsenüberschuß +von zehntausendachthundertdreiundfünfzig +Mark und einundsiebzig Pfennigen gebracht.</p> + +<p>Wir haben zweihundertachtunddreißig Schildkröten +verkauft. Sie wissen ja, daß wir nach dem +<a class="page" name="Page_93" id="Page_93" title="93"></a>Urteile der Sachverständigen dazu gezwungen +waren, da der Platz für die Tiere nicht ausreichte, +und sie sonst einfach fortgewandert wären. Dafür +haben wir die Summe von fünf Millionen, achthundertsechsundvierzigtausend +siebenhundert und +einundzwanzig Mark und elf Pfennigen eingenommen. +Wir hatten also sechs Millionen achthundertsiebenundfünfzigtausend +fünfhundertvierundsiebzig +Mark zweiundachtzig Pfennig bares +Geld zur Verfügung.</p> + +<p>Unsere Ausgaben waren folgende: Gehälter: abzüglich +der Mietsbeträge eine Million siebenhundertachtunddreißigtausend +fünfhunderteinundzwanzig +Mark. Hausbau: drei Millionen achthundertsiebenundfünfzigtausend +einhundertachtundsechzig +Mark und zweiundvierzig Pfennige. Straßenbau, +Anlage des Bewässerungssystems, Trinkwasserleitung, +Hafenanlagen, Erde haben zusammen zwei +Millionen, sechshunderttausend vierhundertachtundneunzig +Mark sieben Pfennige gekostet. Verschiedenes +kostete zusammen zweihundertachttausend +neunhundertdreizehn Mark, neunundzwanzig +Pfennige. Unsere gesamten Ausgaben betrugen +also: acht Millionen, vierhundertfünftausend einhundert +Mark und achtundsiebzig Pfennige. Wir +schließen diese zweijährige Periode mit einem +Defizit von anderthalb Millionen, siebenundvierzigtausend +<a class="page" name="Page_94" id="Page_94" title="94"></a>fünfhundertfünfundzwanzig Mark und +sechsundneunzig Pfennigen ab.</p> + +<p>Hierzu ist zu bemerken, daß wir dieses Defizit +ja jeden Tag aus der Irenenbucht decken können; +vielleicht sind wir sogar gezwungen, noch hundert +Schildkröten herauszunehmen, um einen geordneten +Zuchtbetrieb möglich zu machen. Dann, daß wir +in diesen zwei Jahren einen großen Teil der Stadtanlage +ausgeführt haben, so daß wir in der Zukunft +nur einen geringen Posten dafür aufzuwenden +haben werden. Dann, daß das für den Hausbau +aufgewendete Geld sich mit neun Prozent verzinst. +Die jährliche Miete beträgt zwar zehn Prozent +der Baukosten, doch stellen wir ein Prozent für +einen Reparaturfond zurück. Trotz dieses Defizits +ist unsere finanzielle Stellung also sehr günstig.«</p> + +<p>Jakob Silberland setzte sich, und Otto Meyer +verließ das Podium. Im Hinunterschreiten flüsterte +er Jakob Silberland zu:</p> + +<p>»Bis an mein Lebensende werde ich nicht begreifen, +weshalb ich hier heraufkrabbeln mußte. +Aber wundervoll war es da oben.«</p> + +<p>Jetzt erhielt Edgar Allan das Wort. Er kniff die +Lippen zusammen und blickte über die Köpfe der +Versammlung weg. Er sagte:</p> + +<p>»Was ich gemacht habe, kann jeder Mensch +sehen; ich hoffe, den hier vorherrschenden Geschmack +<a class="page" name="Page_95" id="Page_95" title="95"></a>getroffen zu haben. Jedenfalls habe ich +alles getan, was in meinen Kräften stand.«</p> + +<p>Jakob Silberland stand auf, gab wieder ein +Glockenzeichen und sagte:</p> + +<p>»Wünscht jemand aus der Versammlung das +Wort? – Nicht? – Dann können wir zur Wahl +schreiten. Hierzu ist zu bemerken, daß sich bis +jetzt die Notwendigkeit von fünf Ämtern ergeben +hat und zwar der folgenden: eines Vorstehers der +Gemeinschaft, eines Schriftführers, eines Geschäftsführers, +eines Architekten und eines Leiters der +öffentlichen Anlagen. Zunächst wäre die Frage +zu entscheiden, ob diese Ämter in der bisherigen +Form weiterbestehen sollen. Weiterhin kann ich +mitteilen, daß die bisherigen Inhaber dieser Ämter +die bisher geltenden Bestimmungen zusammengefaßt +haben. Ihre Nachfolger hätten dazu Stellung +zu nehmen und ihre eventuellen Änderungsvorschläge +der Versammlung zu unterbreiten. Ich +erlaube mir daher, folgende Geschäftsordnung vorzuschlagen: +zunächst erfolgt die Feststellung der +Ämter, dann die Wahlen zu ihnen. Die so gewählten +neuen Beamten hätten Stellung zu den bisherigen +Gesetzen zu nehmen und ihre eventuellen Änderungsvorschläge +einer späteren Versammlung zur +Beschlußfassung zu unterbreiten. Schlägt jemand +eine andere Geschäftsordnung vor? – Nicht? – +<a class="page" name="Page_96" id="Page_96" title="96"></a>Dann schreiten wir zu Punkt eins: Debatte über +die bisherigen Ämter. Wer wünscht das Wort +hierzu?«</p> + +<p>Jetzt erhob sich endlich im Hintergrunde ein +Mann und sagte grob:</p> + +<p>»Ich meine, daß alles gut war, wie es war, und +daß dieselben Herren oben bleiben sollen, denn +die verstehen es doch am besten.«</p> + +<p>Aller Augen hatten sich dem Redner zugewandt, +der sich jetzt die Stirn eifrig mit einem roten +Taschentuche rieb.</p> + +<p>Jakob Silberland mußte zweimal läuten, bis das +beifällige Gemurmel verstummte; dann sagte er:</p> + +<p>»Der verehrte Herr Vorredner hat sich gleich +zu den zwei ersten Punkten der Tagesordnung +geäußert, und zwar schlägt er Beibehaltung der +alten Ämter und Wiederwahl der bisherigen Beamten +vor. Ist die Versammlung damit einverstanden, +daß diese beiden Punkte gemeinsam behandelt +werden?«</p> + +<p>Jetzt kam Leben in die Versammlung, und von +allen Seiten ertönten Beifallsrufe und Zustimmungsäußerungen. +Da richtete Jakob Silberland sich +stolz auf und sagte:</p> + +<p>»Die ganz überwiegende Mehrheit wünscht die +gemeinsame Behandlung beider Punkte. Ich stelle +also den Vorschlag des Vorredners zur Abstimmung, +<a class="page" name="Page_97" id="Page_97" title="97"></a>die bisherigen Beamten zu ihren bisherigen Ämtern +wieder zu wählen.«</p> + +<p>Jetzt wich die Schüchternheit von der Versammlung. +Die Beifallsrufe bekamen einen fast +animalischen Charakter. Es wurde geschrieen, +geklatscht und getrampelt.</p> + +<p>Edgar Allan beugte sich zu Paul Seebeck und +flüsterte ihm zu:</p> + +<p>»Sehen Sie, wie sie bei dem Gedanken aufleben, +wieder unter die Peitsche zu kommen. Wie ein +Alp hat die Vorstellung auf ihnen gelastet, daß sie +frei wären.«</p> + +<p>Paul Seebeck seufzte und schwieg.</p> + +<p>Endlich war es Jakob Silberland gelungen, mit +seiner Glocke den Lärm zu übertönen. Sein Gesicht +strahlte vor Freude und Stolz.</p> + +<p>»Ich bitte diejenigen aufzustehen, die gegen den +Vorschlag sind«, sagte er lächelnd. Und ebenfalls +heiter lächelnd blieb die Versammlung sitzen.</p> + +<p>Auf einen Wink von Jakob Silberland kamen +Paul Seebeck, Edgar Allan, Otto Meyer und Herr +von Rochow wieder auf das Podium. Paul Seebeck +begann mit niedergeschlagenen Augen zu sprechen:</p> + +<p>»Im Namen der anderen Herren danke ich Ihnen +für Ihr Vertrauen. Die von dem Vorsitzenden +vorgeschlagene und von Ihnen angenommene Geschäftsordnung +bestimmt als nächsten Punkt die +<a class="page" name="Page_98" id="Page_98" title="98"></a>Vorlegung der bis jetzt bestehenden Gesetze samt +unseren Vorschlägen. – Da wir der Lage der Dinge +nach nicht nötig haben, uns mit dem fraglichen +Materiale erst bekannt zu machen, können wir +das jetzt gleich erledigen und brauchen keine +spätere Versammlung dazu.«</p> + +<p>Jakob Silberland reichte ihm einige Papiere. +Paul Seebeck blätterte etwas in ihnen und sah dann +auf:</p> + +<p>»Ich will mir erlauben, das folgende Exposé +vorzulesen, das wir sieben Gründer gemeinsam ausgearbeitet +haben. Ich bitte, Änderungsvorschläge +sofort vorzubringen, damit das, was unwidersprochen +bleibt, als genehmigt angesehen werden kann. Ich +möchte mir vorbehalten, in einigen Vorträgen +oder in anderer Form die Gesetze vom rein-menschlichen +Standpunkte aus zu erläutern – hier mögen +sie rein praktisch angesehen werden.«</p> + +<p>Er schwieg einen Augenblick; dann hob er ein +Blatt in die Höhe und las:</p> + +<p>»Die Gesetze der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel. +– Erstens: Die Schildkröteninsel ist +ein Teil des deutschen Kolonialbesitzes. Der jeweilige +Vorsteher der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel +ist in seiner Eigenschaft als Reichskommissar +dem Staatssekretariat der Kolonien des +Deutschen Reiches verantwortlich.</p> + +<p><a class="page" name="Page_99" id="Page_99" title="99"></a>»Es ist dies nur eine Formsache«, erläuterte er +aufblickend, »unter der selbstverständlichen Voraussetzung, +daß der jeweilige Reichskommissar +nichts gegen die Interessen des deutschen Reiches +unternimmt, hat er ja – vom Reiche aus – unbeschränkte +Vollmacht.</p> + +<p>Zweitens: Nach einjährigem Aufenthalte erhält +jeder Ansiedler und jede Ansiedlerin über einundzwanzig +Jahre volles Bürgerrecht.</p> + +<p>Drittens: Die Versammlung aller Bürger erläßt +alle Gesetze, besetzt Ämter, bestimmt Ausgaben +und Einnahmen der Gemeinschaft; sie faßt +alle Beschlüsse mit einfacher Stimmenmehrheit.</p> + +<p>Viertens: Der Gemeinschaft gehören folgende +Dinge, die nie Privatbesitz werden können: der +Grund und Boden mit Gebäuden, Gärten, Straßenanlagen, +Wasser und Mineralien, dazu der Tierbestand +der Irenenbucht. Häuser und Gärten, die +dem Privatgebrauche bestimmt sind, werden verpachtet, +wobei die jährliche Pacht zehn Prozent +von den Bau- und Anlagekosten beträgt. Die +Instandhaltung erfolgt auf Kosten der Gemeinschaft. +Die Pacht ist unkündbar, solange der +Pächter seinen Verpflichtungen nachkommt.</p> + +<p>Fünftens: Alle Beamten und Arbeiter der Gemeinschaft +beziehen ein jährliches Gehalt von fünftausend +<a class="page" name="Page_100" id="Page_100" title="100"></a>Mark und werden auf mindestens ein Jahr +angestellt.</p> + +<p>Sechstens: Schule, Krankenpflege, Alters- und +Arbeitsunfähigkeitsunterstützung ist Sache der Gemeinschaft.</p> + +<p>Siebentens: Jeder Bürger hat das unbeschränkbare +Recht der freien Meinungsäußerung. –</p> + +<p>Achtens –«</p> + +<p>Er hielt einen Augenblick inne und sah auf die +Versammlung, die sich ganz still verhielt. Dann +legte er die Papiere auf den Tisch und sagte:</p> + +<p>»Heute muß ein Schritt von großer Bedeutung +unternommen werden. Bis jetzt sind wir alle Beamte +gewesen; von heute ab ist es weder notwendig, +noch wünschenswert. Wir brauchen vorläufig nur +etwa ein Drittel der bisherigen Arbeitskräfte für +den Dienst in der Gemeinschaft; die anderen zwei +Drittel können sich jetzt freie Berufe ergreifen. +Diejenigen, die auf ein weiteres Jahr im Dienste der +Gemeinschaft stehen wollen, können sich später bei +unserem Schriftführer, Herrn Otto Meyer, melden.«</p> + +<p>Er sah mit leuchtenden Augen geradeaus:</p> + +<p>»Ich bin kein Freund der Phrase. Aber ich darf +wohl sagen, daß der heutige Tag in der Geschichte +der Menschheit unvergeßlich bleiben kann. Helfen +Sie mir dazu.«</p> + +<p>Und die Verhandlungen nahmen ihren Fortgang.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_101" id="Page_101" title="101"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Am</span> Abend desselben Tages standen die sieben +Gründer auf dem Balkon von Paul Seebecks Haus +und sahen auf die Stadt hinunter. Wie leuchtende +Perlenschnüre zogen sich die Reihen der Straßenlaternen +durch das samtne Dunkel und zeigten +hier deutlich, dort verschwommen die Silhouetten +der Häuser. Und diese wiederum warfen aus ihren +Fenstern einige scharfe und harte Lichtbündel in +die Nacht.</p> + +<p>»Unsere Gründung«, sagte Herr von Rochow +und bewegte wie segnend die Arme, »unser großes +Kind, das wir geboren haben, und das so traut und +doch wieder so fremd dort unter uns liegt. Ein +eigener, lebendiger Körper.«</p> + +<p>»Und was sind wir in diesem Körper?« fragte +Paul Seebeck, die Arme über der Brust verschränkt +haltend.</p> + +<p>»Doch wohl das Gehirn«, sagte Nechlidow ruhig.</p> + +<p>»Und eben so fremd dem Körper, wie das Gehirn +dem menschlichen Körper, der seine eigenen Wege +geht, ohne sich um sein Gehirn zu kümmern«, +fügte Edgar Allan hinzu.</p> + +<p><a class="page" name="Page_102" id="Page_102" title="102"></a>Melchior griff sich mit der Linken an die Stirn.</p> + +<p>»Der Körper lebt nach eigenen Gesetzen, kümmert +sich nicht um das Gehirn, und die Menschheit ein +Körper, ein lebendiger Körper, mit eigener Seele«, +murmelte er. »Da liegt es ja!« schrie er auf.</p> + +<p>Otto Meyer schlug ihn begütigend auf die +Schulter:</p> + +<p>»Nehmen Sie die Sache nur mit Ruhe. Sie +brauchen die Welträtsel noch nicht heute abend zu +lösen. Lassen Sie sich noch einige Tage Zeit. Die +übrige Menschheit hat ja einige Tausend Jahre +über sie nachgedacht, ohne sie zu lösen.«</p> + +<p>Melchior sah dem Spötter ins Gesicht. Am +ganzen Leibe vor Erregung zitternd, sagte er:</p> + +<p>»Nicht die Welträtsel; aber das Problem des +Menschen. Ich sehe jetzt, wo es liegt, sehe es klarer +und klarer.«</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_103" id="Page_103" title="103"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Gabriele,</span> jetzt brauche ich Sie. Helfen Sie +mir, die Menschen zur Freiheit zu erziehen. +Sie wollen das Bewußtsein der Freiheit haben, aber +wagen nicht, sie zu gebrauchen.</p> + +<p>Ich glaubte, die Elite der Menschen hier zu versammeln; +ich sah die starken, freien Gesichter, die +kühnen, rücksichtslosen Augen – und setzt man +sie zusammen, wärmen sie sich wie eine Herde +Schafe aneinander.</p> + +<p>Und wir sieben stehen draußen, unverstanden +und unverstehend.</p> + +<p>Kommen Sie, die Mutter, kommen Sie und +seien Sie ein Bindeglied zwischen uns und jenen, +zwischen unserem Werke und unseren Gedanken.</p> + +<p class="signature">Seebeck.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_104" id="Page_104" title="104"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Trotz</span> des Regens war Paul Seebeck in seinem +Motorboote zur »Prinzessin Irene« hinausgefahren, +um Frau von Zeuthen noch am Deck zu +begrüßen.</p> + +<p>Im Rauchsalon des Dampfers erwartete sie ihn +mit ihren Kindern. Alle drei waren schon im +Mantel.</p> + +<p>Als sie sich begrüßt und eine halbe Stunde zusammen +geplaudert hatten, sagte Frau von Zeuthen:</p> + +<p>»Ich habe Ihnen wieder einen Menschen mitgebracht. +Seien Sie lieb zu ihm, dann wird er +wertvoll für Sie und Ihr Werk sein. – Felix, bitte +Herrn de la Rouvière herzukommen.«</p> + +<p>Felix sprang hinaus. Paul Seebeck erhob sich und +blieb erwartungsvoll stehen. Unwillkürlich zuckte +er aber zusammen, als er Herrn de la Rouvière +sah, denn dieser war ein Krüppel. Er war nicht +größer wie ein achtjähriger Knabe und hatte auch +das Gesicht eines solchen. Seine Beine waren dick +und kurz, seine Arme und die schwarzbehaarten +Hände aber wohl noch größer, als die eines erwachsenen +<a class="page" name="Page_105" id="Page_105" title="105"></a>Mannes. Er blieb bescheiden im Türrahmen +stehen.</p> + +<p>Frau von Zeuthen sagte:</p> + +<p>»Seine Vorfahren hat der Pöbel aus Frankreich +vertrieben, und derselbe Pöbel machte dem Urenkel +das Leben in Deutschland unmöglich. Nur +hat er sich andere Waffen gewählt, die aber nicht +weniger verletzen. Bei Ihnen sucht er eine Heimat, +Seebeck!«</p> + +<p>Seebeck trat auf ihn zu und reichte ihm die Hand, +die der Krüppel fast schmerzhaft fest drückte:</p> + +<p>»Seien Sie hier willkommen«, sagte er herzlich +und sah ihm gerade ins Gesicht. Aber sein Lächeln +erstarrte, als er in de la Rouvières Augen blickte. +Sie schienen ihm plötzlich einen fast tierischen +Ausdruck von Hunger zu bekommen. Aber im +nächsten Augenblicke war dieser Ausdruck verschwunden, +und der Krüppel stand wieder so +bescheiden wie vorher da.</p> + +<p>Im Augenblick vermochte Paul Seebeck nicht +mehr mit ihm zu sprechen; er wandte sich daher +an Frau von Zeuthen, die zusammen mit ihren +Kindern etwas in den Hintergrund getreten war, +und sagte:</p> + +<p>»Darf ich Ihnen ein Amt anbieten, Gabriele? +Ich kann doch wohl voraussetzen, daß Sie sich +auch in äußerem Sinne nützlich machen wollen?«</p> + +<p><a class="page" name="Page_106" id="Page_106" title="106"></a>Frau von Zeuthen trat lächelnd heran:</p> + +<p>»Ich habe noch nie in meinem Leben ein Amt +verwaltet. Vielleicht kann ich es hier. Wozu +wollen Sie mich denn machen?«</p> + +<p>»Zur Archivarin«, sagte Paul Seebeck. »Bis +jetzt hat die Sekretärin, die ich mir habe geben +lassen, auch das Archiv verwaltet. Aber die Arbeit +wird ihr zu viel, und außerdem paßt sie nicht recht +dazu.«</p> + +<p>Gabriele dachte einen Augenblick nach; dann +sagte sie:</p> + +<p>»Ich danke Ihnen und freue mich auf diese Arbeit. +Ich kann jetzt nur unklar sehen, worin sie besteht, +und die Dame wird mich erst in die Einzelheiten +einführen müssen. Ich stelle es mir schön vor, im +stillen Zimmer zu sitzen und das unbegreiflich +große und bunte Leben durch die festen Formen +zu ahnen, in denen es sich grob und kalt niedergeschlagen +hat.«</p> + +<p>Paul Seebeck nickte ihr zu. Dann wandte er +sich an Herrn de la Rouvière:</p> + +<p>»Und wie denken Sie sich Ihre Zukunft hier? +Wünschen Sie einen freien Beruf zu ergreifen, oder +denken Sie an ein Amt?«</p> + +<p>»Darf ich meine Zukunft nicht in Ihre Hände +legen, Herr Seebeck?« antwortete der Krüppel und +sah ihn treu und gut an.</p> + +<p><a class="page" name="Page_107" id="Page_107" title="107"></a>»Wenn Sie mir soviel Vertrauen schenken wollen«, +erwiderte Paul Seebeck und sah ihm gerade ins +Gesicht.</p> + +<p>»Aber was soll ich machen, Paul?« sagte Hedwig +und ergriff einschmeichelnd seine Hand.</p> + +<p>»Du? Ich glaube, wir werden dich als Kindergärtnerin +brauchen können; unser Erziehungswesen +liegt überhaupt recht im argen und muß erst +gründlich organisiert werden«, fügte er, zu Frau +von Zeuthen gewandt, erläuternd hinzu. Dann +sah er sich nach Felix um; aber dieser sagte nichts, +starrte ihn aber mit seinen großen, glänzenden +Augen unverwandt an.</p> + +<p>Frau von Zeuthen brach das sekundenlange +Schweigen:</p> + +<p>»Wie steht’s aber um die Dienstboten?«</p> + +<p>»Dafür haben wir gesorgt; die jungen Leute +zwischen sechzehn und einundzwanzig sind verpflichtet, +sich irgendwie nützlich zu machen. +Unsere jungen Damen sind Dienstmädchen, Krankenpflegerinnen +oder Kinderfräuleins, die Jungen +sind Laufburschen oder Hilfsarbeiter. Dafür bekommen +sie etwas Taschengeld. Sie sehen, wir +haben auch unsere allgemeine Wehrpflicht. Dispens +wird nur erteilt, wenn Lust und Begabung +zu selbständiger Tätigkeit vorliegt.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_108" id="Page_108" title="108"></a>»Und was machen Sie mit Ihren Verbrechern, +Seebeck?« fragte Frau von Zeuthen wieder.</p> + +<p>»Verbrechen sind noch nicht vorgekommen und +werden wohl auch nie vorkommen. Einige geringfügige +Übertretungen haben wir mit Geldstrafen +belegt. – Dagegen haben wir »bürgerliche +Rechtsstreitigkeiten«, wie Otto Meyer sich ausdrückt, +in überraschend großer Anzahl, und da +standen wir vor einer Schwierigkeit. Es war +eine starke Stimmung vorhanden, ein Gesetzbuch +auszuarbeiten, oder wenigstens einen unserer +Juristen als Richter einzusetzen. Ich wollte +natürlich nicht ein starres, eiskaltes Gesetzbuch +in unser flutendes Leben werfen, und ebensowenig +einen unserer, in ihrem Fach trotz allem verknöcherten +Juristen anstellen. Schließlich setzte +ich durch, daß die Monatsversammlungen alle +Streitigkeiten durch Beschluß entscheiden.«</p> + +<p>Frau von Zeuthen nickte und schwieg. Dann +fragte sie:</p> + +<p>»Wo sollen wir eigentlich wohnen?«</p> + +<p>»Oh, dafür habe ich gesorgt,« antwortete Paul +Seebeck schnell. »Ich habe Ihnen ein fünfzimmriges +Haus reservieren lassen; wenn es Ihnen nicht gefällt, +baue ich Ihnen ein anderes. Ich erlaubte mir, die +ordnungsgemäße Reihe etwas zu durchbrechen«, +fügte er lächelnd hinzu.</p> + +<p><a class="page" name="Page_109" id="Page_109" title="109"></a>Frau von Zeuthen drohte scherzend mit dem +Finger:</p> + +<p>»Ihr Prinzip haben Sie durchbrochen? Diese +Schandtat hätte ich Ihnen nicht zugetraut.«</p> + +<p>»Durfte ich Ihretwegen nicht eine Ausnahme +machen?« gab Paul Seebeck zurück.</p> + +<p>»Aber was werden die andern dazu sagen?«</p> + +<p>»Die andern? Ach Gott, Gabriele, die Verwaltung +bringt es mit sich, daß wir so viele Dinge selbständig +machen müssen – nachträglich wird dann +alles gut geheißen.«</p> + +<p>»Aber doch nicht, wenn Sie die grundlegenden +Prinzipien verletzen.«</p> + +<p>»Doch nur den Buchstaben, nicht den Sinn. – +Ich scheue mich nicht ein Prinzip zu verletzen, +wenn ich mir dadurch endlose Umwege spare und +auf kürzerem Wege gerade das Ziel, den Sinn jenes +Prinzips erfülle.«</p> + +<p>»Aber betreten Sie damit nicht einen gefährlichen +Boden? Wäre es nicht vielleicht doch besser, +jene Umwege zu machen?«</p> + +<p>»Nicht so lange ich so genau weiß, was ich will, +und so klar mein Ziel vor Augen sehe. – Und hier +liegt die Sache ja so klar: Ihre Mitarbeit ist für +uns alle so ungeheuer wichtig, daß es meine Pflicht +ist, Ihnen so schnell wie möglich volle Arbeitsmöglichkeit +zu schaffen. Ob Fischer Petersen +<a class="page" name="Page_110" id="Page_110" title="110"></a>einige Wochen länger in der Baracke leben muß, +erscheint mir, dagegen gehalten, als von geringerer +Bedeutung.«</p> + +<p>»Wenn aber Fischer Petersen sein Recht verlangt?«</p> + +<p>»Wenn er es doch täte, Gabriele! Helfen Sie +mir, ihn dazu zu erziehen! Und auch Sie, Herr de la +Rouvière, müssen mir dazu helfen.«</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_111" id="Page_111" title="111"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">»Fräulein</span> Erhardt«, meldete das Dienstmädchen, +und Frau von Zeuthen erhob sich +vom Divan, auf dem sie in halb liegender Stellung +ein Buch gelesen hatte.</p> + +<p>Ein dunkellockiges Mädchen mit schwarzen, +träumerischen Augen trat ein. Sie trug ein loses +Reformkleid, das den Hals frei ließ. Unter dem +Arme hatte sie eine schwarze dicke Aktenmappe, +die einen ungraziösen Widerspruch zu der lieblichen +Erscheinung des Mädchens darstellte.</p> + +<p>»Gnädige Frau«, sagte sie und sank halb in die +Knie.</p> + +<p>Frau von Zeuthen war auf sie zugetreten, hatte +sie bei der Hand ergriffen und fragte erstaunt:</p> + +<p>»Sind Sie wirklich Herrn Seebecks Privatsekretärin?«</p> + +<p>»Gewiß«, antwortete Fräulein Erhardt. »Schon +seit drei Monaten.«</p> + +<p>Frau von Zeuthen nahm ihr die Aktenmappe ab +und legte diese auf einen Tisch. Dann bat sie +<a class="page" name="Page_112" id="Page_112" title="112"></a>Fräulein Erhardt, im tiefen Ledersessel Platz zu +nehmen, setzte sich selbst auf den Divan und lehnte +sich halb zurück.</p> + +<p>»Erzählen Sie«, sagte sie dann.</p> + +<p>»Ich habe nicht viel zu erzählen, gnädige Frau«, +sagte Fräulein Erhardt. »Wie manche andere kam +ich mit vielen unklaren Erwartungen und Hoffnungen +hierher. In den ersten Tagen fühlte ich mich +recht unglücklich hier in all der Geschäftigkeit +und wußte gar nicht, was ich selbst beginnen sollte. +Da verlangte Herr Seebeck von der Gemeinschaft +eine Privatsekretärin – die anderen Herren hatten +schon längst irgendwelche Hilfe bekommen – +und ich meldete mich zu der Stellung. Das ist +alles, gnädige Frau«, sagte sie und strich ihr Kleid +glatt.</p> + +<p>»Und wie war es in Ihrer Stellung?« fragte Frau +von Zeuthen.</p> + +<p>Über Fräulein Erhardts bleiches Gesicht glitt +etwas Farbe. Sie sagte lebhaft:</p> + +<p>»Es ist wunderschön, mit Herrn Seebeck zusammenzuarbeiten. +Nur verlangt er von den +anderen Menschen ebensoviel wie von sich selbst. +Und so viel Wissen und Arbeitskraft hat doch kein +anderer Mensch.«</p> + +<p>Die Tür wurde aufgerissen, und naß und zerzaust +stürmte Felix herein.</p> + +<p><a class="page" name="Page_113" id="Page_113" title="113"></a>»Weißt du Mutter, was Paul Herrn de la Rouvière +vorgeschlagen hat? Er soll hier eine Zeitung +gründen und außerdem die Protokolle der Versammlungen +führen.«</p> + +<p>»Schön, schön mein Junge«, sagte sie aufstehend. +Erst jetzt gewahrte Felix Fräulein Erhardt, die +gleichfalls aufgestanden und etwas zurückgetreten +war. Er wurde glühend rot im Gesicht.</p> + +<p>Frau von Zeuthen legte ihm den Arm um die +Schulter und führte ihn Fräulein Erhardt zu.</p> + +<p>»Mein Sohn Felix«, sagte sie.</p> + +<p>Felix verbeugte sich ungeschickt und reichte +Fräulein Erhardt die Hand, die jene einen Augenblick +lang festhielt.</p> + +<p>»Entschuldigen Sie, ich hatte Sie nicht gesehen«, +sagte er.</p> + +<p>Fräulein Erhardt schüttelte langsam den Kopf:</p> + +<p>»Das tut nichts«, sagte sie und sah Felix mit +ihren großen, schwarzen Augen an.</p> + +<p>Frau von Zeuthen sah die Beiden aufmerksam +an; dann wandte sie sich dem Tisch zu, auf den sie +die Aktenmappe gelegt hatte, und sagte:</p> + +<p>»Willst du etwas bei uns bleiben, mein Junge? +Fräulein Erhardt und ich haben allerlei zu besprechen, +was dich wohl auch interessiert. Sie will +mich in meinen neuen Beruf als Reichsarchivarin +einführen.