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| author | Roger Frank <rfrank@pglaf.org> | 2025-10-15 01:45:23 -0700 |
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You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Ehstnische Märchen + +Author: Friedrich Kreutzwald + +Commentator: Anton Schiefner + Reinhold Köhler + +Translator: Ferdinand Löwe + +Release Date: June 1, 2007 [EBook #21658] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EHSTNISCHE MÄRCHEN *** + + + + +Produced by Taavi Kalju and the Online Distributed +Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was +produced from scanned images of public domain material +from the Google Print project.) + + + + + + + + + + +Ehstnische Märchen. + + +Aufgezeichnet + +von + +Friedrich Kreutzwald. + + +Aus dem Ehstnischen übersetzt + +von + +F. Löwe, +ehem. Bibliothekar a. d. Petersb. Akad. d. Wissenschaften. + + +Nebst einem Vorwort von _Anton Schiefner_ und Anmerkungen +von _Reinhold Köhler_ und _Anton Schiefner_. + +Halle, +Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses. +1869. + + + + +Vorwort. + + +Im dritten Bande der Kinder- und Hausmärchen hat _Wilhelm Grimm_ auf S. +353 der Ausgabe von 1856 auf die ihm bis zu der Zeit bekannt gewordenen +ehstnischen Märchen hingewiesen, und auf S. 385 namentlich die zuerst +von _Fählmann_ im Jahre 1842 in dem ersten Bande der Verhandlungen der +gelehrten ehstnischen Gesellschaft zu Dorpat veröffentlichte anmuthige +Dichtung Koit und Ämmarik hervorgehoben. In ausführlicherer Fassung ist +die letztere später (1854) von =Dr.= _Friedrich Kreutzwald_ mir mitgetheilt +und von mir im Bulletin der St. Petersburger Akademie =T. XII.= Nr. 3, 4 +(auch in den =Mélanges russes= =T. II.= S. 409) in dem Aufsatz »zur +ehstnischen Mythologie« abgedruckt worden. Ebendaselbst habe ich auch +auf die Möglichkeit einer Entlehnung dieser Dichtung von einem +Nachbarvolke aufmerksam gemacht. An solchen Entlehnungen sind die Ehsten +nicht ärmer als andere Völker, und es gewährt ein eigenthümliches +Interesse, mehr oder minder anderswoher bekannte Stoffe in ihrer +ehstnischen Einkleidung zu betrachten. Allein nicht bloß die Freude an +der poetischen Behandlung der einzelnen Märchen ist es, was uns +auffordert, denselben unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es knüpfen sich +eine ganze Anzahl rein ethnographischer und historischer Fragen an die +Betrachtung ihres Inhalts. + +Der Uebersetzer hat es für angemessen erachtet, auf so manche Züge +hinzuweisen, welche die einzelnen Märchen mit der von =Dr.= _Kreutzwald_ ins +Leben gerufenen Dichtung »Kalewipoëg« gemein haben. Manches ist +allerdings aus den nicht bloß bei den Ehsten in Umlauf befindlichen +Märchen erst in die Sage und daraus in die epischen Lieder gewandert, +anderes bietet uns aber treulichst erhaltene Spuren altscandinavischer +Mythen dar. Habe ich bereits im Jahre 1860 bei Gelegenheit der +Besprechung des Kalewipoëg (Bulletin B. =II.= S. 273-297 = =Mélanges russes= +B. =II.= S. 126-161) darauf aufmerksam gemacht, wie im Kalewipoëg vielfach +Nachklänge des alten Thor-Cultus vorliegen, so kann man das mit gleichem +Recht von den in vorliegender Sammlung dargebotenen Märchen behaupten. +Man berücksichtige außer dem von Herrn Löwe S. 2 angeführten z. B. S. +113 die dem Donnerer gehörige Gerte aus Ebereschenholz, sowie auch S. +137 das Ruder aus demselben Holze. Vgl. über die auch S. 18 vorkommende +Eberesche als dem Donnerer heilig Mannhardt Germanische Mythen S. 13 f. + +Als ich im Jahre 1855 über den Mythengehalt der finnischen Märchen +(=Bullet. hist. philol. T. XII.= Nr. 24) kurz berichtete, waren von den +ehstnischen Märchen nur sehr wenige bekannt, und die ganze reiche +Märchenliteratur der Russen, von der uns die von _Afanasjew_ in den Jahren +1855-1863 erschienene Sammlung in acht Bänden eine Ahnung giebt, war +nur in wenigen Proben zugänglich. Bei einem eingehenden Studium der +ebengenannten Sammlung dürften nicht allein die finnischen Märchen in +einem andern Lichte erscheinen, sondern auch die ehstnischen richtiger +gewürdigt werden können. Sicher ist es wenigstens, daß, wenn wir die +ehstnischen Märchen betrachten, wir es mit den Einflüssen der +verschiedensten Zeiten und Völker zu thun haben. + +Manche Züge weisen unverkennbar auf litauische Berührungen hin, andere +zahlreichere und wohl auch jüngere auf russische Elemente; da die +Küstenstriche Ehstlands und namentlich die zunächst liegenden Inseln +schwedische Bevölkerung gehabt und zum Theil auch noch gegenwärtig +haben, ist der letzteren nebst manchem Märchen auch mancher aus der +ältesten Zeit stammende Mythus entnommen. Aber auch die neueste Zeit hat +aus der Kinderstube der deutschen Familien sowohl in der Stadt als auf +dem Lande so manches Märchen in die Bauerhütten verpflanzt. Nicht minder +haben die aus dem Kriegsdienste heimkehrenden Ehsten so manche +Erzählung, die sie früher im schwedischen oder später im russischen +Heere vernommen hatten, den hörlustigen Leuten in der Heimath +zugetragen. + +Außer den von _W. Grimm_ a. a. O. namhaft gemachten Sammlungen sind +verschiedene ehstnische Märchen veröffentlicht worden, namentlich in den +Jahrgängen 1846, 1848, 1849, 1852 und 1858 des »Inlands«, im +illustrirten revalschen Almanach 1855 und 1856 und anderswo; eine +ziemlich genaue Aufzählung derselben wird man in =Dr.= _Winkelmanns_ nun im +Druck befindlicher =Bibliotheca Livoniae historica= S. 39 f. finden. Am +beachtenswertesten sind die von den auch sonst um die Literatur der +Ehsten hochverdienten beiden Männern Heinrich _Neus_ in Reval und +Friedrich _Kreutzwald_ in Werro mitgetheilten Märchen. Der letztere der +beiden genannten Herren erhielt auch von der finnischen +Literaturgesellschaft in Helsingfors den ehrenvollen Auftrag, eine +umfassende Sammlung von ehstnischen Märchen herauszugeben. Diese +Sammlung, welche auf 368 Seiten 43 größere und 18 kleinere Stücke +umfaßt, erschien im Jahre 1866 zu Helsingfors im Verlage der +Literaturgesellschaft mit Bewilligung der letzteren und des Herrn +_Kreutzwald_ hat Herr _Löwe_, welcher sich während seines Aufenthalts in +Ehstland anerkennenswerthe Kenntnisse der ehstnischen Sprache erworben +hat, vorliegende Uebersetzung unternommen, die sich durch sich selbst so +sehr empfiehlt, daß eine Empfehlung von meiner Seite überflüssig sein +dürfte. Die Leser dieser freundlichen Schöpfungen der Volkspoesie werden +es nicht minder als ich wünschen, daß baldigst eine Fortsetzung der +Uebersetzung erscheine. + +Schließlich kann ich die erfreuliche Nachricht mittheilen, daß in kurzer +Zeit die Veröffentlichung mehrerer durch die Herren _Hurt_ und _Jakobson_ +aus dem Volksmunde aufgezeichneter ehstnischer Märchen in den Schriften +der gelehrten ehstnischen Gesellschaft in Dorpat zu erwarten ist. + +St. Petersburg, den 8. (20.) Februar 1869. + +A. Schiefner. + + + + +_Inhalt._ + + + Seite + +1. Die Goldspinnerinnen 1-24 + +2. Die im Mondschein badenden Jungfrauen 25-31 + +3. Schnellfuß, Flinkhand und Scharfauge 32-58 + +4. Der Tontlawald 59-76 + +5. Der Waise Handmühle 77-81 + +6. Die zwölf Töchter 82-91 + +7. Wie eine Waise unverhofft ihr Glück fand 92-101 + +8. Schlaukopf 102-121 + +9. Der Donnersohn 122-132 + +10. Pikne's Dudelsack 133-140 + +11. Der Zwerge Streit 141-147 + +12. Die Galgenmännlein 148-159 + +13. Wie eine Königstochter sieben Jahre geschlafen 160-173 + +14. Der dankbare Königssohn 174-202 + +15. Rõugatajas Tochter 203-211 + +16. Die Meermaid 212-229 + +17. Die Unterirdischen 230-240 + +18. Der Nordlands-Drache 241-261 + +19. Das Glücksei 262-272 + +20. Der Frauenmörder 273-284 + +21. Der herzhafte Riegenaufseher 285-297 + +22. Wie ein Königssohn als Hüterknabe aufwuchs 298-317 + +23. Dudelsack-Tiidu 318-340 + +24. Die aus dem Ei entsprossene Königstochter 341-355 + + Anmerkungen 356-365 + +Berichtigungen und Zusätze 366 + + + + +1. Die Goldspinnerinnen.[1] + + +Ich will euch eine schöne Geschichte aus dem Erbe der Vorzeit erzählen, +welche sich zutrug, als noch die Anger nach alter Weise von der +Weisheit-Sprache der Vierfüßer und der Befiederten wiederhallten. + +Es lebte einmal vor Zeiten in einem tiefen Walde eine lahme Alte mit +drei frischen Töchtern: ihre Hütte lag im Dickicht versteckt. Die +Töchter blühten schönen Blumen gleich um der Mutter verdorrten Stumpf; +besonders war die jüngste Schwester schön und zierlich wie ein +Bohnenschötchen. Aber in dieser Einsamkeit gab es keine andern Beschauer +als am Tage die Sonne, und bei Nacht den Mond und die Augen der Sterne. + + »Brennend heiß mit Jünglingsaugen + Schien die Sonn' auf ihren Kopfputz, + Glänzte auf den bunten Bändern, + Röthete die bunten Säume.« + +Die alte Mutter ließ die Mädchen nicht müßig gehen, noch säumig sein, +sondern hielt sie vom Morgen bis zum Abend zur Arbeit an; sie saßen Tag +für Tag am Spinnrocken und spannen Goldflachs zu Garn. Den armen +Dingern wurde weder Donnerstag noch Sonnabend[2] Abend Muße gegönnt, den +Gabenkasten zu bereichern,[3] und wenn nicht in der Dämmerung oder im +Mondenschein verstohlener Weise die Stricknadel zur Hand genommen wurde, +so blieb der Kasten ohne Zuwachs. War die Kunkel abgesponnen, so wurde +sofort eine neue aufgesetzt, und überdies mußte das Garn eben, drall und +fein sein. Das fertige Garn verwahrte die Alte hinter Schloß und Riegel +in einer geheimen Kammer, wohin die Töchter ihren Fuß nicht setzen +durften. Von wo der Goldflachs in's Haus gebracht wurde, oder zu was +für einem Gewebe die Garne gesponnen wurden, das war den Spinnerinnen +nicht bekannt geworden; die Mutter gab auf solche Fragen niemals +Antwort. Zwei oder drei Mal in jedem Sommer machte die Alte eine Reise, +man wußte nicht wohin, blieb zuweilen über eine Woche aus und kam immer +bei nächtlicher Weile zurück, so daß die Töchter niemals erfuhren, was +sie mitgebracht hatte. Ehe sie abreiste, theilte sie jedesmal den +Töchtern auf so viel Tage Arbeit aus, als sie auszubleiben gedachte. + +Jetzt war wieder die Zeit gekommen, wo die Alte ihre Wanderung +unternehmen wollte. Gespinnst auf sechs Tage wurde den Mädchen +ausgetheilt, und dabei abermals die alte Ermahnung eingeschärft:»Kinder +laßt die Augen nicht schweifen und haltet die Finger geschickt, damit +der Faden in der Spule nicht reißt, sonst würde der Glanz des Goldgarns +verschwinden und mit eurem Glücke würde es auch aus sein!« Die Mädchen +verlachten diese mit Nachdruck gegebene Ermahnung; ehe noch die Mutter +auf ihrer Krücke zehn Schritte weit vom Hause gekommen war, fingen sie +alle drei an zu höhnen. »Dieses alberne Verbot, das immer wiederholt +wird, hätten wir nicht nöthig gehabt,« sagte die jüngste Schwester. »Der +Goldgarnfaden reißt nicht beim Zupfen, geschweige denn beim Spinnen.« +Die andere Schwester setzte hinzu: »Eben so wenig ist es möglich, daß +der Goldglanz sich verliere.« Oft schon hat Mädchen-Vorwitz Manches +voreilig verspottet, woraus doch endlich nach vielem Jubel Thränenjammer +erwuchs. + +Am dritten Tage nach der Mutter Abreise ereignete sich ein unerwarteter +Vorfall, der den Töchtern anfangs Schrecken, dann Freude und Glück, auf +lange Zeit aber Kummer bereiten sollte. Ein Kalew-Sproß,[4] eines Königs +Sohn, war beim Verfolgen des Wildes von seinen Gefährten abgekommen, und +hatte sich im Walde so weit verirrt, daß weder das Gebell der Hunde noch +das Blasen der Hörner ihm einen Wegweiser herbeischaffte. Alles Rufen +fand nur sein eigenes Echo,[5] oder fing sich im dichten Gestrüpp. +Ermüdet und verdrießlich stieg der königliche Jüngling endlich vom +Pferde und warf sich nieder, um im Schatten eines Gebüsches auszuruhen, +während das Pferd sich nach Gefallen auf dem Rasen sein Futter suchen +durfte. Als der Königssohn aus dem Schlaf erwachte, stand die Sonne +schon niedrig. Als er jetzt von neuem in die Kreuz und in die Quer nach +dem Wege suchte, entdeckte er endlich einen kleinen Fußsteig, der ihn +zur Hütte der lahmen Alten brachte. Wohl erschracken die Töchter, als +sie plötzlich den fremden Mann sahen, dessen Gleichen ihr Auge nie zuvor +erblickt hatte. Indeß hatten sie sich nach Vollendung ihres Tagewerks in +der Abendkühle mit dem Fremden befreundet, so daß sie gar nicht einmal +zur Ruhe gehen mochten. Und als endlich die älteren Schwestern sich +schlafen gelegt hatten, saß die jüngste noch mit dem Gaste auf der +Thürschwelle, und es kam ihnen diese Nacht kein Schlaf in die Augen. + +Während die Beiden im Angesicht des Mondes und der Sterne sich ihr Herz +öffnen und süße Gespräche führen, wollen wir uns nach den Jägern +umsehen, die ihren Anführer im Walde verloren hatten. Unermüdlich war +der ganze Wald nach allen Seiten hin von ihnen durchsucht worden, bis +das Dunkel der Nacht dem Suchen ein Ziel setzte. Dann wurden zwei Männer +in die Stadt zurückgeschickt, um die traurige Botschaft zu überbringen, +während die Uebrigen unter einer breiten ästigen Fichte ihr Nachtlager +aufschlugen, um am nächsten Morgen wieder weiter zu suchen. Der König +hatte gleich Befehl gegeben, am andern Morgen ein Regiment zu Pferde und +eins zu Fuß ausrücken zu lassen, um seinen verlorenen Sohn aufzusuchen. +Der lange weite Wald dehnte die Nachforschungen bis zum dritten Tage +aus; dann erst wurden in der Frühe Fußstapfen gefunden, die man +verfolgte und dadurch den Fußsteig entdeckte, der zur Hütte führte. Dem +Königssohne war in Gesellschaft der Mädchen die Zeit nicht lang +geworden, noch weniger hatte er Sehnsucht nach Hause gehabt. Ehe er +schied, gelobte er der Jüngsten heimlich, daß er in kurzer Zeit +wiederkommen und dann, sei es im Guten oder mit Gewalt, sie mit sich +nehmen und zu seiner Gemahlin machen wolle. Wenn gleich die ältern +Schwestern von dieser Verabredung nichts gehört hatten, so kam die Sache +doch heraus und zwar in einer Weise, die Niemand vermuthet hätte. + +Nicht gering war nämlich der jüngsten Tochter Bestürzung, als sie, +nachdem der Königssohn fortgegangen war, sich an den Rocken setzte und +fand, daß der Faden in der Spule gerissen war. Zwar wurden die Enden des +Fadens im Kreuzknoten wieder zusammengeknüpft und das Rad in rascheren +Gang gebracht, damit emsige Arbeit die im Kosen mit dem Bräutigam +verlorene Zeit wieder einbrächte. Allein ein unerhörter und +unerklärlicher Umstand machte das Herz des Mädchens beben: das Goldgarn +hatte nicht mehr seinen vorigen Glanz. -- Da half kein Scheuern, kein +Seufzen und kein Benetzen mit Thränen; die Sache war nicht wieder gut zu +machen. Das Unglück springt zur Thür in's Haus, kommt durch's Fenster +herein und kriecht durch jede Ritze, die es unverstopft findet, sagt ein +altes weises Wort; so geschah es auch jetzt. + +Die Alte war in der Nacht nach Hause gekommen. Als sie am Morgen in die +Stube trat, erkannte sie augenblicklich, daß hier etwas Unrechtes +vorgegangen sei. Ihr Herz entbrannte in Zorn; sie ließ die Töchter eine +nach der andern vor sich kommen und verlangte Rechenschaft. Mit Leugnen +und Ausreden kamen die Mädchen nicht weit, Lügen haben kurze Beine; die +schlaue Alte brachte bald heraus, was der Dorfhahn hinter ihrem Rücken +der jüngsten Tochter in's Ohr gekräht hatte. Das alte Weib fing nun an +so gräulich zu fluchen, als wollte sie Himmel und Erde mit ihren +Verwünschungen verfinstern. Zuletzt drohte sie, dem Jüngling den Hals zu +brechen und sein Fleisch den wilden Thieren zur Speise vorzuwerfen, wenn +er sich gelüsten ließe, noch einmal wieder zu kommen. --Die jüngste +Tochter wurde roth wie ein gesottener Krebs, fand den ganzen Tag keine +Ruhe und konnte auch die Nacht kein Auge zuthun; immer lag es ihr schwer +auf der Seele, daß der Jüngling, wenn er zurück käme, seinen Tod finden +könnte. Früh am Morgen, als die Mutter und die Töchter noch im +Morgenschlummer lagen, verließ sie heimlich das Haus, um in der +Thaueskühle aufzuathmen. Zum Glück hatte sie als Kind von der Alten die +Vogelsprache gelernt, und das kam ihr jetzt zu Statten. In der Nähe saß +auf einem Fichtenwipfel ein Rabe, der mit dem Schnabel sein Gefieder +zurechtzupfte. Das Mädchen rief. »_Lieber Lichtvogel, klügster_ des +Vogelgeschlechts! willst du mir zu Hülfe kommen?« »Was für Hülfe +begehrst du?« fragte der Rabe. Das Mädchen erwiederte: »Flieg' aus dem +Walde heraus über Land, bis dir eine prächtige Stadt mit einem +Köuigssitz aufstößt. Suche mit dem Königssohn zusammenzukommen und melde +ihm, was für ein Unglück mir widerfahren ist.« Darauf erzählte sie dem +Raben die Geschichte ausführlich, vom Reißen des Fadens an bis zu der +gräßlichen Drohung der Mutter, und sprach die Bitte aus, daß der +Jüngling nicht mehr zurückkommen möchte. Der Rabe versprach, den Auftrag +auszurichten, wenn er Jemand fände, der seiner Sprache kundig wäre und +flog sogleich davon. + +Die Mutter ließ die jüngste Tochter nicht mehr am Spinnrocken Platz +nehmen, sondern hielt sie an, das gesponnene Garn abzuwickeln. Diese +Arbeit wäre dem Mädchen leichter gewesen als die frühere, aber das ewige +Fluchen und Zanken der Mutter ließ ihr vom Morgen bis zum Abend keine +Ruhe. Versuchte die Jungfrau, sich zu entschuldigen, so wurde die Sache +noch ärger. Wenn einem Weibe einmal die Galle überläuft, und der Zorn +ihre Kinnladen geöffnet hat, so vermag keine Gewalt sie wieder zu +schließen. + +Gegen Abend rief der Rabe vom Fichtenwipfel her kraa, kraa! und das +gequälte Mädchen eilte hinaus, um den Bescheid zu hören. Der Rabe hatte +glücklicherweise in des Königs Garten eines Windzauberers[6] Sohn +gefunden, der die Vogelsprache vollkommen verstand. Ihm meldete der +schwarze Vogel die von der Jungfrau ihm anvertraute Botschaft, und bat +ihn, die Sache dem Königssohn mitzutheilen. Als der Gärtnerbursche dem +Königssohn alles erzählt hatte, wurde diesem das Herz schwer, doch pflog +er mit seinen Freunden heimlich Rath über die Befreiung der Jungfrau. +»Sage dem Raben,« so unterwies er dann des Windzauberer's Sohn -- »daß +er eilig zurückfliege und der Jungfrau melde: sei wach in der neunten +Nacht, dann erscheint ein Retter, der das Küchlein den Klauen des +Habichts entreißen wird.« Zum Lohn für die Bestellung erhielt der Rabe +ein Stück Fleisch, um seine Flügel zu kräftigen, und dann wurde er +wieder zurück geschickt. Die Jungfrau dankte dem schwarzen Vogel für +seine Besorgung, verbarg aber das Gehörte in ihrem Herzen, damit die +andern nichts davon erführen. Aber je näher der neunte Tag kam, desto +schwerer wurde ihr das Herz, wenn sie bedachte, daß ein +unvorhergesehenes Unglück alles zu Schanden machen könnte. + +In der neunten Nacht, als die alte Mutter und die Schwestern sich zur +Ruhe gelegt hatten, schlich die jüngste Schwester auf den Zehen aus dem +Hause, und setzte sich unter einen Baum auf den Rasen, um des Bräutigams +zu harren. Hoffnung und Furcht erfüllten zugleich ihr Herz. Schon krähte +der Hahn zum zweiten Mal, aber vom Walde her war weder ein Geräusch von +Tritten noch ein Rufen zu hören. Zwischen dem zweiten und dritten +Hahnenschrei drang von weitem ein Geräusch wie leises Pferdegetrappel an +ihr Ohr. Sie ließ sich durch dies Geräusch leiten und ging den Kommenden +entgegen, damit deren Annäherung die im Hause Schlafenden nicht wecken +möchte. Bald erblickte sie die Kriegerschaar, an deren Spitze der +Königssohn selbst als Führer ritt, denn er hatte, als er von hier +fortgegangen war, an den Bäumen heimliche Zeichen gemacht, durch die er +den rechten Weg erkannte. Als er die Jungfrau gewahr wurde, sprang er +vom Pferde, half ihr in den Sattel, setzte sich selbst vor sie hin, +damit sie sich an ihn lehne und dann ging es schleunig heimwärts. Der +Mond gab zwischen den Bäumen so viel Licht, daß der bezeichnete Pfad +ihnen nicht verloren ging. Das Frühroth hatte überall der Vögel Zungen +gelöst und ihr Gezwitscher geweckt. Hätte die Jungfrau auf sie zu achten +und aus ihrer Zwiesprach Belehrung zu schöpfen gewußt, es hätte den +Beiden mehr genügt als die honigsüße Schmeichelrede, welche aus des +Königssohnes Munde floß und das Einzige war, was in ihr Ohr drang. Sie +hörte und sah nichts Anderes als den Bräutigam, der sie bat, alle eitle +Furcht aufzugeben und dreist auf den Schutz der Krieger zu bauen. Als +sie in's Freie kamen, stand die Sonne schon ziemlich hoch. + +Zum Glück hatte die alte Mutter am Morgen früh der Tochter Flucht nicht +gleich bemerkt; erst etwas später, als sie die Garnwinde nicht +abgewickelt fand, fragte sie, wohin die jüngste Schwester gegangen sei. +Darauf wußte Niemand Antwort zu geben. Aus mancherlei Zeichen ersah +jetzt die Mutter, daß die Tochter entflohen war; sofort faßte sie den +tückischen Vorsatz, der flüchtigen die Strafe auf dem Fuße nachzusenden. +Sie holte vom Boden herunter eine Handvoll aus neunerlei Arten +gemischter Hexenkräuter, schüttete Salz, das besprochen war, dazu und +band Alles in ein Läppchen, daß es ein Quast wurde; dann hauchte sie +Flüche und Verwünschungen darauf und ließ nun das Hexenknäuel mit dem +Winde davon ziehen, während sie sang: + + »Wirbelwind! verleihe Flügel! + Windesmutter! deinen Fittig! + Treibet dieses Knäulchen vorwärts, + Daß es windesschnell dahin saust, + Daß es todverbreitend hinfährt, + Seuchenbringend weiter fliege!« + +Zwischen Mittmorgen und Mittag gelangte der Königssohn mit der +Kriegerschaar an das Ufer eines breiten Flusses, über welchen eine +schmale Brücke geschlagen war, so daß die Männer nur einzeln herüber +konnten. Der Königssohn ritt eben mitten auf der Brücke, als mit dem +Winde das Hexenknäuel daher fuhr und wie eine Bremse auf das Pferd traf. +Das Pferd schnaubte vor Schreck, stellte sich plötzlich hoch auf die +Hinterbeine, und eh' noch jemand zu Hülfe kommen konnte, glitt die +Jungfrau vom Sattel herab jählings in den Fluß. Der Königssohn wollte +ihr nachspringen, aber die Krieger verhinderten ihn daran, indem sie ihn +festhielten; denn der Fluß war grundlos tief und menschliche Hülfe +konnte dem Unglück, das einmal geschehen war, doch nicht mehr abhelfen. + +Schrecken und tiefe Betrübnis hatten den Königssohn ganz betäubt; die +Krieger führten ihn gegen seinen Willen nach Hause zurück, wo er Wochen +lang in stiller Kammer über das Unglück trauerte, so daß er anfangs +nicht einmal Speise noch Trank zu sich nahm. Der König ließ aus allen +Orten von nah und fern Zauberer zusammenrufen, aber keiner konnte die +Krankheit erklären, noch wußte einer ein Mittel dagegen anzugeben. Da +sagte eines Tages des Windzauberers Sohn, der in des Königs Garten +Gärtnerbursch war: »Sendet nur nach Finnland, daß der uralte Zauberer +komme, der versteht mehr als die Zauberer eures Landes.« + +Alsbald sandte der König eine Botschaft an den alten Zauberer Finnlands, +und dieser traf schon nach einer Woche auf Windesflügeln ein. Er sagte +zum König: »Geehrter König! die Krankheit ist vom Winde angeweht. Ein +böses Hexen-Knäuel hat des Jünglings bessere Herzenshälfte hingerafft, +und darüber grämt er sich beständig. Schicket ihn oft in den Wind, damit +der Wind die Sorgen in den Wald treibt.«[7] + +So kam es auch wirklich; der Königssohn fing an sich zu erholen, Nahrung +zu nehmen und Nachts zu schlafen. Zuletzt gestand er seinen Eltern +seinen Herzenskummer; der Vater wünschte, daß der Sohn wieder auf die +Freite gehen und ein junges Weib nach seinem Sinne heim führen möchte, +aber der Sohn wollte nichts davon wissen. + +Schon über ein Jahr war dem Jüngling in Trauer verstrichen, als er eines +Tages zufällig an die Brücke kam, wo seine Liebste ihr Ende gefunden +hatte. Als er sich das Unglück in's Gedächtniß zurückrief, traten ihm +bittere Thränen in die Augen. Mit einem Male hörte er einen schönen +Gesang anstimmen, obwohl nirgends ein menschliches Wesen zu sehen war. +Die Stimme sang: + + »Durch der Mutter Fluch beschworen + Nahm das Wasser die Unsel'ge, + Barg das Wellengrab die Kleine, + Deckte Ahti's[8] Fluth das Liebchen.« + +Der Königssohn stieg vom Pferde und spähte nach allen Seiten, ob nicht +Jemand unter der Brücke versteckt sei, aber soweit sein Auge reichte, +war nirgends ein Sänger zu sehen. Auf der Wasserfläche schaukelte +zwischen breiten Blättern ein Teichröschen, das war der einzige +Gegenstand, den er erblickte. Aber ein schaukelndes Blümchen konnte doch +nicht singen, dahinter mußte irgend ein wunderbares Geheimniß stecken. +Er band sein Pferd am Ufer an einen Baumstumpf, setzte sich auf die +Brücke und lauschte, ob Auge oder Ohr nähere Auskunft geben würden. Eine +Zeitlang blieb Alles still, dann sang wieder der unsichtbare Sänger: + + »Durch der Mutter Fluch beschworen + Nahm das Wasser die Unsel'ge, + Barg das Wellengrab die Kleine, + Deckte Ahti's Fluth das Liebchen.« + +Wie dem Menschen nicht selten ein guter Gedanke unerwartet vom Winde +zugeweht wird, so geschah es auch hier. Der Königssohn dachte: wenn ich +ungesäumt zur Waldhütte reite, wer weiß, ob mir nicht die +Goldspinnerinnen diesen wunderbaren Fall deuten können. So stieg er zu +Pferde und schlug den Weg zum Walde ein. An den früheren Zeichen hoffte +er sich leicht zurecht zu finden, allein der Wald war gewachsen und er +hatte über einen Tag lang zu suchen, ehe er auf den Fußsteig gelangte. +In der Nähe der Hütte hielt er an, um zu warten, ob eine der Jungfrauen +herauskommen würde. Früh Morgens kam die älteste Schwester zur Quelle, +um sich das Gesicht zu waschen. Der Jüngling trat näher, erzählte das +Unglück, welches sich voriges Jahr auf der Brücke zugetragen, und was +für einen Gesang er vor einigen Tagen dort gehört habe. Die alte Mutter +war glücklicher Weise gerade nicht daheim, deßwegen lud die Jungfrau den +Königssohn in's Haus. Als die Mädchen die ausführliche Erzählung +angehört hatten, begriffen sie ohne Weiteres, daß das Unglück des +vorigen Jahres durch ein Hexenknäuel der Mutter entstanden war, und daß +die Schwester jetzt noch nicht gestorben sei, sondern in Zauberbanden +liege. Die älteste Schwester fragte: »Ist euren Blicken auf dem +Wasserspiegel nichts begegnet, was einen Gesang hätte können ertönen +lassen?« »Nichts,« erwiederte der Königssohn. »So weit mein Auge +reichte, war auf dem Wasserspiegel nichts weiter zu sehen, als ein +gelbes Teichröschen zwischen breiten Blättern, aber Blümchen und Blätter +können doch nicht singen.« Die Töchter muthmaßten sogleich, daß das +Teichröschen nichts Anderes sein könne, als ihre in den Wellen +versunkene und durch Hexenkunst in ein Blümchen verwandelte Schwester. +Sie wußten, wie die alte Mutter das fluchbehaftete Hexenknäuel hatte +fliegen lassen, welches die Schwester, wenn es sie nicht tödtete, in +jeglicher Weise verwandeln konnte. Von dieser Vermuthung sagten sie +indeß dem Königssohne nichts, denn so lange sie noch nicht Rath wußten +zu ihrer Befreiung, wollten sie keine eitle Hoffnung erwecken. Da die +Rückkehr der Mutter erst in einigen Tagen erwartet wurde, hatten sie +Zeit sich zu berathen. + +Die älteste Schwester holte nun am Abend eine Handvoll gehörig +gemischter Zauberkräuter vom Boden herunter, zerrieb sie, machte daraus +mit Mehl einen Teig, buck einen Kuchen und gab ihn dem Jüngling zu +essen, ehe er sich am Abend zur Ruhe legte. Der Königssohn hatte in der +Nacht einen wunderbaren Traum, als ob er im Walde unter den Vögeln lebte +und die einem jeden derselben eigene Sprache verstünde. Als er am Morgen +seinen Traum den Jungfrauen erzähle, sagte die älteste Schwester: »Zur +guten Stunde habt ihr euch zu uns aufgemacht, zur guten Stunde habt ihr +den Traum gehabt, der euch auf eurem Heimwege zur Wirklichkeit werden +wird. Mein Schweinefleischkuchen von gestern, den ich euch zum Frommen +buck und zu essen gab, war mit Zauberkräutern gefüllt, welche euch in +den Stand setzen, Alles zu verstehen, was die klugen Vögel unter +einander reden. In diesen Männlein im Federkleide steckt viel verborgene +Weisheit, die den Menschen unbekannt ist, deßhalb gebt scharf Acht, was +die Vögelschnäbel verkünden. Und wenn dann eure Leidenszeit vorüber ist, +so denkt auch an uns arme Kinder, die wir hier wie in einem ewigen +Kerker am Rocken sitzen.« + +Der Königssohn dankte den Mädchen für ihre gute Gesinnung und versprach, +sie später aus ihrer Knechtschaft zu befreien, sei es für ein Lösegeld +oder mit Gewalt; nahm Abschied und trat eilig die Rückreise an. Die +Mädchen freuten sich, als sie sahen, daß ihnen der Faden nicht gerissen +und der Goldglanz nicht verblichen sei; die alte Mutter konnte, wenn sie +heim kam, ihnen nichts vorwerfen. + +Um so spaßhafter ging die Sache mit dem Königssohne, der im Walde wie +mitten in zahlreicher Gesellschaft dahin ritt, weil der Gesang und das +Gezwitscher der Vögel ganz verständlich wie Worte an sein Ohr schlugen. +Hier sah er voll Verwunderung, wie viel Weisheit dem Menschen dadurch +unbekannt bleibt, daß er die Vogelsprache nicht versteht. Von dem, was +das Federvolk anfangs redete, konnte der Wanderer das Meiste nicht recht +fassen; es wurde über vielerlei Menschen dies und jenes ausgeplaudert, +aber diese Menschen und ihr Treiben waren ihm fremd. Da sah er plötzlich +auf einem hohen Föhrenwipfel eine Elster und eine Drossel, deren +Unterhaltung auf ihn gemünzt war. + +»Die Dummheit der Menschen ist groß,« sagte die Drossel. »Sie wissen +auch die geringfügigsten Dinge nicht recht anzufassen. Dort sitzt neben +der Brücke in Gestalt einer Teichrose des alten lahmen Weibes Pflegekind +schon ein ganzes Jahr, klagt singend den Vorübergehenden ihre Noth, aber +Niemand kommt sie zu erlösen. Vor einigen Tagen erst ritt ihr ehemaliger +Bräutigam über die Brücke, und hörte den sehnsüchtigen Gesang der +Jungfrau, war aber auch nicht klüger als die Andern.« Die Elster +erwiederte: »Und gleichwohl muß das Mädchen um seinetwillen von der +Mutter die Strafe erdulden. Wenn ihm keine größere Weisheit zu Theil +wird, als die, welche er aus dem Munde der Menschen vernimmt, so bleibt +das Mädchen ewig ein Blümlein.« »Des Mädchens Befreiung würde eine +Kleinigkeit sein,« sagte die Drossel, »wenn die Sache dem alten Zauberer +von Finnland gründlich dargelegt würde. Er könnte die Jungfrau leicht +aus ihrem nassen Kerker und ihrem Blumenzwang befreien.« + +Dieses Gespräch machte den Jüngling nachdenklich; indem er weiter ritt, +ging er mit sich zu Rathe, wo er wohl einen Boten hernähme, den er nach +Finnland schicken könnte. Da hörte er über seinem Haupte, wie eine +Schwalbe zur andern sagte: »Komm, laß uns nach Finnland ziehen, dort ist +besser nisten als hier!« + +»Haltet, Freunde!« rief der Königssohn in der Vogelsprache. »Bringt dem +alten Zauberer in Finnland tausend Grüße von mir und bittet ihn um +Bescheid, wie es wohl möglich wäre, eine in eine Teichrose verwandelte +Jungfrau wieder zu einem Menschenbilde zu machen.« Die Schwalben +versprachen den Auftrag auszurichten und flogen davon. + +Als er an's Ufer des Flusses kam, ließ er sein Pferd verschnaufen und +blieb auf der Brücke stehen, um zu horchen, ob nicht der Gesang sich +wieder hören lasse. Aber Schweigen herrschte ringsum und es war nichts +zu hören, als das Rauschen der Wellen und das Sausen des Windes. +Unmuthig setzte sich der Jüngling wieder zu Pferde, und ritt heim, sagte +aber Niemanden ein Wort von dieser Wanderung und ihrem Abenteuer. + +Eine Woche später saß er eines Tages im Garten, und dachte, die +Schwalben müßten seine Botschaft wohl vergessen haben, als ein großer +Adler hoch in den Lüften über seinem Haupte kreiste. Allmählich stieg +der Vogel immer tiefer herunter, bis er sich endlich auf einem Lindenast +in der Nähe des Königssohnes niederließ. »Der alte Zauberer in +Finnland,« so ließ der Adler sich vernehmen, »sendet euch viele Grüße, +und bittet es ihm nicht zu verübeln, daß er nicht früher Antwort +ertheilt hat. Es war gerade Niemand zu finden, der hierher wollte. Um +die Jungfrau aus ihrem Blumenzustande zu erlösen, ist nur dies nöthig: +Gehet an das Ufer des Flusses, werfet eure Kleider ab und schmiert euch +den Körper über und über mit Schlamm ein, so daß kein weißer Fleck +bleibt; dann nehmt die Nasenspitze zwischen die Finger und rufet: »»Aus +dem Mann ein Krebs!«« Augenblicklich werdet ihr zum Krebs, dann geht in +die Tiefe des Flusses; Ertrinken habt ihr nicht zu befürchten. Drängt +euch dreist unter die Wurzeln des Teichröschens, und löset sie von +Schlamm und Schilf, so daß sie nirgends mehr fest sitzen. Hängt euch +dann mit euren Scheeren an ein Zweiglein der Wurzel an, so wird euch das +Wasser sammt dem Blümchen auf die Oberfläche heben. Dann treibet mit dem +Strom so lange fort, bis euch links am Ufer eine Eberesche mit +beblätterten Zweigen zu Gesicht kommt. Nicht weit von der Eberesche +steht ein Stein von der Höhe einer kleinen Badstube. Beim Steine müßt +ihr die Worte ausstoßen: »»Aus der Teichrose die Jungfrau, aus dem Krebs +der Mann!«« In demselben Augenblick wird es so geschehen.« Als der Adler +geendigt hatte, hob er die Fittige und flog davon. Der Jüngling sah ihm +eine Weile nach und wußte nicht, was er davon halten sollte. + +Unter zweifelnden Gedanken verstrich ihm über eine Woche; er hatte weder +Muth noch Vertrauen genug, die Befreiung in dieser Weise zu versuchen. +Da hörte er eines Tages aus dem Munde einer Krähe: »Was zögerst du, der +Weisung des Alten nachzukommen? Der alte Zauberer hat noch nie falschen +Bescheid geschickt, und auch die Vogelsprache hat noch nie getrogen. +Eile an das Ufer des Flusses und trockne die Sehnsuchtsthränen der +Jungfrau.