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+<title>Die Stufe</title>
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+The Project Gutenberg EBook of Die Stufe, by Franziska Mann
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
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+
+Title: Die Stufe
+ Fragment einer Liebe
+
+Author: Franziska Mann
+
+Release Date: April 17, 2007 [EBook #21115]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: UTF-8
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE STUFE ***
+
+
+
+
+Produced by Louise Hope, Norbert H. Langkau and the Online
+Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
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+<p class = "mynote">
+Einige Druckfehler sind korrigiert und mit <ins class = "correction"
+title = "wie so">popups</ins> notiert.</p>
+
+<p>&nbsp;<br>&nbsp;</p>
+
+<h3>Franziska Mann</h3>
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+<h2>Die Stufe</h2>
+
+<h5>Fragment einer Liebe</h5>
+
+<p>&nbsp;<br>&nbsp;</p>
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+<p class = "illustration">
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+alt = "Verlagssymbol">
+</p>
+
+<hr>
+
+<h5 class = "extended">Im Mosaik Verlag zu Berlin</h5>
+
+<h5 class = "spaced">&nbsp;1922</h5>
+
+<p>&nbsp;<br>&nbsp;</p>
+
+<h5 class = "extended">Mosaik-Bücher * Band 3</h5>
+
+<p>&nbsp;<br>&nbsp;</p>
+
+<p class = "intro">
+Dieses Buch wurde für die<em> Mosaik Verlag</em> G.m.b.H. bei Gebrüder
+Rennert in Berlin gedruckt. Einband und Druckanordnung von Erich
+Büttner. Die Verse im Text sind von L.&nbsp;Avellis. Alle Rechte,
+insbesondere das der Uebersetzung und Verfilmung vorbehalten. Copyright
+by Mosaik Verlag G.m.b.H., Berlin W.&nbsp;50. 1922.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">3</span>
+<a name = "brief1" id = "brief1">
+<em>Maria an Roland.</em></a></p>
+
+
+<p>Roland, sind Sie leichtsinnig! Laufen Sie lieber vor mir davon. Oder
+ist Leichtsinn immer eine Krankheit &mdash; chronisch bei den einen,
+akuter Natur bei den anderen? Nicht nur einfach abzuschütteln &mdash;,
+Heilbarkeit unsicher? Noch ist es Zeit! Ich warne Sie! Verpassen Sie
+nicht den rechten Augenblick zur Flucht. Sie sind fünfundzwanzig Mal im
+Laufe der Jahre am zehnten Mai vorübergeschritten, ich an diesem
+Frühlingstage, der auch mich die Reise ins Leben beginnen ließ,
+zweiundvierzig Mal. Es bleibt eine gewagte Angelegenheit, schön und
+gefährlich, dieses „die Seelen sind von keinem Alter.“ Sehen Sie sich
+lieber die blonden und die braunen Mädel an, deren gibt es so viele.</p>
+
+<p>Und doch möchte ich Ihnen helfen. Sie brauchen einen<em>
+Menschen</em>. Ich könnte der rechte Mensch für Sie sein. Nur dürfen Sie
+nicht an Liebe denken; sie verwirrt immer, sie würde alles
+verderben.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<span class = "pagenum">4</span>
+<p>Nach allgemeinen Begriffen weiß ich wenig von Ihnen. Aber nie war ich
+begierig, Menschen, an die mich ein seelisches Fluidum zu binden begann,
+in hergebrachter Form<em> kennen</em> zu lernen. Genießen wollte ich
+einen Blick, eine Stimme, den leisen Druck einer Hand. Ganz nur
+Gegenwart sollte mich umfangen, beleben, vielleicht auch berauschen,
+aber kennen? Nein, kennen ist drohender Alltag. Ich will meine
+Viertelstunde, unbekümmert um alles Gewesene. (Solch eine Viertelstunde
+kann lange währen, sie wird nach besonderem Maß gemessen.) Die nach mir
+kommen, mögen die ihre haben. Verstehen Sie das? Treu bin ich nicht,
+habe nie treu in hergebrachter Vorstellung sein wollen. Freunde, welche
+unbewegliches Festhalten brauchen, sind neben mir zu beklagen. Für mein
+Empfinden gibt es Wertvolleres als starres Beharren. Glauben Sie,
+Roland: Alles hat seine Zeit.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Allmählich bin ich so etwas wie eine Seelensucherin geworden. Weiß
+selbst nicht, wie es gekommen ist. Nie habe ich diese Eigenart &mdash;
+oder darf ich sagen dieses Talent? &mdash; absichtlich in mir
+gesteigert, habe nie aufgehört, sie als Begnadung zu empfinden. Manchem
+wurde ich zur Lebenswende, zur Stufe in freiere, befreite Welten. Für
+das Glück der Vielen war ich nie geschaffen. Vielleicht vermochte ich
+Einigen die Kraft zur Einsamkeit zu stärken; vielleicht lehrte ich
+Einige sich selbst kennen zu lernen, half ihnen, eine andere
+Lebensresonanz zu erlauschen. Ich vergaß nie, daß ich nicht mehr werden
+konnte als ein Mörtelträger: sein Schloß kann sich jeder nur allein
+errichten, seinen Tempel oder sein Alltagshaus.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Immer bin ich mir klar gewesen, nicht auf das
+Beieinander<em>bleiben</em>
+<span class = "pagenum">5</span>
+kommt es an, sondern auf die Spuren, die wir in fremder Seele
+zurückzulassen vermögen. Das nenne ich Treue, ist<em> mir</em> Treue.
+Und doch habe ich manchem etwas fürs Leben zu geben gehabt. Ich weiß,
+daß das einzig Sichere der Wandel ist; nie habe ich jemanden halten
+wollen; meist war ich es wohl, die fort war, innerlich schon ein wenig
+entfernt, bevor der andere es entdeckte. Doch nicht stets schritt ich
+nur aus Menschenliebe weiter, so selbstlos war ich nicht; oft lockte
+mich schon leise, ganz leise, eine fremde Seele. Mit ihr mich zu
+vereinen, trieb es mein Herz; denn immer hat auch mein Herz seinen
+Anteil haben wollen. Durch wunderbare Gefilde bin ich geschritten,
+&mdash; frei und doch gefesselt. Nein, ich hätte nicht immer nur
+denselben Garten durchwandeln können. Ich liebte es, Neuland zu
+entdecken. Dort, wo viele nur kahles Feld sahen, ahnte ich bereits
+wogendes Blühen. Ohne Mühe neigten sich mir tausend &mdash; den Vielen
+nicht sichtbare &mdash; Herrlichkeiten entgegen.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>So einfach, Roland, dürfen Sie sich nun aber nicht das Wiederlösen
+vorstellen. Man muß Schmerzen lautlos zu tragen vermögen, muß sinnend
+nachschauen können, muß die zuckenden Lippen fest aufeinander zu pressen
+lernen; man muß zuletzt<em> ertragen</em> können, wozu anfangs durchaus
+keine Tragfähigkeit notwendig dünkte. Gerade Ihnen möchte ich meine
+Vereinigung mit den Vielen &mdash; jenen seltsamen Zwang, der mir Fremde
+leicht in die Nächsten wandelt &mdash; ohne Gefallsucht deuten, jene
+Augenblicke, in denen ich glaube, nicht mehr zurückweichen zu können,
+obgleich nichts Sichtbares, nicht das geringste äußerlich Bindende mich
+hält. Und doch habe ich mich oft, (oder soll ich sagen<em> zu</em> oft?)
+gerade in dieser Form fesseln
+<span class = "pagenum">6</span>
+lassen; denn ein Gefesseltsein gehört zu jener Hingabe, die auch von
+Glut durchpulst sein muß, wenn sie vollkommen schön sein soll. Aber ich
+zergliedere nicht, sobald meine Seele sich an eine fremde Seele schmiegt
+&mdash; das schlösse von Beginn an jede Unbefangenheit aus. Ich möchte
+von einem unstillbaren Hang zur Verschwendung sprechen, unheilbar und
+unhemmbar. Mir geht es wie dem Künstler, der sich in immer neue Gebilde
+verliert, die seine schaffenstrunkene Phantasie formt. Kommt doch auch
+für ihn so überraschend schnell eine Zeit, in der er ohne Extase vor
+einer Schöpfung steht, die einmal Inhalt all seines Denkens und Fühlens
+<ins class = "correction" title = "Original hat »gewsen«">gewesen</ins>
+ist. Ihm selbst unergründliche Gewalten reißen ihn zu neuen Schöpfungen,
+in deren Bann er sich wehrlos verlieren muß.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Dies alles aber berührt nicht das Bestehen von Vereinigungen festen
+und dauernden Gepräges. In diesen Freundschaften nimmt man sich hin, wie
+man ist, geheimnist nichts ineinander hinein, vergleicht nicht mit
+erträumter Vollkommenheit, ruht aus in mitfühlender Innigkeit, erwartet
+nicht letztes Verstehen und genießt doch ein schönes Beglücktsein in
+dieser Freunde Nähe. Im geheimen aber schämen wir uns vor ihnen der
+Hoffnungen, die nie sterben wollen, des Durstes nach dem Unbekannten,
+des immer Bereitbleibens, weiter in nebelverhangene Lande zu wandern.
+Erst der Tod kann uns von diesen Freunden trennen, nie das Leben. Nur
+den Wunsch nach Hingerissenheit können sie uns in dem gleichförmigen,
+wenn auch gesünderem Tale, in dem sie leben, nicht erfüllen.<em>
+Sie</em> belächeln unsere Himmelsträume, soweit sie sie zu ahnen
+vermögen. Stürme, die kräftiges, neues Werden künden, kennen<em>
+sie</em> nicht.</p>
+
+<span class = "pagenum">7</span>
+<p>Gelänge es mir doch, Ihnen diese scheinbare Erkaltung, von der ich
+vorher schrieb, diese Zwiespältigkeit meines Fühlens, dieses gefaßt dem
+Wandel Entgegengehen verständlich zu machen. Mich dünkt, als wollte
+selbst die weite Natur nicht unveränderliches Beharren. Sie bereichert,
+auch wenn sie scheinbar verarmt; ihre Gesetzmäßigkeit ist’s ja auch, die
+uns zuweilen wie Grausamkeit erscheinen kann; denn Wachstum wehrt sich
+gegen kraftlos Gewordenes; es stößt Welkendes ab, mögen wir es auch in
+leiser Wehmut fallen sehen. Nur die Gewißheit ersiegen wir uns
+schließlich doch: nichts von allem früheren, das uns einst kostbar
+dünkte, kann jemals wieder ganz verloren gehen. Ein Schimmer bleibt und
+beglückt und kann aufleuchten wie in den Augenblicken, da wir die lange
+schon Entfernten, die Weitergewanderten, die von uns Zurückgelassenen
+oder die über uns Hinfortgestiegenen am stärksten zu lieben
+glaubten.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Roland, haben Sie immer noch Mut zu mir? Wären Sie doch ein
+weibliches Wesen, dann beunruhigte mich nicht der Gedanke, Sie könnten
+sich tief in mich versenken. Gestern irrte sekundenlang ein Fremdes
+durch Ihren Blick; dieses Fremden halber erhalten Sie heute statt der
+gewohnten Zettel einen so langen Brief, lieber großer Junge, von</p>
+
+<p class = "signature">
+Ihrer Mutter.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">8</span>
+<a name = "brief2" id = "brief2">
+<em>Roland an Maria.</em></a></p>
+
+
+<p>Liebe Frau Maria, doch, ich habe Mut. Wie immer es auch kommen mag!
+Sie lächeln: „Kommen mag?“ Was sollte zwischen Ihnen und mir, der immer
+nur Einer zwischen Vielen war, kommen? Nichts an mir berechtigte je zu
+besonderen Hoffnungen, eher wohl zu besonderen Sorgen. Da waren meine
+fünf Brüder ganz andere Kerle, begabt und draufgängerisch. Die erste Tat
+in meinem ganzen Leben ist der Besuch bei Ihnen gewesen; ja,<em>
+Tat</em> muß ich es nennen. Unbeirrbar, ohne Zögern nahm ich den Weg,
+der an Ihre Schwelle führte. Jeden Tag bin ich wiedergekommen, bewußt
+wiedergekommen, weil ich entschlossen bin, meine Seligkeit festzuhalten;
+Seligkeit, auch wenn sie mich vernichtet.</p>
+
+<p>Immer kann ich noch bis drei Uhr der schweigsame Bankbuchhalter sein,
+genau bis drei Uhr. Aber dann? Sagen Sie, was bin ich dann?</p>
+
+<p>Oberflächlich, nur ganz oberflächlich, möchte ich Ihnen doch endlich
+schnell etwas von meinem Werdegang, der nie ein richtiger Werdegang
+wurde, sagen. Die Stunde neben Ihnen ist zu schade, Sie von der einzigen
+Kunst zu unterrichten, die ich bisher verstand, von der: klein zu
+bleiben.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Meine Eltern sind froh gewesen, als ich mit dem Reifezeugnis nach
+Hause kam. Ohne dieses Zeugnis hätte mein Vater mir unter keiner
+Bedingung irgend welche Lebenstüchtigkeit zugetraut. Alles, was nicht
+zu<em> der</em> Reife gehörte, machte einen Jungen in unserer kleinen
+Stadt lächerlich und mußte im Geheimen betrieben werden. So wurde jeder
+Gedanke in
+<span class = "pagenum">9</span>
+glatte Alltagsbahnen gepreßt. Niemand um mich sprach Silben, die nicht
+deutlich, fest und bestimmt ausdrückten, was sie ausdrücken sollten.
+Kein Wort hörte ich, das zu den Sternen wollte. Ich wurde nicht bleich,
+nicht schwermütig, &mdash; nur alltäglich.</p>
+
+<p>Das Gefürchtetste bei uns bestand darin, sich irgendwie hervorzutun.
+Dazu genügte schon ein Hut, welcher anders war, als die Hüte der
+Mehrzahl; überhaupt hatten wir immer nur wie die Mehrzahl zu sein.
+Ausnahmegesetze erkannte mein Vater nicht an. Nie hat, so sehe ich es
+jetzt, ein frischer Wind durch unsere kleine Stadt geweht, der ihre
+heilige Ordnung hätte bedrohen können. Unantastbar blieb der Glaube an
+die Autorität, besonders an die Autorität der Gesellschaft. Mir fehlte,
+&mdash; Bismarck rügte es treffend an fast all seinen Zeitgenossen:
+Zivilcourage. In den wenigen Monaten hier habe ich endlich erkannt, daß
+in der Wissenschaft, in der Kunst<em> der</em> sehr viel weniger gilt,
+der Besonderes zuerst sagte, als<em> der</em>, welcher sich als Erster
+mutig Gehör zu schaffen verstand, und so weiß ich nicht mehr mit
+Bestimmtheit, ob sich unter meiner Gebundenheit nicht doch etwas regen
+könnte, das mich wenigstens, &mdash; verstehen Sie dieses „wenigstens“
+nicht falsch &mdash; Ihnen näher bringen könnte.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>„Zivilcourage“ rufe ich mir also zu und berichte weiter: Verse, die
+ich heimlich, als ich noch zur Schule ging, mit Leidenschaft
+niederschrieb, hatten meinen Ruf nicht einwandfrei gemacht. Ich sollte
+ein Schwärmer sein, ein Träumer, war vielleicht schon auf denselben
+Abwegen wie mein Großvater, der &mdash; Mutter vertraute es mir
+feierlich und warnend und weinend
+<span class = "pagenum">10</span>
+an &mdash; hinterm Zaum auf der Landstraße zugrunde gegangen ist. Immer
+wurde mir der Großvater als warnendes Beispiel vorgeführt, nie aber
+erfuhr ich deutlich, worin seine Laster eigentlich bestanden haben.
+&mdash; Zwei Tage hindurch wagte ich einmal einen geschlungenen
+Künstlerschlips zu tragen. Das Halloh, mit dem mich Groß und Klein
+anbrüllte, ließ mehr als nur den Schlips verschwinden; es duckte mich
+klaftertief. &mdash; Bis zum Tode meines Vaters blieb ich in unserer
+Kleinstadt, in der Mühle, die langsam das zerrieb, aus dem ich, wäre man
+barmherziger damit verfahren, vielleicht ein wirkliches Leben hätte
+formen können. &mdash; Hier die wenigen Monate duldeten bisher kein
+Umschauen. Ich habe mich zu ernähren, habe mich Aufgaben zu widmen, die,
+weiß der Himmel, nicht großartige sind.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Vielleicht sahen Sie, als Sie mich vor zwei Wochen Ihrer Beachtung
+würdigten, den Früheren in mir, den Anderen, nicht<em> nur</em> den
+simplen Bankbuchhalter.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Ich soll jung sein, meinen die Leute; auch Sie sagten es, Frau Maria;
+also müßte es wahr sein. Aber sind<em> Sie</em> nicht viel jünger? Sie
+haben sich Ihren Glauben an alles Hohe, Ihre Begeisterung für alles
+Schöne durch ein gewiß nicht leichtes Leben bewahrt. Wie konnten Sie
+das? Ich dagegen? Vielleicht bin ich nie jung gewesen, nie so jung, wie
+Sie heute, wenngleich es mir jetzt so leicht erscheint, mit Ihnen die
+Fahrt ins Jugendland zu beginnen. Nein, ich<em> begann</em> diese Fahrt
+nie; gleich die erste Stunde allein neben Ihnen, Frau Maria, in Ihrem
+Heim, erweckte in mir den Wahn, Kühnheit habe von jeher auch mich
+ausgezeichnet. So selbstverständlich wird durch Ihre Nähe alles
+gesteigert.</p>
+
+<span class = "pagenum">11</span>
+<p>Sie werden zu verstehen versuchen, wie es gekommen ist, daß ich mich
+so früh mit einem ungelebten Leben abfand. Vererbung, Erziehung,
+Lebensumstände mögen die Sklavenhalter gewesen sein, die gelassen zu
+Tode peitschen wollten, was nicht stark genug in mir war, sich jubelnd
+aus der kläglichen Gebundenheit zu befreien. Noch kann ich nicht
+erkennen, wohin mich die Befreiung führen soll, ob sie erheben oder
+vernichten will; jetzt aber, in diesen leuchtenden Tagen, erfüllt sie
+mich mit nie gekannter Freude.</p>
+
+<p>Sie wünschen keine Liebe, Frau Maria; die meine ist bereits zu groß,
+um sie Ihnen verheimlichen zu können.<em> Sie</em> sind so oft in Ihrem
+Leben geliebt worden, Sie haben so oft selbst geliebt, daß Sie ein
+Gefühl nicht erschrecken wird, von dessen Sterblichkeit Sie, wie Sie mir
+versicherten, überzeugt sind. Ich muß Ihnen glauben; denn ich kannte
+Liebe nicht. Mir aber bleibt dieses Gefühl für Sie das Wunder, von dem
+ich weiß, daß es mich zu großen Taten befähigen<em> muß</em>. Welcher
+Art diese Taten sein können, &mdash; in wie hohem Grade überflüssig für
+die Welt, und wie zwingend ihre Ausübung für mich, &mdash; wir wollen es
+nicht zu ergrübeln versuchen. Lassen Sie dieses „wir“ gelten; denn, Frau
+Maria, mögen Sie auch getreu Ihrer Auffassung von Liebe und Freundschaft
+und Neubelebung nicht gerade neben mir zu ungewohnt langem Harren
+gezwungen werden: zu früh dürfen Sie Ihren Jünger nicht zum
+Alleinweiterwandern verurteilen. Nein, das können Sie nicht, auch wenn
+Sie es wollten.</p>
+
+<p>Viele Briefe werde ich Ihnen noch schreiben dürfen, viele noch von
+Ihnen empfangen, und die Tür zu Ihrem Zimmer wird sich mir lange noch
+täglich für eine Abendstunde öffnen.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<span class = "pagenum">12</span>
+<p>Entdeckte ich doch eine schönere Ausdrucksform für das zitternde
+Empfinden, das mich, seitdem ich nur an Sie zu denken vermag,
+durchströmt! Diese eckigen, armseligen Worte mißfallen mir
+gründlich.</p>
+
+<p>Viel tausend Grüße sendet Ihnen</p>
+
+<table class = "signature">
+<tr>
+<td>
+<p>Ihr törichter Junge</p>
+<p>Roland.</p>
+</td>
+</tr>
+</table>
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">13</span>
+<a name = "brief3" id = "brief3">
+<em>Maria an Roland.</em></a></p>
+
+
+<p>Roland, langsam, wie werdender Frühling, vollzieht sich oft die
+Vereinigung von Seelen, aber das Schicksal jagt auch Menschen so rasch
+zueinander, wie zwei Blätter, die der Sturm von entfernten Bäumen riß,
+um sie dann in dieselbe winzige Erdfurche zu wehen, auf ein so kleines
+Fleckchen Erde, als sei nirgends sonst Raum gerade für diese beiden.<em>
+Wir</em> sind wohl dem letzten Tempo untertan. Wir! Verstehen Sie nur
+dieses „wir“ nicht falsch. Sehen Sie es nicht als ewig Bindendes an;
+immer wieder möchte ich es Ihnen wiederholen. Zwar sagten Sie mir: „Auch
+die Schmerzen, die mir durch Sie kommen, will ich segnen.“ Aber, großes
+Kind, Schmerzen sind schwer, ach, sehr schwer zu segnen. Deshalb
+erinnere ich wieder und wieder an mein erstes Warnen und an &mdash;
+meine Jahre. Trotzdem kann ich nicht das „wir“ streichen, gehören ja
+auch Sie zu jener kleinen Schar, für die das Dasein anders gefärbt ist,
+wie für jene, die in die Welt passen, wie für die Urgesunden, die
+unserem feinsten Fühlen fremd und überlegen lächelnd gegenüberstehen.