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_114" id="Page_114" title="114"></a>»Bleiben Sie doch, Herr von Zeuthen«, sagte +Fräulein Erhardt bittend, und Felix setzte sich +bescheiden in eine Ecke.</p> + +<p>Fräulein Erhardt aber öffnete die Aktenmappe +und erklärte Frau von Zeuthen, wie sie das Archiv +bisher verwaltet hatte.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_115" id="Page_115" title="115"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">In</span> der nächsten Sitzung der Vorsteherschaft +brachte Paul Seebeck auch die Schulfrage zur +Sprache und legte einen Schulplan vor, den er +gemeinsam mit Frau von Zeuthen ausgearbeitet +hatte. Die anderen fanden nur wenig daran auszusetzen, +und bald hatte der Plan die Form gefunden, +in der er der Gemeinschaft vorgelegt werden sollte. +Als die Arbeit beendet war, bat Paul Seebeck die +anderen Herren, bei ihm zum Abendessen zu bleiben +und teilte gleichzeitig mit, daß er auch Frau von +Zeuthen, Nechlidow und Melchior eingeladen hätte.</p> + +<p>Bei Tisch fragte Frau von Zeuthen nach dem +Schicksale des Entwurfs, und Paul Seebeck machte +sie mit den geringfügigen Änderungen bekannt.</p> + +<p>»Es ist doch fast eine Vergewaltigung«, sagte +Edgar Allan plötzlich, »daß man so einem armen +Wurme tausend Dinge beibringt, auf die es von +selbst nie verfallen wäre – lauter fertige, geprägte +Begriffe, ein fertiges Weltbild, eine fertige Sprache. +Nichts darf sich das Kind selber bilden, muß alles +das gläubig hinnehmen, was die früheren Generationen +ihm vorgekaut haben.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_116" id="Page_116" title="116"></a>»Na, wissen Sie was«, sagte Otto Meyer. »Wollen +Sie die Kinder gleich nach der Geburt in die Wüste +schicken, um sich Sprache und Bildung ganz aus +eigener Kraft zu bauen? Ich glaube, Sie würden +zu Ihrer Überraschung einige entzückende Orang-Utans +vorfinden.«</p> + +<p>Aber Edgar Allan hatte sich in seinem Gedanken +festgebissen und ließ sich nicht beirren. Sein Mund +verzog sich nur ein wenig spöttisch, als er Melchiors +heißes Gesicht sah. Er wandte sich Otto +Meyer zu und sagte ungewöhnlich lebhaft:</p> + +<p>»Doch nicht, Herr Referendar. Die Kinder +würden doch eine gewisse Disposition im Gehirn +von ihren kultivierten Eltern mitbekommen haben, +die sie eben doch auf eine etwas höhere Stufe als +den Orang-Utan stellen würde.«</p> + +<p>»Aha!« sagte Otto Meyer. »Da setzen Sie aber +die kultivierten Eltern voraus. Seien Sie jetzt +aber etwas radikaler in Ihren Gedanken und setzen +Sie den Fall, daß alle Kinder von Weltbeginn an +in die Wüste geschickt worden wären. Dann hätten +sie keine kultivierten Eltern, mithin hätten die +Kinder eben auch nicht jene Kultur-Disposition im +Gehirn, wären also doch reine Orang-Utans.«</p> + +<p>Edgar Allan lehnte sich in seinem Stuhle zurück +und legte Messer und Gabel hin.</p> + +<p><a class="page" name="Page_117" id="Page_117" title="117"></a>»Sie wollen mich aufs Glatteis führen, Herr +Referendar, und sprechen dabei nur meinen Gedanken +aus.«</p> + +<p>Jetzt hielten alle mit dem Essen ein. Ganz leise +klirrte es, als die Eßgeräte auf die Teller und +Messerbänke gelegt wurden. Edgar Allan sah sich +im Kreise um und sagte lächelnd:</p> + +<p>»Ich weiß wirklich nicht, ob mein Gedanke eine +so ungeteilte Aufmerksamkeit verdient. Er +ist nicht viel mehr als ein logisches Experiment, +doch scheint er mir wert zu sein, zu Ende gedacht +zu werden. – Sehen Sie, meine Herren, und Sie, +gnädige Frau, die so liebenswürdig sind, zuzuhören. +Ich meine folgendes: eine gewisse Disposition zur +Weiterentwicklung muß schon im Menschenaffen +gelegen haben, der unser aller Stammvater ist, und +zwar schon lange vor der Sprache, mithin vor +Logik, geformten Begriffen und Möglichkeit einer +Fortentwicklung anders als durch die Vererbung +jener Kulturdisposition. Die Entwicklung ging +ungeheuer langsam, aber sie schritt fort. Da kommt +mit der Sprache ein ganz neues Element herein, +ein völlig unnatürliches: die Erfahrungen werden +nicht nur durch Vererbung jener Kulturdisposition +den folgenden Geschlechtern überliefert, sondern +in rein abstrakter Form, sie werden gesagt, und das +Kind lernt sie als etwas zunächst Fremdes, ihm unnatürlich +<a class="page" name="Page_118" id="Page_118" title="118"></a>Hohes. Und so geht das weiter. Mit +Hilfe der Sprache bekommen die Begriffe ein +eigenes Leben, eine selbsttätige Existenz, und +immer größer wird die Kluft zwischen dem natürlichen +Menschen, der ja auch immer mit einer, eine +Nuance höheren, Kulturdisposition geboren wird, +und dem, zu dem die Sprache mit allen ihren Anhängseln +uns macht. Wenn wir unseren Kindern +weder Sprache noch sonst etwas mitgeben würden, +als nur unsere Kulturdisposition, würden sie kurz +gesagt harmonische und glückliche Menschen sein +und nicht jenen Zwist zwischen dem eigenen und +dem angelernten Ich in sich tragen, der uns alle +verzehrt.« – Nach einer kurzen Pause fuhr er fort: +»Stellen Sie sich einen Eskimo vor, den man aus +Grönland nach Berlin gebracht hat, und der sich +dort im Laufe einiger Monate akklimatisiert hat. +Er trägt unsere Kleidung, benimmt sich korrekt, +aber trotz alles angelernten Anstandes, den das +Milieu ihm aufdrängt, in dem er sich gezwungenermaßen +befindet, gehen seine Gedanken und Triebe +ganz andere, viel primitivere, brutalere Wege. +Er spielt dauernd Theater. Statt der rauhen Prosa, +die ihm natürlich wäre, muß er unausgesetzt hohe +Verse sprechen und diese mit einstudierten Gesten +und Mienen begleiten. Der gute Mann hat im Laufe +einiger Monate oder Jahre eine Entwicklung, die +<a class="page" name="Page_119" id="Page_119" title="119"></a>naturgemäß Tausende von Jahren gebraucht hätte, +überspringen müssen, und seine ganze Existenz +wird zu einer einzigen Lüge. Seien wir einmal +ehrlich: ist das nicht ganz genau unsere Lage? – +Ich überlasse Ihnen, die Parallele zwischen der +Eingewöhnung des Eskimos in unsere Kultur und +unserer Erziehung zu ziehen.«</p> + +<p>Minutenlanges Schweigen folgte. Dann ergriff +Herr von Rochow das Wort:</p> + +<p>»Ich finde Ihren Gedanken wundervoll und unwiderleglich. +Und doch, sehe ich die Sache von +einer anderen Seite an, komme ich zu einem ganz +anderen Resultat. Wenn ich mir nämlich einfach +den jetzigen Menschen und seine Sprache vorstelle, +würde ich sagen, daß Sprache und Begriffe nicht +mit ihm Schritt gehalten haben, sondern zurückgeblieben +sind und tatsächlich nicht das auszudrücken +vermögen, was wir denken und fühlen. +Und doch finde ich Ihre Gedanken unwiderleglich.«</p> + +<p>Er schwieg; Edgar Allan sah sich im Kreise um, +als erwartete er weitere Meinungsäußerungen. Sein +Blick blieb an Melchior haften, der ihn mit aufgerissenen +Augen und offenem Munde anstarrte.</p> + +<p>Jakob Silberland räusperte sich und sagte:</p> + +<p>»Wie sonderbar. Vor einigen Jahren, als wir +sieben noch ganz allein hier auf der Insel waren, +führten wir ein Gespräch über Staatsformen im +<a class="page" name="Page_120" id="Page_120" title="120"></a>Verhältnis zum Menschen. Und auch dort stießen +wir auf denselben Widerspruch, daß sie sowohl als +fortgeschritten, wie auch als zurückgeblieben in bezug +auf den Menschen angesehen werden könnten.«</p> + +<p>»Seltsam, daß derselbe Widerspruch heute in +ganz anderem Zusammenhange wieder auftaucht. +Ach, ich entsinne mich deutlich jenes Gespräches«, +sagte Herr von Rochow.</p> + +<p>»Na, das Problem ist doch ganz dasselbe«, sagte +Otto Meyer. »Formen, die die Menschen im Zusammenspiele +schaffen, in ihrem Verhältnisse zum +einzelnen Menschen. Apropos »Problem«, Herr +Melchior, haben Sie es gelöst?«</p> + +<p>Aber Melchior hörte ihn nicht.</p> + +<p>Edgar Allan ergriff wieder das Wort: »Ich finde +etwas Niederdrückendes darin, daß die Arbeit des +Einzelnen durch diese geistigen Verkehrsmittel +zum Allgemeingut werden. Jeder Idiot schmarotzt +an uns, saugt unsere Gedanken aus, verwässert sie +bis zur Karrikatur – siehe die christliche Kirche +im Verhältnis zu ihrem Gründer – und ist dann +stolz auf seine Eigenschaft als Kulturmensch. Ich +sehe darin eine Ungerechtigkeit.«</p> + +<p>»Nein«, sagte Jakob Silberland, »Sie irren. Sie +gehen von einer längst abgetanen Weltanschauung +aus. Sie vergessen den springenden Punkt: es +gäbe keinen großen Menschen, wenn es nicht ein +<a class="page" name="Page_121" id="Page_121" title="121"></a>Milieu gegeben hätte, das ihn zeugte. Die großen +Menschen schulden ihre Existenz der Masse, und +diese wiederum ihnen. Das ist ein ewiges Wechsel- +und Zusammenspiel; eine natürliche Funktion des +großen Organismus Menschheit.«</p> + +<p>»Sie haben viel gelernt, verehrter Herr Doktor +Silberland,« sagte Edgar Allan mit leichtem Spotte. +»Außer den Begriffsbrillen, die die gütige Menschheit +so liebenswürdig ist, uns in den ersten Jahren +unserer Kindheit auf unsere Nase zu setzen, haben +Sie auch noch einige grüne und blaue und seltsam +gestrichelte aus eigener Initiative aufgesetzt. Ich +beneide Sie um Ihr geordnetes Weltbild, bezweifle +aber doch, daß es sich mit der Wirklichkeit deckt. +Wenn ich von dem mir Eingeprägten absehe, +wenn ich unbefangen auf die Wirklichkeit sehe – +etwas, wozu Sie als gebildeter Mensch überhaupt +nicht mehr imstande sind – sehe ich statt unserer +fiktiven Ordnung in der Welt nur ein ungeheures, +rätselhaftes Chaos.</p> + +<p>Alle unsere Moralbegriffe, Staatsformen, Sprache, +Gedanken sind doch nur ganz schwache, ganz schiefe +Reflexe der inneren Entwicklungsgesetze der +Menschheit, die wir nicht kennen und nie kennen +werden. Denn diese kindlichen Abstraktionen +haben nicht nur ein eigenes Leben bekommen und +entfernen sich demnach mehr und mehr von den +<a class="page" name="Page_122" id="Page_122" title="122"></a>Realitäten, sie werden auch als primär angesehen, +und man soll sich nach ihnen richten. Das ist nicht +das Problem der Menschheit, aber der Wahnsinn +der Menschheit. Und jeder Einzelne von uns hat +keine andere Aufgabe, als soviel wie möglich das +Gelernte zu vergessen und in die Tiefen des eigenen +Ichs herabzusteigen, zu seinem eigenen Wesen, und +sich dort über seine Stellung im Chaos zu orientieren. +Auf irgend einem, noch so kleinen Gebiete wird er +sich Meister wissen, dort seine Arbeit ausführen +und die übrige Menschheit ihrem Schicksal überlassen. +Wenn jeder so dächte, kämen wir vielleicht +wieder in eine gesunde Entwicklung hinein. Wenn +wir auf das forzierte Tempo verzichten, was die +Menschheit bis jetzt angewendet hat, und uns +einige millionenmal langsamer entwickeln, wird +vielleicht noch einmal etwas aus den Menschen +statt der Schattenwesen, die wir jetzt darstellen. +Was meinen Sie, Seebeck?«</p> + +<p>»Ich finde den Gedankengang sehr interessant. +Auch sehr wertvoll. Es ergeben sich aus ihm aber +so viele Perspektiven, daß man Zeit braucht, um zu +ihm Stellung zu nehmen. So im Augenblicke kann +ich es nicht. Ich werde darüber nachdenken.«</p> + +<p>Jetzt sprang Nechlidow mit einer solchen Heftigkeit +auf, daß der Stuhl umfiel, auf dem er gesessen +hatte. Er schrie:</p> + +<p><a class="page" name="Page_123" id="Page_123" title="123"></a>»Es wird ja immer toller; jetzt ist es aber wirklich +genug. Ich wenigstens habe keine Lust mehr, +länger an der Komödie mitzuspielen. Wir kamen +hierher, um die großen Menschheitsgedanken zu +verwirklichen, die große, ruhige Linie auszufüllen. +Und was geschieht? Hier ein Kompromißchen und +dort ein Kompromißchen; überall Halbheiten, nichts +Ganzes. Alles Wankelmütigkeit und Wunsch nach +dem behaglichen, ruhigen Fahrwasser, nur um +Gotteswillen keinen energischen Schritt. Was ist +aus den Idealen geworden, mit denen wir hierherzogen? +Phrasen, Worte, Andeutungen, keine Tat, +keine Wirklichkeit.</p> + +<p>Und heute kommt die Krone des Ganzen. Hier +im Kreise der Gründer stellt Herr Allan seine +logischen Experimente an, die weiter nichts sind, +als eine Beschimpfung der menschlichen Vernunft, +eine Erniedrigung der Sozietät. Wenn Herr Allan +den dummen Orang-Utan wirklich so viel höher +stellt, als den vernünftigen Menschen, mag er zu +den Orang-Utans gehen. Aber statt ihn zurechtzuweisen, +hören Sie sein kindisches und frivoles +Geschwätz ernsthaft an, antworten ihm sogar, +wollen sich die Sache sogar noch genauer +überlegen.</p> + +<p>Ich aber glaube an die menschliche Vernunft, die +vielleicht sogar einmal in Allans Nachkommen die +<a class="page" name="Page_124" id="Page_124" title="124"></a>Sehnsucht zum Affen ertöten und volle Menschen +aus ihnen machen wird.</p> + +<p>Euch gebe ich auf; aber noch nicht die Sache, +mit der ihr nur noch spielt. Ich werde versuchen, +ob ich sie noch aus dem Schlamme retten kann, +in dem ihr sie festgefahren habt.«</p> + +<p>Er verließ das Zimmer und schlug die Tür mit +Gewalt hinter sich zu.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_125" id="Page_125" title="125"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Edgar</span> Allan und Felix waren am Ende der +Straße an der linken Seite der Bucht angelangt. +Vor ihnen lag die ziemlich steile Felswand, wo es +nur an einigen, und ziemlich weit von einander +abliegenden Plätzen möglich war, Häuser zu bauen.</p> + +<p>Beide trugen, des strömenden Regens wegen, +dicke Gummimäntel und hohe Stiefel.</p> + +<p>»Sehen Sie, Felix«, sagte Edgar Allan stehen +bleibend und wandte sein scharfes Gesicht dem +Knaben zu. »Hier ist der gebahnte Weg zu Ende, und +die Steine fangen an. Hinter uns liegt die behagliche +Wärme der Masse.« Die hagere, sehnige Gestalt +hoch aufrichtend, sagte er, »ich bin der Erste, der +hier hinaus zieht, aber glauben Sie mir, die andern +sechs werden mir hierher folgen. Auch Nechlidow, +obgleich er mich ermorden könnte, wenn ich es +ihm jetzt sagte.«</p> + +<p>Felix sah dem starken und einsamen Manne halb +bewundernd und halb zweifelnd ins Gesicht. Er +antwortete nichts.</p> + +<p><a class="page" name="Page_126" id="Page_126" title="126"></a>Dann stiegen sie weiter, über die Felsblöcke und +durch die schäumenden Regenbäche, und suchten +einen Platz für Allans neues Haus.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_127" id="Page_127" title="127"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">In</span> diesem Jahre war die Regenzeit heftiger als je +vorher und machte fast jede Beschäftigung +außer dem Hause unmöglich. Es war ein Glück, daß +Edgar Allan bei der Stadtanlage so genau alle +Eventualitäten berechnet hatte; sonst wäre wohl +manches der kleinen Gärtchen fortgeschwemmt +worden.</p> + +<p>Paul Seebeck benutzte die Zeit der allgemeinen +Untätigkeit zur Durchführung eines Planes, den +er schon lange gehegt hatte. Allwöchentlich fanden +jetzt im Volkshause Vorträge statt, die dann in +der nächsten Nummer der von Herrn de la Rouvière +mit Geschick geleiteten »Inselzeitung« gedruckt +wurden.</p> + +<p>Paul Seebeck selbst hatte den ersten Vortrag gehalten; +ihm folgte Jakob Silberland mit einem +ganzen Zyklus volkswirtschaftlicher Vorträge, und +nach ihm behandelte Herr von Rochow verschiedene +schöngeistige Gebiete.</p> + +<p>Die »Inselzeitung« erwies sich nicht nur als notwendig, +sondern auch als Machtfaktor: der Krüppel +hatte der öffentlichen Kritik einen breiten Raum +geschaffen, und mancher sprach lieber hier unter +dem Schutze des Redaktionsgeheimnisses seine +<a class="page" name="Page_128" id="Page_128" title="128"></a>Meinung aus, als in den Versammlungen der Gemeinschaft. +Herr de la Rouvière versah die Eingesandts +mit zustimmenden oder abfälligen Glossen, +und deshalb galt es, sich mit ihm gut zu stellen, +wenn man einen Erfolg wünschte. Und Herr de +la Rouvière empfing die Besucher an seinem Schreibtische, +der so niedrige Beine wie der eines Knaben +hatte, und besprach stundenlang mit dem Besucher +dessen Anliegen, so daß jener mit der Gewißheit +davon ging, daß seine Sache in guten Händen lag.</p> + +<p>Gelegentlich suchte Herr de la Rouvière Frau +von Zeuthen auf, und dort traf er zuweilen um +die Teestunde Paul Seebeck, der einige freundliche +Fragen an ihn richtete, die er bescheiden beantwortete, +worauf er gewöhnlich bald fortging.</p> + +<p>Als Frau von Zeuthen und Paul Seebeck so +eines Tages allein geblieben waren, sagte sie:</p> + +<p>»Ist es nicht eine Freude, zu sehen, wie er sich +hier entwickelt. Da haben Sie wieder einem +Menschen freie Entfaltungsmöglichkeit gegeben, +einen Nährboden, wo er Wurzeln schlagen kann.«</p> + +<p>Paul Seebeck antwortete nicht; Frau von Zeuthen +sah ihn mit ihren großen, strahlenden Augen an +und sagte:</p> + +<p>»Sie stehen so sehr im Tagesbetriebe, müssen +sich zu sehr mit widerwärtigen Kleinigkeiten +herumschlagen. Hätten Sie etwas mehr Distanz – +<a class="page" name="Page_129" id="Page_129" title="129"></a>was Sie der Natur der Sache nach im Augenblicke +nicht haben können – würden Sie sehen, wieviel +Sie schon erreicht haben. Selbst in Nechlidows +Überspanntheit liegt so viel Größe, die geweckt +zu haben Ihr Verdienst ist.«</p> + +<p>Paul Seebeck war aufgestanden und ging nervös +im Zimmer auf und ab. Dann blieb er vor Frau +von Zeuthen stehen:</p> + +<p>»Es gibt Augenblicke«, sagte er, »wo ich meine, +daß Nechlidow recht hat. Wenn ich aber dann an +meinem Schreibtische sitze, meine Papiere heraussuche +und mich frage, was ich denn hätte anders +machen sollen, dann finde ich nichts. Es gibt so +viele Gegenstände bei der Verwaltung eines Staates, +die einfach in einer ganz bestimmten Weise und +nicht anders erledigt werden müssen, ganz gleichgiltig, +ob man konservativ oder liberal oder sonst +etwas ist. Vom grünen Tische sehen manche Dinge +eben ganz anders aus, als in der Praxis, und besonders +für den, der die Verantwortung trägt.</p> + +<p>Ich verstehe jetzt so gut eine Erscheinung, die +mich früher so oft erstaunt hat: wenn in einem +parlamentarisch regierten Lande die bisherige +Oppositionspartei ans Ruder kommt und ihre bisherigen +Führer Minister werden, erfolgt fast immer +ein Bruch zwischen ihnen und ihrer eigenen Partei, +die ihnen den Verrat an den Parteiprinzipien vorwirft. +<a class="page" name="Page_130" id="Page_130" title="130"></a>Die Sache liegt natürlich einfach so, daß +unzählige Dinge – namentlich in der Verwaltung – +mit Prinzipien gar nichts zu tun haben und ihrer +Natur nach erledigt werden müssen. – Ich habe +mir schon früher das gedacht, aber jetzt begreife +ich es erst wirklich.</p> + +<p>Hier kann man natürlich keine Grenze ziehen; +es ist aber doch ein Unterschied, ob man überhaupt +ein Ziel vor Augen hat, oder, auf ein paar bequeme +Schlagwörter gestützt, alles ruhig fortwursteln läßt. +In dieser Beziehung habe ich ein reines Gewissen.«</p> + +<p>Paul Seebeck blieb stehn; er biß sich auf die +Lippen und sagte:</p> + +<p>»Wissen Sie, Gabriele, was ich mir selbst in +jenen einsamen Stunden sage, wo man ehrlich +gegen sich selbst ist? Ich will es Ihnen bekennen: +wir schaffen hier nicht die realen Werte, die wir +schaffen wollten, und unser ganzes Werk war vom +ersten Augenblick an eine Unmöglichkeit. Das +unendliche Leben läßt sich überhaupt nur in einem +Sinne formen, und das ist in der Kunst, die immer +einseitig und beschränkt und deshalb vollkommen +ist. Silberland hat mich einmal einen Künstler +genannt, und ich fühle, daß er recht hat, obwohl +ich weder dichte noch male. Aber wie jeder schaffende +Künstler hatte ich ein starres, unvollkommenes +Material, in das ich den rauschenden Strom des +<a class="page" name="Page_131" id="Page_131" title="131"></a>Lebens zwängen wollte. Das waren die staatlichen +Begriffe. – Wie hat doch Edgar Allan recht, +und wie Nechlidow! – Aber statt zu sagen: als +Künstler gebe ich eine ganz einseitige Stilisierung +des Lebens, aber ich forme nimmermehr das Leben +selbst, sagte ich: hier ist das Leben in seinen natürlichen +Formen. Ich habe die unendliche Mannigfaltigkeit +des Lebens unterschätzt und sehe, daß +es an sich weder begreiflich noch faßbar ist, wenn +man es eben nicht als Künstler einseitig stilisiert, +und es in seinem Reichtum vorbeifluten läßt.</p> + +<p>Und sehen Sie, Gabriele, dann sage ich mir: +wir schufen hier nicht den Staat, und er wird +nie geschaffen werden, wenn er sich nicht selbst +aufbaut, wir schufen nur eine Fiktion des Staates, +lassen die andern ein Theaterstück aufführen, +dessen Autoren und Regisseure wir sind. Aber +sie spielen nur so lange Theater, wie sie in unserem +Bannkreise sind, nicht eine Minute länger! Dann +gehen sie nach Hause und führen ein Leben, von +dem wir nichts wissen, und das uns auch nicht +interessiert.</p> + +<p>Aber dann, Gabriele, dann sehe ich Menschen +wie Silberland, die ohne zu zweifeln, arbeiten +und an die Vollendung glauben. Und dann +glaube ich auch selbst wieder daran, daß aus +der Komödie Wahrheit werde.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_132" id="Page_132" title="132"></a>Er setzte sich in den tiefen Ledersessel, stützte +das Kinn in die Hand und sah vor sich in den Raum. +Frau von Zeuthen stand auf, trat vor ihn hin und +legte ihre beiden Hände ihm auf die Schultern:</p> + +<p>»Seebeck, ich gab Ihnen meinen Segen zu diesem +Werke; ich gebe ihn Ihnen noch einmal zu seiner +Vollendung.«</p> + +<p>Er sank vor ihr nieder und umschlang mit solcher +Heftigkeit ihre Knie, daß die hohe Frau schwankte. +Da faßte er ihre Hände und drückte sie an sein Gesicht:</p> + +<p>»Gabriele«, sagte er, »ich bin so einsam, so +fürchterlich einsam. Und die Nächte sind so lang. +Wenn alle die quälenden Gedanken kommen, dann +sehne ich mich nach Ihnen, Gabriele, nach dir, du +Hohe, Reine. Komm zu mir mit deinen kühlen, +weißen Händen. Ich bin so fürchterlich allein.«</p> + +<p>Sie hob ihn auf und zog ihn an sich. Er lehnte +seinen Kopf an ihre Brust und schluchzte.</p> + +<p>Langsam führte sie ihn zum Divan. Aber da +sank Seebeck aufs neue vor ihr hin und barg sein +Gesicht in ihren Schoß. Der große, starke Mann +bebte am ganzen Körper, sie strich ihm lind über +das Haar.</p> + +<p>»Mut, Mut!« flüsterte sie ihm zu. »Ich kann +nicht zu dir kommen; jetzt kann ich nicht zu dir +kommen. Du würdest dein Werk vergessen und +<a class="page" name="Page_133" id="Page_133" title="133"></a>das darfst du nicht. Diese Insel ist der Inhalt +deines Lebens; ihr mußt du leben, wenn es nötig +ist, mußt – wirst du für sie zu sterben verstehen. +Ihretwegen mußt du das Opfer deines Menschentums +bringen.« Sie beugte sich tief zu ihm hinab +und legte ihre kühle Wange an seine heiße:</p> + +<p>»Glaubst du denn nicht, in wieviel schweren +Nächten ich mich nach dir gesehnt habe, du starker, +du guter Mann. Aber ich weiß, daß ich dich deinem +Werke entziehen würde, statt es zu fördern. Und +das darf nicht sein. Was ist das Liebesglück zweier +armseliger Menschlein im Vergleich mit deinem +Werke! Sei stark,« sagte sie, während sie sich +wieder aufrichtete, »dazu will ich dir helfen. Aber +deine Einsamkeit ist dein größtes Gut, sie gebar +die neue Gemeinschaft, sie wird sie zur Höhe erziehen. +Aber du darfst kein armer, schwacher +Mensch werden: mehr wie ein Mensch mußt du sein.«</p> + +<p>Da erhob Paul Seebeck den Kopf aus Frau von +Zeuthens Schoß. Seine Augen wurden groß und starr. +Langsam und schwer sprach er die Worte:</p> + +<p>»Und ich schwöre Ihnen, Gabriele, von dieser +Stunde an nur meinem Werke zu leben, und wenn +es nötig ist, dafür zu sterben.«</p> + +<p>Er stand schnell auf und trat ans Fenster. Durch +den strömenden Regen blinkten einige Lichter, +einige erleuchtete Fenster. Langsam drehte er +<a class="page" name="Page_134" id="Page_134" title="134"></a>sich herum und sah erst jetzt, daß das Zimmer fast +dunkel war. Nur im Umriß sah er Frau von Zeuthen +auf dem Divan sitzen. Mit gesenktem Haupte und +schleppenden Schritten trat er auf sie zu, ergriff ihre +Hand, die sie ihm nicht entzog, hielt sie lange in +der seinen und zog sie dann langsam an seine Lippen.</p> + +<p>Da erhob sich Frau von Zeuthen:</p> + +<p>»Geh jetzt«, sagte sie fast hart, »geh zu deiner +Arbeit.«</p> + +<p>Er neigte kaum merklich den Kopf und verließ +mit schnellen Schritten das Zimmer.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_135" id="Page_135" title="135"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Der</span> niederströmende Regen wurde schwächer. +Man sah statt des ewig gleichmäßigen Graus +am Himmel wieder Wolken, die langsam und schwer +weiterzogen. Zuweilen blickte sogar ein blaues +Stückchen Himmel aus ihnen hervor. Und endlich, +endlich war der Himmel wieder rein, und die Sonne +schien.</p> + +<p>Ein schwerer, warmer Brodem stieg von den +Gärten auf und lag wie ein Dunst von Leben und +Fruchtbarkeit über der Stadt. Die Wasserrinnen +an den Abhängen versiegten, in wenigen Tagen +waren die Straßen wieder trocken.</p> + +<p>Da wollte Paul Seebeck Frau von Zeuthens +Kindern eine Freude machen und ließ sich zwei +kräftige Pferdchen mit dicken, behaarten Beinen +kommen.