« Die Rede der Krähe machte dem Jünglinge Muth; er dachte: +Größeres Unglück kann mir nicht widerfahren als der Tod, aber leichter +ist der Tod als unaufhörliches Trauern. Er setzte sich zu Pferde und +ritt den bekannten Weg zum Ufer des Flusses. Als er an die Brücke kam, +hörte er den Gesang: + + »Durch der Mutter Fluch beschworen + Muß ich hier im Schlummer liegen, + Muß das junge Kind verwelken, + In der Wellen Schoos hinsiechen. + Feucht und kalt das tiefe Bette + Decket jetzt die zarte Jungfrau.« + +Der Königssohn legte seinem Pferde die Fußfessel an, damit es sich nicht +zu weit von der Brücke entfernen könnte, warf die Kleider ab, schmierte +den Körper über und über mit Schlamm, so daß nirgends ein weißer Fleck +blieb, faßte sich dann an die Nasenspitze und sprang in's Wasser mit dem +Rufe: »Aus dem Mann ein Krebs!« Einen Augenblick zischte das Wasser auf, +dann war Alles wieder still wie zuvor. + +Das in einen Krebs verwandelte Männlein begann die Wurzeln der Teichrose +aus dem Flußbette loszumachen, brauchte aber viel Zeit dazu. Die +Würzelchen saßen im Schlamm und Schilf fest, so daß der Krebs sieben +Tage schwere Arbeit hatte, bis die Sache von Statten ging. Als die +Arbeit beendigt war, hakte das Krebsmännlein seine Scheeren in ein +Zweiglein der Wurzel ein, und das Wasser hob ihn sammt dem Blümchen auf +die Oberfläche des Flusses. Die schaukelnden Wellen trieben Krebs und +Teichrose nur allmählich vorwärts, und wiewohl Bäume und Sträuche genug +am Ufer sichtbar wurden, so kam doch immer die Eberesche mit dem großen +Stein nicht zum Vorschein. Endlich sah er links am Ufer den Baum mit +seinem Laube und den rothen Beerenbüscheln, und etwas weiterhin stand +auch der Fels, der die Höhe einer kleinen Badstube hatte. Jetzt stieß +das Krebsmännlein die Worte aus: »Aus der Teichrose die Jungfrau, aus +dem Krebse der Mann!« -- Augenblicklich schwammen auf dem Wasser zwei +Menschenhäupter, ein männliches und ein weibliches, das Wasser trieb sie +an's Ufer, aber Beide waren splitternackt, wie Gott sie geschaffen. + +Die verschämte Jungfrau bat nun: »Lieber Jüngling, ich habe keine +Kleider anzuziehen, darum mag ich nicht aus dem Wasser steigen.« -- Der +Jüngling bat dagegen: »Tretet an's Ufer unter die Eberesche, ich mache +so lange die Augen zu, bis ihr hinauf klettert und euch unter dem Baume +berget. Dann eile ich zur Brücke, wo ich mein Pferd und meine Kleider +ließ, als ich in den Fluß sprang.« Die Jungfrau hatte sich unter der +Eberesche verborgen, und der Jüngling eilte zur Brücke, wo er Kleider +und Pferd gelassen hatte; aber er fand dort weder das Eine noch das +Andere. Daß sein Krebszustand so viele Tage gedauert hatte, wußte er +nicht, vielmehr glaubte er nur einige Stunden auf dem Grunde des Wassers +gewesen zu sein. Siehe, da kommt ihm am Ufer eine prächtige mit sechs +Pferden bespannte Kutsche langsam entgegen. In der Kutsche fand er alles +Nöthige, sowohl für sich, wie für die aus dem Wasserkerker erlöste +Jungfrau; sogar ein Diener und eine Zofe waren mit der Kutsche +angekommen. Den Diener behielt der Königssohn für sich, das Mädchen +schickte er mit der Kutsche und den Kleidern dahin, wo sein nacktes +Liebchen unter der Eberesche harrte. Es verging über eine Stunde, da kam +die hochzeitlich geschmückte Jungfrau in der Kutsche an die Stelle, wo +der Königssohn ihrer wartete. Er war gleichfalls prächtig als Bräutigam +gekleidet und setzte sich zu ihr in die Kutsche. Sie fuhren gradeswegs +zur Stadt und vor die Kirchenthür. Der König und die Königin saßen in +Trauerkleidern in der Kirche, denn sie trauerten über den theuren +verlorenen Sohn, den man im Flusse ertrunken glaubte, da man Pferd und +Kleider am Ufer gefunden hatte. Groß war der Eltern Freude, als der für +todt beweinte Sohn lebend an der Seite einer schönen Jungfrau vor sie +trat, beide in Prunkgewändern. Der König führte sie selbst zum Altar und +sie wurden getraut. Dann wurde ein Hochzeitsfest veranstaltet, das in +Saus und Braus sechs Wochen lang dauerte. + +Im Gange der Zeit ist zwar kein Stillstand und keine Ruhe, dennoch +scheinen die Tage der Freude rascher dahin zu fließen als die Stunden +der Trübsal. Nach dem Hochzeitsfeste war der Herbst eingetreten, dann +kam Frost und Schnee, so daß das junge Paar nicht viel Lust hatte, den +Fuß aus dem Hause zu setzen. Als aber der Frühling wiederkehrte und neue +Freuden brachte, ging der Königssohn mit seiner jungen Gattin im Garten +spazieren. Da hörten sie, wie eine Elster vom Wipfel eines Baumes herab +rief: »O du undankbares Geschöpf, das in den Tagen des Glücks seine +hülfreichen Freunde vergessen hat. Sollen die beiden armen Jungfrauen +ihr Lebelang Goldgarn spinnen? Die lahme Alte ist nicht die Mutter der +Mädchen, sondern eine Zauberhexe, welche die Jungfrauen als Kinder aus +fernen Landen gestohlen hat. Der Alten Sünden sind groß, sie verdient +keine Barmherzigkeit. Gekochter Schierling wäre für sie das beste +Gericht; sonst würde sie wohl das gerettete Kind abermals mit einem +Hexenknäuel verfolgen.« + +Jetzt fiel es dem Königssohne wieder ein und er bekannte seiner Gattin, +wie er zur Waldhütte gegangen sei, die Schwestern um Rath zu fragen, +dort die Vogelsprache gelernt und den Jungfrauen versprochen habe, sie +aus ihrer Gefangenschaft zu erlösen. Die Gattin bat mit Thränen in den +Augen, den Schwestern zu Hülfe zu eilen. Als sie den andern Morgen +erwachte, sagte sie: »Ich hatte einen bedeutungsvollen Traum. Die alte +Mutter war von Hause gegangen und hatte die Töchter allein gelassen; +jetzt wäre gewiß die rechte Zeit ihnen zu Hülfe zu kommen.« + +Der Königssohn ließ sofort eine Kriegerschaar sich rüsten und zog mit +ihnen zur Waldhütte. Am andern Tage langten sie dort an. Die Mädchen +waren, wie der Traum geweissagt hatte, allein zu Hause und kamen mit +Freudengeschrei den Errettern entgegen. Einem Kriegsmanne wurde Befehl +gegeben, Schierlingswurzeln zu sammeln und daraus für die Alte ein +Gericht zu kochen, so daß, wenn sie nach Hause käme und sich daran satt +äße, ihr die Lust am Essen für immer verginge. Sie blieben zur Nacht in +der Waldhütte und machten sich am andern Morgen in der Frühe mit den +Mädchen auf den Weg, so daß sie Abends die Stadt erreichten. Der +Schwestern Freude war groß, als sie sich hier nach zwei Jahren wieder +vereinigt fanden. + +Die Alte war in derselben Nacht nach Hause gekommen; sie verzehrte mit +großer Gier die Speise, welche sie auf dem Tische fand und kroch dann +in's Bett um zu ruhen, wachte aber nicht wieder auf: der Schierling +hatte dem Leben des Unholds ein Ende gemacht. Als der Königssohn eine +Woche später einen zuverlässigen Hauptmann hinschickte, sich die Sache +anzusehen, fand man die Alte todt. In der heimlichen Kammer wurden +funfzig Fuder Goldgarn aufgehäuft gefunden, welche unter die Schwestern +vertheilt wurden. Als der Schatz weggeführt war, ließ der Hauptmann den +Feuerhahn auf's Dach setzen. Schon streckte der Hahn seinen rothen Kamm +zum Rauchloch[9] heraus, als eine große Katze mit glühenden Augen vom +Dache her an der Wand herunterkletterte. Die Kriegsleute jagten der +Katze nach und wurden ihrer bald habhaft. Ein Vögelchen gab von einem +Baumwipfel herab die Weisung: »Heftet der Katze eine Falle an den +Schwanz, dann wird Alles an den Tag kommen!« Die Männer thaten es. + +»Peinigt mich nicht, ihr Männer!« bat nun die Katze. »Ich bin ein Mensch +wie ihr, wenn ich auch jetzt durch Hexenzauber in Katzengestalt gebannt +bin. Es war der Lohn für meine Schlechtigkeit, daß ich in eine Katze +verwandelt wurde. Ich war weit von hier in einem reichen Königsschlosse +Haushälterin, und die Alte war der Königin erste Kammerjungfer. Von +Habgier getrieben machten wir mit einander den heimlichen Anschlag, des +Königs drei Töchter und außerdem einen großen Schatz zu stehlen und dann +zu entfliehen. Nachdem wir allmählich alle goldenen Geräthe bei Seite +geschafft hatten, welche die Alte in goldenen Flachs verwandelte, nahmen +wir die Kinder, deren ältestes drei Jahre, das jüngste sechs Monate alt +war. Die Alte fürchtete dann, daß ich bereuen und anderen Sinnes werden +möchte, und verwandelte mich deshalb in eine Katze; zwar wurde mir in +ihrer Todesstunde die Zunge gelöst, aber die frühere Gestalt habe ich +nicht wieder erhalten.« Der Kriegshauptmann sagte, als die Katze +ausgesprochen hatte: »Du brauchst kein besseres Ende zu nehmen, als die +Alte!« und ließ sie in's Feuer werfen. + +Die beiden Königstöchter aber bekamen bald, wie ihre jüngste Schwester, +Königssöhne zu Männern, und das von ihnen in der Waldhütte gesponnene +Goldgarn war ihnen reiche Mitgift. Ihr Geburtsort und ihre Eltern +blieben unbekannt. Man erzählt sich, daß das alte Weib noch manches +Fuder Goldgarn unter der Erde vergraben hatte, aber Niemand konnte die +Stelle angeben. + +[Fußnote 1: Die Goldspinnerinnen erinnern an die Pflegetöchter der +Hölle, die dort gefangen gehalten werden, arbeiten und auch spinnen +müssen, s. _Kalewipoëg_ (myth. Heldensagen vom Kalew-Sohn) =XIII.= 521 ff. +=XIV.= 470 ff. L.] + +[Fußnote 2: Donnerstag und Sonnabend galten den Ehsten in +vorchristlicher Zeit für heilig. Im _Kalewipoëg_, Gesang =XIII=, V. 423 +kocht der Höllenkessel am Donnerstag stärkende Zauberspeise. Nach +_Rußwurm_, Sagen aus Hapsal und der Umgegend, Reval 1856, S. 20, erhalten +die Unterirdischen (vgl. Märchen 17), was am Sonnabend oder am +Donnerstag Abend ohne Licht gearbeitet wird. Vgl. _Kreutzwald_ zu _Boecler_, +der Ehsten abergläubische Gebräuche &c. (St. Petersburg 1854) S. 97-104. +Wenn der oberste Gott der Ehsten, Taara, sich sachlich und lautlich an +den germanischen Thor anschließt, so ist aus der jetzigen ehstnischen +Bezeichnung des Thortags, Donnerstags, jede Erinnerung an Taara-Thor +getilgt; der Donnerstag heißt ehstnisch einfach =nelja-päew=, d. i. der +vierte Tag. (Montag der erste, Dienstag der zweite, Mittwoch der dritte +oder auch Mittwoch, Freitag = Reede, corrumpirt aus plattd. Frêdag, +Sonnabend = Badetag, Sonntag = heiliger Tag, Feiertag.) L.] + +[Fußnote 3: Der Sinn ist: Sie durften nicht für sich arbeiten, um den +Kasten zu füllen, aus welchem die Braut am Hochzeitstage Geschenke +vertheilt. Vgl. _Boecler_, der Ehsten abergl. Gebräuche, ed. _Kreutzwald_, +=p.= 37. _Neus_, Ehstn. Volkslieder, S. 284. L.] + +[Fußnote 4: Nicht zu verwechseln mit dem Kalew-_Sohn_ (=Kalewipoëg=), dem +Herkules des ehstnischen Festlandes. Auf der Insel Oesel heißt dieser +Töll od. Töllus. Vgl. _Rußwurm_, Eibofolke oder die Schweden an den Küsten +Ehstland's und auf Runö. Reval 1855. Th. 2, S. 273. _Neus_ in den +Beiträgen zur Kunde Ehst-, Liv- und Kurlands, ed. Ed. Pabst. Reval 1866. +Bd. =I=, Heft =I=, =p.= 111. L.] + +[Fußnote 5: wörtlich: fiel in das Ohr das Echo. Das Echo wird bildlich +»Schielauge« genannt. S. Kreutzwald zu Boecler, S. 146.] + +[Fußnote 6: Vgl. die folgende Anm. und die Nota S. 25 zu 2. »die im +Mondschein badenden Jungfrauen.« L.] + +[Fußnote 7: Die alte Anschauung der Ehsten unterscheidet feindliche und +günstige Winde und schreibt beiden den weitgreifendsten Einfluß zu. Die +unaufhörlichen Windströmungen, welche an dem ehstnischen Küstenstrich +ihr Spiel treiben und von der größten Bedeutung für das Naturleben sind, +erklären dies vollkommen. In unserer Stelle ist die Krankheit nicht »von +Gott, sondern vom Winde gekommen« und soll auch wieder (homöopathisch) +durch den Wind vertrieben werden. Vergl. _Kreutzwald_ zu _Boecler_, ehstn. +Aberglaube, S. 105 ff. u. _Kreutzwald_ u. _Neus_, Myth. u. mag. Lieder der +Ehsten, S. 13. L.] + +[Fußnote 8: Ahti oder Ahto (sprich Achti, Achto) ist in der finnischen +Mythologie der über alles Wasser herrschende Gott: ein alter ehrwürdiger +Mann mit einem Grasbart und einem Schaumgewand. Er wird, +characteristisch genug, als begehrlich nach fremdem Gut geschildert. Im +ehstnischen Epos vom _Kalewi-Poëg_ Ges. =XVI.=, V. 72 ist von Ahti's Sohn +und seinen (Wasser) Gruben die Rede. L.] + +[Fußnote 9: Loch am Giebel des Hauses (zum Hinauslassen des Rauches). +L.] + + + + +2. Die im Mondschein badenden Jungfrauen. + + +Es lebte einmal ein Jüngling, der nirgends Ruhe hatte, sondern sich +abmühte, alle verborgenen Dinge zu erforschen, die andern Leuten +unbekannt geblieben waren. Als er die Vogelsprache und andere geheime +Weisheit genugsam erlernt hatte, hörte er zufällig, daß unter der Decke +der Nacht sich Manches zutragen solle, was den Augen Sterblicher zu +schauen verwehrt sei. Jetzt sehnte er sich darnach, solche +Heimlichkeiten der Nacht zu ergründen, und mochte sich nicht eher +zufrieden geben, als bis ihm diese verborgene Kunde geworden wäre. Wohl +ging er eine Zeit lang von einem Zauberer zum andern, und lag ihnen an, +ihm zu seinem Zwecke die Augen zu schärfen, aber keiner konnte helfen. +Da kam er durch einen glücklichen Zufall endlich mit einem +Mana-Zauberer[10] aus Finnland zusammen, der über diese verborgenen +Dinge Auskunft zu geben wußte. Als er diesem seinen Wunsch kund gethan +hatte, sagte der Zauberer warnend: »Söhnlein! jage nicht allerlei leerer +Weisheit nach, welche dir kein Glück bringen kann, wohl aber Unglück. +Manches ist den Augen der Menschen verhüllt, weil es dem Frieden des +Herzens ein Ende machen müßte, wenn es erkannt würde. Wer alle geheimen +Dinge schauen lernt, der findet keine Freude mehr an dem, was ihm die +Alltagswelt vor Augen bringt. Dies bedenke, ehe du später bereuest. +--Dennoch will ich, falls du meiner Abmahnung nicht achtest und dein +Unglück wünschest, dich unterweisen, wie du die unter der Decke der +Nacht geschehenden Dinge gewahr werden kannst. Aber du mußt mehr als +Mannesmuth haben, sonst kannst du nie geheimer Weisheit inne werden.« +Darauf gab ihm der Zauberer aus Finnland einen Ort an und nannte ihm +die, zum Glück nahe bevorstehende Nacht,[11] wo der Schlangenkönig immer +nach sieben Jahren mit seinem Hofstaat zusammenkommt, um ein großes +Festgelage zu halten. »Der Schlangenkönig hat ein Goldschüsselchen mit +Himmelsziegenmilch vor sich; wenn es dir nur gelingt, ein Stückchen Brot +in diese Milch zu tunken und den eingetunkten Bissen in den Mund zu +stecken, ehe du dich wieder auf die Flucht begiebst, so kannst du alles +Geheime schauen, was unter der Decke der Nacht geschieht, ohne daß die +Menschen Kunde davon haben. Als einen glücklichen Zufall kannst du es +ansehen, daß des Schlangenkönigs Fest gerade in dieses Jahr fällt, sonst +hättest du sieben Jahre auf die Wiederkehr desselben warten müssen. Sei +aber dreist, beherzt und rasch, sonst geht die Sache schief.« -- Der +Jüngling dankte für diese Belehrung und ging mit dem festen Vorsatz, +derselben nachzukommen, und müßte er auch dabei sein Leben einbüßen. Als +nun die bezeichnete Nacht herangekommen war, ging er Abends auf ein +großes Moor, wo der Schlangenkönig mit seinen Unterthanen zusammenkommen +sollte, um das Fest zu feiern. Obwohl aber der Jüngling seine Augen nach +allen Seiten scharf umhergehen ließ, so sah er doch im Mondenschein +nichts weiter, als eine Anzahl Rasenhügel, die unbeweglich da lagen. +Schon wurde ihm die Zeit lang, Mitternacht konnte nicht mehr fern sein, +als plötzlich mitten auf dem Moor ein heller Feuerschein aufstieg, etwa +wie wenn ein Stern des Himmels auf einem der Rasenhügel schimmerte. In +demselben Augenblicke, wo der Feuerschein aufglänzte, fingen sämmtliche +Rasenhügelchen an zu krimmeln und zu wimmeln, und von jedem derselben +kamen Hunderte von Schlangen herunter und krochen alle auf den +Feuerschein zu -- und jetzt war nur noch flaches Moor vorhanden. Die +vermeintlichen Hügelchen waren nichts weiter als Haufen lebendiger +Schlangen gewesen, die hier ihren König erwartet hatten. Als nun +sämmtliche Schlangen sich an der Stelle, wo der Feuerschein glänzte, +versammelt und sich dort zu _einem_ Haufen zusammengeknäult hatten, war +dieser so hoch und breit wie ein kleiner Heuschober geworden, und auf +der Spitze desselben hielt sich der helle Feuerschein. Das Gewirre und +Geschwirre in dem Schlangenhaufen war so groß, daß der Jüngling vor +Furcht keinen Schritt näher zu treten wagte, sondern lange von weitem +stehen blieb, und das Wunder betrachtete. Allmählich aber faßte er sich +ein Herz, und ging fein sachte Schritt vor Schritt auf den Zehen +vorwärts. Was er da sah, war gräulicher als gräulich, und ging über alle +Begriffe. Tausende von Schlangen, groß und klein, von allen Farben, +waren hier wie in einem Traubenbündel um eine große Schlange gelagert, +deren Körper die Dicke eines tüchtigen Balkens zu haben schien, und die +auf dem Kopfe eine prächtige goldene Krone[12] trug, von welcher jener +Glanz ausstrahlte. Hunderte und Tausende von Schlangenhäuptern, die aus +dem Haufen hervorragten, züngelten und zischten wie böse Gänse und +machten ein so arges Geräusch, daß es zum Taubwerden war. Der Jüngling +hatte lange nicht das Herz, an den Schlangenhaufen heranzugehen, wo +jeder Augenblick ihm Tod drohte; als er aber plötzlich das +Goldschüsselchen, von dem er gehört hatte, vor dem Schlangenkönig +erblickte und an den daran geknüpften Gewinn dachte, durfte er nicht +länger zaudern. Obwohl ihm die Haare zu Berge standen und das Blut im +Herzen erstarrte, so stachelte ihn doch sein Verlangen und trieb ihn +vorwärts. -- O was für ein Gewirr und Geschwirr sich jetzt in dem +Schlangenhaufen erhob! Alle die Tausend Köpfe sperrten die Mäuler weit +auf und suchten den Mann zu stechen, aber zum Glück konnten sie ihre +Leiber nicht so schnell aus dem Knäuel los wickeln. Der Jüngling hatte +mit Blitzesschnelle einen Bissen Brot in das Goldschüsselchen getunkt, +ihn in den Mund gesteckt und dann Fersengeld gegeben, als ob Feuer +hinter ihm drein jagte. Aber der Verfolger war schlimmer als Feuer, +darum ließ er sich nicht Zeit, hinter sich zu blicken, obgleich ihm war, +als ob Tausende von Feinden ihm auf der Ferse wären und er stets das +Geräusch derselben zu hören glaubte. Endlich stockte ihm der Athem und +seine Kraft erlahmte; er fiel ohne Bewußtsein auf den Rasen und blieb +starr wie ein Todter liegen. Wohl war er in Schlaf gefallen, aber +schreckliche Traumbilder ließen die Gefahr noch viel größer erscheinen. +So träumte ihm, als wäre der Schlangenkönig mit der funkelnden Goldkrone +auf ihn gefallen und wollte ihn verschlingen. Mit lautem Geschrei sprang +er auf und zur Seite, um dem Feinde zu entkommen und sah, daß der Strahl +der aufgehenden Sonne ihn geweckt hatte. Er riß die Augen weit auf, sah +aber nirgends die nächtlichen Feinde, und das Moor, wo er in so großer +Gefahr gewesen, mußte zum mindesten eine Meile weit entfernt sein. +Sicherlich hatte die Himmelsziegenmilch seine Kraft gestählt, daß er so +weit hatte laufen können. Als er dann seine Gliedmaßen prüfte, fand er +sie unversehrt; und nun war seine Freude groß, daß er mit heiler Haut +davon gekommen war. + +Nach Mittag ruhte er mehrere Stunden vom Schrecken und der Ermüdung der +vergangenen Nacht aus, dann beschloß er, noch in dieser Nacht in den +Wald zu gehen, um den Nutzen der Himmelsziegenmilch zu erproben, ob ihm +nun wirklich verborgene Dinge offenbar werden würden. Im Walde sah er +alsbald, was noch kein sterbliches Auge gesehen hatte und auch gewiß +nicht wieder sehen wird. Unter den Baumwipfeln zeigten sich goldene, +röthlich schimmernde Badebänke, silberne Quäste und silberne Eimer +fehlten nicht, aber nirgends waren lebende Wesen sichtbar, welche hätten +baden wollen. Der Vollmond glänzte und gab so viel Licht, daß der Mann +Alles deutlich sehen konnte. Nach einiger Zeit hörte er ein Geräusch im +Laube, als ob ein Wind sich erhoben hätte, dann kamen von allen Seiten +nackte Jungfrauen, viel schöner und stattlicher anzuschauen, als sie +irgendwo in unsern Dörfern aufwachsen. Sie waren alle des Waldelfen und +der Rasenmutter[13] Töchter und kamen, um zu baden. Der hinter dem +Gebüsch spähende Jüngling hätte sich diese Nacht hundert Augen +gewünscht, denn seine zwei konnten all' die Schönheit nicht erschauen. +Endlich, als es schon gegen Morgen ging, verlor der Schauende +Badegerüste und badende Jungfrauen aus dem Gesichte, als wären sie in +Nebel verschwommen. Er blieb noch, bis die Sonne aufging; dann erst +ging er wieder heim. Wohl dehnte sich seinem Sehnen der Tag länger als +ein Jahr, bis wieder Abend und Nacht hereinbrachen, wo er hoffte, der im +Mondschein badenden Jungfrauen abermals ansichtig zu werden; doch +endlich war auch diese Zeit des Sehnens verstrichen. Aber im Walde fand +er nichts mehr, weder Badegerüst noch Jungfrauen. Dennoch wurde er nicht +müde, Nacht für Nacht hinzugehen, aber jeder Gang war vergeblich. Jetzt +nagte der Kummer an ihm, es gab nichts mehr auf der Welt, was ihm hätte +Freude machen können; er nahm weder Speise noch Trank zu sich, sondern +verzehrte sich vor Sehnsucht. Gewiß ist es für den Menschen ein Glück, +wenn er dergleichen Geheimnisse nimmer schaut. + +[Fußnote 10: Mana ist in der finnischen Mythologie gleich Hades-Pluto; +er wird als ein alter Mann mit drei Fingern und einem auf die Schulter +herabhängenden Hute geschildert. In einer ehstnischen Gebetsformel aus +dem Heidenthum ist von »Manas wahrem Bekenntnisse« die Rede. S. +_Kreutzwald_ u. _Neus_, Myth. u. mag. Lieder der Ehsten. S. 8. Die +Mana-Zauberer kommen auch im _Kalewipoëg_ vor: =XVI=, 284. Der Kalewsohn +nimmt sie mit, als er auf seinem Schiffe Lennok das Weltende aufsuchen +will. -- Der Mana-Zauberer ist der stärkste, und stärker als Spruch- und +Wind-Zauberer -- nur durch den Manazauber gelingt es dem Entführer der +Linda, das Schwert von der Seite des Kalewsohnes hinwegzulocken. +_Kalewipoëg_, =XI=, 334. Mana's Hand hält den nach dem Tode zum +Höllenwächter bestellten, auf weißem Roß sitzenden Kalewsohn fest, so +daß dieser seine im Felsen steckende Rechte nicht losreißen und davon +reiten kann. S. den Schluß des Kalewipoëg. -- Die Mana-Zauberer heißen +ehstnisch =Mana targad=; das Wort =tark=, pl. =targad=, bedeutet eigentlich +den Klugen, Weisen und zugleich den Heil-und Zauberkundigen. L.] + +[Fußnote 11: Nach dem estnischen Volksglauben findet immer in der Nacht +des 25. April (des St. Markustages) ein allgemeiner Schlangenconvent +statt: als die Localität wird der =sirtsosoo= (Heimchenmoor) westlich vom +Peipussee genannt. S. _Kreutzwald_ u. _Neus_, Mythische u. mag. Lieder der +Ehsten, S. 77. L.] + +[Fußnote 12: Diese Krone ist von den unterirdischen Zwergen +geschmiedet. S. die Anm. zu Märchen 17. L.] + +[Fußnote 13: S. die betreffende Nota zu dem Märchen 8 vom Schlaukopf. +L.] + + + + +3. Schnellfuß, Flinkhand und Scharfauge. + + +Es lebte einmal ein wohlhabender Bauerwirth mit seinem Weibe; es +mangelte ihnen an Nichts, vielmehr hatte Gott sie mit Allem reichlich +gesegnet, so daß sie in den Augen der Menschen als glücklich galten. +Aber eins fehlte ihnen doch, was kein Reichthum geben konnte, sie waren +kinderlos, wiewohl ihre Ehe schon über zehn Jahre dauerte. + +Da geschah es eines Abends, als der Mann von Hause gegangen war und die +Frau allein im Zimmer saß, daß ihr die Zeit lang wurde und Unmuth sie +überfiel. »Da sind doch die Nachbarweiber viel glücklicher als ich,« +dachte die Frau. »Sie haben das Zimmer voll Kinder, um sich die Zeit zu +vertreiben; ist auch der Mann einmal von Hause, so brauchen sie doch +nicht allein zu sitzen. Ich aber habe Niemand weiter, den ich mein +nenne, wie ein verdorrter Baumstamm muß ich allein im leeren Gemache +hausen.« Während sie so dachte, traten ihr die Thränen in die Augen, und +ich weiß nicht, wie lange die Frau schon so kummervoll da gesessen +hatte, ohne zu bemerken, daß ein unerwarteter Gast in's Zimmer getreten +war. Plötzlich fühlte sie, daß etwas ihre Fußknöchel kitzele und meinte, +es sei die Katze, als sie aber die Augen an den Boden heftete, sah sie +einen zierlichen Zwerg zu ihren Füßen. »Ach!« rief sie erschreckt und +wollte aufspringen und fliehen, aber des Zwergleins Hände hielten sie +fest wie mit eisernen Zangen, so daß sie nicht von der Stelle konnte. +»Erschrick nicht, liebes junges Weib!« sagte der Zwerg freundlich -- +»daß ich ungerufen kam deinen Sinn zu erheitern und deinen Gram zu +stillen; du bist allein, der lange Abend schleicht dem Menschen so träge +hin, dein Mann ist verreist und kommt erst nach einigen Tagen zurück. +Liebes junges Weib.« -- Die Frau unterbrach ihn unwillig: »Spotte nur +nicht, die Haube, welche ich bei der Hochzeit trug, schimmelt schon über +zehn Jahre in der Truhe und beweint, verwaist, die frühere bessere +Zeit.«[14] »Was thut's,« erwiederte der Zwerg, »Wenn die Frau noch +keinen Schweif hinter sich hat, und noch jugendlich und frisch ist wie +du, dann ist sie immer noch »junges Weib«, und du hast ja bis jetzt +keine Kinder gehabt, darfst dich also auch so nennen lassen.« »Ja,« +sagte die Frau, »das ist es eben, was mich oft so bekümmert, daß mein +Mann mich schon längst gering achtet, da er mich fruchtlos umarmt wie +einen dürren Stamm, der keine Zweige mehr treibt.« Der Zwerg aber sagte +tröstend: »Sorge nicht, du stehst noch nicht am Abend deiner Tage, und +ehe du ein Jahr älter geworden bist, werden deinem Stamm, den du für +vertrocknet hältst, drei Zweige entsprießen und den Eltern zur Freude +aufwachsen. Du mußt nun aber Alles so machen, wie ich dir jetzt anzeigen +werde. Wenn dein Mann wieder nach Hause kommt, so mußt du ihm drei Eier +von einer schwarzen Henne sieden und Abends zu essen geben. Wenn er dann +schlafen geht, so mache dir etwas auf dem Hofe zu schaffen und verweile +dort einige Zeit, bevor du an die Seite deines Mannes ins Bette +schlüpfst. Wenn die Zeit da ist, daß meine Worte in Erfüllung gehen, so +komme ich wieder. Bis dahin bleibe mein heutiger Besuch Allen ein +Geheimniß. Leb' wohl, liebes junges Weib, bis ich wiederkehre und: +Mutter! sage.« Darauf entschwand der Zwerg den Blicken der Frau, als +wäre er in die Erde gesunken. Das junge Weib -- ihr war der Name +kränkend -- rieb sich lange die Augen, als ob sie hinter die Wahrheit +kommen und sehen wollte, ob es Wirklichkeit oder Traum gewesen sei. +Wonach der Mensch sich sehnt, das hält er meist für wahr, und so war es +auch mit der Frau. Der seltsame Vorfall mit dem Zwerge kam ihr nicht +mehr aus dem Sinn, und als der Mann nach einigen Tagen heimkehrte, sott +die Frau drei Eier von einer schwarzen Henne gab sie ihm am Abend zu +essen und that sonst, wie ihr vorgeschrieben war. + +Nach einigen Wochen traf ein, was der Zwerg vorausgesagt hatte. Mann und +Frau waren froh und konnten zuletzt kaum die lange Frist abwarten, +binnen welcher sich ihr Verlangen erfüllen sollte. Zur rechten Zeit kam +die Frau in die Wochen und brachte Drillinge zur Welt, lauter Knaben, +schön und gesund. Als die Wöchnerin schon wieder in der Genesung und der +Mann eines Tages von Hause gegangen war, um Taufgäste und Gevattern +zusammen zu bitten, kam der glückbringende Zwerg, die Wöchnerin zu +besuchen. »Guten Tag, Goldmutter!« rief der Zwerg in's Zimmer tretend. +»Siehst du jetzt, wie Gott deinen Herzenswunsch mit einem Male erfüllt +hat? Du bist Mutter dreier Knaben geworden. Da siehst du, daß meine +Prophezeiung keine leere war, und du kannst jetzt um so leichter +glauben, was ich dir heute sagen werde. Deine Söhne werden weltberühmte +Männer werden und werden dir noch viele Freude machen vor deinem Tode. +Zeige mir doch deine Bübchen!« Mit diesen Worten war er wie eine Katze +auf den Rand der Wiege geklettert, nahm ein Knäulchen rothen Garns aus +der Tasche und band dem einen Knaben einen Faden um beide Fußknöchel, +dem andern wieder um die Handgelenke und dem dritten über die +Augenlieder um die Schläfen herum. »Diese Fäden,« so lautete des Zwerges +Vorschrift, mußt du so lange an ihrer Stelle belassen, bis die Kinder +zur Taufe geführt werden; dann verbrenne die Fäden, sammle die Asche in +einem kleinen Löffel und netze sie, wenn die Kinder nach Hause gebracht +werden, mit etwas Milch aus deiner Brust. Von dieser stärkenden +Aschenmilch mußt du jedem Knaben ein Paar Tropfen auf die Zunge gießen, +ehe du ihm die Brust reichst. Dadurch wird jeder von ihnen da stark +werden, wo der Faden haftete, der eine an den Füßen, der andere an den +Händen und der dritte an den Augen, so daß ihres Gleichen nicht sein +wird auf der Welt. Jeder wird schon mit seiner eigenen Glücksgabe Ehre +und Reichthum finden, wenn sie aber selbdritt etwas unternehmen, so +können sie Dinge ausrichten, die man nicht für möglich halten würde, +wenn man sie nicht vor Augen sähe. Mich wirst du nicht mehr wiedersehen, +aber du wirst dich wohl noch manches Mal dankbar meiner erinnern, wenn +deine Knäblein zu Männern herangewachsen sind und dir Freude machen +werden. Und jetzt sage ich dir zum letzten Male Lebewohl, liebe junge +Mutter! -- Mit diesen Worten war der Zwerg wieder, wie das erste Mal, +plötzlich verschwunden. + +Die Wöchnerin that sorgfältig Alles, was ihr in Betreff der Kinder +vorgeschrieben war. Sie verbrannte am Tauftage die rothen Fäden zu +Asche, ließ, als die Kinder aus der Kirche nach Hause gebracht wurden, +Milch aus ihrer Brust auf die Asche fließen und goß von dieser +Kraftmilch jedem Kinde ein Paar Tropfen auf die Zunge, ehe sie ihm die +Brust reichte. Doch sagte sie Anfangs weder ihrem Manne noch sonst +jemanden ein Wort von den wunderbaren Dingen, die ihr mit dem Zwerge +begegnet waren. + +Die Kinder wuchsen alle drei blühend heran und gaben, als sie fest auf +ihren Füßen standen, Proben großer Klugheit. Doch zeigte sich schon von +früh auf, daß bei jedem die durch den Wunderfaden gekräftigten Glieder +am tüchtigsten waren: bei dem einen die Augen, bei dem andern die Hände +und bei'm dritten die Füße. Deßhalb nannten die Eltern sie später je +nach ihrer Hauptstärke, den ersten _Scharfauge_, den zweiten _Flinkhand_ und +den dritten _Schnellfuß_. Als nach einigen Jahren die Brüder in's +Jünglingsalter getreten waren, beschlossen sie, im Einvernehmen mit +ihren Eltern, in die Fremde zu ziehen, wo jeder durch seine Stärke und +Geschicklichkeit Dienste und Lohn zu finden hoffte. Und zwar wollte +jeder der Brüder für sich allein den Weg zum Glücke antreten, der eine +gen Morgen, der andere gen Mittag und der dritte gen Abend; nach drei +Jahren aber wollten sie alle drei wieder zu den Eltern zurückkommen und +melden, wie es ihnen in fremden Landen ergangen sei. + +_Schnellfuß_ nahm den Weg gen Morgen, von ihm müssen wir nun zuerst +erzählen. Daß er mit seinen mächtigen Schritten viel rascher vorwärts +kam als seine Brüder, das kann Jeder leicht ermessen, denn wo die Meilen +einem Manne unter den Füßen schwinden, ohne daß diese ermüden, da wird +ihm das Wandern nicht beschwerlich. Gleichwohl sollte er die Erfahrung +machen, daß flinke Beine wohl überall einen Menschen aus einer Gefahr +befreien können, aber nicht so leicht zu Amt und Brod verhelfen: denn +Hände sind aller Orten nöthiger als Füße. _Schnellfuß_ fand erst nach +geraumer Zeit bei einem Könige in Ostland einen festen Dienst. Der König +besaß große Roßherden, unter denen viele stätische Renner waren, die +kein Mensch fangen konnte, auch nicht einmal zu Roß. Aber mit _Schnellfuß_ +konnte kein Pferd Schritt halten, der Mann war immer schneller als das +Roß. Was früher funfzig Pferdehirten zusammen nicht ausrichten konnten, +das besorgte er ganz allein und ließ nie ein Pferd von der Herde +wegkommen. Darum zahlte ihm der König unweigerlich den Lohn von funfzig +Hirten, und machte ihm außerdem noch Geschenke. Die flüchtigen Schritte +des neuen Roßhirten hatten Windesschnelle, und wenn er vom Abend bis zum +Morgen die ganze Nacht durch oder vom Morgen bis zum Abend den Tag über +gelaufen war, ohne auszuruhen, so war er doch nicht müde, sondern konnte +am andern und am dritten Tage wieder eben so viel laufen. Es geschah +oft, daß die Rosse, bei heißem Wetter von Bremsen gestochen, nach allen +Seiten hin auseinander fuhren und viele Meilen weit rannten: aber +dennoch war am Abend die ganze Herde wieder beisammen. Da gab einst der +König ein großes Gastmahl, zu welchem viele vornehme Herren und Fürsten +geladen waren. Während des Festes hatte der König seinen Gästen viel von +seinem schnellfüßigen Roßhirten erzählt, so daß alle den Wundermann zu +sehen begehrten. Manche meinten, es dürfe wohl nicht Wunder nehmen, wenn +die in der Herde aufgezogenen und an den Hirten gewöhnten Rosse sich +einfangen ließen; das allerstörrigste Pferd höre auf des Herrn Wort und +komme auf dessen Ruf. Aber gebt ihm einmal ein Pferd aus einem fremden +Stalle, das ihn nicht kennt, dann werden wir sehen, wie weit die +Schnelligkeit des Mannes gegen die des Rosses kommt. Da ließen einige +fremde Herren die bestgefütterten und feurigsten Rosse aus ihren Ställen +herführen und dann ins Freie treiben, auf daß _Schnellfuß_ sie einfange. +Das war dem Hirten mit den beflügelten Füßen eine Kleinigkeit, denn auch +ein gestandennes, wohlgenährtes Pferd kann doch nicht mit Einem um die +Wette laufen, der wie ein Vogel des Waldes gewohnt ist, Nacht und Tag +sich zu rühren. Die fremden Herrschaften priesen die Schnellfüßigkeit +des Mannes und schenkten ihm viel goldene und silberne Münzen, +versprachen auch daheim von ihm zu reden, damit man erfahre, wo solch' +ein Mann zu finden sei. Bald darauf war im ganzen Ostlande der Name +_Schnellfuß_ berühmt geworden, und wenn irgend ein König einmal einen +schnellen Boten brauchte, so wurde _Schnellfuß_ gemiethet, der dann +reichen Lohn und außerdem noch Geschenke erhielt, damit er sich ein +anderes Mal wieder willig finden ließe. Als er nach drei Jahren sich +aufmachte um in die Heimath zurückzukehren, hatte er soviel Geld und +Schätze gesammelt, daß er zwanzig Pferde damit beladen konnte, welche +ihm der König geschenkt hatte. + +Der zweite Bruder, _Flinkhand_, der gen Mittag gezogen war, fand aller +Orten lohnenden Dienst; alle Meister brauchten seine Arbeit, weil kein +anderer Gesell so geschickt war und so viel fertig machte wie er. Obwohl +er nicht in einer Zunft ein bestimmtes Handwerk erlernt hatte, so +gerieth in seiner geschickten Hand doch jegliche Arbeit; er war +Schneider, Schuster, Tischler, Drechsler, Gold- und Grobschmied, oder +was sonst dergleichen, und es war auf der Welt kein Meister zu finden, +dem er nicht zum Gesellen getaugt hätte. Einmal war er bei einem +Schneidermeister auf Stücklohn in Arbeit und nähte in einem Tage zwanzig +Paar Hosen, ein anderes Mal machte er für einen Schuster in eben der +Zeit ebensoviel Paar Stiefel fertig. Dabei war Alles, was er machte, so +vollkommen, daß, wer einmal seine Arbeit kennen gelernt hatte, von +derjenigen anderer Meister und Gesellen nichts mehr wissen wollte. +_Flinkhand_ hätte bei jedem Handwerk ein reicher Mann werden können, wenn +er irgendwo längere Zeit hätte aushalten können, allein er sehnte sich +darnach, die weite Welt zu sehen und streifte deßhalb gewöhnlich von +einem Ort zum andern. So kam er auch einmal in eine Königsstadt, wo er +Alles in großer Bewegung fand. Es sollten Truppen gegen den Feind +ausgesandt werden, aber es mangelte an Kleidern, an Fuß- und +Kopfbedeckung und auch an Waffen. Und obgleich überall Meister und +Gesellen von früh Morgens bis Mitternacht eifrig arbeiteten und sogar +Sonntags und Montags nicht feierten, so konnten sie doch in der kurzen +Zeit nicht soviel anfertigen, wie der König wollte. Zwar wurde nah und +fern nach Gesellen gesucht, die helfen sollten, aber des Fehlenden war +so viel, daß all' die Arbeit nicht hinreichend schien, es herzustellen. + +Eines Tages nun trat _Flinkhand_ in des Königs Schloß und wünschte den +König zu sprechen. Dann sagte er: »Geehrter König! ich höre von den +Leuten, daß ihr sehr eilige Arbeiten braucht. Ich bin ein weitgereister +Meister und kann vielleicht die Arbeiten übernehmen, wenn wir Handels +einig werden und ihr mir die Frist nennt, binnen welcher sie fertig sein +müssen.