+Aus der Vereinzelung will ich Sie erlösen, die Einsamkeit für Sie
+fruchtbar machen.<em> Mehr</em> will ich nicht. Glauben Sie mir, immer
+wird es Menschen geben, die sich wie durch graue Fluten bewegen. Musik
+erfüllt sie, doch sie empfinden sie wie Dissonanzen. Harmonien erklingen
+ihnen kaum, weil sie tastend vor allem zurückweichen, was so anders, so
+ganz anders in ihnen schluchzt und klagt und frohlockt, als das Glück
+der Vielen. Und aus der Entsagung, die sich langsam in sie schleicht,
+wird Erstarrung oder Verbitterung.
+<span class = "pagenum">14</span>
+Sie wissen nichts von Leidensgenossen; sie kennen<em> nicht</em> sich
+selbst oder<em> nur</em> sich selbst. All ihr schmerzliches Fragen
+verhallt ins Leere, bis ein Wunder geschieht: Eine Seele erschließt sich
+der ihren. Dann aber werden aus allen verirrten Klängen köstliche
+Melodien. Die grauen Flächen um sie verwandeln sich in schimmernde
+Fluten. Brennende Blutwellen steigen in ihnen empor, röten ihre Wangen,
+stiller Jubel umfängt sie, ein Fremdes durchdringt sie, von dem sie
+nicht wissen, ist es Schmerz oder Wonne. In Dämmerferne tauchen für sie
+lichte Türme empor.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Lieber Junge, ähnlich einem Windhauch, der über stilles Wasser
+streicht, so möchte ich zu Ihnen gekommen sein, oder wie ein
+Silberschein, der über dunklem Gebirge schimmert. Schließen Sie die
+Augen, und erkennen Sie,<em> wovon</em> wir leben in all dem Geräusch
+von Komödien jeglicher Art.</p>
+
+<p class = "signature">
+Maria.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">15</span>
+<a name = "brief4" id = "brief4">
+<em><ins class = "correction" title =
+"Original hat »Maria an Roland«">Roland an Maria.</ins></em></a></p>
+
+
+<p>Teure Frau Maria, ich kann es nicht mehr ändern, daß mein ganzes Sein
+Ihnen gehört, in jeder Minute, in jeder Regung, in jedem Empfinden. Nur
+das schwingt in mir weiter, was mit Ihnen im Zusammenhang steht;<em>
+Sie</em> nur kann ich fühlen, nur die Wärme, die Ihre Seele ausströmt
+und entfacht.</p>
+
+<p>Sie sind, während ich fern von Ihnen bin, mit so vielen Menschen
+zusammen, und mit allen sind Sie gütig, und Ihre Stimme klingt mit jenen
+kaum anders als mit mir. Ich aber habe nur Sie, Maria. Sie wissen ja
+nicht, was es in sich schließt, dieses: „nur Sie“, was es bedeutet, nur
+einen einzigen Menschen zu haben. Ihre Stimme ist die erste<em>
+menschliche</em> Stimme gewesen, die ich in meinem Alleinsein je
+vernommen habe: Verschollene Möglichkeiten aus den Tagen meiner Kindheit
+richten sich auf, Möglichkeiten, die meinem Gedächtnis vollständig
+entschwunden waren. Wollte auch ich einst großen Zielen zuwandern, und
+konnte doch so rasch am Wege zusammenbrechen? Heute ist mir jeder Nerv
+kraftgestählt.<em> Sie</em> haben diese Kraft geweckt, also sind<em>
+Sie</em> es, die mich geschaffen hat. Ist es nicht natürlich, daß am
+Anfang das Geschöpf nur von seinem Schöpfer weiß?</p>
+
+<p>Frau Maria, erkennen Sie in mir Ihren Schüler; denn wie käme<em>
+mir</em> sonst dieses „am Anfang“ in den Sinn, mir, dem allein die
+Vorstellung an einen Wandel Lästerung dünken müßte? Der erste Beweis
+meines Werdens kann nichts als &mdash; Auflehnung sein. Genügt Ihnen die
+Probe? Mögen Sie es hundertmal verneinen: es<em> muß</em> eine Liebe
+geben, für die es kein
+<span class = "pagenum">16</span>
+„am Anfang“ gibt und kein „am Ende.“ Auf<em> den</em> Jugendglauben
+mache ich Anspruch. Ja, ich behaupte: All Ihr Liebesfühlen entbehrte
+unantastbarer Echtheit; denn nur, wenn Menschen alles vergessen müssen,
+was die Ewigkeit ihrer Liebe bedroht, ist ihre Liebe echt, ich meine,
+unveränderlich wie ein echter Edelstein.<em> Sie</em> haben nie alles
+vergessen wollen oder vergessen können, das hat Ihr Lieben beraubt. Sind
+Sie denn nie von der Leidenschaft zu einem Menschen besessen worden wie
+der Märtyrer von seiner Idee, auch wenn deren Verwirklichung ihn mit
+Sicherheit aufs Schaffot führen mußte, sicher und gewiß auf den
+Scheiterhaufen?</p>
+
+<p>Ich bettle nicht. Meine Seele ist still, weil es keine Grenzen für
+die Stärke ihrer Liebe gibt. Ich werde Sie gewinnen, ganz mir gewinnen,
+Maria, liebste aller Frauen.</p>
+
+
+<p class = "signature">
+Ihr, Ihr Roland.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">17</span>
+<a name = "brief5" id = "brief5">
+<em>Maria an Roland.</em></a></p>
+
+
+<p>Unverbesserlicher, was wollen Sie mit mir „für Zeit und Ewigkeit“
+anfangen? Erinnern Sie sich an das Entsetzen Ihrer früheren Mitbürger
+über Ihre „Abwege“. Und auch andere werden Sie nicht verstehen.
+Vielleicht werden Sie selbst sich in zehn Jahren unbegreiflich geworden
+sein. Nein! Sie und ich! Die Natur kann Ihr Herz für mich nicht
+gebieterisch dauernd entflammen. Aber &mdash; hören Sie mein Bekenntnis:
+Ich muß auf der Hut sein, mich von<em> Ihren</em> Irrungen nicht locken
+zu lassen, obwohl ich zu ahnen beginne, daß die herrschende Sitte
+verantwortlicher für unsere Unvereinbarkeit zu machen sein könnte als
+die Natur, deren Walten wohl auch zwischen uns „von Gottes Gnaden“
+ist.</p>
+
+<p>Wenn Liebe die größte Steigerung der in uns ruhenden Kräfte und
+Möglichkeiten schafft, dann &mdash; erwidere ich Ihre Liebe. Ich sage
+Ihnen dies ganz ruhig, nur wie die Feststellung einer Tatsache. Hoffen
+Sie nicht, daß ich mich Ihnen wie eine Lebensanfängerin in die Arme
+stürzen werde. Nein, an Ihnen vorbei will ich mich<em> noch</em>
+tiefer,<em> noch</em> restloser meiner Kunst hingeben.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Aber sprechen wir von etwas anderem, sprechen wir von Ihrer „Rüge“.
+Ja, im Fache: „briefliche Fragen beantworten“ hat meine Zensur immer
+„mangelhaft“ lauten müssen. Ich weiß es. Zwischen uns dürfte wohl das
+tägliche Sehen als Milderungsgrund mit in Betracht zu ziehen sein. Eine
+Stunde täglich! Ist das nicht unerlaubter Reichtum? In mir wird die
+Neigung, mich in Briefen zu erschließen, besonders durch den noch
+<span class = "pagenum">18</span>
+nicht verflogenen Hauch der persönlichen Nähe des mir teuren Menschen
+gesteigert. Nun sind Sie also dieser „Teure“ für unbestimmte Zeit.
+Genügt Ihnen das? Sie Unerfahrener wissen eben nicht, wie rasch ein
+neues Erlebnis Sie von mir wegtreiben könnte. Ihrer ungelebten
+Vergangenheit traue ich nicht. Sie müssen nun doch erkannt haben: das
+Leben ist voller Verborgenheiten.<em> Ich</em> wäre ohne diese
+Verborgenheiten verschmachtet. Auch Sie werden zu lauschen beginnen,
+ohne zu wissen, worauf Sie lauschen. Der Strom, in den unser Fühlen und
+Denken gleiten kann, liegt vor uns selbst in Dunkelheit. Mit dieser
+schönen Unsicherheit &mdash; oder ist sie doch vielleicht nicht schön?
+&mdash; sollte jeder Mensch rechnen, der das beseelte Leben liebt, nicht
+nur der Künstler, dem jede Stunde neue Empfängnis aus unerforschten <ins
+class = "correction" title = "Original hat »Gründe«">Gründen</ins>
+zufluten lassen kann.</p>
+
+<p>Schon oft habe ich Sie bedauert, daß Ihre erste Liebe gerade mir
+gilt; denn unerbittlich muß ich zu Zeiten meiner künstlerischen
+Bestimmung gehorchen. (Sie ist nur<em> einer</em> der vielen Gründe, die
+Ihre Liebe zu einer unglücklichen machen muß.) Ich<em> kann</em> dann
+nicht fragen, tue ich Ihnen oder anderen Menschen, die zu mir gehören,
+wehe. Alles sonst Wesentliche scheint ausgelöscht, wenn auch ein helles
+Erinnern unbewußt durch mein Werk fließen kann. Kann! &mdash; hören Sie?
+&mdash; kann, nicht muß. Des Künstlers Reich ist wahrlich nicht von
+dieser Welt. Einer unnennbaren Gewalt hat er sich zu beugen, den
+Ueberraschungen einer elementaren Kraft sich hinzugeben, von der er
+nicht weiß, wohin sie ihn zwingen kann. Im Schaffensdrang betrügt er
+seine Nächsten. Nein, er betrügt sie nicht; denn er weiß nichts mehr von
+ihnen, sobald er sich ganz in seine Kunst verliert, sobald er sich von
+ihr willig
+<span class = "pagenum">19</span>
+und freudig umschlingen läßt. Nur während der Pausen, in denen er diesen
+Schaffensrausch für erstorben und erstickt hält, vermag er mit den
+anderen Schritt zu halten, die besser, viel besser sein können als er,
+die er lieben und bewundern mag, und von denen ihn doch sein Anderssein
+trennt, vor denen er oft geradezu auf der Flucht sein muß, wenn er<em>
+sich</em> bewahren will. Was bedeutet dagegen körperliche Hingabe? Sie
+kann die Verirrung einer Stunde sein. Wir Künstler, wir, die wir
+eigentlich nur leben, solange wir maßlos in unserem Empfinden schwelgen,
+sind die gefährlichsten Täuscher. In jedem Dunkel können für<em>
+uns</em> Funken flammen, die uns zu Lichtstegen gen Himmel werden. Daß
+diese Lichtbahnen immer wieder zu Boden sinken müssen, verringert ihre
+Schönheit nicht. &mdash; Könnten doch auch Sie, Roland, diese Lichtstege
+gewahren!</p>
+
+<p>Seit gestern nenne ich Sie im stillen nur noch: Meine Ueberraschung!
+Leicht zu deuten, nicht wahr? In jedem Ihrer letzten Briefe, in jeder
+unserer Stunden lösen Sie mit überraschender Natürlichkeit, mit
+sprunghafter Schnelle das, was Sie neulich Ihre „Gebundenheit“ nannten.
+Frei von gewollter Anempfindung wird Ihre Ausdrucksform der meinen
+seltsam ähnlich, und doch gleiten Sie überraschend leicht und mühelos in
+geistige Selbständigkeit hinein. Ohne heroisches Kämpfen stehen Sie
+plötzlich am anderen Ufer. Ich muß also anfangen, bei Ihnen schon jetzt
+mit unvorherzusehender Unerschrockenheit zu rechnen. „Meine
+Ueberraschung“ nenne ich Sie aber auch deshalb, vielleicht mit noch viel
+größerer Berechtigung, seitdem ich fühle, daß eine höchst
+unwahrscheinliche Veränderung in raschestem Tempo auch &mdash; mich
+bedroht.</p>
+
+<p class = "signature">
+Maria.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">20</span>
+<a name = "brief6" id = "brief6">
+<em>Roland an Maria.</em></a></p>
+
+
+<p>Maria, aller Frauen liebste, ich verstehe, was Sie mir zu erklären
+versuchten, verstehe es, wie wenn ich zu denen gehörte, die den Menschen
+etwas zu geben haben. Hat die Schwungkraft, mit der Sie mich behexten,
+vielleicht meinen Kopf verwirrt? Ich begriffe es, wenn diese
+unerwarteten Merkwürdigkeiten dem Bankbuchhalter Roland total die
+Besinnung raubten. Nie wieder wird er so ruhige Tage durchdämmern wie
+einst.</p>
+
+<p>Maria, welch ein Glück ist meine &mdash; Verirrung.</p>
+
+<p>Rasch muß ich Ihnen aber von einem unerklärlichen Traumspiel &mdash;
+oder Trancezustand? &mdash; berichten, den ich erlebte, nicht etwa
+erfand: In dieser letzten meiner jetzt fast stets schlaflosen Nächte
+vernahm ich plötzlich deutlich eine Stimme, die mir Worte, viele Worte
+zuraunte. Nur wie ein Raunen wars, vielleicht kam es garnicht aus
+fremder Seele &mdash; vielleicht aus der meinen. Ich schrieb unter einem
+seltsam unerklärlichen Zwange Worte nieder, in denen sich heute in
+hellem Tageslicht der Widerhall meines eigenen Gefühls offenbart.</p>
+
+<p>Erinnern Sie sich, daß ich jüngst von den eckigen Worten sprach, von
+der unvollkommenen Form für ein so gewaltiges Empfinden, wie das meinige
+für Sie? Wäre es möglich, daß ich, ohne es zu wissen, im Besitz jener
+Form gewesen bin? Ich vermag dieses Glück nicht durchzudenken; ich darf
+diese Vorstellung nicht nähren, sie wäre
+Wahnsinn&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>In Ihrem Zimmer, neben Ihnen, möchte ich Ihnen das kleine Lied
+vorlesen, von dem ich nicht weiß, ob es „etwas“ sein könnte, von dem nur
+eines gewiß ist: es entströmte der Wonne meines überseligen Herzens.</p>
+
+<p class = "signature">
+Ihr Roland.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">21</span>
+<a name = "brief7" id = "brief7">
+<em>Maria an Roland.</em></a></p>
+
+
+<p>Mein Junge, während mein Blick wieder und wieder auf das Blatt mit
+Deinen großen, steilen Buchstaben fällt, vernehme ich den Ton Deiner
+Stimme, die bebend und doch schicksalsergeben hier in meinem Zimmer noch
+jetzt zu verkünden scheint:</p>
+
+<div class = "poem">
+<p>„Wie heißer Kuß ist oft das erste Du&nbsp;&mdash;</p>
+<p>Zwei glühende, von Sehnsucht schwere Herzen,</p>
+<p>Die zitternd brennen wie geweihte Kerzen,</p>
+<p>Sie sinken taumelnd sich einander zu.</p>
+</div>
+
+<div class = "poem">
+<p>Und war doch nur ein altgewohntes Wort,</p>
+<p>Das oftmals achtlos floß von ihren Lippen,</p>
+<p>Und reißt sie nun &mdash; hin über Fels und Klippen&nbsp;&mdash;</p>
+<p>Ins unermessne Meer der Liebe fort &mdash; &mdash;“</p>
+</div>
+
+<p>Mit einem so gewaltigen Uebermaß von Glück überströmten mich Deine
+Verse, daß ich garnicht zu mir selbst zurückfinden möchte &mdash; nicht
+so rasch zurückfinden; denn, zurück muß ich ja doch, zurück.</p>
+
+<p>Dein Lied, das mich erschreckt und erschüttert hat und aufgewühlt bis
+ins tiefste Innere, täuscht noch immer den Atem Deiner Nähe vor &mdash;
+obwohl Du mich vor einer Stunde verlassen hast. &mdash; Aber sagen? Was
+könnte ich Dir über die Wirkung (welch eine lächerliche Bezeichnung)
+dieser zwei heißen Verse<em> sagen</em>?</p>
+
+<p>Roland, ich, die ich bisher stets im Fluge mein Wollen und Wünschen,
+mein Empfinden auszudrücken vermochte, habe eine Weile auf das leere
+Blatt gestarrt und nicht gewußt, was
+<span class = "pagenum">22</span>
+ich Dir schreiben könnte. Auch mich bedrückt die Armseligkeit meiner
+Worte, genau wie Dich die Deine.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Nicht nur Deine Verse erweckten in mir den Wahn, ich hätte noch nie
+einen Frühling erlebt wie diesen. Dein Glaube an mich stimmt mich jetzt
+immer feiertäglich. Du hast &mdash; verzeihe den etwas pathetischen
+Ausdruck &mdash; mein Weltbild ganz verändert.</p>
+
+<p>Offenheit ist mir zwischen Menschen, die ich<em> mein</em> nenne,
+stets so natürlich, so naturgewollt erschienen wie das Erblühen einer
+Knospe. Ich denke aber nicht an das vergröbernde „sich alles sagen“;
+nein, der Wesenszug, den ich meine, ist zarteren Ursprungs. Das von dem
+veränderten Weltbilde mußte ich Dir also berichten. Dagegen halte ich es
+für gefährlich (ich meine niederziehend) über jeden alltäglichen
+Kleinkram und Kleinkrieg miteinander zu sprechen. Dergleichen schweigt
+man tot, redet es nicht „lebendig.“</p>
+
+<p>Oft ist unser Gespräch tief in die Tage Deiner frühen Jugend
+geglitten. Deine Kindheit, die von Verkennung und seelischer
+Erniedrigung ganz erfüllt war, mußte in Deine Brust Aengste und
+Entsetzen schleudern, deren Spuren unverlöschbar sind. Meine Kindheit
+glich einer langsam aufsteigenden Morgenröte. Wieviel ich dieser Sonne
+schulde, weiß ich erst, seitdem mir so viele, ganz verschieden geartete
+Menschen von Fangarmen sprachen, die sich ihr ganzes Leben hindurch nach
+ihnen ausstreckten, oder die sich an sie krallten, und die doch nichts
+anderes waren als Hemmungen und Verängstigungen aus den Tagen ihrer
+frühen Jugend. Die schlimmsten Morde sind unsichtbar und bleiben
+straffrei.&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;</p>
+
+<span class = "pagenum">23</span>
+<p>Mein lieber Junge, schon oft erfuhr ich es an mir: jedes tiefe Lieben
+verstärkt unsere Eigenliebe. Oder weißt Du einen besseren Ausdruck für
+diese Ichsucht? Vertausendfacht ist die Bedeutung der eigenen
+Persönlichkeit vor uns selber. Was sind wir? Sind wir liebenswert?