</p> + +<p>An einem Sonntage machten sich Hedwig und +Felix auf, um das Innere der Insel zu erforschen. +In den Satteltaschen hatten sie Essen für sich mit, +und auf den Rücken der Pferdchen hatten sie Heu +aufgeschnallt.</p> + +<p>Sie ritten langsam die Hauptstraße hinauf; als +sie aber die Plattform erreichten, auf der das Volkshaus +<a class="page" name="Page_136" id="Page_136" title="136"></a>stand, stiegen sie ab, um die Tiere nicht zu +überanstrengen, und führten sie am Zügel die Serpentinen +hinauf. Als sie auf dem Hochplateau standen, +sahen sie die Pyramide des Vulkans riesenhaft +und scharf in die Höhe ragen. Ein ganz dünnes +Wölkchen – kaum mehr als ein Schleier – schwebte +über seiner Spitze.</p> + +<p>»Da müssen wir hinauf«, sagte Felix und half +Hedwig wieder in den Sattel, »was meinst du?«</p> + +<p>Hedwig gab mit der Peitsche ihrem Pferdchen +einen kleinen Schlag:</p> + +<p>»Komm«, rief sie und galoppierte voran.</p> + +<p>Sie waren immer noch auf dem gebahnten +Wege, der der Arbeit am Staubecken wegen angelegt +worden war, und nach einer halben Stunde +hatten sie dieses erreicht. Sie sprangen von den +Pferden, an denen der Schweiß herunterrann und +setzten sich auf einige Steinblöcke.</p> + +<p>Vor ihnen lag ruhig der See, aber von dem Meere +her klang ein donnerndes Getöse zu ihnen hin.</p> + +<p>»Weißt du, was Allan mir erzählt hat?« fragte +Felix. »Er will im See einen künstlichen Schlammboden +machen und Fische hineinsetzen. Er sagte, +das wäre gar nicht so schlimm, er wüßte nur nicht, +wie er verhindern sollte, daß die Fische mit dem +Wasserfalle ins Meer gerissen würden. Aber das +findet er sicher auch noch heraus!«</p> + +<p><a class="page" name="Page_137" id="Page_137" title="137"></a>»Fische? Wie nett. Aber dann soll er auch Vögel +hierherbringen.«</p> + +<p>»Daran hat er auch schon gedacht; er will überhaupt +alle möglichen Tiere hier wild aussetzen. Er +weiß nur noch nicht welche. Aber er sagte, daß +nach zehn Jahren die Insel alle möglichen Pflanzen +und Tiere haben wird. Ich soll ihm bei der Arbeit +helfen. Du, das wird wundervoll!« rief er.</p> + +<p>»Aber wie sollen hier Tiere leben?« fragte Hedwig +zweifelnd und sah sich in der öden Steinwüste um.</p> + +<p>»Das geht schon. Allan sagte, das schwerste +wären die Säugetiere. Mit den Fischen ist es nicht +so schlimm, er will Tang massenhaft aus dem Meere +hierherbringen und dann Süßwasserpflanzen hineinstecken. +Wenn das alles richtig in Gang gekommen +ist, bringt er Insekten und zuletzt die Fische. – +Und mit den Vögeln, sagt er, wäre die Sache einfacher: +einige Möven brüten ja schon. Man sollte +nur an irgend einer Stelle, die so weit von der Stadt +weg ist, daß der Gestank nicht hinkommt, regelmäßig +tote Fische hinlegen, aber furchtbar viele +natürlich, und dann würden die Vögel schon kommen. +Aber wie er das mit den Säugetieren machen will, +weiß er noch nicht recht; er sagt, es könnten zunächst +nur Tiere sein, die von Fischen oder Vögeln +leben. – Und bei der ganzen Arbeit soll ich ihm +helfen, ist das nicht wundervoll?« rief er.</p> + +<p><a class="page" name="Page_138" id="Page_138" title="138"></a>Hedwig sah voll Neid ihren Bruder an. Aber dann +veränderte sich ihr Gesicht. Fast furchtsam +fragte sie:</p> + +<p>»Du Felix, sag mal, glaubst du, daß alles noch +gut geht?«</p> + +<p>»Weshalb soll es denn nicht gut gehen?«</p> + +<p>»Ja, siehst du, ich ging neulich etwas mit Herrn +de la Rouvière spazieren, und da kam Nechlidow, +und die beiden sprachen zusammen. Nechlidow +war ganz wütend und sagte immer wieder, daß +Paul alles zerstört hätte. Dann sagte er auch etwas +zu mir, was ich nicht verstand –«</p> + +<p>»Nechlidow ist ein Idiot!« unterbrach sie Felix +mit Nachdruck. »Allan sagt, daß gerade jetzt alles +gut gehen wird, seitdem Paul eingesehen hat, daß +er alles allein machen muß und nicht mehr darauf +hört, was alle die da sagen.«</p> + +<p>Aus irgend einem Grunde war es Hedwig +peinlich, dies Gespräch fortzusetzen. Sie sagte, +während sie ihrem Pferdchen den dicken Hals +streichelte:</p> + +<p>»Sollen wir nicht jetzt zum Wasserfall reiten? +Er ist sicher wunderschön.«</p> + +<p>Dagegen hatte Felix nichts einzuwenden, und +so bestiegen sie ihre Pferde und ritten dem Staubecken +entlang auf das Meer zu. Bald schob sich +ein breiter Steinwall zwischen sie und das Becken +<a class="page" name="Page_139" id="Page_139" title="139"></a>und warf einen tiefen und kühlen Schatten auf sie. +Sie trieben ihre Pferde zum Galopp an und standen +plötzlich einige Schritte vor dem steilen Abfall +zum Meere. Sie hörten ein Donnern, Zischen und +Brausen, konnten den Wasserfall aber nicht sehen. +Rasch entschlossen sprangen sie von den Pferden, +ließen sie stehen und kletterten an dem Steinwalle +empor. Er war höher, als sie sich ihn vorgestellt +hatten, aber endlich standen sie doch oben. Sie +sahen sich um: hinter ihnen streckten sich die drei +Vorgebirge ins Meer, zwischen denen die Stadt und +die Irenenbucht eingebettet lagen, und vor ihnen +das große Wasserbecken, das in seiner ganzen +Breitseite zum Meere hinab überfloß. Sie sahen +die Wasserfläche in ruhigem Zuge bis zum Rande +gleiten und dort entsetzt, verzweifelt, mit wahnsinnigem +Schmerzgeheul in die Tiefe stürzen, hier +auf einem Vorsprung aufprallend, dort an einer +Klippe zerschellend, daß der Riese in tausend und +abertausend glitzernde Tropfen zersprang, die erschrocken +versuchten, sich wieder zusammenzufinden, +und sich doch erst wieder im großen Meere +trafen, das weit hinaus mit weißem Schaum bedeckt +war.</p> + +<p>Als sie sich satt gesehen hatten, traten sie langsam +den Rückweg zu ihren Pferden an und ritten +in scharfem Galopp im Schatten. Erst als der +<a class="page" name="Page_140" id="Page_140" title="140"></a>Steinwall sich wieder abflachte, und sie in den +brennenden Sonnenschein hinauskamen, mäßigten +sie ihr Tempo. Sie kamen an die Stelle, wo durch die +große unterirdische Röhre das Wasser zur Stadt +abfloß; dumpf dröhnte es da unter den Hufen der +Pferde. Sie ritten weiter am Becken entlang bis +dorthin, wo der Fluß hereintrat und folgten diesem +weiter in der Richtung auf den Vulkan zu. Oft +mußten sie den Fluß verlassen, weil Steinblöcke im +Wege lagen, aber sie trafen doch immer wieder auf +ihn. Zuweilen floß er breit und behäbig dahin, zuweilen +rauschte er unheimlich an einer schmalen +Stelle, oder teilte sich auch mitunter in viele +Zweige, die sich aber immer wieder bald vereinigten. +Hedwig und Felix kamen über breite Streifen feinen +Sandes, in dem die Pferde bis über die Hufe einsanken.</p> + +<p>Nach mehreren Stunden hielten sie an, sprangen +von den Pferden, gaben ihnen von dem mitgebrachten +Heu zu fressen und nahmen ihnen auch +die Sättel ab. Dann hielten sie Umschau: so weit +sie sehen konnten, umgab sie graublau und gelb die +Steinwüste, aus der sich nur flache Rücken emporhoben. +Und vor ihnen lag, kaum merklich in seiner +Größe gewachsen, der Vulkan. Und die Sonne +brannte heiß auf sie nieder und gab den Steinen +einen blendenden Schimmer, der die Augen +schmerzen machte.</p> + +<p><a class="page" name="Page_141" id="Page_141" title="141"></a>Da setzte sich Hedwig plötzlich auf einen Stein +und begann zu schluchzen: sie konnte die große +Einsamkeit nicht ertragen, ihr war es zu viel des +Schweigens. Felix fragte nicht; er verstand sie +und fühlte dieselbe Angst wie sie, aber er beherrschte +sich. Doch zitterten seine Hände, als er die Pferde +wieder sattelte; er sagte aber ruhig:</p> + +<p>»Der Vulkan ist ja viel weiter, als ich dachte; +wir können heute nicht mehr hinkommen. Wollen +wir nicht wieder nach Hause reiten?«</p> + +<p>Hedwig nickte; sie konnte nicht sprechen. Und +so schnell es die Hitze erlaubte, ritten sie nach +Hause, zu den Menschen, zur Stadt.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_142" id="Page_142" title="142"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Wieder</span> war der Jahrestag der Gründung +herangekommen, und die Gemeinschaft war versammelt. +Die Vorsteher hatten Rechenschaft über +das verflossene Jahr abgelegt. Es sollte jetzt zur +Neuwahl geschritten werden.</p> + +<p>»Wünscht jemand das Wort?« fragte Jakob +Silberland, der wie immer den Vorsitz innehatte. +»Nicht? Dann –«</p> + +<p>»Ich bitte um das Wort«, rief Nechlidow überlaut +und ging auf’s Podium. Die Versammlung +verharrte in eisigem Schweigen. Jakob Silberland +sah überrascht Paul Seebeck an; aber dessen +Gesicht war hart und verschlossen. Auf der Tribüne +aber beugte sich ein Mädchenkopf mit glänzenden, +braunen Augen über die Brüstung.</p> + +<p>Nechlidow richtete sich straff auf, verschränkte +die Arme über der Brust und sagte:</p> + +<p>»Es tut mir leid, daß ich die hier übliche gemütliche +Handhabung der Geschäfte ein wenig +störe. Hätte ich mich jetzt nicht zum Worte gemeldet, +wäre die Wiederwahl des bisherigen Vorstehers +wohl glatt erfolgt. Ich aber möchte verhindern, +daß sie überhaupt erfolgt.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_143" id="Page_143" title="143"></a>Er sah Paul Seebeck an, und dieser erwiderte +starr den Blick. Dann ließ Nechlidow seine Augen +wieder über die Versammlung gleiten und fuhr +fort:</p> + +<p>»Wenn jetzt nicht ein energischer Schritt getan +wird, verläuft die mit solchem Pathos angelegte +Sache kläglich im Sumpf.</p> + +<p>Hier geht zwar alles gut, ich fürchte fast zu gut; +niemand hungert und jeder hat ein Dach über +seinem Kopf – aber deswegen kamen wir nicht +hierher.</p> + +<p>Wir kamen hierher, um der Lüge zu entfliehen, +die unser gesamtes Gesellschaftsleben durchzieht +und sind jetzt dabei, eine ärgere und verabscheuungswürdigere +Lüge zu stiften.</p> + +<p>Hier kann nur eines helfen: das felsenfeste Vertrauen +auf die menschliche Vernunft und das Abschütteln +jener Herren, die den Ursprung alles +Übels in der menschlichen Vernunft sehen. Wir +müssen die großen und klaren Gesetze befolgen, +die sich an der menschlichen Vernunft ergeben +und dürfen sie nicht verwischen und im geheimen +verspotten, wie es Herr Seebeck und seine Kreaturen +tun.</p> + +<p>Fragen Sie sich: was hat unsere Gemeinschaft +neues gebracht als neue Phrasen? Ist hier wirklich +ein neuer Geist? Wer wagt die Frage zu bejahen! +<a class="page" name="Page_144" id="Page_144" title="144"></a>Ist nicht vielmehr das Umgekehrte geschehen, daß +einige, wenige Männer durch Worte und Scheingesetze, +die sie nur äußerlich, in gröbstem Sinne +befolgen, gestützt, einfach ihren Launen folgen, +tun und lassen, was ihnen gefällt? Wer wagt die +Frage zu verneinen!</p> + +<p>Die Gemütlichkeit und die persönliche Rücksichtnahme +– dieses ganze Spinngewebe von Gefühlsduseleien, +das uns zu ersticken droht, muß fort.</p> + +<p>Ich verkenne nicht, daß wir Paul Seebeck großen +Dank schulden; aber unsere Dankbarkeit darf uns +nicht hindern, kalt und klar zu sehen. Und wenn +wir das tun, können wir nur eins sagen: Seebecks +Zeit ist vorbei. Er ist ein großer Gründer, aber ein +schlechter Ausbauer.</p> + +<p>Ich bitte die Versammlung, nicht Paul Seebeck +sondern mich zum Vorsteher zu wählen; mich treibt +kein Ehrgeiz, sondern nur die Liebe zur Sache. +Und ich kann mit ruhigem Gewissen sagen, daß +ich keine Sentimentalitäten und persönlichen Rücksichten +kenne.«</p> + +<p>Mit zusammengekniffenen Lippen verließ Nechlidow +das Podium. Jakob Silberland sah ihm verstört +nach.</p> + +<p>In der eisigen Stille dort unten entstand eine ganz +leise Bewegung, ein Rücken auf den Bänken, ein +<a class="page" name="Page_145" id="Page_145" title="145"></a>Murmeln, ein Flüstern und zuletzt klang ein Gewirr +von Worten, Namen –</p> + +<p>Edgar Allan hatte mehrmals von der Seite her +forschend in Paul Seebecks Gesicht geblickt und +jedesmal hatte er zufrieden gelächelt, wenn er Seebecks +starre Züge sah.</p> + +<p>Jetzt erhob sich im Hintergrunde die schwere +Gestalt eines Handwerkers:</p> + +<p>»Wenn wir Herrn Seebeck nicht wieder wählen +dürfen, dann doch lieber den Herrn Rouvière. Den +kennen wir, der versteht seine Sache.«</p> + +<p>Edgar Allan drehte sich herum; freundlich +lächelnd rief er dem Sprecher zu:</p> + +<p>»Sie dürfen Seebeck wieder wählen, guter Freund. +Sie brauchen nicht immer das zu tun, was der letzte +Redner gesagt hat.«</p> + +<p>Aber seine Worte verloren sich; de la Rouvières +Name hatte gezündet; von allen Seiten erscholl +er, gerufen, gebrüllt.</p> + +<p>Kreidebleich im Gesichte stand der Krüppel auf:</p> + +<p>»Ich bitte Sie um Gotteswillen, wählen Sie mich +nicht! Das geht nicht.«</p> + +<p>Stille trat ein. Aber eine grobe Stimme zerriß +sie:</p> + +<p>»Weshalb denn nicht? So war’s doch ausgemacht.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_146" id="Page_146" title="146"></a>Jetzt hatte Jakob Silberland seine Ruhe wiedergefunden. +Er läutete energisch und sagte:</p> + +<p>»Wer meldet sich zum Worte?«</p> + +<p>Paul Seebeck gab ein leichtes Zeichen mit der +Hand und ging auf das Podium. Ruhig und geschäftsmäßig +sagte er:</p> + +<p>»Ich möchte nur einige Worte zur Klärung der +Situation sagen. Es sind als Gegenkandidaten +zwei Herren genannt worden, von denen allerdings +der eine die Absicht zu haben scheint, eine eventuelle +Wahl nicht anzunehmen. Bei aller Hochachtung +vor den persönlichen Eigenschaften der +beiden Herren und der Überzeugung von der +absoluten Lauterkeit ihrer Absichten, glaube ich +nicht, daß einer von ihnen imstande ist, das verantwortungsvolle +Amt eines Vorstehers der Gemeinschaft +zu verwalten. Ich glaube nicht, daß +die Herren auch nur eine Ahnung von den Schwierigkeiten +dieser Stellung haben; ihre Wahl würde nicht +einen Fortschritt, sondern den Ruin unserer ganzen +jahrelangen Arbeit bedeuten.</p> + +<p>Nun kann ich Sie allerdings nicht daran hindern, +einen der beiden Herren zu wählen; Sie können +mich aber nicht zwingen, dem Gewählten meine +Stellung als Reichskommissar zu übergeben. Die +werde ich beibehalten und werde von den unbeschränkten +Vollmachten Gebrauch machen, die +<a class="page" name="Page_147" id="Page_147" title="147"></a>sie mir gibt, sobald ich sehe, daß die Dinge eine +Wendung nehmen, die ich für unrichtig halte. +Wenn Sie aber einen Nachfolger wählen, der +wirklich imstande ist, mein Amt zu übernehmen, +gehe ich gern.«</p> + +<p>Er verbeugte sich leicht und ging zu seinem Platz +zurück.</p> + +<p>»Bravo!« rief Edgar Allan, und dieser Ruf wurde +von einem vielstimmigen »Pfui!« beantwortet. +Nechlidow sprang auf und schrie:</p> + +<p>»Das ist die Revolution! Jetzt wissen wir, was +wir von dem Manne zu erwarten haben.«</p> + +<p>Jakob Silberland läutete und läutete, aber erst +nach mehreren Minuten gelang es ihm, den Sturm +zu übertönen. Ganz heiser sagte er, während der +Schweiß ihm in zwei Rinnen die Wangen entlang +lief:</p> + +<p>»Wünscht jemand noch das Wort? Herr Nechlidow, +bitte!«</p> + +<p>Nechlidow sprach von seinem Platze aus:</p> + +<p>»Nachdem der bisherige Vorsteher offen den +Bruch der Verfassung erklärt hat, behalten wir +uns alle Schritte vor, wie auch die Abstimmung +ausfallen mag.«</p> + +<p>Unter steigendem Gemurmel wurden die Stimmzettel +verteilt und wieder eingesammelt. Als +Otto Meyer Jakob Silberland die Urne überreichte, +<a class="page" name="Page_148" id="Page_148" title="148"></a>trat lautloses Schweigen ein. Einen Zettel nach +dem anderen öffnete Jakob Silberland und rief +laut den darauf stehenden Namen. Otto Meyer +notierte die einzelnen Stimmen und zählte sie dann +zusammen. Dann verkündete Jakob Silberland +das Resultat:</p> + +<p>»Die Stimmen verteilen sich wie folgt:</p> + +<p>Herr Seebeck zweihundertdreiundachtzig Stimmen;</p> + +<p>Herr Nechlidow zweihundertsiebenunddreißig +Stimmen;</p> + +<p>Herr de la Rouvière einhundertachtundsiebzig +Stimmen.</p> + +<p>Elf Zettel sind blank.</p> + +<p>Demnach ist Herr Seebeck ordnungsgemäß +zum Vorsteher der Gemeinschaft wiedergewählt +worden.«</p> + +<p>»Aber von einer Minorität!« brüllte Nechlidow. +»Ich verlange Stichwahl zwischen ihm und mir.«</p> + +<p>»Herr Seebeck ist verfassungsgemäß gewählt +worden«, donnerte Jakob Silberland ihm entgegen.</p> + +<p>Jetzt erhob sich ein so unbeschreiblicher Lärm, +daß Jakob Silberland nicht mehr Ruhe stiften +konnte. Er setzte deshalb seinen Hut auf und deutete +damit an, daß die Sitzung unterbrochen sei. +Als auch das noch keinen Eindruck machte, verließ +er mit seinen Freunden den Saal, gefolgt von +<a class="page" name="Page_149" id="Page_149" title="149"></a>der Mehrzahl der Versammelten. Zurückblickend +sah er, daß Nechlidow auf dem Podium stand und +eifrig auf die Zurückgebliebenen einredete.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_150" id="Page_150" title="150"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Frau</span> von Zeuthen stand in einem ausgeschnittenen +schwarzen Schleppkleide hochaufgerichtet +vor dem Krüppel, der die langen Arme +mit den schwarzbehaarten Händen demütig hängen +ließ:</p> + +<p>»Sagen Sie mir, Herr de la Rouvière, was hatte +das zu bedeuten, daß man Sie als Seebecks Nachfolger +vorschlug?«</p> + +<p>»Gnädige Frau, es ist mir selbst vollständig unerklärlich. +Ich habe nicht die geringste Veranlassung +dazu gegeben. Wie sollte ich auch nur auf +den Gedanken kommen!«</p> + +<p>»Aber Herr de la Rouvière, wenn Sie, trotz Ihrer +Erklärung, mehrere hundert Stimmen erhielten, +so zeigt das, daß viele Sie für den designierten Nachfolger +Seebecks hielten und Ihre Erklärung nur für +ein Scheinmanöver ansahen. Wir stehen da vor einem +System von Intriguen, an dem das Mißtrauen, +das Nechlidow aussät, nur zum Teil Schuld haben +kann. Sie müssen doch mindestens eine Vermutung +haben, wie dieser seltsame Mißgriff geschehen +konnte.«</p> + +<p>Sie sah mit großen, braunen Augen ernst auf +ihn nieder, und unter diesem Blicke wurde der +Krüppel gleichsam noch kleiner:</p> + +<p><a class="page" name="Page_151" id="Page_151" title="151"></a>»Gnädige Frau«, stieß er hervor. »Ich habe nicht +gegen Herrn Seebeck intriguiert; im Gegenteil, ich +habe den geringen Einfluß, den meine Stellung mir +gab, nur dazu benutzt, die keimende Unzufriedenheit +zu beruhigen und in vernünftige und sachliche +Bahnen zu leiten. Und die Resultate meiner +Tätigkeit liegen ja offen zutage.« Er wies auf eine +Nummer der »Inselzeitung«, die sich auf dem Tische +befand.</p> + +<p>Frau von Zeuthen schüttelte den Kopf:</p> + +<p>»Diese Erklärung genügt mir nicht; sie verschleiert +nur. Ich will mehr wissen.«</p> + +<p>Herr de la Rouvière trat einen Schritt zurück +und hob gleichzeitig die langen Arme:</p> + +<p>»Gnädige Frau, Sie, die hoch oben stehen, wo +wir niemals hinkommen können – können Sie +nicht verstehen, daß wir uns nach der Höhe sehnen?«</p> + +<p>Frau von Zeuthen setzte sich auf den Divan; ein +Schleier legte sich über ihre Augen, aber sie sagte +nichts. Herr de la Rouvière trat etwas näher und +hielt sich an einer Stuhllehne fest.</p> + +<p>»Verspottet oder bemitleidet habe ich mein Leben +verbracht; niemand wollte mich als vollen Menschen +anerkennen. Dann brachten Sie mich hierher, und +hier fand ich zum ersten Male in meinem Leben +ein Arbeitsfeld. Ich wurde ein Mensch unter Menschen. +Ich dachte an Sie und wollte Ihnen Ehre +<a class="page" name="Page_152" id="Page_152" title="152"></a>machen, wollte Sie, die Unerreichbare, erreichen.«</p> + +<p>Frau von Zeuthen senkte den Kopf; ihr Blick +ruhte unbeweglich auf ihren beiden weißen Händen.</p> + +<p>»Die Menschen kamen zu mir, und ich kam ihnen +entgegen. Viele haben mich um Rat gefragt, und +ich habe ihnen nach bestem Gewissen geantwortet. +Ich genoß Vertrauen, aber ich habe es nicht mißbraucht. +Ich wollte nur helfen, dem Einzelnen +und der Gemeinschaft helfen. Die anderen aber +haben mich mißverstanden; sie glaubten, ich wollte +sie beherrschen. Und das wurde mir erst gestern +klar.«</p> + +<p>Frau von Zeuthen erhob sich:</p> + +<p>»Ich kann Ihnen heute nicht antworten«, sagte +sie, »ich muß Sie bitten, mich jetzt allein zu lassen.«</p> + +<p>Er ließ den Stuhl los, an dem er sich festgeklammert +hatte und trat dicht an sie heran:</p> + +<p>»Schicken Sie mich nicht so fort! Sagen Sie, +daß Sie mich verstanden haben!«</p> + +<p>»Ich glaube Sie zu verstehen«, sagte sie langsam, +aber sie nahm nicht die Hand, die er nach ihr ausstreckte. +»Aber gehen Sie jetzt; ich muß allein +sein.«</p> + +<p>Und Herr de la Rouvière ging.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_153" id="Page_153" title="153"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Felix</span> schämte sich doch, seine damalige Forschungsreise +so kurz abgebrochen zu haben, +und ohne die geringsten Entdeckungen zurückgekehrt +zu sein. Obgleich er den größten Teil der +Schuld seiner Schwester zuschob, konnte er sich +doch nicht vergeben, nicht mehr Standhaftigkeit +gezeigt zu haben. Andererseits sagte er sich auch, +daß sie viel zu planlos losgezogen seien, so unvorbereitet, +daß sie nicht einmal die Entfernung des +Vulkans gekannt hatten.</p> + +<p>Jetzt saß er fast jeden Nachmittag bei Paul Seebeck +und studierte dessen Karten und Pläne, von +denen fast alle – bis auf diejenigen, die die nächste +Umgebung und die künstlichen Anlagen betrafen +– noch aus der Zeit stammten, wo Paul Seebeck +ganz allein auf der Insel geweilt hatte.</p> + +<p>Paul Seebeck gab ihm alle Hilfsmittel, über die +er verfügte, darunter auch mehrere Lehrbücher +der Geologie und der verwandten Wissenschaften, +und unterstützte ihn auch soweit mit Erklärungen, +wie seine knappe Zeit es erlaubte. Fast immer +freilich verliefen diese Nachmittage so, daß Paul +Seebeck, mit der Zigarre in der Hand im Zimmer +auf- und abgehend, Fräulein Erhardt Briefe diktierte, +<a class="page" name="Page_154" id="Page_154" title="154"></a>die diese stenographierte, um sie dann später +auf der Schreibmaschine zu übertragen, während +Felix, über sein Material gebeugt, still in einer Ecke +saß. War Paul Seebeck mit dem Diktate fertig, +ging er zu Felix, machte ihn auf einige besondere +Dinge aufmerksam oder löste dem Knaben Zweifel, +soweit er dazu imstande war, und verließ dann das +Zimmer. Gewöhnlich packte Felix dann bald seine +Sachen zusammen und ging nach Hause, denn es +war ihm unangenehm, mit Fräulein Erhardt allein +zu sein.</p> + +<p>Aber als er wieder einmal mit einem kurzen Abschiedswort +fortgehen wollte, drehte Fräulein Erhardt +sich auf ihrem Rundsessel herum und fragte +ihn:</p> + +<p>»Sind Sie jetzt bald mit Ihren Plänen fertig, +Herr von Zeuthen? Wann ziehen Sie los?«</p> + +<p>Felix besann sich einen Augenblick, dann sagte er:</p> + +<p>»Eigentlich bin ich schon fertig. Ich will nur +warten, bis es etwas kühler geworden ist. Aber +das wird es wohl schon in den allernächsten Tagen +werden.«</p> + +<p>Fräulein Erhardt faltete die Hände über den +Knieen und beugte sich nach vorn; sie fragte:</p> + +<p>»Darf ich Sie auf Ihrer Reise begleiten, Herr +von Zeuthen?«</p> + +<p>Felix sah sie überrascht an:</p> + +<p><a class="page" name="Page_155" id="Page_155" title="155"></a>»Ja, wenn es Ihnen Freude macht, natürlich. +Aber sie wird wenigstens eine Woche dauern.«</p> + +<p>Fräulein Erhardt stand auf und reichte ihm die +Hand:</p> + +<p>»Ich danke Ihnen.«</p> + +<p>Felix war etwas verwirrt, und um seine Ratlosigkeit +zu verdecken, küßte er Fräulein Erhardts +Hand. Sie ließ die ihre einen Augenblick in der +seinen ruhen. Dann trat er an den Tisch zurück +und suchte eine von Seebecks ersten Kartenskizzen +heraus.</p> + +<p>»Sehen Sie«, sagte er, »bis an den Fuß des Vulkans +geht die Hochebene. Die kenne ich jetzt, und da ist +nichts zu holen. Steinplatten, Geröll und zuweilen +Sandstrecken. Und dasselbe sagt Paul; er ist da +überall gewesen und hat nichts gefunden. Ich kann +mir auch nicht denken, daß da irgend etwas sein +sollte. Aber dort am Fuße des Vulkans, hier, wo +Paul die Striche gemacht hat, sagt er, wäre eine +Masse von Schluchten. Er ist nicht weiter gekommen, +weil er keine Zeit hatte. Dort ist der Boden auch +zuweilen so heiß gewesen, daß er ihn nicht betreten +konnte. Da müßten wir also hin. Ich dachte, an +einem Tage direkt bis zu den Schluchten zu reiten +– Sie können doch reiten, Fräulein Erhardt?«</p> + +<p>»Ja, aber ich habe kein Pferd.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_156" id="Page_156" title="156"></a>»Das tut nichts, Sie können das von Hedwig +nehmen. – Ja, und dann müssen wir sehen, was +wir da oben finden. Natürlich müssen wir auch +auf den Vulkan steigen.«</p> + +<p>»Ich werde Herrn Seebeck bitten, mir jetzt +meinen Urlaub zu geben«, sagte Fräulein Erhardt. +»Ich freue mich sehr auf die Reise, Herr von +Zeuthen.«</p> + +<p>Felix verbeugte sich etwas ungeschickt und ging.