« Als der König die Frist genannt hatte, sagte _Flinkhand_: »Lasset +alle Meister der Stadt zusammenrufen und befragt sie, ob sie bis zu dem +genannten Tage mit den Arbeiten fertig werden können, wenn das nicht der +Fall ist, so übernehme ich Alles, aber den Arbeitslohn habt ihr dann mir +allein zu zahlen.« -- »Das wäre schon recht,« erwiederte der König, +»wenn ihr so viele Gesellen bekommen könntet, aber das ist ja eben, was +unsern städtischen Meistern fehlt, sie finden nicht genug Arbeiter.« -- +»Das sei meine Sorge,« erwiederte _Flinkhand_. Den andern Tag wurden alle +Meister der Stadt in das Schloß gerufen und gefragt, wann Jeder mit +seiner Arbeit fertig zu werden glaube, worauf einige vier und fünf +Monate, andere noch mehr Zeit verlangten. »Nun,« sagte _Flinkhand_ zum +Könige, »wenn ihr mir für drei Monate den doppelten Lohn versprecht, so +will ich allein all' die Arbeit übernehmen, mit der die Andern wohl erst +in einem halben Jahre zu Stande kämen.« Das schien indeß dem Könige so +wunderbar und so unglaublich, daß er besorgte, man wolle ihm einen +Possen spielen und deßhalb fragte: »Was für eine Bürgschaft kannst du +mir geben, daß du deine Versprechungen erfüllen wirst?« _Flinkhand_ +erwiederte: »Geld und Kostbarkeiten, die ich als Schadenersatz bieten +könnte, habe ich freilich nicht, aber wenn ihr mein Leben zum Pfande +wollt, so ist unser Handel bald geschlossen. Damit ihr aber auch nicht +die Katze im Sack zu kaufen braucht, will ich euch morgen eine +Probearbeit bringen.« Das war der König zufrieden. Die Gesellen aber +meinten untereinander, wenn er doppelte Zahlung erhält, so muß er uns +auch doppelten Arbeitslohn geben, sonst werden wir ihm nicht helfen. Als +der König am folgenden Tage die Probearbeit gesehen hatte, war er sehr +zufrieden damit, und obwohl alle übrigen Meister vor Neid bersten +wollten, konnte doch keiner die Arbeit tadeln. Jetzt machte sich +_Flinkhand_ wie ein Mann an's Werk. War ihm auch früher schon alle Arbeit +von der Hand geflogen, so war doch die Hurtigkeit, die er jetzt von früh +bis spät entfaltete, mehr als wunderbar; kaum nahm er sich soviel Zeit, +um zu essen und in der Nacht ein wenig, wie ein Vogel auf dem Ast, zu +ruhen. Zwei Wochen vor der bedungenen Frist war aller Bedarf für die +Soldaten fertig und dem Könige abgeliefert. Der König zahlte den für +drei Monate bedungenen Preis doppelt, und fügte fast eben soviel noch +als Geschenk hinzu. Dann sagte er: »Lieber kluger Meister! ich möchte +mich von dir nicht so schnell trennen. Hast du nicht Lust mit dem Heere +gegen die Feinde zu ziehen? Wer so geschickt alle Arbeiten anzufertigen +weiß, aus dem kann sicher auch der allerbeste Kriegsmann werden.« +_Flinkhand_ erwiederte: »Vielleicht verhält sich die Sache so, wie ihr, +geehrter König, meint, aber aufrichtig gesagt: ich habe, so lang ich +lebe, das Kriegshandwerk noch nicht versucht, sondern bis jetzt nur +unblutige Arbeit gethan. Ueberdieß rückt auch die Zeit heran, wo die +Eltern mich zu Hause erwarten; nehmt es darum nicht übel, wenn ich eurem +Verlangen diesmal nicht entsprechen kann.« So schied er von der +Königsstadt, wo er in kurzer Zeit zum reichen Manne geworden war. Er +hatte noch über ein halbes Jahr bis zur Heimreise, darum streifte er von +einem Orte zum andern und wenn er sich irgendwo länger aufhielt, so +arbeitete er, um das Reisegeld zusammenzubringen, denn er wollte sein +angesammeltes Vermögen nicht angreifen. + +Der dritte Bruder, _Scharfauge_, der seinen Weg gen Abend genommen hatte, +schweifte lange von einem Orte zum andern, ohne einen passenden und +lohnenden Dienst zu finden. Als geschickter Schütze konnte er zwar +allenthalben soviel erwerben, um seinen täglichen Unterhalt zu +bestreiten, aber was hatte er dann bei der Heimkehr mit nach Hause zu +bringen? Mit der Zeit war er auf seiner Wanderung in eine große Stadt +gerathen, wo man nur von dem Unglück sprach, das den König schon drei +Mal getroffen hatte, und das Niemand zu begreifen, geschweige zu +verhüten vermochte. Die Sache verhielt sich so. Der König hatte in +seinem Garten einen kostbaren Baum, der wie ein Apfelbaum aussah, aber +goldene Aepfel trug, von denen manche so groß waren wie ein großes +Knäuel Garn, und viele tausend Rubel werth sein mochten. Es läßt sich +denken, daß ein solches Obst nicht ungezählt blieb, und daß Nacht und +Tag Wachen rings umher standen, um jeden Diebstahl zu verhüten. Trotzdem +war schon drei Nächte hintereinander immer einer der größeren Aepfel +gestohlen worden; man schätzte den Werth eines solchen auf sechstausend +Rubel. Die Wachen hatten weder den Dieb gesehen noch seine Spur +gefunden. _Scharfauge_ dachte sich gleich, daß hier eine ganz besondere +List obwalte, die er mit seinem durchdringenden Blick wohl herausbringen +könnte. Er meinte, wenn der Dieb nicht körperlos und unsichtbar zum +Baume kommt, so wird er meinem scharfen Auge nicht entgehen. Er bat +deßhalb den König um die Erlaubniß, sich in den Garten begeben zu +dürfen, um ohne Vorwissen der Wächter seine Beobachtungen anzustellen. +Als er die Erlaubniß erhalten hatte, machte er sich im Wipfel eines +hohen Baumes, der nicht weit von dem Goldapfelbaume stand, ein Versteck +zurecht, wo Niemand ihn gewahr werden konnte, während sein scharfes Auge +überall hin reichte und Alles, was vorging, sehen konnte. -- Brotsack +und Milchfäßchen nahm er mit sich, damit er nicht genöthigt wäre seinen +Schlupfwinkel zu verlassen, falls das Wachen sich in die Länge zöge. Den +Goldapfelbaum und was rings um denselben vorging, behielt er nun +unausgesetzt im Auge. Die Wachtsoldaten hatten um den Baum herum drei so +dichte Kreise geschlossen, daß kein Mäuslein unbemerkt hätte +durchschlüpfen können. Wenn der Dieb nicht etwa Flügel hatte, auf dem +Boden konnte er nicht an den Baum gelangen. Den ganzen Tag über bemerkte +Scharfauge nichts, was einem Diebe ähnlich gesehen hätte. Bei +Sonnenuntergang flatterte ein kleiner gelber Schmetterling um den +Apfelbaum herum, bis er sich endlich auf einen seiner Zweige niederließ, +an welchem gerade ein sehr schöner Apfel hing. Daß ein kleiner +Schmetterling keinen goldenen Apfel vom Baume fortbringen konnte, +begreift Jeder so gut wie _Scharfauge_, allein da dieser nichts Größeres +gewahr wurde, so verwandte er kein Auge von dem gelben Schmetterling. +Die Sonne war längst untergegangen und auch die Abendröthe verschwand +allmählich vom Horizont, aber die um den Baum herum aufgestellten +Laternen gaben so viel Licht, daß man Alles sehen konnte. Der gelbe +Schmetterling saß immer noch unbeweglich auf seinem Zweige. Es mochte um +Mitternacht sein, als dem Wächter auf dem Baume die Augen ein wenig +zufielen. Wie lange er geschlummert hatte, wußte er nicht, als aber +seine Augen wieder auf den Apfelbaum fielen, sah er, daß der gelbe +Schmetterling nicht mehr auf dem Zweige saß, -- noch mehr erschrak er, +als er entdeckte, daß auch der herrliche Goldapfel von diesem Zweige +verschwunden war. Ein Diebstahl war geschehen, daran war nicht zu +zweifeln, allein wenn der geheime Wächter die Sache erzählt hätte, so +würden die Leute ihn für verrückt gehalten haben, denn soviel konnte ein +Kind einsehen, daß ein Schmetterling nicht im Stande war, den Goldapfel +weg zu tragen. Am Morgen gab es wieder großen Lärm, als man fand, daß +ein Apfel fehle, ohne daß einer der Wächter eine Spur vom Diebe gesehen +hätte. Da trat _Scharfauge_ abermals vor den König und sagte: »Ich habe +zwar den Apfeldieb ebensowenig gesehen wie eure Wachen, aber wenn ihr in +der Stadt oder in der Nähe derselben einen zauberkundigen Mann habt, so +weiset mich zu ihm, mit seiner Hülfe hoffe ich künftige Nacht des Diebes +habhaft zu werden.« Als er erfahren hatte, wo der Zauberer zu finden +sei, ging er unverzüglich zu ihm. Die Männer rathschlagten dann, wie sie +die Sache wohl am besten anfangen könnten. Nach einiger Zeit rief +_Scharfauge_ »Ich habe einen Plan! kannst du durch Zauber einem +Spinngewebe solche Festigkeit geben, daß die Fäden auch das stärkste +Geschöpf festhalten, dann legen wir den Dieb in Fesseln, so daß er uns +nicht wieder entrinnt.« Der Zauberer sagte, das sei möglich; nahm drei +große Kreuzspinnen, machte sie durch Hexenkraft so stark, daß kein +Geschöpf sich aus ihrem Gewebe losmachen konnte, that sie in ein +Schächtelchen und gab sie dem _Scharfauge_. »Setze diese Spinnen, wohin du +willst, und zeige ihnen mit dem Finger an, wie sie ihr Netz ziehen +sollen, so spinnen sie alsbald einen Käfig um den Gefangenen, aus +welchem nur Mana's[15] Weisheit erlösen kann; übrigens eile ich dir zu +Hülfe, wenn es dessen bedarf.« + +_Scharfauge_ schlüpfte mit dem Schächtelchen im Busen wieder auf seinen +Baum, um den Verlauf der Sache zu überwachen. Zu derselben Zeit wie +gestern sah er den gelben Falter wieder um den Apfelbaum her schweben, +aber es dauerte heute viel länger als gestern, ehe sich der +Schmetterling auf einen Zweig setzte, an welchem ein großer Goldapfel +hing. Sofort ließ sich Scharfauge von seinem Baume herunter, näherte +sich dem Goldapfelbaum, ließ eine Leiter anlegen, kletterte sachte +hinauf, um den Schmetterling nicht zu scheuchen, und setzte seine +kleinen Weber je auf drei Zweige. Eine Spinne kam so einige Spannen über +dem Schmetterling, die andere zu seiner Rechten, die dritte zu seiner +Linken zu sitzen; dann beschrieb Scharfauge mit dem Finger eine Linie in +die Kreuz und die Quer um den Schmetterling herum. Dieser saß mit +aufgerichteten Flügeln unbeweglich da. Mit Sonnenuntergang war der +Wächter wieder in seinem Baumversteck. Von da aus sah er zu seiner +Freude, wie die drei Gesellen um den Schmetterling her von allen Seiten +ein Gehege machten, aus welchem das Männlein nicht hoffen durfte zu +entkommen, wenn anders die Kraft, deren der Zauberer sich gerühmt hatte, +sich bewähren würde. Wohl suchte unser Mann auf seinem Baume sich vor +dem Einschlummern zu hüten, aber dennoch waren ihm mit einem Male die +Augen zugefallen. Wie lange er geschlummert hatte, wußte er nicht, aber +ein großer Lärm hatte ihn plötzlich aufgeweckt. Als er hinsah, nahm er +wahr, daß die Wachtsoldaten wie die Ameisen um den Goldapfelbaum herum +liefen und tobten; auf dem Baume aber saß ein alter graubärtiger Mann, +einen Goldapfel in der Faust, in einem eisernen Netze. Hurtig stieg +_Scharfauge_ von seinem Wipfel herunter, aber ehe er den Goldapfelbaum +erreicht hatte, war auch schon der König da, der bei dem Lärm der Wachen +aus dem Bette gesprungen und herbeigeeilt war, um zu sehen, was sich +Unerwartetes in seinem Garten zutrug. Da saß nun der Dieb im Eisenkäfig +und konnte nirgends hin »Geehrter König,« sagte dann _Scharfauge_: »jetzt +könnt ihr euch ruhig niederlegen und bis zum hellen Morgen schlafen, +der Dieb entkommt uns nicht mehr. Wäre er auch noch so stark, so kann er +doch die durch Hexenkraft entstandenen Maschen seines Käfigs nicht +zerreißen.« Der König dankte und befahl dem Haupthaufen der +Wachtsoldaten ebenfalls schlafen zu gehen, so daß nur noch einige unter +dem Baume auf Wache blieben; _Scharfauge_, der zwei Nächte und zwei Tage +gewacht hatte, ging ebenfalls um auszuschlafen. + +Am andern Morgen ging er mit dem Zauberer in des Königs Schloß. Der +Zauberer war froh, als er den Dieb im Käfig fand und wollte ihn auch +nicht eher herauslassen, als bis das Männlein seine wahre Gestalt +gezeigt haben würde. Zu dem Ende schnitt er ihm den halben Bart unter +dem Kinne ab, ließ Feuer bringen und fing an die Barthaare zu sengen. O +der Pein und Qual, welche der Vogel im Eisenkäfig jetzt auszustehen +hatte![16] Er schrie jämmerlich und überschlug sich vor Schmerz, aber +der Zauberer ließ nicht ab, sondern sengte immer mehr Haare, um den Dieb +mürber zu machen. Dann rief er: »Bekenne, wer du bist?« Das Männlein +antwortete: »Ich bin des Hexenmeisters _Piirisilla_ Knecht, den sein Herr +ausgeschickt hat zu stehlen.« Der Zauberer begann wieder die Barthaare +zu sengen. »Au, au!« schrie der Hexenmeister, »laßt mir Zeit, ich will +bekennen! Ich bin nicht der Knecht, ich bin des Hexenmeisters Sohn.« +Abermals wurden Haare gesengt, da rief der Gefangene heulend: »Ich bin +der Hexenmeister Piirisilla selbst.« »Zeige uns deine natürliche +Gestalt -- oder ich senge wiederum,« befahl der mächtige Zauberer. Da +begann das Männlein im Käfig sich zu strecken und auszudehnen, und war +in wenig Augenblicken zu einem gewöhnlichen Manne angewachsen, der die +Entwendung der Goldäpfel ohne Umschweife eingestand. Jetzt wurde er +sammt dem Käfige vom Baume heruntergenommen und gefragt, wo das +Gestohlene versteckt sei? Er versprach die Stelle selbst zu zeigen, aber +_Scharfauge_ bat den König, den Dieb ja nicht aus dem Käfig zu lassen, +denn sonst könnte er sich wieder in einen Schmetterling verwandeln und +ihnen entkommen. Ehe er aber alle Diebslöcher angab, mußte er noch +manches Mal gesengt werden, und als endlich alle Goldäpfel +herbeigeschafft waren, wurde der böse Dieb im Käfig verbrannt und seine +Asche in die Luft gestreut. + +Als der König seinen Schatz wieder hatte, zahlte er dem _Scharfauge_ einen +sehr großen Lohn, so daß er auf ein Mal wohl noch reicher ward als seine +beiden Brüder. Der König hätte ihn gern in seine Dienste genommen, aber +_Scharfauge_ sagte: »Ich kann jetzt keinen Dienst mehr annehmen, sondern +muß nach Hause, um meine Eltern zu sehen.« Darauf schenkte ihm der König +Pferde, Wagen und Diener, welche ihm seine Reichthümer nach Hause +brachten. + +Als nun die Brüder im elterlichen Hause wieder beisammen waren, fanden +sie sich so reich, daß sie mehr als ein halbes Königreich hätten kaufen +können. Die Mutter erinnerte sich jetzt, wie der glückbringende Zwerg +das Alles zu Wege gebracht hatte, aber sie verschwieg den wunderbaren +Vorfall. Reichthum war jetzt in solchem Maße vorhanden, daß die Söhne +gewiß nicht nöthig gehabt hätten sich einen neuen Dienst zu suchen; aber +wo fände man wohl auf der Welt den Reichen, der mit seiner Habe +zufrieden wäre und dieselbe nicht immer noch zu mehren suchte? Als die +Brüder später erfuhren, daß eines überaus reichen Königs Tochter im +Nordlande demjenigen zu Theil werden sollte, der drei besonders +schwierige Dinge ausführen könnte, die bis dahin noch keinem möglich +gewesen waren -- beschlossen sie einmüthig, die Sache zu versuchen. Es +waren schon Leute genug von weit und breit erschienen, um sich daran zu +versuchen, aber Keiner war im Stande gewesen die Aufgaben zu lösen, +denen ihre Kräfte nicht gewachsen waren. Einem Einzelnen zumal war es +ganz unmöglich das Verlangte zu vollbringen. Als die Brüder den +Entschluß gefaßt hatten, machten sie sich selbdritt auf den Weg, und +damit sie rascher vorwärts kämen, trug _Schnellfuß_ die beiden Andern von +Zeit zu Zeit auf seinem Rücken weiter. Weil nun aber die Arbeit von +_einem_ Manne gethan werden sollte, so konnten sie nicht alle drei +zugleich vor den König treten. _Schnellfuß_ wurde ausgesandt, +Erkundigungen einzuziehen. Die drei Probestücke, welche der künftige +Schwiegersohn des Königs ausführen sollte, waren folgende: Erstens +sollte er einen Tag mit einer großen Rennthierkuh auf die Weide gehen +und Sorge tragen, daß ihm das windschnelle Thier nicht davon laufe; +Abends mit Sonnenuntergang sollte er es wieder in den Stall bringen. +Zweitens sollte er Abends das Schloßthor verschließen. Das dritte +Probestück erschien als das schwerste. Er sollte nämlich mit seinem +Bogen einen Apfel wegschießen, dessen Stiel ein Mann auf einem hohen +Berge im Munde hielt, ohne daß der Mann Schaden nähme, und so, daß der +Pfeil mitten durch den Apfel ginge. Die beiden ersten Arbeiten schienen +wohl nicht so schwer, doch hatte Niemand sie bisher ausführen können, +und zwar deßhalb, weil es nicht mit rechten Dingen zuging. Die +Rennthierkuh besaß nämlich eine so wunderbare Schnelligkeit, daß sie in +einem Tage von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang durch die ganze Welt +hätte laufen können. Wie konnte ein Mensch mit ihr aushalten? Bei dem +zweiten Probestück war Hexerei im Spiel. Eine Hexe hatte sich in den +eisernen Pfortenriegel verwandelt, und wenn der Mann die Leiter +hinanstieg, um den Riegel anzufassen, so packte sie mit höllischer Kraft +die Hand des Unglücklichen, und keine Gewalt konnte sie befreien, bis +die Hexe selber los ließ. Das war aber noch nicht Alles -- in demselben +Augenblicke, wo die Hand festgeklemmt war, fing der Pfortenflügel an, +wie vom Winde geschüttelt hin und her zu tanzen. So mußte der an der +Hand festgehaltene Mann bis zum Morgen wie ein Glockenschwengel hin und +her baumeln, und wenn er endlich losgelassen wurde, war er mehr todt als +lebendig. Obendrein lachten der König und die Leute über sein Unglück +und er mußte mit Schande abziehen; auch hatten sich Viele die Schultern +so verrenkt, daß sie zeitlebens nicht mehr arbeiten konnten. Die dritte +Aufgabe konnte nur einem geschickten Schützen gelingen, dessen Hand und +Auge gleich fest und sicher waren. Als Schnellfuß dies Alles erfahren +hatte, ging er nicht gleich zum Könige, sondern suchte erst seine Brüder +wieder auf, die ihn vor der Stadt erwarteten. Nachdem sich die Männer +berathen hatten, fanden sie, daß sie zu Dreien diese Dinge wohl zu +Stande bringen könnten, das Verdrießliche war nur, daß sie in den Augen +des Königs als Einer erscheinen mußten, wenn sie den versprochenen +Kampflohn erringen wollten. Die schlauen[17] Brüder beschnitten also +ihre Bärte auf gleiche Weise, so daß keinem weder auf der Oberlippe noch +unter dem Kinn die Haare dichter standen als dem andern; und da sie als +Söhne einer Mutter und als Drillinge an Körperbildnug und Geberde wenig +verschieden waren, so konnte ein fremdes Auge den Betrug nicht +herausfinden. Sie ließen sich dann einen gar prächtigen fürstlichen +Anzug machen, der aus Seide und dem kostbarsten Sammet bestand und mit +Gold und blitzenden Edelsteinen verziert war, so daß Alles glänzte und +schimmerte, wie der Sternenhimmel in einer klaren Winternacht. Ehe sie +sich anschickten, die Probearbeiten zu unternehmen, gelobten sich die +Brüder mit einem Eide, daß nur das Loos entscheiden solle, wer von ihnen +des Königs Schwiegersohn werden sollte. Da nun die starken Brüder auf +diese Weise allen künftigen Mißhelligkeiten vorgebeugt hatten, +schmückten sie eines Tages _Schnellfuß_ mit den prächtigen Kleidern und +schickten ihn zum Könige, damit er die Rennthierkuh auf die Weide führe. +Ging die Sache nach Wunsch, so war der erste große Stein hinweggewälzt, +der bis jetzt alle dreier verhindert hatte, die Brautkammer zu betreten. + +_Schnellfuß_ trat so stolz vor den König hin, als wäre er ein geborener +Königssohn, grüßte mit Anstand und bat um Erlaubniß, das Probestück am +andern Morgen zu versuchen. Der König gab sie, fügte aber hinzu: »Gut +wäre es, wenn ihr schlechtere Kleider anzöget, denn unsere Rennthierkuh +läuft unbekümmert durch Sumpf und Moor, immer gerade aus, da könntet ihr +die theuren Kleider verderben.« _Schnellfuß_ erwiederte: »Wer eure Tochter +freien will, was macht sich der aus Kleidern?« und ging dann zur Ruhe, +um den andern Tag desto munterer zu sein. Des Königs Tochter, die +heimlich durch eine Thürspalte nach dem stattlichen Manne gespäht hatte, +sagte seufzend: »Wenn ich doch dem Rennthier Fußfesseln anlegen könnte, +ich thäte es, um diesen Mann zum Gemahle zu erhalten.« + +Als den andern Morgen die Sonne aufgegangen war, band _Schnellfuß_ der +Rennthierkuh einen Halfterstrang[18] um den Hals und nahm das andere +Ende in die Faust, damit die Kuh sich nicht zu weit entfernen könnte. +Als die Stallthür geöffnet wurde, schoß die Kuh wie der Wind davon, der +Hirte aber lief den Halfter festhaltend neben ihr her, und blieb keinen +Schritt zurück. Der König und die Zuschauer aus der Stadt erstaunten +über die wunderbare Schnelligkeit des Mannes, denn bis hierzu hatte noch +Keiner auch nur ein paar hundert Schritt weit neben der Kuh herlaufen +können. Wiewohl _Schnellfuß_ sobald keine Ermüdung zu fürchten hatte, so +hielt er es doch für gerathen, die Kuh zu besteigen, sobald er den +Leuten aus den Augen war. Er sprang auf den Rücken des Thieres, hielt +sich am Halfter fest und ließ sich weiter tragen. Es war noch früh am +Morgen, als die Rennthierkuh schon merkte, daß von diesem Hirten nicht +loszukommen sei; sie hielt den Schritt an und rupfte das Gras vom Boden. +_Schnellfuß_ sprang ab und warf sich unter einen Busch, um auszuruhen, +hielt aber den Halfter fest, damit die Kuh nicht davon liefe. Als die +Sonne um Mittag brannte, legte sich auch die Kuh neben ihn in den +Schatten und fing an wiederzukäuen. Nach Mittag versuchte das Thier noch +einige Mal die Schnelligkeit seiner Beine, um dem Hirten zu entkommen, +aber dieser war wie der Wind wieder auf dem Rücken der Kuh, so daß er +seine Beine nicht anzustrengen brauchte. Sehr groß war das Erstaunen des +Königs und der Leute, als sie bei Sonnenuntergang sahen, wie die +störrige Rennthierkuh gleich dem frömmsten Lamme mit ihrem Hirten heim +kehrte. _Schnellfuß_ führte sie in den Stall, verschloß die Thür und +speiste dann auf Einladung des Königs an dessen Tafel. Nach dem +Abendessen verabschiedete er sich, indem er sagte, er wollte zeitig zur +Ruhe gehen, um die Ermüdung des Tages los zu werden. + +Allein er ging nicht zur Ruhe, sondern begab sich zu seinen Brüdern, die +seiner im Walde harrten. Den anderen Tag sollte _Flinkhand_ die prächtigen +Kleider anziehen und zum Könige gehen, um das zweite Probestück +auszuführen. Der König, welcher ihn für den Mann von gestern hielt, +lobte seine Hirtenarbeit und wünschte ihm Glück zu seiner heutigen +Aufgabe, nämlich am Abend die Pforte zu verschließen. Des Königs Tochter +hatte wieder durch die Thürspalte nach dem stattlichen Manne gespäht +und sagte seufzend: »Wenn ich könnte, ich schaffte die böse Hexe von der +Pforte fort, damit diesem theuren Jünglinge kein Leid geschähe, den ich +mir zum Gemahl wünsche.« + +_Flinkhand_, der genau wußte, wie es sich mit dem Pfortenriegel verhielt, +ging vom Könige gerades Wegs zum Schmied und ließ sich eine starke +eiserne Hand machen. Als am Abend alle Welt im Schlosse zur Ruhe +gegangen war, machte er Feuer an und ließ darin die Eisenhand +rothglühend werden. Darauf stellte er eine Leiter gegen die Pforte, denn +seine Körperlänge reichte nicht hinan. Von der Leiter aus legte er die +glühende Eisenhand an den Riegel, und in demselben Augenblick hatte die +Hexe, die darin steckte, zugepackt und die Hand ergriffen, welche sie +für eine natürliche hielt. Als sie aber den brennenden Schmerz fühlte, +fing sie so an zu brüllen, daß alle Wände bebten und viele Schläfer im +Schloß durch den Lärm aufgeweckt wurden. Aber _Flinkhand_ hatte in +demselben Augenblick, wo die Eisenhand ihn selbst vor dem Griffe der +Hexe geschützt hatte, den Riegel vorgeschoben, so daß die Pforte +verschlossen war. Gleichwohl blieb er wach, bis der König am Morgen +aufstand und die Sache selbst in Augenschein nahm. Die Pforte war noch +verriegelt. Der König lobte die Geschicklichkeit des Jünglings, der +schon zwei schwierige Arbeiten ausgeführt hatte und lud ihn zu Mittag zu +Gaste. _Flinkhand_ aß sich an des Königs Tafel satt und wußte sich auch +angenehm zu unterhalten, bis er endlich um Erlaubniß bat, nach Hause zu +gehen, und auszuruhen, da er die ganze vorige Nacht kein Auge zugethan, +auch noch mancherlei Vorbereitungen für den kommenden Tag zu treffen +habe. Er ging dann in den Wald, wo die Brüder ihn längst erwarteten und +wissen wollten, wie das Probestück abgelaufen wäre. Da nun die starken +Brüder sich einander nicht beneideten und keiner voraus wissen konnte, +wen endlich das Glück treffen würde, Schwiegersohn des Königs zu werden, +so freuten sie sich gemeinschaftlich des gelungenen Werkes. + +Am folgenden Morgen wurde _Scharfauge_ mit dem prächtigen königlichen +Anzuge bekleidet und ausgeschickt, um das dritte Probestück auszuführen. +Nicht minder stolz und anmuthig wie die beiden andern Brüder trat er vor +den König, und bat um die Erlaubniß, das letzte Probestück zu +unternehmen. Der König sagte: »Ich freue mich sehr, daß es euch möglich +gewesen ist zwei Arbeiten zu vollbringen, welche bis auf den heutigen +Tag noch Keiner ausführen konnte, so viel ihrer auch von allen Seiten +zusammenströmten, um den Versuch zu machen. Dennoch fürchte ich, daß ihr +die dritte Arbeit nicht zu Stande bringen werdet, denn das Ziel, welches +ihr treffen müßt, steht sehr hoch und ist ein kleiner Körper.« +_Scharfauge_ erwiederte: »Wer euer Schwiegersohn werden will, der darf +nichts für schwer achten, denn so großes Glück fällt Niemanden im +Schlafe zu.« Darauf gab der König die Erlaubniß, am folgenden Morgen das +Probestück zu unternehmen. Aber des Königs Tochter, welche wiederum +durch die Thürspalte nach dem Jüngling gespäht hatte, seufzte mit +Thränen in den Augen: »Könnte ich etwas für diesen Jüngling thun, daß er +morgen zum dritten Male Sieger bliebe, ich gäbe Hab' und Gut dafür --um +ihn zum Gemahl zu erhalten.« + +War schon das erste und zweite Mal eine große Menge Volks von allen +Seiten herbei gekommen, um die Wunderwerke zu sehen, so waren heute die +Tausende gar nicht mehr zu zählen. Auf dem Gipfel eines Berges stand der +Apfelträger, der in solcher Höhe nicht viel größer aussah als eine +Krähe, und ihm sollte _Scharfauge_ den Apfel vom Munde weg schießen, so +daß der Pfeil ihn in der Mitte spaltete. Niemand hielt die Sache für +möglich. Gleichwohl fürchtete der Mann oben, der den Apfel am Stiele im +Munde zu halten hatte, der Schütze könnte doch vielleicht in's Ziel +treffen, darum beschloß er in seinem mißgünstigen Sinne, dem Schützen +die an sich schwere Aufgabe noch schwerer zu machen. Er faßte nicht, wie +vorgeschrieben war, den Apfel mit den Zähnen am Stiele, sondern steckte +den halben Apfel in den Mund und dachte: je kleiner ich den Gegenstand +mache, auf den er zielen muß, desto weniger kann er sehen und treffen. +Aber für _Scharfauge_ war der halbe Apfel nicht minder deutlich als der +ganze. Er zielte einige Augenblicke mit seinem durchdringenden Blicke, +schnellte den Pfeil vom Bogen und o Wunder! der Apfel war mitten +durchgespalten, so daß beide Hälften genau gleiche Größe hatten. Der +neidische Apfelhüter hatte zugleich den verdienten Lohn für seine +Bosheit erhalten, denn da _Scharfauge_ gerade auf die Mitte des Apfels +gezielt hatte, der Mann aber dessen größere Hälfte im Munde hielt, so +hatte der Pfeil von beiden Seiten des Mundes ein Stück Fleisch mit +weggerissen. Als der entzwei geschossene Apfel dem Könige zum Beweise +überreicht wurde, brach die Menge in ein Freudengeschrei aus. Ein +solches Wunder hatte sich noch nicht begeben. Des Königs Tochter vergoß +Freudenthränen, da ihres Herzens Wunsch in Erfüllung gegangen war; der +König aber lud _Scharfauge_ ein, zu ihm zu kommen, damit er ihn sofort +seiner Tochter verloben könne. Scharfauge lehnte es ehrfurchtsvoll ab +mit den Worten: »Vergönnt mir, den heutigen Tag mich nach der Arbeit zu +erholen! morgen wollen wir uns der Freude ergeben!« Er wollte sich +nämlich keines Fehls gegen seine Brüder schuldig machen, welche gleich +ihm ihren Theil der Arbeit gethan hätten: das Loos mußte entscheiden, +welchem von ihnen der Lohn zufallen sollte. + +Als Scharfauge zu seinen Brüdern kam, erzählte er ihnen den Hergang, und +sie freuten sich erst noch mit einander wie die Kinder, ehe sie das Loos +warfen. Nach Gottes Fügung brachte das Loos dem _Scharfauge_ Glück; er +sollte nun des Königs Schwiegersohn werden. Noch einmal schliefen die +Brüder beisammen, dann schlug die bittere Trennungsstuude, _Scharfauge_ +begab sich in die Königsstadt, _Schnellfuß_ und _Flinkhand_ machten sich in +die Heimath zu ihren Eltern auf. + +Nach ihrer Rückkehr kauften die beiden reichen Brüder sich viele Güter +und Ländereien, so daß ihr Gebiet bald einem kleinen Königreiche glich. +_Scharfauge_ hatte Alles seinen Eltern und Brüdern geschenkt, da er, als +Schwiegersohn des Königs, seines eigenen Vermögens nicht mehr bedurfte. +Die Eltern freuten sich über das Glück ihrer Kinder, nur war der Mutter +das Herz oft schwer, weil ihr dritter Sohn so weit von ihnen in der +Fremde lebte, daß sie nicht hoffen durfte ihn wieder zu sehen. Als aber +die Eltern später gestorben waren, da hatten _Schnellfuß_ und _Flinkhand_ +keine Ruhe mehr in der Heimath, sie verpachteten ihre Besitzungen und +streiften wieder in fremden Landen umher, um neue Reichthümer und +Schätze durch ihre Gaben zu erwerben. Wie weit ihre Wanderung reichte, +was für Thaten sie auf derselben verrichteten und ob sie später wieder +in die Heimath zurückkehrten, darüber kann ich euch nichts weiter +melden. Aber _Scharfauge's_ Geschlecht muß noch heutiges Tages in dem +Lande wohnen, wo der Stammvater einst das Glück hatte, Schwiegersohn des +Königs zu werden. + +[Fußnote 14: Die »Haube« steht für die Trägerin derselben verwaist, wie +das lat. =orba=, ohne Kinder gehabt zu haben. Vgl. auch _Neus_, ehstn. +Volkslieder, S. 276. F. Z. 4. L.] + +[Fußnote 15: Ueber Mana s. d. Anm. zu S. 25 in dem Märchen von den im +Mondschein badenden Jungfrauen. L.] + +[Fußnote 16: Vgl. _Boecler_, der Ehsten Gebräuche ed. Kreutzwald, S. 139. +L.] + +[Fußnote 17: Der Text sagt =Rootsi wennaksed= d. h. schwedische Brüder. +Das Colorit des Märchens ist aber ganz ehstnisch; Belege für meine +Uebersetzung finde ich nicht. L.] + +[Fußnote 18: Dieser wird gebildet durch Klötzchen, die an einer Schnur +hängen und mit Ringen wechseln. L.] + + + + +4. Der Tontlawald. + + +Zu alten Zeiten stand in Allentacken[19] ein schöner Hain, der +Tontlawald hieß, den aber kein Mensch zu betreten wagte. Dreistere, die +zufällig einmal näher gekommen waren und gespäht hatten, erzählten, sie +hätten unter dichten Bäumen ein verfallenes Haus gesehen und um dasselbe +herum menschenähnliche Wesen, von denen der Rasen wie von einem +Ameisenhaufen wimmelte. Die Geschöpfe hätten rußig und zerlumpt +ausgesehen wie die Zigeuner, und es wären namentlich viel alte Weiber +und halbnackte Kinder darunter gewesen. Als einst ein Bauer, der in +finsterer Nacht von einem Schmause nach Hause ging, etwas tiefer in den +Tontlawald hineingerathen war, hatte er seltsame Dinge gesehen. Um ein +helles Feuer war eine Unzahl Weiber und Kinder versammelt, einige saßen +am Boden, die andern tanzten auf dem Plan. Ein altes Weib hatte einen +breiten eisernen Schöpflöffel in der Hand, mit welchem sie von Zeit zu +Zeit die glühende Asche über den Rasen hinstreute, worauf die Kinder mit +Geschrei in die Luft hinauf fuhren und wie Nachteulen um den +aufsteigenden Rauch flatterten, bis sie zuletzt wieder herabkamen. Dann +trat aus dem Walde ein kleiner alter langbärtiger Mann, der auf dem +Rücken einen Sack trug, der länger war als er selbst. Weiber und Kinder +liefen dem Männlein lärmend entgegen, tanzten um ihn herum und suchten +ihm den Sack vom Rücken zu reißen, aber der Alte machte sich von ihnen +los. Jetzt sprang eine schwarze Katze, so groß wie ein Fohlen, die mit +glühenden Augen auf der Thürschwelle gesessen, auf des Alten Sack und +verschwand dann in der Hütte. Weil aber dem Zuschauer schon der Kopf +brannte und es ihm vor den Augen flimmerte, so blieb auch seine +Erzählung unsicher, und man konnte nicht recht dahinter kommen, was +daran wahr und was falsch sei. Auffallend war es, daß von Geschlecht zu +Geschlecht solche Dinge vom Tontlawalde erzählt wurden; aber Niemand +wußte genauere Auskunft zu geben. Der Schwedenkönig hatte mehr als +einmal befohlen, den gefürchteten Wald zu fällen, aber die Leute wagten +es nicht den Befehl zu vollziehen. Einmal hieb ein dreister Mann mit +einer Axt in einige Bäume, da floß sogleich Blut und man hörte +Jammergeschrei wie von gequälten Menschen.