+Anscheinend längst verlassene Kalvarienwege liegen plötzlich wieder
+grell beleuchtet neben uns, Stationen, die wir für alle Zeit verlassen
+zu haben wähnten, tauchen auf und fordern gebieterisch erneutes
+Erinnern.</p>
+
+<p>Nie bin ich mir so fremd gewesen wie in den letzten Tagen. Wohin
+entschwand das Erschrecken über ein Gefühl, das so vieles fortschwemmen
+konnte von dem, was ich bisher kühn „meine Ueberzeugung“ nannte?</p>
+
+<p>Bist Du je auf taufrischem Waldpfad dahingewandert, ganz hingenommen
+von morgendlicher Stille &mdash; und dann plötzlich kam eine schroffe
+Wegbiegung, tosender Sturm brach an und schleuderte Dir Hagelschlossen
+in die Augen? Wir wissen oft nicht, welches Schauspiel plötzlich eine
+unbekannte Gegend vor uns aufrollen könnte. Wie sollten wir auch auf der
+weiten Erde so genau Bescheid wissen? Und dennoch mögen wir in ihr
+besser auf Naturerscheinungen vorbereitet sein, als in der engbegrenzten
+Welt unseres eigenen Herzens. Wir wissen nicht, welche Summe an vorher
+ungeahntem Empfinden noch in uns schlummert, welcher Steigerung unsere
+Seele fähig ist, welchem Brausen unser Blut unterworfen sein könnte,
+wieviel unerlöste Seligkeiten unsere Brust birgt. Roland, wie
+selbstherrlich bin ich doch gewesen! Ich lächle über
+mich&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>So oft ich Deinen täglichen Brief nun in Händen halte, verflüchtigt
+sich alles irdisch Lastende. Für Augenblicke ist mein
+<span class = "pagenum">24</span>
+Zimmer in rosiges Licht getaucht, oft nur sekundenlang. Und doch
+verdanke ich diesen paar rascheren Herzensstößen eine nicht zu
+erschütternde Siegesstimmung für beschattete spätere Tagesstunden.
+Konnte ich Dir trotzdem gestern erklären, daß dieses<em> häufige</em>
+Schreiben „nicht nötig“ sei? Ich widerrufe, &mdash; ach, wie viel von
+meiner trügerischen „Abgeklärtheit“ habe ich zu widerrufen! Hoffentlich
+überzeugte ich Dich nicht gestern. Das wäre traurig. &mdash; In der
+singenden Stunde dieses Abends, im Lindenduft, der durch die
+weitgeöffneten Fenster flutet, im Weiterbeben Deines Liedes in mir,
+empfinde ich die Möglichkeit Deines Schweigens wie ein Unglück. Drei
+Tage keinen Brief von Dir zu wollen, hieße dreimal ein beseligendes
+Heute selbst ermorden. Wie konnte ich glauben, ich bedürfe nicht täglich
+von neuem der Versicherung, daß ich Dir herrliche Welten geschaffen
+habe, daß es nicht mehr derselbe Himmelsraum ist, der über Dir glänzt,
+nicht mehr dieselbe Nacht, die Dich in ihre Finsternis hüllt? Als ob man
+Liebe überhaupt begriffe! Schreiben wir uns denn, weil wir uns
+schreiben<em> wollen</em>? Schrieben wir uns denn bisher nicht, weil wir
+einander schreiben<em> mußten</em>? Sind diese Bangnisse und Erhebungen
+&mdash; Briefe? Glauben wir doch uns dieses Ueberflüssige gerade dann
+offenbaren zu müssen, nachdem wir eben einander ins Auge geschaut; und
+dünkte uns dieser Nachhall nicht gerade dann notwendig?<em> Der</em>
+Tag, an dem ich aufgehört haben werde, auf Deinen Brief zu<em>
+warten</em>, erscheint mir heute tödlich. Wäre ich in Deinem Alter, so
+glaubte ich, daß dieser Tag<em> nie</em> kommen kann. Aber, Roland,
+lieber Junge, ich bin<em> so</em> weit entfernt von Deinem Alter.<em>
+Ich</em> weiß um die raschen Todesfahrten der Liebe, weiß, daß sie
+königlich
+<span class = "pagenum">25</span>
+aufbaut und kalt niederzureißen vermag, daß sie Helden und Märtyrer
+schafft, daß sie durch Palmenhaine geleitet und in Eisesgrüfte stößt,
+weiß, daß Liebe eigentlich stets in Lebensgefahr ist. Ja, all dieses
+weiß ich und kann doch der Versuchung nicht widerstehen, die kaum
+vernehmbar mir unermüdlich in den letzten Tagen zuhaucht, daß sie wieder
+ein Recht habe, sich geltend zu machen, dasselbe Recht mich zu
+überglühen wie die Sonne. Oder sollten konventionelle Bedenken die Sonne
+verdunkeln können? Ich habe kein Talent zur Zaghaftigkeit, gar kein
+Talent zum Verarmen. Vielleicht stellte mich eine weise Fügung wieder
+einmal in einen Lebens-Brennpunkt. Man muß sich ja nicht über jede kurze
+Wonne „im klaren“ sein. Ich bange nicht mehr! Mir ist dieses
+ahnungsschwere Zittern Wirklichkeit genug; nach keiner anderen
+Wirklichkeit wird meine Liebe zu Dir je verlangen.</p>
+
+<p class = "signature">
+Maria, vielleicht doch<em> Deine</em> Maria?</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">26</span>
+<a name = "brief8" id = "brief8">
+<em>Roland an Maria.</em></a></p>
+
+
+<p>Maria, wie hat Dein Brief mich beseelt. Ich lebe nur ganz in der
+Gegenwart; in dieser Fähigkeit entdeckte ich das Geheimnis der
+Lebenskunst. Ich glaube, Cromwell war’s, welcher ausrief: „Der kommt am
+weitesten, der nicht weiß, wohin er geht.“ Die Vergangenheit ist in mir
+untergegangen, mein einstiges einförmiges Leben scheine ich nie gelebt
+zu haben. Was kümmert es mich, wohin eine Welle mich schleudern will?
+Ich weiß nur von dem einen, Dich täglich sehen, Deine Stimme täglich
+vernehmen zu müssen, ein wenig Deine Hand täglich streicheln zu dürfen.
+Frei und sicher bewege ich mich, wie nie vordem. Tiefe Hingabe an ein
+neues Lebensgefühl wandelt mir alles zu Ueberraschungen, deren
+wundersamste die ist, selbstschöpferisch die Welt zu empfinden. Auch
+dieses: „selbstschöpferisch“ ist eine Huldigung für Dich, Maria;
+vielleicht, Deiner Auffassung entsprechend, die wertvollste.<em>
+Deine</em> Lebenskraft konnte übertragbar sein wie Fieber, das Funken
+und Flammen sehen läßt, auch dort, wo nüchternere Menschen nur graue
+Asche gewahren. Solltest Du dennoch Recht haben, daß dieses Fieber
+vergehen könnte, ohne daß der Wille Gewalt darüber hat? Glaube, mein
+Wille hätte über eines mit Gewißheit Gewalt: Ueber den Tod. Ich ließe
+mir nicht die Welt entheiligen.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Willst Du anderes hören, denn nur von meinem Empfinden für Dich?
+Könntest Du dieses Gesprächs je müde werden? Maria, laß<em> das</em>
+Meer brausen, aufschäumen, toben, von dem<em> Du</em> erfahren zu haben
+glaubst, auch seine höchsten Wellen konnten
+<span class = "pagenum">27</span>
+verebben. Wie vertrugst Du in ständiger Wiederkehr solch Verarmen?<em>
+Muß</em> man denn nicht daran zu Grunde gehen?</p>
+
+<p>Du bemühtest Dich gestern, mir wieder klar zu machen, daß Du mich
+trotz allem nicht an Dich zu fesseln wünschst. Dieses Gefesseltsein ist
+nicht mehr in Deine Macht gegeben. Ob Du es willst oder nicht: ich bin
+bei Dir.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Zum Lied wird der Strom, der von Dir zu mir dringt. Verse tönten auch
+heute Nacht in mir, aber ich weiß nicht, ob es der Mühe lohnt, sie Dir
+zu senden.</p>
+
+<p class = "signature">
+Roland &mdash; nur noch<em> Dein</em> Roland.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">28</span>
+<a name = "brief9" id = "brief9">
+<em>Maria an Roland.</em></a></p>
+
+
+<p>Mein Junge, hatte ich nicht doch einen vorahnenden Geist, der mich
+fühlen ließ, Du würdest &mdash; allmählich, plötzlich, gleichgiltig wann
+und wodurch &mdash; die Welt mit den Augen des Schaffenden betrachten?
+Ich dachte damals nur an die Kraft<em> des</em> Dichtens, die sich darin
+äußert, sich die Welt nicht verstümmeln, vergällen, verbittern zu
+lassen. Ich dachte an innere Unverletzbarkeit, an Sonnenblicke, die nie
+erlöschen können. Du schliefst, bist erwacht, bist entfesselt; Dein
+Leben beginnt. Was konntest<em> Du</em> von der<em> Welt</em> verlangen,
+solange Du selbst nicht bereit warst,<em> Dich</em> ihr zu geben? Nun
+bist Du bereit, das verändert alles. Aber, daß Deine dichtende Seele
+sich immer wieder nur mir zuwendet, ist eine Gefahr für uns beide, und
+doch ist meine Kraft nicht mehr so stark, wie am Beginn, um Dich dieser
+Gefahr entreißen zu können. An Unwandelbares dachte ich ja niemals, Du
+weißt es; vielleicht aber begeht Kälte größere Sünden als Leidenschaft.
+Ich fange an, die Hoffnung aufzugeben, wir Menschen könnten dieses
+unübersehbar tiefe Gefühlsfeld je auch nur annähernd richtig
+ergründen.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Gestern sollte ich Dir erklären, wie es möglich gewesen, daß keine
+Lebensverwundung mir mein Lächeln nehmen konnte. Natur &mdash; die
+eigene &mdash; und Geschick waren meine Helfer. Mir ging es genau wie
+jener Greisin, von der ich Dir jetzt erzählen will. Sie saß träumend auf
+einem Stein an blühendem Feldwege, als ein Sonnenstrahl sie fragte:</p>
+
+<p>„Wann habe ich Dich doch zum ersten Male beobachtet? Ja, ja, ich
+erinnere mich, damals, als Dir kein Baum zu hoch
+<span class = "pagenum">29</span>
+war, hinaufzuklettern; Du warst eben in die Schule geschickt und
+konntest das Stillsitzen nicht leicht lernen.“&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>„Ja, damals,“ lächelte die Alte&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>„Und weißt Du, wann ich Dich wiedergesehen habe? Dir flogen lange
+Locken um den Nacken und Arm in Arm wandeltest Du mit „ihm“ durch
+blumige Wiesen“&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>„Ja, damals,“ wiederholte die Alte&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>„Und später sah ich Dich, als Du beseligt ein Kindchen durch Deinen
+Garten trugst &mdash; als Du wähntest, Mutterglück mache
+unverwundbar“&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>„Ja, damals.“</p>
+
+<p>„Und wieder strahlte ich Dich an, als Du Dich um eine Schar armer,
+verwahrloster Menschen bemühtest“&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>„Ja, damals,“ lächelte gütig die Greisin&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>„Und einige Jahre später sah ich Dich, da gingst Du schon nicht mehr
+ganz so aufrecht, und deutlich zeigten sich graue
+Haare“&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>„Ja, damals,“ lächelte die Alte&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>„Und dann begegnete ich Dir mehrmals auf Friedhöfen“&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>„Ja, damals,“ wiederholte versonnen die Alte&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>„Und nun scheine ich schon lange über Deinen schneeigen Scheitel, und
+längst hast Du das Tanzen verlernt, und viel hast Du zurückgeben müssen
+von dem, was Dein war an Glauben und Glück, und fast immer finde ich
+Dich allein, aber noch hast Du Licht in den Augen. Sage mir, Alte,
+worüber kannst<em> Du</em> noch lächeln? Andere, wenn sie in Deine Jahre
+gekommen sind, klagen und seufzen. Du jedoch, deren Antwort immer nur
+ein „damals, ja damals“ war, Du<em> lächelst</em> &mdash;?“</p>
+
+<p><span class = "pagenum">30</span>
+„Das wundert Dich, Strahl, der Du das Licht zu sein glaubst? Fühlst Du
+denn nicht, daß jedes „damals“ von einem Besitz &mdash; einer Wonne
+&mdash; einer Seligkeit &mdash; einem Vertrauen &mdash; einem Glauben
+&mdash; einer Stärke zeugt? Und ich sollte nicht lächeln, so oft ich
+mich sinnend wieder in all diesen Reichtum verliere? Aber nicht nur
+Erinnerung ist’s, aus der mein Lächeln geboren wird: Solange auch
+nur<em> ein</em> Wesen zu mir gehört, um das ich mich sorgen<em>
+darf</em>, solange ich zu erkennen vermag, daß Kämpfer leben, die sich
+bemühen, die Welt gesünder und die Menschen größer zu machen, solange
+kann<em> mein</em> Lächeln nicht sterben &mdash; &mdash;
+&mdash;&nbsp;“</p>
+
+<p>Roland, lieber Junge, ist diese Alte nicht meine Blutsverwandte?
+Kämpfe auch Du mit all Deines Herzens Glut und Kraft immer von neuem für
+die Menschheit, ganz besonders dann, wenn Du Dich von eigener
+Mühseligkeit und Belastung befreien willst. Die Verteilung der Güter ist
+gar nicht so ungerecht, als sie vielen bei nur oberflächlicher
+Betrachtung erscheint; denn &mdash; nur ein Beispiel: Wessen wäre die
+Schuld gewesen, &mdash; oder wie immer ich die Unterlassung nennen
+sollte &mdash; wenn Du Dich weiter mit schwacher, wesenloser Sehnsucht
+beschieden hättest?&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Komm so früh Du kannst; ich warte.</p>
+
+<p class = "signature">
+Maria.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">31</span>
+<a name = "brief10" id = "brief10">
+<em>Roland an Maria.</em></a></p>
+
+
+<p>Einzige, ich weiß nicht, ob Du auch das verstehen wirst: Mit der
+Leidenschaft für Dich ist der Glaube zusammengeschmiedet, irgend etwas
+vollbringen zu müssen. Stelle ich mir vor, wieviel Jahre ich ohne Dich
+sein konnte &mdash; ich sage nicht<em> leben</em> konnte &mdash; so
+fasse ich es allenfalls. Man kann ja auch in der Dürre ein Dasein
+fristen; toben aber möchte ich darüber, daß es mir an Denkmut gebrach,
+mir ein einziges Tor aufzustoßen. Für<em> jeden</em> ist doch<em>
+sein</em> Tor da,<em> nur</em> aufzureißen muß er es verstehen. Dieser
+Lahmheit schäme ich mich vor mir selbst am meisten. Welch ein
+Schwächling war ich! Kaum etwas wie Träume hatte ich noch zu begraben!
+Hin und wieder, ganz selten, während ich mechanisch einige Augenblicke
+auf die vielen Zahlenreihen vor mir starrte, streifte mich flüchtig die
+Vorstellung: gleichgiltig &mdash; gleichgiltig &mdash; einmal wird es
+kommen. Aber nichts tat ich, dieses „einmal“ in meinem Bewußtsein
+wenigstens zu klären.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Vergiß nicht, Maria, auch wenn ich von mir spreche, spreche ich
+eigentlich von Dir. In meiner Brust muß „es“ doch gewesen sein, weshalb
+konnte ich es nicht allein aus den Schalen schlagen, in die es sich
+verkapselt hatte? Wie konnte ich mich so gelassen in die trostlosen
+Willkürlichkeiten des Alltags finden?</p>
+
+<p>Kunst! Kunst! Mit welchem Recht weise ich die Vorstellung nicht mehr
+wie Einfältigkeit oder Wahnsinn von mir, daß sie mich an sich bannen
+will, daß ich auf meine Weise eine Sekunde lang<em> in die Zeit</em>
+einzugreifen habe? Fragen, nichts als
+<span class = "pagenum">32</span>
+Fragen, als überflüssige Fragen, deren Qualen von Seligkeiten doch nicht
+zu unterscheiden sind.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Dies alles schreibe ich Dir in seelischer Scham. Mit dem gleichen,
+nein, hundertfach verstärkten Empfinden bitte ich Dich, beigefügtes
+Gedicht als Dein Eigentum zu betrachten. Es ist wieder ganz im Gefühl
+des Triebhaften entstanden; ich selbst kann nicht beurteilen, ob es mir
+gelang, die Macht und die Echtheit der Empfindungen, aus denen es
+geboren, so zum Ausdruck zu bringen, daß es zitternd in Dir
+nachklingt.<em> Keinen anderen Ruhm könnte ich je erstreben als den,
+einen Widerschein in Deinen Blicken aufleuchten zu sehen &mdash; keinen
+sonst</em>&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Gestern, nachdem ich Dich verlassen, las ich wieder einmal Deine
+Briefe, um den Strom von Güte, menschlichem Verstehen, Reinheit und
+&mdash; tiefster Zärtlichkeit zu fühlen, der von Dir ausgeht. Von der
+Macht dieser Zärtlichkeit scheinst Du selbst nichts zu wissen, von
+dieser stillen Innigkeit, die soviel bindender ist als Du es weißt und
+&mdash; als es Dir erwünscht ist.</p>
+
+<p>Geliebteste, Du bist krank, nur wenig krank, aber ich darf Dich nicht
+sehen. Schreiben konntest Du heute auch nicht. Meines täglichen Brotes
+bin ich beraubt. Nur solange meine bisher ungesungenen Lieder sich wie
+frohe Sieger ins Leben drängen, ertrage ich die Oede der Tage. Mit dem,
+was in meinen besten Augenblicken sich in mir erhebt, kann ich nicht zu
+Dir stürmen. Aber immer sehe ich Dich dennoch, ich suche Deine Hand,
+meine Lippen neigen sich auf Deine schlanken Finger. Glaube mir, Maria,
+nie ist eine Frau schwärmerischer und doch auch mit tieferer Ehrfurcht
+geliebt worden als Du. Vergiß nun endlich,
+<span class = "pagenum">33</span>
+daß wir mit der herrschenden Gesellschaftsordnung in Konflikt geraten
+sind. Was liegt daran? Fürchtest Du plötzlich Dein Sondergepräge?