</p> + +<p>Schon in den nächsten Tagen nahm die Hitze ab; +kühle Winde strichen über die Insel und führten +leichte, graue Wolkenzüge mit; ja, gelegentlich +fielen sogar einige Regentropfen. Jetzt, zwischen +Sommerhitze und Regenperiode, war die geeignete +Zeit für einen längeren Ausflug gekommen.</p> + +<p>Am Tage vor ihrem Aufbruch hatte sich Paul +Seebeck mehrere Stunden von seiner Arbeit frei +gemacht und half den beiden bei ihren Vorbereitungen. +Er sorgte dafür, daß sie Proviant für +vierzehn Tage, und auch sonst alles Notwendige, +doch nichts Überflüssiges mit hatten. Was die +Pferde anging, riet Seebeck, sie nach der Ankunft +einfach loszulassen; sie würden dann ohne weiteres +nach Hause laufen. Felix und Fräulein Erhardt +müßten dann allerdings zu Fuß heimkehren. Auf +dem Hinwege brauchten sie aber unbedingt die +Pferde, des Transportes ihrer Sachen wegen.</p> + +<p><a class="page" name="Page_157" id="Page_157" title="157"></a>Noch vor der Morgendämmerung brachen sie +auf, und gerade, als sie das Volkshaus erreichten, +hob sich die Sonne über den Horizont. Der Nachttau +verschwand bald von den Steinen, aber trotz des +wolkenlosen Himmels wurde es nicht heiß. Die +Spitze des Vulkans lag vollkommen frei von Wolken +und Schleiern vor ihnen.</p> + +<p>Sie ritten in langsamem Trabe an dem Staubecken +vorbei und kamen auch zu der Stelle, wo +sich Felix und Hedwig damals zur Umkehr entschlossen +hatten. Erst zur Mittagsstunde stiegen +sie von den Pferden. Felix öffnete einige Konservenbüchsen +und bot Fräulein Erhardt vom Inhalte +an. Als sie gegessen hatten, warf er sich auf +den Boden, zog eine seiner Kartenskizzen hervor +und bemühte sich, sich über ihren gegenwärtigen +Standort zu orientieren. Fräulein Erhardt saß +inzwischen auf einem Stein und schaute abwechselnd +auf ihren Reisegenossen und auf die starre +Steinwüste. Nach zweistündiger Rast brachen sie +wieder auf. Sie hielten streng die Richtung auf +den Vulkan ein, mußten aber immer größere +Umwege machen, um tiefe Spalten im Boden zu +umreiten. Das Gelände wurde auch immer welliger, +und gleichzeitig trat mehr und mehr Geröll und +Grus auf. Das Geräusch vom Flusse her war vollkommen +verstummt, aber immer höher und breiter +<a class="page" name="Page_158" id="Page_158" title="158"></a>reckte sich der Vulkan. Aus dem regelmäßigen +Kegel lösten sich immer größere Vorsprünge heraus, +und tiefe Einschnitte zeigten sich an seinen Wänden.</p> + +<p>Auch das ganze Bild der Gegend hatte sich verändert. +Es gab keine Ebene mehr, aus der sich +plötzlich scharf umgrenzt der Vulkan erhob. Ebene +und Vulkan kamen einander entgegen, verwischten +in ihrer zunehmenden Zerklüftung ihre Gegensätze +und verschmolzen zuletzt zu einem wilden Körper.</p> + +<p>Fräulein Erhardt und Felix ritten an hohen +Felsblöcken vorbei, mußten oft im Zickzackwege +an steilen Geröllhalden hinab- und hinaufreiten. +Das Traben war unmöglich geworden, und im +mühsamen Schreiten wiegten die kleinen, starken +Pferdchen rhythmisch die Köpfe.</p> + +<p>Die Spitze des Vulkans war zurückgetreten und +zuletzt ganz hinter einer hohen Felswand versunken. +Und hier hielten die beiden an, um im +Schutze der Felswand die Nacht zu verbringen. +Sie nahmen das Gepäck von den Pferden, gaben +ihnen den letzten Rest des mitgebrachten Heus +zu fressen, nahmen ihnen dann das Zaumzeug ab +und banden es an den Sätteln fest. Die klugen +Tierchen blieben erst schnuppernd stehen, gingen +einige Schritte heimwärts und wandten dann wieder +die Köpfe nach Felix zurück. Da dieser aber keine +Miene machte, sie zurückzuhalten, setzten sie sich +<a class="page" name="Page_159" id="Page_159" title="159"></a>in langsamen Trott und waren bald hinter den +Felsen verschwunden.</p> + +<p>Während Fräulein Erhardt und Felix fast +schweigend ihr Abendessen einnahmen, wurden die +Schatten unheimlich lang und kalt, krochen an +den Felswänden empor, hier und da leuchtete noch +eine Spitze, ein Vorsprung –</p> + +<p>Wenige Minuten später war es dunkel, und sofort +legte sich ein schwerer Tau auf Gesicht und Kleider.</p> + +<p>Felix zündete eine kleine Lampe an und ordnete +in ihrem schwachen Lichtscheine die mitgebrachten +Sachen. Er rollte die Schlafsäcke auf und stellte +die Konserven in eine kleine Spalte, die er – um +sie vor den Sonnenstrahlen zu schützen – noch mit +einem flachen Steine zudeckte. Dann kroch er in +seinen Schlafsack, gähnte, wünschte Fräulein Erhardt +eine gute Nacht und schlief fest ein. Fräulein +Erhardt aber blieb noch lange auf ihrem Steinblock +sitzen; zuweilen bewegte sie fröstelnd die Schultern. +Zuletzt ging sie vorsichtig zu Felix, kniete neben +den Schläfer hin, beugte ihr bleiches Gesicht über +ihn und küßte ihn leise auf die Stirn. Felix rührte +sich nicht. Da ging Fräulein Erhardt gesenkten +Hauptes zurück und legte sich endlich zur Ruhe.</p> + +<p>Als sie am Morgen aufwachte, war Felix fort. +Sie sprang schnell auf und brachte ihre zerdrückten +Kleider, so gut es sich machen ließ, in Ordnung. +<a class="page" name="Page_160" id="Page_160" title="160"></a>Felix kam erst nach einer Stunde. Er war beim +Flusse gewesen und hatte Wasser geholt. Er setzte +das Wasser über den Spirituskocher und sagte:</p> + +<p>»Wissen Sie, was ich herausgefunden habe, +Fräulein Erhardt? Wir sind vom Wege ein tüchtiges +Stück nach links abgekommen. Die Spalten, +von denen Paul mir erzählt hat, habe ich sehn +können, wie ich zum Fluß ging. Hier ist sicher +überhaupt noch nie ein Mensch gewesen. Am liebsten +möchte ich die Spalten in Frieden lassen und +noch weiter nach links, also nach Süden, gehn.«</p> + +<p>Er stürzte in großer Hast seinen Tee hinunter +und ging dann zum nächsten Hügel, wo er eine +mächtige Steinpyramide errichtete.</p> + +<p>»So, jetzt können wir unsere Sachen immer +wieder finden«, sagte er. »Sind Sie fertig?«</p> + +<p>Fräulein Erhardt war fertig und bereit, ihm zu +folgen.</p> + +<p>Sie gingen an der Felswand entlang und kamen +nach einer halben Stunde an eine Geröllhalde. +Hier stiegen sie höher hinauf, bis sie an einen Absatz +kamen, von dem aus sie Umschau halten wollten. +Aber sie konnten nicht weit sehen; hätten sie nicht +gewußt, daß sie sich am Abhange des Vulkans befanden, +der sich hoch über die Ebene reckte – +hier hätten sie es nicht feststellen können, denn +an allen Seiten sahen sie nur ein Gewirr von Felsen +<a class="page" name="Page_161" id="Page_161" title="161"></a>und Schutthügeln, das jede Aussicht versperrte. +Nur an einem einzigen Punkte, gerade zwischen +zwei Basaltfelsen, konnten sie die Ebene und sogar +ein Streifchen des hellschimmernden Meeres +sehn.</p> + +<p>Sie gingen weiter; Felix immer zwanzig Schritte +voraus. Das Gefälle war jetzt viel geringer, und +das Geröll wurde oft durch Strecken von graublauem +Sande und Lehm unterbrochen, aus dem oft +kleine Quellen entsprangen, die aber alle bald +wieder im Gerölle verschwanden. Plötzlich schrie +Felix leicht auf: er war mit dem einen Bein bis +zum Knie in ein Schlammloch gesunken. Fräulein +Erhardt eilte erbleichend zu ihm, aber er hatte +sich schon wieder beruhigt und zeigte ihr lachend +das schmutzige Bein und das Loch, in dem sich +jetzt gurgelnd trübes Wasser ansammelte. Aber +Felix war durch den Vorfall vorsichtiger geworden; +er umging die immer häufiger auftretenden feuchten, +dunklen Strecken, bis sie endlich wieder auf festen +Basaltgrund kamen. Hier sah Felix auf die Uhr: +sie waren schon drei Stunden ununterbrochen gestiegen. +Dann setzte er sich auf einen Stein, um +Fräulein Erhardt zu erwarten, nahm sich einen +Stein und kratzte den Schmutz vom Strumpf und +Stiefel. Naserümpfend warf er den Stein fort, denn +das Zeug hatte einen widrigen, fauligen Geruch.</p> + +<p><a class="page" name="Page_162" id="Page_162" title="162"></a>Als Fräulein Erhardt neben ihm stand, reichte +er ihr eine Tafel Schokolade und rückte gleichzeitig +etwas auf seinem Steine zur Seite, um auch +ihr Platz zu machen. Aber sie bemerkte es nicht; +nachdenklich knabberte sie an der Schokolade und +blickte dabei vor sich auf den Boden.</p> + +<p>Etwas gelangweilt und mißvergnügt sah Felix +sie an; aber dann wurden seine Züge plötzlich +weich, und er wandte sich ab.</p> + +<p>»Sehen Sie doch, wie schön es hier ist«, sagte +er und streckte die Hand aus.</p> + +<p>Fräulein Erhardt sah erst ihn mit ihren großen, +schwarzen Augen an, dann drehte sie sich ganz +langsam umher. Jetzt waren die Felsen, die ihnen +vorher den Blick versperrt hatten, tief unten versunken. +Sie hoben sich kaum merkbar über die +Ebene, die breit und flach dort unten lag. Ein +schmales Silberband – der Fluß – zog sich in +Windungen hindurch; dort lag ein kleiner hell +spiegelnder Fleck – das Staubecken, und hinten, +weit hinten, das Meer –</p> + +<p>Fräulein Erhardt hatte die Hand auf Felix’ +Schulter gelegt, und er empfand wohlig den leichten +Druck. Aber dann merkte er ihre Wärme durch +seine Kleider dringen, und das verursachte ihm +ein unbehagliches Gefühl. Er stand auf:</p> + +<p><a class="page" name="Page_163" id="Page_163" title="163"></a>»Wir haben keine Zeit, Fräulein Erhardt, wenn +wir heute noch hinauf wollen«, sagte er.</p> + +<p>»Dann lassen Sie uns weitergehn«, antwortete +sie einfach und schlug die Augen nieder.</p> + +<p>Sie stiegen weiter. Plötzlich blieb Felix stehen.</p> + +<p>»Riechen Sie nichts, Fräulein Erhardt?« fragte er.</p> + +<p>Sie sog die Luft ein:</p> + +<p>»Ja, das ist doch Meergeruch!« sagte sie erstaunt.</p> + +<p>Felix schüttelte den Kopf:</p> + +<p>»Ich finde es auch. Aber das ist doch ganz unmöglich. +Wir sind doch ganz weit vom Meere, und +außerdem so hoch –«</p> + +<p>Aber je höher sie kamen, um so stärker wurde der +unverkennbare Tanggeruch. Außerdem waren +immer wieder große, feuchte Lehmflecke zwischen +den Felsen. Um sie zu umgehn, mußten sie mehrmals +an den zackigen Felsen emporklettern.</p> + +<p>Auf einmal lag wieder die Spitze des Vulkans in +ihrer bekannten Form vor ihnen, nur daß sie jetzt +in der Nähe scharf und zackig aussah. Aber zwischen +dem Vulkane und ihnen lag in einem langen und +breiten Becken grünlich und fett schimmernd ein +großer See. Jetzt nach dem heißen Sommer war +der Wasserspiegel weit zurückgetreten, und die +lehmigen Ufer waren mit ungeheuren Massen von +Tang und vertrockneten Algen bedeckt.</p> + +<p><a class="page" name="Page_164" id="Page_164" title="164"></a>Skelette von Fischen lagen zu Tausenden herum, +ebenso die Reste von großen Seesternen und +Krebsen.</p> + +<p>Jetzt kam ein Windhauch und trieb Fräulein +Erhardt und Felix den Gestank ins Gesicht. Trotzdem +machte sich Felix an den Abstieg, während +Fräulein Erhardt oben blieb. Sie sah ihm nach, +wie er von Stein zu Stein hinuntersprang und dann +unten am Rande des Wassers entlang ging. Nach +einer Weile kam er, hochrot im Gesicht, den Abhang +wieder hinaufgestürmt.</p> + +<p>»Wissen Sie was, Fräulein Erhardt?« rief er, +noch ganz atemlos. »Im Wasser wimmelt es von +Fischen und Krebsen! Es sieht genau so aus, wie +in der Irenenbucht.«</p> + +<p>Sie gingen einige Schritte zurück, so daß sie der +Geruch nicht mehr so belästigte. Dann fragte +Fräulein Erhardt:</p> + +<p>»Wie wollen Sie diese sonderbare Erscheinung +erklären, Herr von Zeuthen?«</p> + +<p>Felix dachte nach.</p> + +<p>»Paul glaubt ja, daß die ganze Insel in etwas +anderer Form schon früher da war, untersank und +dann jetzt bei der Bildung des großen Vulkans +wieder aufstieg. Es wäre ja möglich, daß wir hier +den früheren Krater vor uns haben, in dem sich +unter dem Meere alle die Tiere und Pflanzen angesiedelt +<a class="page" name="Page_165" id="Page_165" title="165"></a>haben. Wie die Insel aufstieg, hat sich +diese ganze abflußlose Schüssel mit ihrem ganzen +Inhalte mit gehoben und bildet jetzt tausend +Meter über dem Meere einen Salzsee. Das muß ich +Allan erzählen, der wird gleich etwas großartiges +daraus machen.« Und Felix begann gleich Fräulein +Erhardt großzügige Pläne zu entwickeln, wie man +durch eine regulierte Wasserzufuhr verhindern +könnte, daß der Spiegel sich in der Trockenheit +senkte. Die konstante Höhe des Wassers wäre die +erste Grundlage für weitere Arbeiten. Dann müßte +man Fische hineinbringen, die sowohl im Meere +wie in Flüssen leben könnten und die sich dann +dem langsamen, aber unvermeidlichen, allmählichen +Salzverluste des Wassers anpassen würden. Und +ebensolche Pflanzen. Dann Vögel herlocken, den +überflüssigen Tang als Dünger für Anlagen verwenden +– oh, es würde schon alles gehn; Allan +würde hier mitten in der Steinwüste ein Paradies +schaffen.</p> + +<p>Sie gingen weiter, des Geruches wegen immer so, +daß ein Wall zwischen ihnen und dem See lag. +Zuweilen konnten sie es sich doch nicht versagen, +die paar Schritte hinaufzulaufen, um sich das +Wasser wieder anzusehen, das sich mehr und mehr +zur Seite schob. Gleichzeitig versank die Spitze +des Vulkans wieder hinter vorspringenden Felsen. +<a class="page" name="Page_166" id="Page_166" title="166"></a>Nun konnten Fräulein Erhardt und Felix wieder +höher steigen, aber nur schräg aufwärts, so daß sie +immer mehr nach rechts gerieten. Jetzt befanden +sie sich ungefähr über ihrem Schlafplatze, eine +halbe Stunde über der Quelle des Flusses und dann +über jenem Gewirre von Schluchten und Rissen. +Der See war vollkommen verschwunden.</p> + +<p>Plötzlich hielt Felix an; er faßte erregt Fräulein +Erhardts Hand:</p> + +<p>»Sehn Sie dort unten, was ist jetzt das?«</p> + +<p>Fräulein Erhardt sah hin: in etwas geringerer +Höhe, als in der, wo sie standen, lagen rötlich-gelbe +Erdwellen, aus denen Dampf entstieg, hier als +verteilter Dunst, dort in kleinen, festen Strahlen.</p> + +<p>»Wollen Sie hingehn?« fragte Fräulein Erhardt.</p> + +<p>»Natürlich, da müssen wir hin.«</p> + +<p>»Aber dann kommen wir heute nicht mehr auf +den Vulkan.«</p> + +<p>»Dann gehn wir morgen hin. Wir haben ja +Zeit. Aber das da muß ich untersuchen.«</p> + +<p>Und er ging so schnell, lief lange Strecken, daß +Fräulein Erhardt ihm nicht zu folgen vermochte. +Als sie erst die halbe Strecke zurückgelegt hatte, +kam ihr Felix schon wieder entgegen.</p> + +<p>»Sehen Sie, was ich hier habe!« rief er und zeigte +ihr einige grobkörnige, gelbliche Steinbrocken.</p> + +<p>»Ist das nicht Schwefel?« fragte sie erstaunt.</p> + +<p><a class="page" name="Page_167" id="Page_167" title="167"></a>»Ja, alle die gelben Hügel da unten bestehen +aus Schwefelbrei und Lehm. Man muß vorsichtig +sein, daß man da nicht versinkt. Und überall sind +heiße Quellen, die entsetzlich nach Schwefelwasserstoff +riechen. Gott, wie schön ist das +alles.«</p> + +<p>Fräulein Erhardt sah erst dem Knaben in das +heiße, strahlende Gesicht und wandte sich dann +langsam ab. Sie ließ den Blick über die weite Ebene +schweifen, die, vom vielfach gewundenen Flusse +durchzogen, dort unter ihnen lag. Sie folgte mit +dem Auge der großen Linie des Horizontes, wo +Meer und lichtblauer Himmel sich trafen, sie sah +auf die starren Steinblöcke um sich, sah die Spitze +des Vulkans in die Höhe ragen –</p> + +<p>»Ist es nicht prachtvoll, daß es hier so etwas +gibt?« sagte Felix ungeduldig und etwas ärgerlich.</p> + +<p>Mit einem gütigen Lächeln wandte sie sich ihm zu.</p> + +<p>»Gewiß ist das schön«, sagte sie. »Glauben Sie, +daß es eine praktische Bedeutung hat?«</p> + +<p>Felix wurde eifrig. Natürlich müßte man hier +Schwefelminen anlegen –</p> + +<p>Ob es ihm nicht leid täte, die Unberührtheit der +Natur zu zerstören? Oh, Allan würde es so machen, +daß es eine Verschönerung, eine Funktion der +Natur würde, eine natürliche Fortentwicklung, wie +das Wachsen des Mooses auf den Felsen.</p> + +<p><a class="page" name="Page_168" id="Page_168" title="168"></a>»Allan und immer wieder Allan!« dachte Fräulein +Erhardt und sah zu Boden. »Hat er denn keinen +Gedanken mehr für andere Menschen übrig?«</p> + +<p>»Was machen wir jetzt?« sagte Felix. »Auf die +Spitze können wir nicht mehr kommen. Es ist +ja schon vier Uhr. Wir können noch gerade vor +der Dunkelheit unten sein. Dann haben wir aber +morgen wieder dieselbe Geschichte. Ich glaube, es +wäre am vernünftigsten, einfach hier zu übernachten. +Ich habe noch drei große Konservenbüchsen +mit Fleisch und eine ganze Masse Schokolade +in meinem Rucksack. Damit können wir, +wenn wir etwas sparen, gut noch zwei Tage +auskommen.</p> + +<p>Sobald wir dann wieder unten sind, können wir +uns wieder satt essen. Was meinen Sie dazu?«</p> + +<p>Fräulein Erhardt sah sich um und suchte sich +vorzustellen, wie man hier auf den nackten Steinen +schlafen sollte.</p> + +<p>»Ja«, sagte sie etwas zögernd.</p> + +<p>»Gut, dann steigen wir jetzt noch so hoch wir +können. Vielleicht können wir dann schon morgen +Abend wieder unten sein.«</p> + +<p>Sie stiegen noch zwei Stunden. Der Weg bot +keine besonderen Schwierigkeiten mehr, so daß sie +im Gehen wirklich die immer großartiger werdende +Aussicht genießen konnten.</p> + +<p><a class="page" name="Page_169" id="Page_169" title="169"></a>Als sich die Sonne dem Horizonte näherte, +sahen sie, daß sie nur noch wenige Stunden bis +zum Gipfel brauchen würden. Eine kleine Terrasse +mit Lehmboden und einem kleinen Wässerchen +wählten sie als Schlafplatz. Felix knöpfte seine +Jacke zu, steckte die Hände in die Hosentaschen, +wünschte Fräulein Erhardt eine gute Nacht und +schloß die Augen. Sie sah ihn mit ihren großen +Augen an, sah im rasch fortschreitenden Dunkel +seine Knabengestalt undeutlicher und undeutlicher +werden. Sie fröstelte, sie zitterte; Angst und Sehnsucht +überfielen sie. Mit einem Aufschrei warf sie +sich auf den Schläfer und küßte ihm Augen und +Mund.</p> + +<p>Felix erwachte wieder, machte eine Bewegung, +wie um sie abzuschütteln und zog sie dann tief +aufatmend an sich.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_170" id="Page_170" title="170"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Die</span> Nachricht von Felix’ Entdeckungen erweckte +naturgemäß großes Interesse in der +Stadt. Paul Seebeck schlug ihm vor, er solle im +Volkshause einen Vortrag über seine Reise mit +Fräulein Erhardt halten; aber dazu ließ sich Felix +nicht bereit finden.</p> + +<p>»Ich habe die Sache schon so oft erzählt; ich +kann sie nicht noch einmal erzählen«, sagte er.</p> + +<p>Dabei hatte er sie mit allen Einzelheiten – +doch nicht denen rein persönlicher Natur – und +allen seinen Gedanken, die sich an das Geschehene +knüpften, nur einem Einzigen ordentlich erzählt, +und das war Edgar Allan. Und wenige Tage darauf +– der Architekt hatte nur einige dringende Arbeiten +fertig gemacht – ritten er und Felix, trotz des +feinen, aber ständigen Regens, der die Regenzeit +einleitete, zum Vulkane.</p> + +<p>Als sie nach einigen Tagen zurückgekehrt waren, +bewahrten sie absolutes Stillschweigen über die +Resultate ihrer genauen Untersuchungen. Aber +die beiden, der Mann und der Knabe, saßen täglich +stundenlang zusammen.</p> + +<p><a class="page" name="Page_171" id="Page_171" title="171"></a>Erst nach zwei Wochen waren sie so weit, daß +sie die Vorsteher ins Vertrauen zogen, und gleichzeitig +erschien eine kleine Notiz in der »Inselzeitung« +des Inhalts, daß sich die Schwefellager als +abbauwert erwiesen hätten.</p> + +<p>In der nächsten Monatsversammlung der Gemeinschaft +legte dann Jakob Silberland die von +Edgar Allan und Felix ausgearbeiteten und von der +Vorsteherschaft gutgeheißenen Pläne vor. Es +handelte sich um nichts weniger, als die Errichtung +einer zweiten Stadt dort auf halber Höhe des Vulkans; +einer Stadt, die sich gleicherweise um das +Schwefelgebiet wie den See gruppieren sollte. Die +Schwefelminen sollten abgebaut, die Quellen aber +zu Heilzwecken verwendet werden. Am Seeufer +sollten die Wohnhäuser liegen. Otto Meyer verteilte +Vervielfältigungen von Edgar Allans Skizze, +aus denen in großen Zügen die geplante Verbindung +von Minenstadt und Bade- und Luftkurort zu +ersehen war.</p> + +<p>Die Kredite, die zur Durchführung notwendig +waren, waren nicht groß; Edgar Allan verlangte +nur die Anlage einer für Lastautomobile fahrbaren +Straße zum Vulkane und die Anschaffung der +wenigen Maschinen, die zur Hebung des fast an +der Oberfläche liegenden Schwefels dienen sollten. +Die späteren Anlagen sollten aus der Hälfte der +<a class="page" name="Page_172" id="Page_172" title="172"></a>Erträgnisse der Schwefelminen bestritten werden, +wobei die andere Hälfte der Gemeinschaft zufallen +sollte. Und diese Kredite wurden natürlich ohne +Widerspruch bewilligt.</p> + +<p>Darauf bat Jakob Silberland um Urlaub aus +seinem Amte bis zur nächsten Jahresversammlung, +wo er sich über die endgiltige Niederlage seines +Mandats entscheiden würde. Vorläufig wollte er +die geschäftliche Leitung des neuen Unternehmens +übernehmen. Der erbetene Urlaub wurde ihm gewährt, +und als sein Stellvertreter wurde der durch +Zuruf vorgeschlagene Herr de la Rouvière gewählt, +der die Wahl mit einigen Dankesworten annahm.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_173" id="Page_173" title="173"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Dr.</span> Jakob Silberland hatte Otto Meyer aufgesucht, +mit dem er ein Gesetzbuch für die +Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel entwarf, +und jetzt standen sie von ihrer Arbeit auf. Der +Nationalökonom reckte sich und sagte:</p> + +<p>»Sie sind eigentlich der Einzige hier, der eine +wirklich gemütliche Wohnung hat; Ihre wunderschönen, +orientalischen Teppiche und die dunklen +Möbel –«</p> + +<p>»Na, wissen Sie was, Doktor. Die schöne Frau +wohnt doch noch ganz anders.«</p> + +<p>Jakob Silberland zuckte die Achseln:</p> + +<p>»Weiß nicht. Sie hat ja alles sehr nett und sehr +geschmackvoll eingerichtet, aber ich kann bei ihr +nun mal nicht warm werden. Ich glaube, sie hat +zu viel Luft in ihren Zimmern.«</p> + +<p>Der lange, blonde, jüdische Referendar lachte:</p> + +<p>»Ja, da haben Sie wieder mal recht; nichts auf +der Welt macht eine Wohnung so gemütlich, wie +Staub und alter Tabaksrauch – ein Lehrsatz, den +man übrigens auch gut und gern auf die große +Welt übertragen kann. Finden Sie es vielleicht +hier in unserem reinlichen und korrekten Staat +<a class="page" name="Page_174" id="Page_174" title="174"></a>gemütlich? Ich muß zu meiner Schande gestehen, +daß ich mich zuweilen nach den ehrwürdigen, +europäischen Spinngeweben sehne.«</p> + +<p>Jakob Silberland war ernst geworden; er dachte +einen Augenblick nach, dann sagte er eifrig:</p> + +<p>»Sie können nicht so die Parallele zwischen +Zimmer und Welt ziehen. Was im Zimmer erlaubt +ist, kann draußen ein Verbrechen sein. Im Gegenteil +fürchte ich, daß wir schon einige Spinnen hier +haben, und wir müssen für einen kräftigen Besen +sorgen, um die Gewebe wegzufegen.«</p> + +<p>Otto Meyer klopfte ihm auf die Schulter:</p> + +<p>»Nehmen Sie die Geschichte nicht so tragisch. +So war es nicht gemeint.«</p> + +<p>»Das weiß ich schon; Sie wollten nur einen Witz +machen. Aber gerade im Witze sagt man oft Dinge, +die man sonst nicht auszusprechen wagt.«</p> + +<p>»Aber liebster Doktor, Sie brauchen meine Worte +nicht als Bibelweisheit aufzufassen. Ich kann Ihnen +versichern, daß ich kein Philosoph bin.«</p> + +<p>»Gerade deshalb – Halloh!«</p> + +<p>Es hatte geklingelt und Melchior war eingetreten. +Er war augenscheinlich ohne Mantel gekommen, +denn er triefte von Wasser.</p> + +<p>»Guten Tag, Herr wissenschaftlich gebildeter +Bauarbeiter!« Mit diesen Worten begrüßte ihn +Otto Meyer und schüttelte ihm die Hand.</p> + +<p><a class="page" name="Page_175" id="Page_175" title="175"></a>»Störe ich?« fragte Melchior und blieb an der +Türe stehen.</p> + +<p>»Durchaus nicht«, sagte Jakob Silberland und +ging auf ihn zu. »Im Gegenteil, Sie sind uns sehr willkommen. +Nachher kommt auch Seebeck. Wir +wollten später zu Ihnen gehn; wir haben Wichtiges +mit Ihnen zu besprechen.«</p> + +<p>»Einen Augenblick«, sagte Otto Meyer und ging +in sein Schlafzimmer, aus dem er mit einem großen, +rosa Bademantel zurückkehrte, den er mit ernsthaftem +Gesicht um Melchiors Schultern hängte. +Er stülpte ihm auch die Kapuze über den +Kopf.</p> + +<p>»So«, sagte er, »jetzt werden Sie sich nicht erkälten.«</p> + +<p>Melchior ließ sich alles ruhig gefallen. Er setzte +sich, und seine heißen, tiefliegenden Augen wanderten +zwischen den Beiden hin und her.</p> + +<p>»Was wollen Sie von mir?« fragte er.</p> + +<p>Otto Meyer zog die Hängelampe herunter, nahm +Kuppel und Zylinder ab, putzte den Docht und +zündete ihn dann an. Dabei sagte er:</p> + +<p>»Ich soll ein neues Amt übernehmen, und da +wollten wir Sie fragen, ob Sie an meine Stelle +rücken wollten.«</p> + +<p>Melchior schüttelte langsam den Kopf:</p> + +<p>»Das geht nicht«, sagte er, »das wissen Sie ja.