[20] Der erschreckte +Holzfäller nahm zitternd und bebend die Flucht; seitdem war kein noch so +strenger Befehl, kein noch so reichlicher Lohn im Stande, wieder einen +Holzfäller in den Tontlawald zu locken. --Sehr wunderbar erschien es +auch, daß weder ein Weg aus dem Walde heraus noch einer hinein führte; +auch sah man das ganze Jahr durch keinen Rauch aufsteigen, der das +Dasein menschlicher Wohnstätten verrathen hätte. Groß war der Wald +nicht, und rings um ihn her war flaches Feld, so daß man freien Ausblick +auf den Wald hatte. Hausten wirklich hier von Alters her lebende Wesen, +so konnten sie doch nicht anders in dem Walde ein- und ausgehen als auf +unterirdischen Schlupfwegen, oder sie mußten auch wie die Hexen bei +nächtlicher Weile, wo Alles ringsum schlief, durch die Luft fahren. Das +Letztere ist, dem Erzählten zufolge, das Wahrscheinlichere. Vielleicht +erhalten wir über diese Wundervögel mehr Auskunft, wenn wir den Wagen +der Erzählung etwas weiterlenken und im nächsten Dorfe ausruhen. + +Einige Werst vom Tontlawalde lag ein großes Dorf. Ein verwittweter Bauer +hatte unlängst wieder ein junges Weib genommen und, wie das wohl oft +vorkommt, ein rechtes Schüreisen in's Haus gebracht, so daß Verdruß und +Zank kein Ende nahmen. Das von der ersten Frau nachgebliebene +siebenjährige Mädchen, mit Namen Else, war ein kluges sinniges Geschöpf. +Dieser Armen machte aber die böse Stiefmutter das Leben ärger als die +Hölle, sie puffte und knuffte das Kind vom Morgen bis zum Abend und gab +ihm schlechteres Essen als den Hunden. Da die Frau die Hosen anhatte, so +konnte die Tochter sich auf ihren Vater nicht stützen: der Hansdampf +mußte ja selbst nach des Weibes Pfeife tanzen. Länger als zwei Jahre +hatte Else dieses schwere Leben ertragen und hatte viele Thränen +vergossen. Da ging sie eines Sonntags mit andern Dorfkindern aus, um +Beeren zu pflücken. Schlendernd, nach Kinderart, waren sie unvermerkt an +den Rand des Tontlawaldes gekommen, wo sehr schöne Erdbeeren wuchsen, so +daß der Rasen ganz roth davon war. Die Kinder aßen von den süßen Beeren +und pflückten noch soviel in ihre Körbchen, als jedes konnte. Plötzlich +rief ein älterer Knabe, der die gefürchtete Stelle erkannt hatte: +»Fliehet, fliehet! wir sind im Tontlawalde!« Dies Wort war schlimmer als +Donner und Blitz, alle Kinder nahmen Reißaus, als wären ihnen die +Tontla-Unholde schon auf den Fersen. Else, welche etwas weiter gegangen +war als die Andern, und unter den Bäumen sehr schöne Beeren gefunden +hatte, hörte wohl das Rufen des Knaben, mochte sich aber nicht von dem +Beerenfleck trennen. Sie dachte wohl: Die Tontla-Bewohner können doch +nicht schlimmer sein als meine Stiefmutter daheim. Da kam ein kleiner +schwarzer Hund mit einem silbernen Glöcklein um den Hals bellend auf sie +zu. Auf dies Gebell eilte ein kleines Mädchen in prächtigen seidenen +Kleidern herbei, verwies den Hund zur Ruhe und sagte dann zur Else: +»Sehr gut, daß du nicht mit den andern Kindern davongelaufen bist. +Bleibe mir zur Gesellschaft hier, dann wollen wir gar schöne Spiele +spielen und alle Tage miteinander gehen Beeren zu pflücken; die Mutter +wird es mir gewiß nicht abschlagen, wenn ich sie darum bitte. Komm, laß +uns sogleich zu ihr gehen!« Damit faßte das prächtige fremde Kind Else +bei der Hand und führte sie tiefer in den Wald hinein. Der kleine +schwarze Hund bellte jetzt vor Vergnügen, sprang an Elsen herauf und +leckte ihr die Hand, als wären sie alte Bekannte. + +Ach du liebe Zeit, was für Wunder und Herrlichkeit tauchten jetzt vor +Else's Augen auf. Sie glaubte sich im Himmel zu befinden. Ein prächtiger +Garten, mit Obstbäumen und Beerensträuchern angefüllt, stand vor ihnen; +auf den Zweigen der Bäume saßen Vögel, bunter als die schönsten +Schmetterlinge, manche mit Gold- und Silberfedern bedeckt. Und die Vögel +waren nicht scheu, die Kinder konnten sie nach Belieben in die Hand +nehmen. Mitten im Garten stand das Wohnhaus, aus Glas und Edelsteinen +aufgeführt, so daß Wände und Dach glänzten wie die Sonne. Eine Frau in +prächtigen Kleidern saß vor der Thür auf einer Bank und fragte die +Tochter: »Was bringst du da für einen Gast?« Die Tochter antwortete: +»Ich fand sie allein im Walde und nahm sie mir zur Gesellschaft mit. +Erlaubst du, daß sie hier bleibt?« Die Mutter lächelte, sagte aber kein +Wort, sondern musterte Else mit scharfem Blick vom Kopf bis zu den +Füßen. Dann hieß sie Else näher treten, streichelte ihre Wangen und +fragte freundlich, wo sie zu Hause sei, ob ihre Eltern noch lebten, und +ob sie den Wunsch habe, hier zu bleiben? Else küßte der Frau die Hand, +fiel vor ihr nieder, umfaßte ihre Kniee und erwiederte dann unter +Thränen: »Die Mutter ruht schon lange unter dem Rasen. + + Mutter ward hinweg getragen + Liebe zog mit ihr von dannen![21] + +Der Vater lebt wohl noch, aber was hilft mir das, die Stiefmutter haßt +mich und schlägt mich unbarmherzig alle Tage. Nichts kann ich ihr recht +machen. Bitte, Goldfrauchen, laßt mich hier bleiben! Laßt mich die +Herde hüten, oder gebt mir andere Arbeit, ich will Alles thun und euch +gehorchen, aber schickt mich nur nicht zur Stiefmutter zurück! Sie +schlüge mich halb todt, weil ich nicht mit den anderen Dorfkindern +gekommen bin.« Die Frau lächelte und sagte: »Wir wollen sehen, was mit +dir zu machen ist.« Dann erhob sie sich von der Bank und trat in's Haus. +Die Tochter aber sagte zur Else: »Sei getrost, meine Mutter ist +freundlich! Ich sah an ihrem Blicke, daß sie unsere Bitte gewähren wird, +wenn sie die Sache näher überlegt hat.« Sie ging dann ihrer Mutter nach +und hieß Else warten. Diese bebte zwischen Furcht und Hoffnung, und +ungeduldig harrte sie des Bescheides, den die Tochter bringe würde. + +Nach einer Weile kam die Tochter mit einem Schächtelchen in der Hand +zurück und sagte: »Die Mutter will, daß wir heute mit einander spielen, +derweil sie deinetwegen Weiteres beschließen wird. Ich hoffe, du bleibst +uns, ich möchte dich nicht mehr von mir lassen. Bist du schon zur See +gefahren?« Else machte große Augen und fragte dann: »Zur See? was ist +das? davon habe ich noch nie etwas gehört.« »Du sollst es sogleich +sehen,« erwiederte das Fräulein und nahm den Deckel vom Schächtelchen. +Da lagen ein Blatt von Frauenmantel, eine Muschelschale und zwei +Fischgräten; auf dem Blatte schimmerten ein Paar Tropfen, diese +schüttete das Kind auf den Rasen. Augenblicklich waren Garten, Rasen und +was sonst noch da gestanden hatte, verschwunden, als hätte die Erde es +verschlungen: und soweit das Auge reichte, war nur Wasser sichtbar, das +in der Ferne mit dem Himmel zusammenzustoßen schien. Nur unter ihren +Füßen war ein kleiner Fleck trocken geblieben. Jetzt setzte das Fräulein +die Muschelschale auf's Wasser und nahm die Fischgräten zur Hand. Die +Muschelschale schwoll an, und dehnte sich zu einem hübschen Nachen aus, +worin ein Duzend Kinder und wohl noch mehr Platz gehabt hätten. Die +Kinder setzten sich nun selbander in den Nachen, Else mit Zagen, das +Fräulein aber lachte; die Gräten, welche sie hielt, wurden zu Rudern. +Von den Wellen wurden die Mädchen fortgeschaukelt, wie in einer Wiege; +nach und nach kamen andere Kähne in ihre Nähe, in jedem saßen Menschen, +welche sangen und fröhlich waren. »Wir müssen ihren Gesang beantworten,« +sagte das Fräulein, aber Else verstand nicht zu singen. Um so schöner +sang das Fräulein. Von dem, was die andern sangen, konnte Else nicht +viel verstehen, nur ein Wort kehrte immer wieder, nämlich »Kiisike.« +Else fragte, was es bedeute, und das Fräulein antwortete: »Das ist mein +Name.« Ich weiß nicht, wie lange sie so spazieren gefahren waren, da +hörten sie rufen: »Kinder, kommt nach Hause, es wird Abend.« Kiisike +nahm ihr Körbchen aus der Tasche, in welchem das Blatt lag, und tauchte +es in's Wasser, so daß einige Tropfen daran hängen blieben, -- +augenblicklich waren sie in der Nähe des prächtigen Hauses, mitten im +Garten; Alles ringsum erschien trocken und fest wie zuvor, Wasser war +nirgends. Die Muschelschale und die Fischgräten wurden sammt dem Blatte +in's Körbchen gelegt, und die Kinder gingen in's Haus. + +In einem großen Gemache saßen um einen Eßtisch vier und zwanzig Frauen, +alle in prächtigen Kleidern, als wären sie auf einer Hochzeit. Oben am +Tische saß die Herrin auf einem goldenen Stuhle. + +Else wußte nicht, woher die Augen nehmen, um all die Herrlichkeit zu +betrachten, die ihr hier entgegenschimmerte. Auf dem Tische standen +dreizehn Gerichte, alle in goldenen und silbernen Schüsseln; ein Gericht +aber blieb unberührt und wurde abgetragen, wie es aufgetragen war, ohne +daß man den Deckel gelüftet hätte. Else aß von den köstlichen Speisen, +die noch besser schmeckten als Kuchen, und es kam ihr wieder vor, als +müßte sie im Himmel sein; auf Erden konnte sie sich dergleichen nicht +denken. Bei Tische wurde leise gesprochen, aber in einer fremden +Sprache, von der Else kein Wort verstand. Die Frau sagte jetzt einige +Worte zu einer Magd, die hinter ihrem Stuhle stand; die Magd eilte +hinaus und kam bald mit einem kleinen alten Manne wieder, dessen Bart +länger war als er selber. Der Alte machte einen Bückling und blieb am +Thürpfosten stehen. Die Frau deutete mit dem Finger auf Else und sagte: +»Betrachte dir dieses Bauermädchen, ich will es als Pflegekind annehmen. +Forme mir ein Abbild von ihr, welches wir morgen statt ihrer in's Dorf +schicken können.« Der Alte sah Else scharf an, als wolle er das Maaß +nehmen, verbeugte sich dann wieder vor der Frau und verließ das Gemach. +Nach Tische sagte die Frau freundlich zu Else: »Kiisike hat mich +gebeten, ich möchte dich ihr zur Gesellschaft hier behalten und du +selbst sagtest, du hättest Lust hier zu bleiben. Ist dem nun wirklich +so?« Else fiel auf die Kniee, und küßte der Frau Hände und Füße zum Dank +für die barmherzige Rettung aus den Klauen der bösen Stiefmutter. Die +Frau aber hob sie vom Boden auf, streichelte ihr den Kopf und die +thränenfeuchten Wangen und sagte: »Wenn du immer ein folgsames gutes +Kind bleibst, so wird es dir gut gehen, ich will für dich sorgen und dir +allen nöthigen Unterricht geben lassen, bis du erwachsen bist und dich +selbst fortbringen kannst. Meine Fräulein, welche Kiisike unterrichten, +werden auch dir behilflich sein, alle feinen Handarbeiten zu erlernen +und dir andere Kenntnisse zu erwerben.« + +Nach einem Weilchen kam der Alte zurück mit einer langen mit Lehm +gefüllten Mulde auf der Schulter, und einem kleinen Deckelkörbchen in +der linken Hand. Er setzte Mulde und Körbchen an die Erde, nahm ein +Stück Lehm und machte daraus eine Puppe, welche Menschengestalt hatte. +In den Leib, der hohl geblieben war, legte der Alte drei gesalzene +Strömlinge und ein Stückchen Brot. Dann machte er in der Brust der Puppe +ein Loch, nahm aus dem Korbe einen ellenlangen schwarzen Wurm und ließ +ihn durch das Loch hineinkriechen. Die Schlange zischte und wand sich +mit dem Schwanze, als sträubte sie sich, aber sie mußte doch hinein. +Nachdem die Frau die Puppe von allen Seiten betrachtet hatte, sagte der +Alte: »Jetzt brauchen wir nichts weiter als ein Tröpflein von dem Blute +des Bauermädchens.« Else wurde blaß vor Schrecken, als sie das hörte; +sie meinte ihre Seele damit dem Bösen zu verkaufen.[22] Aber die Frau +tröstete sie: »Fürchte nichts! Wir wollen dein Blut nicht zu etwas +Bösem sondern lediglich zu etwas Gutem und zu deinem künftigen Glücke.« +Dann nahm sie eine kleine goldene Nadel, stach damit der Else in den Arm +und gab die Nadel dem Alten, der sie in das Herz der Puppe bohrte. +Darauf legte er diese in den Korb, damit sie darin wachse und versprach, +am nächsten Morgen der Frau zu zeigen, was für ein Werk aus seinen +Händen hervorgegangen sei. Man ging hernach zur Ruhe, und auch Else +wurde von einer Stubenmagd in ihre Schlafkammer gebracht, wo ihr ein +weiches Bett bereitet wurde. + +Als sie am andern Morgen in dem seidenen Bette auf weichem Pfühl +erwachte und ihre Augen weit auf machte, fand sie sich mit einem feinen +Hemde bekleidet und sah reiche Gewänder auf einem Stuhle vor dem Bette +liegen. Dann trat ein Mädchen in's Zimmer und hieß Else sich waschen und +kämmen, worauf es sie vom Kopf bis zum Fuß mit den schönen Kleidern +schmückte, als wäre sie das stolzeste deutsche Kind. Nichts machte Elsen +so viel Freude als die Schuhe. Sie war ja bis jetzt fast immer barfuß +gegangen. Nach Else's Meinung konnten auch des Königs Töchter keine +schöneren Schuhe haben. In ihrer Freude über die Schuhe hatte sie nicht +Zeit die übrigen Stücke des Anzugs zu beachten, obschon Alles prachtvoll +war. Die Bauernkleider, welche sie mitgebracht hatte, waren in der Nacht +fortgenommen worden, weshalb? das sollte sie später erfahren. Ihre +Kleider waren nämlich der Lehmpuppe angelegt worden, welche an ihrer +Statt in's Dorf gehen sollte. Die Puppe war in der Nacht in ihrem +Behälter angeschwollen und am Morgen ein vollständiges Ebenbild der Else +geworden, und ging einher wie ein von Gott geschaffenes Wesen. Else +erschrack, als sie die Puppe erblickte, die ganz so aussah, wie sie +selbst gestern ausgesehen hatte. Als die Frau Else's Erschrecken +bemerkte, sagte sie: »Fürchte dich nicht, Kind! Das Lehmbild kann dir +keinen Schaden zufügen, wir jagen es zu deiner Stiefmutter, damit es ihr +als Prügelklotz diene! Mag sie es schlagen, so viel sie will, das +steinharte Lehmbild fühlt keinen Schmerz. Aber wenn das böse Weib nicht +andern Sinnes wird, so kann dein Ebenbild einmal die verdiente Strafe an +ihr vollziehen.« + +Von diesem Tage an lebte Else so glücklich wie ein verwöhntes deutsches +Kind, das in goldener Wiege geschaukelt worden; sie hatte weder Sorge +noch Mühe; das Lernen wurde ihr von Tag zu Tage leichter und das vorige +harte Leben im Dorfe erschien ihr nur noch wie ein böser Traum. Aber je +tiefer sie das Glück dieses Lebens empfand, desto wunderbarer erschien +ihr auch Alles. Auf natürliche Weise konnte es nicht zugehen -- es mußte +eine unbekannte unerklärliche Macht hier walten. Auf dem Hofe stand ein +Granitblock etwa zwanzig Schritt vom Hause. Wenn die Essenszeit +heranrückte, ging der Alte mit dem langen Barte an den Block, zog ein +silbernes Stäbchen aus dem Busen und klopfte damit dreimal an, so daß es +hell wiederklang. Dann sprang ein großer goldener Hahn heraus und setzte +sich auf den Block. So oft er in dieser Stellung mit den Flügeln schlug +und krähte, kam aus dem Block etwas hervor, zuerst ein langer gedeckter +Tisch, auf dem so viel Teller standen als essende Personen waren; der +Tisch ging von selbst in's Haus, als trügen ihn des Windes Flügel. Wenn +der Hahn zum zweiten Male krähte, kamen Stühle dem Tische nachgegangen; +darauf eine Schüssel mit Speise nach der andern -- Alles sprang aus dem +Block heraus und flog wie der Wind zum Eßtisch. Desgleichen +Methflaschen, Aepfel und Beeren; Alles schien beseelt, so daß Niemand zu +heben noch zu tragen brauchte. Wenn Alle sich satt gegessen hatten, +klopfte der Alte zum zweiten Male mit dem Silberstäbchen an den Block, +und dann krähte der goldene Hahn Flaschen, Schüsseln, Teller, Stühle und +Tisch wieder in den Block hinein. Wenn aber die dreizehnte Schüssel kam, +aus welcher niemals gegessen wurde, so lief eine große schwarze Katze +der Schüssel nach, und beide blieben auf dem Block neben dem Hahn, bis +der Alte sie forttrug. Er nahm die Schüssel in die Hand, die Katze in +den Arm und den goldenen Hahn auf die Schulter, und verschwand mit ihnen +unter dem Block. Nicht nur Speisen und Getränke, sondern auch alle +übrigen Bedürfnisse des Haushalts, selbst Kleider kamen auf das Krähen +des Hahns aus dem Block hervor. -- Obwohl bei Tische wenig und immer in +einer fremden Sprache gesprochen wurde, welche Else nicht verstand, so +wurde dafür desto mehr geredet und gesungen, wenn die Frau mit ihren +Fräulein in Zimmer und Garten weilte. Allmählich lernte Else auch die +Sprache ihrer Gefährtinnen auffassen; sie verstand fast Alles, was +gesagt wurde, aber Jahre verstrichen, ehe ihre eigne Zunge sich den +fremden Lauten gewöhnte. Einst hatte Else die Kiisike gefragt, warum +die dreizehnte Schüssel täglich auf den Tisch komme, da doch Niemand +daraus esse, aber Kiisike konnte es ihr nicht erklären. Sie mußte es +aber ihrer Mutter gesagt haben, denn nach einigen Tagen ließ diese Elsen +zu sich rufen und sprach zu ihr mit ernstem Ausdruck: »Beschwere dein +Herz nicht mit unnützen Grübeleien. Du möchtest wissen, warum wir +niemals aus der dreizehnten Schüssel essen. Sieh, liebes Kind, das ist +die Schüssel _verborgenen_ Segens; wir dürfen sie nicht anrühren, sonst +würde es mit unserem glücklichen Leben zu Ende sein. Auch mit den +Menschen würde es auf dieser Welt viel besser stehn, wenn sie nicht in +ihrer Habsucht alle Gaben an sich rissen, ohne dem himmlischen +Segenspender irgend etwas zum Danke zu lassen.[23] Habsucht ist der +Menschen größter Fehler!« + +Die Jahre verstrichen Elsen in ihrem Glücke pfeilgeschwind, sie war zur +blühenden Jungfrau herangewachsen und hatte Vieles gelernt, womit sie in +ihrem Dorfe ihr Leben lang nicht bekannt geworden wäre. Kiisike aber war +immer noch dasselbe kleine Kind wie an dem Tage, wo sie das erste Mal +mit Elsen im Walde zusammen getroffen war. Die Fräulein, welche bei der +Frau vom Hause lebten, mußten Kiisike und Else täglich einige Stunden +im Lesen und Schreiben und in allerlei feinen Handarbeiten unterweisen. +Else begriff Alles gut, aber Kiisike hatte mehr Sinn für kindliche +Spiele als für nützliche Beschäftigung. Wenn ihr die Laune kam, so warf +sie die Arbeit weg, nahm ihr Schächtelchen und lief in's Freie, um See +zu spielen, was ihr Niemand übel nahm. Manchmal sagte sie zu Elsen: +»Schade, daß du so groß geworden bist, du kannst nun nicht mehr mit mir +spielen.« + +Als jetzt neun Jahre in dieser Weise verflossen waren, ließ die Frau +eines Abends Else in ihr Schlafzimmer rufen. Else wunderte sich darüber, +denn um diese Zeit hatte die Frau sie noch niemals zu sich kommen +lassen. Das Herz schlug ihr so heftig, daß es zu springen drohte. Als +sie über die Schwelle trat, sah sie, daß die Wangen der Frau geröthet +waren, ihre Augen voll Thränen standen, welche sie rasch trocknete, als +wollte sie dieselben vor Elsen verbergen. »Liebes Pflegkind,« begann die +Frau, »die Zeit ist gekommen, wo wir scheiden müssen.« »_Scheiden_?« rief +Else und warf sich schluchzend der Frau zu Füßen. »Nein, theure Frau, +das kann nimmermehr geschehen, bis uns einst der Tod trennt. Ihr habt +mich einmal huldreich aufgenommen, darum verstoßt mich nicht wieder!« +Die Frau sagte beschwichtigend: »Kind, sei ruhig! Du weißt ja noch gar +nicht, was ich für dein Glück thun will. Du bist herangewachsen und ich +darf dich hier nicht länger in Haft halten. Du mußt wieder unter +Menschen gehen, wo Glückspfade deiner warten.« Else aber bat +flehentlich: »Theure Frau, verstoßet mich nicht. Ich sehne mich nach +keinem anderen Glücke, als bei euch zu leben und zu sterben. Macht mich +zur Stubenmagd oder gebt mir andere Arbeit, nach eurem Belieben, aber +schickt mich nicht fort in die weite Welt. Da wäre es besser gewesen, +ihr hättet mich bei der Stiefmutter im Dorfe gelassen, als daß ihr mich +auf so viele Jahre in den Himmel brachtet, um mich jetzt wieder in die +Hölle zu stoßen.« »Still, liebes Kind!« sagte die Frau -- »du begreifst +nicht, was ich zu deinem Glücke zu thun verpflichtet bin, wie sehr es +mich auch schmerzt. Aber Alles muß so sein, wie ich es mache. Du bist +ein sterbliches Menschenkind, deine Jahre nehmen zu ihrer Zeit ein Ende +und deshalb darfst du nicht länger hier bleiben. Ich und die mich +umgeben haben wohl Menschengestalt, aber wir sind nicht Menschen, wie +ihr, sondern Geschöpfe höherer Art und euch unbegreiflich. Du wirst in +der Ferne einen lieben Gemahl finden, der für dich geschaffen ist, und +wirst glücklich mit ihm sein, bis eure Tage sich zu Ende neigen. Die +Trennung von dir wird mir nicht leicht, aber es muß sein, und deßhalb +mußt du dich ruhig darein fügen.« Dann strich sie mit ihrem goldenen +Kamme durch Elsens Haar und hieß sie zu Bette gehen; aber wo sollte die +arme Else in dieser Nacht den Schlaf hernehmen? Das Leben kam ihr vor +wie ein dunkler sternenloser Nachthimmel. + +Während wir Else ihrem Kummer überlassen, wollen wir uns ins Dorf +begeben, um zu sehen, wie die Sachen auf dem väterlichen Hofe gehen, wo +das _Lehmbild_ an ihrer Statt der Prügelklotz ihrer Stiefmutter war. Daß +ein böses Weib im Alter nicht besser wird, ist eine bekannte Sache; man +erfährt wohl, daß aus einem hitzigen Jünglinge im Alter ein frommes Lamm +wird, aber kommt ein Mädchen, das kein gutes Herz hat, unter die Haube, +so wird sie auf die alten Tage wie ein reißender Wolf. Wie ein +Höllenbrand quälte die Stiefmutter das Lehmbild Tag und Nacht, aber dem +starren Geschöpfe, dessen Körper keinen Schmerz empfand, schadete es +nicht. Wollte der Mann einmal dem Kinde zu Hülfe kommen, so setzte es +für ihn gleichfalls Prügel, zum Lohn für seinen Versuch Frieden zu +stiften. Eines Tages hatte die Stiefmutter ihre Lehmtochter wieder +fürchterlich geschlagen und drohte ihr dann, sie umzubringen. Wüthend +packte sie das Lehmbild mit beiden Händen an der Gurgel, um es zu +erwürgen, siehe, da fuhr eine schwarze Schlange zischend aus des Kindes +Munde, und stach der Stiefmutter in die Zunge, so daß sie todt +niederfiel, ohne einen Laut von sich zu geben. Als der Mann Abends nach +Hause kam, fand er die todte Frau dick aufgeschwollen am Boden liegen; +die Tochter war nirgends zu finden. Auf sein Geschrei kamen die +Dorfbewohner herbei. Die Nachbarn hatten wohl um Mittag einen großen +Lärm im Hause gehört, aber da so etwas fast täglich dort vorfiel, war +Niemand hingegangen. Nachmittags war Alles still geblieben, aber Niemand +hatte die Tochter erblickt. Der Körper der todten Frau wurde nun +gewaschen und gekleidet, und es wurden für die Todtenwächter zur Nacht +Erbsen in Salz gekocht. Der müde Mann ging in seine Kammer, um zu ruhen, +und dankte sicherlich seinem Glücke, daß er diesen Höllenbrand los war. +Auf dem Tische fand er drei gesalzene Strömlinge und einen Bissen Brot, +verzehrte Beides und legte sich zu Bette. Am andern Morgen wurde er todt +auf dem Platze gefunden, und zwar ebenso aufgeschwollen wie die Frau. +Nach einigen Tagen wurden beide in ein Grab gelegt, wo sie einander +kein Leid mehr anthun konnten. Von der verschwundenen Tochter erfuhren +die Bauern seitdem nichts weiter. + +Else hatte die ganze Nacht kein Auge zugethan, sie weinte und beklagte +die harte Notwendigkeit, so schnell und unerwartet von ihrem Glücke +scheiden zu müssen. Am Morgen steckte ihr die Frau einen goldenen +Siegelring an den Finger und hing ihr eine kleine goldene Schachtel an +einem seidenen Bande um den Hals, rief dann den Alten, zeigte mit der +Hand auf Else, und nahm darauf mit betrübter Miene von ihr Abschied. +Eben wollte Else danken, als der Alte dreimal mit seinem Silberstäbchen +sanft ihren Kopf berührte. Else fühlte alsbald, daß sie zum Vogel +geworden war; aus den Armen wurden Flügel und aus den Beinen Adlerfüße +mit langen Klauen, aus der Nase ein krummer Schnabel, Federn bedeckten +den ganzen Leib. Dann hob sie sich plötzlich in die Luft und schwebte +ganz wie ein aus dem Ei gebrüteter Adler unter den Wolken dahin. So war +sie schon mehrere Tage gen Süden geflogen und hatte wohl zuweilen +gerastet, wenn die Flügel ermatteten, aber Hunger hatte sie nicht +gefühlt. Da geschah es, daß sie eines Tages über einem niedrigen Walde +schwebte, wo Jagdhunde sie anbellten, die freilich dem Vogel nichts +anhaben konnten, weil ihnen Flügel fehlten. Mit einem Male fühlte sie +ihr Gefieder von einem scharfen Pfeile durchbohrt und fiel zu Boden. Vor +Schrecken war sie ohnmächtig geworden. + +Als Else aus ihrer Ohnmacht erwachte und die Augen weit öffnete, fand +sie sich in menschlicher Gestalt unter einem Gebüsche. Wie sie dahin +gekommen und was ihr sonst Seltsames begegnet war, lag wie ein Traum +hinter ihr. Da kam ein stolzer junger Königssohn daher geritten, sprang +vom Pferde und bot Elsen freundlich die Hand, indem er sagte: »Zur +glücklichen Stunde bin ich heute Morgen ausgeritten! Von euch, theures +Fräulein, träumte mir ein halbes Jahr lang jede Nacht, daß ich euch hier +im Walde finden würde. Obschon ich den Weg wohl hundert Mal umsonst +gemacht hatte, ließ doch meine Sehnsucht und meine Hoffnung nicht nach. +Heute schoß ich einen großen Adler, der hierher gefallen sein mußte; ich +ging der erlegten Beute nach und fand statt des Adlers -- euch.« Dann +half er Elsen auf's Pferd und ritt mit ihr zur Stadt, wo der alte König +sie freudig empfing. Einige Tage später ward eine prachtvolle Hochzeit +gefeiert; am Morgen des Hochzeitstages waren funfzig Fuder mit +Kostbarkeiten angekommen, welche die liebe Pflegemutter Elsen geschickt +hatte. Nach des alten Königs Tode wurde Else Königin und hat dann im +Alter die Ereignisse ihrer Jugend selbst erzählt. Aber vom Tontlawald +hat man seitdem Nichts mehr gesehen noch gehört. + +[Fußnote 19: Ein Landstrich nördlich vom Peipus-See. L.] + +[Fußnote 20: Es haben sich also auch die Ehsten, gleich den Finnen, +ganze Naturgebiete unter dem Schutze bestimmter Gottheiten, und dann +wieder einzelne Naturindividuen von Schutzgeistern oder Elfen (ehstnisch +=hallijas=, finnisch =haltia=) beseelt gedacht. Was hier blutet und jammert, +ist die Dryas, die sich der Ehste jedoch männlich denkt. L.] + +[Fußnote 21: Aus der Klage des verwaisten Hirtenknaben im _Kalewipoëg_ +(=XII.= 876). Auch bei _Neus_, Volkslieder, =passim.= L.] + +[Fußnote 22: Vgl. über den Abscheu der Ehsten vor dem Hingeben ihres +Blutes zu zauberischen Zwecken _Boecler_ u. _Kreutzwald_, der Ehsten +abergläubische Gebräuche =p.= 145 und _Kreutzwald_ und _Neus_, mythische und +magische Lieder der Ehsten =p.= 111. In unserm 9. Märchen betrügt der +Donnersohn den Teufel (den »alten Burschen«), indem er statt des eigenen +Blutes Hahnenblut zur Besiegelung des Vertrages nimmt. L.] + +[Fußnote 23: »Heidnische Altäre haben sich unter den Ehsten einzeln bis +in unsere Zeiten erhalten. Von einem solchen bei dem Landgut Kawershof +im Felliner Kreise berichtet _Hupel_, »er stehe unter einem heiligen +Baume, in dessen Höhlung noch oft kleine Opfer gefunden würden; sei aus +einem Granitblock kunstlos gehauen.« _Kreutzwald_ u. _Neus_, mythische u. +magische Lieder der Ehsten S. 17. L.] + + + + +5. Der Waise Handmühle. + + +Ein armes elternloses Mädchen war allein nachgeblieben wie ein Lamm, und +dann als Pflegekind in eine böse Wirthschaft gekommen, wo es keinen +andern Freund hatte als den Hofhund, dem es zuweilen eine Brotrinde gab. +Das Mädchen mußte vom Morgen bis zum Abend für die Wirthin auf der +Handmühle mahlen, und stand einmal die Mühle stille, weil die müde Hand +ausruhen wollte, so war gleich der Stock da, um das arme Kind +anzutreiben. Des Abends waren die Hande der Waise so starr wie die +Klötze. Das Gnadenbrot, welches die Waisen essen, muß fast immer mit +Schweiß und Blut bezahlt werden. Gott im Himmel allein hört die Seufzer +der Waisen und zählt die Thränen, die von ihren Wangen rollen! -- Eines +Tages, als das schwache Mädchen wieder die schwere Mühle drehte und +voller Unmuth war, weil die Wirthin sie den Morgen nüchtern gelassen +hatte, kam ein hinkender einäugiger Bettler in zerlumpten Kleidern +heran. Es war aber kein wirklicher Bettler, sondern ein berühmter +Zauberer aus Finnland, der sich, um nicht erkannt zu werden, in einen +Bettler verwandelt hatte. Der Bettler setzte sich auf die Schwelle, sah +sich die schwere Arbeit des Kindes an, nahm ein Stück Brot aus seinem +Schultersack, steckte es dem Kinde in den Mund und sagte: »Mittag ist +noch weit, iß etwas Brot zur Stärkung.« Die Waise nahm den trockenen +Bissen und er schmeckte ihr besser als Weißbrot, auch fühlte sie gleich +ihre Kräfte wieder zunehmen. Der Bettler sagte dann: »Dir Armen müssen +wohl von dem ewigen Umdrehen der schweren Mühle die Hände recht müde +sein?« Das Mädchen sah den Alten ungewiß an, wie um zu forschen, ob +seine Frage ernsthaft oder spöttisch gemeint sei. Da sie aber fand, daß +sein Antlitz einen liebreichen und ernsthaften Ausdruck hatte, so +erwiederte sie: »Wer kümmert sich um die Hände einer Waise? Das Blut +dringt mir immer unter die Nägel, und der Stock fährt mir über den +Rücken, wenn ich nicht so viel arbeiten kann, als die Wirthin verlangt.« +Der Bettler ließ sich nun ausführlich erzählen, was für ein Leben das +Kind führe. Als die Waise geendigt hatte, nahm der Alte aus seinem Sacke +ein altes Tuch, gab es ihr und sagte: »Wenn du dich heut Abend schlafen +legst, so binde dies Tuch um deinen Kopf und seufze aus der Tiefe des +Herzens: »Süßer Traum, trage mich dahin, wo ich eine Handmühle finde, +welche von selbst mahlt, so daß ich mich nicht mehr abmühen darf!« Die +Waise steckte das Tuch in ihren Busen und dankte dem Alten, der sich +sogleich entfernte. Als sich das Waisenkind Abends schlafen legte, that +es nach Vorschrift des Bettlers, band das Tuch um den Kopf und stieß +unter Seufzern und Thränen seinen Wunsch aus, obgleich es selber nicht +viel Hoffnung darauf setzte. Dennoch schlief es leichteren Herzens ein, +als sonst. Ein wunderbarer Traum führte das Mädchen in weite Fernen und +ließ es auf seiner Wanderung viel seltsame Dinge erleben. Zuletzt kam +es tief unter die Erde, und da mochte wohl die Hölle sein, denn alles +sah schauerlich und fremd aus. Die Hofthore standen weit offen und kein +lebendes Wesen rührte sich. Als das Mädchen weiter ging, ließ sich ein +Geräusch vernehmen, wie wenn eine Handmühle gemahlen würde. Dem Geräusch +folgend ging das Waisenkind schüchternen Schrittes vorwärts, bis es +unter dem Abschauer einer Klete[24] einen großen Kasten fand, aus +welchem das Geräusch einer Mühle an sein Ohr drang. Das Kind war nicht +stark genug den Kasten zu rühren, geschweige denn von der Stelle zu +bringen. Da sah es im Stalle ein weißes Pferd an der Krippe und kam auf +den guten Einfall, das Pferd aus dem Stalle zu ziehen, es mit Stricken +vor den Kasten zu spannen, und ihn so fortzuführen. Gedacht, gethan: die +Waise schirrte das Pferd an, setzte sich auf den Deckel des Kastens, +ergriff eine lange Ruthe und jagte in vollem Galop nach Hause. + +Als sie am andern Morgen erwachte, fiel ihr der bedeutsame Traum wieder +ein, und zwar stand er so lebendig vor ihr, als wäre sie wirklich eine +Strecke weit auf dem Deckel gefahren. Als sie die Augen aufriß, +erblickte sie den Kasten an ihrem Lager. Sie sprang auf, nahm ein halbes +Loof (Scheffel) Gerste, das vom Abend nachgeblieben war, schüttete es in +die Oeffnung, die sie im Deckel des Kastens fand und siehe das freudige +Wunder: die Steine fingen augenblicklich an zu lärmen. Es dauerte nicht +lange, so war das fertige Mehl im Sacke.[25] Jetzt hatte die Waise einen +leichten Stand; die Mühle im Kasten mahlte Alles, was man ihr bot, und +das Mädchen hatte weiter keine Mühe, als das Getraide oben +hineinzuschütten und das Mehl unten herauszunehmen. Den Deckel des +Kastens durfte sie aber nicht öffnen, der Bettler hatte es ihr streng +verboten, indem er hinzufügte: das würde dein Tod sein! + +Die Wirthin kam bald dahinter, daß der Kasten dem Waisenkinde beim +Mahlen half, sie beschloß daher das Mädchen aus dem Hause zu jagen und +dafür den Mahlkasten zu behalten, der kein Futter verlangen würde. +Zuerst wollte sie sich aber mit dem Dinge näher bekannt machen, um zu +sehen, wo denn der Wundermüller eigentlich stecke. Die Begierde, das +Geheimniß herauszubringen, stachelte das Weib Tag und Nacht. An einem +Sonntag Morgen schickte sie das Waisenkind zur Kirche, und sagte, sie +selbst wolle da bleiben, um das Haus zu hüten. Ein so freundliches +Anerbieten hatte die Waise noch niemals vernommen; vergnügt zog sie ein +reines Hemd und etwas bessere Kleider an, und machte sich eilig auf den +Weg. Die Wirthin lauerte so lange hinter der Thür, bis ihr das Mädchen +aus dem Gesichte war, dann nahm sie aus der Klete ein halb Loof +Getraide und schüttete es auf den Deckel, damit der Kasten es mahle, +aber der Kasten that es nicht. Erst als eine Hand voll in das Loch des +Deckels kam, machten sich die Steine an's Werk; aber nun kostete es dem +Weibe noch viel Mühe und Arbeit, den schweren Kastendeckel los zu +machen. Endlich ging er so weit auf, daß die Alte den Kopf +hineinzustecken wagte, -- aber o weh! eine lichte Lohe schlug aus dem +Kasten heraus und verbrannte die Wirthin, als wär's eine Hedekunkel; es +blieb nichts weiter von ihr übrig als eine Handvoll Asche. + +Als der Wittwer späterhin eine andere Frau nehmen wollte, fiel ihm ein, +daß sein Pflegekind, die Waise, vollständig erwachsen war, so daß er +nicht erst anderswo auf die Freite zu gehen brauche. Die Hochzeit wurde +still gefeiert, und als sich die Nachbaren am Abend entfernt hatten, +ging der Mann mit seiner jungen Frau zu Bette. Als diese den andern +Morgen in die Klete ging, war der Kasten mit der Handmühle verschwunden, +ohne daß man die Spuren eines Diebes fand. Obgleich nun überall gesucht +und nah und fern angefragt wurde, ob der vermißte Gegenstand irgend +Jemanden zu Gesicht gekommen sei, so hat man doch bis auf den heutigen +Tag nichts entdeckt. Der wunderbare Handmühlen-Kasten, den einst ein +Traum aus der Tiefe der Erde herausgeholt hatte, mußte wohl in eben so +wunderbarer Weise dahin zurückgekehrt sein. + +[Fußnote 24: Baltischer Provinzialismus für Vorratskammer oder +Speicher. L.] + +[Fußnote 25: Hier möchte wohl ein schwacher Nachhall von der +Sampo-Mythe anklingen, die in der Kalewala, dem finnischen Epos, eine so +große Rolle spielt. Auch der Wunder wirkende Talisman Sampo wird unter +dem Bilde einer selbstmahlenden Mühle gedacht. Vgl. _Castrén's_ +Vorlesungen über finn. Mythol. S. 264 ff. u. _Schiefner_ im =Bulletin hist. +phil.