+Unmöglich: eine Natur wie Du, muß, solange sie lebt, in gewissem Grade
+unabgeschlossen bleiben. Dein Erschrecken paßt nicht zu Dir. Lasse Dich
+überzeugen. Noch in zehn Jahren, nein, in zwanzig Jahren wirst Du nicht
+vor Umwälzungen in Deinem Innern sicher sein. Was wußtest Du denn mit
+Bestimmtheit? Etwa, daß<em> ich</em> Dir eine neue Brücke für die
+Zukunft werden könnte, ich, der Unbelebtesten einer? Du süße Warnerin
+wußtest ja auch nicht aus eigener Erfahrung, daß Liebe das Rätselvollste
+ist und mit der Bedeutung oder dem Wert dessen, was der andere ist,
+nicht im Zusammenhange stehen muß.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Die beiden Tage ohne Dich haben mich zum Grübler gemacht. Solange ich
+denken kann, hat niemand dem, was ich fühlte, edle Teilnahme zugewandt;
+&mdash; vielleicht Alltags-Teilnahme, aber was bedeutet sie? Oft mehr
+Hemmung als Befruchtung. Tausendmal werde ich es Dir wiederholen müssen:
+„Da fing mein Leben an, als ich Dich liebte.“ Du allein, nur Du, Maria,
+konntest mich aus der Zufallsgemeinschaft mit den Vielen erlösen.
+Anfangs war es nur Deine mütterliche Heiligkeit, die mich zu Dir trieb.
+Noch kann ich Dir die Sekunde genau bestimmen, welche die erste leise
+Verschiebung hervorgerufen hat. Ich stand vor Dir, wie so oft bereits;
+Du sprachst anspornend, anfeuernd mit mir. Nichts hatte sich verändert.
+Da &mdash; plötzlich war’s, als sähe ich überall, wohin ich blickte,
+blühende, glühende Rosen. Eine seltsam verwirrende Beklemmung zitterte
+minutenlang in meiner Seele. An diesem Tage kam ich
+<span class = "pagenum">34</span>
+zum ersten Male nicht mehr von meiner Mutter &mdash; nicht mehr<em>
+nur</em> von meiner Mutter. Stundenlang wanderte ich nachher am Kanal
+entlang. So schön, nein, so schön war die Erde nie: alle Leute schienen
+Menschen geworden, die ihre störenden Eigenschaften abgelegt hatten. Für
+immer glaubte ich von allem Gewohnten und Gewöhnlichen befreit zu sein.
+&mdash; Ich konnte mich nicht entschließen, das hohe Mietshaus zu
+betreten, in dem ich wohne; zu weit bin ich allem entrückt gewesen, was
+zwischen Mauern sein Dasein fristen kann; ringsumher in der Luft
+schimmerte ein Schein, der den Tag kündete, obwohl ich wußte, daß noch
+viele Stunden bis zum Sonnenaufgang verrinnen mußten.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Werde ich morgen, endlich, endlich wieder das Rauschen Deines
+Gewandes vernehmen? Werde ich Deinen Blick fühlen, der tief und zärtlich
+in den meinen sinkt? Werde ich, ehe ich noch bei Dir sein darf, meine
+Lippen auf die Blätter eines Briefes pressen können?</p>
+
+<p>Maria, Sancta Maria, ich liebe Dich grenzenlos.</p>
+
+<p align = "center">
+Dein, immer, immer</p>
+
+<p class = "signature">
+Dein Roland.</p>
+
+
+<p class = "subhead">
+<a name = "brief10a" id = "brief10a">
+<em>Nachschrift:</em></a></p>
+
+<p>Das Gedicht, welches ich mit ins Kuvert lege, bewerte nicht kritisch,
+nur Dein Herz soll von seiner Echtheit ergriffen werden.</p>
+
+<div class = "poem">
+<span class = "pagenum">35</span>
+<p>Mein Weg zu Dir &mdash; wie den ich deuten soll?</p>
+<p>Von bunten Blüten ist er übervoll,</p>
+<p>Die leuchten, wo mein Fuß auch immer schreitet,</p>
+<p>Und goldner Glanz ist über sie gebreitet.</p>
+<p>Kein nüchternes und graues Häusermeer</p>
+<p>Seh ich auf meinem Wege um mich her:</p>
+<p>Umspielt ist alles rings von lichtem Schimmer&nbsp;&mdash;</p>
+<p>Die Menschen, die ich treffe, lächeln immer&nbsp;&mdash;</p>
+<p>Und lächelnd schau ich ihnen ins Gesicht:</p>
+<p>So scheinen sie verklärt vom gleichen Licht,</p>
+<p>Das wohl aus meiner trunknen Seele strahlt</p>
+<p>Und alles, alles glühend übermalt.</p>
+<p>Die letzte Straße ist von Deinem Bild</p>
+<p>So ganz durchleuchtet und so ganz erfüllt,</p>
+<p>Daß Traum und Wirklichkeit sich in mir eint:</p>
+<p>Ist es denn Wahrheit, was wie Traum mir scheint?</p>
+<p>Daß Deine Sehnsucht mir entgegenbebt,</p>
+<p>Daß Deine Seele für die meine lebt,</p>
+<p>Verschwenderisch von ihrem Reichtum schenkt,</p>
+<p>Und &mdash; ganz von Zärtlichkeit für mich
+durchtränkt&nbsp;&mdash;</p>
+<p>Mit ihrer sanften Güte mich umhaucht?</p>
+<p>Mein Weg zu Dir ist ganz in Licht getaucht.</p>
+</div>
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">36</span>
+<a name = "brief11" id = "brief11">
+<em>Maria an Roland.</em></a></p>
+
+
+<p>Geliebter, ich liebe Deine Verse, liebe Deine zarte Zärtlichkeit,
+liebe Dich, Dich, heute<em> nur</em> Dich.</p>
+
+<p><em>Ich</em> kann Dir die Stunde nicht nennen, in der ich aufhörte,
+Dir nichts sein zu wollen als eine mütterliche Freundin. War es
+vielleicht in jener Dämmerstunde, in der wir durch die blühende
+Einsamkeit meiner Wiesen gingen &mdash; die Sonne wollte gerade
+untergehen &mdash; wir hatten zu sprechen aufgehört &mdash; mein Herz
+fühlte sich unruhig &mdash; bewegt &mdash; hungrig? Oder waren es Deine
+Gedichte, bei deren Anhören es mir schien, als wehten blühende Bäume mir
+zu Häupten, deren stillgewordene Kronen sich leise im Winde von neuem zu
+regen begannen?</p>
+
+<p>Doch von Deinen Versen will ich Dir schreiben. Schon jetzt beginnen
+sie, Dir alles zu verwandeln; Hingerissenheit konnte Dich überfluten,
+der Du nicht zu wehren vermochtest. Aber das sollst Du ja auch garnicht.
+Indem Du den Gott in Dich einströmen läßt, bist Du ein Künstler; ein
+schlechter vielleicht für die Welt, für Dich selbst ein begnadeter.<em>
+Ich</em> kann nicht wissen, ob ein herrisch forderndes Talent sich
+plötzlich in Dir erhob, kann nicht wissen, wie hoch und wie weit es Dich
+tragen wird, nur<em> das</em> weiß ich: Der Kampf beginnt, dieser Kampf,
+den ich selbst in so vielen Phasen kenne: Aus glühendem Schaffensrausch,
+aus Siegesfreude wirst Du in marternde Bangnis sinken. Entsetzen vor
+eigener künstlerischer Unfähigkeit wird Dich foltern. Neues Hoffen wird
+Dich emporreißen. Traue der Helle in Dir mehr als allen inneren
+Umdüsterungen. Und wolle, wenn es Dein Los sein soll, unterzugehen,
+&mdash; tausendmal
+<span class = "pagenum">37</span>
+lieber im Kampfe um die Kunst fallen, denn im Kampfe mit dem dürren
+Leben.</p>
+
+<p>Den immer Korrekten, immer Nüchternen sind<em> wir</em> nur seltsam
+&mdash; uns erscheinen<em> sie</em> armselig;<em> wir</em> schauen
+Verborgenes, von dem<em> sie</em> nichts sehen oder nichts sehen
+wollen.<em> Wir</em> stürzen uns freiwillig in Gefahren &mdash;<em>
+sie</em> sind bedacht, sich allem ihre Ruhe Gefährdendem fern zu
+halten.&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Eine seltsame Beklemmung will mich in dieser Stunde nicht verlassen.
+Eisern muß der eigene Glaube an das Können sein, damit wir nicht vor der
+Zeit stürzen. Und Du sollst nicht stürzen, hoch hinauf sollst Du
+steigen. Bald &mdash; wir können die Spanne Zeit nicht abschätzen
+&mdash; werde<em> ich</em> Dir nur ein lichter Schattenriß sein, der
+sich vom anders getönten Firmament abhebt. Heute noch glaubst Du, ein
+Aufleuchten in meinen Augen, ein bebendes Mitdichten allein nur<em>
+meines</em> Herzens genüge Dir. Wohl könnte das einer Liebe höchste
+Staffel sein, &mdash; doch wiege Dich nicht in diesen Wahn ein. Nur zu
+bald wirst Du den grausamen Mut haben, mir zu erklären, daß Du weiter
+müssest, &mdash; &mdash; bevor Du es ahnst, werde ich Dich verloren
+haben.</p>
+
+<p>Verloren? Verzeihe das Wort. Dachte ich nicht noch vor kurzem anders
+über ein solches Weiterklimmen? War es nicht immer die stille
+Voraussetzung, mit der ich Menschen an mich zog? War das: „Weiter“
+&mdash; war der Wandel nicht der Reiz für mich in jeder Vereinigung, war
+er nicht ihr Ziel? Oder könnte es doch wahr gewesen sein, daß ich selbst
+manch eine Blüte zerriß, die ich liebevoll ins Leben gepflegt hatte?
+Bleiben oder Gehen? Welches mag über das verhältnismäßig glücklichere
+Los
+<span class = "pagenum">38</span>
+entscheiden? Wie immer, all meine „geistigen Errungenschaften“
+entgleiten mir einem Gewande ähnlich, das nur leicht auf meinen
+Schultern ruhte.</p>
+
+<p>„Momentane Wahrheiten!“ Welch eine richtige, aber &mdash; gefährliche
+Auffassung.</p>
+
+<p>Es ist wohl auch körperliche Schwäche heute, die mich Trauer
+vorausfühlen läßt, feige Trauer; denn nie war ich von dem Naturgesetz
+überzeugter als jetzt, das den Künstler der Oeffentlichkeit zutreibt wie
+die Welle dem Strande.</p>
+
+<p>Noch aber bist Du mein.<em> Mein</em> allein! Wie konnte ich das Wort
+unzählige Male aussprechen, unzählige Male schreiben, ohne seine Fülle,
+seine Gewalt, seine Schönheit tief in mich eingesogen zu haben! Mein,
+mein, heute mein, trotz alles Vergänglichen in uns und um
+uns.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>In den Tagen, die mich Dir fernhielten, waren meine Gedanken
+fessellos wie schwebende Adler, meine Empfindungen berauscht, als
+schritte ich auf blühenden Hyazinthenfeldern dahin. „Dank Dir, mein
+Gott, der Du Wunder tust,“ tönte es in mir. „Wochen, Monde, Jahre war
+ich unjung in meiner vermeintlichen Gefestigtheit. Kommt: Poesie, Natur,
+Jugend, Liebe, macht mein Leben wieder heil mit euren Zauberhänden,
+tanzt euren unsterblichen Reigen in mir, führt mich wieder ein in den
+Olymp. Du Gott der Freude und der Schmerzen, mache mit mir, was Du
+willst. Die Trauer ist gut, und der Jubel ist auch gut! Du läßt mich
+durch den Jubel gehen. Ich empfange ihn von Dir mit dankbar demütigem
+Herzen.“&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Einmal, irgendwo las ich diesen Hymnus, jetzt entsteigt er neu, wie
+aus mir geboren, in jeder Minute meinem Herzen.</p>
+
+<p>Ich erwarte Dich! Maria.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">39</span>
+<a name = "brief12" id = "brief12">
+<em>Roland an Maria.</em></a></p>
+
+
+<p>Maria, Maria, endlich kam unsere Stunde, endlich konnte ich zu Dir
+eilen, durfte Dich umfangen, durfte Deinen zitternden Kuß fühlen.</p>
+
+<p>Immer wieder zweifle ich an der Wahrheit aller Seligkeit, die ich
+erlebe. Und immer wieder verwandeln sich Glühen und Sehnen zu neuen
+Gebilden, die, herausgerissen aus meiner Brust, oder aus meinem Gehirn
+sich formen. Und immer wieder bist Du es, die mich entflammt, Du,
+nur&nbsp;Du.</p>
+
+<p>Allmählich erkenne ich die Weisheit des Schicksals, das mir lange
+vieles von dem versagte, dessen ich bedurfte. Meine geschonte, seit
+Jahren kaum angetastete Empfindungsfähigkeit schreit nun jubelnd nach
+ihrem Recht. Du hast mich in den Festsaal des Lebens geleitet. Mit
+lachenden Augen will ich Dir Liebeslieder zujauchzen; jedes Lied scheint
+mir das erste Liebeslied, das je erklang, und ist doch alt wie die
+Menschheit.</p>
+
+<p>Sollte ich mich meiner einstigen Fügsamkeit halber jetzt verachten,
+mich bemitleiden? Für beide Gefühle mangelt es mir an Zeit, denn ich<em>
+muß</em> weiter. Muß, muß, weil ich ohne die Glut meines heißen Herzens
+verstummen könnte. Sie allein läßt mich keinen Schlaf in all den langen
+Nächten finden, die mich von Dir trennen. In der heutigen blieb ich auf;
+ich schrieb Stunde für Stunde an &mdash; einem Stück. Lache nicht, Du,
+die Du mich auf einen anderen Planeten verschlagen; geliebte Heilige,
+lache nicht. Stille umfing mich, indes ein Plan sich in mir entfaltete.
+An technische Schwierigkeit dachte ich so wenig wie ein Nichtschwimmer,
+der dennoch ruhig ins Meer hineinschreitet.
+<span class = "pagenum">40</span>
+Wirst Du, aller Frauen geliebteste, einen verhöhnten Freund nicht
+verlassen?</p>
+
+<p>Hättest Du vorher gewußt, welche Geister Du in dem schweigsamen
+Menschen wachzurufen vermochtest, der fremd und hilflos wie ein Kind auf
+jenem Feste einige Minuten zufällig an Deine Seite geschoben wurde,
+hättest Du auch dann, weil Du ihn<em> fördern</em> zu müssen glaubtest,
+vor ihm Halt gemacht? Schweige, Geliebte, schweige; die vibrierende
+Glückseligkeit Deines Herzens ist Antwort genug. Gib alle<em>
+Rechtfertigung</em> auf. Komm. Steige hinan bis auf<em> die</em> Stufe,
+auf der es weder Schmerz noch Sünde gibt. Nur die Stufe hat für uns noch
+Bedeutung. Alt, zu alt,<em> Du</em> zu alt? Denkst Du dabei an die
+Vorstellungen der<em> Masse</em>, an ihre hohle Wesenheit, die sich aus
+Gedankenarmut und versteiften Vorurteilen zusammensetzt? Alle Wunder der
+Welt haben sich uns erschlossen, Maria, Du selbst der Wunder
+schönstes.</p>
+
+<p class = "signature">
+Dein Roland.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">41</span>
+<a name = "brief13" id = "brief13">
+<em>Maria an Roland.</em></a></p>
+
+
+<p>Roland, Du &mdash; Du (ich glaube, es gibt keinen innigeren Ruf für
+uns) &mdash; „und war doch nur ein altgewohntes Wort, das oftmals
+achtlos floß von ihren Lippen“&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Lange habe ich nicht mehr geträumt, heute aber sah mein Auge nach den
+Wolken; ich sah, wie die hellen Schichten ineinanderflossen, sich
+verschoben, wie sie sich in die dunklen verloren, wie sie sich wieder
+von ihnen lösten. Aber nichts mehr von „lösen“ heute, wir haben unsere
+Stunde heute schon zu viel beschattet. Nur dieses noch: Du denkst doch
+nicht etwa, ich trüge die Vorstellung von Entsagung in mir? Das wäre ein
+völliges Verkennen. Meine Handlungen werden letzten Endes von den
+Forderungen bestimmt, die in meiner<em> Natur</em> liegen. Also, sie
+sind eher das Gegenteil von Entsagung. Im Augenblick sind diese
+Forderungen vielleicht so verborgen, wie die Wurzeln eines
+Rosenbusches.</p>
+
+<p>Ich mute Dir, geliebter Junge, wohl oft schwierige Gedankensprünge
+zu? Es ist aber so herrlich, zu wissen: da lebt ein Mensch, der kann
+niemals denken: „komisch &mdash; seltsam &mdash; närrisch“ &mdash; ein
+Mensch, der Andacht auch vor deinen Unbegreiflichkeiten hat. Wir armen
+Künstler sind ja eigentlich stets gezwungen, unsere teuersten
+Besitztümer zu verleugnen. Wir sollen bequem im Umgange sein, wie andere
+„vernünftige“ Leute. Kunst aber quillt aus Unvernunft, nicht aus
+Vernunft. Ein bedeutender Künstler darf aus Rücksicht für seine Kunst
+&mdash; ich denke an ihre Vervollkommung, an ihre größtmögliche
+Steigerung &mdash; Gesetze nicht nur übertreten, er kann sogar dazu
+verpflichtet
+<span class = "pagenum">42</span>
+sein. Ueber die Berechtigung seines Handelns entscheiden dann viel
+später seine der Welt geoffenbarten Schöpfungen. Ich erwähne dies nicht
+etwa als eine mir von<em> eigenen</em> Gnaden zugebilligte höhere
+Moral.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Gestern starb in meinem Hause ein alter Mann nach langem, viel, viel
+zu langem Siechtum. „Der Tod hat mich vergessen“, seufzte er, als ich
+ihn zum letzten Male besuchte. Ich lege Dir einige Blätter ein; lies,
+welche Gedanken sein Sterben in mir erweckte.</p>
+
+
+<h5><a name = "brief13a" id = "brief13a">
+<em>Vom verkannten Tode.</em></a></h5>
+
+<p>Der Tod beschloß, sich von der Welt zu entfernen. Wenn er
+zurückschaute, so entsetzte er sich vor der Gedankenlosigkeit der
+Menschen. Ihr ewiges Schluchzen ertrug er nicht mehr, besonders seitdem
+er wußte, wie rasch das Leben Tränen trocknete. Ihre oft sinnlosen
+Wehrufe mußten seine Liebe ersticken. Nur Ungerechtigkeit hatten sie ihm
+gezeigt. Unfaßlich war ihr Undank.<em> Sie verdienten gar nicht, sterben
+zu dürfen.</em></p>
+
+<p>Schrie hin und wieder einer nach dem Tode, und er kam dann wirklich,
+änderte der Tod eines Flehenden halber seinen Weg, was geschah?