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_176" id="Page_176" title="176"></a>»Hören Sie mal«, sagte Jakob Silberland. +»Wir wissen ja alle, aus welchen Motiven Sie +bisher die Übernahme eines Amtes abgelehnt haben +und einfacher Arbeiter geblieben sind. Sie wollten +Studien machen und dabei Ihrem Studienobjekte +so nah wie möglich sein. Das ist nicht nur verständlich, +sondern sogar sehr vernünftig. Jetzt +liegen sie aber so, daß wir Ihre Mitarbeit brauchen, +dringend brauchen, und deshalb bitten wir Sie, +aus dem Zuschauerraum auf die Bühne zu steigen.«</p> + +<p>Melchior schüttelte den Kopf:</p> + +<p>»Wir gingen von der Voraussetzung aus, daß alle +Arbeit gleichwertig sei; deshalb muß es gleichgiltig +sein, ob ich Vorsteher der Gemeinschaft oder +Maurer bin.«</p> + +<p>»Nein, da irren Sie sich gewaltig«, sagte Jakob +Silberland mit hochgezogenen Brauen und ging +nervös im Zimmer auf und ab. »Allerdings betrachten +wir alle Arbeit als gleichwertig, was +sich schon darin äußert, daß alle Arbeiter den +gleichen Lohn beziehen. Doch ist dabei selbstverständliche +Voraussetzung, daß jeder an dem +richtigen Platze steht. Es ist eine doppelte Verschwendung +menschlicher Energie, den geistigen +Arbeiter an die körperliche Arbeit zu stellen, die +er doch nicht so versehen kann, wie der Muskelmensch. +Das ist doch die Grundlage einer jeden +<a class="page" name="Page_177" id="Page_177" title="177"></a>vernünftigen Gesellschaftsordnung, daß jeder ganz +genau die Arbeit tut, zu der er am besten geeignet +ist. Das ist doch gerade der Wahnsinn der üblichen +Gesellschaftsordnungen, daß die Angehörigen gewisser +Familien geistige Berufe ergreifen müssen, +wenn sie auch tausendmal besser zu Handwerkern +paßten, während der geborene geistige Arbeiter +aus der Unterklasse nur in Ausnahmefällen auf +den ihm seiner natürlichen Anlage nach zukommenden +Platz kommt.«</p> + +<p>Melchior war aufgesprungen. Erregt wollte er +seinen Arm ausstrecken, aber der verfing sich in +den Falten des Bademantels, ein Vorgang, der Otto +Meyer ein Schmunzeln entlockte. Er verbiß es +aber und sagte:</p> + +<p>»Und dann noch eins, Herr Melchior: Sie haben +ja Ihr berühmtes Problem, auf dessen Lösung wir +alle gespannt sind. Schaun Sie mal, bis jetzt +haben Sie die Geschichte von unten angesehn, wie +wäre es, wenn Sie sie auch einmal von oben ansähen? +Glauben Sie nicht, daß Ihnen dann manche +Dinge klarer würden? Das wäre doch auch ein +Gesichtspunkt, nicht wahr?«</p> + +<p>Melchior hatte den Bademantel abgestreift.</p> + +<p>»Oh Gott, oh Gott, was sagen Sie mir da alles, +darüber werde ich nachdenken. Aber ich glaube, +Sie haben Recht, meine Herren.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_178" id="Page_178" title="178"></a>»Na also«, sagte Otto Meyer und unterdrückte +ein Gähnen.</p> + +<p>Melchior war dicht an ihn herangetreten.</p> + +<p>»Aber ich begreife die Menschen noch nicht, mit +denen ich jetzt jahrelang tagtäglich zusammenarbeite. +Wäre es nicht besser, solange bei ihnen zu +bleiben, bis ich wirklich die Gesetze ihres Lebens +kennte?«</p> + +<p>Otto Meyer machte ein nachdenkliches Gesicht:</p> + +<p>»Vielleicht, ja wahrscheinlich, werden Sie die +Sache dann gerade besser verstehen können, wenn +Sie etwas Abstand gewinnen. Sie können ja dann +später mit neuen Gesichtspunkten an dieselben +Probleme gehen.«</p> + +<p>Melchior setzte sich wieder und starrte vor sich +hin. Dann hob er die Augen und sah den blonden +Juden an.</p> + +<p>»Sehen Sie, Herr Referendar«, sagte er langsam, +»deswegen kam ich zu Ihnen. Ich wollte Sie um +Ihre Meinung fragen. Sie erinnern sich doch gewiß +noch an jene Gespräche, besonders an das letzte, +wo Herr Edgar Allan seine Theorie vortrug. Sie +haben natürlich auch darüber nachgedacht. Sehen +Sie, die eine, sehr interessante Frage, weshalb man +die staatlichen Formen im weitesten Sinne, das, +was Herr Edgar Allan kurz die Begriffe nennt, +sowohl als fortgeschrittener, wie auch als zurückgebliebener +<a class="page" name="Page_179" id="Page_179" title="179"></a>in bezug auf den tatsächlichen Zustand +der Menschheit ansehen könnte, möchte ich beiseite +lassen. Denn mir scheint – ich bitte Sie, +passen Sie auf, meine Herren – daß jene Begriffe +mit den Gesetzen, nach denen die Menschheit +tatsächlich lebt und sich entwickelt, überhaupt +nichts zu tun haben.«</p> + +<p>»Donnerwetter!« rief Jakob Silberland und fuhr +sich mit der Hand durch das lange, blauschwarze +Haar.</p> + +<p>»Herr Doktor Silberland, ich bitte Sie, sich +folgendes zu überlegen: stellen Sie sich doch eine +chinesische Millionenstadt ohne Verwaltung, ohne +Gesetze und ohne Polizei vor, die trotzdem lebt, +wie ein geordneter Organismus lebt, nur durch +die ungeschriebenen, inneren Gesetze erhalten –«</p> + +<p>»Wie lange waren Sie in China, Herr Melchior?« +fragte Otto Meyer interessiert.</p> + +<p>»Ich? Ich war nie da, aber ich kann mir doch +vorstellen, wie das ist.«</p> + +<p>»Hm. Ich meine, wenn Sie China nicht so genau +kennen, es wäre doch immerhin möglich, wenigstens +denkbar, daß die chinesischen Städte auch +wie die unserigen eine geordnete Verwaltung +hätten.«</p> + +<p>Melchior schwieg und dachte nach. Dann sagte +er:</p> + +<p><a class="page" name="Page_180" id="Page_180" title="180"></a>»Aber dann denken Sie doch bitte an einen +Ameisenhaufen, der doch wohl die geordnetste +Organisation auf der Welt darstellt – wo ist da +Verwaltung und Regierung? Und doch geht alles +in der besten Ordnung.«</p> + +<p>Melchior sah, daß es um Otto Meyers Mund +zuckte, und er fürchtete eine indiskrete Frage nach +dem Ursprung seiner Kenntnisse der Ameisen. Deshalb +fuhr er schnell fort:</p> + +<p>»Die Beispiele tun gar nichts zur Sache. Tag +für Tag habe ich diese ungeschriebenen Gesetze +herausgefühlt und ich weiß, daß ich deshalb mit +meinen Arbeitskollegen keine wirkliche Fühlung +gewinnen konnte, weil ich diese instinktiven Gesetze +intellektuell suchte.«</p> + +<p>»Sie suchen Probleme, wo es keine gibt«, sagte +Jakob Silberland. »Die ungeschriebenen Gesetze, +die Sie sehr richtig als die instinktiven bezeichnen, +sind die, die sich aus den natürlichen, animalischen +Bedürfnissen des Menschen: Hunger, Liebestrieb +und so weiter ergeben. Die geschriebenen Gesetze +dagegen stellen eine recht hilflose Kodifikation +dieser aus den animalischen Bedürfnissen im weitesten +Sinne sich ergebenden praktischen Folgerungen +für die Sozietät dar, die immer in ihrem tatsächlichen +Zustande die genaueste Abwägung der realen +Stärke- und Bedürfnisverhältnisse darstellt. +<a class="page" name="Page_181" id="Page_181" title="181"></a>Die Gesetze hinken natürlich immer nach. +Und das ist ja unser Bestreben hier, so wenig wie +irgend möglich mit festen Gesetzen zu arbeiten, +sondern alles so fluid zu lassen, wie es geht. Gesetze +stellen in ihrer starren Abstraktion immer +einen Fremdkörper im zuckenden, lebendigen Organismus +der menschlichen Gesellschaft dar.«</p> + +<p>Melchior ließ die Hand schlaff auf die Stuhllehne +fallen:</p> + +<p>»Da sitzen wir wieder fest. Aber Dr. Allan +scheint doch recht zu haben, wenn er sagt, daß die +Begriffe ein eigenes, lebensfremdes Dasein führen. +Und wie ist das möglich, daß sie gleichzeitig ein +höheres und ein tieferes Niveau als die Menschheit +darstellen! In diesem Rätsel liegt doch der Schlüssel +zum Problem verborgen.«</p> + +<p>Otto Meyer räusperte sich:</p> + +<p>»Wahrscheinlich ist die Sache einfach so, daß +man sie, von zwei verschiedenen Gesichtspunkten +aus betrachtend, verschieden sieht. Vom Tale aus +gesehen sind sie hoch, vom Berge aus erscheinen +sie tief, weil sie eben auf halber Höhe liegen.«</p> + +<p>Melchior sprang auf. Seine Augen waren aufgerissen:</p> + +<p>»Ich bitte Sie, mehr! Wie ist Ihr Gedankengang?«</p> + +<p>Otto Meyer lachte:</p> + +<p><a class="page" name="Page_182" id="Page_182" title="182"></a>»Um Gotteswillen beruhigen Sie sich. Ich habe +gar keinen Gedankengang. Ich meinte nur ganz +harmlos, daß wenn Sie behaupten, daß der Teppich +grün ist, Silberland ihn dagegen für gelb hält, er +vermutlich auf der einen Seite grün und auf der +anderen gelb ist.«</p> + +<p>Melchior sah ihn verständnislos an; dann sank +er gleichsam in sich zusammen. Nach einer Weile +sagte er leise:</p> + +<p>»Ich weiß, daß Sie mich verspotten, und doch +haben Sie mir damit geholfen. Ich sehe jetzt wieder +den Weg vor mir. Ich danke Ihnen.«</p> + +<p>»Bitte, bitte, gern geschehen«, sagte Otto Meyer +und stand auf. Er hatte draußen Schritte gehört. +Es war Paul Seebeck.</p> + +<p>»Ah, Melchior, Sie«, sagte er eintretend. »Schön, +daß ich Sie hier treffe. Dann können wir die Sache +ja gleich besprechen. Ich habe nämlich fast gar +keine Zeit. – Grüß Gott, Jakob.«</p> + +<p>»Wir haben Herrn Melchior schon die Sache vorgetragen; +er ist auch einverstanden«, erklärte Jakob +Silberland.</p> + +<p>»So? Schön. Es handelt sich also darum«, +sagte Paul Seebeck, sich setzend, »daß das bisherige +Verfahren, bei dem alle Streitigkeiten von der +Monatsversammlung geschlichtet werden, auf die +Dauer nicht durchführbar ist. In Zukunft soll die +<a class="page" name="Page_183" id="Page_183" title="183"></a>Monatsversammlung nur noch Berufungsinstanz +sein, vielleicht sogar erst dritte Instanz. Zunächst +sollen alle Sachen jedenfalls von einem Richter +entschieden werden, vor allem die reinen Bagatellsachen. +Ob wir als nächste Instanz die Vorstandschaft +nehmen, oder gleich die Monatsversammlung, +müssen wir uns noch überlegen. Praktisch kommt +es ja auf dasselbe hinaus, da die Versammlung ja +fast immer gemäß den Vorschlägen der Vorstandschaft +beschließt. Na, wir werden sehen, wie sich +das am besten formulieren läßt. Jedenfalls soll +Otto Meyer der Richter sein. Und Sie würden +wir bitten, seine Stellung zu übernehmen. Wenn +Sie einverstanden sind, würde ich Ihnen vorschlagen, +bis zur nächsten Jahresversammlung als +Otto Meyers Gehilfe zu arbeiten, um mit den Geschäften +vertraut zu werden. Auf der Jahresversammlung +lassen wir dann entsprechend beschließen. +Die Sache wird uns natürlich ohne weiteres genehmigt; +die Leute sind ja nur froh, wenn wir ihnen +wieder ein Stück Denkarbeit abnehmen. Sind Sie +einverstanden?«</p> + +<p>»Ja, Herr Seebeck, ich würde ja gern ein Amt +übernehmen, seitdem ich eingesehen habe, daß +meine Anschauungen einseitig bleiben müssen, +solange ich nur einfacher Arbeiter bin. Aber hinter +dem, was Sie jetzt sagten, liegt noch so viel verborgen, +<a class="page" name="Page_184" id="Page_184" title="184"></a>was ich erst durchdenken muß. Wollen +Sie mir nicht einige Tage Bedenkzeit lassen?«</p> + +<p>»Ich kann es nicht, lieber Melchior. Es ist +unmöglich. Ich habe alles aufs Genaueste durchdacht +und weiß, daß es richtig ist. Ich bitte Sie, +sich jetzt sofort zu entscheiden.« Seebeck hatte +seine Augen kalt und streng auf Melchior gerichtet, +und dieser krümmte sich unter dem Blick. Endlich +sagte er:</p> + +<p>»Herr Seebeck, ich vertraute Ihnen, als ich hierherkam. +Ich tue es auch jetzt noch, obgleich ich +Sie nicht mehr verstehe. Ich nehme Ihren Vorschlag +an.«</p> + +<p>»Ich danke Ihnen«, sagte Seebeck aufstehend. +»Aber jetzt muß ich wieder an meine Arbeit.«</p> + +<p>Er ging aber nicht nach Hause, sondern an den +Strand. Dort saß er, trotz des strömenden Regens, +lange auf einem Steine und sah zu, wie ein Licht +nach dem andern erlosch. Zuletzt auch die +Straßenlaternen. Da erhob er sich, und der große, +starke Mann ging langsam, mit schleppenden +Schritten wie ein Kranker, die Straße hinauf. Vor +Frau von Zeuthens Haus blieb er stehen; nur die +verhängten Fenster ihres Schlafzimmers waren erleuchtet. +Wie er weitergehen wollte, hörte er bei +ihrer Haustüre ein Geräusch. Schnell trat er etwas +zur Seite und sah hin. Die Tür wurde geöffnet, und +<a class="page" name="Page_185" id="Page_185" title="185"></a>eine dunkle Gestalt trat heraus, sah sich scheu +um und kam dann mit seltsamen Schritten näher. +Paul Seebeck sah den kurzen Oberleib mit den +langen Armen. Kein Zweifel: es war der Krüppel.</p> + +<p>Das Licht in Frau von Zeuthens Schlafzimmer +erlosch.</p> + +<p>Paul Seebeck ließ Herrn de la Rouvière vorbei +gehen und im Dunkel verschwinden. Dann richtete er +sich stramm auf, biß die Zähne zusammen und ging +nach Hause.</p> + +<p>Auf seinem Schreibtisch stand Frau von Zeuthens +Bild; er nahm es, sah ihm lange in die Augen, küßte +es und setzte sich dann an seine Arbeit.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_186" id="Page_186" title="186"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Schon</span> als die Schwefelquellen erst notdürftig +eingefaßt waren, und die ersten Baracken am +See standen, bildete der »Vulkan«, wie die entstehende +Stadt kurz genannt wurde, einen beliebten +Ausflugsort. Die schweren Lastautomobile waren +auch zur Mitnahme einiger Personen eingerichtet, +aber das genügte bald nicht mehr. Sobald die Straße +gebrauchsfertig war, ließ Jakob Silberland als +Geschäftsführer einige Personenautomobile kommen, +die den täglich anwachsenden Verkehr kaum zu bewältigen +vermochten. Natürlich war es unmöglich, +in der Schnelligkeit genügende Unterkunftshäuser +zu schaffen, aber da fand Edgar Allan einen Ausweg. +In den Schluchten am Fuße des Vulkans +ließen sich mit ganz geringer Mühe mit Hilfe von +Segeltuchdächern und Fußmatten Wohnstätten +improvisieren, die im warmen, regenlosen Sommer +ausreichten.</p> + +<p>Es kamen auch Fremde zum »Vulkan«; die +Durchreisenden, die oft einige Tage oder Wochen +auf der in Deutschland natürlich vielbesprochenen +Schildkröteninsel verweilten, versäumten nicht, +die neuentstandene zweite Stadt zu besuchen, und +nachdem erst die großen Schwefelbäder in ordnungsmäßen +<a class="page" name="Page_187" id="Page_187" title="187"></a>Betrieb gesetzt worden waren, wurden +sie nicht zum geringsten Teil von den Besuchern +der Insel benutzt.</p> + +<p>Einer der ersten Besucher war übrigens ein Herr +von Hahnemann, ein bei Neu-Guinea stationierter +Marineoffizier, der auf der Schildkröteninsel +seinen Urlaub verbrachte. Dieser Herr von Hahnemann +fiel eigentlich besonders durch seine Wißbegierde +auf; man sah ihn oft stundenlang mit einfachen +Arbeitern im Gespräch. Auch hatte er +bei den Vorstehern und einigen anderen hervortretenden +Persönlichkeiten, wie Nechlidow, Herren +de la Rouvière und Frau von Zeuthen Besuche +gemacht und wurde auch von diesen gelegentlich +eingeladen.</p> + +<p>Einige Tage vor seiner Abreise kam Herr von +Hahnemann zu Paul Seebeck, um sich zu verabschieden. +Paul Seebeck empfing ihn, wie er schon +so manchen derartigen Besucher empfangen hatte, +mit dem sehnlichen Wunsche, daß dieser ihn bald +wieder allein ließe. Da Herr von Hahnemann aber +blieb, fragte er ihn nach Verlauf einer Stunde:</p> + +<p>»Haben Sie vielleicht ein besonderes Anliegen? +Wenn ich Ihnen irgend eine besondere Aufklärung +geben könnte –?«</p> + +<p>»Sie sind außerordentlich liebenswürdig«, antwortete +der Offizier mit einer leichten Verbeugung. +<a class="page" name="Page_188" id="Page_188" title="188"></a>»Entschuldigen Sie die etwas indiskrete Frage mit +meinem großen Interesse: wie denken Sie sich die +Zukunft, Herr Seebeck?«</p> + +<p>Paul Seebeck sah ihn zweifelnd an. Dann stand +er auf und ging zum Fenster.</p> + +<p>»Ich verstehe Ihre Frage nicht recht. Wir +werden so weiterarbeiten wie bisher.« Und dabei +sah er seinem Besucher gerade in die Augen.</p> + +<p>»Pardon, gewiß. Ich meinte aber, wie denken +Sie sich in Zukunft Ihre persönliche Stellung zu +der Sache?«</p> + +<p>»Solange ich das Vertrauen der Mehrheit habe«, +sagte Paul Seebeck ziemlich schroff, »bleibe ich +hier auf meinem Posten.«</p> + +<p>Herr von Hahnemann stand auf:</p> + +<p>»Aber die haben Sie ja nicht mehr. Auf der +letzten Jahresversammlung sind Sie von einer +Minorität nur deshalb gewählt worden, weil sich +die oppositionellen Stimmen auf zwei Kandidaten +verteilten.«</p> + +<p>»Herr von Hahnemann«, sagte Seebeck und trat +dicht vor ihn hin. »Ich bin ordnungsgemäß gewählt +worden, und damit ist dieser Punkt erledigt. Im +Übrigen bedauere ich, mich mit einem Außenstehenden +nicht über innere Verhältnisse unserer +Gemeinschaft aussprechen zu können.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_189" id="Page_189" title="189"></a>»Herr Seebeck, ich verstehe Ihre Erregung über +meine taktlosen Fragen durchaus. Ich möchte Sie +aber darauf aufmerksam machen, daß ich – nicht +nur als Privatmann hier bin.«</p> + +<p>Seebeck setzte sich an seinen Schreibtisch und +fragte ganz ruhig:</p> + +<p>»Sie sind im Auftrage der Reichsregierung hier?«</p> + +<p>»Ja«, sagte Herr von Hahnemann. »Es war eine +Klage eingelaufen, und ich wurde hierher geschickt, +um ihre Grundlagen zu prüfen. Zu meinem Bedauern +fand ich sie bestätigt.«</p> + +<p>»Darf ich Sie fragen, wer außer Nechlidow die +Klage unterzeichnet hat, deren Inhalt ich mir +denken kann«, fragte Paul Seebeck zwischen den +Zähnen.</p> + +<p>»Ich bedaure, Ihnen darauf die Antwort verweigern +zu müssen. Sie sagen selbst, daß Sie sich +den Inhalt der Klageschrift denken können, damit +erübrigt sich, auf die einzelnen Punkte einzugehn. +Ich bin völlig unbefangen hierhergekommen und +habe alles mit eigenen Augen geprüft, besonders +das Protokoll jener Sitzung. Da ich mich leider +von der Stichhaltigkeit jener Klage überzeugen +mußte, sehe ich mich zu meinem Bedauern genötigt, +von meinen Vollmachten Gebrauch zu +machen. Sie müssen die Reichsregierung verstehen, +Herr Seebeck. Wenn hier nur einige +<a class="page" name="Page_190" id="Page_190" title="190"></a>Idealisten auf einem unfruchtbaren Felseneilande +säßen, könnte man sie ja in Gottes Namen machen +lassen, was sie wollten, und ihre Experimente +mit Wohlwollen und Interesse betrachten. Da +es sich jetzt aber schon um Hunderte handelt, +die Zahl der Ansiedler wahrscheinlich noch bedeutend +steigen wird, und ferner das Interesse +des Reichs an diesem Teile seines Kolonialbesitzes +durch die Schwefelfunde noch erhöht ist, ist es nicht +nur das gute Recht, sondern die Pflicht des Reiches, +hier absolut korrekte Zustände zu schaffen.«</p> + +<p>Er machte eine Pause, als erwartete er eine Antwort; +aber Paul Seebeck sagte nichts, sah ihm nur +ruhig ins Gesicht. Der Offizier wurde nervös unter +diesem Blicke; er holte aus seiner Brusttasche +einige Papiere, sowie ein kleines Etui hervor.</p> + +<p>»Herr Seebeck, auch für den Fall, daß sich jene +Klage als stichhaltig erweisen sollte, will die Reichsregierung +in Anbetracht Ihrer unbestreitbaren +großen Verdienste Ihnen auch nur den Schatten +einer Demütigung ersparen. Sie verlangt nichts, +als daß Sie Ihr Mandat als Reichskommissar niederlegen, +und wird dann von sich aus einen neuen +ernennen. Was wir gesprochen haben, bleibt unter +uns. Und hier haben Sie noch einen ausdrücklichen +Gnadenbeweis.« Dabei legte er das kleine Etui +auf den Schreibtisch.</p> + +<p><a class="page" name="Page_191" id="Page_191" title="191"></a>»Das Ding enthält vermutlich einen Orden«, +sagte Paul Seebeck aufstehend. »Bitte stecken Sie +ihn wieder ein. Wollen Sie so liebenswürdig sein, +mir eine Frage zu beantworten: Was wird geschehen +wenn ich mich jetzt weigere, das Reichskommissariat +freiwillig niederzulegen?«</p> + +<p>Der Offizier war aufgesprungen:</p> + +<p>»Überlegen Sie sich, was Sie sagen.«</p> + +<p>»Ich habe es mir überlegt.«</p> + +<p>»Das ist ein Affront.«</p> + +<p>Seebeck zuckte die Achseln:</p> + +<p>»Nicht gegen Sie, verehrter Herr von Hahnemann. +Sie sind ja nur Werkzeug. Sie spielen in +einer Komödie mit, glauben Regisseur zu sein und +sind nur Puppe. Soll ich Ihnen sagen, weshalb +ich gehen soll? Nicht, weil es hier schlecht geht, +nicht weil ich meine Stellung mißbraucht habe, +sondern weil alles gut geht, besser geht, als es sich +die Herren dort in Berlin je träumen ließen. Weil +wir mit unserer Arbeit vorwärts kommen. Wir +haben hier etwas Brauchbares geschaffen, haben die +Durchführbarkeit gewisser Utopieen erwiesen, und +das ist der springende Punkt. Alles andere ist ja +nur Vorwand. Einige kleine Schwierigkeiten, die +die Durchführung einer großen Sache naturgemäß +mit sich führt, die Nörgeleien und Quertreibereien +irgendwelcher Personen, die gar nicht verstehen, +<a class="page" name="Page_192" id="Page_192" title="192"></a>worum es sich hier handelt, geben den bequemen +Vorwand, um alles zu vernichten. Ein Reichskommissar +aus Berlin hier, hier in meinem Werke! +Nein mein Freund. Nehmen Sie Ihr Ding da mit +und schämen Sie sich, bei einer so unwürdigen +Komödie mitzuwirken. Erzählen Sie den Herren +in Berlin, daß Paul Seebeck nicht für einen lausigen +Orden sein Lebenswerk verkauft. Das Reichskommissariat +lege ich nicht nieder.«</p> + +<p>»Ich will – durchaus gegen meine Gewohnheit +– die Spitze überhört haben, die meine Person +betrifft, um die unerhörte Beschuldigung zurückzuweisen, +die Sie gegen die Reichsregierung gerichtet +haben. Sie fühlen sich in einer schwachen +Position und sehen deshalb voll ungerechtfertigter +Bitterkeit auf alle anderen. Überlegen Sie +sich doch: die Reichsregierung hat Sie mit dem +größten Wohlwollen behandelt; was soll die Regierung +aber anders tun, als Ihnen in schonendster +Form den Abschied nahezulegen, wenn sich die +Mehrzahl Ihrer eigenen Bürger gegen Sie erklärt? +Und mehr, wenn die Klage sich als berechtigt erweist? +Sie selbst tragen allein Schuld an dieser +Wendung der Dinge, jetzt müssen Sie auch die +Konsequenzen ziehen. Legen Sie das Reichskommissariat +nieder!«</p> + +<p>»Ich tue es nicht!«</p> + +<p><a class="page" name="Page_193" id="Page_193" title="193"></a>»Dann wird man Sie dazu zwingen!«</p> + +<p>»Versuchen Sie es!« sagte Paul Seebeck und ging +in sein Schlafzimmer, dessen Tür er hinter sich +zuschlug.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_194" id="Page_194" title="194"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Sobald</span> die »Prinzessin Irene« mit Herrn von +Hahnemann an Bord die Anker gelichtet hatte, +berief Paul Seebeck die Vorsteher der Gemeinschaft +zu sich und zwar die offiziellen Inhaber der Ämter, +nicht ihre ständigen Stellvertreter. Das war +auffällig, denn die ständigen Stellvertreter, wie +zum Beispiele Herr de la Rouvière, pflegten sonst +immer zu den Sitzungen zugezogen zu werden. +Paul Seebeck schickte auch Fräulein Erhardt fort, +die gewöhnlich bei den Sitzungen das Protokoll +geführt hatte, und schloß aufs Sorgfältigste alle +Türen und Fenster seines Arbeitszimmers. Seine +Freunde sahen erstaunt seinem Tun zu; als er ihnen +aber dann seine Unterredung mit Herrn von Hahnemann +erzählt hatte, die schon drei Tage zurücklag, +über die beide Teilnehmer aber bisher völliges +Stillschweigen bewahrt hatten, begriffen sie ihn. +Ein langes Schweigen folgte seinem Berichte.</p> + +<p>Als erster ergriff Herr von Rochow das Wort:</p> + +<p>»Man kann Nechlidow nicht einmal einen Vorwurf +machen; er hat nur aus den reinsten Motiven +heraus gehandelt, freilich ohne die Tragweite +seines Vorgehens auch nur im Entferntesten zu +übersehen.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_195" id="Page_195" title="195"></a>»Ach wissen Sie was, Herr von Rochow«, unterbrach +ihn Paul Seebeck müde, »es mußte einmal +so kommen. Ob Nechlidow oder ein anderer nun +den entscheidenden Schritt tat. Aber bei Gott«, +rief er aufstehend, »ich lasse mir mein Werk nicht +zerstören. Und was würde es helfen, daß die Leute +einen von unseren Leuten zum Kommissar machen; +sie werden schon dafür sorgen, daß es ein richtiger +Eunuche ist, der ihren Willen tut. Was eine +unfähige Verwaltung aus lebenskräftigen Kolonien +machen kann, sieht man ja deutlich genug aus +unseren afrikanischen Kolonien.«</p> + +<p>»Besonders, wenn man an die englischen Nachbarkolonien +denkt«, sagte Jakob Silberland.</p> + +<p>»Gehen wir doch zu England«, sagte Otto Meyer +gemütlich; »die werden uns schon in Frieden lassen; +die Engländer wissen, daß die Kolonieen von +Männern gemacht werden und nicht von Korpsstudenten.«</p> + +<p>Seebeck sah ihn starr an.</p> + +<p>»Bitte«, sagte er.</p> + +<p>»Ich meine«, sagte Otto Meyer, »wir haben +keinen Grund, das positive Resultat unserer Arbeit +zerstören zu lassen, bloß weil einige Geheimräte +im Kolonialamt Bauchschmerzen haben. Wenn die +Deutschen eine anständige Kolonie nicht haben +können, erklären wir uns für autonom und lassen +<a class="page" name="Page_196" id="Page_196" title="196"></a>uns dann von England annektieren. Sowas läßt sich +doch machen, deswegen braucht man doch nicht +gleich tragisch zu werden.«</p> + +<p>»Das wäre Revolution«, sagte Hauptmann a. D. +von Rochow ernst.