= der Petersb. Akad. d. Wiss. =t. VIII.= Nr. 5. L.] + + + + +6. Die zwölf Töchter. + + +Es war einmal ein armer Käthner, der zwölf Töchter hatte, unter ihnen +zwei Paar Zwillinge. Die hübschen Mädchen waren alle gesund und frisch +und von zierlichem Wesen. Da die Eltern es so knapp hatten, mochte es +manchem unbegreiflich sein, wie sie den vielen Kindern Nahrung und +Kleidung schaffen konnten; die Kinder waren täglich gewaschen und +gekämmt und trugen immer reine Hemden, wie deutsche Kinder. Einige +meinten, der Käthner habe einen heimlichen Schatzträger,[26] Andere +hielten ihn für einen Hexenmeister, wieder Andere für einen +Windzauberer,[27] der im Wirbelwinde einen verborgenen Schatz zusammen +zu raffen wußte. In Wahrheit aber verhielt sich die Sache ganz anders. +Die Frau des Käthners hatte eine heimliche Gegenspenderin, welche die +Kinder nährte, säuberte und kämmte. Als sie nämlich noch als Mädchen +aus einem fremden Bauerhofe diente, sah sie drei Nächte hinter einander +im Traume eine stattliche Frau, welche zu ihr trat und ihr befahl,[28] +in der Johannisnacht zur Quelle des Dorfes zu gehen. Sie hätte nun wohl +auf diesen Traum nicht weiter geachtet, wenn nicht am Johannisabend ein +Stimmchen ihr immerwährend wie eine Mücke in's Ohr gesummt hätte: »Geh +zur Quelle, geh zur Quelle, wo deines Glückes Wasseradern rieseln!« +Obgleich sie den heimlichen Rathschlag nicht ohne Schrecken vernahm, +faßte sie sich doch endlich ein Herz, verließ die andern Mädchen, die +bei der Fiedel um das Feuer herum lärmten und schritt auf die Quelle zu. +Aber je näher sie kam, desto bänger wurde ihr um's Herz; sie wäre +umgekehrt, wenn ihr das Mückenstimmchen Ruhe gelassen hätte; +unwillkürlich ging sie weiter. Als sie hinkam, sah sie eine Frau in +weißen Kleidern, die auf einem Steine an der Quelle saß. Als die Frau +des Mädchens Furcht gewahrte, ging sie demselben einige Schritte +entgegen, bot ihm die Hand zum Gruß und sagte: »Fürchte dich nicht, +liebes Kind, ich thue dir ja nichts zu Leide! Merke auf und behalte +genau, was ich dir sage. Auf den Herbst wird man um dich freien; der +Mann ist so arm wie du, aber mach' dir deshalb keine Sorge, sondern nimm +seinen Branntwein an.[29] Da ihr beide gut seid, will ich euch Glück +bringen und euch forthelfen; aber lasset darum Sorgsamkeit und Arbeit +nicht dahinten, sonst kann kein Glück Dauer haben. Nimm dieses Säckchen +und stecke es in die Tasche, es sind nur einige Steinchen darin.[30] +Nachdem du das erste Kind zur Welt gebracht hast, wirf ein Steinchen in +den Brunnen, damit ich komme dich zu sehen. Wenn das Kind zur Taufe +geführt wird, will ich zu Gevatter stehen. Von unserer nächtlichen +Zusammenkunft laß gegen Niemanden etwas verlauten -- für dieses Mal sage +ich dir Lebe wohl!« Mit diesen Worten war die wunderbare Fremde dem +Mädchen entschwunden, als wäre sie unter die Erde gesunken. Vielleicht +hätte das Mädchen auch diesen Vorfall für einen Traum gehalten, wenn +nicht das Säckchen in ihrer Hand das Gegentheil bezeugt hätte; sie fand +darin zwölf Steinchen. + +Die Prophezeiung traf ein, das Mädchen wurde im Herbst verheirathet und +der Mann war ein armer Knecht. Im folgenden Jahre brachte die junge Frau +die erste Tochter zur Welt, besann sich auf das, was ihr in der +Johannisnacht begegnet war, stand heimlich aus dem Bette auf, ging an +den Brunnen und warf ein Steinchen hinein. Plumps fiel es in's Wasser! +Sofort stand die freundliche Frau weiß gekleidet vor ihr und sagte: »Ich +danke dir, daß du mich nicht vergessen hast. Sonntag über vierzehn Tage +laß das Kind zur Taufe bringen, dann komme ich auch in die Kirche und +will beim Kinde Gevatter stehen.« Als an dem bezeichneten Tage das Kind +in die Kirche gebracht wurde, trat eine fremde Dame hinzu, nahm es auf +den Schoos und ließ es taufen. Als dies geschehen war, band sie einen +silbernen Rubel in die Windel des Kindes und sandte es der Mutter +zurück. Ganz ebenso geschah es später bei jeder neuen Taufe, bis das +Dutzend voll war. Bei der Geburt des letzten Kindes hatte die Frau zur +Mutter gesagt: »Von heute an wird dein Auge mich nicht mehr schauen, +obwohl ich ungesehen täglich um dich und deine Kinder sein werde. Das +Wasser des Brunnens wird den Kindern mehr Gedeihen bringen als die beste +Kost. Wenn die Zeit herankommt, daß deine Töchter heirathen, so mußt du +einer Jeden den Rubel mitgeben, den ich zum Pathengeschenk brachte. So +lange sie ledig sind, sollen sie keinen größeren Staat machen, als daß +sie Alltags und Sonntags saubere Hemden und Tücher tragen.« + +Die Kinder wuchsen und gediehen, daß es eine Lust war anzusehen; Brot +gab es im Hause zur Genüge, auch zuweilen dünne Zukost, doch am meisten +wurden Eltern und Kinder offenbar durch das Brunnenwasser gestärkt. Die +älteste Tochter wurde dann an einen wohlhabenden Wirthssohn +verheirathet. Wiewohl sie ihm außer der nothdürftigsten Kleidung nichts +zubrachte, so wurde doch ein Brautkasten gemacht und Kleider und +Pathen-Rubel hineingelegt. Als die Männer den Kasten auf den Wagen +hoben, fanden sie ihn so schwer, daß sie glaubten es seien Steine darin, +denn der arme Käthner hatte doch seiner Tochter sonst nichts Werthvolles +mitzugeben. Weit mehr aber war die junge Frau erstaunt, als sie im +Hause des Bräutigam's den Kasten öffnete, und ihn mit Stücken Leinewand +angefüllt und auf dem Grunde einen ledernen Beutel mit hundert +Silberrubeln fand. Dasselbe wiederholte sich nachher bei jeder neuen +Verheirathung; und die Töchter wurden bald alle weggeholt, als es +bekannt geworden war, welch' einen Brautschatz eine jede mitbekam. + +Einer der Schwiegersöhne war aber sehr habsüchtig und mochte sich mit +der Mitgift seiner Frau nicht zufrieden geben. Er dachte nämlich: die +Eltern müssen wohl selbst noch vielen Reichthum besitzen, wenn sie schon +jeder Tochter so viel mitgeben konnten. Er ging daher eines Tages zu +seinem Schwiegervater und suchte ihm den Schatz abzuzwacken. Der Käthner +sagte ganz der Wahrheit gemäß: »Ich habe Nichts hinter Leib und Seele, +und auch meinen Töchtern konnte ich nichts weiter mitgeben als den +Kasten. Was jede in ihrem Kasten gefunden hat, das rührt nicht von mir +her, sondern war die Pathengabe der Taufmutter, welche jedem Kinde an +seinem Tauftage einen Rubel schenkte. Diese Liebesgabe hat sich im +Kasten vervielfältigt.« Der habsüchtige Schwiegersohn glaubte indessen +den Worten des Schwiegervaters nicht, sondern drohte vor Gericht die +Anklage zu erheben, daß der Alte ein Hexenmeister und ein Windbeschwörer +sei, der mit Hülfe des Bösen einen großen Schatz zusammengebracht habe. +Da der Käthner ein reines Gewissen hatte, so flößte ihm die Drohung +seines Schwiegersohnes keine Furcht ein. Dieser aber klagte wirklich. +Das Gericht ließ darauf die andern Schwiegersöhne des Käthners +vorfordern und befragte sie, ob jeder von ihnen dieselbe Mitgift +erhalten habe. Die Männer sagten aus, daß Jeder einen Kasten voll +Leinewand und hundert Silberrubel erhalten habe. Das erregte große +Verwunderung, denn die ganze Nachbarschaft wußte recht gut, daß der +Käthner arm war und keinen andern Schatz hatte als zwölf hübsche +Töchter. Daß diese Töchter von klein auf stets reine weiße Hemden +getragen hatten, wußten die Leute wohl, aber Niemand hatte sonst einen +Prunk an ihnen bemerkt, weder Brustspangen noch bunte Halstücher. Die +Richter beschlossen jetzt, die wunderliche Sache näher zu untersuchen, +um herauszubringen, ob der Alte wirklich ein Hexenmeister sei. + +Eines Tages verließen die Richter, von einer Häscherschaar begleitet, +die Stadt. Sie wollten das Haus des Käthners mit Wachen umstellen, damit +Niemand heraus und kein Schatz auf die Seite gebracht werden könne. Der +habsüchtige Schwiegersohn machte den Führer. Als sie an den Wald +gekommen waren, in welchem die Hütte des Käthners stand, wurden von +allen Seiten Wachen aufgestellt, die keinen Menschen durchlasse sollten, +bis die Sache aufgeklärt sei. Man ließ hier die Pferde zurück und schlug +den Fußsteig zur Hütte ein. Der Schwiegersohn mahnte zu leisem Auftreten +und zum Schweigen, damit der Hexenmeister nicht aufmerksam werde und +sich auf Windesflügeln davon mache. Schon waren sie nahe bei der Hütte, +als plötzlich ein wunderbarer Glanz sie blendete, der durch die Bäume +drang. Als sie weiter gingen, wurde ein großes schönes Haus sichtbar; es +war ganz von Glas und viele hundert Kerzen brannten darin, obgleich die +Sonne schien und Helligkeit genug gab. Vor der Thür standen zwei Krieger +Wache, die ganz in Erz gehüllt waren und lange bloße Schwerter in der +Hand hielten. Die Gerichtsherrn wußten nicht, was sie denken sollten, +Alles schien ihnen mehr Traum als Wirklichkeit zu sein. Da öffnete sich +die Thür: ein schmucker Jüngling in seidenen Kleidern trat heraus und +sagte: »Unsere Königin hat befohlen, daß der oberste Gerichtsherr vor +ihr erscheine.« Obgleich dieser einige Furcht empfand, folgte er doch +dem Jüngling in's Haus. + +Wer beschriebe die Pracht und Herrlichkeit, die sich vor seinen Augen +aufthat. In der prächtigen Halle, welche die Größe einer Kirche hatte, +saß auf einem Throne eine mit Seide, Sammet und Gold geschmückte Frau. +Einige Fuß tiefer saßen auf kleineren goldenen Sesseln zwölf schöne +Fräulein, ebenso prächtig geschmückt wie die Königin, nur daß sie keine +goldene Krone trugen. Zu beiden Seiten standen zahlreiche Diener, alle +in hellen seidenen Kleidern, mit goldenen Ketten um den Hals. Als der +oberste Gerichtsherr unter Verbeugungen näher trat, fragte die Königin: +»Weßhalb seid ihr heute mit einer Schaar von Häschern gekommen, als +hättet ihr Uebelthäter einzufangen?« Der Gerichtsherr wollte antworten, +aber der Schrecken band ihm die Zunge, so daß er kein Wörtchen +vorbringen konnte. »Ich kenne die boshafte und lügnerische Anklage,« +fuhr die Frau fort, »denn meinen Augen bleibt nichts verborgen. Lasset +den falschen Kläger hereinkommen, aber legt ihm zuvor Hände und Füße in +Ketten, dann will ich ihm Recht sprechen. Auch die übrigen Richter und +die Diener sollen eintreten, damit die Sache offenkundig wird und sie +bezeugen können, daß hier Niemanden Unrecht geschieht.« Einer ihrer +Diener eilte hinaus, um den Befehl zu vollziehen. Nach einiger Zeit +wurde der Kläger vorgeführt, an Händen und Füßen gefesselt und von sechs +Geharnischten bewacht. Die anderen Gerichtsherren und deren Diener +folgten. Dann begann die Königin also: + +»Bevor ich über das Unrecht die verdiente Strafe verhänge, muß ich euch +kurz erklären, wie die Sache zusammenhängt. Ich bin die oberste +Wasserbeherrscherin,[31] alle Wasseradern, welche aus der Erde quillen, +stehen unter meiner Botmäßigkeit. Des Windkönigs ältester Sohn war mein +Liebster, aber da sein Vater ihm nicht erlaubte eine Frau zu nehmen, so +mußten wir unsere Ehe geheim halten, so lange der Vater lebte. Da ich +nun meine Kinder nicht zu Hause aufziehen konnte, so vertauschte ich +jedesmal, wenn des Käthners Frau niederkam, sein Kind gegen das meinige. +Des Käthners Kinder aber wuchsen als Pfleglinge auf dem Hofe meiner +Tante auf. Kam die Zeit, daß eine von den Töchtern des Käthners +heirathen wollte, so wurde ein abermaliger Tausch vorgenommen. Jedesmal +ließ ich die Nacht vor der Hochzeit meine Tochter wegholen und dafür +des Käthners Kind hinbringen. Der alte Windkönig lag schon lange krank +darnieder, so daß er von unserem Betruge nichts merkte. Am Tauftage +schenkte ich jedem Kinde ein Rubelstück, welches die Mitgift im Kasten +hecken sollte. Die Schwiegersöhne waren denn auch alle mit ihren jungen +Frauen und dem, was sie mitbrachten, zufrieden, nur dieser habgierige +Frevler, den ihr hier in Ketten seht, unterfing sich, falsche Klage +gegen seinen Schwiegervater zu führen, in der Hoffnung sich dadurch zu +bereichern. Vor zwei Wochen ist nun der alte Windkönig gestorben und +mein Gemahl zur Herrschaft gelangt. Jetzt brauchen wir unsere Ehe und +unsere Kinder nicht länger zu verheimlichen. Hier vor euch sitzen meine +zwölf Töchter, deren Pflegeeltern, der Käthner und sein Weib, bis an +ihren Tod bei mir das Gnadenbrot essen werden. Aber du verworfener +Bösewicht, den ich habe fesseln lassen, sollst sogleich den verdienten +Lohn erhalten. In deinen Ketten sollst du in einem Goldberge gefangen +sitzen, damit deine gierigen Augen das Gold beständig sehen, ohne daß +dir ein Körnchen davon zu Theil wird. Siebenhundert Jahre sollst du +diese Qual erdulden, ehe der Tod Macht erhält dich zur Ruhe zu bringen. +Das ist mein Richterspruch.« + +Als die Königin bis dahin gesprochen hatte, entstand ein Gekrach wie ein +starker Donnerschlag, so daß die Erde bebte und die Richter sammt ihren +Dienern betäubt niederfielen. Als sie wieder zu sich kamen, fanden sie +sich zwar in dem Walde, zu welchem der Führer sie geleitet hatte, aber +da, wo eben noch das gläserne Haus in aller Pracht gestanden hatte, +sprudelte jetzt aus einer kleinen Quelle klares kaltes Wasser hervor. +-- »Von dem Käthner, seiner Frau und dem habsüchtigen Schwiegersohne ist +später nie mehr etwas vernommen worden; des letzteren Wittwe hatte im +Herbst einen anderen Mann geheirathet, mit dem sie glücklich lebte bis +an ihr Ende. + +[Fußnote 26: Hausgeister, welche ihren Herren Schätze zutragen. Sie +werden als feurige Lufterscheinungen, als Drachen gedacht. S. _Kreutzwald_ +u. _Neus_, myth. u. mag. Lieder der Ehsten. S. 81.] + +[Fußnote 27: Vgl. _Kreutzwald_ zu _Boecler_ =p.= 105. _Kreutzwald_ u. _Neus_, +Lieder, S. 84. 86. Nach ehstnischer Anschauung fahren im Wirbelwinde die +Hexen umher. L.] + +[Fußnote 28: Auf die Nacht vom 23. zum 24. Juni fällt der ehstnische +Hexen-Sabbat. L.] + +[Fußnote 29: Diesen bietet nach ehstn. Sitte der den Freier begleitende +Brautwerber an. L.] + +[Fußnote 30: Ehstnisch =lähkre-kiwid= d. i. Steinchen, die man zur +Reinigung des Milchgefäßes (Milchfäßchens), Legel, schwed. =tynnåla=, +ehstn. =lähker= (sprich lächker) braucht. Man führt ein solches +Milchfäßchen auf Reisen nebst dem Brotsack mit sich. L.] + +[Fußnote 31: Identisch mit der Wassermutter, =wete ema=. Weibliche +Personificationen scheinen in der ehstnischen Mythologie, soweit sie +erhalten und bekannt ist, vorzuherrschen. Es giebt eine Erdmutter, die +aber auch Gemahlin des Donnergottes ist, eine Feuermutter, Windesmutter, +Rasenmutter (s. die betr. Anm. zu Märchen 8 vom Schlaukopf) und in +unserem Märchen 17 die Unterirdischen, tritt sogar eine Mutter des +»Stüms,« des Schneegestöbers, auf. -- Eine Wetterjungfrau kennt der +Kalewipoëg =X=, 889 als Tochter des Donnergottes (=Kõu=). Die Finnen haben +eine »Windtochter.« L.] + + + + +7. Wie eine Waise unverhofft ihr Glück fand. + + +Einmal lebte ein armer Tagelöhner, der sich mit seiner Frau kümmerlich +von einem Tage zum andern durchbrachte. Von drei Kindern war ihnen das +jüngste, ein Sohn, geblieben, der neun Jahr alt war, als man erst den +Vater und dann die Mutter begrub. Dem Knaben blieb nichts übrig, als vor +den Thüren guter Menschen sein Brot zu suchen. Nach Jahresfrist gerieth +er auf den Hof eines wohlhabenden Bauerwirths, wo man gerade einen +Hüterknaben brauchte. Der Wirth war nicht eben böse, aber das Weib hatte +die Hosen an und regierte im Hause wie ein böser Drache (»Schüreisen«). +Wie es dem armen Waisenknaben da erging, läßt sich denken. Die Prügel, +die er alle Tage bekam, wären dreimal mehr als genug gewesen, Brot aber +wurde nie soviel gereicht, daß er satt geworden wäre. Da aber das +Waisenkind nichts Besseres zu hoffen hatte, mußte es sein Elend +ertragen. Zum Unglück verlor sich eines Tages eine Kuh von der Herde; +wohl lief der Knabe bis Sonnenuntergang den Wald entlang, von einer +Stelle zur andern, aber er fand die verlorene Kuh nicht wieder. Obwohl +er wußte, was seinem Rücken zu Hause bevorstand, mußte er doch jetzt +nach Sonnenuntergang die Herde zusammentreiben. Die Sonne war noch +nicht lange unter dem Horizont, da hörte er schon der Wirthin Stimme: +»Fauler Hund! wo bleibst du mit der Herde?« Da half kein Zaudern, nur +rasch nach Hause unter den Stock. Zwar dämmerte es schon, als die Herde +zur Pforte hereinkam, aber das scharfe Auge der Wirthin hatte sogleich +entdeckt, daß eine Kuh fehle. Ohne ein Wort zu sagen, riß sie den +nächsten Staken aus dem Zaun und begann damit den Rücken des Knaben zu +bearbeiten, als wollte sie ihn zu Brei stampfen. In der Wuth hätte sie +ihn auch zu Tode geprügelt oder ihn auf Zeit Lebens zum Krüppel gemacht, +wenn der Wirth, der das Schreien und Schluchzen hörte, dem Armen nicht +mitleidig zu Hülfe gekommen wäre. Da er die Gemüthsart des tückischen +Weibes genau kannte, so wollte er sich nicht geradezu dazwischen legen, +sondern suchte zu vermitteln. Er sagte halb in bittendem Tone: »Brich +ihm lieber die Beine nicht entzwei, damit er doch die verlorene Kuh +suchen kann. Davon werden wir mehr Nutzen haben, als wenn er umkommt.« +»Wahr,« sagte die Wirthin, »das Aas kann auch die theure Kuh nicht +ersetzen,« -- zählte ihm noch ein Paar tüchtige Hiebe auf und schickte +ihn dann fort, die Kuh zu suchen. »Wenn du ohne die Kuh zurückkommst,« +-- setzte sie drohend hinzu, --»so schlage ich dich todt.« Weinend und +stöhnend ging der Knabe zur Pforte hinaus und geradeswegs in den Wald, +wo er Tages mit der Herde gewesen war, suchte die ganze Nacht, fand aber +nirgends eine Spur von der Kuh. Als am andern Morgen die Sonne sich aus +dem Schoße der Morgenröthe erhoben hatte, war des Knaben Entschluß +gefaßt. »Werde aus mir, was da wolle, nach Hause gehe ich nicht +wieder.« Mit diesen Worten nahm er Reißaus und lief in einem Athem +vorwärts, so daß er das Haus bald weit hinter sich hatte. Wie lange und +wie weit er so gelaufen war, wußte er selber nicht, als ihm aber zulegt +die Kraft ausging und er wie todt niederfiel, stand die Sonne fast schon +in Mittagshöhe. Als er aus einem langen schweren Schlafe erwachte, kam +es ihm vor, als ob er etwas Flüssiges im Munde gehabt habe, und er sah +einen kleinen alten Mann mit langem grauen Barte vor sich stehen, der +eben im Begriffe war, den Spund wieder auf den Lägel (Milchfäßchen) zu +setzen. »Gieb mir noch zu trinken!« bat der Knabe. »Für heute hast du +genug,« erwiederte der alte Vater, »wenn mein Weg mich nicht zufällig +hierher geführt hätte, so wäre es sicher dein letzter Schlaf gewesen, +denn als ich dich fand, warst du schon halb todt.« Dann befragte der +Alte den Knaben, wer er wäre und wohin er wollte. Der Knabe erzählte +Alles, was er erlebt hatte so lange er sich erinnern konnte, bis zu den +Schlägen von gestern Abend. Schweigend und nachdenklich hatte der Alte +die Erzählung angehört, und nachdem der Knabe schon eine Weile verstummt +war, sagte jener ernsthaft: »Mein liebes Kind! dir ist es nicht besser +noch schlimmer ergangen als so Manchen, deren liebe Pfleger und Tröster +im Sarge unter der Erde ruhen. Zurückkehren kannst du nicht mehr. Da du +einmal fortgegangen bist, so mußt du dir ein neues Glück in der Welt +suchen. Da ich weder Haus noch Hof, weder Weib noch Kind habe, so kann +ich auch nicht weiter für dich sorgen, aber einen guten Rath will ich +dir umsonst geben. Schlafe diese Nacht hier ruhig aus; wenn morgen die +Sonne aufgeht, so merke dir genau die Stelle, wo sie emporstieg. In +dieser Richtung mußt du wandern, so daß dir die Sonne jeden Morgen in's +Gesicht und jeden Abend in den Nacken scheint. Deine Kraft wird von Tage +zu Tage wachsen. Nach sieben Jahren wird ein mächtiger Berg vor dir +stehen, der so hoch ist, daß sein Gipfel bis an die Wolken reicht. Dort +wird dein künftiges Glück blühen. Nimm meinen Brotsack und mein Fäßchen, +du wirst darin täglich soviel Speise und Trank finden, als du bedarfst. +Aber hüte dich davor, jemals ein Krümchen Brot oder ein Tröpfchen vom +Trank unnütz zu vergeuden, sonst könnte deine Nahrungsquelle leicht +versiegen. Einem hungrigen Vogel und einem durstigen Thiere darfst du +reichlich geben: Gott sieht es gern, wenn ein Geschöpf dem andern Gutes +thut. Auf dem Grunde des Brotsacks wirst du ein zusammengerolltes +Klettenblatt finden; das mußt du sehr sorgfältig in Acht nehmen. Wenn du +auf deinem Wege an einen Fluß oder einen See kommst, so breite das +Klettenblatt auf dem Wasser aus, es wird sich sofort in einen Nachen +verwandeln und dich über die Flut tragen. Dann wickele das Blatt wieder +zusammen und stecke es in deinen Brotsack.« Nach dieser Unterweisung gab +er dem Knaben Sack und Fäßchen und rief: »Gott befohlen!« Im nächsten +Augenblick war er den Augen des Knaben entschwunden. + +Der Knabe hätte Alles für einen Traum gehalten, wenn nicht Sack und +Fäßchen in seiner Hand die Wirklichkeit des Geschehenen bezeugt hätten. +Er ging jetzt daran, den Brotsack zu prüfen und fand darin: ein halbes +Brot, ein Schächtelchen voll gesalzener Strömlinge, ein anderes mit +Butter und dazu noch ein hübsches Stückchen Speckschwarte. Als der Knabe +sich satt gegessen hatte, legte er sich schlafen, Sack und Fäßchen unter +dem Kopfe, damit kein Dieb sie wegnehmen könne. Den andern Morgen wachte +er mit der Sonne auf, stärkte seinen Körper durch Speise und Trank und +machte sich dann auf die Wanderung. Wunderbarer Weise fühlte er gar +keine Müdigkeit in seinen Beinen; erst der leere Magen mahnte ihn daran, +daß die Mittagszeit gekommen war. Er sättigte sich mit der guten Kost, +that ein Schläfchen und wanderte weiter. Daß er den rechten Weg +eingeschlagen hatte, sagte ihm die untergehende Sonne, die ihm gerade im +Nacken stand. So war er viele Tage in derselben Richtung vorwärts +gegangen, als er einen kleinen See vor sich erblickte. Hier konnte er +die Kraft seines Klettenblattes prüfen. Wie es der alte Mann +vorausgesagt hatte, so geschah es: ein kleines Boot mit Rudern lag vor +ihm auf dem Wasser. Er stieg ein, und einige tüchtige Ruderschläge +führten ihn an's andere Ufer. Dort verwandelte sich das Boot wieder in +ein Klettenblatt, und dieses ward in den Sack gesteckt.[32] + +So war der Knabe schon manches Jahr gewandert, ohne daß die Nahrung im +Brotsack und im Fäßchen abgenommen hätte. Sieben Jahre konnten recht gut +verstrichen sein, denn er war zu einem kräftigen Jüngling +herangewachsen; da sah er eines Tages von weitem einen hohen Berg, der +bis in die Wolken hinein zu ragen schien. Es verging aber noch eine +Woche, ehe er den Berg erreichte. Dann setzte er sich am Fuße des +Berges nieder, um auszuruhen und zu sehen, ob die Prophezeiungen des +alten Mannes in Erfüllung gehen würden. Er hatte noch nicht lange +gesessen, als ein eigentümliches Zischen sein Ohr berührte: gleich +darauf wurde eine große Schlange sichtbar, welche mindestens zwölf +Klafter lang war und sich dicht bei dem jungen Manne vorbeiwand. +Schrecken lähmte seine Glieder, so daß er nicht fliehen konnte; aber im +Nu war auch die Schlange vorüber. Dann blieb ein Weilchen Alles still. +Darauf schien es ihm, als käme aus der Ferne ein schwerer Körper in +einzelnen Sätzen herangehüpft. Es war eine große Kröte, so groß wie ein +zweijähriges Füllen. Auch dieses häßliche Geschöpf zog an dem Jüngling +vorüber, ohne ihn gewahr zu werden. Sodann vernahm er in der Höhe ein +starkes Rauschen, als wenn ein schweres Gewitter sich erhebe. Als er +hinauf sah, flog hoch über seinem Haupte ein großer Adler in derselben +Richtung, welche vorher die Schlange und die Kröte genommen hatten. »Das +sind wunderbare Dinge, die mir Glück bringen sollen!« dachte der +Jüngling. Da sieht er plötzlich einen Mann auf einem schwarzen Pferde +auf sich zu kommen. Das Pferd schien Flügel an den Füßen zu haben, denn +es flog mit Windesschnelle. Als der Mann den Jüngling am Berge sitzen +sah, hielt er sein Pferd an und fragte, »Wer ist hier vorübergekommen?« +Der Jüngling erwiederte: »Erstens eine große Schlange, wohl zwölf +Klafter lang, dann eine große Kröte von der Größe eines zweijährigen +Füllens und endlich ein großer Adler hoch über meinem Kopfe. Wie groß er +war, konnte ich nicht abschätzen, aber sein Flügelschlag rauschte wie +ein Gewitter daher.« -- »Du hast recht gesehen,« sagte der Fremde, »es +sind meine schlimmsten Feinde, und ich jage ihnen jetzt eben nach. Dich +könnte ich in meinem Dienste brauchen, wenn du nichts Besseres vor hast. +Klettere über den Berg, so kommst du gerade in mein Haus. Ich werde dort +mit dir zugleich anlangen, wenn nicht noch früher.« -- Der junge Mann +versprach zu kommen, worauf der Fremde wie der Wind davon ritt. + +Es war nicht leicht, den Berg zu erklimmen. Unser Wanderer brauchte drei +Tage, ehe er den Gipfel erreichte, und dann wieder drei Tage, ehe er auf +der andern Seite an den Fuß des Berges gelangte. Der Wirth stand schon +vor seinem Hause und erzählte, daß er Schlange und Kröte glücklich +erschlagen habe, des Adlers aber nicht habhaft geworden sei. Dann fragte +er den jungen Mann, ob er Lust habe, als Knecht bei ihm einzutreten. +»Gutes Essen bekommst du täglich, soviel du willst, und auch mit dem +Lohne will ich nicht geizen, wenn du dein Amt getreulich verwaltest.« +Der Vertrag wurde abgeschlossen und der Wirth führte den neuen Knecht im +Hause umher, und zeigte ihm, was er zu thun habe. Es war dort ein Keller +im Felsen angebracht und durch dreifache Eisenthüren verschlossen. »In +diesem Keller sind meine bösen Hunde angekettet,« sagte der Wirth, »du +mußt dafür sorgen, daß sie sich nicht unterhalb der Thür mit den Pfoten +herausgraben. Denn wisse: wenn auch nur einer dieser Hunde frei würde, +so wäre es nicht mehr möglich, die beiden anderen fest zu halten, +sondern sie würden nacheinander dem Führer folgen und alles Lebendige +auf Erden vertilgen. Wenn endlich der letzte Hund ausbräche, so wäre +das Ende der Welt da, und die Sonne hätte zum letzten Male geschienen.« +Darauf führte er den Knecht an einen Berg, den Gott nicht geschaffen +hatte, sondern der von Menschenhänden aus mächtigen Felsblöcken +aufgethürmt war. »Diese Steine« -- sagte der Wirth -- »sind deßwegen +zusammengetragen, damit immer wieder ein neuer Stein hingewälzt werden +kann, so oft die Hunde ein Loch ausgraben. Die Ochsen, welche den Stein +führen sollen, will ich dir im Stalle zeigen, und dir auch alles Uebrige +mittheilen, was du dabei zu beobachten hast.« + +Im Stalle fanden sie an hundert schwarze Ochsen, deren jeder sieben +Hörner hatte; sie waren reichlich zwei Mal so groß wie die größesten +Ukrainer Ochsen. »Sechs Paar Ochsen vor die Steinfuhre gespannt, führen +einen Stein mit Leichtigkeit weg. Ich werde dir eine Brechstange geben, +wenn du den Stein damit berührst, rollt er von selbst auf den Wagen. Du +siehst, deine Arbeit ist so mühsam nicht, desto größer muß deine +Wachsamkeit sein. Drei Mal bei Tage und ein Mal bei Nacht mußt du nach +der Thür sehen, damit kein Unglück geschieht, der Schade könnte sonst +größer sein, als du vor mir verantworten könntest.« + +Bald hatte unser Freund Alles begriffen und sein neues Amt war ganz nach +seinem Sinne: alle Tage das beste Essen und Trinken, wie es ein Mensch +nur begehren konnte. Nach zwei bis drei Monaten hatten die Hunde ein +Loch unter der Thür gekratzt, groß genug, um die Schnauze +durchzustecken, aber sogleich wurde ein Stein davor gestemmt, und die +Hunde mußten ihre Arbeit von neuem beginnen. + +So waren viele Jahre verstrichen und unser Knecht hatte sich ein +hübsches Stück Geld gesammelt. Da erwachte in ihm das Verlangen, ein Mal +wieder unter andere Menschen zu kommen; er hatte so lange in kein +anderes Menschenantlitz gesehen, als in das seines Herrn. War der Herr +auch gut, so wurde dem Knecht doch die Zeit entsetzlich lang, zumal wenn +den Herrn die Lust anwandelte, einen langen Schlaf zu halten. Dann +schlief er immer sieben Wochen lang ohne Unterbrechung und ohne sich +sehen zu lassen. + +Wieder war einmal eine solche Schlaflaune über den Wirth gekommen, als +eines Tages ein großer Adler sich auf dem Berge niederließ und so zu +sprechen anhub: »Bist du nicht ein großer Thor, daß du dein schönes +Leben für gute Kost hinopferst? Dein zusammengespartes Geld nützt dir +nichts, denn es sind ja keine Menschen hier, die es brauchen. Nimm des +Wirthes windschnelles Roß aus dem Stalle, binde ihm deinen Geldsack um +den Hals, setze dich auf und reite in der Richtung fort, wo die Sonne +untergeht, so kommst du nach wenig Wochen wieder unter Menschen. Du mußt +aber das Pferd an einer eisernen Kette fest binden, damit es nicht davon +laufen kann, sonst kehrt es zu seiner gewohnten Stätte zurück und der +Wirth kann kommen, um dich anzufechten. Wenn er aber das Pferd nicht +hat, so kann er nicht von der Stelle.« »Wer soll denn hier die Hunde +bewachen, wenn ich weggehe, während der Wirth schläft?« fragte der +Knecht. »Ein Thor bist du, und ein Thor bleibst du!« erwiederte der +Adler. »Hast du denn noch nicht begriffen, daß der liebe Gott ihn dazu +geschaffen hat, daß er die Höllenhunde bewache? Es ist reine Faulheit, +daß er sieben Wochen schläft. Wenn er keinen fremden Knecht mehr hat, so +wird er sich aufraffen und seines Amtes selber warten.« + +Der Rath gefiel dem Knechte sehr. Er that, wie der Adler gesagt hatte, +nahm das Pferd, band ihm den Geldsack um, setzte sich auf und ritt +davon. Noch war er nicht gar weit vom Berge, als er schon hinter sich +den Wirth rufen hörte: »Halt an! Halt an! Geh' in Gottes Namen mit +deinem Gelde, aber laß mir mein Pferd.« Der Knecht hörte nicht darauf, +sondern ritt immer weiter, bis er nach einigen Wochen wieder zu +sterblichen Menschen kam. Dort baute er sich ein hübsches Haus, freite +ein junges Weib, und lebte glücklich als reicher Mann. Wenn er nicht +gestorben ist, so muß er noch heute leben; aber das windschnelle Roß ist +schon längst verschieden. + +[Fußnote 32: Vergleiche das »See spielen« im Märchen 4 vom Tontlawald, +und das Märchen 11, Der Zwerge Streit. L.] + + + + +8. Schlaukopf.[33] + + +In den Tagen des Kalew-Sohnes lebte im Kungla-Lande[34] ein sehr reicher +König, der seinen Unterthanen alle sieben Jahre in der Mitte des Sommers +ein großes Gelage gab, das jedesmal zwei, auch drei Wochen +hintereinander dauerte. Das Jahr eines solchen Festes war wieder +herangekommen und man erwartete den Beginn desselben binnen einigen +Monaten; aber die Leute schienen dies Mal noch unsicher in ihren +Hoffnungen, weil ihnen nämlich schon zwei Mal, vor vierzehn und vor +sieben Jahren, die erwartete Freude zu Wasser geworden war. Von Seiten +des Königs war beide Male hinlänglich für die nöthigen Vorräthe gesorgt +worden, aber keines Menschen Zunge war dazu gekommen, sie zu kosten. +Wohl schien die Sache wunderbar und unglaublich, aber es fanden sich +aller Orten viele Menschen, welche die Wahrheit derselben als +Augenzeugen bekräftigten. Beide Male, -- so wurde erzählt -- als die +Gäste der hergerichteten Speisen und Getränke warteten, war ein +unbekannter fremder Mann zum Oberkoch gekommen und hatte ihn gebeten, +von Speise und Trank ein paar Mundvoll kosten zu dürfen; aber das bloße +Eintunken des Löffels in den Suppenkessel und das Heben der Bierkanne +zum Munde hatte hingereicht, um mit wunderbarer Gewalt alle +Vorrathskammern, Schaffereien und Keller leer zu machen, so daß auch +kein Körnchen und kein Tröpfchen übrig blieb.[35] Köche und Küchenjungen +hatten alle den Vorfall gesehen und beschworen; gleichwohl war des +Volkes Zorn über die zerstörte Festfreude so groß, daß der König, um die +Leute zu besänftigen, vor sieben Jahren den Oberkoch hatte aufhängen +lassen, weil er dem Fremden die verlangte Erlaubnis gegeben hatte. Damit +nun jetzt nicht abermals ein solches Aergerniß entstünde, war von Seiten +des Königs demjenigen, der die Herstellung des Festes übernähme, eine +reiche Belohnung zugesichert worden: und als gleichwohl Niemand die +Verantwortlichkeit auf sich nehmen wollte, versprach der König endlich +dem Uebernehmer seine jüngste Tochter zur Gemahlin; wenn aber die Sache +unglücklich ausfiele, sollte er mit seinem Leben für den Schaden büßen. + +An der Grenze des Reichs, weit von der Königsstadt, wohnte ein +wohlhabender Bauer mit drei Söhnen, von denen der jüngste schon von +klein auf einen scharfen Verstand zeigte, weil die Rasenmutter[36] ihn +aufgezogen und ihn gar oft heimlich an ihrer Brust gesäugt hatte. Der +Vater nannte diesen Sohn deshalb _Schlaukopf_. Er pflegte zu seinen Söhnen +zu sagen: »Ihr, die beiden älteren Brüder, müsset durch Körperkraft und +Händearbeit euch das tägliche Brod verdienen; du, kleiner Schlaukopf, +kannst durch deinen Verstand in der Welt fortkommen und dich einmal über +deine Brüder emporschwingen.