+Zähneklappernd versuchte der scheinbar Lebensmüde sich vor ihm zu
+retten. Er hatte plötzlich für die Mißhandlungen des Lebens gar kein
+Gedächtnis mehr. Gleich wieder war’s, als sei nur der<em> Tod</em> der
+Böse, der Unbarmherzige, der Lieblose, der feindlich Gesinnte.</p>
+
+<p>Nein, lange genug hatte der Tod das Verkanntsein ertragen. Niemand
+konnte<em> so</em> mißverstanden werden wie er.
+<span class = "pagenum">43</span>
+Wohlan! Mochten sie versuchen, ohne ihn fertig zu werden, mochten sie
+sich endlos am Leben quälen, diese alle, denen seine schwarzen Schleier
+immer nur Entsetzen bargen.</p>
+
+<p>„Ich wandere aus,“ entschied der Mißhandelte, hüllte sich fest in
+dunkle Nebel und &mdash; entschwand.</p>
+
+<p>Anfangs merkten die Menschen gar nicht, wie arm sie geworden waren.
+Die Alten, die geduldig &mdash; weil sie sich dem Sterben nahe wähnten
+&mdash; Krankheit und Ueberflüssigkeit ertrugen, sahen noch jedem Morgen
+erwartungsvoll entgegen. Ihre Hoffnung werde sich ja erfüllen &mdash;
+noch hatten sie Zeit. Sie wußten: Der Tod würde sie zur rechten Stunde
+holen. Aber sie erfüllte sich nicht; sie wurden achtzig, sie wurden
+neunzig, sie wurden hundert Jahre. Sie wurden ganz taub, ganz blind,
+ganz stumpf, ganz mürbe, sie wurden ganz überflüssig, sie nahmen nur
+noch Platz fort. Mit den Neuen verstanden sie sich nicht.<em> Man ertrug
+sie nur noch.</em> Man sah nach ihnen, weil sie eben doch<em> da</em>
+waren. Niemand brauchte sie. Die Zeit war lange schon über sie
+fortgerauscht. Sie hatten sich selbst überlebt. Fröstelnd rangen sie
+ihre dünnen, knochigen Finger. Tag und Nacht murmelten ihre schmalen
+Lippen: „Vergessen vom Tode &mdash; vergessen vom Tode!“</p>
+
+<p>Gleichgültig kamen die Jahre; gleichgültig gingen die Winter an den
+Alten vorüber. Kein Lenz ließ ihnen etwas erblühen; kein Sommer lachte
+ihnen. Herbst kam und Herbst ging; die Greise blieben.</p>
+
+<p>Einstmals konnten Menschen, deren Liebe zueinander gewaltig war,
+vereint auf dem Gipfel der Glückseligkeit sterben; damals, als der Tod
+noch im Lande war. Sie wurden
+<span class = "pagenum">44</span>
+nicht gezwungen, sich vom Leben plündern zu lassen. Lächelnd konnten sie
+sich, Brust an Brust geschmiegt, vor dem Weniger retten. Auch das hörte
+auf. Keiner mehr hatte Leben oder Sterben in seiner Hand. Das aber ist
+das Grauenvollste: Leben zu<em> müssen</em>.</p>
+
+<p>Menschen, die schlecht geworden, Bettler, die an ihrer Gesunkenheit
+litten, Unglückliche, die zu Verbrechern geworden, konnten sich nicht
+mehr freiwillig vom Leben lösen. Flucht aus Schande, Flucht aus
+unheilbaren Leiden, Flucht aus den Schmerzen unglücklicher Liebe, Flucht
+aus Entsetzen an mißratenen Kindern, Flucht vor Umnachtung der Gedanken
+gab es nicht mehr. Die Scharfrichter wurden ihres Amtes entsetzt; neue
+Strafen mußte der Gerichtshof ergrübeln.</p>
+
+<p>Allmählich war das Wort von der<em> Hartherzigkeit</em> des Todes
+erloschen; aber plötzlich entstand für ihn die Bezeichnung: Todesengel
+&mdash; Engel des Todes.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Ein anderes Schluchzen drang in die Welt und ein anderes Sehnen.
+Nicht der Sonne streckten sich Arme inbrünstig entgegen, sondern suchend
+dem entschwundenen Tode. Wehklagend irrten Menschen von Scholle zu
+Scholle. Inbrünstig betete man, daß er wiederkehre, der qualvoll
+Entbehrte. Allen Menschen schien es, sie hätten ihren Erlöser verloren,
+seitdem der Tod ihnen unerreichbar blieb. Sie schämten sich jener
+Geschlechter, von denen die Sage berichtete, daß sie dem Tode
+händeringend entgegengestarrt haben sollten, daß sie ihm geflucht
+hatten.</p>
+
+<p>Haß und Bitterkeit, Ueberdruß und Kälte trieben die Menschen
+auseinander.</p>
+
+<span class = "pagenum">45</span>
+<p>Eltern beklagten ihre lächelnden Kinder, denen später auch die Bürde
+eines endlosen Lebens zu tragen bestimmt war. Denn nicht in Jugendkraft
+und Fülle wurde ja den Erdbewohnern zu bleiben gewährt; nein, genau wie
+ehedem, mußten sie alles zurückgeben: Gesundheit, Hoffnung, Glauben, um
+zuletzt &mdash; körperlich und geistig vernichtet &mdash; sonnenlos in
+Nacht und Finsternis dahinzuvegetieren.</p>
+
+<p>Es konnte nur eine Fabel sein, daß einst vom<em> hartherzigen</em>
+Tode gesprochen wurde. Längst wußte man,<em> wer</em> der Gütigste, der
+Erbarmer gewesen. Hatte man früher gefordert, daß er aus Mitleid
+entweiche, jetzt forderte man, daß er aus Mitleid zurückkehre. Doch
+nein, man forderte nicht, man flehte, man bat, man opferte.</p>
+
+<p>Grauen vor dem Frühling erfüllte die Menschen, dessen Süße Leben
+spendet, dessen Atem befruchtet.</p>
+
+<p>Immer freudearmer wurde die Erde; nur Kinder lächelten. Die Gedanken
+aller Erfahrenen schienen einem einzigen Ziele zugewandt: Dem
+Wiedererscheinen, der Rückkehr des Todes. Was bedeuteten die Tränen
+jener Zeiten, da man ihn besaß, gegen die Trauer, nun man ihn verloren
+hatte? Man begriff erst, was<em> Vernichtung</em> sei, nachdem das
+Sterben aufgehört hatte.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Unauffindbar, unerreichbar blieb der Tod. Vögel flogen hin und her,
+flogen in die Weite, weil sie hofften, ihn mit ihren wundersamsten
+Weisen zu rühren.</p>
+
+<p>Dann aber vollbrachte ein Kind das Wunder.</p>
+
+<p>Obwohl die Menschen den Tod nicht sehen konnten, so hatte<em> er</em>
+sie doch keine Minute aus den Augen verloren; sie
+<span class = "pagenum">46</span>
+blieben seine schmerzliche Liebe. Und ist es nicht von jeher das
+Schicksal der Liebe gewesen, verkannt zu werden? Darf Liebe danach
+fragen? Ach, auch der Tod sehnte sich zurück nach den Menschen. Er
+konnte die Süße der Küsse, die ihn mit den vom Leben Befreiten vereinte,
+nicht vergessen, jene Küsse, von denen ja kein Lebender singen und sagen
+kann.</p>
+
+<p>Nicht den Greisen zuliebe kehrte der Tod zurück, nicht der Kranken
+halber, &mdash; der Unschuldigen wegen. Ihnen vermochte er nicht zu
+widerstehen.</p>
+
+<p>Ein armes Mädchen hatte in Schande und Verlassenheit ein Kind
+geboren. Große strahlende Augen richtete das Neugeborene erwartungsvoll
+in die Welt. Diese leuchtenden Sterne verdunkelte der Tod. Schmerzlos
+glitt das schuldlos Verurteilte in des Todes Arme. In dem Augenblick
+erhob sich ein Hymnus ohne gleichen auf der Erde: einmal noch atmeten
+Müde tief und befreit auf, dann endlich schlossen sie die glanzlosen
+Augen für immer. Liebende umschlangen sich in heißer Seligkeit.
+Kämpfende, Irrende, Kranke knieten von dem Bewußtsein überwältigt
+nieder, nicht unrettbar an das Leben geknebelt zu sein. Licht
+überleuchtete an diesem Tage die ganze Welt. Auf dem Sonnenball stand
+hochaufgerichtet eine <ins class = "correction"
+title = "Original hat »feingliedrge«">feingliedrige</ins> Gestalt. Nicht
+mehr wie einst umhüllten schwarze Schleier ihre Glieder. Umstrahlt von
+weißem Schimmer sank der Tod mitleidig wieder hernieder auf die
+Menschheit&nbsp;...</p>
+
+<p class = "signature">
+<ins class = "correction" title = "Text ungeändert">Marie</ins>,<em>
+Deine</em> Maria.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">47</span>
+<a name = "brief14" id = "brief14">
+<em>Roland an Maria.</em></a></p>
+
+
+<p>Geliebte Frau, zügele Deinen Heißsporn. (Mit wieviel Namen wirst Du
+ihn noch nennen können, wenn er sich so „weiter entwickelt?!“) Zügele
+ihn, weil er sich plötzlich für einen Beherrscher des Lebens hält, der
+gar nichts mehr von seiner einstigen Sklaverei weiß. Nein, zügele mich
+nicht. Nur, wer sich für einen Eroberer hält, kann einer werden, und ich
+habe ja noch so viel zu erobern: Dich, hundertmal zuerst Dich, meine
+Gefährtin, Du meiner Seele Köstlichstes und &mdash; auch mich; denn das
+Land meiner vielleicht unsterblichen Freuden in der Kunst (für mich
+allein unsterblichen) werde ich mir ja in unermüdlichem Werben bis zum
+letzten Atemzuge neu erobern müssen. Die Gewißheit, daß sie mir
+„anderswoher“ zuströmen könnten, suchst Du mir beharrlich zu
+erschüttern! Ja, ja, ich weiß, viele Stunden Deines Lebens waren reich,
+waren lebendig ohne mich. Aber hat Dich je so flehend, so über Worte
+hinaus der Hauch erschüttert, der über dem Begriff ruht:
+„<em>unendliche</em>“ Liebe &mdash; hörst Du,<em> unendliche</em>? Ist
+das nicht der Liebe beseligendstes Beiwort?<em> Ich</em> würde mich
+freiwillig aus der Reihe der Lebenden lösen, sobald auch ich zu einer
+„vorübergehenden Erscheinung“ in Deinem Leben geworden
+wäre.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Während ich eben wieder einmal Deinen ersten „warnenden!“ Brief las,
+schien die Vorstellung einer Trennung mich eine Sekunde hindurch
+zerreißen zu wollen, dann, (verzeih’) ja, dann habe ich gelächelt.
+Sollte Größenwahn mir drohen, seitdem ich glaube: Liebe muß immer
+Erlösung für<em> beide</em>
+<span class = "pagenum">48</span>
+der Liebenden sein, &mdash; Erlösung vom Tode irgend einer Art? Es gibt
+ja so viele Tode, an denen Menschen sterben können.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Lächelnd nennst Du mich Deine „letzte Versuchung“! Maria, Maria!
+Wiese ich Dir doch auch den Weg zu Deiner letzten Erfüllung. Hättest Du
+sie bereits erreicht, so konnte bei unserer ersten Begegnung Dein Blick
+mich nicht halten. Vielleicht lauschtest Du völlig unbewußt in die Ferne
+auf ein Lied, das auch Du vorher nie vernommen. Laß einmal das Schicksal
+gewähren, wolle es nicht immer meistern. Mache Deinen dummen Streich,
+vielleicht ist er ein glückbringender,<em> dann</em> erst kannst Du
+erfahren, was in dem Menschen Maria steckt.</p>
+
+<p><em>Unsere</em> Stunde gestern war beendet, grad’ als sie zu beginnen
+schien. Wann wirst Du mir einen Tag bescheren, einen vollen, ganzen Tag?
+Ich mag nicht immer „vornehm geartet“ sein.</p>
+
+<p class = "signature">
+Roland, nur Dein Roland.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">49</span>
+<a name = "brief15" id = "brief15">
+<em>Maria an Roland.</em></a></p>
+
+
+<p>Liebster, tagelang vergaß ich, mich zu fragen, ob die unsichtbare
+Verkettung, die uns bindet, berechtigt oder unberechtigt sei. Liegt aber
+nicht schon in dem Ausdruck „Verkettung“ ein Etwas, das über alles
+Abwägen hinausführt? Nein, ich<em> kann</em> nicht mehr an das
+Verrinnen, Verflattern von Gefühlen denken, deren Sterblichkeit
+grauenvoll wäre, auch wenn sie dem lichtesten Tode verfielen.</p>
+
+<p>Oft möchte auch ich mit Dir, Roland, in einer Sprache sprechen, wie
+sie noch nie gesprochen wurde. Dann verzweifle ich förmlich an meinem
+eigenen Unvermögen.</p>
+
+<p>Wir hätten uns gestern viel intensiver mit Deinem Stück beschäftigen
+sollen. Welch ein Glück, Dich bisher nicht von der Vorstellung gehemmt
+zu wissen, daß es schwerlich dem Schicksal der meisten Bühnenwerke
+entgehen wird, unaufgeführt zu bleiben. Ganz gewiß existiert auf Erden
+viel Schönheit, &mdash; ich denke natürlich nicht nur an Kunst &mdash;
+die nie aus ihrer Verborgenheit hinausgehoben wird, die nie ihre
+Bestimmung erfüllt, zu bereichern und zu erhöhen. Ueber wie viele
+wundersame Landschaften mag nie eines Menschen Auge gleiten! In diesem
+Augenblicke brauche ich mir nur Spitzbergen vorzustellen, wie es
+unbewohnt und also auch unbeschritten in glitzerndem Eisesfunkeln mit
+seinen unabsehbaren Flächen und Bergen in fast märchenhafter Schönheit
+vor mir lag. Uns kleine Menschen lähmt aber die Möglichkeit, unsere
+winzigen Gebilde könnten nur dazu bestimmt sein, uns selbst die Wonnen
+eines Schöpferrausches zu gewähren. Wird ein
+<span class = "pagenum">50</span>
+Baum im Urwalde nicht grünen und blühen<em> müssen</em>, schreitet auch
+nie ein Mensch an ihm vorüber? Wir Künstler dagegen sind enge, eitle
+Geschöpfe, die immer gleich an Ruhm denken<ins class = "correction"
+title = "Spatium fehlt im Original"> &mdash;</ins> an Dich, Ruhm, Du
+aller Eitelkeiten eitelste, gefährlichste.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Also Dein Stück! Ja, haben wir die Rollen getauscht, die
+Auffassungen? Ist’s nicht, als hätte<em> ich</em> den Konflikt ersonnen,
+der eine Frau, anscheinend in ruhiger Besonnenheit, auf der Höhe aller
+Seligkeit in den Tod treibt, lediglich aus Angst vor der Gewißheit eines
+allmählichen Schwindens der großen Leidenschaft zwischen sich und ihrem
+Geliebten?</p>
+
+<p>Ein Anderer bist Du geworden &mdash; ja, ein Anderer. Wie tief ein
+Anderer, wer von uns wollte es entscheiden? Du hast mein Leben in
+Verwirrung gebracht und ich das Deine. Was wird übrig bleiben oder
+entstanden sein, was geboren oder getötet, was wird sich aus dieser
+beglückenden Verwirrtheit herauskristallisieren? Nie mehr kann ich in
+die Welt zurückfinden, die ich verließ, oder aus der mich eine fremde
+Macht stieß. Ja, Du ein Anderer &mdash; ich eine Andere, die vollgesogen
+ist von vielleicht kindertörichten Vorstellungen. Ach, Du, immer leben
+wir in Vorstellungen und Vorurteilen und nennen sie unsere
+Ueberzeugungen. Die Entdeckerfreude an Menschen war sicher auch ein
+Beglückendes, aber ich hatte zu wenig von jenem Göttlichen in mir, das
+ganz im Geheimen erst die Heiligkeit der irdischen Weihen verleiht. Ich
+meine jene Weihen, ohne die man wohl auch gut und glücklich leben und
+anderer Leben steigern helfen kann, ohne die man aber nie ein Genie in
+der Lebens-Dichtkunst wird. Nur die mit der unzerstörbaren
+<span class = "pagenum">51</span>
+Kraft des Ideals „Behafteten“ haben kein Absterben vor dem Tode zu
+fürchten. Und nicht nur in der Elendswelt von Gorkis „Nachtasyl“ und
+nicht nur in Bezug auf den Glauben gilt des Wanderers Luka Antwort auf
+die Frage: „Gibt’s einen Gott?“ „Wenn Du an ihn glaubst, gibt’s einen,
+&mdash; glaubst Du nicht, dann gibt’s keinen.<em> Woran Du glaubst, das
+gibt’s eben.</em>“</p>
+
+<p>Mir scheint, ich bin ein Genie im Glauben an das Schöne in der Welt.
+Aus längst vergangenen Jahren fällt mir zufällig ein Erlebnis ein, an
+das mich der Duft Deiner beiden roten Rosen, die vor mir auf dem
+Schreibtisch stehen, erinnert. Ich lebte damals bereits in der
+Großstadt. Im Hochsommer hätte ich mein ganzes Vermögen am liebsten den
+wenig verführerischen Gestalten gegeben, deren Rufe: „Rosen! Rosen,
+sechs für zehn Pfennige!“ durch die Straßen schrillten, während sie
+neben kleinen, mit wundervollen Blüten hochbeladenen Wagen dahingingen.
+Noch in diesem Augenblick bilde ich mir ein, die einförmigen,
+gleichgiltigen Anpreisungen zu vernehmen. Immer empfand ich leises Weh,
+wenn ich sah, wie die herrlichen Blumen so empfindungslos
+zusammengerafft wurden. Leicht erfuhr ich, wo diese Rosenmassen wuchsen.