</p> + +<p>Paul Seebeck dachte nach; dann fuhr er heftig +auf:</p> + +<p>»Ist das unsere Schuld? Was gehen wir das Reich +an? Wir haben den Leuten nicht einen Pfennig +gekostet; alles haben wir allein gemacht, mit unserer +Arbeit, unserem Gelde. Jetzt wo die Sache nahezu +vollendet ist, wollen sie es nicht etwa übernehmen, +um es in unserem Sinne fortzuführen, sondern sie +wollen es zerstören. Ich bitte Sie, stellen Sie sich +doch hier einen Berliner Gouverneur vor! Oder +noch schlimmer, einen hiesigen Idioten, der die +Puppe der Herren da oben ist! Aber das erlaube +ich nie! Vorläufig bin ich hier.«</p> + +<p>»Also, erwäge doch meinen Vorschlag. Ich +glaube, das ist der einzige Ausweg.«</p> + +<p>Jakob Silberland stand auf und trippelte auf +seinen kurzen Beinchen im Zimmer auf und ab:</p> + +<p>»Wir wollen doch zunächst mal überlegen, was +jetzt geschehen wird. Vom nächsten Hafen aus +telegraphiert der Mann nach Berlin, daß Seebeck +sich weigert, freiwillig zurückzutreten; die Antwort +lautet wahrscheinlich, daß Herr von Hahnemann +<a class="page" name="Page_197" id="Page_197" title="197"></a>Vollmacht erhält, Seebeck abzusetzen, und entweder +er oder ein anderer wird vorläufig Reichskommissar +hier, bis sie den richtigen Idioten herausgefunden +haben. Hahnemann kann vor einem +Monat überhaupt nicht wieder hier sein; das wäre +das allerfrühste. Vorläufig kann man Seebeck +nichts tun. Daß er sich weigert, freiwillig seinen +Abschied zu nehmen, ist kein Verbrechen. Kritisch +wird die Sache erst, wenn ihm das Reichskommissariat +entzogen wird, und er sich nicht darum +kümmert. Dann kommt ein Kriegsschiff und nimmt +ihn als Aufrührer mit. Bis dahin würde aber +mindestens ein zweiter Monat vergehen. In diesen +zwei Monaten müßte alles entschieden sein; denn +wenn wir offenen Aufruhr begehen und uns nicht +durchsetzen, sind wir verloren.«</p> + +<p>Seebeck hatte sich wieder gesetzt; ruhig sagte er:</p> + +<p>»Kinder, ihr beide wißt Bescheid im Staatsrecht. +Existiert denn überhaupt eine Möglichkeit, sich +von England annektieren zu lassen?«</p> + +<p>»Gewiß, die Möglichkeit ist da. Einer von uns +müßte mit dem nächsten Schiffe nach Sidney und +sehen, was er dort ausrichten kann«, sagte Jakob +Silberland eifrig.</p> + +<p>»Wenn Herr von Rochow als Fachmann mir +helfen will, baue ich Ihnen in sechs Wochen Befestigungen +auf, die dem Kriegsschiff eine harte +<a class="page" name="Page_198" id="Page_198" title="198"></a>Nuß zu knacken geben werden. Eine Landung zu +verhindern, ist bei unserem Hafen eine Kleinigkeit, +einige Seeminen genügen«, fügte der hagere +Architekt hinzu.</p> + +<p>»Ich beschwöre Sie, meine Herren, überlegen +Sie sich, was Sie tun wollen! Revolution, Vaterlandsverrat!« +rief Herr von Rochow.</p> + +<p>»Das Vaterland hat uns verraten, nicht wir das +Vaterland«, sagte Paul Seebeck scharf. »Aber +ich will Sie zu nichts verleiten, was Ihrem Gewissen +widerspricht. Noch ist es Zeit für Sie alle, sich zurückzuziehen. +Ich aber bleibe hier ...«</p> + +<p>»Und ich bleibe bei Ihnen«, sagte Herr von +Rochow und ergriff Seebecks Hand. »Ich bleibe +bei Ihnen, was auch kommen mag.«</p> + +<p>»Ich auch«, sagte Otto Meyer und zündete sich +eine Zigarette an.</p> + +<p>»Wo bekommen wir aber das Geld her?« fragte +Jakob Silberland. »Es handelt sich doch jedenfalls +um Hunderttausende.«</p> + +<p>»Wir müssen es uns natürlich ganz korrekt bewilligen +lassen«, erklärte Otto Meyer, »sonst wird +die Sache zu deutlich. Wir sagen einfach, daß bei +der dauernden Spannung zwischen England und +Deutschland die Befestigung unvermeidlich ist. Und +da wir ja leider Spione im Lande haben, können wir +sagen, daß die Bewahrung militärischer Geheimnisse +<a class="page" name="Page_199" id="Page_199" title="199"></a>in einem kleinen Kreise – hier also in der Vorsteherschaft +– eine absolute Notwendigkeit ist. +Übrigens wäre es am besten, in aller Heimlichkeit +so viel zu bauen, wie nur irgend geht und sich die +Kredite nachträglich bewilligen zu lassen. Denn +wenn man draußen erfährt, daß wir befestigten, wird +das Kriegsschiff mit Windeseile angerannt kommen.«</p> + +<p>Paul Seebeck war ans Fenster getreten und +blickte hinaus:</p> + +<p>»Schade, schade, daß es so kommen mußte.« +sagte er.</p> + +<p>»Was brauchen wir eigentlich,« wandte sich Otto +Meyer an Herrn von Rochow, »eine Strandbatterie +und –«</p> + +<p>Hauptmann a. D. von Rochow schüttelte den +Kopf:</p> + +<p>»Eine Strandbatterie hat gar keinen Sinn; die +schießt ein Kriegsschiff in einer Viertelstunde zusammen. +Nein, ein schweres Festungsgeschütz +und einige Maschinengewehre hier oben für alle +Eventualitäten genügen. Das Hauptgewicht müssen +wir auf die Seeminen legen. Die natürlich mit +elektrischer Zündung von hier oben aus.«</p> + +<p>»Ist das nun alles eine Kette von Zufällen oder +war es eine Notwendigkeit? Mußte es so kommen?« +sagte Seebeck, noch immer am Fenster stehend +und hinausblickend.</p> + +<p><a class="page" name="Page_200" id="Page_200" title="200"></a>»Zerbrich dir darüber nicht den Kopf«, sagte +Otto Meyer und klopfte ihm auf die Schulter, +»die Probleme sind dem tüchtigen Melchior reserviert. +Wir können ja handeln, brauchen also nicht +nachzudenken.«</p> + +<p>»Bravo!« rief Edgar Allan.</p> + +<p>Und dann begannen die Vorsteher der Gemeinschaft, +die zu unternehmenden Schritte bis in die +kleinste Einzelheit zu beraten. Erst bei Tagesgrauen +trennten sie sich, und da war alles beschlossen.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_201" id="Page_201" title="201"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Wie</span> schon oft in der letzten Zeit holte Nechlidow +seine junge Freundin um fünf Uhr vom Kindergarten +ab, nachdem Hedwig ihre kleinen Schützlinge +entlassen hatte.</p> + +<p>Die beiden gingen schweigend durch die lange, einreihige +Fischerstraße bis zur letzten Landspitze, +die die bewohnte Bucht von der Irenenbucht schied.</p> + +<p>»Wissen Sie, Hedwig, was Herr von Hahnemann +mitgenommen hat?« fragte Nechlidow, als sie dort +auf einer gewaltigen Klippe saßen, »Paul Seebecks +Abschiedsgesuch.«</p> + +<p>Hedwig sah ihn erschreckt an:</p> + +<p>»Woher wissen Sie das?«</p> + +<p>»Ja, ich weiß es. Herr von Hahnemann war +hier, um die Richtigkeit meiner Klagen zu prüfen; +er hat mir selbst gesagt, daß er sie in allen Punkten +berechtigt gefunden hätte. Ich sprach ihn, gerade +als er zu Herrn Seebeck hinaufgehen wollte. Ja, +jetzt ist es mit Seebecks Selbstherrschaft vorbei – +jetzt werden wir die Sache wieder in Ordnung +bringen.«</p> + +<p>»Sind Sie ganz sicher, daß Sie Recht haben?« +fragte Hedwig leise.</p> + +<p><a class="page" name="Page_202" id="Page_202" title="202"></a>»Seien Sie nicht traurig, liebe Hedwig. Es tut +mir selbst um Seebeck leid, denn ich achte ihn als +Menschen. Aber die Sache geht vor. Und Seebeck +ist schwach, viel zu schwach, um sie durchzuführen. +Seien Sie aufrichtig, was ist von den Idealen übrig +geblieben, mit denen wir hierher kamen? Wodurch +unterscheidet sich unsere »Gemeinschaft« von +irgend einem beliebigen Staate? Nur durch Phrasen. +In Wirklichkeit ist alles genau dasselbe. Sehen Sie, +Hedwig, in jener entscheidenden Sitzung in Berlin +sagte ich zu Paul Seebeck, daß es nur ein Mittel +gäbe, um nicht in die Verlogenheit aller anderen +Staaten hineinzugeraten, und daß dieses das absolute +Festhalten an der menschlichen Vernunft sei. +Er gab mir recht, er ist intelligent genug, das einzusehen, +aber zu schwach, es durchzuführen. Der +Todfeind aller Kultur, aller Fortentwicklung der +Menschheit, die Sentimentalität liegt ihm so tief +im Blute, daß sie stärker als alle Vernunft ist. Hier +brauchen wir Männer, klare, vernünftige Männerköpfe, +Kerle wie Herrn de la Rouvière, aber +keine träumerischen, weibischen Dichter wie +Seebeck.«</p> + +<p>Hedwig hatte ihm ängstlich zugehört:</p> + +<p>»Aber Paul ist doch so gut.«</p> + +<p>»Eben deshalb muß er fort. Das ist ja gerade +sein Fehler. Güte, Liebe – was sind das für Begriffe. +<a class="page" name="Page_203" id="Page_203" title="203"></a>Mißverstandene Naturtriebe. Heutzutage +lieben Männer einander; was ist das für ein Unsinn! +Oder ein Mann und eine Frau lieben einander, +aber kommen aus irgend einem Grunde nicht zusammen. +Denken Sie doch nur alle die kindischen +Romane. Liebe ist der Wunsch nach dem Kinde, +also ist sie nur dort wahr und nicht verlogen, wo +zwei Menschen zusammen ein Kind haben wollen, +sonst nicht. Seitdem wir aber das wissen, brauchen +wir doch keine Dichter und keine Gefühle mehr. +Wir haben doch die Vernunft, und die verirrt sich +nie; wie oft tun das aber die unklaren, mystischen +Gefühle. Sehen Sie doch, was so ein Gefühl für +Bocksprünge macht: aus dem Triebe nach dem +Kinde wird die Liebe, die alles mögliche verbindet, +was mit dem Wunsche nach dem Kinde, nach der +Zukunft der Menschheit, nicht das Geringste mehr +zu schaffen hat; aus der Liebe wird die Güte und +aus Güte und Rücksichtnahme nach allen Seiten +ruiniert Seebeck diesen Staat, der eine neue +Menschheit hätte gebären können. Ach was hätte +hier werden können, wenn Seebeck stark gewesen +wäre.«</p> + +<p>»Aber hier geht alles doch so gut –« unterbrach +ihn Hedwig schüchtern.</p> + +<p>»Ungeheure Lügen sind hier gebaut, und die +florieren glänzend, das ist wahr.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_204" id="Page_204" title="204"></a>Hedwig war aufgestanden und wandte sich langsam +der Stadt zu. Nechlidow ging ihr nach und +faßte sie bei der Hand:</p> + +<p>»Liebe Hedwig« – sagte er bittend.</p> + +<p>Aber sie riß sich los. Aus ihren großen, braunen +Augen quollen Tränen.</p> + +<p>»Ich will kein Kind von Ihnen haben, Herr +Nechlidow«, sagte sie mit zuckenden Lippen. Dann +machte sie sich schnell von ihm los und lief der +Stadt zu.</p> + +<p>Nechlidow folgte ihr langsam.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_205" id="Page_205" title="205"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Als</span> die Kredite für die in Hinblick auf die +Spannung zwischen England und Deutschland +notwendigen Befestigungen bewilligt wurden, war +nicht viel mehr zu tun, als das Festungsgeschütz +zu montieren, das zusammen mit den beiden +Maschinengeschützen in der bombensicheren Kasematte +im Felsen unter Seebecks Haus Platz finden +sollte. Denn Hauptmann von Rochow hatte als +Fachmann diese Stelle als die geeignetste gewählt, +ganz abgesehen davon, daß sich nur hier die Arbeiten +in völliger Heimlichkeit hatten vornehmen +lassen. Ein mit Stahlplatten bedeckter Schacht +führte von Paul Seebecks Kohlenkeller mehrere +Meter tief hinab, und dort unten war ein Gewölbe +ausgehauen, in dem die Geschütze stehen sollten.</p> + +<p>Nur drei lange, schmale Schießscharten führten +hinaus, und die lagen gerade über den Dächern +der auf der nächsten Terrasse stehenden doppelten +Häuserreihe, so daß diese fast mit Sicherheit die +den Geschützen zugedachten Schüsse auffangen +würde.</p> + +<p>Die Seeminen hatten die Vorsteher in mehreren +Nächten allein versenkt, und ihr Lageplan war in +den Händen der Archivarin gut aufgehoben. Es +<a class="page" name="Page_206" id="Page_206" title="206"></a>war nicht so schwer, diese Arbeiten in voller Heimlichkeit +auszuführen, als vielmehr gleichzeitig auch +den Ausbau des »Vulkans« zu versehen, zum mindesten +scheinbar, damit die plötzliche Arbeitseinstellung +dort oben kein Mißtrauen erweckte.</p> + +<p>Aber es ging. Die vier Männer arbeiteten mit +eiserner Energie Tag und Nacht – nur vier waren +sie jetzt, denn Jakob Silberland weilte in Sidney, +wie es hieß, um größere Abschlüsse über den gewonnenen +Schwefel zu erreichen. Und auf den +riesigen Kisten, die die Geschützteile und die +Munition enthielten, stand harmlos das Wort: +»Maschinen«.</p> + +<p>Sechs Wochen nach seiner Abreise kam Herr +von Hahnemann wieder zur »Schildkröteninsel«. +Diesmal auf einem Torpedoboot. In Paradeuniform +stieg er ans Land und begab sich eine Stunde +später zu Paul Seebeck. Dieser empfing ihn mit +gelassener Höflichkeit und bat ihn, Platz zu nehmen. +Der Offizier dankte mit einer Verbeugung, blieb +aber stehen, während Paul Seebeck sich an seinen +Schreibtisch setzte.</p> + +<p>»Sie bringen mir meine Abberufung, Herr von +Hahnemann?« fragte er ruhig.</p> + +<p>»Herr Seebeck, bei der großen persönlichen +Achtung, die ich für Sie hege, erlaubte ich mir, in +meinem Berichte unsere letzte Unterredung wohl +<a class="page" name="Page_207" id="Page_207" title="207"></a>wahrheitsgetreu, doch – etwas harmloser zu schildern, +als sie sich zugetragen hat. Es steht Ihnen +noch heute frei, freiwillig das Reichskommissariat +niederzulegen; trotz allem.«</p> + +<p>»Ich tue es nicht«, antwortete Paul Seebeck und +sah ihm gerade ins Gesicht.</p> + +<p>»Ist das Ihr letztes Wort?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Dann habe ich hiermit die Ehre, Ihnen kraft +meiner Vollmachten Ihr Abberufungsschreiben zu +überreichen«, sagte der Offizier und legte ein versiegeltes +Kuvert auf den Schreibtisch. »Wollen Sie +die Liebenswürdigkeit haben, mir den Empfang zu +bestätigen.«</p> + +<p>»Mit Vergnügen«, antwortete Paul Seebeck, entnahm +einer Schublade einen Briefbogen und schrieb +einige Zeilen darauf. »Ist es so recht?« Und er +reichte dem Offizier das Blatt, das dieser aufmerksam +las und es dann in seine Brieftasche schob.</p> + +<p>»Gewiß, Herr Seebeck. Ich danke Ihnen. Damit +ist die Sache erledigt. Ich verstehe aber nicht, +weshalb Sie es so weit kommen ließen.«</p> + +<p>»Ich pflege einem Briefträger nicht die Unterschrift +für einen eingeschriebenen Brief zu verweigern +– wozu soll ich dem nichtsahnenden Manne +Schwierigkeiten machen. Er erfüllt ja nur seine +Pflicht. Jetzt ist also der Brief ordnungsgemäß +<a class="page" name="Page_208" id="Page_208" title="208"></a>mein Eigentum geworden, und ich kann damit +machen, was ich will.« Damit nahm er das versiegelte +Kuvert und zerriß es mit seinem Inhalt in +kleine Fetzen, die er in seinen Papierkorb warf. +Dann wandte er sich wieder dem Offiziere zu und +sah ihm ruhig ins Gesicht.</p> + +<p>Herr von Hahnemann trat einen Schritt zurück; +sein Gesicht war kreidebleich.</p> + +<p>»Wissen Sie, was das heißt?« rief er.</p> + +<p>»Ja«, sagte Paul Seebeck, »das heißt Aufruhr.«</p> + +<p>»Wollen Sie sich denn dem aussetzen, daß man +Sie mit Waffengewalt zwingt, den Willen der Reichsregierung +anzuerkennen?«</p> + +<p>»Was wollen Sie damit sagen, Herr von Hahnemann?« +fragte Paul Seebeck freundlich.</p> + +<p>Der Offizier hatte sich wieder etwas gefaßt. +Seine Stimme bekam etwas vom scharfen Kommandoklang, +als er sagte:</p> + +<p>»Ein Kriegsschiff wird kommen und Sie als +Gefangenen mitnehmen.«</p> + +<p>»Ach so einfach ist die Sache? Aber wenn ich +mich nun mit Gewalt der Gewalt widersetze?«</p> + +<p>»Dann werden Sie standrechtlich erschossen.«</p> + +<p>Paul Seebeck stand auf; er überlegte einen Augenblick. +Dann ging er an dem Offizier vorbei zur +Wand, hob ein Gemälde vom Nagel, wobei eine +Stahlplatte sichtbar wurde, die der Tür eines in +<a class="page" name="Page_209" id="Page_209" title="209"></a>die Mauer eingelassenen Geldschrankes ähnlich war. +Dann zog er einen Schlüsselbund aus der Tasche +und blickte auf:</p> + +<p>»Sie sind Marineoffizier, nicht wahr?«</p> + +<p>Herr von Hahnemann neigte bejahend den Kopf.</p> + +<p>»Dann sind sie auch natürlich imstande, Entfernungen +auf dem Wasser abzuschätzen. Darf +ich Sie bitten, hier ans Fenster zu treten? Danke. +Sehen Sie die letzte flache Klippe dort rechts? +Schön. Sehen Sie in gerader Richtung drei Kilometer +weiter. Bitte halten Sie den Punkt im Auge.«</p> + +<p>Seebeck war an den Schrank getreten und öffnete +das Geheimschloß. Bei dem Geräusch wandte sich +der Offizier unwillkürlich wieder nach ihm um +und sah, daß der Schrank ein Tastbrett wie das +einer Schreibmaschine enthielt.</p> + +<p>»Ich habe Sie ersucht, jenen Punkt im Auge +zu behalten«, sagte Paul Seebeck scharf. Der +Offizier kniff die Lippen zusammen und blickte +wieder hinaus. Paul Seebeck drückte rasch auf +einen der Knöpfe und schlug dann die Stahltür zu. +Im selben Augenblick erhob sich bei dem angegebenen +Punkte auf dem Meere eine gewaltige Wasserpyramide, +blieb einige Sekunden stehen und brach +dann in sich zusammen. Erst eine halbe Minute +später klang ein dumpfes Grollen herüber. Der +mit Schaum bedeckte Wasserspiegel war in wilde +<a class="page" name="Page_210" id="Page_210" title="210"></a>Bewegung geraten. Selbst im Hafen schaukelten +die Schiffe.</p> + +<p>Herr von Hahnemann sah Seebeck stumm an; +dann verbeugte er sich und verließ das Zimmer.</p> + +<p>Er ging so schnell er konnte die Straße hinunter, +an allen denen vorbei, die ihn wieder erkannten +und ansprechen wollten, und stand eine Viertelstunde +später in Herrn de la Rouvières Haus.</p> + +<p>Der Krüppel bestürmte ihn mit Fragen, aber +Herr von Hahnemann schüttelte nur unwillig den +Kopf. Er fragte:</p> + +<p>»Wissen Sie, daß die Insel befestigt ist?«</p> + +<p>Herr de la Rouvière fuhr erstaunt auf:</p> + +<p>»Daß sie befestigt ist? Das ist doch unmöglich. +Erst vorgestern wurde doch die Befestigung beschlossen.«</p> + +<p>Herr von Hahnemann lachte kurz auf:</p> + +<p>»Herr Seebeck scheint keine große Achtung vor +der Monatsversammlung zu haben. Jedenfalls ist +die Insel schon befestigt, und die Versammlung hat +etwas zu bauen beschlossen, was faktisch schon +da ist. Er wird es wohl schon oft so gemacht haben. +Ich will Ihnen etwas sagen«, fuhr er fort, wobei +er dicht an den Krüppel herantrat, »ich habe Herrn +Seebeck die Enthebung aus seinem Amte mitgeteilt, +die er aber ignoriert. Er muß also mit Gewalt +entfernt werden. Hier ist kein anderer Ausweg +<a class="page" name="Page_211" id="Page_211" title="211"></a>tunlich. Bei den Befestigungen ist es aber ohne +Blutvergießen nicht möglich, und das zu verhindern +ist meine Pflicht. – Sie haben sich ja Ihres großen +Einflusses und Ihrer Verbindungen hier gerühmt; +beweisen Sie mir jetzt, daß Sie wahr gesprochen +haben. Und dann – die Reichsregierung kann +Herrn Nechlidow als früherem, russischem Flüchtling +kein Amt übergeben, aber Ihnen, dem Träger +eines alten Adelsnamens, der Sie außerdem hier +praktisch in die Geschäfte eingearbeitet sind, könnte +ich das Reichskommissariat übertragen. Die Vollmacht +dazu habe ich. Die Reichsregierung will +unter keinen Umständen einen Kommissar von +Berlin hierher senden; sie hat mich beauftragt, +einer hiesigen geeigneten Persönlichkeit das Kommissariat +zu übergeben, um jeden Schein eines +gewaltsamen Eingriffes zu vermeiden. Also schaffen +Sie mir die Befestigungspläne und Sie sind Reichskommissar!«</p> + +<p>Die Augen des Krüppels glänzten:</p> + +<p>»Das wird nicht schwer sein, Herr von Hahnemann. +Wenn Sie so liebenswürdig sein wollen, eine +halbe Stunde hier zu warten, komme ich mit den +Plänen.«</p> + +<p>»Wissen Sie denn, wo sie sind?«</p> + +<p>»Jedenfalls doch im Archiv; und Frau von +Zeuthen ist meine gute Freundin.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_212" id="Page_212" title="212"></a>»Ah!« Über das Gesicht des Marineoffiziers +glitt ein gemeines Lächeln.</p> + +<p>»Sie verstehen, Herr von Hahnemann? Eine +Frau kann aus Edelmut sterben, aber sie kann sich +keinem Skandal aussetzen. Am wenigsten sie, die +Keusche, Reine, sie, die Unerreichbare, die ich +doch erreichen konnte – wie alles andere auch.«</p> + +<p>Der Offizier war wieder ganz ernst geworden:</p> + +<p>»Wie Sie das machen, ist Ihre Sache. Aber +nicht die Originale selbst, die könnten später vermißt +werden, sondern Sie müssen die Pläne kopieren, +verstehen Sie? Und Niemand darf etwas davon +erfahren, dafür müssen Sie sorgen. Sonst wird die +Sache einfach verändert, und wir sitzen da.«</p> + +<p>»Keine Sorge, Herr von Hahnemann, bleiben +Sie nur ruhig hier; ich bin bald wieder zurück.«</p> + +<p>Und die langen Arme schlenkernd und eifrig +vor sich hinmurmelnd, stolperte der Krüppel die +Hauptstraße hinauf. Bei Frau von Zeuthens Haus +angekommen, sagte er dem Dienstmädchen, er käme +in Geschäften und wurde natürlich sofort eingelassen.</p> + +<p>Mit Siegermiene trat er in Frau von Zeuthens +Arbeitszimmer, aber er sank gleichsam in sich zusammen, +als er in ihre strahlenden, braunen Augen +blickte. Er wollte sich ihr nähern, aber sie hob abweisend +die Hand. Da blieb er bescheiden an der +Türe stehn.</p> + +<p><a class="page" name="Page_213" id="Page_213" title="213"></a>»Geschäfte, Herr de la Rouvière?« fragte sie +ruhig.</p> + +<p>»Ja, gnädige Frau. Ich muß Sie um die Befestigungspläne +bitten, die Sie ja als Archivarin in +Verwahrung haben.«</p> + +<p>»Nein«, sagte Frau von Zeuthen, »die Pläne +habe ich allerdings. Sie gehn aber nur die Vorsteher +an. Und so weit haben Sie es doch noch nicht +gebracht.«</p> + +<p>Mit eingezogenem Kopfe sah er sie von unten an.</p> + +<p>»Gnädige Frau, ich bin – Reichskommissar an +Paul Seebecks Stelle.«</p> + +<p>Frau von Zeuthen lachte laut auf und sah ihm +belustigt ins Gesicht.</p> + +<p>Der Krüppel biß die Zähne zusammen.</p> + +<p>»Gnädige Frau«, sagte er drohend.</p> + +<p>»Wenn Ihre Geschäfte so sonderbarer Natur +sind, brauchen wir sie nicht länger zu diskutieren. +Gehen Sie, Herr Reichskommissar.« Damit drehte +sie ihm den Rücken zu und setzte sich an ihren +Schreibtisch.</p> + +<p>Mit leisen, schleichenden Schritten näherte er +sich ihr. Sie stand auf und wandte sich ihm zu. +Mit beiden Händen hielt sie sich rückwärts am +Schreibtische fest.</p> + +<p>»Weshalb gehen Sie nicht«, sagte sie herrisch, +aber ihre Stimme zitterte dabei.</p> + +<p><a class="page" name="Page_214" id="Page_214" title="214"></a>»Ich muß die Pläne haben«, sagte er, dicht bei +ihr, und hob dabei die langen Arme mit den schwarzbehaarten +Händen.</p> + +<p>»Aber ich gebe sie Ihnen nicht und damit gut. +Gehen Sie! Jetzt bestätigt sich also meine Vermutung, +daß Sie zu den Verrätern gehören. Gehen +Sie, mit Ihnen bin ich fertig.«</p> + +<p>»Gnädige Frau«, die Stimme des Krüppels war +ganz sanft, »Sie scheinen sehr leicht zu vergessen!« +Er schritt auf die Tür zu, faßte die Klinke und +drehte sich wieder nach Frau von Zeuthen um. +»Soll ich wirklich allen Leuten erzählen, was in +einer gewissen Nacht zwischen uns vorgefallen ist?« +Er richtete sich auf und sagte kameradschaftlich: +»Geben Sie mir doch lieber die Pläne.«</p> + +<p>Frau von Zeuthen ging zu ihrem großen Schranke, +öffnete diesen aber nicht, sondern holte aus dem +Winkel zwischen ihm und der Wand Felix’ Reitpeitsche +hervor. Sie wog sie prüfend in der Hand, +trat dann schnell auf Herrn de la Rouvière zu und +schlug sie ihm zweimal mit aller Kraft durchs +Gesicht. Dann warf sie die Peitsche fort und blieb +hoch aufgerichtet vor ihm stehn. Er sah sie eine Weile +ganz verständnislos an, griff dann mit beiden Händen +an sein schmerzendes Gesicht und taumelte hinaus.</p> + +<p>Vor der Haustüre blieb er stehn und nickte +bedächtig mit dem Kopfe. Dann ging er langsam, +<a class="page" name="Page_215" id="Page_215" title="215"></a>sehr langsam, die Hauptstraße hinauf, am Volkshause +vorbei und weiter am Flusse entlang zum +Staubecken. Er ging dorthin, wo der Fluß in das +Becken eintrat, sah lange auf das Wasser und stieg +dann langsam und fröstelnd hinein. Er glitt aus, +schrie auf, sah auf der Straße das Lastautomobil +halten, sah ihm Leute entsteigen, die ihm zuwinkten, +zuriefen; er wollte ans Ufer zurück, aber schon +hatte ihn die Oberströmung erfaßt. Langsam +führte sie ihn fort; er hörte das Brausen des Wasserfalles +näher und näher, die Strömung wurde stärker, +immer stärker, das Brausen kam näher, näher, +jetzt –</p> + +<p>Sechshundert Meter war die Felswand hoch, von +der das Wasser senkrecht in das Meer stürzte.</p> + +<p>Und am selben Abende verließ Herr von Hahnemann +auf seinem Torpedoboot unverrichteter Sache +die Schildkröteninsel.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_216" id="Page_216" title="216"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Eine</span> außerordentliche Versammlung der Gemeinschaft +– das war noch nie dagewesen. +Und doch war niemand erstaunt, als die Vorsteherschaft +durch Maueranschlag zu dieser einlud; es +lag so viel ungelöste Spannung in der Luft, soviele +Vermutungen waren nur halb ausgesprochen, von +Mund zu Mund gegangen, daß alle es als eine Erleichterung +empfanden, eine klare Darstellung aller +jener unverständlichen Vorgänge zu erhalten. Und +das galt nicht nur von der Bürgerschaft – gerade +die Vorsteher fühlten stärker als je die Kluft, die +sie von den Anderen trennte, und wollten auch +Kenntnis von allen dunklen Strömungen erhalten, +von denen sie nur den letzten Wellenschlag gefühlt +hatten.</p> + +<p>Erst als die Gemeinschaft vollzählig versammelt +war, betraten die Vorsteher den großen Saal des +Volkshauses. Otto Meyer übernahm als Stellvertreter +des abwesenden Jakob Silberland den Vorsitz. +Sogleich, nachdem auf ein Glockenzeichen Ruhe +eingetreten war, mehr als Ruhe: Totenstille, erhob +sich Paul Seebeck. Sein Gesicht war bleich, erschreckend +bleich, und seine Augen lagen schwarz +umrändert tief in den Höhlen.