« -- Vor seinem Tode teilte er Aecker und +Wiesen zu gleichen Theilen unter seine beiden älteren Söhne. Dem +jüngsten gab er so viel Reisegeld, daß er in die weite Welt gehen +konnte, um sein Glück zu versuchen. Noch war des Vaters Leiche auf dem +Tische nicht kalt geworden, als auch die älteren Brüder ihrem jüngsten +Alles bis auf den letzten Kopeken wegnahmen, dann warfen sie ihn zur +Thür hinaus und riefen ihm höhnisch nach: »Du schlauer Kopf sollst dich +über uns erheben und blos durch deinen Verstand in der Welt fortkommen, +drum könnte das Geld dir lästig sein!« + +Der jüngste Bruder schlug sich die Mißgunst seiner beiden Brüder aus dem +Sinne und machte sich sorglos auf den Weg. »Gott giebt wohl schon +Glück!« den Spruch hatte er sich zum Trost und Begleiter aus dem +Vaterhause mitgenommen; er pfiff die trüben Gedanken fort und ging +leichten Schrittes weiter. Als er anfing Hunger zu verspüren, traf er +zufällig mit zwei reisenden Handwerksgesellen zusammen. Sein angenehmes +Wesen und seine Scherzreden gefielen den Gesellen, sie gaben ihm, als +Rast gehalten wurde, von ihrer Kost ab, und so brachte Schlaukopf den +ersten Tag glücklich zu Ende. Er trennte sich vor Abend von den Gesellen +und ging vergnügt fürbaß, denn das Gefühl der Sättigung ließ keine Sorge +für den nächsten Tag aufkommen. Ein Nachtlager bot sich ihm überall, wo +der grüne Rasen die Diele unter ihm und der blaue Himmel das Dach über +ihm bildete; ein Stein unter dem Haupte diente als weiches Schlafkissen. +Am folgenden Tage kam er Vormittags an ein einsames Gehöft. Vor der Thür +saß eine junge Frau und weinte kläglich. Schlaukopf fragte, was sie so +sehr bekümmere, und erfuhr Folgendes: »Ich habe einen schlimmen Mann, +der mich alle Tage schlägt, wenn ich seine tollen Launen nicht +befriedigen kann. Heute befahl er mir, ihm zur Nacht einen Fisch zu +kochen, der kein Fisch sein dürfe, und der wohl Augen, aber nicht am +Kopfe habe. Wo auf der Welt soll ich ein solches Thier finden?« -- +»Weine nicht, junges Weibchen« -- tröstete sie Schlaukopf: »dein Mann +will einen Krebs, der zwar im Wasser lebt, aber kein Fisch ist, und der +auch Augen hat, aber nicht im Kopfe.«[37] Die Frau dankte für die gute +Belehrung, gab ihm zu essen und noch einen Brotsack mit auf die Reise, +von dem er manchen Tag leben konnte. Da ihm nun diese unvermuthete Hülfe +geworden war, beschloß er sogleich in die Königsstadt zu gehen, wo +Klugheit am Meisten werth sein müsse, und wo er sicher sein Glück zu +finden hoffte. + +Ueberall, wohin er kam, hörte er von nichts Anderem sprechen, als von +dem Sommerfeste des Königs. Als er erfuhr, was für ein Lohn demjenigen +verheißen war, der das Fest herstellen werde, ging er mit sich zu Rathe, +ob es nicht möglich sei, die Sache zu übernehmen. Gelingt es -- so +sprach er zu sich selbst -- so bin ich mit einem Male auf dem Wege zum +Glücke. Was sollte ich wohl fürchten? Im allerschlimmsten Falle würde +ich mein Leben verlieren, allein sterben müssen wir doch einmal, sei es +früher oder später. Wenn ich's beim rechten Ende anfange, warum sollte +es nicht gehen? Vielleicht habe ich mehr Glück als die Andern. Und gäbe +mir dann auch der König seine Tochter nicht, so muß er mir doch den +versprochenen Lohn an Gelde auszahlen, der mich zum reichen Manne macht. +Unter diesen Gedanken schritt er vorwärts, sang und pfiff wie eine +Lerche, ruhte zuweilen im Schatten eines Busches von des Tages Hitze +aus, schlief die Nacht unter einem Baume oder im Freien, und langte +glücklich an einem Abend in der Königsstadt an, nachdem er am Morgen +seinen Brotsack bis auf den Grund geleert hatte. Am folgenden Tage erbat +er sich Zutritt zum Könige. Dieser sah, daß er es mit einem gescheuten +und unternehmenden Menschen zu thun hatte und so wurde man leicht +Handels einig. Dann fragte der König: »Wie heißt du?« Der Mann von Kopf +erwiederte: »Mein Taufname ist Nikodemus, aber zu Hause wurde ich immer +_Schlaukopf_ genannt, um anzudeuten, daß ich nicht auf den Kopf gefallen +bin.« »Ich will dir diesen Namen lassen,« -- sagte der König, -- »denn +dein Kopf muß mir für allen Schaden einstehen, wenn die Sache schief +geht!« + +_Schlaukopf_ bat sich vom Könige siebenhundert Arbeiter aus und machte +sich ungesäumt an die Vorbereitungen zum Feste. Er ließ zwanzig große +Riegen[38] aufführen, die nach Art gutsherrlicher Viehställe im Viereck +zu stehen kamen, so daß ein weiter Hofraum in der Mitte blieb, zu +welchem eine einzige große Pforte hineinführte. In den heizbaren Räumen +ließ er große Kochgrapen und Kessel einmauern, und die Oefen mit +Eisenrosten versehen, um darauf Fleisch, Blutklöße und Würste zu braten. +Andere Riegen wurden mit Kesseln und großen Kufen zum Bierbrauen +versehen, so daß oben die Kessel, unten die Kufen standen. Noch andere +Häuser ohne Feuerstellen wurden aufgeführt, um zu Schaffereien für kalte +Speisen zu dienen, die eine um Schwarzbrot, die andere um Hefenbrot[39], +die dritte um Weißbrot u. s. w. aufzubewahren. Alle nöthigen Vorräthe, +wie Mehl, Grütze, Fleisch, Salz, Fett. Butter u. dgl. wurden auf dem +Hofraum aufgestapelt, und dann wurden funfzig Soldaten als Wache vor die +Pforte gestellt, damit kein Diebesfinger etwas antasten könnte. Der +König besichtigte alle Tage die Zurüstungen und rühmte _Schlaukopfs_ +Geschick und Klugheit. Außer dem wurden noch einige Dutzend Backöfen im +Freien erbaut, und vor jedem Ofen eine eigene Abtheilung Wachtsoldaten +aufgestellt. Für das Fest wurden geschlachtet tausend Mastochsen, +zweihundert Kälber, fünfhundert Schweine und Ferkel, zehntausend Schafe +und noch viel anderes Kleinvieh, das herdenweise von allen Seiten +zusammengetrieben wurde. Auf den Flüssen sah man Kähne und Böte, auf den +Landstraßen Frachtwagen unaufhörlich Proviant zuführen, und zwar waren +die Fuhren nun schon seit Wochen in Bewegung. An Bier allein wurden +siebentausend Ahm gebraut. Wiewohl die siebenhundert Gehülfen von früh +bis spät arbeiteten, und ab und zu auch noch Tagelöhner angenommen +wurden, so lastete doch die meiste Sorge und Mühe auf _Schlaukopf_, weil +seine Einsicht die Andern in allen Stücken leiten mußte. Den Köchen, +Bäckern und Brauern hatte er aufs strengste eingeschärft, nicht +zuzulassen, daß ein fremder Mund von den Speisen und Getränken koste; +wer gegen diesen Befehl handle, dem war der Galgen angedroht. Sollte +sich aber irgendwo so ein naschhafter Fremder zeigen, so müsse derselbe +augenblicklich vor den obersten Anordner des Festes gebracht werden. + +Am Morgen des ersten Festtages erhielt _Schlaukopf_ Nachricht, daß ein +unbekannter alter Mann in eine Küche gekommen sei und den Koch um +Erlaubniß gebeten habe, aus dem Suppengrapen mit dem Schöpflöffel ein +wenig zu kosten, was ihm der Koch nun also auf eigene Hand nicht +gestatten durfte. _Schlaukopf_ befahl, den Fremden vorzuführen, und bald +erschien ein kleiner alter Mann mit grauen Haaren, welcher demüthig um +Erlaubniß bat, die Festspeisen und das Getränk schmecken zu dürfen. +_Schlaukopf_ hieß ihn in eine der Küchen mitkommen, dort wolle er, wenn es +möglich sei, den ausgesprochenen Wunsch erfüllen. Während sie gingen, +sah er scharf hin, ob an dem Alten nicht irgend etwas Absonderliches zu +entdecken sei. Da erblickte er einen glänzenden goldenen Ring an dem +Ringfinger der linken Hand des Alten. Als sie in die Küche getreten +waren, fragte _Schlaukopf_: »Was für ein Pfand kannst du mir geben, daß +kein Schaden entsteht, wenn ich dich die Speise kosten lasse?« »Gnädiger +Herr,« -- erwiederte der Fremde -- »ich habe dir nichts zum Pfande zu +geben.« _Schlaukopf_ zeigte auf den schönen goldenen Ring und verlangte +ihn zum Pfande.[40] Dagegen sträubte sich der alte Schelm, indem er +versicherte, der Ring sei ein Andenken seiner verstorbenen Frau und er +dürfe ihn einem Gelübde zufolge niemals aus der Hand geben, weil sonst +Unglück kommen könnte. »Dann ist es mir auch nicht möglich, dein +Verlangen zu erfüllen,« sagte _Schlaukopf_ -- »ohne Pfand kann ich +Niemanden weder Festes noch Flüssiges schmecken lassen.« Den Alten +stachelte die Lüsternheit so sehr, daß er endlich seinen Ring zum Pfande +gab. Als er jetzt den Löffel in den Kessel tunken wollte, versetzte ihm +_Schlaukopf_ von hinten mit dem Rücken eines Beiles einen so gewaltigen +Schlag auf den Kopf, daß der stärkste Mastochse davon umgefallen wäre, +aber der alte Schelm sank nicht, sondern taumelte nur ein Bischen. +_Schlaukopf_ packte ihn jetzt mit beiden Händen am Barte und ließ starke +Stricke bringen, mit denen dem Alten Hände und Füße festgebunden wurden, +worauf er bei den Beinen an einem Balken in die Höhe gezogen wurde. +_Schlaukopf_ rief ihm spottend zu: »Da warte nun, bis die Festtage +vorüber sind, dann wollen wir weiter miteinander abrechnen. Der Ring, in +welchem deine Kraft steckt, bleibt mir inzwischen als Pfand.« Der Alte +mußte sich wohl oder übel zufrieden geben; er konnte, gefesselt wie er +war, nicht Hand noch Fuß bewegen. + +Jetzt begann das Gelage, zu welchem die Leute zu Tausenden von allen +Seiten herbeigeströmt waren. Obwohl die Gasterei volle drei Wochen +dauerte, so mangelte es doch weder an Speise noch an Trank, vielmehr +blieb von Allem noch ein gut Theil übrig. + +Das Volk war voll Dank und Preis für den König und den Hersteller des +Festes. Als der König diesem den bedungenen Lohn ausbezahlen wollte, +sagte _Schlaukopf_: »Ich habe noch mit dem Fremden ein kleines Geschäft +abzumachen, ehe ich meinen Lohn in Empfang nehme.« Dann nahm er sieben +starke Männer mit sich, die er mit tüchtigen Knütteln versorgen ließ, +und führte sie dahin, wo er den Alten vor drei Wochen an einen Balken +aufgehängt hatte. »Ihr Männer! Fasset die Knüttel fest in die Faust und +verarbeitet mir den Alten, daß er dieses Bad und unser Gastgebot in +seinem Leben nicht vergesse!« -- Die Männer begannen nun alle sieben den +Alten greulich durchzugerben, so daß sie ihm fast das Leben genommen +hätten; aber von ihren harten Schlägen riß endlich der Strick. Das +Männlein fiel herunter und verschwand im Nu unter der Erde, hinterließ +aber eine breite Oeffnung. Schlaukopf sagte: »Ich habe ein Pfand, mit +welchem ich ihm folgen muß. Bringet dem Könige viele tausend Grüße und +saget ihm, er möge, wenn ich nicht zurück kommen sollte, meinen Lohn +unter die Armen vertheilen.« + +Er kroch nun durch dasselbe Schlupfloch, durch welches der Alte +verschwunden war, in die Tiefe. Anfangs fand er den Weg sehr eng, aber +einige Klafter tiefer wurde er viel breiter, so daß man leicht vorwärts +kommen konnte. Eingehauene Stufen bewahrten den Fuß davor, daß er trotz +der Finsterniß nicht glitt. _Schlaukopf_ war eine Weile gegangen, als er +an eine Thür kam. Er lugte durch eine kleine Oeffnung und sah drei junge +Mädchen sitzen und den ihm wohlbekannten Alten, dessen Kopf dem einen +der Mädchen im Schooße lag. Das Mädchen sagte: »Wenn ich noch ein Paar +Mal die Beule mit der Klinge presse, so vergeht Geschwulst und Schmerz.« +_Schlaukopf_ dachte, das ist gewiß die Stelle, die ich vor drei Wochen mit +dem Rücken des Beils gezeichnet habe. Er nahm sich vor, so lange hinter +der Thür zu warten, bis der Hausherr sich schlafen gelegt habe und das +Feuer ausgelöscht sei. Der Alte bat: »Helft mir in die Kammer, daß ich +mich zu Bette lege, mein Körper ist ganz aus den Gelenken, ich kann +nicht Hand noch Fuß regen.« Darauf wurde er in die Schlafkammer geführt. +Während der Dämmerung, als die Mädchen das Gemach verlassen hatten, +schlich _Schlaukopf_ herein und fand ein Versteck hinter dem +Biertönnchen.[41] + +Die Mädchen kamen bald zurück und sprachen leise miteinander, um den +alten Papa nicht aufzuwecken. »Die Kopfbeule hätte nichts zu sagen,« +meinte die eine, -- »und der verrenkte Körper würde sich auch schon +wieder herstellen, aber der verlorene Kraftring ist ein unersetzlicher +Schade, und der quält den Alten wohl mehr als sein körperlicher +Schmerz.« Als man später den Alten schnarchen hörte, trat _Schlaukopf_ aus +seinem Versteck hervor und befreundete sich mit den Mädchen. Anfangs +sahen diese wohl erschrocken drein, aber der verschlagene Jüngling wußte +ihre Furcht zu beschwichtigen, so daß sie ihn zur Nacht da bleiben +ließen. Er hatte von den Mädchen herausgebracht, daß der Alte zwei ganz +besondere Dinge besitze, ein berühmtes Schwert und eine Gerte vom +Ebereschenbaum,[42] und er gedachte beides mit zu nehmen. Die Gerte +schuf auf dem Meere eine Brücke vor ihrem Besitzer her, und mit dem +Schwerte ließ sich das zahlreichste Heer vernichten. Den folgenden Abend +hatte sich _Schlaukopf_ richtig des Schwertes und der Gerte bemächtigt, +und war vor Tagesanbruch mit Hülfe des jüngsten Mädchens entkommen. Aber +vor der Thür fand er das alte Schlupfloch nicht mehr, sondern einen +großen Hofplatz und weiterhin wogte das Meer hinter der Koppel. + +Unter den Mädchen hatte sich nach seinem Scheiden ein Wortwechsel +erhoben, der so heftig wurde, daß der Alte von dem Lärm erwachte. Aus +ihrem Zanke wurde ihm klar, daß ein Fremder hier verkehrt hatte, er +stand zornig auf und fand Schwert und Gerte entwendet. »Mein bester +Schatz ist mir geraubt!« brüllte er, vergaß allen Körperschmerz und +stürmte hinaus. _Schlaukopf_ saß noch immer am Meeresufer und sann +darüber, ob er die Kraft der Gerte erproben oder sich einen trockenen +Weg suchen solle. Plötzlich hört er hinter sich ein Sausen wie von einer +Windsbraut. Als er sich umsieht, erblickt er den Alten, der wie toll +gerade auf ihn los rennt. Er springt auf und hat eben noch Zeit, mit der +Gerte auf die Wellen zu schlagen und zu rufen: »Brücke vorn, Wasser +hinten!«[43] Kaum hat er das Wort gesprochen, so befindet er sich auf +einer Brücke im Meere, schon eine Strecke vom Ufer entfernt. + +Der Alte kommt ächzend und keuchend an's Ufer und bleibt stehen, als er +den Dieb auf der Brücke über dem Meere sieht. Schnaufend ruft er:[44] +»Nikodemus, Söhnchen! wo willst du hin?« -- »Nach Hause, Papachen!« war +die Antwort. »Nikodemus, Söhnchen! du hast mir mit dem Beil auf den Kopf +geschlagen und mich bei den Beinen am Balken ausgehängt?« -- »Ja, +Papachen.« »Nikodemus, Söhnchen! hast du mich von sieben Mann +durchprügeln lassen und meinen goldenen Ring geraubt?« -- »Ja, +Papachen!« »Nikodemus, Söhnchen! hast du dich mit meinen Töchtern +befreundet?« -- »Ja, Papachen.« »Nikodemus, Söhnchen! hast du das +Schwert und die Gerte gestohlen?« -- »Ja, Papachen.« »Nikodemus, +Söhnchen! willst du zurück kommen?« -- »Ja, Papachen!« gab _Schlaukopf_ +wieder zur Antwort. Inzwischen war er auf der Brücke so weit gekommen, +daß er des Alten Rede nicht mehr hören konnte. Als er über das Meer +hinübergelangt war, erfragte er den nächsten Weg zur Stadt des Königs +und eilte dahin, um seinen Lohn zu fordern. + +Aber siehe da! er fand hier Alles ganz anders als er gehofft hatte. +Seine Brüder standen beide im Dienste des Königs, der eine als Kutscher, +der andere als Kammerdiener. Beide lebten gar lustig: sie waren reiche +Leute. Als Schlaukopf sich vom Könige seinen Lohn ausbat, sagte dieser: +»Ich hatte dich ein ganzes Jahr lang erwartet, da aber nichts von dir zu +hören noch zu sehen war, so hielt ich dich für todt, und wollte deinen +Lohn unter die Armen vertheilen lassen nach deinem Geheiß. Da kamen aber +eines Tages deine älteren Brüder, um diesen Lohn zu erben. Ich übergab +die Sache dem Gericht, welches ihnen den Lohn zuerkannte, wie sich's +auch gebührte, weil man glaubte, du seiest nicht mehr am Leben. Später +traten deine Brüder in meinen Dienst, und stehen noch darin.« Als +_Schlaukopf_ diese Rede des Königs hörte, glaubte er zu träumen, denn +seines Bedünkens war er nicht länger als zwei Nächte in der +unterirdischen Behausung des Alten gewesen, und hatte dann einige Tage +gebraucht, um heimzukehren; jetzt zeigte sich's aber, daß jede Nacht +Jahreslänge gehabt hatte. Er wollte seine Brüder nicht verklagen, ließ +ihnen das Geld, dankte Gott, daß er mit dem Leben davon gekommen war und +sah sich nach einem neuen Dienste um. Der königliche Koch nahm ihn als +Küchenjungen an, und er mußte jetzt alle Tage den Braten am Spieße +drehen. Seine Brüder verachteten ihn wegen dieser geringen Handthierung +und mochten nicht mit ihm umgehen, er aber hatte sie doch lieb. So hatte +er ihnen auch eines Abends Manches von dem erzählt, was er in der +Unterwelt gesehen hatte, wo die Gänse und Enten goldenes und silbernes +Gefieder trugen. Die Brüder hinterbrachten das Gehörte dem Könige und +baten ihn, er möge ihren jüngsten Bruder doch hinschicken, damit er die +seltenen Vögel herbringe. Der König ließ den Küchenjungen rufen und +befahl ihm, sich am nächsten Morgen aufzumachen, um die Vögel mit dem +kostbaren Gefieder zu holen. + +Mit schwerem Herzen machte sich _Schlaukopf_ auf den Weg, nahm aber Ring, +Gerte und Schwert, die er heimlich bewahrt hatte, mit sich. Nach einigen +Tagen kam er an den Meeresstrand und sah an der Stelle, wo er auf seiner +Flucht an's Land gestiegen war, einen alten Mann an einem Steine sitzen. +Als er näher trat, fragte ihn der Mann, der einen langen grauen Bart +hatte: »Weßhalb bist du so verdrießlich, Freundchen?« _Schlaukopf_ +erzählte ihm den schlimmen Handel. Der Alte hieß ihn gutes Muths und +ohne Sorge sein und sagte: »So lange der Kraftring in deiner Hand ist, +kann dir nichts Böses geschehen.« Dann erhielt _Schlaukopf_ eine Muschel +von ihm und wurde bedeutet, mit der Zaubergerte die Brücke bis in die +Mitte des Meeres zu schlagen; alsdann solle er mit dem linken Fuße auf +die Muschel treten, so werde er dadurch in die Unterwelt gelangen, wo +das Gesinde gerade schlafen werde. Weiter hieß er ihn aus +Spinnegewebe[45] einen Sack nähen, um die silber- und goldgefiederten +Schwimmvögel hineinzuthun; dann solle er unverzüglich zurück kommen. +_Schlaukopf_ dankte für die erwünschte Anleitung und eilte fort. Die Sache +ging so, wie vorhergesagt war; aber kaum war er mit seiner Beute bis +an's Meeresufer gelangt, so hörte er den alten Burschen hinterdrein +keuchen und vernahm auch, wie er auf die Brücke trat, wieder dieselben +Fragen als das erste Mal: »Nikodemus, Söhnchen! Du hast mir mit dem +Rücken des Beils auf den Kopf geschlagen und hast mich bei den Beinen am +Balken aufgehängt?« u. s. w. bis zuletzt noch die Frage hinzukam, welche +den an den Schwimmvögeln verübten Diebstahl betraf. _Schlaukopf_ +antwortete auf jede Frage »ja« und eilte weiter. + +So wie ihm der Freund mit dem grauen Barte vorausgesagt hatte, kam er am +Abend mit seiner kostbaren Vogellast in der Stadt des Königs an; der +Sack aus Spinnegewebe hielt die Thiere so fest, daß keines heraus +konnte. Der König schenkte ihm ein Trinkgeld und befahl ihm, am +folgenden Tage wieder hinzugehen, denn er hatte von den älteren Brüdern +gehört, der Herr der Unterwelt besitze sehr viele goldene und silberne +Hausgeräthe, und diese begehrte der König für sich. _Schlaukopf_ wagte +nicht sich dem Befehle zu widersetzen, aber er ging unmuthig von +dannen, weil er nicht vorher wissen konnte, wie die Sache ablaufen +würde. Am Meeresufer aber kam ihm der Mann mit dem grauen Barte +freundlich entgegen und fragte ihn nach der Ursache seiner Betrübniß. +Alsdann erhielt _Schlaukopf_ wiederum eine Muschel und noch eine Handvoll +kleiner Steinchen nebst folgender Anweisung: »Wenn du nach Mittag hin +kommst, so liegt der Wirth im Bette, um zu verdauen, die Töchter spinnen +in der Stube, und die Großmutter scheuert in der Küche die goldenen und +silbernen Gefäße blank. Klettere dann behend auf den Schornstein, wirf +die in ein Läppchen eingebundenen Steinchen der Alten an den Hals, folge +selbst schleunigst nach, stecke die kostbaren Geräthe in den Sack von +Spinnegewebe und dann lauf', was die Beine halten wollen.« _Schlaukopf_ +dankte und machte es ganz, wie vorgeschrieben war. Als er aber das +Läppchen mit den Steinchen fahren ließ, dehnte es sich zu einem +sechslöfigen mit Kieselsteinen gefüllten Sacke aus, der die Alte zu +Boden schmetterte. Flugs hatte _Schlaukopf_ alle goldenen und silbernen +Gefäße in den Sack von Spinnegewebe gepackt und war davon gejagt.[46] +Der »alte Bursche« meinte, als er das Gepolter des Sackes hörte, der +Schornstein sei eingestürzt und getraute sich nicht gleich nachzusehen. +Als er aber die Großmutter lange vergeblich gerufen hatte, mußte er +endlich selbst gehen. Als er das Unglück entdeckte, eilte er, dem Diebe +nachzusetzen, der noch nicht weit sein konnte. _Schlaukopf_ war schon auf +dem Meere, als der Verfolger ächzend und keuchend an's Ufer kam. +»Nikodemus, Söhnchen!« u. s. w. wiederholte der alte Bursche alle +früheren fragen der Reihe nach. Die letzte Frage war: »Nikodemus, +Söhnchen! hast du mir mein Gold- und Silbergeräth gestohlen?« »Freilich, +Papachen!« war die Antwort. »Nikodemus, Söhnchen! versprichst du noch +wiederzukommen?« -- »Nein, Papachen!« antwortete _Schlaukopf_ und lief auf +der Brücke vorwärts. Obwohl der alte Bursche hinter dem Diebe her +schimpfte und fluchte, so konnte er seiner doch nicht habhaft werden, +weil alle Zauberwerkzeuge in den Händen des Diebes waren. + +_Schlaukopf_ fand den Alten mit dem grauen Barte wieder am Strande, warf +den schweren Sack mit den Gold- und Silbersachen, den er nur mit Hülfe +des Kraftringes hatte fortbringen können, ab, und setzte sich dann, um +die müden Glieder auszuruhen. Im Gespräch erfuhr er nun von dem alten +Manne Manches, was ihn erschreckte. Der Alte sagte: »Die Brüder hassen +dich und trachten, dir auf alle Weise das Garaus zu machen, -- wenn du +ihrem bösen Anschlag nicht zuvorkommst. Sie werden den König hetzen, dir +solche Arbeit aufzutragen bei der du leicht den Tod finden kannst. Wenn +du nun heute Abend mit der reichen Last vor den König trittst, so wird +er freundlich gegen dich sein, dann erbitte dir als einzigen Gnadenlohn, +daß die Tochter des Königs Abends heimlich hinter die Thür gebracht +werde, um zu hören, was deine Brüder untereinander sprechen.« + +Als _Schlaukopf_ darnach mit der reichen Habe, die man wenigstens auf zehn +Pferdelasten schätzen konnte, vor den König trat, fand er diesen sehr +freundlich und gütig. _Schlaukopf_ bat nun um den von dem Alten +angegebenen Gnadenlohn. Der König war froh, daß der Schatzbringer keinen +größeren Lohn verlangte und befahl seiner Tochter, sich Abends heimlich +hinter die Thür zu begeben, um zu hören, was der Kutscher und der +Kammerdiener miteinander sprächen. Durch das Wohlleben übermüthig +geworden, prahlten die Brüder mit ihrem Glücke, und was noch einfältiger +war, sie beschimpften dabei lügenhafter Weise des Königs Tochter. Der +Kutscher sagte: »Sie ist viele Mal des Nachts zu mir gekommen, um bei +mir zu schlafen.« Der Kammerdiener erwiederte lachend: »Das kam daher, +weil ich sie nicht mehr wollte und meine Thür vor ihr zuschloß, sonst +würde sie jede Nacht in meinem Bette sein.« Roth vor Scham und Zorn kam +die Tochter zu ihrem Vater, erzählte weinend, welche eine schamlose Lüge +sie mit ihren eigenen Ohren von den Dienern hatte aussprechen hören, und +bat, die Frevler zu bestrafen. Der König ließ die Beiden alsbald in's +Gefängniß werfen und am andern Tage, nachdem sie vor Gericht ihre Schuld +eingestanden hatten, hinrichten. _Schlaukopf_ wurde zum Rathgeber des +Königs erhoben. + +Nach einiger Zeit fiel ein fremder König mit einem großen Heere in's +Land, und _Schlaukopf_ ward gegen den Feind in's Feld geschickt. Da zog er +sein aus der Unterwelt geholtes Schwert[47] zum ersten Mal aus der +Scheide und begann das feindliche Heer niederzumähen, bis nach kurzer +Zeit Alle auf der blutigen Wahlstatt den Tod gefunden hatten. Der König +freute sich über diesen Sieg so sehr, daß er _Schlaukopf_ zum +Schwiegersohn nahm. + +[Fußnote 33: Dieses Märchen lehnt sich an die beiden Höllenfahrten des +Kalewsohnes, die im Kalewipoëg Ges. =XIII-XV=. =XVII-XIX= erzählt sind. Die +Züge der Sage sind im Märchen wunderlich gebrochen und verschoben, und +andre Märchenstoffe hineingewoben. L.] + +[Fußnote 34: Ein mythisches Wunderland. Im Kalewipoëg bewirbt sich des +Kunglakönigs Sohn um Linda, nachmalige Gattin des Kalew, die ihn +abweist, weil »der Kunglakönig böse Töchter hat, welche die Fremde +hassen würden.« Doch lassen sich dieselben Töchter des Kunglakönigs +durch den Gesang des ältesten Kalewsohnes zu Thränen rühren, Kalewipoëg +=III=, 477. Ebendaselbst =XIX=, 400 werden vier Kunglamädchen genannt, +welche goldene und silberne Gewebe wirken. Vgl. auch über den Reichthum +des Landes Kungla das Märchen 23 vom Dudelsack-Tiidu. L.] + +[Fußnote 35: Dieser Streich wird im Kalewipoëg nacheinander dem +Alewsohn, dem Olewsohn und dem Sulewsohn gespielt, welche die Warnung +der am Kessel beschäftigten Alten verachteten, weil sie nicht glaubten, +daß der winzige Knirps, der um Erlaubniß bat zu schmecken, solchen +Schaden anrichten könne. Aber dieser reckt sich auf dem Rande des +Suppenkessels über 70 Klafter hoch und verschwindet im Nebel, während +der Kessel leer geworden. Als aber die Reihe, bei dem Kessel zu wachen, +an den Kalewsohn kommt, verlangt dieser erst von dem als Zwerg +erscheinenden Teufel das Glöcklein zum Pfande, welches er um den Hals +hat und worin seine Kraft steckt. S. Kalewipoëg =XVII=, 327 ff. Da unser +Märchen ein großes Festgelage für alles Volk fingirt, so läßt es auch +übertreibend sämmtliche Vorräthe, Speisen und Getränke verschwinden. L.] + +[Fußnote 36: Die Rasenmutter ist es auch, welche im Kalewipoëg (=I.= 340) +aus dem Küchlein die reine (oder Thau-?) Jungfrau Salme umgebildet hat. +Nach _Kreutzwald_ zu der =cit.= Stelle ist die Rasenmutter eine Schutzgöttin +des Hauses, deren Obhut besonders der Hofraum und Garten anvertraut war. +Der ehstnische Mythus hat von ihr die liebliche Vorstellung, daß sie es +ist, die aus dem geschmolzenen Schnee des Winters die weiße Anemone +(=Anemone nemorosa=, ehstnisch Frostblume) bildet. S. _Kreutzwald_ zu +_Boecler_ S. 188. Vgl. unser Märchen 2 von den im Mondschein badenden +Jungfrauen; diese heißen dort des Waldelfen und der Rasenmutter Töchter. +Die Töchter der Rasenmutter sind es auch, welche im Kalewipoëg =XVII=, 777 +ff. den nach der großen Schlacht bei Assamalla ruhenden Helden +Traumgesichte weben. L.] + +[Fußnote 37: Es ist also von denjenigen Krebsthieren die Rede, deren +Augen auf beweglichen Stielen stehen, nicht unmittelbar auf dem Kopfe. +L.] + +[Fußnote 38: Vgl. Anm. zu Märchen 21, der beherzte Riegenaufseher. L.] + +[Fußnote 39: =Sepik=, mit Hefen gebackenes nicht gesäuertes Brot, das im +südlichen Ehstland nur aus Weizenmehl gemacht wird. S. _Wiedemann_, +Ehstnisch-Deutsches Wörterb. =s. v.= L.] + +[Fußnote 40: Aus dem Glöckchen der Sage, _Kalewipoëg_ =XVII=, 633 ist im +Märchen ein Ring geworden. Im Glöckchen dort, im Ringe hier steckt des +Höllenfürsten Kraft. Vgl. das Märchen 18, vom Nordlands-Drachen, wo der +Ring Salomonis, der im Besitz der Höllenjungfrau ist, Felsen +zertrümmert, wenn er am Daumen der linken Hand steckt. L.] + +[Fußnote 41: Ein mit einem Deckel und unten mit einem Zapfen versehenes +Tönnchen Dünnbier (Kofent), das in den Bauerstuben steht und woraus sich +Bier abzapft, wer Durst hat. L.] + +[Fußnote 42: Hier fehlt also das Dritte, der Wünschelhut aus +Nägelschnitzeln, den Kalewipoëg bei seinem ersten Höllenabenteuer +benutzt und dann verbrennt. S. darüber die Anm. zum 11ten Märchen, von +der Zwerge Streit. L.] + +[Fußnote 43: Kalewipoëg =XV=, 70 ff. Vers 217 heißt die Hexen- oder +Wünschelruthe geradezu der Brückenfertiger (=sillawalmistaja=). L.] + +[Fußnote 44: Kalewipoëg =XV=, 108 ff. vgl. mit =XVIII=, 815 ff. In diesen +Stellen thut »der Leere« (=Tühi=) oder wie er im 18. Gesang heißt, der +Gehörnte (=Sarwik=) alle Fragen hintereinander, während unser Märchen sie +auseinander legt und auf die verschiedenen Gänge Schlaukopfs vertheilt. +Die Sage berichtet von einem Zweikampf des Kalewsohnes mit dem +Höllenfürsten; bei dem zweiten Höllengang des Kalewipoëg endet dieser +Zweikampf mit der Ueberwältigung und Fesselung des Gehörnten. Kalewipoëg +=XIX=, 87 ff. L.] + +[Fußnote 45: Vgl. oben S. 45, 46. L.] + +[Fußnote 46: Auch der Kalewsohn raubt die Schätze der Unterwelt. L.] + +[Fußnote 47: Erinnert an »das in verborgener Schmiede von +unterirdischen Meistern« (=Ma-alused=, vgl. Märchen 17) gefertigte +Schwert, welches der Kalewsohn zum Ersatz für sein von dem Finnenschmied +geschmiedetes und von dem Zauberer des Peipus-Strandes entwendetes +Schwert aus der Hölle nimmt. L.] + + + + +9. Der Donnersohn.[48] + + +Der Donnersohn schloß mit dem Teufel einen Vertrag auf sieben Jahre, +laut dessen der Teufel ihm als Knecht dienen und unweigerlich in allen +Stücken des Herrn Willen erfüllen sollte; zum Lohn für treue Dienste +versprach ihm der Donnersohn seine Seele zu geben. Der Teufel that +seine Schuldigkeit gegen seinen Herrn, er scheute nicht die schwerste +Arbeit und murrte nimmer über das Essen, denn er wußte ja, was für einen +Lohn er nach sieben Jahren von Rechtswegen erhalten sollte. Sechs Jahre +waren vorüber, und das siebente hatte begonnen, aber der Donnersohn +hatte durchaus keine Lust, dem bösen Geist seine Seele so wohlfeilen +Kaufes zu überlassen, und hoffte deshalb durch irgend eine List den +Klauen des Feindes zu entrinnen. Schon beim Abschluß des Vertrages hatte +er dem alten Burschen den Streich gespielt, daß er ihm statt des eigenen +Blutes Hahnenblut[49] zur Besiegelung gab, und der kurzsichtige hatte +den Betrug nicht gemerkt. Und doch war eben dadurch das Band, welches +die Seele des Donnersohns unauflöslich verstricken sollte ganz locker +geworden. Obgleich indeß das Ende der Dienstzeit immer näher rückte, +hatte der Donnersohn sich immer noch keinen Kunstgriff ersonnen, der ihn +frei machen konnte. Da traf es sich, daß an einem heißen Tage von Mittag +her eine schwarze Wetterwolke aufstieg, die den Ausbruch eines schweren +Gewitters drohte. Der alte Bursche verkroch sich sogleich in der Tiefe +der Erde, zu welchem Behuf er immer ein Schlupfloch unter einem Steine +bereit hatte. »Komm Brüderchen, und leiste mir Gesellschaft, bis das +Ungewitter vorüber ist!« bat der Teufel seinen Herrn mit honigsüßer +Zunge. »Was versprichst du mir, wenn ich deine Bitte erfülle?« fragte +der Donnersohn. Der Teufel meinte, darüber könne man sich unten einigen, +denn hier oben mochte er die Bedingungen nicht mehr besprechen, da die +Wolke ihm jeden Augenblick über den Hals zu kommen drohte. Der +Donnersohn dachte: heute hat die Furcht den alten Burschen ganz mürbe +gemacht; wer weiß, ob es mir nicht glückt, mich von ihm los zu machen. +So ging er denn mit ihm in die Höhle. Das Gewitter dauerte sehr lange, +Krach folgte auf Krach, daß die Erde zitterte und die Felsen erbebten. +Bei jeder Erschütterung drückte sich der alte Bursche die Fäuste gegen +die Ohren und kniff die Augen fest zu; kalter Schweiß bedeckte seine +zitternden Glieder, und er konnte kein Wort hervorbringen. Gegen Abend, +als das Gewitter vorüber war, sagte er zum Donnersohn: »Wenn der alte +Vater nicht dann und wann so viel Lärm und Getöse[50] machte, so könnte +ich mit ihm schon durchkommen und könnte ruhig leben, da mir seine +Pfeile unter der Erde nicht schaden können. Aber sein gräßliches Getöse +greift mich so an, daß ich gleich die Besinnung verliere und nicht mehr +weiß, was ich thue. Denjenigen, der mich von diesem Drangsal befreite, +würde ich reichlich belohnen.« Der Donnersohn erwiederte: »Da ist kein +besserer Rath, als dem alten Papa das Donnergeräth heimlich +wegzunehmen.« »Ich würde es schon entwenden,« antwortete der Teufel, +»wenn die Sache möglich wäre, aber der alte =Kõu=[51] ist stets wachsam, +er läßt weder Tag noch Nacht das Donnerwerkzeug aus den Augen, wie wäre +da ein Entwenden möglich?« Der Donnersohn blieb aber dabei, daß sich die +Sache wohl machen ließe. »Ja, wenn du mir helfen würdest,« rief der +Teufel, »dann könnte der Anschlag vielleicht gelingen, ich allein komme +damit nicht zu Gange.« Der Donnersohn versprach nun sein Helfershelfer +zu werden, verlangte aber dafür keinen geringeren Lohn, als daß der +Teufel den Seelenkauf rückgängig mache. »Meinethalben nimm drei Seelen, +wenn du mich von dieser gräßlichen Noth und Angst befreist!« rief der +Teufel vergnügt. Nun setzte ihm der Donnersohn auseinander, in welcher +Weise er die Entwendung für möglich halte, wenn sie sich Beide einmüthig +und mit vereinten Kräften an's Werk machten. »Aber,« so schloß er, »wir +müssen so lange warten, bis der alte Papa sich wieder einmal so sehr +ermüdet, daß er in tiefen Schlaf fällt, denn gewöhnlich schläft er ja +wie der Hase mit offenen Augen.