+Ich freute mich schon den ganzen Winter hindurch auf einen Ausflug in
+die nahen Rosenfelder. In allen Farben sah ich sie im Geiste wogen und
+blühen. Erwartungsvoll bin ich hinausgefahren. Schmutzige, kleine
+Banditen wiesen mir das letzte Stück des Weges. Nicht eilig genug liefen
+sie mir voraus. Bald las ich auf plump gepinselten Schildern: „Zu den
+Rosenfeldern“. Ja, Roland, da stand ich denn erschreckt vor dem
+Stückchen Erde, nach dem ich mich so
+<span class = "pagenum">52</span>
+lange gesehnt hatte. Mochte ich auch suchend Umschau halten, daran war
+nichts zu ändern, daß diese flachen, noch in ziemlicher Nähe einem
+Kartoffelfeld gleichenden Felder meiner Rosen Heimatboden waren. Gewiß,
+ich hatte einen besonders ungeeigneten Tag getroffen; der zu heftige
+Regen der vorherigen Tage mochte wohl der Felder Aussehen geschädigt
+haben. Nichts wallte und wogte. Alles war ganz niedrig gewachsen, so
+ganz anders, als ich es erwartete. Vielleicht wurde zu rasch und zu
+erbarmungslos geschnitten; sogar aller Duft war in den Augenblicken,
+welche ich inmitten der Felder verbrachte, wie fortgetrieben.</p>
+
+<p>Anderen Tags begannen sich dann die von mir mitgebrachten Knospen
+langsam zu erschließen. Zarter Duft erfüllte mein Zimmer. Ich genoß ihn
+fast wehmütig, ohne mir darüber klar zu werden, weshalb er mich so
+seltsam berührte. Und ebenso weiß ich nicht, wie es geschehen konnte,
+daß<em> die</em> Rosenfelder, die ich nur im Geiste gesehen,
+unzerstörbar geblieben sind. Ihr Bild und ihren Zauber konnte die
+wirkliche Dürftigkeit nicht verlöschen. Wie oft wird es mir im Leben
+später ähnlich ergangen sein? Allmählich habe ich wohl zu ahnen
+begonnen, daß nur denen, deren Rosenfelder nie ganz vernichtet
+werden<em> können</em>, Rosen blühen, und daß jede Liebe und jedes
+Lebens Schönheit ebenso gefährdet ist, wie einst die meiner
+Rosenfelder.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Wozu eigentlich dieser endlos lange Erguß?<em> Eine</em> glücklich
+verlebte lebendige Stunde gibt mehr als ein meisterhaft stilisierter
+„Kommentar“ zu<em> unserem</em> Denken und Fühlen.</p>
+
+<p class = "signature">
+Maria.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">53</span>
+<a name = "brief16" id = "brief16">
+<em>Roland an Maria.</em></a></p>
+
+
+<p>Einzige, ja, warum schreiben wir uns? Auch ich frage es mich, aber
+ich antworte mir sehr einfach: ich weiß es nicht. Ja, was weiß ich denn?
+Weiß ich, warum ich geboren wurde, wann ich sterben werde? Weiß ich,
+warum ich &mdash; ohne bestimmten Grund &mdash; heute glücklich bin,
+morgen aber aus unbekannter Ursache unglücklich und ganz herabgestimmt
+sein kann? Weiß ich, warum ich heute strahlenden Auges einen großen
+Dichter zu genießen vermag, und warum ich mich morgen im Tumult
+nichtssagender Alltäglichkeiten herumschlage? Weiß ich, warum ich heute
+kühn bin wie ein Held und morgen verzagt wie ein Schwächling? Weiß ich,
+warum ich heute alles einzusehen scheine und morgen gar nichts? Weswegen
+ist es nun für mich gerade nötig zu wissen, warum ein Gott uns zwingt,
+einander zu schreiben? Vielleicht lockt nur der weiße Bogen, ihn zum
+Boten für schnell schwindende Stimmungen zu nehmen, für Stimmungen, die
+in jeder Färbung fruchtbarer Boden unseres Denkens und Dichtens werden
+können. Nur ein Hauch dringt ja bis zum Anderen, denn &mdash; <ins class
+= "correction" title = "Original hat »ob-/mündlich« am Linienende">ob
+mündlich</ins> oder schriftlich &mdash; es gelingt doch nie, sich ganz
+mitzuteilen. Weder in Briefen, noch in Werken sind wir wirklich restlos
+die, die wir für den anderen sein möchten.</p>
+
+<p>Ich muß jetzt auf der Hut vor mir selber sein, weil ich merke, daß
+sich etwas wie Hang zum Spott in mir entwickelt, der mir zwar leicht
+billigen Erfolg einbringen könnte, aber nichts sonst. Nutzlos im
+höchsten Grade bleibt ja alles bloße Verneinen. Spötter finden wohl eine
+Zeitlang ihr Echo,
+<span class = "pagenum">54</span>
+da der Mensch es aus Langeweile nicht ungern hört, wie alles, selbst das
+Heiligste, verspottet werden kann. Wer selbst andachtslos ist, glaubt im
+Rechte zu sein und zu gewinnen, wenn er Erhabenes herabzieht. Aber nie
+wird der Spötter Liebe oder Verehrung finden. Selbst nicht bei denen,
+welche er unterhalten und zum Lachen gereizt hat. Die Menschheit liebt
+und achtet instinktiv meist doch nur die, welche die Menschheit geliebt
+und geachtet haben. Die besten Menschen waren immer anerkennend und
+bereit zu verehren, wenn auch nicht im Sinne von „jedermann“.</p>
+
+<p>Auf Deinen Wunsch, Maria, habe ich gestern also wieder gebummelt. Das
+Resultat: Wie trostlos langweilig wäre es, wenn man sich immer amüsieren
+müßte. Glaube mir, Du und die Arbeit, Ihr seid meine Welt. Ich sehne
+mich nach keiner „Schule der Erfahrung“, in die ich hier leicht ohne
+Voranmeldung aufgenommen werden könnte; ich brauche sie nicht. Sie kann
+mich nur stören und verwirren. Was kümmern mich andere Frauen? Du bist
+mir<em> die</em> Frau. Andere mögen jünger sein, schöner, reizvoller;
+meine glückliche Selbstversunkenheit schließt anderes Begehren aus. Jede
+Liebe trägt wohl ihr Tempo in sich; Du bist mir das Fortreißende. Du,
+die durch soviel oder so viele Leben geschritten bist, Du ermissest
+vielleicht nicht, daß gerade das Fernsein von allen brausenden und
+berauschenden Vorgängen mir Segen gebracht haben
+könnte.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Ich bemühe mich nun weiter, Menschen auf die Bühne zu stellen, die
+leben; keine Phantasiegeschöpfe. Wird meine Kraft ausreichen, mehr als
+blasse Gestalten zu schaffen? Die
+<span class = "pagenum">55</span>
+Forderung, echte Menschen zu formen, will ich mir immer als erstes
+Gesetz ins Gedächtnis rufen. Sollte ich jemals „Einer“ werden, so kann
+mein Gebiet nur das Leben der Ueberflüssigen, der Verlassenen, der
+Schwachen werden. Laß Dich nicht durch meinen Mangel an praktischer
+Erfahrung verwirren. Immer mehr treibt es mich zu denen, deren Leid sich
+den Augen entzieht, und das doch oft soviel nachhaltiger blutet als
+sichtbares Elend. Du mußt nicht immer an die Zahl meiner Jahre denken,
+nicht glauben, daß tiefstes Einfühlen in die Seelen der Enterbten,
+Gesunkenen nur der Frau eigen sei. Ueberhaupt werden männliche und
+weibliche Eigenschaften viel zu kraß getrennt. Eine Frau mit sogenannten
+nur weiblichen Tugenden, ein Mann mit Eigenschaften, die wir lediglich
+als männliche zu rühmen geneigt sind, können keinesfalls als ideale,
+vorbildliche Menschen gelten. Wenn Dir, Maria, die ganze Welt oft nichts
+anders als ein Garten Eden dünkt, so wirkst Du in dieser Unschuld
+beschämend wie ein Kind; wenn Dir die Hartherzigkeit der Gesellschaft
+die Augen feuchtet und sanfte Wehmut Dich verklärt, so bist Du ganz
+Frau, und doch, wieviele Schattierungen birgt gerade Dein
+Empfindungsvermögen, die von Männern mit Beschlag belegt worden
+sind.</p>
+
+<p>Siehst Du, so wagt Dein „Anderer“ Dich zu sezieren, so rasch ließ er
+seinen Charakter verderben. Du mußt ihn unbedingt Deine Ueberlegenheit
+fühlen lassen, damit Fülle und Ueberfluß, wie nur Du sie über ihn
+ergießest, ihn erinnern, wer<em> Du</em> bist und &mdash;
+wer&nbsp;er.</p>
+
+<p>Oft wundere ich mich, Maria, Liebste, daß man, wenn man in einem
+verzauberten Schlosse weilt, &mdash; und Du bist
+<span class = "pagenum">56</span>
+doch mein verzaubertes Schloß &mdash; noch irgend einen Gedanken neben
+der Liebe haben kann. Unzählige Male möchte ich es Dir wiederholen: Ich
+lebe nur in Dir, und eben deshalb gleichst Du dem Samenkorn, das in
+tausendfachen Farben Ungeahntes zu Blüte und Frucht in mir zu treiben
+beginnt. Ueber die allerersten Anfänge bin ich wohl schon ein wenig
+hinaus. Immer mehr packt es mich, dieses Ungeahnte, das sich beim ersten
+tiefen Blick von Dir scheu zu regen begann.</p>
+
+<p>Darf man sich im Rausch einer heiteren Zuversicht hingeben, und darf
+man dieser heiteren Zuversicht vertrauen? Plötzlich halte ich mich für
+ein Glückskind. Jedesmal, wenn ich zu Dir gehe, scheint mir die Welt
+ringsum heller und meine Liebe gewachsen.</p>
+
+<p>Ich<em> kann</em> mich nicht mehr erinnern, durch wieviele düstere
+Straßen jeder Erdgeborene zu schleichen hat, weiß nicht mehr, wie klein
+Menschenkräfte im Grunde bleiben, weiß nur von Glanz und Lebendigsein.
+Mag dies Fühlen auch nur schöne Täuschung sein, eine wachsende Seele
+braucht solchen Betrug. Nur Dich liebt</p>
+
+<p class = "signature">
+Dein Roland.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">57</span>
+<a name = "brief17" id = "brief17">
+<em>Maria an Roland.</em></a></p>
+
+
+<p>Geliebter, gestern schriebst Du von meiner Ueberlegenheit. Unsinn!
+Nenne es ruhig: „echt weiblich,“ aber &mdash; ich mag nicht überlegen
+sein. Ueberlegenheit, wie Du sie mir andichtest, scheint Wandlung
+&mdash; geistige und seelische &mdash; auszuschließen; Du aber mußt doch
+wissen, daß ich gerade in den letzten Wochen dahin gekommen bin, mich
+freudig auch Irrtümern zu unterwerfen. Daß jeder Tag bereit sein könnte,
+den vorherigen zu verneinen, übersieht unsere seltsame Kurzsichtigkeit.
+Fest liegen die Wurzeln, aber die Brandungen des Lebens bewegen
+unausgesetzt die Kronen. Aus Widersprüchen und Spannung geht Entwicklung
+hervor. Es ist schade, daß die meisten zu rasch, viel zu rasch aufhören
+nach unbegrenzten, unbestimmten, nach schimmernden Horizonten
+auszuschauen, gleichsam als wäre ihr Dasein verriegelt. Sie begnügen
+sich zu früh mit Wiederholungen, verlangen nichts als einen sicheren,
+festen Umriß ihres Lebens.</p>
+
+<p>Roland, das alles hört sich schlimmer, umstürzlerischer an, als es im
+Grunde ist. Allerdings, Menschen, die schon bei lebendigem Leibe
+„Entseelte“ sind, mögen sich entsetzen, und vom Tempo der Masse entfernt
+es. Ich halte nicht viel von allgemein gültiger Gesetzlichkeit, kaum
+wenn sie Dieben und Mördern gilt. Und ich bin froh über jeden, der den
+allgemeinen Gesetzen mißtraut; es gibt doch in uns ein Etwas, das wir
+„Ritterlichkeit des Herzens“ nennen könnten. In diese Ritterlichkeit
+sind alle ungeschriebenen Forderungen hineingeschmiedet, die ein
+Untergehen im Gemeinen und Häßlichen
+<span class = "pagenum">58</span>
+unmöglich machen. Das Schönste bleibt ja doch, daß ein Mensch<em>
+dem</em> möglichst nahekomme,<em> was er werden könnte</em> im Sinne
+einer Höherentwickelung. Um die aber zu erreichen, darf er Umwege, und
+seien sie auch Irrwege, nicht ängstlich scheuen. Ja, er hat nicht nur
+das Recht, er hat sogar die Pflicht, alles zu wagen, um zu sich selbst
+hinauf zu wachsen. Wohl legt solch Ringen Lebens- und Todesangst auf;
+denn wie großartig sich ein Mensch auch nach außen gebärde, seines
+winzigen Ichs quälende Nöte kann er vor sich selbst doch nicht
+verleugnen.</p>
+
+<p>Einst, es ist noch gar nicht lange her, nannte ein Freund mein Herz
+„weise“. Ich glaube, damals gab es ein paar Minuten, in denen ich mich
+über diesen Wahn freute. Weit, weit fort hast Du, Geliebter, diese
+meines Herzens vermeintliche Weisheit getragen; federleicht muß sie
+gewesen sein.</p>
+
+<p>Ob wohl viele Menschen so lächelnd ihrer Welt Untergang erleben, ihn
+so heiter wie ich überleben? Oder ist auch dieser Untergang nur Schein?
+Könnte auch<em> er</em> nur Station sein? Zu oft noch falle ich in den
+Kreis jener Vorstellungen zurück, von denen ich mich, seitdem ich Dich
+liebe, schon hundertmal für immer entfernt zu haben wähnte.</p>
+
+<p>Jetzt erfüllt mich oft nichts als das Verlangen, mich wie ein Kind
+schluchzend über den Schoß einer Mutter beugen zu dürfen.</p>
+
+<p>Da siehst Du, Geliebter, wie es um meine Abgeklärtheit bestellt ist.
+Wie wenig bin ich. Oder wuchs ich dennoch vielleicht durch das große
+Gefühl für Dich?</p>
+
+<p class = "signature">
+Deine Maria.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">59</span>
+<a name = "brief18" id = "brief18">
+<em>Roland an Maria.</em></a></p>
+
+
+<p>Maria, immer bin ich jetzt in einem leichten Taumel; oft, vielleicht
+zu oft von diesem Feuerlicht geblendet, das zwischen Dir und meiner
+Schaffenstrunkenheit hin und her zu flammen scheint. Immer ringe ich mit
+„Ereignissen der Seele“, die ich niemandem schildern könnte, &mdash;
+auch nicht einer Maria. Ich komme mir wie das Werkzeug vor, das
+gestalten muß, was der „unbekannte Gott“ in ihm entfachte. Und doch muß
+ich „mich selber erst los werden“, muß jene Ereignisse aus mir heraus
+geschleudert haben, um mich von all der seligen Unwirklichkeit lösen zu
+können. Aber nein, nein, verzeihe, geliebte Frau, die einzige selige
+Unwirklichkeit erlebte ich durch Dich, danke ich Dir, Du mein holdes
+Verhängnis.</p>
+
+<p>In den letzten Tagen überfiel mich sekundenlang die Vorstellung, ein
+Wirbelwind könne mich Dir, in eine andere Wirklichkeit hinein,
+entreißen. Aber &mdash; nicht wahr &mdash; ein so elementarer Orkan wäre
+auf<em> dieser</em> Erde unmöglich? Wie kann ich Dir nur solche Torheit
+beichten? Erinnere Dich, was ich war, als Du mich das erste Mal sahst!
+Schmerz und Erregung und unbestimmte, glückverheißende Erwartung trieben
+mich Dir zu, und jedesmal fliege ich mit den gleichen Empfindungen Dir
+entgegen. Du siehst, es war nicht nur „momentane Begeisterung“, deren Du
+mich anfangs beschuldigtest. Ich will Dir nie entkommen, nie. Und doch
+konnte diese zweite unvermutete Wonne sich über mich ergießen, die
+mir<em> auch</em> eine unermeßliche Fülle von Glück geschenkt hat.
+Begeisterung muß lange schon
+<span class = "pagenum">60</span>
+in mir „aufgestapelt“ gewesen sein, bevor Du kamst und mit Dir das<em>
+fröhliche</em> Sehnen.</p>
+
+<p>Nichts soll nun in meinem Leben dahinwelken, ohne Frucht getragen zu
+haben, deß sei gewiß! Ob ich je etwas tun könnte, etwas denken, was Du
+&mdash; ganz einfach sei es gesagt &mdash; nicht von mir geglaubt
+hättest?</p>
+
+<p>Verjage den einsamen Hochmut, der jetzt zuweilen wie Unkraut jäh in
+mir aufsprießt. Oder sollte auch er eine Bedeutung haben, die ich jetzt
+noch nicht ermesse?</p>
+
+<p>Meine heutige Sprunghaftigkeit bedarf der Erklärung. Ich hätte in
+meiner Arbeit fortfahren sollen, weil ich ganz in sie versunken schien;
+und doch fühlte ich mich nicht minder stark zu Dir gezwungen. Du siehst
+in meinen Versen heute das unzulängliche Ergebnis dieses Zwiespalts.</p>
+
+<p>Nie möchte ich in alltäglichem Sinne mit Dir verbunden sein; nur das
+Vollkommenste meines Wesens darf Dich berühren, immer sollst Du mir
+heilig bleiben.</p>
+
+<p>Maria, Maria, fängt das Leben schon an, mich in ein Chaos zu stürzen,
+in dem es von ewigen Widersprüchen gärt?</p>
+
+<p class = "signature">
+Roland.</p>
+
+
+
+
+<p class = "letterhead">
+<span class = "pagenum">61</span>
+<a name = "brief19" id = "brief19">
+<em>Maria an Roland.</em></a></p>
+
+
+<p>Roland, mein Junge, noch weiß ich nicht, wann ich die Briefe, die
+ich<em> nun</em> schreibe, an Dich abschicke, weiß nicht, ob diese
+Gedanken, die immer ein sinnendes Sprechen mit Dir sind, überhaupt
+Briefe zu nennen sein werden. Aber jetzt, nachdem das tägliche Schreiben
+an Dich aufhören mußte, weil mein Brief nicht mehr<em> die</em> Post für
+Dich sein kann, zwingt mich dennoch ein Etwas, Dir &mdash; fast möchte
+ich sagen „Rechenschaft“ abzulegen von all dem wundersamen
+Durcheinanderwogen der Welt in mir.</p>
+
+<p>Briefe, wie wir sie einander schrieben, verlieren in<em> dem</em>
+Augenblick ihre Daseinsberechtigung, in welchem sie nicht mehr
+klopfenden Herzens erwartet werden. In Dein Leben trat unerwartet rasch
+so viel Zeit und Sammlung heischende Wirklichkeit, &mdash; wir nennen
+das alles nun ja Dein Glück &mdash;, daß ich kaum die Empfindung bannen
+kann: „Sollte es für<em> mich</em> nicht doch schwer sein<em>
+dürfen</em>, für dieses Glück Opfer zu bringen?“.</p>
+
+<p>Während ich jetzt schreibe, lebe ich all unsere aufregenden
+Augenblicke noch einmal durch.</p>
+
+<span class = "pagenum">62</span>
+<p>Also: Hundertmal hatte man es sich wiederholt: „es ist ja ganz egal,
+ob es aufgeführt wird“, und dann &mdash; freute man sich trotz dieser
+Versicherung so unverhältnismäßig, dann benahm man sich wie ein ganz
+gewöhnlicher Mitbürger, der in der Lotterie gewann. So toll hat kaum je
+einer an meiner Klingel gerissen wie Du, so jubelnd mich nie jemand an
+sich gezogen. Wort für Wort habe ich es dann vernommen: „Haben Sie
+tatsächlich früher nie ein Stück geschrieben?“ „Sie müssen sich aber
+verpflichten, all Ihre weiteren Werke zuerst unserer Bühne
+einzureichen.“ In buntem Durcheinander hast Du berichtet und dabei meine
+Hände gestreichelt.</p>
+
+<p>War das unser schönster Abend, Roland? Nein, viele Stunden vor diesem
+waren erfüllt von Klang und Reichtum, aber jener Abend hatte einen
+besonderen Glanz. Ich dünkte mich wie eine Göttin, (gewiß ein törichter,
+ein alltäglicher Vergleich), deren Seele vor Monaten leuchtende Strahlen
+in Dich flutete, Strahlen, die nicht, wie es das Schicksal fast alles
+Strahlenden ist, erlöschen konnten, sondern aus denen Dein Schaffen
+geboren wurde.</p>
+
+<p>Auch ohne Sekt wären wir berauscht gewesen, aber wir hatten beide die
+kindliche Vorstellung, irgend etwas müsse äußerlich zur Feier mitdienen.