</p> + +<p><a class="page" name="Page_217" id="Page_217" title="217"></a>»Liebe Freunde«, sagte er, »jetzt ist die ernsteste +Stunde gekommen, die wir bis jetzt hier erlebt +haben. Jetzt handelt es sich um ein klares Ja oder +Nein. Jetzt muß entschieden werden, ob der Staat, +den wir alle in treuer Zusammenarbeit errichtet +haben, zerstört werden darf oder nicht. Wir können +das Unglück noch abwenden. Noch können wir +unser Werk uns und unseren Kindern erhalten. +Aber ein mutiger Schritt ist dazu notwendig.</p> + +<p>Wir haben Verräter im eigenen Lager gehabt, +gemeine Schurken, die, um sich selbst vorwärts +zu bringen, die Zukunft der Gemeinschaft opferten, +und wieder andere, die aus einem falschen, kurzsichtigen +Idealismus heraus, in bester Absicht, den +Feind ins Land riefen. Vielleicht sehen sie jetzt +ein, wie unverantwortlich leichtsinnig sie gehandelt +haben und benutzen jetzt die Gelegenheit, ihr Unrecht +wieder gutzumachen. Aber auch sie waren +nur Werkzeuge, boten nur den erwünschten Vorwand +zur Vernichtung unseres Werkes etwas früher, +als es sonst geschehen wäre. Was geschah, mußte +geschehen, früher oder später, und deshalb hat es +keinen Zweck, Betrachtungen über Verschuldungen +anzustellen oder Vorwürfe zu erheben. Jetzt muß +gehandelt werden. Die Sache liegt so: das Deutsche +Reich will uns nicht mehr unsere Freiheit lassen, +man sieht dort, daß wir hier die Durchführbarkeit +<a class="page" name="Page_218" id="Page_218" title="218"></a>freier Ideen beweisen und fürchtet die Einwirkung +dieser Ideen auf die eigenen, innerpolitischen Verhältnisse. +Jemand, der die gegenwärtig in Deutschland +herrschende ultrareaktionäre Strömung kennt, +versteht diese Furcht der zur Zeit regierenden +Clique nur zu gut. Das wäre aber doch für uns nur +ein Grund mehr, sollte ich meinen, unser Werk bis +zum letzten Punkte durchzuführen, statt uns einfach +vor Beschränktheit oder Bosheit zu ducken. +Jetzt kommt aber eine große, große Frage, die ich +Sie in aller Ruhe zu überlegen bitte: wenn wir uns +hierher einen schnoddrigen Berliner Assessor setzen +lassen, ist zwar unsere Arbeit vernichtet, und wir +haben hier Zustände wie im schwärzesten Preußen, +aber Sie haben Ruhe. Wenn wir uns aber das nicht +gefallen lassen, sind wir Aufrührer und damit rechtlos, +nach den heute üblichen Anschauungen nicht +viel mehr wie wilde Tiere. Und da wird nicht gefragt +weshalb wir uns nicht beugen, die Tatsache, daß +wir es nicht tun, genügt. Kein Mensch in dem dumpfen +Berliner Ministerium wird verstehen, daß man +Menschheitsideale über hündischen Gehorsam stellt. +Solche Gedanken sind uns reserviert.</p> + +<p>Ich bin aber nicht so verblendet, Sie zu einem +nutzlosen Widerstande zu verleiten, der nur den +sicheren Untergang von uns allen bedeuten würde. +Es gibt einen Ausweg, und das ist dieser: wir erklären +<a class="page" name="Page_219" id="Page_219" title="219"></a>uns autonom und lassen uns dann von +England annektieren. Als englische Kolonie können +wir sicher sein, völlig ungestört weiter arbeiten zu +können. Dazu haben wir noch einige Wochen Zeit; +Herr Doktor Silberland ist gegenwärtig in Sidney, +und ich werde nachher die Versammlung um die Ermächtigung +bitten, Herrn Doktor Silberland zur +Vornahme der notwendigen Schritte zu beauftragen.</p> + +<p>Was ich bis jetzt getan habe, geht nur mich selbst +an und kann für keinen anderen Bürger der Gemeinschaft +nachteilige Folgen haben, solange sich +die Gemeinschaft nicht solidarisch mit mir erklärt. +Sie brauchen also nicht zu fürchten, daß ich Sie +in irgend eine schwere Situation hineingebracht +habe. Sie können ganz frei beschließen.</p> + +<p>Wenn Ihnen unsere Sache aber lieb ist«, und +Paul Seebecks müde Augen bekamen Glanz und +Feuer, »wenn Sie als Männer für Ihr Werk eintreten +wollen, dann können wir es retten. Bevor +ein Kriegsschiff hier ist, können wir unsere Befestigungen +vollenden und können uns halten, bis +wir unter englischem Schutze stehen.</p> + +<p>Ich mag darüber nichts mehr sagen, ich will Sie +zu keinem folgenschweren Entschlusse überreden, +den Sie später bereuen. Überlegen Sie es sich in +Ruhe.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_220" id="Page_220" title="220"></a>Das eiskalte Schweigen, mit dem Paul Seebecks +Rede angehört worden war, dauerte noch fort, als +er wieder auf seinem Platze saß. Dann erklang +hinter ihm eine Stimme:</p> + +<p>»Nechlidow soll antworten; wo steckt er?«</p> + +<p>Eine andere Stimme antwortete:</p> + +<p>»Der kommt nie mehr zu den Versammlungen.«</p> + +<p>Und schwer und hart sagte eine dritte Stimme:</p> + +<p>»Nechlidow ist ein Lump, mag er sich ersäufen +wie der andere. Ich halte zu Herrn Seebeck.«</p> + +<p>Jetzt wich die Starre von der Versammlung; +man redete, schrie durcheinander, die Gesichter +wurden rot, Arme wurden bewegt, der Lärm stieg +und stieg –</p> + +<p>Paul Seebeck trat wieder auf das Podium, aber +er konnte nicht sprechen. Die Leute verließen ihre +Plätze, umdrängten ihn, drückten seine Hände, +jeder, jeder einzelne wollte ihm Treue geloben.</p> + +<p>Paul Seebeck wollte reden, wollte ihnen danken, +aber er stammelte nur einige Worte und sank dann +bewußtlos um. Er hörte nur noch Edgar Allans +schneidend scharfe Stimme:</p> + +<p>»Aber jetzt bitte nicht nur Worte, Leute, auch +Taten.«</p> + +<p>Paul Seebeck wurde in ein anstoßendes Zimmer +getragen und Frau von Zeuthen und Otto Meyer +übernahmen seine Pflege.</p> + +<p><a class="page" name="Page_221" id="Page_221" title="221"></a>Inzwischen wurden die Verhandlungen unter +Herrn von Rochows Vorsitz fortgesetzt. Paul Seebecks +Vorschläge wurden einstimmig genehmigt, +obwohl sich manche recht zögernd von den Sitzen +erhoben. Unter dem brausenden Beifall der Versammlung +verkündete Herr von Rochow darauf +die Autonomie der Gemeinschaft auf der Schildkröteninsel.</p> + + + + +<p><a class="page" name="Page_222" id="Page_222" title="222"></a></p> +<p class="newsection"><span class="bigcaps">Noch</span> immer keine Entscheidung von Sidney. +Bei der immer stärkeren Spannung zwischen +England und Deutschland wäre der Ausbruch eines +Krieges in der allernächsten Zeit höchst wahrscheinlich, +schrieb Jakob Silberland. Dann wäre +die Annektion selbstverständlich. Bis dahin müßte +man sich halten.</p> + +<p>Und mit allen Kräften wurde gearbeitet. Fünfzig +unverheiratete Männer wurden vom Hauptmann +von Rochow im Gewehrschießen eingedrillt. Die +Vorsteher und außer ihnen Felix und Melchior +übten sich an den Geschützen, und manche Klippe +da draußen im Meere war von den schweren Granaten +des Festungsgeschützes bei Schießübungen getroffen, +in die Luft geflogen.</p> + +<p>Der »Vulkan« wurde inzwischen zur Aufnahme +aller Nichtkämpfer eingerichtet. Welchem Zwecke +die Gebäude dort auch ursprünglich bestimmt +waren, jetzt wurde alles zu Wohnstätten eingerichtet, +sogar die Umkleidezellen des Schwefelbades. Ein +Fieber hatte alle ergriffen, ein Freiheitsrausch, und +als sich nach fünf Wochen am Horizonte die Rauchsäule +des Kreuzers zeigte, wurde er von den kampffrohen +Männern mit Jubel begrüßt. Man war bereit, +<a class="page" name="Page_223" id="Page_223" title="223"></a>ihn zu empfangen. Vor Seebecks Haus standen in +Reih und Glied die Infanteristen mit ihren Mausergewehren, +die Stahlläden vor den Geschützscharten +in Seebecks Keller waren aufgeklappt und die Geschütze +nach vorn gerollt. Vier Meter ragte der +hellgraue Lauf des Festungsgeschützes heraus. Es +wurde von Edgar Allan und Felix bedient, während +Otto Meyer und Melchior an den beiden Maschinengewehren +standen.</p> + +<p>Oben in Paul Seebecks Arbeitszimmer standen +er und Frau von Zeuthen. Vor ihnen auf dem Schreibtische +lag der Lageplan der Seeminen; die Stahltür +an der Wand stand offen und zeigte die sechzig +weißen Tasten.</p> + +<p>»Wie weit ist das Schiff jetzt?« fragte Frau von +Zeuthen.</p> + +<p>Paul Seebeck sah prüfend durch sein Fernglas:</p> + +<p>»Zehn Kilometer, schätze ich es jetzt.«</p> + +<p>Einige Minuten später hielt der Kreuzer an. Ein +weißes Wölkchen erhob sich und eine halbe Minute +später rollten drei dumpfe Schüsse über die Stadt.</p> + +<p>»Die waren blind!« rief Hauptmann von Rochow +herauf.</p> + +<p>»Noch zwei Kilometer, und das Schiff kommt in +den Bereich unserer Minen.«</p> + +<p>Aber der Kreuzer drehte sich auf der Stelle und +wandte der Stadt seine Breitseite zu.</p> + +<p><a class="page" name="Page_224" id="Page_224" title="224"></a>»Ja, da draußen konnten wir leider keine Minen +legen, es ist zu tief«, sagte Paul Seebeck. »Aber +hierher kommen können sie doch nicht. Und +Silberland wird ja bald kommen; er weiß ja, daß +in diesen Tagen der Kreuzer kommen mußte. Solange +müssen wir uns eben halten. Das können +wir auch.«</p> + +<p>»Und wenn es nichts wird?«</p> + +<p>Es zuckte um Paul Seebecks Mundwinkel, als +er sagte:</p> + +<p>»Sie wissen, daß ich für mein Werk sterben +kann.«</p> + +<p>Das Haustelephon, das den Keller mit Paul Seebecks +Arbeitszimmer verband, klingelte. Seebeck +nahm das Hörrohr:</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Hier Allan. Was meinen Sie, sollen wir nicht +den Salut beantworten? Es ist doch unhöflich, +einen Gruß nicht zu erwidern.«</p> + +<p>»Schön, aber blind. Wir wollen nicht anfangen.«</p> + +<p>Das Haus bebte in seinen Fugen, als der Schuß +krachte.</p> + +<p>Einige Minuten später kam die Antwort: im +Hafen stieg eine Wassersäule auf, der ein doppelter +Knall folgte.</p> + +<p>»Was jetzt?« – telephonierte Allan herauf.</p> + +<p><a class="page" name="Page_225" id="Page_225" title="225"></a>»Abwarten, ob sie wirklich ernst machen. +Je mehr Zeit wir gewinnen, desto besser«, gab +Paul Seebeck zurück.</p> + +<p>Aber Minute auf Minute verrann, eine Stunde, +eine zweite, und nichts geschah.</p> + +<p>»Die Herren erwarten wohl, daß wir die bewußte +weiße Fahne aufziehen«, sagte Paul Seebeck zu +Frau von Zeuthen.</p> + +<p>Da hüllte sich plötzlich der Kreuzer in eine einzige +Rauchwolke. Im Hafen erhob sich eine ungeheure +Wasser- und Staubwolke, der ein donnerndes, +krachendes Getöse folgte. Wie sich die Wolke verzogen +hatte, sah man, daß alle Hafenanlagen mit +der Landungsbrücke und den Lagerhäusern in +Trümmern lagen. Die am Quai liegenden Fischerboote +waren fast sämtliche verschwunden. Aber +das wild wogende Meer war mit Trümmern und +Balken bedeckt.</p> + +<p>Und Schuß auf Schuß folgte, aber alle galten +nur dem Hafen.</p> + +<p>»Sie wollen uns so lange schonen, wie es geht, und +das gefällt mir sehr, damit gewinnen wir Zeit«, +sagte Paul Seebeck zu Frau von Zeuthen. Dann +telephonierte er zu Allan:</p> + +<p>»Wir dürfen erst schießen, wenn sie die Stadt +selbst beschießen. Nicht vorher.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_226" id="Page_226" title="226"></a>Von unten her klangen Rufe, die man bei dem +Getöse nicht verstehen konnte. Frau von Zeuthen +trat ans Fenster und sah hinunter.</p> + +<p>Auf ihrem völlig erschöpften Pferdchen ritt Hedwig +die Hauptstraße hinunter, drängte sich durch +die Infanteristen und stürmte die Treppe hinauf:</p> + +<p>»Der Dampfer von Sidney liegt da hinten, dicht +an der Insel; man kann ihn vom Vulkane aus sehen. +Herr Silberland ist in einem Ruderboote vom +Dampfer abgestoßen, ich konnte ihn ganz deutlich +erkennen. Der Dampfer fuhr dann wieder weg.«</p> + +<p>Paul Seebeck war aufgesprungen:</p> + +<p>»Wo liegt der Dampfer? Wo?«</p> + +<p>Hedwig beschrieb ihm die Stelle.</p> + +<p>»Hierher rudern! War er allein?«</p> + +<p>»Ja.«</p> + +<p>»Um Gotteswillen, das sind ja über dreißig Kilometer. +Wenn er das aushält. Wann war das?«</p> + +<p>»Ich mußte zuerst herunterlaufen und mein +Pferd holen. Ich bin so schnell geritten, wie ich +konnte. Aber drei Stunden ist es mindestens her.«</p> + +<p>»Dann kann er in zwei Stunden hier sein.«</p> + +<p>Frau von Zeuthen strich ihrer Tochter über das +erhitzte Gesicht:</p> + +<p>»Leg dich etwas auf Pauls Bett, mein Kind, und +ruh dich aus. Aber dann mußt du wieder zurückreiten, +hörst du?«</p> + +<p><a class="page" name="Page_227" id="Page_227" title="227"></a>»Darf ich nicht hier bleiben, Mutter?«</p> + +<p>»Nein, das geht nicht, Kind.«</p> + +<p>»Aber Fräulein Erhardt kommt auch, sie geht +sogar zu Fuß, ich habe sie überholt.«</p> + +<p>»Wenn du ihr auf dem Rückwege wieder begegnest, +sag ihr, daß sie umkehren soll«, sagte +Paul Seebeck. »Aber geh jetzt Kind und ruh dich +etwas aus. Oder willst du etwas zu essen +haben?«</p> + +<p>Hedwig schüttelte schmollend den Kopf und ging +in Paul Seebecks Schlafzimmer.</p> + +<p>»Also nur noch zwei Stunden, dann wissen wir +Bescheid«, sagte Paul Seebeck aufatmend. »Wenn +Silberland es nur aushält.«</p> + +<p>Hedwig war in Paul Seebecks Schlafzimmer gegangen, +aber sie legte sich nur für einige Minuten +auf sein Bett. Leise öffnete sie dann die Tür zum +Badezimmer, schlüpfte durch dieses in die Küche +und ging die Hintertreppe hinunter. Mit einigen +Sprüngen hatte sie unbemerkt die nächsten Häuser +erreicht und ging jetzt durch die kleinen Gäßchen, +die die einzelnen Terrassen mit einander verbanden, +zum Meere hinunter. In kurzen Zwischenräumen +schlugen noch immer die Granaten in den Hafen.</p> + +<p>Hedwig ging zu Nechlidows Häuschen, das gerade +am Anfang der Fischerstraße lag. Mit klopfendem +Herzen öffnete sie die Türe und trat ein.</p> + +<p><a class="page" name="Page_228" id="Page_228" title="228"></a>Es war still im ganzen Hause. Hedwig trat ins +Wohnzimmer ein. Hier war es fast dunkel, denn die +Fenstervorhänge waren dicht zugezogen.</p> + +<p>Nechlidow erhob sich von seinem flachen Sofa +zu einer halbsitzenden Stellung.</p> + +<p>»Sie kommen zu mir, dem Verfehmten? Wird +man Sie nicht steinigen, wenn man das erfährt?«</p> + +<p>Ein scharfer Knall in der Nähe, dem ein anhaltendes +Prasseln und Krachen von niederstürzenden +Mauerteilen folgte, ließ ihn aufstehen. Er +trat zum Fenster und zog die Vorhänge zurück. +Das gegenüberliegende Haus hatte sich in einen +rauchenden Trümmerhaufen verwandelt.</p> + +<p>Nechlidow lachte bitter auf:</p> + +<p>»Meine Schuld, nicht wahr?«</p> + +<p>»Herr Nechlidow«, sagte Hedwig bittend und +trat an ihn heran. »Glauben Sie nicht doch, daß +Paul recht gehandelt hat?«</p> + +<p>»Bei Gott, er hatte nicht recht, und wenn ich +tausendmal daran Schuld trage, daß jetzt alles zusammenbricht. +Ich habe das nicht gewollt. Ich +habe nicht vorausgesehen, daß es so kommen würde. +Aber es ist besser, daß diese riesige Lüge zusammengeschossen +wird, als daß sie weiter lebt. Wer +weiß, vielleicht kommen die englischen Schiffe +<a class="page" name="Page_229" id="Page_229" title="229"></a>noch rechtzeitig, und dann baue ich die Stadt wieder +auf. Und wenn sie nicht kommen, um so besser, +dann ist eine Halbheit weniger auf der Welt.«</p> + +<p>»Sind Sie wirklich schuld daran?« fragte Hedwig +schüchtern.</p> + +<p>Nechlidow legte ihr beide Hände auf die Schultern +und sah ihr in die braunen Augen:</p> + +<p>»Weshalb kommen Sie mit dieser Frage zu mir?«</p> + +<p>»Weil ich wissen will, was Sie sind.«</p> + +<p>»Nein, Hedwig, es ist nicht meine Schuld. Die +Leute sind daran schuld, sie sind ja alle behext, +haben ihr bischen Vernunft ganz verloren. Wenn +Seebeck aus lauter Sentimentalität die Dummheit +begeht, seine Entlassung zu verweigern, weshalb +ihm dann zustimmen, weshalb es zur Revolution +kommen lassen! Wir hätten alles so glatt machen +können, Seebeck hätte gehen müssen, Rouvière wäre +Reichskommissar geworden. Aber da kam wieder +der sinnlose Selbstmord von Rouvière dazwischen, +und damit war alles verloren. Denn Rouvière hatte +die Leute in der Tasche. Ja, und jetzt gehen mir +dieselben Menschen, die unsere Klageschrift unterschrieben +haben, wie einem Pestkranken aus dem +Wege und lassen sich Seebecks schöner Augen +wegen von ihm in den Tod führen. Eine Kette +von unbegreiflichen Sentimentalitäten war wie +immer der Grund alles Unglücks. Mein Fehler war +<a class="page" name="Page_230" id="Page_230" title="230"></a>nur, daß ich auf die Vernunft der Menschen vertraute. +Das ist die Wahrheit, Hedwig.«</p> + +<p>»Aber was soll jetzt kommen? Was werden Sie +tun?«</p> + +<p>»Ich? Ich warte, bis meine Zeit gekommen ist. +Die da drüben mögen sich gegenseitig zerfleischen, +wenn sie noch nicht reif für die Vernunft sind. Ich +glaube an sie und an ihren endlichen Sieg. Ich +glaube an die Menschheit.«</p> + +<p>Hedwig sah vor sich hin. Dann schüttelte sie +ihren Lockenkopf:</p> + +<p>»Wollen wir nicht noch einmal zu unserer Landspitze +hinausgehen? Wer weiß, wann wir wieder +zusammen sein können.«</p> + +<p>Und sie gingen Hand in Hand die Treppe +hinunter und traten auf die Straße. Da schoß +dicht vor ihnen auf der Straße ein blendend weißes +Licht auf. Nechlidow taumelte zurück. Hedwig +stieß einen leichten Schrei aus und fiel flach auf +das Gesicht.</p> + +<p>Nechlidow sprang auf sie zu, hob sie auf, drückte +sie an seine Brust – sie schlug die Augen auf, +lächelte noch einmal, wollte die Hand heben, aber ließ +sie schlaff wieder fallen. Ihr Haupt sank zurück –</p> + + +<p class="tb">Ein Ruderboot wandte sich um die Landspitze, die +die bewohnte Bucht von der Irenenbucht schied.</p> + +<p><a class="page" name="Page_231" id="Page_231" title="231"></a>»Das ist Silberland«, rief Paul Seebeck Frau von +Zeuthen zu.</p> + +<p>Er lief die Treppe hinunter, auf die Straße, schrie +Hauptmann von Rochow zu:</p> + +<p>»Bleiben Sie hier. Handeln Sie nach Ihrem +Gutdünken!« und stürzte dem Hafen zu. Mehrere +Granaten schlugen in seiner Nähe ein und bedeckten +ihn mit Staub. Unten angekommen, sah er um sich. +Alles lag schon in Trümmern. In der Fischerstraße +standen nur noch einige Häuser. Und horch! +das Prasseln auf den Steinen, das Klirren an Fensterscheiben, +die kleinen Springbrunnen auf dem Meere. +Also hatten sie schon die Maschinengewehre in +Tätigkeit gesetzt.</p> + +<p>Da kam das Ruderboot. Jakob Silberland stand +auf und rief etwas, was Seebeck des Lärmes wegen +nicht verstehen konnte. Jakob Silberland setzte +sich wieder an die Ruder. Jetzt war er nur noch +zwanzig Schritte vom Strande entfernt. Wieder +stand er auf. Sein Gesicht war verzerrt, Blut floß +von seinen Händen herunter. Er schrie:</p> + +<p>»Entente cordiale zwischen England und Deutschland; +damit ist der Weltfriede endgiltig gesichert.«</p> + +<p>Klack, klack, klack klang es im Boote und im +Wasser – Jakob Silberland fuhr sich mit der Hand +ins lange schwarze Haar und brach dann auf der +<a class="page" name="Page_232" id="Page_232" title="232"></a>Bootsbank zusammen. Langsam füllte sich das +durchlöcherte Boot mit Wasser und sank.</p> + +<p>Paul Seebeck blieb mit verschränkten Armen +stehn und sah das Boot versinken.</p> + +<p>Da legte sich eine Hand auf seine Schulter und +er sah in Nechlidows bleiches Gesicht. An den +Kleidern hatte er große Blutflecke. Er fragte:</p> + +<p>»Darf ich zusammen mit Ihnen sterben, Herr +Seebeck?«</p> + +<p>Seebeck reichte ihm die Hand:</p> + +<p>»Lassen Sie uns zusammen sterben, Sie für Ihre +Idee, ich für mein Werk.«</p> + +<p>Nechlidow schüttelte den Kopf:</p> + +<p>»Ich sehe nichts mehr, weiß von keiner Vernunft +mehr. Ich sehe nur noch einen Strom, +dessen Wellen uns in die Höhe hoben, als wir +ihn zu leiten glaubten, und der uns jetzt mitleidlos +wieder in seine Strudel zieht. Aber ich +sehe nicht, wohin er geht. Ich sehe nur noch +Sie und will mit Ihnen zusammen sterben.«</p> + +<p>»Kommen Sie«, sagte Seebeck. »Wir wollen +den anderen sagen, daß wir alle sterben müssen.«</p> + +<p>Aber auch oben hatte man Jakob Silberlands +Untergang gesehen.</p> + +<p>»Jetzt ist es genug!« rief Edgar Allan Hauptmann +von Rochow zu. Dieser nickte. Und einige +Minuten später donnerte das schwere Festungsgeschütz, +<a class="page" name="Page_233" id="Page_233" title="233"></a>begleitet vom Knattern der beiden +Maschinengewehre.</p> + +<p>Dies war aber nur ein Signal für den Kreuzer, +seinerseits das Feuer zu verstärken. Und jetzt +galten seine Schüsse nicht mehr dem Hafen. +Überall schlugen die Granaten in die obere Stadt. +An vielen Stellen brannten die Häuser.</p> + +<p>Da kamen Paul Seebeck und Nechlidow zusammen +die Straße herauf. Die Leute umdrängten sie, +fragten, aber die beiden gingen hinauf in das Seebecksche +Arbeitszimmer. Dort trat Paul Seebeck ans +Fenster, wartete, bis das Feuer für einen Augenblick +verstummte und rief dann mit scharfer klarer Stimme:</p> + +<p>»Wir bekommen keine Hilfe von England. Wer +ist bereit, mit uns für unser Werk zu sterben?«</p> + +<p>Die Gesichter dort unten wurden groß. Wutschreie +ertönten. Drohende Fäuste wurden emporgereckt. +Aus dem Gebrülle waren nur einzelne +Worte verständlich:</p> + +<p>»Wir wollen uns nicht hinschlachten lassen!«</p> + +<p>»Wir sind verraten.«</p> + +<p>»Wir wollen die da oben ausliefern und uns +ergeben ...«</p> + +<p>»Drehen Sie die Geschichte herum«, sagte +Edgar Allan zu Felix, und der gehorchte. Die noch +rauchende Mündung des Festungsgeschützes war +auf die Infanteristen gerichtet.</p> + +<p><a class="page" name="Page_234" id="Page_234" title="234"></a>Da liefen sie, warfen die Gewehre fort, liefen, +was sie konnten, nur fort, dem sicheren Hochlande, +dem Leben, der Zukunft zu. Nur einer drehte +sich um und feuerte einen Schuß ab, bevor er den +anderen gleich sein Gewehr fortwarf.</p> + +<p>Edgar Allan brach, ins Herz getroffen, lautlos +zusammen.</p> + +<p>An seine Stelle trat Nechlidow. Niemand fragte +ihn, weshalb er gekommen sei, niemand machte +ihm Vorwürfe. Man drückte ihm die Hand, und +schweigend trat er an das Geschütz.</p> + +<p>Hauptmann von Rochow warf noch einen Blick +auf seine fliehenden Soldaten, dann ging er zu +Seebeck hinauf.</p> + +<p>Seebeck konnte ihm nur flüchtig zunicken, denn +jetzt geschah draußen etwas Sonderbares: der +Kreuzer stellte sein Feuern ein, und die Dampfbarkasse +wurde ins Wasser gesenkt. Von der +anderen Seite kam ein bemanntes Boot, das die +Barkasse in Schlepptau nahm.</p> + +<p>»Hört mit dem Schießen auf«, telephonierte +Seebeck hinunter. »Vielleicht kommen die in +friedlicher Absicht.« Aber so scharf er auch hinsah, +er konnte keine weiße Fahne bemerken.</p> + +<p>»Sind denn die Leute wahnsinnig? Sie wissen +doch, daß Seeminen da draußen liegen!« rief Seebeck.</p> + +<p><a class="page" name="Page_235" id="Page_235" title="235"></a>Die Dampfbarkasse nahm aber nicht den Weg +nach dem Hafen zu, sondern fuhr auf die Landspitze +bei der Irenenbucht zu.</p> + +<p>»Die glauben, daß da keine Minen liegen und +wollen da landen. Herr von Rochow, ich bitte +Sie!« Hauptmann von Rochow stürzte zum Tastbrett, +und Paul Seebeck beugte sich über den Plan. +Die Barkasse kam näher, war jetzt bei der flachen +Klippe –</p> + +<p>Fragend sah Herr von Rochow Seebeck an, der +mit verschränkten Armen und zusammengepreßten +Lippen ans Fenster getreten war.</p> + +<p>»Siebenunddreißig, achtunddreißig, zweiundvierzig«, +sagte er kurz und scharf.</p> + +<p>Wie um einen Akkord zu spielen, drückte Hauptmann +von Rochow die drei Tasten nieder, und +draußen schoß ein ungeheurer Wasserberg in die +Luft und stürzte dann mit donnerndem Gebrüll +zusammen. Boote und Klippe waren verschwunden.</p> + +<p>Herr von Rochow griff sich mit beiden Händen +taumelnd an den Kopf:</p> + +<p>»Deutsche, deutsche Soldaten«, murmelte er +wie irrsinnig. Dann richtete er sich kerzengerade +auf, zog einen Revolver aus der Tasche und schoß +sich in die Schläfe.</p> + +<p>Seebeck wandte sich beim Knalle um; spöttisch +lächelnd sah er auf die Leiche.</p> + +<p><a class="page" name="Page_236" id="Page_236" title="236"></a>Frau von Zeuthen war entsetzt aufgesprungen. +Dann setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl. Seebeck +trat auf sie zu:</p> + +<p>»Gehen Sie jetzt, Gabriele. Denn dem, was jetzt +kommen wird, sind die Nerven keiner Frau gewachsen. +Gehen Sie, Sie müssen sich Ihren Kindern +erhalten.«</p> + +<p>Sie stand auf und schüttelte energisch den Kopf:</p> + +<p>»Ich bleibe bei Ihnen, meinetwegen –«</p> + +<p>»Nichts geschieht Ihretwegen«, unterbrach sie +Seebeck schroff. Dann setzte er aber sanft hinzu: +»Denken Sie an Ihre Kinder, Gabriele. Sie haben +noch eine Aufgabe auf dieser Welt, wir nicht mehr. +Und nehmen Sie Felix mit; wozu soll er sich hier +verbluten. Sie können ihm nach zehn Jahren +erzählen, was sich hier alles vor seinen Augen abgespielt +hat. Dann wird er es verstehen und davon +lernen. Und grüßen Sie Ihre kleine Hedwig von mir.«</p> + +<p>Da sank Frau von Zeuthen vor ihm nieder und +küßte seine Hände. Er hob sie auf und zog sie an +seine Brust. Draußen krachten wieder die Granaten, +und unten donnerte das Festungsgeschütz, begleitet +vom Knattern der beiden Maschinengewehre.