« + +Einige Zeit nach dieser Berathung brach ein schweres Gewitter aus, das +lange anhielt. Der Teufel saß wieder mit dem Donnersohn in seinem +Schlupfwinkel unter dem Steine. Die Furcht hatte den alten Burschen so +betäubt, daß er kein Wort von dem hörte, was sein Gefährte sprach. Am +Abend aber erstiegen Beide einen hohen Berg, wo der alte Bursche den +Donnersohn auf seine Schultern hob und sich dann selber durch Zauber +immer weiter in die Höhe reckte,[52] wobei er sang: + + »Recke, Brüderchen, dich aufwärts, + Wachse, Freundchen, in die Höhe!« + +bis er zur Wolkengrenze hinaufgewachsen war. Als der Donnersohn über den +Wolkenrand[53] hinüber spähte, sah er den Papa =Kõu= ruhig schlafen, den +Kopf auf zusammengeballte Wolken gestützt, aber die rechte Hand lag +quer über das Donnergeräth ausgestreckt. Man konnte das Instrument nicht +fortnehmen, weil das Berühren der Hand den Schlafenden geweckt haben +würde. Der Donnersohn kroch nun von der Schulter des alten Burschen in +die Wolken hinein, schlich leise wie eine Katze näher und suchte sich +durch List zu helfen. Er holte hinter seinem Ohre eine Laus hervor und +setzte sie dem Papa =Kõu= zum Kitzeln auf die Nase. Der Alte nahm alsbald +die Hand, um seine Nase zu kratzen, in demselben Augenblick aber packte +der Donnersohn das frei gewordene Donnerwerkzeug und sprang vom +Wolkenrand auf den Nacken des Teufels zurück, der mit ihm den Berg +hinunter rannte, als hätte er Feuer hinter sich. Der alte Bursche hielt +auch nicht eher an, als bis er die Hölle erreicht hatte. Hier verschloß +er seinen Raub in eiserner Kammer hinter sieben Schlössern, dankte dem +Donnersohn für die treffliche Hülfe und leistete auf dessen Seele völlig +Verzicht. + +Jetzt aber brach über die Welt und die Menschen ein Unglück herein, +welches der Donnersohn nicht hatte vorhersehen können: die Wolken +spendeten keinen Tropfen Feuchtigkeit mehr, und Alles welkte in der +Dürre hin. -- Habe ich leichtsinniger Weise dieses unerwartete Elend +über die Leute gebracht, so muß ich suchen, die Sache, soweit möglich, +wieder gut zu machen, -- dachte der Donnersohn und überlegte, wie der +Noth abzuhelfen sei. Er zog gen Norden an die finnische Grenze, wo ein +berühmter Zauberer wohnte, entdeckte ihm den Raub und gab auch an, wo +das Donnerwerkzeug gegenwärtig versteckt sei. Da sagte der Zauberer: +»Zunächst muß dem alten Vater =Kõu= Kunde werde, wo sein Donnergeräth +festgehalten wird, er findet dann selbst wohl Mittel und Wege, wieder zu +seinem Eigenthume zu gelangen.« Und er schickte dem alten Wolkenvater +Botschaft durch den Adler des Nordens. Gleich am folgenden Morgen kam +=Kõu= zum Zauberer, um ihm dafür zu danken, daß er die Spur des Diebstahls +nachgewiesen hatte. Sodann verwandelte sich der Donnerer in einen +Knaben, suchte einen Fischer auf und verdingte sich bei demselben als +Sommerarbeiter. Er wußte nämlich, daß der Teufel häufig an den See kam, +um Fische zu raffen, und hoffte ihn dort einmal zu treffen. Wiewohl nun +der Knabe =Pikker=[54] Tag und Nacht kein Auge von seinen Netzen +verwandte, so verging doch eine Weile, ehe er des Feindes ansichtig +wurde. Dem Fischer war es längst aufgefallen, daß oftmals die bei Nacht +in den See gelassenen Netze am Morgen leer heraufgezogen wurden, aber er +konnte die Ursache nicht erklären. Sein Knabe wußte freilich recht gut, +wer der Fischdieb sei, aber er wollte nicht früher sprechen, als bis er +seinem Herrn den Dieb auch zeigen könnte. + +In einer mondhellen Nacht, als er mit seinem Herrn an den See kam, um +nach den Netzen zu sehen, traf es sich, daß der Dieb gerade bei der +Arbeit war. Als sie über den Rand ihres Kahnes in's Wasser blickten, +sahen sie Beide, wie der alte Bursche aus den Maschen des Netzes Fische +heraus holte und in seinen Schultersack stopfte. Am folgenden Tage ging +der Fischer einen berühmten Zauberer um Hülfe an und bat ihn, den Dieb +durch seine Kunst dermaßen an das Netz zu bannen, daß er ohne Willen +des Besitzers sich nicht los machen könne. Das geschah denn auch ganz +nach des Fischers Wunsch. Als man am folgenden Tage das Netz aus dem See +herauf wand, kam auch der alte Bursche mit an die Oberfläche und wurde +an's Ufer gebracht. Hei! was er da vom Fischer und Fischerknaben +durchgegerbt wurde! Da er ohne Willen des Zauberers vom Netze nicht +loskommen konnte, so mußte er alle Hiebe ruhig hinnehmen. Die Fischer +zerschlugen ihm wohl ein Fuder Prügelstecken auf dem Leibe, ohne +hinzusehen auf welchen Körpertheil die Schläge fielen. Des alten +Burschen Kopf blutete und war dick aufgeschwollen, die Augäpfel traten +aus ihren Höhlen, -- es war ein gräßlicher Anblick -- aber der Fischer +und sein Knabe hatten kein Erbarmen mit dem gemarterten Teufel, sondern +ruhten nur von Zeit zu Zeit aus, um von neuem darauf los zu dreschen. +Als klägliches Bitten nicht half, bot der alte Bursche endlich ein hohes +Lösegeld, ja er versprach dem Fischer die Hälfte seiner Habe und noch +mehr, wenn der Bann gelöst würde. Der erzürnte Fischer ließ sich aber +nicht eher auf den Handel ein, als bis ihm die letzte Kraft ausging, so +daß er keinen Stock mehr rühren konnte. Endlich kam, nachdem ein Vertrag +geschlossen worden, der alte Bursche mit Hülfe des Zauberers vom Netze +los, worauf er den Fischer bat, er möge nebst seinem Knaben mit ihm +kommen, um das Lösegeld abzuholen. Wer weiß, ob er nicht hoffte, sie +noch durch irgend eine List zu betrügen. + +Im Höllenhofe wurde den Gästen ein prächtiges Fest bereitet, das über +eine Woche dauerte und bei welchem es an nichts fehlte. Der alte Wirth +zeigte den Gästen seine Schatzkammern und geheimnisvollen Geräthe, und +ließ von seinen Spielleuten dem Fischer zur Erheiterung die schönsten +Weisen aufspielen. Eines Morgens sprach der Knabe =Pikker= heimlich zum +Fischer: »Wenn du heute wieder bewirthet und geehrt wirst, so bitte dir +aus, daß man das Instrument bringe, welche in der Eisenkammer hinter +sieben Schlössern liegt.« Bei Tische, als die Männer schon einen halben +Rausch hatten, bat der Fischer, man möge ihm das Instrument aus der +geheimen Kammer zeigen. Der Teufel zeigte sich willig, holte das +Instrument herbei und fing selbst an darauf zu spielen. Allein obgleich +er aus Leibeskräften hineinblies und die Finger an der Röhre auf und ab +bewegte, so war der Ton, den er herausbrachte, doch nicht besser als das +Geschrei einer Katze, die in den Schwanz gekniffen wird, oder das +Gequieke eines Ferkels, das man auf die Wolfsjagd nimmt.[55] Lachend +sagte der Fischer: »Quälet euch nicht umsonst ab! ich sehe wohl, daß aus +euch doch kein Dudelsackbläser mehr wird. Mein Hüterknabe wurde es +besser machen.« »Oho!« rief der Teufel. -- »Ihr meint vielleicht, das +Blasen auf dem Dudelsack sei ungefähr wie das Flöten auf einem +Weidenrohr, und haltet es für ein Kinderspiel? Komm, Freundchen, +versuch' es erst, und wenn du oder dein Hüterknabe etwas wie einen Ton +auf dem Instrumente hervorbringen könnt, so will ich nicht länger der +Höllenwirth heißen.« »Da versuch's!« rief er und reichte das Instrument +dem Knaben hin. Der Knabe =Pikker= nahm es, als er aber den Mund an die +Röhre setzte und hineinblies, da erbebten die Wände der Hölle, der +Teufel und sein Gesinde fielen ohnmächtig hin und lagen wie todt da. +Plötzlich stand an Stelle des Knaben der alte Vater Donnerer selbst +neben dem Fischer, dankte für geleistete Hülfe und sagte: »Künftig, wenn +mein Instrument wieder aus den Wolken ertönt, soll deinen Netzen reiche +Gabe beschieden sein.« Dann trat er eilig die Heimkehr an. + +Unterwegs kam ihm der Donnersohn entgegen, fiel auf die Knie, bereute +seine Schuld und bat demüthig um Verzeihung. Der Vater =Kõu= sagte: »Oft +genug vergeht sich des Menschen Leichtsinn gegen die Weisheit des +Himmels; danke drum deinem Glücke, Söhnchen, daß ich wieder Macht habe, +die Spuren des Elends zu vertilgen, welches deine Thorheit über die +Leute gebracht hat.« Mit diesen Worten setzte er sich auf einen Stein +und blies das Donnerinstrument, bis die Regenpforten sich aufthaten und +die Erde tränkten. Den Donnersohn nahm der alte =Kõu= als Knecht zu sich, +und da muß er noch sein. + +[Fußnote 48: Nota zu 9 u. 10. Beide Märchen behandeln einen und +denselben Stoff: die Entwendung des Donnerwerkzeugs durch den dasselbe +über Alles fürchtenden Teufel, welchem es der in einen Fischerknaben +verwandelte Donnergott wieder abnimmt. + +Was zunächst den Namen des Donnerwerkzeugs betrifft, so heißt es in +beiden Märchen »=pil=«, womit zwar im Ehstnischen jedes Instrument +bezeichnet wird, hier aber nur ein Blaseinstrument gemeint sein kann. +Und zwar kein anderes als der bei den Ehsten seit uralter Zeit sehr +beliebt gewesene Dudelsack, schwedisch =dromm-pîp=, =drumm-pîpa=. =Drumm= ist +das Trompeten-Ende dieses Instruments, es brummt stets denselben Baßton +und erweckt den Ehsten die Vorstellung des Donners. Im Inlande Jahrg. +1858, Nr. 6 ist eine Version unseres Märchens 10 abgedruckt, welche die +Ueberschrift führt =Müristaja mäng=, was mit Donnertrommel übersetzt ist. +Aber =mäng= bedeutet nicht Trommel, sondern Spiel, Spielzeug, und da es im +»Inland« gegen den Schluß heißt: »er holt den »Himmelsbrummer« hervor +und setzt die fünf Finger an denselben,« so deutet dies offenbar keine +Trommel, sondern ein Blaseinstrument an, den Dudelsack, der speciell +=toru-pil=, Röhreninstrument, heißt, aber auch =pil= schlechtweg, wie in +unserm Märchen 23, =Pilli-Tiidu=, Dudelsack-Tiidu. Von Trommel und Pauke +heißt es im Ehstnischen =trummi löma=, die Trommel oder Pauke schlagen, +und weder an Schamanentrommel noch an ein Tambourin ist bei dem +Ausdrucke =pil= oder =müristaja mäng= zu denken. Nach _Neus_, myth. u. mag. +Lieder der Ehsten S. 12. 13. vgl. mit 41. hängt das ehstnische +=müristamine=, das Donnern, mit einem finnischen Verbum zusammen, welches +vom Brummen des Bären gebraucht wird, und weist auch der ehstnische Name +des Donnergotts, =Kõu=, auf ein finnisches =Nomen= für Bär zurück. Auch der +nordische Donnergott, Thunar-Thor, führte den Beinamen des Bären. Also +nicht der Schall einer Trommel, sondern das Gebrüll eines Thieres oder +eines daran erinnernden Instruments wird dem Donner verglichen. Der +ehstnische Donnergott entlockt dem Dudelsack furchtbare, aber auch +liebliche Töne -- schrecklichen Donner, aber auch sanft rieselnden +Regen. Wenn die Vorstellung von dem Erregen des Gewitters durch ein +Instrument wie die Sackpfeife eigentümlich ehstnisch ist (nach _Rußwurm_, +Sagen, Reval 1861. S. 134, ist der Dudelsack Erfindung =Tara's=, und steht +mit den altheidnischen Volkssitten und Götterdiensten in Zusammenhang, +weßhalb christlicher Eifer das Instrument auf den Teufel zurückführte), +so kennt die ehstnische Sage doch auch den =Äike= oder =Pikker=, der Donner +und Blitz hervorbringt, indem er auf einem Wagen mit erzbeschlagenen +Rädern über Eisenbrücken dahin rasselt, Kalewipoëg =III=, 12 ff. vgl. mit +=XX=. 728 ff. Hier wird man sogleich an Thunar-Thor erinnert. + +Was den »Donnersohn« betrifft, so theilt _Kreutzwald_ zu _Boecler_ auf S. 11 +mit, er (Kreutzwald) habe in Wierland (dem nordöstlichen Uferdistrict +Ehstlands) den Namen =Pikse-käsepois=, d. h. des Gewitters Befehlsknabe, +gehört, aber nicht erfahren, wer damit gemeint sei. Nach ehstnischer +Tradition ist der Lijonsengel, der in unserm Märchen 9 zum Fischer, und +in 10 zum Fischer Lijon umgestaltet ist, Vermittler zwischen den +Sterblichen und dem =Tara= oder Altvater, und »_der Gott auf der Erde, der +mit dem Gewitter zusammengeht_.« So liegt die Vermuthung nahe, daß der +Lijons-Engel (stamme er nun von dem biblischen »=Legion=« oder von dem +ebenfalls biblischen »Elias«, russisch »=Iljá=«), der oben angeführte +Befehlsknabe des Gewitters, und unser Donnersohn -- eine und dieselbe +Hypostase des Donnergottes selber sind. Nach _Rußwurm_ Sagen, 1861. S. 131 +hat auch der ehstnische Teufel einen kleinen Sohn, Thomas, der dem +eigenen Vater zuweilen Possen spielt. Wie in unseren Märchen, so +entweichen auch im Kalewipoëg, vgl. die oben citirten Stellen und =X=, +198, die bösen Geister vor ihrem »Züchtiger« und seinen Pfeilen in die +Flut -- das Wasser macht den Blitzstrahl unschädlich. Daß der Donnergott +sich in einen Fischerknaben verwandelt, erinnert einigermaßen an Thors +Fischfang mit Hymir. _Mannhardt_, Götterwelt, =I=, 218. L.] + +[Fußnote 49: S. die Anm. S. 67 zum Märchen vom Tontlawald. L.] + +[Fußnote 50: =Castrén= bemerkt in seinen Vorlesungen über finnische +Mythologie, daß man den Donner viel mehr fürchtete als den Blitz, und +daß man noch jetzt hie und da in Finnland beim Donnerwetter nicht wagt +den Namen =Ukko= (Beherrscher des Himmels) zu nennen, oder irgend etwas +Ungebührliches zu reden oder zu thun. L.] + +[Fußnote 51: =Kõu= heißt der Donnergott; =Pikne=, Genitiv =Pikse=, war +eigentlich der Blitzstrahl, wird aber auch für den Donnergott gebraucht. +Auch die Formen =Pitkne= und =Pikker= kommen vor. Der Kalewipoëg =X=, 889 +kennt eine Wetterjungfrau als =Kõu's= Tochter. L.] + +[Fußnote 52: Im Kalewipoëg wird diese Kraft einem aus Nägelschnitzeln +gemachten Hute zugeschrieben, den der Kalewsohn dem Höllenfürsten +entwendet und nach gemachtem Gebrauche verbrennt. Vgl. die betr. Nota zu +11, der Zwerge Streit. L.] + +[Fußnote 53: Nach _Rußwurm_, Sagen aus Hapfal, der Wiek, Oesel und Runö, +Reval 1861, =p.= =XVII=, denken sich die Ehsten die Wolken als Gallert, und +findet man nach Gewittern zuweilen Wolkenstücke auf der Erde, was +Rußwurm auf eine Flechtenart (=Tremella Nostoc=) beziehen möchte. L.] + +[Fußnote 54: Siehe die Anm. S. 122 ff. u. S. 126. L.] + +[Fußnote 55: Man bringt das Ferkel zum Quieken, um dadurch die Wölfe +anzulocken. L.] + + + + +10. Pikne's Dudelsack. + + +In der Urzeit hatte Altvater gar viel zu thun, die Welt in Ordnung zu +bringen, und das nahm ihm vom Morgen bis zum Abend alle seine Zeit, so +daß er Manches nicht beachtete, was hier und da hinter seinem Rücken +vorging. Riesen standen schon von Anbeginn der Welt wider einander, was +gar oft die Ruhe störte. So hatten Pikne und der alte Tühi[56] eine +Zeitlang ihre Kraft aneinander versucht und darum gekämpft, wer von +Beiden die Oberhand gewänne. Obwohl die Männer Tag und Nacht einander +auflauerten und sich schier die Köpfe zerbrachen, ob sie einen +Gewaltstreich verüben oder List anwenden sollten -- so hatten sie doch +noch nicht den passenden Augenblick zur Ausführung ihrer Anschläge +gefunden. Da traf es sich einmal, daß Pikne, von dem beständigen Wachen +müde geworden, eingenickt war und bald wie ein Sack schlief; +unglücklicherweise hatte er vergessen, sich seinen Dudelsack zu Häupten +zu legen, wo das Instrument sonst immer seinen Platz fand. Der tiefe +Schlaf verschloß ihm Augen und Ohren so fest, daß der Mann weder sah +noch hörte, was in seiner Nähe vorging. Der alte Tühi, der dem Feinde +fast immer auf Schritt und Tritt nachspürte, fand den Pikne schlafend, +trat sachte auf den Zehen heran, nahm den Dudelsack von der Seite des +Schlafenden und machte sich mit seinem Raube auf die Socken. Dadurch +hoffte er jetzt des Donnerer's Vater am meisten zu ärgern und die Macht +desselben zu schwächen, daß er das Werkzeug versteckte, welches bis +dahin das schlimmste Züchtigungsmittel für die Bewohner der Hölle +gewesen war. Als nun Pikne, aus dem Schlafe erwachend, die Augen weit +aufsperrte, sah er alsbald, welch einen Verlust ihm, derweil er schlief, +der Feind verursacht hatte. Daß kein Andrer als der alte Tühi den +Dudelsack hatte stehlen können, das war ihm gleich klar; allein wie +sollte er es anfangen, das ihm gestohlene Eigenthum den Klauen des +Diebes wieder zu entreißen? Wohl hätte er Altvater die Sache mit den +Diebstahl klagen und ihn um Hülfe bitten können, aber dadurch hätte er +seine eigene Sorglosigkeit verrathen, und Altvater hätte ihn im Zorn +noch obendrein gezüchtigt. Diese Gedanken machten dem Pikne eine +Zeitlang viel Sorge, und er flüchtete sich meist an einsame Orte, wo +Niemand ihn zu Gesicht bekam. Der alte Tühi nun, der sonst ungeschlacht +wie ein Kalb und in allen Stücken einfältig war, hatte doch seine Haut +immer vor Pikne zu wahren gewußt. Sonst fürchtete er Pikne's Dudelsack +wie die Pest, so daß er schon von weitem davon lief; jetzt aber konnte +er schon etwas mehr wagen. Er kannte manches heimliche Schlupfloch, wo +Pikne's Pfeile ihm nichts anhaben konnten: auf dem Meeresgrunde konnte +er vor Pikne ohne Sorge sein. Pikne dachte gleich, als er des alten +Tühi Tagelang nicht ansichtig wurde, daß er irgendwo unter dem Wasser +versteckt säße, doch fand er immer keinen zweckmäßigen Plan, wie er des +Feindes habhaft werden und ihm den Dudelsack wieder abnehmen könnte. Da +hatte er eines Tages plötzlich einen prächtigen Einfall, mit dessen +Ausführung er auch nicht säumte. Er nahm die Gestalt eines kleinen +Knaben an, ging früh Morgens in ein Dorf am Strande und forschte dort +nach, ob es nicht möglich sei, irgendwo bei einem Fischer in Dienst zu +treten. + +Ein wohlhabender Fischer, Namens Lijon, sagte, nachdem er des feinen +Knaben Rede angehört: »Eine Viehherde habe ich nun zwar nicht, wo ich +deinesgleichen brauchen könnte, aber ich will dich auf Probe nehmen, ob +man aus dir nicht mit der Zeit einen Gehülfen beim Fischfang machen +kann. Du siehst mir ganz aus wie ein Geschöpf von klugem Geiste, wenn du +nun auch fleißig und folgsam sein wirst, so können wir leicht Handels +einig werden.« Als er am folgenden Morgen an den See ging, nahm er den +Knaben mit, und lehrte ihn mit Angel und Netzen umzugehen und alle +übrigen Obliegenheiten eines Fischers zu besorgen. Schon nach einigen +Tagen fand er, daß ihm der muntere Lehrling von Nutzen war, der alle +Handgriffe leicht auffaßte und seinem Herrn auf jedem Schritt behülflich +zu sein wußte. Allmälig wurde der Knabe gleichsam seine rechte Hand, so +daß der Fischer gar nicht mehr allein auf den Fischfang ging. Die +anderen Fischer nannten den Knaben spöttisch Lijon's Pudel. Der Knabe +aber nahm den Spitznamen gar nicht übel, sondern freute sich des +unverhofften Glückes, daß er jetzt täglich vom Morgen bis zum Abend auf +dem Wasser fahren konnte, wo der Feind sich doch sicher irgendwo auf +dem Grunde versteckt hielt. + +Jetzt traf es sich, daß der alte Tühi seinem Sohne Hochzeit machen und +den Hochzeitsgästen prächtige Feste geben wollte, so daß die Leute noch +lange von seinem Reichthum zu erzählen hätten; -- Eitelkeit ist für den +Teufel der schlimmste Kitzel! Der alte Höllenvater streckte die Pfoten +überall hin, wo er einen Fang zu thun hoffte, am meisten aber trachtete +er, das Getreide von solchen Feldern zu schneiden, auf welchen Andere +gesäet hatten, so daß er keine weitere Mühe hatte, als den Fleiß Anderer +einzusacken. So gerieth er eines Tages auch an den See, dahin, wo der +Fischer in der Nacht seine Netze ausgelegt hatte. Er holte sich eben +gemächlich die Fische aus den Maschen heraus, als der Fischer mit dem +Knaben kam, um die Netze herauszuziehen. Des Knaben Luchsauge hatte mit +Blitzesschnelle schon von weitem den Feind unter dem Wasser erblickt. Er +zog seinen Herrn bei Seite und flüsterte ihm in's Ohr, woran es läge, +daß ihr Fang in den letzten Tagen so schlecht ausgefallen sei. »Eine +Diebshand fuschelt jetzt eben am Netze herum« -- sagte er, indem er mit +ausgestrecktem Finger des Wirths Auge auf den Dieb lenkte, der eben auf +dem Grunde des See's bei der Arbeit war und die Kommenden nicht +bemerkte. Aber Lijon war ein gewiegter Zauberkünstler, der eine +Diebspfote auf frischer That zu bannen wußte, so daß der Dieb nicht +hoffen konnte, ohne ihn wieder loszukommen. Als er alle geheimen Bräuche +der Ordnung nach vollzogen hatte, ging er mit dem Knaben wieder heim und +sagte scherzend: »Mag er bis morgen früh die Fische zahlen, wie viel +ihrer in's Netz gegangen sind!« Als man am andern Morgen an den See kam, +um die Netze herauszuziehen, wurde Altväterchen Tühi in der Schlinge +festgemacht gefunden, und konnte sich nicht losmachen, sondern war +genötigt, dem Fischer unter die Augen zu treten. Als nun sein Kopf mit +dem Netze auf die Oberfläche des Wassers stieg, versetzte ihm der +Fischer mit dem Ruder von Ebereschenholz gleich einige Hiebe zum Gruß, +daß dem Männlein die Ohren sausten. Am Ufer nahmen dann Beide, der +Fischer und sein Knabe, die Knüttel zur Hand und machten sich daran, dem +Diebe seinen Lohn auszuzahlen. Obgleich der Knabe von schmächtigem +Körperbau zu sein schien, so schmeckten doch seine Hiebe so bitter, daß +sie dem alten Tühi durch Mark und Bein gingen und ihm den Athem zu +benehmen drohten. Da begann Tühi zu schreien und zu flehen: »Vergieb mir +diesmal, Brüderchen, und höre nur meine Entschuldigung an. Noth treibt +den Ochsen an den Brunnen, und Noth trieb auch mich Armen jetzt an dein +Netz. Mir steht zu Hause des Sohnes Hochzeit bevor, die, wie du wohl +weißt, sich ohne Fische nicht ausrichten läßt. Und da ich selbst keine +Netze hatte, mußte ich schon einige Fische aus deinen Netzen auf Borg +nehmen. Dies war mein erstes Vergehen gegen dich und soll auch mein +letztes bleiben. Ich will mein Lebtag das Bad nicht vergessen, das ihr +mir heute eingeheizt habt. Dein Knabe hat mich so wacker gequästet, daß +ich meine Knochen nicht fühle und nicht Hand noch Fuß regen kann.« Der +Fischer erwiederte: »Mag denn unser Handel diesmal abgemacht sein. Du +kennst jetzt meine Netze und wirst dich sicherlich ein ander Mal vor +ihnen zu hüten wissen. Nimm den Fischsack auf den Rücken, und dann geh +mir flink aus den Augen, daß ich deine Fersen nicht mehr sehe, oder aber +--!« Bei diesen Worten zeigte er ihm den Stock. Der alte Tühi küßte dem +Fischer die Füße zum Dank dafür, daß er so leichten Kaufes losgekommen +war. Obwohl er aber schon über ein Fuder fremder Fische im Sacke hatte, +so gelüstete es ihn doch, noch einen Fisch zu fangen, den er für das +allerköstlichste Gericht hielt. Mit Honigworten begann er den Fischer zu +bitten, auf seines Sohnes Hochzeit zu Gast zu kommen, denn er hoffte +dort mit Gewalt oder mit List der Seele des Fischers habhaft zu werden. +Der Fischer versprach zu kommen, wenn er auch den Knaben mitbringen +könnte. Der alte Tühi dachte: »Vortrefflich, das Glück scheint mir +günstiger zu sein, als ich mir vorstellte, hier werden mir zwei für +einen geboten.« »Meinethalben bringe den Bengel mit, wenn du allein +nicht kommen willst!« rief er Abschied nehmend und schleppte seine vor +Schmerz steif gewordenen Glieder weiter. + +Obwohl der alte Tühi nun gewöhnlich durch und durch ein Filz ist, so +richtete er doch seinem Sohne eine prächtige Hochzeit aus, wo es an +Nichts fehlte, sondern Ueberfluß, Glanz und Jubel auf Schritt und Tritt +sich vor den Augen der Gäste entfalteten. Tühi zeigte ihnen seinen +unermeßlichen Reichthum an Geld und Schätzen, womit in seinen Speichern +Kisten und Kasten bis zum Rande angefüllt waren. Er ließ auch mancherlei +wundersame Instrumente spielen und noch wundersamere Tänze aufführen, +wie es Niemand sonst verstand, als eben nur sein Hausgesinde. »Bitte ihn +doch, daß er den Dudelsack herausnimmt, der hinter sieben Schlössern +liegt, und uns darauf eine Weise vorspielen läßt!« sagte der Knabe +heimlich zu seinem Herrn. Der Fischer kam seinem Wunsche nach und begann +sofort dem Höllenvater anzuliegen, daß er ihnen seinen wunderbaren +Dudelsack zeige und den Hochzeitsgästen zur Lust ein Stücklein darauf +spielen lasse. + +Der alte Tühi ging, ohne etwas zu ahnen, zum zweitenmal in die Halle. Er +holte des Himmelsdonnerers Dudelsack hinter sieben Schlössern hervor, +legte seine fünf Finger an den Hals desselben und fing an aus +Leibeskräften zu blasen. Aber sein Spiel gab einen gräulichen Klang. +»Werdet nicht böse und nehmt es nicht übel, wenn ich euch geradeaus +sage, daß aus euch kein Meister auf dem Dudelsack mehr wird; mein +Hirtenknabe könnte es wohl besser machen. Ja ihr könntet bei ihm noch +alle Tage in die Lehre gehen.« Tühi, der keinen Betrug witterte, gab dem +Knaben den Dudelsack in die Hand. Ob man da ein Wunder sah! Statt des +Knaben steht plötzlich der alte Pikne selber da und bläst den Dudelsack +so gewaltig, daß der böse Geist mit sammt seinem Gesinde zu Boden +stürzt. Pikne eilte darauf mit dem Fischer von dannen, sehr erfreut, daß +ihnen die List so vortrefflich gelungen war. + +Als sie eine Strecke Weges zurückgelegt hatten, setzten sie sich Beide +auf den Rand eines breiten Steines, um auszuruhen. Hier begann Pikne zur +Lust den Dudelsack zu blasen, worauf er dann dem Fischer erzählte, was +für Listen er angewandt, um seinen Dudelsack dem alten Tühi wieder +abzunehmen. Während des Gespräches fiel plötzlich Regen, welcher die +ausgetrocknete Erde nach sieben Monden wieder erfrischte. Pikne dankte, +als er schied, seinem gewesenen Brotherrn und versprach, dessen Gebet +immer zu erhören. Von der Zeit an ist Lijon der Mittelsmann zwischen +Göttern und Menschen geworden und bis auf diesen Tag in diesem Ehrenamte +geblieben. + +[Fußnote 56: Vgl. S. 114, Anm. 2. L.] + + + + +11. Der Zwerge[57] Streit. + + +Es ging einmal ein Mann durch einen Wald und stieß auf eine kleine +Lichtung, wo drei Zwerge in argem Streite miteinander begriffen waren. +Sie schlugen, stießen, bissen einander, traten sich mit Füßen und +packten sich an den Haaren, daß es gräulich anzusehen war. Der Mann trat +näher und fragte, worüber ihr Zank sich entsponnen. »Sehr gut, Bauer, +daß du gekommen bist,« schrieen die Zwerge -- »du kannst Richter sein +und unsern Zank schlichten!« Der Mann sagte: »Erst erzählt mir die +Ursache eures Streites, damit ich Recht sprechen kann. Aber schreit +nicht Alle zugleich, sondern Einer rede zur Zeit und deutlich, damit ich +aus dem, was ihr vorbringt, klug werde.« -- »Sehr wohl,« erwiederte +Einer der Zwerge. »Ich will dir den Ursprung unserer Streitigkeit +erklären. Sieh! Gestern starb unser Vater und wir drei Brüder wollten +jetzt seine Erbschaft untereinander theilen; und daraus entstand der +Zank.« Der Mann fragte: »Was für eine Erbschaft hinterließ euch denn der +Vater?« -- »Hier ist seine ganze Verlassenschaft,« erwiederte der +wortführende Zwerg, und zeigte dem Manne einen alten Filzhut, ein Paar +Bastschuhe und einen tüchtigen Knüttel. + +»Seid doch nicht unvernünftig,« sagte der Mann, »sind denn diese +unnützen Dinge des Zankes werth? Ein Klügerer würde sie alle zusammen +auf einen Misthaufen werfen. Da ihr das aber nicht wollt, so theilt +denn. Ihr seid eurer drei und drei Dinge hat der Vater hinterlassen, +also nehme Einer den Hut, der Andere die Bastschuhe und der Dritte den +Stock, so ist die Sache in Ordnung.« »Das geht nicht!« schrieen die +Zwerge. »Diese Dinge darf Niemand theilen, sonst schwindet die geheime +Kraft daraus; die Dinge müssen ungetrennt bleiben.« Der Mann erkundigte +sich nun weiter, warum man diese unnützen Dinge nicht trennen dürfe, und +Einer der Zwerge gab ihm folgenden Bescheid: + +»Der alte unscheinbare verknitterte Hut, den ihr da sehet, ist für den, +der ihn trägt, der größte Schatz.[58] Wenn er den Hut auf hat, so sieht +er Alles, was auf der Welt vorgeht, es sei nah oder fern, sichtbar oder +unsichtbar; -- ja der Besitzer des Hutes erkennt dann sogar die Gedanken +der Menschen. Legt er dann noch die Bastschuhe an und sagt: Ich will +nach Kurland oder Polen, so braucht er nichts weiter zu thun, als den +Fuß aufzuheben: augenblicklich gelangt er an die gewünschte Stätte. +Nimmt der Träger des Hutes und der Bastschuhe dann den Stock in die Hand +und schlägt damit durch die Luft, so muß Alles vor ihm schmelzen, es sei +Freund oder Feind. Ja starre Felsen, Berge und selbst böse Geister +müssen vor diesem Stocke schwinden, denn er ist noch mächtiger als der +Donnerkeil, Pikne's Pfeil. Ihr sehet nun selbst, daß man diese drei +Dinge nicht trennen darf, sondern wir müssen uns ihrer der Reihe nach +bedienen, der Eine heute, der Andere morgen und der Dritte übermorgen.« + +»Die Sache scheint spaßhaft genug,« sagte der Mann, dem beim Anhören +dieser Erzählung ein guter Gedanke aufstieg. »Wenn ich aber euren +Erbschaftsstreit schlichten soll, so muß ich erst probiren, ob auch +Alles wahr ist, was ihr sagt.« -- »Das kannst du thun,« riefen die +Zwerge wie aus einem Munde, »aber beeile dich. Heute wird in Kurland +gerade eine prächtige Hochzeit gefeiert, und unsere ganze Freundschaft +und Sippschaft hat sich dort versammelt. Wir möchten auch dahin.« Der +Mann erwiederte: »Das könnt ihr ja leicht machen, wenn die gerühmte +Zauberkraft wirklich in den Dingen steckt.« Darauf nahm er zuerst den +alten verknitterten Hut zur Hand, und sah, daß derselbe nicht aus Filz +gemacht war, sondern vielmehr aus menschlichen Nägelschnitzeln[59] +bestand. Als er den Hut aufsetzte, ward er die prächtige Hochzeit in +Kurland gewahr und Alles, was sonst noch in der weiten Welt geschah. +Drauf sagte er zu den Zwergen: »Legt mir nun die Bastschuhe an und gebt +mir den Stock, dann stellt euch alle drei in eine Reihe, den Rücken zu +mir und das Gesicht gegen Morgen gewendet, aber seht euch nicht eher um, +als bis ich euch den Bescheid ertheile, wie ihr eure Zauberdinge dem +Willen des Vaters gemäß theilen müsset.« -- Die einfältigen Zwerge +erfüllten ohne Widerrede des Richters Geheiß, kehrten das Gesicht nach +Morgen und wandten ihm den Rücken zu. Als der Mann den Hut auf dem Kopfe +und die Bastschuhe an den Füßen hatte, schwang er den Knüttel ein paar +Mal in der Luft um und ließ ihn dann hart auf die Zwerge fallen. +Augenblicklich waren diese wie weggefegt, und es war keine Spur weiter +von ihnen geblieben, als drei Tropfen Wasser auf dem +Frauenmantel-Blatt,[60] auf welchem die Männlein gestanden hatten. + +Da ihm das erste Probestück so gut gelungen war, beschloß der Mann sich +nach Kurland zur Hochzeit zu begeben. Mit diesem Wunsche hob er den Fuß +auf und rief: »Zur kurischen Hochzeit!« und war in demselben Augenblicke +auf dem Feste angekommen. Da fand er eine große Menge Menschen +versammelt, Hohe und Niedere, denn der Hochzeitgeber war ein +vielgenannter reicher Wirth. Da der Mann mit dem Zauberhute Verborgenes +eben so gut gewahrte, wie Offenbares, so sah er, als er die Augen zur +Decke emporhob, daß sich an derselben und auf den Dörrstangen[61] ein +Schwarm kleiner Gäste befand, deren Menge viel größer zu sein schien, +als die der eingeladenen Gäste unten. Außer ihm aber konnte niemand das +kleine Volk sehen. Die Kleinen flüsterten: »Seht doch! der alte Ohm ist +auch zur Hochzeit gekommen.« -- »Nein!« riefen andere dagegen, -- »der +fremde Mann hat wohl des Ohms Hut, Bastschuhe und Stock, aber der Ohm +selbst ist nicht hier.« Inzwischen wurden die Schüsseln mit den Speisen +aufgetragen, und zwar lagen Deckel darauf. Da sah der Allsichtige, was +von den Uebrigen niemand bemerkte, daß mit einer wunderbaren +Geschwindigkeit die guten Speisen aus den Schüsseln herausgenommen und +schlechtere dafür hineingethan wurden.[62] Eben so ging es mit den +Kannen und Flaschen. Jetzt fragte der Allsichtige nach dem Hausherrn, +trat mit schicklichem Gruß zu ihm und sagte: »Nehmt es nicht übel, daß +ich als unbekannter Fremder unerwartet zu eurem Feste gekommen bin.« +»Seid willkommen,« entgegnete der Wirth --»Speise und Trank haben wir +genug, so daß uns ein und der andere ungeladene Gast nicht lästig fallen +kann.« Der Allsichtige versetzte: »Ich will es glauben, daß ein Gast +mehr oder weniger hier nicht lästig fällt, wenn aber die Zahl der +ungebetenen Gäste die der gebetenen übersteigt, da kann doch auch der +reichste Wirth zu kurz kommen.« »Ich verstehe eure Rede nicht,« sagte +der Wirth. Der Fremde gab ihm seinen Hut und sagte: »Setzet meinen Hut +auf und hebt die Augen zur Decke hinauf, da werdet ihr schon sehen.« Der +Wirth that es, und als er sah, was für Streiche die kleinen Gäste mit +der Mahlzeit verübten, wurde er todtenbleich und rief mit zitternder +Stimme: »Ei, Freundchen! von diesen Gästen hat meine Seele nichts +gewußt; und da ich euren Hut wieder abnehme, sind sie verschwunden. Wie +könnte ich sie wohl los werden?« Der Eigner des Hutes erwiederte: »Ich +will euch die kleinen Gäste bald vom Halse schaffen, wenn ihr die +geladenen Gäste auf kurze Zeit hinausführen, Thüren und Fenster +sorgfältig verschließen und dafür sorgen wollt, daß nirgends ein Astloch +oder ein Spalt in der Wand unverstopft bleibt.« Obwohl der Festgeber +dem Dinge nicht recht traute, so that er doch was der Fremde gewünscht +hatte, und bat ihn, die kleinen Windbeutel hinauszujagen. + +Nach einer kleinen Weile war das Gemach von den geladenen Gästen +geräumt, Thüren, Fenster und andere Oeffnungen sorgfältig verschlossen, +und der Allsichtige war mit den kleinen Gästen allein. Da begann er +seinen Knüttel gegen die Decke und in den Zimmerecken zu schwingen, daß +es eine Lust war zu sehen! In wenigen Augenblicken war die ganze Schaar +der kleinen Gäste vernichtet, und an der Diele lagen so viele +Wassertropfen, als wenn es stark geregnet hätte. Nur ein Bohrloch war +zufällig unverstopft geblieben, dahinaus schlüpfte eins der Zwerglein, +wiewohl der Knüttel den Flüchtling noch gestreift hatte. Dieser stöhnte +auf dem Hofe: »Ai, ai, was für ein Schmerz! Schon manches Mal habe ich +die Pfeile des alten Papa Pikne geschmeckt, aber das war nichts gegen +diesen Knüttel.