+Von keinen Schwierigkeiten haben wir mehr gewußt; wir gaben uns ganz
+einem Zauber hin, dem wir uns nicht zu entreißen vermochten. Auch mein
+Blut begann zu singen. In Deinen Augen brannte Liebe, nur Liebe. Wir
+wußten von keinem Theater mehr. Du erzähltest mir eine Geschichte, die
+ich kannte, und die zu hören ich nie müde wurde: die Geschichte vom
+Beginn unserer Liebe. Jeden Datums entsannst
+<span class = "pagenum">63</span>
+Du Dich, jedes erhöhenden Augenblicks. Erwartungsvoll fragte ich wie ein
+lauschendes Kind in jeder Pause: „Und
+weiter?“&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Wohin war alle Erdenschwere entflohen? Bin ich je sturmdurchwühlt
+gewesen, von Unruhe zerquält, von Zweifeln gemartert? „Da fing mein
+Leben an, als ich Dich liebte.“</p>
+
+<p>Ja, ja, so muß man das Leben behandeln: es belächeln, stolz und
+königlich ihm begegnen &mdash; sich nicht sklavisch vor ihm winden
+&mdash; nicht in törichtem Grübeln Kräfte vergeuden.</p>
+
+<p>Eine stille Mondnacht floß durch die weiten Fenster zu uns herein,
+aber wir brauchten mehr Luft. „Komm,“ sagtest Du, sonst nichts. Wir
+stiegen die Treppen hinab und wanderten auf dem silbernen Mondstreifen
+dahin, der wie ein schmaler Teppich vor unseren Füßen flimmerte.</p>
+
+<p>Konnte der Traum von dem, was das Leben nie zu gewähren scheint,
+dennoch Erfüllung geworden sein? Lautlos umfing uns der Wald. Wir hatten
+zu sprechen aufgehört. Ich vernahm nichts als den Gesang meines Herzens.
+Erst Deine Worte unterbrachen die Stille: Am folgenden Nachmittage
+würden wir uns zum ersten Male nicht sehen können. Die wenigen Stunden
+nach Schluß Deiner Bureauarbeit mußten für wichtige Besprechungen, für
+entscheidende kleine Aenderungen an Deinem Stück genützt werden; all das
+war selbstverständlich, aber etwas kann zwar selbstverständlich
+erscheinen, und doch &mdash; wehe tun. „Es ist Zeit heimzugehen,“ sagte
+ich. Meine Stimme kam mir in diesem Augenblick verändert vor. Ich
+fröstelte. Ein Landmann, der zur nahen Stadt mußte, trug seine Laterne
+in der Hand; ihr winziges Flämmchen
+<span class = "pagenum">64</span>
+schwebte uns entgegen. Sicher wollte er zum frühen Markt. Da erinnerte
+ich mich, daß das Leben weiterging. Wir sprachen wieder mit Erregtheit
+von Deinem Stück, von all den neuen Aussichten, die seine Annahme
+eröffnete.</p>
+
+
+<p class = "subhead">
+<a name = "brief19a" id = "brief19a">
+<em>Später.</em></a></p>
+
+<p>Roland, Roland! Am nächsten Sonnabend findet also schon die
+Aufführung statt! Seit Wochen gelten all unsere Gespräche diesem
+Ereignis. Wir können an nichts denken außer an Schauspieler, Proben,
+Kritik, Regie, Wirkung auf ein Publikum oder an ähnliches. Du hältst
+Dich für alle Fälle gewappnet. Mir scheint, für Niederlagen ist man nie
+genügend oder richtig gewappnet, aber trotzdem &mdash; so oft Du jetzt
+von „verblödetem Publikum“, von „nichtssagender Presse“ sprichst, steht
+Dir auch das. Oft sehe ich Dich, Du weißt es ja, nur stumm
+staunend&nbsp;an.</p>
+
+<p>In den Tiefen Deiner Seele, in Deinem großen Gefühl für mich kann
+sich nichts verändert haben, nur die stillen Pfade, auf denen wir dahin
+wandelten, sind bevölkert.</p>
+
+<p>Der Zufall oder das Glück haben Dich aber auch fast beängstigend
+rasch in die Höhe geschnellt. Zwar ist noch nichts entschieden, jedoch
+allein die Möglichkeit, einem Publikum Dein Können vorzuführen, bedeutet
+ja schon unabwägbar viel. Ein so unwahrscheinliches Zusammentreffen, wie
+Du es erlebtest, würde sicher in einem Roman belächelt werden, während
+doch die Wirklichkeit oft genug die tollsten Sprünge vollführt: ein
+bescheidener Bankbeamter, der nur Interesse an seinen Büchern zu haben
+scheint, arbeitet neben einem jungen Menschen, dessen
+<span class = "pagenum">65</span>
+Onkel Dramaturg an einem ersten Theater ist. Wie haben wir gelacht, als
+Du des Kollegen „Aufschneiderei“ erwähntest. Aber man konnte ihm ja
+„unser“ Stück anvertrauen. Wir sind gar nicht erwartungsvoll gewesen.
+Unsere fieberhafte Unruhe entsprang anderen Gründen, ganz anderen; sie
+lagen weit ab vom Theater.</p>
+
+<p>Schon nach acht Tagen kam die Einladung ins Büro der Direktion.</p>
+
+
+<p class = "subhead">
+<a name = "brief19b" id = "brief19b">
+<em>Später.</em></a></p>
+
+<p>Freitag. Noch vierundzwanzig Stunden! Roland, ich habe richtige
+Examensangst; Herzklopfen wie ein Schulmädchen. Und weshalb? Nur weil
+sich morgen der Vorhang vor Deinem Stück heben wird. Dabei wiederhole
+ich mir immer wieder: Was bedeutete es, wenn es durchfiele? Deshalb bist
+Du doch „etwas“; deshalb berechtigt Dein Talent doch zu besonderen
+Erwartungen. Du wirst nicht leicht zu entmutigen sein, auch wenn die
+Presse Dich dies erste Mal ablehnt. Wie immer die Würfel fallen,<em>
+meinen</em> Glauben hast Du nötig; denn auf wechselnde Stationen mußt Du
+Dich nun gefaßt machen: vor den ersten toten Zeiten in Deinem
+künstlerischen Schaffen wirst Du Dich entsetzen, vor gänzlichem
+Versanden zittern; Du wirst dann nicht hoffen, daß sich je wieder in Dir
+etwas regen könne. Mehr als je wirst Du mich brauchen, meine Erfahrung,
+meinen nie zu erschütternden Glauben. Das ist ja noch kein Glaube, der
+nicht<em> immer</em> über einem Schaffenden schimmert, wie ein ewiges
+Licht, welches nie verlöschen darf.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<span class = "pagenum">66</span>
+<p>In diesem plötzlichen Aufstieg liegen sicher Gefahren, wenn auch ganz
+andere wie in stets vergeblichen Versuchen. Nennen sie Dich nach der
+ersten Aufführung „eine Hoffnung“, so wirst Du beim zweiten Stück diese
+Hoffnung „nicht erfüllt“ haben. Hob Dich Dein erster Schritt in die
+Oeffentlichkeit gleich auf eine ansehnliche Höhe, so verzeichnet man
+beim folgenden sicher „keinen Fortschritt“.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Auch heute können wir uns nicht sehen; morgen nur in der Unruhe vor
+der Aufführung. Eigentlich bist Du, mein Junge, mir halb verloren; der,
+welcher mich nun liebt, ist zwar<em> jener</em> Roland, den ich ahnte,
+aber ich bin nicht mehr<em> allein</em> für ihn die Welt, in der er
+lebt.</p>
+
+<p>Um die Stunden bis zum morgigen Abend schneller hinzubringen &mdash;
+ich selbst bin nicht imstande, ruhig zu arbeiten &mdash; habe ich
+gestern einen alten Freund zu mir gebeten, von dem mich die Erlebnisse
+der letzten Monate entfernten, ohne uns trennen zu können. Daß ich Dich,
+Geliebter, allen bisher „unterschlagen“ habe, gewährt mir nun ein
+besonders fröhliches Empfinden. Ich fürchtete sicher keine Gefahr Deiner
+Gefühle für mich. Nur allein die Vorstellung, jemanden, der in mein
+Leben einzugreifen beginnt, von kritischen Blicken gemessen zu wissen,
+erscheint mir immer &mdash; so überspannt es auch klingen mag &mdash;
+wie Lästerung. Ich mag meine Freunde nicht „zur Diskussion gestellt“
+wissen. Immer<em> wundern</em> sich ja doch die Anderen; für die meisten
+ist das Unsichtbare, das Menschen zusammentreiben kann, nicht vorhanden;
+in unwägbare Werte versenken sie sich nicht. Und nun gar in einem so
+schwierigen Fall, wie dem zwischen einer älteren Frau und
+<span class = "pagenum">67</span>
+einem jungen, viel zu jungen Menschen. Kopfschüttelnd würde „man“
+festgestellt haben: „Unbegreiflich! Wer hätte das erwartet?
+Ueberraschendes konnte man ihr wohl zutrauen, aber daß sie so
+kurzsichtig sein könne, so befangen, so blind? Was ist denn der Mensch?
+Was kann er? Wie alt schätzen Sie ihn? Liebe muß da doch völlig
+ausgeschlossen sein.“</p>
+
+<p>Ja, ausgeschlossen, Roland! Habe ich selbst das nicht gemeint; war
+ich nicht auch dessen sicher?</p>
+
+
+<p class = "subhead">
+<a name = "brief19c" id = "brief19c">
+<em>Am Sonnabend Nachmittag.</em></a></p>
+
+<p>Wir sind zusammen auf der Generalprobe gewesen. Ein Schauspieler
+hielt mich für Deine Mutter. Ich erschrak; an<em> die</em> Möglichkeit
+habe ich nie gedacht. Aber niemals werde ich eine andere Jugend
+festhalten wollen, als die des Geistes &mdash; die soll ewig währen. Mit
+Farbe und Schminktopf erreicht eine Frau selten mehr als<em> sich
+selbst</em> möglichst lange äußere Jugendlichkeit vorzutäuschen, es sei
+denn, sie habe sich durch fast ausschließliche Vertiefung in<em>
+dieser</em> Art der Malerei Meisterschaft erworben. Jene Anrede wirkte
+im Augenblick, besonders durch Deine Gegenwart, sehr quälend. Wäre nur
+Eitelkeit die Ursache des Peinigenden, so hielte ich mich für ein
+Gänschen in landläufigem Sinne, und ich selbst wüßte jenes reißende
+Wehgefühl nicht in Einklang mit dem Grundton meines Wesens zu bringen.
+Doch die Minute, in der das: „ich freue mich, &mdash; Ihre Frau Mutter“
+&mdash; vernehmbar war, genügte, um die Frage in mir wieder
+aufzuschrecken, ob ich<em> mehr</em> als ein
+<span class = "pagenum">68</span>
+kurzes, starkes Erlebnis in Deinem Leben sein darf? Monatelang hat diese
+Frage fast geschlafen. Ich wähnte uns über trennende Sitten, über
+Einflußmöglichkeiten, deren Wirkungen auch die tiefste Liebe nicht aus
+der Welt bannt, erhaben.</p>
+
+<p>Heute zeigte mir die Wirklichkeit kraß ihr Angesicht. Seltsam, daß
+wir uns solange einbilden, nichts nach dem Urteil der Welt zu fragen,
+bis irgend ein Ungefähr uns jäh das Gegenteil beweist. Ein Unterschied
+bleibt zwar: Ich brauche Minuten, mich wieder zurecht zu finden, während
+viele sich Wochen oder Monate von einem Angriff oder Ueberfall vergällen
+lassen.</p>
+
+<p>Wie konnte ich nur vollständig vergessen, daß die still wandelnde
+Zeit sich immer &mdash; ich denke im Augenblick nur an äußerliche
+Veränderungen &mdash; gebieterisch geltend machen<em> muß</em>. An
+andere Gefährdungen will ich jetzt nicht denken. Die beseligende
+Uebereinstimmung in uns kann nicht erschüttert werden. Und heute dulde
+ich in mir am wenigsten trübe Gedanken.</p>
+
+<p>Wie lange ist es denn her, daß ich Dich fand; ich meine, daß ich Dich
+zwischen den Vielen schweigend und ungelenk stehen sah? Damals bildete
+ich mir ein, in Deinen Augen etwas zu entdecken, das mehr verriet, als
+Deine scheue Haltung vermuten ließ. Traurigkeit beschattete Dich, die
+gar nicht in Einklang mit Deiner blühenden Jugend zu bringen war. Deine
+schlanke, nervige Gestalt überragte die Meisten, und doch erschienst Du
+keinem beachtenswert; nur mir strömte ein schwaches Fluidum entgegen,
+schwach und doch stark genug, mich zu Dir zu ziehen. Plötzlich stand ich
+neben Dir, sprach einige gleichgültige Worte und freute mich, daß nichts
+in Deiner Stimme
+<span class = "pagenum">69</span>
+war, was mich störte. Sogleich empfand ich, Du hattest Dich nicht in
+meine Nähe gewagt, und es wäre mir doch viel sympathischer gewesen, von
+Dir weniger „hochgestellt“ zu werden.</p>
+
+<p>Noch war der Druck besonders schwerer Stunden, die ich gerade
+durchkämpft hatte, nicht von mir gewichen, und doch konnte mich schon
+seltsam freudig der Wunsch ergreifen, mit Dir, dem Fremden, allein unter
+einer Kirchenwölbung zu stehen oder in Waldeseinsamkeit auf kühlen,
+blütenreichen Wegen dahinzuschreiten. Seit Jahren kaum noch empfundene
+Verlegenheit ergriff mich. Ich belächelte mich, aber &mdash; ich ging
+nicht weiter zu anderen Freunden. „Besuchen Sie mich,“ sagte ich
+gelassen und sorglos.</p>
+
+<p>In der Sekunde warst Du, Roland, mir ein Ziel geworden, &mdash;
+wieder einmal zwang es mich, Menschenbildner werden zu wollen. Mit
+welchem Ergebnis?</p>
+
+<p>Nimmer konnte ich diese seelischen Wandlungen, diese Beschleunigung
+unserer Pulse, all diese göttliche Schönheit
+voraussehen.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>&mdash; Ich werde nun doch heute „unser“ Kleid anlegen, in dessen
+schimmerndem Samt ich Dir an jenem ersten Abend begegnet bin. Deine zwei
+Nelken durchhauchen mein Zimmer. Du hast wie ein erfahrener Ritter
+gewählt; ihre rosig überhauchte Blässe eint sich herrlich der
+Fliederfarbe meines Gewandes. Deine Verse aber, die eben mit den Blumen
+abgegeben wurden, werde ich in dieser zerfahrenen Erregtheit nicht
+lesen; sie sollen mich heute Nacht empfangen.</p>
+
+
+<span class = "pagenum">70</span>
+
+<p class = "subhead">
+<a name = "brief19d" id = "brief19d">
+<em>Nachts.</em></a></p>
+
+<p>Der Morgen steigt herauf, aber ich <ins class = "correction" title =
+"Text ungeändert: Fehler für »versuche«?">versuchte</ins> nicht mehr,
+mich niederzulegen. Wieder und wieder schaue ich auf Deine Verse; wieder
+und wieder beglückt &mdash; erschüttert &mdash; beunruhigt mich Dein
+Lied. Lausche in Dich hinein, Roland. Ist es nicht vielleicht schon aus
+dem Glück einer<em> neuen</em> Erwartung geboren?</p>
+
+<p>Vor einer Stunde begleitetest Du mich nach Hause; im Kreise Deiner
+Mitarbeiter haben wir das Ereignis mitfeiern müssen. Wird die Presse uns
+auch erst morgen sagen, worin der Autor sich vergriffen hat, was von ihm
+in Zukunft zu erwarten, in welcher Rubrik er zu bringen ist, selbst die
+ungünstigste Besprechung kann nicht die Tatsache einer starken Teilnahme
+der Hörer aus der Welt schaffen.</p>
+
+<p>Auf ein so atemloses Mitempfinden des Publikums habe ich nicht
+gerechnet. Ist ja immer noch die Loslösung einer Frau von sittlich
+„feststehenden“ Grundsätzen nicht gerade ein anziehendes Thema. Hätte
+ich auch nichts auf Dich übertragen als den Mut, Dich von all jenem
+Ballast zu befreien, der am schwersten auf werdenden Menschen lastet, so
+bliebest Du<em> doch</em> mein Erbe. Ich habe sicher nur den Zündstoff
+zwischen gegebenen Zuständen und notwendigem Revoltieren gelegt. Du
+warst eben viel reicher als Du ahntest. Dir, wie so vielen, drohte ein
+Steckenbleiben, fern Deiner vorbestimmten Entwicklungsbahn. Menschen,
+die sich der Berechtigung ihrer angeborenen Eigenart früh bewußt werden,
+sind ja so selten. Nie habe<em> ich</em> mich planvoll durch Hindernisse
+winden müssen; nicht etwa, weil keine Hindernisse vor meinen Füßen
+lagen,
+<span class = "pagenum">71</span>
+sondern nur weil mein Blick ausreichte, das Wesentliche meines Ichs zu
+erkennen, und in mir Kraft genug war, dieses Wesentliche zu entwickeln,
+ohne in egoistische Kälte hineinzugleiten. Der Meisten tastendes Suchen
+beirrt immer wieder geheime Verzweiflung. Sie wollen vorher mit
+zuverlässiger Sicherheit wissen, wann sie fehl gehen könnten, und wann
+es ihr gutes Recht ist, auf eigne Art „Mensch“ zu werden. Ohne
+Verletzungen möchten sie hinaus und hinauf. Krisen erschrecken sie.</p>
+
+<p>Für alle Zeit trägst Du nun ein starkes Lebensempfinden in Dir, und
+wie immer Deine äußere Bahn sich gestalte, nie wirst Du in Deinem Werke
+und in Deinem Wesen die Schönheit des großen Fühlens verleugnen.</p>
+
+<p>Ich muß mich nun doch endlich niederlegen und zu schlafen versuchen,
+die Nerven könnten rebellieren.</p>
+
+
+<p class = "subhead">
+<a name = "brief19e" id = "brief19e">
+<em>Vier Wochen später.</em></a></p>
+
+<p>Meine Gedanken beginnen ins Leben zurück zu wandern
+&mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Wohl weiß ich: Zur Erkenntnis gehört ein bestimmter Abstand. Ist man
+seinen Erlebnissen noch zu nahe, so überwiegt das Einzelne so sehr, daß
+das Ganze nicht zu überschauen ist. Die Tragweite und der wahre Gehalt
+eigener Freude und eigener Leiden sind &mdash; besonders in
+unmittelbarer Nähe &mdash; nicht richtig einzuschätzen. Gewiß, gewiß,
+nie sind wir dem Irrtum mehr ausgesetzt, als in Augenblicken, in denen
+wir eine neue Erfahrung erleben. Habe ich denn aber in den
+<span class = "pagenum">72</span>
+letzten Wochen eine neue Erfahrung erlebt? Wohl kaum. Doch wie immer es
+sei, Roland, es gibt Entschlüsse, die im Zustande der Exstase gefaßt
+werden müssen, sonst faßt man sie nie.&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Seit acht Tagen bist Du wichtiger Besprechungen halber abwesend; ich
+habe Ruhe gehabt, unbeirrt von Deinem Blick, von Deiner Nähe über die
+reiche Festzeit nachzudenken, die wir miteinander Monate hindurch
+erleben durften.</p>
+
+<p>Jeden unserer Briefe las ich gestern nochmals durch; Dein
+Schreibtisch ist ja längst für mich geöffnet. Scheu berührte ich jedes
+Blatt. Während dann meine Blicke über die Seiten dahinglitten &mdash;
+hier auf dem Platze, auf dem Du so oft meine Hand streicheltest &mdash;
+in diesem Zimmer, das Du infolge der für Dich nun umgewandelten Welt
+seltener und oft nur flüchtig während der letzten Zeit betratest,
+erstarkte in mir die Vorstellung (könnte ich vielleicht auch sagen
+&mdash; der Wahn?) uns vor der Tragödie der Entzauberung retten zu
+müssen.</p>
+
+<p>Ich weiß nicht, wann dieser Gedanke zuerst Besitz von mir zu
+ergreifen versuchte. Vielleicht bildete ich mir nur ein, Deine große
+Liebe habe all meine einstigen Theorien gänzlich umzuwerfen vermocht,
+vielleicht sind sie nie aus meinem Unterbewußtsein gewichen, vielleicht
+überbrauste sie nur der sich steigernde Glaube an die Möglichkeit eines
+Besitzes, welcher ein Leben<em> ganz</em> auszufüllen vermag. Ich
+vergaß, daß es keinen Besitz gibt, dessen wir<em> mächtig</em> sind. Nun
+ist’s mir wieder eingefallen, ohne Bitterkeit, ohne Erschrecken, ohne
+die Absicht, irgend jemanden zur Rechenschaft dafür ziehen zu wollen. Am
+wenigsten Dich, geliebter Junge.</p>
+
+<span class = "pagenum">73</span>
+<p>Nichts ist jetzt notwendig als ein festes Herz. Seltsam, welche Fülle
+von Forderungen wir gerade an diesen kleinen Muskel stellen, den wir
+unser Herz nennen. Größe soll ihm eigen sein, Treue, Weisheit, Stärke,
+Heiterkeit, Güte, Sanftmut; alles &mdash; je nach Bedarf.</p>
+
+<p>An mir ist es, unser großes Gefühl vor dem Prozeß des Alterns zu
+retten. Solche Rettung kann nicht teuer genug bezahlt werden.</p>
+
+<p>Noch umflutet uns ein Meer von Liebe, dessen Verfließen Dir unmöglich
+dünkt, aber Verhältnisse können nicht ausbleiben, die uns quälen<em>
+müssen</em>. Ich will Dich nie in Konflikte treiben. Heute noch bist Du
+fest davon überzeugt, daß Du nur<em> einmal so lieben</em> kannst, wie
+Du mich liebst; aber<em> anders wirst Du lieben können, anders</em>.