</p> + +<p>Frau von Zeuthen riß sich los:</p> + +<p>»Felix muß bei Ihnen bleiben, Seebeck! Das +Opfer muß ich Ihnen bringen. Er ist ein Mann. +Er soll Ihr Geschick teilen. Ich gehe zu Hedwig.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_237" id="Page_237" title="237"></a>Paul Seebeck trat ans Telephon.</p> + +<p>»Felix soll herauf kommen.«</p> + +<p>Das schwere Geschütz verstummte und Felix +kam herauf.</p> + +<p>»Was gibt’s?«</p> + +<p>»Du mußt deine Mutter zum Vulkane zurückbegleiten.«</p> + +<p>»Aber Paul!«</p> + +<p>»Du mußt! Hol dein Pferd für deine Mutter.«</p> + +<p>»Paul, ich will bei dir bleiben.«</p> + +<p>»Felix, es hat keinen Sinn mehr. Denk was für +ein Leben du noch haben kannst und denk an +deine Mutter.« Er legte den Arm um Felix Schulter +und führte ihn Frau von Zeuthen zu:</p> + +<p>»Wollen Sie wirklich Ihren Jungen hier lassen?«</p> + +<p>Da schlang die Mutter die Arme um ihr Kind, +unter strömenden Tränen rief sie:</p> + +<p>»Felix, komm mit mir!«</p> + +<p>Er entwand sich ihren Armen und sah Paul +Seebeck an. Dieser sagte:</p> + +<p>»Du sollst mein Erbe sein, Felix; sieh zu, ob +du mein Werk fortführen kannst, und das mit +mehr Glück. Geh meines Werkes wegen.«</p> + +<p>Felix kämpfte mit sich. Dann sah er mit seinen +strahlenden, braunen Augen Paul Seebeck an und +sagte:</p> + +<p><a class="page" name="Page_238" id="Page_238" title="238"></a>»Aber das verspreche ich dir, Paul, ich werde +mich ebenso halten wie du.«</p> + +<p>Paul Seebeck strich ihm über das Haar.</p> + +<p>»Gut, mein Junge. – Aber geh jetzt und hol +dein Pferd.«</p> + +<p>Jetzt ging die Sonne unter, und der Kreuzer +stellte sein Feuern ein. Wenige Minuten später +war es dunkle Nacht, in der hier und da die Flammen +von den brennenden Häusern emporloderten.</p> + +<p>Da hob sich riesengroß die rotgelbe Scheibe des +Vollmondes über den Horizont, beleuchtete den +Kreuzer und sein Werk. Schaurig sahen im kalten +Lichte die Trümmer aus. Und nun begann der +Kreuzer wieder zu feuern; unter donnerndem +Krachen stürzte das große Volkshaus zusammen.</p> + +<p>»Kommen Sie, Gabriele, jetzt ist keine Zeit +mehr zu verlieren.« Er begleitete sie bis zur Hauptstraße +und weiter bis zu den rauchenden Trümmern +des Volkshauses. Da tauchte ein Schatten hinter +ihnen auf, und Felix holte sie auf seinem Pferde +ein.</p> + +<p>»Ich möchte nur noch schnell von den anderen +Abschied nehmen, geh nur voraus, Mutter!« rief er +und galoppierte zurück.</p> + +<p>»Leben Sie wohl, Gabriele. Mein Versprechen +habe ich gehalten, nicht wahr?« Und dann wandte +er sich schnell ab und ging hinunter.</p> + +<p><a class="page" name="Page_239" id="Page_239" title="239"></a>Frau von Zeuthen ging langsam den Berg hinauf +und weiter auf der Straße hin. Als sie das +Staubecken erreichte, schrak sie zusammen, denn +vor ihr erhob sich eine dunkle Gestalt. Aber der +Mond erleuchtete ein bekanntes Gesicht.</p> + +<p>»Fräulein Erhardt?«</p> + +<p>»Ja, gnädige Frau!«</p> + +<p>»Wollen Sie zur Stadt?«</p> + +<p>»Ich kann nicht mehr gehen, ich bin so müde. +Wo ist Felix?«</p> + +<p>»Er ist in einigen Minuten hier. Ist Ihnen nicht +Hedwig begegnet?«</p> + +<p>Fräulein Erhardt schüttelte den Kopf:</p> + +<p>»Nein, aber ich glaube, ich habe mehrmals auf +dem Wege geschlafen. Sie wird an mir vorbeigeritten +sein, ohne daß ich sie bemerkte. Aber +Felix kommt, mein Felix!«</p> + +<p>Frau von Zeuthen hatte sich neben sie gesetzt +und strich ihr sanft über den Leib. Da schlang +Fräulein Erhardt die Arme um ihren Hals und +flüsterte ihr zu:</p> + +<p>»Ich habe ja ein Kind von ihm.«</p> + +<p>Frau von Zeuthen küßte sie:</p> + +<p>»Liebe Tochter«, sagte sie.</p> + +<p>Dann schwiegen sie beide, saßen im bleichen +Lichte des Vollmondes einsam auf der Ebene und +warteten, warteten – –</p> + +<p><a class="page" name="Page_240" id="Page_240" title="240"></a>Als Paul Seebeck von der Hauptstraße wieder +auf sein Haus zu einbog, blieb er wie erstarrt +stehen, denn aus dem Kellerfenster schoß eine +Stichflamme, der ohrenbetäubender Knall folgte. +Paul Seebeck griff sich an die Stirn und stürzte +dann hin. Dichter, beißender Rauch quoll aus den +Fenstern, verhüllte die Läufe der drei Geschütze –</p> + +<p>Er sprang die Treppe hinunter, von unten klang +ihm leises Wimmern entgegen. Die Lampe war +verlöscht, aber das weiche Dämmerlicht der Mondnacht +erfüllte den Raum.</p> + +<p>Auf dem Boden lag Nechlidow in den letzten +Zügen, der ganze Leib war ihm aufgerissen. Über +den Verschluß des Geschützes gebeugt lag Felix. +Paul Seebeck hob ihn auf. Felix schlug die Augen +auf und lächelte:</p> + +<p>»Du, Paul, ich wollte Nechlidow doch wieder +helfen; er konnte das Geschütz nicht allein bedienen.«</p> + +<p>Paul Seebeck betastete ihn. Auf der rechten +Brustseite war ein kleiner nasser Fleck. Seebeck riß +die Kleider auf; das Blut strömte.</p> + +<p>»Muß ich sterben, Paul? Dann grüß die andern.«</p> + +<p>»Nein, nein du bleibst leben. Hab keine Angst. +Schlaf jetzt nur etwas.«</p> + +<p>»Ja«, sagte Felix, »ich bin so müde.«</p> + +<p><a class="page" name="Page_241" id="Page_241" title="241"></a>Und Paul Seebeck bettete den sterbenden Knaben +so gut er konnte auf den Boden.</p> + +<p>Unter seinem Maschinengeschütz lag Otto Meyer, +ein Granatsplitter hatte ihm den Oberschenkel +zerfetzt. Er reichte Seebeck die Hand:</p> + +<p>»Du, sag mal, kannst du mir nicht irgend einen +passenden Ausspruch empfehlen? Ich kann doch +nicht so ganz klanglos sterben. »Ich sterbe für +die Freiheit«, oder etwas ähnliches?«</p> + +<p>»Du stirbst, weil du ein anständiger Kerl bist.«</p> + +<p>»Also gut: ich sterbe, damit die Anständigkeit +lebe! Bravo. Schluß. – Es war so schön, mit dir +zusammenzuarbeiten, Seebeck. Ich danke dir +dafür.«</p> + +<p>Dann sank er zurück.</p> + +<p>Paul Seebeck trat an Melchior heran, der bewußtlos +in einer Blutlache an der Wand lag. Wie +er ihn untersuchte, schlug er die Augen auf:</p> + +<p>»Herr Seebeck, Sie? Gut, daß Sie kommen. +Ich habe es gefunden!«</p> + +<p>»Was haben Sie gefunden?«</p> + +<p>»Das Problem der Menschheit habe ich gefunden. +Hören Sie!« Er versuchte sich aufzurichten, aber +sank wieder zusammen.</p> + +<p>»Das Problem der Menschheit!« Seebeck +lachte auf. »Da draußen haben Sie das Problem +der Menschheit!« Und er wies auf das Kriegsschiff +<a class="page" name="Page_242" id="Page_242" title="242"></a>hinaus, das jetzt langsam sein Feuern einstellte.</p> + +<p>»Seebeck, schämen Sie sich! Wer wird einen +Spezialfall verallgemeinern. Hören Sie, ich habe +nicht mehr viel Zeit, glaube ich.«</p> + +<p>Paul Seebeck verschränkte die Arme und sah +dem Sterbenden gerade ins Gesicht.</p> + +<p>»Ich höre«, sagte er.</p> + +<p>»Sie erinnern sich noch an alle unsere Gespräche? +Sie alle haben am Problem mitgearbeitet, Sie alle +haben mir Bausteine gegeben. Jetzt habe ich aber +die Formel gefunden. Sie erinnern sich, daß alle +Fragen immer wieder auf denselben toten Punkt +kamen, daß man die Begriffe gleichzeitig als +fortgeschrittener, wie auch als rückständig in den +Bezug auf den realen Stand der Menschheit ansehen +kann. Da kam Herr Otto Meyer mit dem +Einfall, daß sie von zwei verschiedenen Gesichtspunkten +aus betrachtet sein müßten, um verschieden +zu erscheinen. Lebt er noch?«</p> + +<p>»Nein, er ist tot.«</p> + +<p>»Schade, es hätte ihn sicher interessiert. Sehen +Sie, Herr Seebeck, jetzt habe ich die beiden Standpunkte; +den niedrigen des einzelnen Menschen und +den hohen der gesamten Menschheit. Wenn sich +aus uns allen kleinen gleichgiltigen Einzelwesen +jetzt das ungeheure Individuum der Menschheit +<a class="page" name="Page_243" id="Page_243" title="243"></a>aufbaut – solange ich selbst unter den Arbeitern +lebte, habe ich diese Kristallisation gefühlt, aber +nicht begriffen, ich fühlte, wie sich die Zellen instinktiv +zusammenschlossen, obwohl sich jede einzelne +krampfhaft dagegen wehrte – dann müssen +ja unsere Gedanken klein sein, die der Menschheit +sind aber groß, für uns ebenso unbegreiflich groß, +wie die Zelle in unserem Körper nichts von unseren +Gedanken versteht, und doch baut sie Körper und +Leben auf.</p> + +<p>Aber da haben wir als Ausgleich jene Begriffe, +halb einzel-menschlich, halb universal-menschlich, +dem Menschen zu hoch, der Menschheit zu niedrig. +Sie zeigen weder den Standpunkt des Menschen, +noch den der Menschheit, sondern gerade die +noch ungelöste Spannung zwischen beiden Teilen.</p> + +<p>Prüfen Sie es doch nur an irgend einem Beispiele: +denken Sie an die Ehe. Dem einzelnen Menschen +ein praktisch fast unerreichbares Ideal, für die +Menschheit veraltet. Denn vom hohen Standpunkte +der Menschheit aus gesehen, gleichen sich die im +Einzelfalle eintretenden Hindernisse aus; und für +den Gesamtdurchschnitt wird dann die Ehe nicht +zu hoch, sondern zu niedrig.</p> + +<p>Oder denken Sie an die Orthographie einer +Sprache, die zwar scheinbar rückständig ist, in +Wirklichkeit aber die großen, ewigen Gesetze und +<a class="page" name="Page_244" id="Page_244" title="244"></a>Wandlungen der Sprache, dieses Gutes nicht +eines Einzelnen, sondern der Menschheit wiedergibt.«</p> + +<p>»Und wie erklären Sie dieses Beispiel hier?« +fragte Paul Seebeck und wies auf die Leichen um +sie her.</p> + +<p>»Ach was hat das zu sagen, daß einige Zellen absterben. +Ein kleiner Entzündungsprozeß im Körper +der Menschheit, weiter nichts.«</p> + +<p>»Ja, ja«, sagte Paul Seebeck.</p> + +<p>»Und sehen Sie doch, daß die großen Taten nie +vom einzelnen ausgeführt werden, sondern nur +von der Masse, vom Individuum Menschheit. Das +ist ja auch selbstverständlich, denn der Natur +der Dinge nach muß die auf einer millionenmal +höheren Stufe stehende Menschheit auch höhere +Gedanken haben. Wie selten opfert sich ein einzelner +für eine Idee, und wie leicht tun es tausende +zusammen, weil nicht mehr der Einzelne denkt, +sondern die Masse an sich.«</p> + +<p>»Aber hat uns nicht hier die Masse verraten, +und bleiben nicht wir einzelne zurück?«</p> + +<p>»Kommt das nicht auch in unserem Körper vor, +in dem sich die einzelnen Blutkörperchen gegenseitig +auffressen, statt zusammen zum höheren +Zwecke als dem ihrer Einzelexistenz zu wirken? +Krankheitserscheinungen, weiter nichts. Und eben +<a class="page" name="Page_245" id="Page_245" title="245"></a>so, wie trotz aller Krankheiten der menschliche +Körper sich weiter entwickelt, so wird es auch die +Menschheit tun, um später wieder Zelle eines +neuen, unermeßlich hohen Individuums zu werden. +Bis sich schließlich das Universum in einem unendlich +weiteren Sinne, als wir armselige Einzelzellchen +es heute begreifen können, zu einem +großen Organismus zusammenschließt. Und da +wird die Erlösung sein, der Zweck des Daseins. +Ich sterbe«, fuhr er mit schwächerer Stimme fort, +»aber Sie leben ja noch. Gehen Sie zu den Menschen +und sagen Sie ihnen, daß ich ihr Geheimnis gelöst +habe.«</p> + +<p>Paul Seebeck schüttelte langsam den Kopf:</p> + +<p>»Ich gehe nicht mehr zu den Menschen, Melchior.«</p> + +<p>Jetzt richtete sich der Sterbende mit seiner letzten +Kraft auf:</p> + +<p>»Sie müssen, Seebeck, sonst habe ich das alles +umsonst gedacht. Das darf doch nicht sein!«</p> + +<p>»Nein«, sagte Paul Seebeck hart, »Sie sollen +das alles umsonst gedacht haben. Mag Ihr Leben +verschwendet sein, wie das von uns allen.«</p> + +<p>Da brach Melchior zusammen.</p> + +<p>Nun fiel das bleiche Mondlicht durch die Fenster +und beleuchtete die vier Leichen und die Geschütze. +Sinnend blieb Paul Seebeck stehen. Er schaute +<a class="page" name="Page_246" id="Page_246" title="246"></a>auf das Meer hinaus, das so friedlich dalag. Aber +dort in der Ferne das Ungeheuer, jetzt nicht mehr +feuerspeiend.</p> + +<p>Paul Seebeck setzte sich neben Felix’ Leiche +hin und wartete. Aber ihm war keine Granate +bestimmt. Da küßte er des Knaben eiskalte Stirn +und ging hinaus. Er ging an den Trümmern des +Volkshauses vorbei, die sich gespenstig in die +Höhe reckten, zur Irenenbucht hinunter. Langsam +stieg er die Stufen hinab und setzte sich unten +auf die Felsplatte. Er sah die breiten Rücken +der Riesenschildkröten feucht im Mondlichte +glänzen, sah sie die Köpfe erheben –</p> + +<p>Da ließ er sich langsam ins Wasser gleiten. Die +Tiere tauchten erschreckt unter. Er wollte schwimmen, +weiter hinaus ins Meer wollte er, aber er +verfing sich in den langen Schlingpflanzen. Er +kämpfte, um sich zu befreien, aber sie ließen ihn +nicht los. Da gab er nach und ließ sich vom Wasser +tragen. Es umfing ihn so lau und weich. Aber wie +er sich nicht mehr bewegte, beruhigten sich die +Tiere wieder. Er sah ihre glänzenden Rücken herankommen, +dicht vor ihm tauchte ein riesiger, +schwarzer Kopf aus dem Wasser auf, schob sich +langsam näher, ein breites, zahnloses Maul öffnete +sich – –</p> +</div> + + + + +<div class="advertisements"> +<p><a class="page" name="Page_247" id="Page_247" title="247"></a></p> +<h4 class="notopmargin">IM GLEICHEN VERLAGE ERSCHIEN:</h4> + +<h2>HANS FRANCK</h2> +<h1>THIES UND PETER</h1> +<h3>DER ROMAN EINER FREUNDSCHAFT</h3> + +<h5>PREIS BROSCH. M. 3.50, GEBUNDEN IN LEINEN M. 4.50</h5> + +<p><em class="gesperrt">Neue Freie Presse</em>: In der Freundschaft sind +Fehler Verbrechen! Davon handelt der Roman. Es +ist die Tragödie restlos angestrebter Freundesvereinigung, +jener Freundschaft, die in der völligen Umklammerung +und Einschließung des geliebten Wesens +dessen Menschenrecht mit Füßen tritt, die sich selbst +mordet. »Thieß und Peter« ist ein Bekenntnisbuch, +warm und sprudelnd vom Herzen gespeist. So ist +Hans Francks schöpferischer Erstling eine starke Hoffnung, +die am schönsten eingelöst scheint auf gleichem +Weg. Hebbels unerbittlicher Geist und Otto Ludwigs +eherne Erzählerkunst scheinen hier in einem bewegten +Kopfe unserer Zeit wiedergeboren zu sein, der +reiche bleibende Früchte verspricht. Die Sprache ist +von elastischer Härte und bringt großartige Bilder von +starker Energie.</p> + +<p><em class="gesperrt">Saale-Zeitung</em>: Oft, hundertmal, ist die Liebe +zweier Männer besungen, zerstört, angegriffen worden, +niemals in der intensiven Art wie hier. Hans Franck +ist es gelungen, sein Thema restlos zu durchleben, zu +erfassen, in sich aufzunehmen, es in die Form der Kunst +zu gießen und geläutert herauszuschälen. Das Thema +selbst hat Franck restlos erschöpft, ohne auch nur die +geringsten Seitensprünge zu machen. Hatte sein Name +auch zuvor schon einen guten Klang, so ist Franck mit +diesem Roman in die Reihe unserer ersten deutschen +Dichter gerückt. Der Roman wird in der Geschichte +des deutschen Romans noch eine Rolle spielen.</p> + +<p><a class="page" name="Page_248" id="Page_248" title="248"></a></p> +<h4>IM GLEICHEN VERLAG ERSCHIEN FERNER:</h4> + +<h2>GRETE MEISEL-HESS</h2> +<h1>DIE INTELLEKTUELLEN</h1> +<h3>ROMAN</h3> + +<h5>PREIS BROSCHIERT M. 5–, ELEGANT IN LEINW. M. 6–</h5> + +<p><em class="gesperrt">Anna Croissant-Rüst</em>: Die Disziplin in ihrem Roman +und der Aufbau sind bewundernswert. Die Helden +des Romans, Olga, Stanislaus sind in allen Konturen +und Linien ungeheuer scharf gezeichnet und wohl +geraten. Dr. Emmerich, auch Koszinsky sind sehr +gute Typen, überhaupt ist ein Reichtum von Personen +und Ideen in dem Roman, daß sich manche von den +herkömmlichen Romanmodeschneiderinnen 10 Romane +daraus zurechtschneidern könnten. Das quillt +alles nur so über und ist doch in straffen Banden gehalten.</p> + +<p><em class="gesperrt">Neue Freie Presse</em>. Manfred Wallentin ist in ihr +der vorgeahnte Typus des Menschen der Zukunft und +der Schönheit, der Typus des moralischen Übermenschen, +im Sinne einer Herrennatur, die Beladene +und Bedrückte führend durch das Leben geleitet. Die +anderen Figuren des Romanes, strebende, wankende, +strauchelnde und wieder sich erhebende Männer und +Frauen, verkörpern den Geist dieser Gruppe der +Intellektuellen in mannigfacher Gestalt. Zu klarem +Relief sind die verschiedenen Charaktere gearbeitet, +ein jeder stellt ein Beispiel – das Typische seiner +Art. Nirgends groteske Verzerrung oder leichtfertiges +Fertigwerden mit komplizierten Gedanken. Philosophische, +theosophische, soziale Erörterungen kommen +in streng geführten Dialogen zur Diskussion, wandeln +sich hier in poetisch wohltuend gemäßigter Form +zu pulsendem Leben.</p> + +<p><em class="gesperrt">Neues Wiener Tageblatt</em>. Frau Meisel-Heß +hat sich schon durch ein Werk über »Die sexuelle +Krise« in die Scharen der sozialreformatorischen +Streiter gestellt, während sie in ihrer »Stimme«, das +ihr feinstes Buch bleibt, eine individualistisch vertiefte +Studie gibt – jeder nachdenkliche moderne Mensch +wird den Roman mit großem Interesse lesen.</p> + +<p class="printer">A. E. FISCHER, Buch- und Kunstdruckerei, GERA-R.</p> +</div> + + + +<div class="note"> +<p>Anmerkungen zur Transkription: Dieses elektronische Buch wurde auf +Grundlage der 1912 bei Oesterheld erschienenen Ausgabe erstellt. Die +nachfolgende Tabelle enthält eine Auflistung aller gegenüber dem +Originaltext vorgenommenen Korrekturen.</p> + +<p> +p 019: steigen drei Reketen -> Raketen<br /> +p 022: Zeitungsberichte erkennen liessen. -> ließen<br /> +p 027: [Komma ergänzt] Blatt beugte, »der Flächeninhalt<br /> +p 030: Einen grosszügigen Künstler -> großzügigen<br /> +p 031: lächend wieder aufblickend -> lächelnd<br /> +p 033: dadurch abschliessende Form -> abschließende<br /> +p 035: Paul Seebecks Ichtyosauren -> Ichthyosauren<br /> +p 041: [Anführungszeichen entfernt] »Durch den Schriftsteller -> Durch<br /> +p 044: [Komma ergänzt] daran erinnerte, daß<br /> +p 045: du willst gleieh -> gleich<br /> +p 050: [Vereinheitlicht] im Cafe Stephanie gesessen -> Café<br /> +p 052: auf und abgehend -> auf- und abgehend<br /> +p 054: [Punkt ergänzt] Dann lief er tief errötend aus der Tür.<br /> +p 055: [Anführungszeichen korrigiert] einer von den Unsrigen.«<br /> +p 059: [Zeichen ergänzt] also [ ]in Vorrecht -> ein<br /> +p 058: fuhr erfort[ ], -> er fort,<br /> +p 062: fragte Seebeck die Hand -> fragte Seebeck, die Hand<br /> +p 063: ausgewachene Riesenschildkröte -> ausgewachsene<br /> +p 063: Das es jetzt ... nicht mehr gibt, -> Da<br /> +p 065: bilden kann, ohne das -> daß<br /> +p 067: alle sozialen und sozial-psychologischen Phänomen -> Phänomene<br /> +p 069: Schwäche und Dumheit -> Dummheit<br /> +p 072: Jacob Silberland den geringsten Kummer -> Jakob<br /> +p 075: Rhytmus -> Rhythmus<br /> +p 076: [Anführungszeichen korrigiert] erinnern Sie sich noch?«<br /> +p 089: an Herren Seebeck erlauben -> Herrn<br /> +p 090: Denn wir wissen alles, was wir ihm schulden -> alle<br /> +p 090: [Punkt ergänzt] im Buche der Menschheit stehen.«<br /> +p 092: allerhand Papier zusammen, die -> Papiere<br /> +p 093: [Komma entfernt] fünfhunderteinundzwanzig, Mark.<br /> +p 097: geklatscht und gestrampelt -> getrampelt<br /> +p 106: antworetete der Krüppel -> antwortete<br /> +p 108: [Komma ergänzt] Rechtsstreitigkeiten«, wie [...] ausdrückt<br /> +p 108: alle Steitigkeiten durch -> Streitigkeiten<br /> +p 116: [Vereinheitlicht] Orang-Utans vorfinden«. -> vorfinden.«<br /> +p 122: Arbeit ausführen nnd -> und<br /> +p 122: die wir jetzt darstellen, -> darstellen.<br /> +p 139: [Punkt ergänzt] Schatten auf sie.<br /> +p 145: stand der Krüppel auf; -> auf:<br /> +p 151: [Punkt ergänzt] die sich auf dem Tische befand.<br /> +p 156: Proviant für viezehn Tage -> vierzehn<br /> +p 167: [Anführungszeichen korrigiert] praktische Bedeutung hat?«<br /> +p 183: [Vereinheitlicht] der Vorstandsschaft -> Vorstandschaft<br /> +p 201: [Anführungszeichen korrigiert] »Woher wissen Sie das?«<br /> +p 213: [Vereinheitlicht] Herr Reichkommissar -> Reichskommissar<br /> +p 214: Reipeitsche -> Reitpeitsche<br /> +p 227: ihr auf den Rückwege -> dem<br /> +p 233: [Anführungszeichen korrigiert] »Wir sind verraten.«<br /> +p 233: [Ellipse ergänzt] ausliefern und uns ergeben .. « -> ...«<br /> +p 241: [Punkt ergänzt] Gut, daß Sie kommen.<br /> +p 245: der menschlichen Körper sich -> menschliche<br /> +p 247: Neue Freie Prese -> Presse<br /> +p 248: ERSCHIEN FENRER -> FERNER +</p> + +<p>Die Originalschreibweise wurde prinzipiell beibehalten, insbesondere bei +folgenden Wörtern:</p> + +<p> +p 011: grinzend<br /> +p 058: Karrikatur<br /> +p 074, 172: endgiltig<br /> +p 178: kennte +</p> +</div> + + + +<div class="note"> +<p>Transcriber’s Note: This ebook has been prepared from the Oesterheld +edition, published around 1912. The table below lists all corrections +applied to the original text.</p> + +<p> +p 019: steigen drei Reketen -> Raketen<br /> +p 022: Zeitungsberichte erkennen liessen. -> ließen<br /> +p 027: [added comma] Blatt beugte, »der Flächeninhalt<br /> +p 030: Einen grosszügigen Künstler -> großzügigen<br /> +p 031: lächend wieder aufblickend -> lächelnd<br /> +p 033: dadurch abschliessende Form -> abschließende<br /> +p 035: Paul Seebecks Ichtyosauren -> Ichthyosauren<br /> +p 041: [removed quotes] »Durch den Schriftsteller -> Durch<br /> +p 044: [added comma] daran erinnerte, daß<br /> +p 045: du willst gleieh -> gleich<br /> +p 050: [unified] im Cafe Stephanie gesessen -> Café<br /> +p 052: auf und abgehend -> auf- und abgehend<br /> +p 054: [added period] Dann lief er tief errötend aus der Tür.<br /> +p 055: [corrected quotes] einer von den Unsrigen.«<br /> +p 059: [added character] also [ ]in Vorrecht -> ein<br /> +p 058: fuhr erfort[ ], -> er fort,<br /> +p 062: fragte Seebeck die Hand -> fragte Seebeck, die Hand<br /> +p 063: ausgewachene Riesenschildkröte -> ausgewachsene<br /> +p 063: Das es jetzt ... nicht mehr gibt, -> Da<br /> +p 065: bilden kann, ohne das -> daß<br /> +p 067: alle sozialen und sozial-psychologischen Phänomen -> Phänomene<br /> +p 069: Schwäche und Dumheit -> Dummheit<br /> +p 072: Jacob Silberland den geringsten Kummer -> Jakob<br /> +p 075: Rhytmus -> Rhythmus<br /> +p 076: [corrected quotes] erinnern Sie sich noch?«<br /> +p 089: an Herren Seebeck erlauben -> Herrn<br /> +p 090: Denn wir wissen alles, was wir ihm schulden -> alle<br /> +p 090: [added period] im Buche der Menschheit stehen.«<br /> +p 092: allerhand Papier zusammen, die -> Papiere<br /> +p 093: [removed comma] fünfhunderteinundzwanzig, Mark.<br /> +p 097: geklatscht und gestrampelt -> getrampelt<br /> +p 106: antworetete der Krüppel -> antwortete<br /> +p 108: [added comma] Rechtsstreitigkeiten«, wie [...] ausdrückt<br /> +p 108: alle Steitigkeiten durch -> Streitigkeiten<br /> +p 116: [unified] Orang-Utans vorfinden«. -> vorfinden.«<br /> +p 122: Arbeit ausführen nnd -> und<br /> +p 122: die wir jetzt darstellen, -> darstellen.<br /> +p 139: [added period] Schatten auf sie.<br /> +p 145: stand der Krüppel auf; -> auf:<br /> +p 151: [added period] die sich auf dem Tische befand.<br /> +p 156: Proviant für viezehn Tage -> vierzehn<br /> +p 167: [corrected quotes] praktische Bedeutung hat?«<br /> +p 183: [unified] der Vorstandsschaft -> Vorstandschaft<br /> +p 201: [corrected quotes] »Woher wissen Sie das?«<br /> +p 213: [unified] Herr Reichkommissar -> Reichskommissar<br /> +p 214: Reipeitsche -> Reitpeitsche<br /> +p 227: ihr auf den Rückwege -> dem<br /> +p 233: [corrected quotes] »Wir sind verraten.«<br /> +p 233: [completed ellipsis] ausliefern und uns ergeben .. « -> ...«<br /> +p 241: [added period] Gut, daß Sie kommen.<br /> +p 245: der menschlichen Körper sich -> menschliche<br /> +p 247: Neue Freie Prese -> Presse<br /> +p 248: ERSCHIEN FENRER -> FERNER +</p> + +<p>The original spelling has been maintained throughout the book, +particularly for the following words:</p> + +<p> +p 011: grinzend<br /> +p 058: Karrikatur<br /> +p 074, 172: endgiltig<br /> +p 178: kennte +</p> +</div> + + + + + + + + +<pre> + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Phantasten, by Erich von Mendelssohn + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK PHANTASTEN *** + +***** This file should be named 18620-h.htm or 18620-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/1/8/6/2/18620/ + +Produced by Markus Brenner and the Online Distributed +Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + http://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. + + +</pre> + +</body> +</html> diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt new file mode 100644 index 0000000..6312041 --- /dev/null +++ b/LICENSE.txt @@ -0,0 +1,11 @@ +This eBook, including all associated images, markup, improvements, +metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be +in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES. + +Procedures for determining public domain status are described in +the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org. + +No investigation has been made concerning possible copyrights in +jurisdictions other than the United States. 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