+Deine Kunst wird dazu beitragen, daß Dich dieses „<em>anders</em>“
+rascher überfällt, als Du es für möglich hältst.</p>
+
+<p>Sollte<em> ich</em> Dich nun für ewig beanspruchen, Dir immer fest
+zur Seite bleiben wollen, weil ich die erste Frau bin, die in Dein Leben
+eingriff, weil Dein Talent der Liebe zu mir entstieg?</p>
+
+<p>Glaube nicht, Roland, ich gehe, weil ich Dir entsagen will. Nein, ich
+gehe, ehe die gesteigerte Seelenatmosphäre, die ein wundersames Gefühl
+uns bescherte, und die jedes Denken an einander in jauchzendes Singen
+wandelte, von Mißklängen zerrissen sein könnte. Ich gehe, weil es<em>
+der</em> Aufstieg ist, der uns für immer einen kann.</p>
+
+<p>Kein Schatten soll je das helle Licht zwischen uns trüben, nie soll
+des Werktags Gewalt unser Gefühl für einander gefährden;
+<span class = "pagenum">74</span>
+nie sollen der Gewohnheit graue Schleier zwischen uns wehen.</p>
+
+<p>„Wen die Götter lieben, den lassen sie jung sterben.“ Ist es nicht
+das Gleiche, wenn Liebe nicht erst der Gewalttätigkeit und der Not des
+Alterns ausgesetzt wird? Denn auch Liebe altert und ist meist derselben
+Verarmung untertan, wie körperliches Verblühen; nur Auserwählten,
+Seltenen mag ein anderes Schicksal bestimmt sein. Ich fürchte das
+Erwachen aus dem Zustande des Verzaubertseins.</p>
+
+
+<p class = "subhead">
+<a name = "brief19f" id = "brief19f">
+<em>Später.</em></a></p>
+
+<p><em>Heute</em> sehe ich in meinem Verschwinden eine zwingende
+Notwendigkeit, aber nicht immer werde ich fähig sein, mir diesen
+Schwerthieb zu deuten.<em> Heute</em> fühle ich trotz Qual und
+Entsetzen, daß er nur<em> das</em> durchschneidet, was sterblich
+zwischen uns ist, daß er die unzerreißbaren Zusammenhänge nicht treffen
+kann.<em> Heute</em> glaube ich hellsehend zu sein; schon in einer Woche
+könnte ich mich betrügen und all dieses für einen Anfall von Schwermut
+halten, der<em> glücklich</em> überwunden ist. Nein, schnell muß ich
+handeln, auch wenn ich inmitten meiner raschen Reisevorbereitungen
+wieder und wieder plötzlich nur an „zerstörende Sinnlosigkeit“
+denke.</p>
+
+<p>Roland, Geliebter, nie sollst Du genötigt werden, vor mir eine Maske
+anzulegen.</p>
+
+<p>Noch kannst Du nicht wissen, ob nicht auch Du zu den<em> ewig
+Wandernden</em> gehörst. Die Schwelle in das Land, das besonders reich
+an romantischen Täuschungen ist, überschrittest
+<span class = "pagenum">75</span>
+Du ja erst jetzt. Sonnigen Träumern gewährt es am liebsten Obdach. Und
+freien.</p>
+
+<p>Wir werden beide auf bewegten Meeren bleiben, aber wir werden
+erstarken, wenn unser Fühlen, unser Geist nicht mehr wie überfeine
+Instrumente durch den leisesten Seelenhauch des Geliebten in Schwingung
+geraten. Suche Dir allein jetzt ein Königtum, das von ewiger Dauer ist.
+Kein rasches Entblättern bedrohe die Blumen, die in ihm erblühen. Es
+muß<em> erfüllt</em> sein von einer Qual, einer Liebe, einer Sehnsucht,
+die<em> mehr</em> verlangen als einen Menschen. In<em> diese</em>
+Qual,<em> diese</em> Liebe,<em> diese</em> Sehnsucht werde<em> ich</em>
+heimkehren.</p>
+
+<p>Ich kann mein Ich nicht ersticken lassen, muß ursprünglich und
+aufrichtig bleiben, muß auf<em> meine</em> Weise an unserer Vollendung
+&mdash; die ja doch nur Stückwerk bleibt &mdash; arbeiten, muß uns vor
+Anklagen und Beschuldigungen bewahren.</p>
+
+<p>Aber all diese flüchtig und in wirrem Durcheinander
+niedergeschriebenen Worte werden Dich nicht überzeugen. Doch das gehörte
+ja zu dem Schönsten zwischen uns, daß Du meine Beweggründe stets
+achtetest, auch wenn sie nicht im Einklang mit Deinem Empfinden standen.
+Vor Dir habe ich nie nötig, mich zu<em> verteidigen</em>; welch eine
+herrliche Gewißheit! Anfangs wirst Du zu verzweifeln glauben, wirst
+grausam leiden, aber Du wirst nicht zu ermitteln versuchen, ob Du mich
+in Christiania oder in Athen finden könntest. Ach, daß man sich im Leben
+immer, wenn auch in friedlicher Form, zu<em> verteidigen</em> hat!
+Unsere Ideale &mdash; gleichgültig, ob wir uns öffentlich zu ihnen
+bekennen oder nicht &mdash; bilden genau einen Teil unseres Selbst, wie
+äußerliche Vorzüge oder Fehler. Sie ewig zu entschuldigen,
+<span class = "pagenum">76</span>
+ist das Gleiche, als wolle man sich wegen der Farbe seiner Haare, oder
+wegen der Kleinheit oder Länge seiner Gestalt verteidigen.</p>
+
+<p>Gebe ich Dich jetzt<em> freiwillig</em> her, so kannst Du mir nie
+genommen werden. Laß Dich nicht von täuschenden Ueberlieferungen
+beirren; klammere Dich nicht an Ausnahmen, an Beziehungen, die nie
+verstümmelt wurden. Wir haben unser „glückliches Jahr“ gelebt. Laß uns
+unsere Liebe unverwundbar gestalten, laß uns zum<em> höheren</em> Glück
+emporklimmen. Am Firmament bleiben Dir strahlende Lichtfunken. Sehnsucht
+ist Glanz auch in sternenlosen Nächten.</p>
+
+<p>Oder sollte all dies dennoch Phantasterei sein? Selbstmord?
+Uebertreibe ich? Irre ich in der Voraussetzung, daß durch meine
+Selbstbesinnung Sterbliches in Unsterbliches gewandelt wird? Kann diese
+Flucht, an der wir beide jetzt gleich schwer zu tragen haben, nicht
+allmählich zum Quell werden, dem die großen Dichter entsteigen? Ich
+träume Dich groß; mein<em> Gehen</em> wird diesen Traum leichter der
+Wirklichkeit nahe bringen, als mein<em> Bleiben</em>. Ich aber habe mich
+zu mir selbst zurückzuwenden.</p>
+
+<p>Vielleicht denke ich dennoch zu wenig an Dein Entsetzen, an Dein
+Erschrecken. Junge, liebster Junge, begreife doch, daß es schöner ist,
+an unserem Sehnen zu leiden, als den Tag abzuwarten, an dem das Dunkel
+durch enge Fenster zu uns hereinfallen will.</p>
+
+<p>Heute noch flutet Licht durch weite Portale an uns heran. Ich kann,
+ich kann Dich nicht durch das <ins class = "correction" title =
+"Original hat »Vrlangen«">Verlangen</ins> beschweren, unseren
+leuchtenden Stunden eine Alltagsfortsetzung geben zu
+<span class = "pagenum">77</span>
+sollen. Wohl kenne ich genau die Antworten, die ich erhielte, erbäte ich
+jemandes Rat: Von Ueberspanntheit wäre die Rede, &mdash; vom einzigen
+Glück im festen Besitz &mdash; vom Prüfstein eines starken Gefühls
+&mdash; von nicht minder schönen, wenn auch gewandelten Gefühlen &mdash;
+von Bündnissen, die die Zeit nur noch unlöslicher schmiedete. Aber
+Roland, wie alt bist Du? Wie alt ich? Weshalb denn mehr? Mehr würde zum
+Weniger. Zu oft sah ich Menschen, die sich hemmend aneinander fürs Leben
+gekettet hatten. Vielleicht ist dennoch meines Handelns Ursprung tief
+verwurzelt mit meinem Künstlertum. Verzweiflung und Verheißung scheinen
+mir zusammengeschweißt.</p>
+
+
+<p class = "subhead">
+<a name = "brief19g" id = "brief19g">
+<em>Später.</em></a></p>
+
+<p>Selbst in diesen Tagen gibt es Augenblicke, in denen ich gar kein Weh
+in mir fühle. Und doch, während mir heute der Diener verschiedene
+Fahrpläne zur Durchsicht reichte, schreckte ich zusammen, als setzte der
+Schlag meines Herzens aus; mir wurde schwindlig, ich konnte nur stehen
+bleiben, solange ich mich an irgend einem Gegenstande im Zimmer
+festhielt.</p>
+
+<p>Merkwürdig, wie entgegengesetzte Vorstellungen zur selben Minute an
+mir reißen, während ich mich doch am beharrlichsten des letzten
+Zusammenseins mit Dir erinnere, Deiner<em> flüchtigen</em> Innigkeit,
+als Du zur Bahn stürmtest. Könnte dieses Fortstürmen nicht symbolisch
+für Deine nächste Zukunft gewesen sein?</p>
+
+<p>Soeben Dein Telegramm, das mir die dortigen Erlebnisse meldet und die
+Verzögerung Deiner Rückkehr.</p>
+
+
+<span class = "pagenum">78</span>
+<p class = "subhead">
+<a name = "brief19h" id = "brief19h">
+<em>Später.</em></a></p>
+
+<p>Oft hört man, daß Menschen, die beabsichtigen, sich das Leben zu
+nehmen, in unerklärlicher Ruhe und Besonnenheit alles für die Tat
+vorbereiten. Jetzt begreife ich auch sie. Nachdem mein Entschluß gefaßt
+war, konnte ich in seltsamer Ueberlegung ordnen, was geordnet sein
+mußte.</p>
+
+<p>Ich handle aus Naturnotwendigkeit, aus dem, was meiner Natur
+notwendig erscheint. Ob falsch, ob richtig, kann nicht mehr das
+Entscheidende sein; nicht ob ich göttlichen oder menschlichen Gesetzen
+in mir folge. Ich habe aufgehört, das enträtseln zu wollen.</p>
+
+<p>Während ich dies Letzte schreibe, bin ich schon weit fort; ich
+kritzle im Zuge, der mich eilend und rollend immer mehr von Dir
+entfernt.</p>
+
+<p>Liebe, Begeisterung und Leidenschaft für Vieles, was der nur „gesunde
+Verstand“ verspottet, werden mein Leben immer zu einem reichen machen.
+Freudigkeit und Festigkeit können mich nie für immer verlassen. So nehme
+ich, trotz allem, fast heiter dieses &mdash; soll ich es Martyrium
+nennen? &mdash; auf mich. Ich kann auch nicht sagen: Verzeihe. Etwas
+eigentümlich Doppeltes ist in jedem Leben, in dem des Künstlers in
+verstärktem Grade. Tausend melodische Ueberraschungen werden Deinem
+Schmerz entsteigen. Gib Dich ganz jenen berauschenden
+Schöpferaugenblicken hin, deren Seligkeiten Du ja bereits erfahren; aus
+diesem Eden kannst<em> Du</em> nie vertrieben werden.</p>
+
+<p>Bedenke ich, wie das alles anfing, wie alles zusammen- und
+auseinandertrieb, die Wandlungen und Handlungen, die in
+<span class = "pagenum">79</span>
+den wenigen Monaten liegen, so ergreift mich etwas wie Andacht vor den
+im Dunkel verborgenen Wurzeln des Lebens. Vermissen, Verlangen, welche
+Früchte mögen sie Dir tragen?</p>
+
+<p>Ich brachte alles über Dich in Fülle, auch jetzt das Harte, aber nun
+nennt Dich die Welt &mdash; einen Dichter.</p>
+
+<p>Es schmerzt Dich vielleicht, und Du begreifst es kaum, Geliebter, daß
+ich in diesen Augenblicken fähig bin, überhaupt zu schreiben. Doch sieh,
+immer erscheint mir eine Eisenbahnfahrt wie ein Zwischenspiel, wie ein
+Akt, der trotz seiner Tatsächlichkeit eigentlich nicht mitrechnet in der
+Schale, auf die all unser Erleben niederfällt. Die Geräusche des
+fordernden Tages draußen können die Ansprüche meiner Seele beirren; die
+Geräusche einer Fahrt sind schwach, mir kaum vernehmbar; sie werden
+übertönt von feierlich schwebenden Gedanken, die zu mir zu Gast
+kommen.</p>
+
+<p>Erst wenn ich diesen Zug verlassen, wenn ich das Ziel meiner Fahrt
+erreicht habe &mdash; schon Tage vorher werde ich diesen langen letzten
+Brief von einer Nebenstation aus an Dich schicken &mdash; kann ich zu
+ermessen beginnen, was es tatsächlich bedeutet, nie mehr in heißer
+Sehnsucht auf Dich warten zu können. Und wie jetzt draußen wechselnde
+Bilder an mir vorüberziehen, so werden Stunden wechselnden Fühlens mich
+umfangen. &mdash; Unser Leidensweg führt durch die Seele, aber der
+unserer tiefsten Erkenntnisse, die aufwärts tragen wollen, auch.</p>
+
+<p><em>Ich hatte Angst vor dem kleinen Glück</em>, aber Menschen, in
+denen diese Angst nicht zu überwinden ist, müssen hart sein können
+&mdash; hart gegen sich und hart gegen die, welche sie am meisten zu
+lieben glauben.</p>
+
+<span class = "pagenum">80</span>
+<p>Roland, Du Einziger, in dieser Stunde erlausche ich vieles, was wir
+selten in uns vernehmen. „<em>Ich fürchte mich nur, meiner Qual nicht
+würdig zu sein.</em>“ Du erinnerst Dich dieses Dostojewski-Wortes,
+dessen Inhalt zuerst befremdend erscheint, und das doch imstande ist,
+soviel Adliges in uns zu wecken.</p>
+
+<p>An Bäumen mit weißen Stämmen und hängenden Kronen jagt der Zug
+vorüber. Zahllose Bilder wirft die Natur in die dahinfliegenden Fenster:
+Gelbwogende Kornmeere, buntblühende Wiesen, rotknospende Büsche, leise
+sich wiegende Gräser; sie alle beredte Verkünder des ewig
+verschwendenden Nährbodens, der uns trägt. In einen seltsamen
+Traumzustand gleite ich hinein &mdash;&nbsp;&mdash;&nbsp;&mdash;</p>
+
+<p>Draußen ist Erntezeit. Und in uns? Welchen Namen werden wir einst
+dieser Zeit geben?</p>
+
+<p class = "signature">
+Maria.</p>
+
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Die Stufe, by Franziska Mann
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK DIE STUFE ***
+
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+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at http://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit http://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ http://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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