« + +Als der Wirth mit Hülfe des Wunderhutes sich überzeugt hatte, daß das +Gemach von den Zwerglein gereinigt war, bat er die Gäste wieder +einzutreten. Bei Tische durchschaute der Allsichtige die geheimen +Gedanken der Hochzeitsgäste, und erfuhr Manches, wovon die Andern nichts +ahndeten. Der Bräutigam trug mehr Verlangen nach der Habe seines +Schwiegervaters, als nach seiner jungen Frau; diese, welche als Mädchen +mit dem Junker des Gutes zu thun gehabt hatte, hoffte durch ihren Mann +und ihre Haube ihre Schande zu bedecken. -- Jammerschade, daß in unsern +Tagen solche Hüte nirgends mehr zu finden sind. + +[Fußnote 57: Wörtlich: Ochsenknieleute. L.] + +[Fußnote 58: S. die Nota auf der folgenden S. L.] + +[Fußnote 59: Dieser Hut stammt aus der Unterwelt. S. Kalewipoëg =XIII=, +831 ff. Er hat zehn Gewalten, unter andern die Kraft, den Körper +auszudehnen und zusammenzuziehen. Der Kalewsohn, der sich des Hutes +bemächtigt hatte, beginnt den Ringkampf mit dem Höllenfürsten +(Gehörnten, =sarwik=) in verschrumpfter gewöhnlicher Mannslänge, als aber +der Kampf ihn schwächt, läßt er sich durch den Hut wieder zum Riesen +machen, hebt den Gehörnten zehn Klafter hoch und stampft ihn in den +Boden. =XIV=, 811 ff. Darauf muß der Hut, der auch Wunschhut heißt, ihn +und die drei in der Hölle gefangen gehaltenen Schwestern sammt den +Höllenschätzen auf die Oberwelt versetzen; im Uebermuthe verbrennt der +Kalewsohn sodann den Schnitzel- oder Wünschelhut. Darüber klagen die +Schwestern: + + »Warum, starker Sohn des Kalew, + Hast den lieben Hut zerstört du? + Auf der Erden, in der Hölle + Flicht man nie mehr einen solchen. + Todt sind fortan alle Wünsche + Und vergeblich alles Sehnen« =ibid=. 909. ff. + +Noch jetzt herrscht im Werroschen der Gebrauch, daß man nach dem +Beschneiden der Nägel an Fingern und Zehen mit dem Messer ein Kreuz über +die Abschnitzel zieht, ehe man sie wegwirft, sonst soll der Teufel sich +Mützenschirme daraus machen. S. _Kreutzwald_ zu _Boecler_ S. 139. L.] + +[Fußnote 60: Vgl. im Märchen 4. vom Tontlawald S. 64. L.] + +[Fußnote 61: Diese ruhen auf Querbalken, ziehen sich unter der +Zimmerdecke hin und haben in der Mitte eine Oeffnung, durch welche das +geschnittene Korn nach beiden Seiten hin zum Dörren geschoben wird. L.] + +[Fußnote 62: Vgl. das Märchen 8. vom Schlaukopf, wo der Teufel +sämmtliche Speisen und Getränke durch sein Kosten verschwinden läßt. +L.] + + + + +12. Die Galgenmännlein. + + +Ein Prediger suchte schon seit einiger Zeit einen Knecht, der neben +seinen andern Geschäften auch die Verpflichtung übernehmen sollte, +allmitternächtlich die Kirchenglocke zu läuten. Zwar hatten schon viele +und zum Theil sehr brauchbare Männer den Dienst angenommen, allein +sobald sie sich aufgemacht hatten, um das nächtliche Läuten zu besorgen, +waren sie plötzlich wie in die Erde gesunken; kein Glockenschlag war zu +hören, und kein Glöckner kam zurück. Der Prediger hielt die Sache sehr +geheim, aber das plötzliche Verschwinden so vieler Menschen wurde doch +allmählich ruchbar, und es wollte Niemand mehr bei ihm dienen. + +Je bekannter die Sache wurde, desto bedenklicher schüttelten die Leute +den Kopf, und es fehlte auch nicht an bösen Zungen, welche aussprengten, +daß der Prediger selber die Knechte umgebracht habe. Nothgedrungen hatte +er jetzt verdoppelten Lohn nebst guter Kost angeboten. Monate lang hatte +er jeden Sonntag nach der Predigt von der Kanzel herab verkündet: »Ich +brauche einen tüchtigen Knecht, verspreche reichlichen Lohn, gute +Nahrung u. s. w.« -- es war aber immer erfolglos geblieben. Da kommt +eines Tages der schlaue Hans und bietet sich an; er hatte zuletzt bei +einem geizigen Herrn gedient, darum zog ihn das Versprechen guter +Nahrung zu dem Geistlichen, und er wollte den Dienst gleich antreten. +»Ganz wohl, mein Sohn,« sagte der Prediger: »wenn es dir an Muth und +Gottvertrauen nicht fehlt, so kannst du schon diese Nacht dein +Probestück ablegen. Morgen wollen wir dann den Dienstvertrag +abschließen.« + +Hans war damit zufrieden, ging in die Gesinde-Stube und machte sich um +seinen neuen Dienst keine Sorge. Der Prediger war ein Geizhals und ward +immer verdrießlich, wenn das Gesinde zu viel aß, deßhalb kam er meist +während der Mahlzeit herein, weil er hoffte, die Leute würden in seiner +Gegenwart weniger dreist zulangen. Er ermahnte das Gesinde, zwischen dem +Essen recht oft zu trinken, denn er meinte, je mehr Flüssiges Einer im +Magen habe, desto weniger Platz werde für Brot und Zukost übrig bleiben. +Hans aber war schlauer als sein Herr, er leerte den Krug auf einen Zug +und sagte: »Das macht noch einmal so viel Platz für die Speise.« Der +Prediger wähnte, daß sich die Sache wirklich so verhalte, und forderte +seitdem seine Leute nicht mehr zum Trinken auf. Hans aber lachte +innerlich, daß ihm das Schelmstück gelungen war. + +Etwa eine Stunde vor Mitternacht ging Hans in die Kirche. Er fand sie +inwendig erleuchtet und war ein wenig verwundert, als er beim Eintreten +eine zahlreiche Gesellschaft vorfand, welche nicht die Andacht hier +zusammengeführt hatte. Die Leute saßen um einen langen Tisch und +spielten Karten. Hans empfand keine Furcht, oder, wenn er etwas davon +verspürte, so war er doch klug genug, es sich nicht merken zu lassen. Er +ging dreist an den Tisch und setzte sich zu den Spielern. Einer +derselben bemerkte ihn und fragte: »Freundchen, was hast du hier zu +suchen?« Hans sah ihn eine Weile groß an und sagte dann lachend: »Du +Naseweis solltest dir lieber das Maul stopfen! Wenn Jemand hier ein +Recht hat zu fragen, so meine ich es zu sein. Wenn ich mich meines +Rechtes nicht bediene, so wäre es für euch gewiß das Gescheuteste, euer +vorlautes Maul zu stopfen!« + +Darauf nahm Hans Karten zur Hand und spielte mit den unbekannten +Männern, als wären es seine besten Freunde. Er hatte viel Glück, denn +sein Einsatz verdoppelte sich ihm, und dadurch wurden manchem seiner +Mitspieler die Taschen geleert. Da hörte man einen Hahnenschrei, +Mitternacht mußte angebrochen sein, plötzlich erloschen die Lichter und +im Nu waren die Spieler sammt Tisch und Bänken verschwunden. Hans mußte +in der dunklen Kirche eine Zeitlang herumtappen, bis er endlich den +Eingang zur Thurmtreppe fand. + +Als er den ersten Absatz hinauf geklettert war, sah er auf der obersten +Stufe ein Männlein sitzen, dem der Kopf fehlte. »Hoho, mein Kleiner, was +hast du hier zu suchen?« fragte Hans, und versetzte ihm, ohne die +Antwort abzuwarten, einen so derben Fußtritt in den Nacken, daß das +Männlein die lange Treppe hinunter rollte. Auf der zweiten, dritten und +vierten Treppe fand er eben solche stumme Wächter, und ließ sie einen +nach dem andern hinunterpurzeln, daß ihnen alle Knochen im Leibe +knackten. + +Endlich war Hans ungehindert zur Glocke gelangt. Als er hinauf sah, um +sich zu überzeugen, daß Alles in gehörigem Stande sei, erblickte er noch +ein kopfloses Männlein, das zusammengekauert in der Glocke saß. Es hatte +den Glockenklöppel losgemacht und schien darauf zu warten, daß Hans den +Glockenstrang anzöge, um ihm dann den schweren Klöppel auf den Kopf zu +schmeißen, was dem Glöckner sicher den Tod gebracht hätte. + +»Halt, Freundchen!« rief Hans -- »so haben wir nicht gewettet. Du hast +wohl gesehen, wie ich deine kleinen Kameraden, ohne ihre eigenen +Beinchen zu bemühen, die Treppe habe hinunter rollen lassen? Gleich +sollst du hinter ihnen her fliegen. Aber weil du am höchsten sitzest, +sollst du auch die stolzeste Fahrt machen, ich will dich zur Luke +hinauswerfen, daß dir die Lust vergehen soll, wiederzukommen.« + +Mit diesen Worten setzte er die Leiter an, um den Kleinen aus der Glocke +heraus zu holen und seine Drohung wahr zu machen. Das Männlein erkannte +die Gefahr, in der es schwebte, und fing an zu bitten: »Brüderchen! +schone mein armes Leben! Dafür will ich dir fest versprechen, daß weder +ich noch meine Kameraden dich je wieder beim nächtlichen Läuten stören +sollen. Wohl bin ich klein und unansehnlich, allein wer weiß, ob es sich +nicht einmal fügt, daß ich dir für deine Wohlthat mehr erstatten kann, +als einen Bettlerdank.« + +»Du winziger Knirps!« lachte Hans. »Deine Dankesgabe wird eine Mücke auf +ihrem Schwanze fortbringen können! Aber da ich heute gerade bei guter +Laune bin, so magst du am Leben bleiben. Doch hüte dich, mir wieder in +die Quere zu kommen, ich möchte sonst ein zweites Mal nicht mit dir +spaßen.« Das kopflose Männlein dankte demüthig, kletterte wie ein +Eichhörnchen an dem Glockenstrang herab und lief die Thurmtreppe +herunter, als hätte es Feuer in der Tasche. Hans läutete jetzt nach +Herzenslust. + +Als der Pfarrer um Mitternacht die Kirchenglocke hörte, verwunderte er +sich und war froh, daß er doch endlich einen Knecht gefunden, der das +Probestück glücklich zu Stande gebracht hatte. Hans ging nach gethaner +Arbeit auf den Heuboden und legte sich schlafen. + +Der Pfarrer pflegte früh am Morgen aufzustehen, um nachzusehen, ob die +Leute bei ihrer Arbeit seien. Alle waren an ihrem Platze, nur der neue +Knecht fehlte, und keiner wollte ihn gesehen haben. Als nun +Mittmorgen[63] vorüber war, und es eilf Uhr wurde und Hans noch immer +nicht erschien, da ward dem Pfarrer bange und er glaubte nicht anders, +als daß der Glöckner sein Ende gefunden habe, wie seine Vorgänger. Als +aber das Gesinde durch das Klopfbrett zum Mittagessen zusammengerufen +wurde, kam auch Hans zum Vorschein. »Wo bist du den ganzen Vormittag +gewesen?« fragte der Pfarrer. »Ich habe geschlafen,« antwortete Hans +gähnend. + +»Geschlafen!« rief der Pfarrer erstaunt. »Du wirst doch nicht meinen, +daß du alle Tage bis Mittag schlafen kannst?« + +»Ich meine,« erwiederte Hans, »das ist so klar wie Quellwasser. Niemand +kann zweien Herren dienen. Wer Nachts arbeitet, der muß am Tage +schlafen, so wie für den Tagarbeiter die Nacht zur Ruhe gemacht ist. +Nehmt mir das nächtliche Glockenläuten ab, so bin ich bereit, mit +Sonnenaufgang an die Arbeit zu gehen. Wenn ich aber Nachts die Glocke +läuten soll, so muß ich am Tage schlafen, zum allermindesten bis +Mittag.« + +Nachdem sie lange hin und her gestritten hatten, wurden sie endlich über +folgende Bedingungen einig. Hans sollte von dem nächtlichen Läuten +befreit werden, und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten, nach +Mittmorgen eine halbe und nach dem Mittagsessen eine ganze Stunde +schlafen; den Sonntag aber ganz frei sein. »Aber,« sagte der Pfarrer, +»bisweilen könnten doch noch Kleinigkeiten vorfallen, besonders im +Winter, wo die Tage kurz sind, und die Arbeit würde dann länger dauern.« +--»Mit nichten,« rief Hans, -- »dafür sind im Sommer die Tage wieder +lang.[64] Ich werde nicht mehr thun, als wozu ich verpflichtet bin, +nämlich an Werkeltagen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten.« + +Einige Zeit darauf wurde der Pfarrer gebeten, zu einer großen Kindtaufe +zur Stadt zu kommen. Die Stadt war nur einige Stunden weit vom Pfarrhof, +dennoch nahm Hans den Brotsack mit. »Weswegen thust du das?« fragte der +Prediger, »wir werden ja zum Abend in der Stadt sein.« Hans antwortete: +»Wer kann Alles vorher wissen? unterwegs kann so Manches vorfallen, was +unsere Fahrt verzögert, und ihr kennt unsern Contract, nach welchem ich +nur bis Sonnenuntergang verpflichtet bin, euch zu bedienen. Sollte die +Sonne untergehen, ehe wir die Stadt erreichen, so müßtet ihr schon +allein weiter fahren.« + +Da der Pfarrer diese Rede für Scherz hielt, gab er ihm keine Antwort, +und sie fuhren ab. Kurz vorher war frischer Schnee gefallen, den der +Wind zusammengeweht hatte, so daß der Weg stellenweise verschüttet war +und schnelles Fahren unmöglich machte. Unweit der Stadt mußten sie durch +einen großen Wald. Als sie ihn erreicht hatten, lag die Sonne schon auf +den Wipfeln der Bäume. Die Pferde schleppten sich langsam Schritt für +Schritt durch den tiefen Schnee, und Hans drehte sich öfter nach der +Sonne um. »Warum siehst du so oft hinter dich?« fragte der Pfarrer. +»Weil ich im Nacken keine Augen habe,« erwiederte Hans. »Laß jetzt deine +Narrenspossen,« sagte der Pfarrer, »und sieh' zu, daß wir in die Stadt +kommen, ehe es ganz finster wird.« Hans fuhr weiter, ohne ein Wort zu +verlieren, unterließ aber nicht, von Zeit zu Zeit die Sonne zu +beobachten. + +Sie mochten etwa in der Mitte des Waldes sein, als die Sonne unterging. +Hans hielt die Pferde an, nahm seinen Brotsack und stieg aus dem +Schlitten. »Nun Hans, bist du toll geworden? was machst du?« fragte der +Seelenhirt. Aber Hans gab ruhig zur Antwort: »Ich will mir hier ein +Nachtlager zurecht machen, die Sonne ist untergegangen, und meine +Arbeitszeit ist um.« Sein Brotherr that alles Mögliche, er bat und +drohte abwechselnd, als aber Alles nichts half, versprach er ihm +zuletzt ein gutes Trinkgeld und eine Zulage zum Jahreslohn. »Schämt ihr +euch nicht, Herr Pastor!« sagte Hans --»wollt ihr der Versucher sein und +mich vom rechten Wege abbringen, so daß ich gegen die Abmachung handle? +Alle Schätze der Welt können mich dazu nicht verlocken; man faßt den +Mann beim Wort, wie den Ochsen beim Horn. Wollt ihr noch heut Abend zur +Stadt, so fahret in Gottes Namen allein, ich kann nicht weiter mit euch +kommen, denn meine Dienst-Stunden sind abgelaufen.« + +»Mein lieber Hans, Goldjunge!« sagte jetzt der Pfarrer, »ich darf dich +hier nicht allein lassen. Blick' nur um dich, so wirst du sehen, in +welche Gefahr du dich muthwillig begiebst. Dort ist der Richtplatz mit +dem Galgen, es hängen zwei Missethäter daran, deren Seelen in der Hölle +brennen. Du wirst doch nicht in der Nähe solcher Gesellen die Nacht +zubringen wollen?« »Warum denn nicht?« fragte Hans. »Die Galgenvögel +hängen oben in der Luft, ich nehme mein Nachtlager unten auf der Erde, +da können wir uns einander nichts anhaben.« Mit diesen Worten kehrte er +seinem Herrn den Rücken und ging mit seinem Brotsack davon. + +Wollte der Pfarrer die Taufgebühren nicht einbüßen, so mußte er allein +zur Stadt fahren. Hier war man nicht wenig erstaunt, ihn ohne Kutscher +ankommen zu sehen; als er aber seine wunderliche Unterhaltung mit Hans +erzählt hatte, wußten die Leute nicht, wen sie für den größten Thoren +halten sollten, ob den Herrn oder den Diener. + +Hansen war es gleichgültig, was die Leute von ihm dachten oder sagten. +Mit Hülfe seines Brotsacks hatte er die Forderungen seines Magens +befriedigt, dann zündete er sich seinen Nasenwärmer (Pfeife) an, machte +unter einer breiten ästigen Fichte sein Lager zurecht, wickelte sich in +seinen warmen Pelz und schlief ein. Einige Stunden mochte er geschlafen +haben, als ein plötzlicher Lärm ihn aufweckte. Die Nacht war mondhell. +Dicht neben seinem Lager standen zwei kopflose Männlein unter der Fichte +und führten zornige Reden. Hans richtete sich in die Höhe, um besser zu +sehen, aber in demselben Augenblick riefen die Männlein: »Er ist es, er +ist es!« Der eine trat dann näher an Hansen's Lager und sagte: »Alter +Freund! ein glücklicher Zufall führt uns zusammen. Meine Knochen thun +mir noch weh von der Thurmtreppe her in der Kirche, du hast wohl die +Geschichte nicht vergessen? dafür sollen heute deine Knochen dermaßen +bearbeitet werden, daß du Wochenlang an unser Zusammentreffen denken +sollst. He! Gesellen! Holt aus und macht euch dran!« + +Wie ein dichter Mückenschwarm sprangen nun von allen Seiten die +kopflosen Männlein herbei, Alle mit tüchtigen prügeln bewaffnet, die +größer waren als ihre Träger. Die Masse dieser kleinen Feinde drohte +Gefahr, denn ihre Schläge fielen so hart, daß ein starker Mann kaum +bessere hätte führen können. Hans glaubte, sein letztes Stündlein sei +gekommen; einem so zahlreichen Feindeshaufen konnte er keinen Widerstand +leisten. Sein Glück war es, daß gerade, als das Prügeln im besten Gange +war, noch ein Männlein dazu kam. »Haltet ein, haltet ein, Kameraden!« +rief er den Seinigen zu. »Dieser Mann war einst mein Wohlthäter und ich +bin sein Schuldner. Er schenkte mir das Leben, als ich in seiner Gewalt +war. Hat er einige von euch unsanft die Treppe hinunter geworfen, so ist +doch glücklicher Weise keiner lahm geworden. Das warme Bad hat die +zerschlagenen Glieder längst wieder geschmeidigt, darum verzeiht ihm und +geht nach Hause.« + +Die kopflosen Männlein ließen sich leicht durch ihren Kameraden +beschwichtigen und gingen still fort. Hans erkannte jetzt in seinem +Retter den nächtlichen Geist in der Kirchenglocke. Dieser setzte sich +nun unter der Fichte neben Hans nieder und sagte: »Damals verlachtest du +mich, als ich dir sagte, vielleicht komme einmal eine Zeit, wo ich dir +nützlich werden könnte. Heute ist ein solcher Augenblick nun +eingetreten, und daraus lerne, daß man auch das kleinste Geschöpf auf +der Welt nicht verachten darf.« »Ich danke dir von Herzen,« sagte Hans +-- »meine Knochen sind von ihren Schlägen wie zermalmt, und ich hätte +das Bad leicht mit dem Leben bezahlen können, wenn du nicht zu rechter +Zeit dazu gekommen wärest.« + +Das kopflose Männlein fuhr fort: »Meine Schuld wäre jetzt getilgt; aber +ich will mehr thun und dir für die erhaltenen Schläge noch +Schmerzensgeld zahlen. Du brauchst dich nicht länger als Knecht bei +einem geizigen Pastor zu quälen. Wenn du morgen nach Hause kommst, so +geh' gleich zur nördlichen Kirchenecke, da wirst du einen großen Stein +eingemauert finden, der nicht wie die andern mit Kalk getüncht ist. +Uebermorgen Nacht haben wir Vollmond: dann brich um Mitternacht den +bezeichneten Stein mit der Brechstange aus der Mauer heraus. Unter dem +Steine wirst du einen unermeßlichen Schatz finden, an dem viele +Geschlechter gesammelt haben: goldenes und silbernes Kirchengeräthe und +sehr viel baares Geld wurde hier, als einst eine Kriegsnoth herrschte, +vergraben. Diejenigen, welche den Schatz hier verbargen, sind schon vor +mehr als hundert Jahren alle gestorben, und keine Seele weiß jetzt um +die Sache. Ein Drittel des Geldes mußt du unter die Kirchspiels-Armen +vertheilen, alles Andere ist von Rechtswegen dein Eigenthum, womit du +verfahren kannst, wie es dir beliebt.« In diesem Augenblicke hörte man +aus dem fernen Dorfe den Hahnenschrei und plötzlich war das kopflose +Männlein wie weggefegt. Hans konnte lange vor Schmerz in den Gliedern +nicht einschlafen und dachte viel über den verborgenen Schatz; erst +gegen Morgen verfiel er in Schlummer. + +Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sein Brotherr aus der Stadt +zurückkam. »Hans, du warst gestern ein großer Thor, daß du nicht mit mir +fuhrst,« sagte der Pfarrer. »Sieh', ich habe gut gegessen und getrunken +und überdies noch Geld in der Tasche.« Indem er so sprach, klapperte er +mit dem Gelde, um dem Knecht das Herz noch schwerer zu machen. Hans aber +erwiederte ruhig: »Ihr, geehrter Herr Pastor, habt für das Bischen Geld +die Nacht wachen müssen, während ich im Schlafe hundertmal mehr verdient +habe.« »Zeige mir doch, was hast du verdient?« fragte der Prediger. Aber +Hans antwortete: »Die Narren prahlen mit ihren Kopeken, aber die Klugen +verstecken ihre Rubel.« + +Zu Hause angelangt, besorgte Hans rasch, was ihm oblag, spannte die +Pferde aus und warf ihnen Futter vor, ging dann um die Kirche herum und +fand an der bezeichneten Stelle den nicht getünchten Mauerstein. + +In der ersten Nacht des Vollmonds, als die Andern alle schliefen, +verließ er heimlich mit einer Brechstange das Haus, brach mit vieler +Mühe den Stein heraus und fand in der That die Grube mit dem Gelde, ganz +wie das Männlein gesagt hatte. Am Sonntage vertheilte er den dritten +Theil unter die Armen des Kirchspiels, kündigte dann dem Prediger auf, +und da er für die kurze Zeit keinen Lohn verlangte, so wurde er ohne +Widerrede entlassen. Hans aber zog weit weg, kaufte sich einen schönen +Bauerhof, nahm ein junges Weib und lebte dann noch viele Jahre glücklich +und in Frieden. + +Zu der Zeit, als mein Großvater Hüterknabe war, lebten in unserm Dorfe +noch viele alte Leute, welche den Hans gekannt hatten und die Wahrheit +dieser Geschichte bezeugen konnten. + +[Fußnote 63: Neun Uhr. L.] + +[Fußnote 64: Er denkt dabei an die ehstnische Redewendung: »die Tage +gehen in der Richtung (zum Besten) des Wirths« -- d. h. sie nehmen zu. +Dagegen: »die Tage gehen in der Richtung des Knechts« -- d. h. sie +nehmen ab.] + + + + + +13. Wie eine Königstochter sieben Jahre geschlafen. + + +Einmal war eines großen Königs Tochter plötzlich gestorben, und Trauer +und Wehklagen erfüllte das ganze Land. An dem Tage, wo die Todte +eingesargt werden sollte, kam aus fernen Landen ein weiser Mann +(Zauberer) in die trauernde Königsstadt. Er schloß aus der allgemeinen +Bekümmerniß, daß hier etwas Besonderes vorgefallen sein müsse und +fragte, was denn die Bewohner so sehr drücke. Als er Auskunft erhalten +hatte, begab er sich in den königlichen Palast, nannte sich einen weisen +Arzt und bat um Zutritt zum Könige. Schon auf der Schwelle rief er mit +starker Stimme: »Die Jungfrau ist nicht todt, sondern nur müde, laßt sie +eine Zeitlang ruhen.« Als der König diesen Ausspruch gehört hatte, +befahl er dem Fremden, näher zu treten. Der Zauberer aber sagte: »Die +Jungfrau darf nicht zu Grabe gebracht werden. Ich werde einen Glaskasten +machen, darin wollen wir sie betten und ruhig schlafen lassen, bis die +Zeit des Erwachens heran kommt.« + +Der König war höchlich erfreut über diese Rede und versprach dem +Zauberer reichen Lohn, wenn seine Verheißung sich erfüllen würde. +Dieser machte darauf einen großen Glaskasten, legte seidene Kissen +hinein, bettete die Königstochter darauf, schloß den Deckel und ließ den +Kasten in ein großes Gemach tragen, jedoch Wachen vor die Thür stellen, +damit Niemand die Schlafende wecke. + +Nachdem dies geschehen war, sagte der Zauberer zum Könige: »Sendet jetzt +überall hin und lasset allen Glasvorrath aufkaufen, dann werde ich einen +Ofen bauen, der größer sein wird als eure Königsstadt, und in welchem +wir unser Glas zu einem Berge zusammenschmelzen wollen. Wenn sechs Jahre +verstrichen sind, und der Lerchensang den siebenten Sommer ankündigt, +dann sendet Boten nach allen Richtungen hin, und lasset bekannt machen, +daß es jedem jungen Manne erlaubt sei, sich als Bewerber um eure Tochter +einzufinden. Wer von den Freiern dann, sei es zu Pferde, oder auf seinen +eigenen Füßen, des Glasberges Gipfel erklimmt, der muß euer +Schwiegersohn werden. Wenn nämlich der auserkorene Mann kommt, was +binnen sieben Jahren und sieben Tagen geschehen wird, dann wird eure +Tochter aus dem Schlafe erwachen und dem Jüngling einen goldenen Ring +geben. Wer euch diesen Ring bringt, und wäre es der geringste eurer +Unterthanen, ja auch eines Tagelöhner's Sohn, dem müßt ihr eure Tochter +zur Gemahlin geben, sonst wird sie in ewigen Schlaf versinken.« + +Der König versprach, sich in allen Stücken nach dieser Vorschrift zu +richten, und gab sofort Befehl, in allen angränzenden Ländern den +Glasvorrath anzukaufen. Als das sechste Jahr ablief, war so viel Glas +beisammen, daß es eine Fläche von einer Meile sieben Klafter hoch +bedeckte. + +Inzwischen hatte der Zauberer seinen Schmelzofen fertig, der so hoch +war, daß er fast an die unterste Wolkenschicht reichte. Der König +stellte ihm zweitausend Arbeiter zur Verfügung, welche das Glas in den +Ofen thaten. Hier schmolz es, und die Hitze wurde so stark, daß Sümpfe, +Flüsse und kleine Seen austrockneten, ja selbst in Quellen und tiefen +Brunnen eine Abnahme des Wassers zu bemerken war. + +Während nun der Zauberer seinen Glasberg zusammenschmilzt, wollen wir in +eine Bauernhütte treten, die nicht weit von der Königsstadt liegt, und +wo ein alter Vater mit seinen drei Söhnen wohnt. Die beiden älteren +Brüder waren gescheute, gewiegte Bursche, der jüngste aber etwas +einfältig. Als der Vater erkrankte und sein Ende herannahen fühlte, ließ +er seine Söhne vor sein Lager treten und sprach folgendermaßen: »Ich +fühle, daß mein Heimgang herannaht, deßhalb will ich euch meinen letzten +Willen kund thun. Ihr, meine lieben älteren Söhne, sollt +gemeinschaftlich Haus und Acker bestellen, so lange ihr nicht beide +heirathet. Die Herrschaft zweier Herdesköniginnen würde einen Riß in's +Hauswesen bringen. Denn ein altes wahres Wort sagt: »Wo sieben +unbeweibte Brüder friedlich bei einander leben, da wird es zweien Frauen +zu eng; sie müssen sich zausen.« Tritt aber dieser Fall ein, so sollt +ihr Haus und Felder unter einander theilen. Euer jüngster Bruder aber, +der weder zum Wirth noch zum Knecht taugt, soll bei euch Obdach und +Nahrung finden, so lange er lebt. Zu diesem Behufe vermache ich euch +beiden meinen Geldkasten. Euer jüngster Bruder ist zwar etwas kurz von +Verstande, aber er hat ein gutes Herz, und wird euch eben so willig +gehorchen, wie er mir immer gehorcht hat.« Die älteren Brüder +versprachen mit trockenem Auge und geläufiger Zunge des Vaters Willen zu +erfüllen, der jüngste sprach kein Wort und weinte bitterlich. »Noch Eins +will ich sagen,« fuhr der Vater fort -- »wenn ich todt bin und ihr mich +begraben habt, so erweiset mir als letzten kleinen Liebesdienst, daß +jeder von euch eine Nacht an meinem Grabe wacht.« Beide älteren Brüder +versprachen mit trockenem Auge und geläufiger Zunge, des Vaters Willen +zu erfüllen, der jüngste sagte kein Wort und weinte bitterlich. Bald +nach dieser Unterredung hatte der Vater seine Augen auf immer +geschlossen. + +Die beiden älteren Brüder richteten ein großes Gastmahl an und luden +viele Gäste ein, damit der todte Vater mit allen Ehren bestattet werde. +Sie selbst waren guter Dinge und aßen und tranken wie auf einer +Hochzeit, während ihr dritter Bruder still weinend am Sarge des Vaters +stand; als der Sarg dann weggetragen und in's Grab gesenkt wurde, da war +dem jüngsten Sohne zu Muthe, als wären nun alle Freuden abgestorben und +mit dem Vater begraben. + +Spät am Abend, als die letzten Gäste fortgegangen waren, fragte der +jüngste Bruder, wer die erste Nacht am Grabe des Vaters wachen würde. +Die andern sagten: »Wir sind müde von der Besorgung des Begräbnisses, +wir können heute Nacht nicht wachen, aber du hast nichts Besseres zu +thun, also geh du und halte Wache.« + +Der jüngste Bruder ging ohne ein Wort zu sagen zum Grabe des Vaters, wo +Alles still war und nur die Grille zirpte. Um nicht einzuschlafen, ging +er leisen Schrittes auf und ab. Es mochte um Mitternacht sein, als es +wie von einer klagenden Stimme aus dem Grabe tönte:[65] + + »Wessen Schritt ist's, der da schüttet + Groben Kiessand auf die Augen, + Schwarze Erde auf die Brauen.« + +Der Sohn verstand die Frage und antwortete: + + »Das ist ja dein jüngster Knabe, + Dessen Schritt ist's, der da schüttet + Groben Kiessand auf die Augen, + Schwarze Erde auf die Brauen.« + +Die Stimme fragte weiter, warum die älteren Brüder nicht zuerst zur +Wacht gekommen seien, worauf der jüngste sie entschuldigte, sie hätten, +ermüdet von der Beerdigung, heute nicht kommen können. + +Wieder hob des Vaters Stimme an: »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes +werth, darum will ich dir auch deinen Lohn nicht vorenthalten. Es wird +bald eine Zeit kommen, wo du dir bessere Kleider wünschen wirst, um in +die Gesellschaft vornehmer Leute kommen zu können. Dann tritt an mein +Grab, stampfe mit deiner linken Ferse dreimal auf den Grabhügel und +sprich: »Lieber Vater, ich bitte um meinen Lohn für die _erste_ nächtliche +Wacht.« Dann wirst du einen Anzug und ein Pferd erhalten. Aber sage +deinen Brüdern nichts davon.« + +Mit Tagesanbruch ging der Grabeswächter heim, frühstückte etwas, um sich +zu stärken, und legte sich dann nieder, um zu ruhen. + +Als am Abend die Zeit herankam, fragte er bei den Brüdern an, wer von +ihnen die Nacht am Grabe des Vaters wachen würde. Die Brüder antworteten +spöttisch: »Nun es wird wohl Niemand kommen, um den Vater aus dem Grabe +zu stehlen. Wenn du aber Lust hast, so kannst du ja auch diese Nacht +dort wachen. Aber mit all deinem Wachen wirst du den Vater nicht wieder +ins Leben zurückrufen.« Der jüngste Bruder wurde über diese lieblose +Rede noch betrübter und verließ mit Thränen in den Augen das Gemach. + +Auf dem Grabe des Vaters war Alles ruhig, wie gestern Nacht, nur die +Grille zirpte im Grase. Damit er nicht einschliefe, ging er leisen +Schrittes auf und ab. Es mochte wohl Mitternacht sein, die Hähne hatten +schon zweimal gekräht, als eine klagende Stimme aus dem Grabe sich +vernehmen ließ: + + »Wessen Schritt ist's, der da schüttet + Groben Kiessand auf die Augen, + Schwarze Erde auf die Brauen?« + +Der Sohn verstand die Frage und erwiederte: + + »Das ist ja dein jüngster Knabe, + Dessen Schritt ist's, der da schüttet + Groben Kiessand auf die Augen, + Schwarze Erde auf die Brauen.« + +Die Stimme fragte weiter, warum keiner der älteren Brüder gekommen sei, +und der jüngste entschuldigte sie, sie seien von dem Tagewerk zu +ermüdet, um zu wachen. + +Wieder hob des Vaters Stimme an: »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes +werth, darum werde ich dir auch deinen Lohn nicht vorenthalten. Bald +wird eine Zeit kommen, wo du dir einen noch besseren Anzug wünschen +wirst, als den, welchen du dir gestern verdient hast. Dann tritt nur +dreist an mein Grab, stampfe mit deiner linken Ferse dreimal auf den +Grabhügel und sprich: »Lieber Vater, ich bitte um meinen Lohn für die +_zweite_ nächtliche Wacht!« Sofort wirst du einen prächtigeren Anzug und +ein schöneres Pferd erhalten, so daß die Leute ihre Augen nicht von dir +wegwenden mögen. Aber sage deinen Brüdern nichts davon.« + +Mit Tagesanbruch ging er von der Grabeswacht nach Hause, fand die beiden +älteren Brüder noch schlafend, frühstückte etwas, um sich zu stärken, +streckte sich dann auf die Ofenbank hin und schlief, bis die Sonne schon +etwas über Mittag stand. + +Als am Abend die Zeit wieder herannahte, fragte er die Brüder, wer von +ihnen die Nacht am Grabe des Vaters wachen würde? Sie lachten und +antworteten spöttisch: »Wer die wohlfeile Arbeit zwei Nächte gethan hat, +der kann sie auch die dritte Nacht thun. Der Vater wird aus seinem Grabe +nicht davonlaufen, und noch weniger werden die Leute kommen, ihn zu +stehlen. Wäre er noch bei vollem Verstande gewesen, so hätte er einen +Wunsch dieser Art gar nicht geäußert.« Der jüngste Bruder war sehr +betrübt über ihre lieblose Rede, und ging wieder mit thränenden Augen +davon. + +Auf dem Grabe des Vaters war Alles still, wie die beiden Nächte zuvor, +nur die Grille zirpte im Grase, und die Schnepfe[66] meckerte unter +hohem Himmel. Um nicht einzuschlafen, ging der Grabeswächter leisen +Schrittes auf und ab. Es mochte Mitternacht sein, die Hähne hatten schon +zweimal gekräht, da rief wieder die klagende Stimme aus dem Grabe: + + »Wessen Schritt ist's, der da schüttet + Groben Kiessand auf die Augen, + Schwarze Erde auf die Brauen?« + +Der Sohn verstand die Frage und erwiederte: + + »Das ist ja dein jüngster Knabe, + Dessen Schritt ist's, der da schüttet + Groben Kiessand auf die Augen, + Schwarze Erde auf die Brauen.« + +Die Stimme fragte wieder, weßwegen die älteren Brüder nicht gekommen +seien, und erhielt dieselbe Antwort wie gestern. + +Aber des Vaters Stimme hob wieder an: »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes +werth, ich will dir den deinigen nicht vorenthalten. Bald wird eine Zeit +kommen, wo du an dir selbst erfahren wirst, daß der Mensch, je mehr er +hat, desto mehr begehrt. Einem guten Sohne aber, der seinem Vater auch +nach dem Tode noch Liebe erwies, müssen alle Wünsche erfüllt werden. +Anfangs wollte ich meine verborgenen Schätze unter deine Brüder theilen, +jetzt bist du mein einziger Erbe. Wenn dir deine prächtigen Kleider und +Pferde, die ich dir für die erste und zweite nächtliche Wacht zum Lohne +versprach, nicht mehr gefallen, so tritt dreist an mein Grab, stampfe +mit deiner linken Ferse dreimal auf den Grabhügel und sprich: »Lieber +Vater, ich bitte um meinen Lohn für die _dritte_ nächtliche Wacht!« und +augenblicklich wirst du die allerprächtigsten Kleider und die +allerkostbarsten Pferde erhalten. Alle Welt wird mit Bewunderung auf +dich blicken, deine älteren Brüder werden dich beneiden und ein großer +König wird dich zum Schwiegersohne wählen. Aber sage deinen Brüdern +nichts davon.« + +Mit Tagesanbruch ging der Grabeswächter nach Hause und dachte bei sich +selbst: so eine Zeit wird für mich Armen wohl niemals kommen. Als er +dann ein wenig gefrühstückt hatte, um sich zu stärken, streckte er sich +auf die Ofenbank, schlief ein und erwachte erst, als die Sonne schon in +den Wipfeln des Waldes stand. + +Während er schlief, sprachen die älteren Brüder untereinander: »Dieser +Nachtwacher und Tagschläfer wird uns nie zu was nützen, wozu füttern wir +ihn? Wir thäten besser, das Futter einem Schweine zu geben, das wir zu +Weihnacht schlachten können.« Der älteste Bruder setzte hinzu: »Werfen +wir ihn aus dem Hause, er kann vor fremder Leute Thüren sein Brod +betteln.« Da meinte aber der andere, das würde doch nicht gut angehen, +und würde ihnen selber Schande bringen, wenn sie, als wohlhabende Leute, +den Bruder betteln gehen ließen. »Lieber wollen wir ihm die Brosamen von +unserm Tische hinwerfen, satt soll er nicht dabei werden, aber auch +nicht Hungers sterben.« + +Inzwischen hatte der Zauberer seinen Glasberg fertig geschmolzen, und +der König hatte überall bekannt machen lassen, daß jeder junge Mann +kommen dürfe, sich um seine Tochter zu bewerben, daß aber nur demjenigen +die Jungfrau ihre Hand reichen würde, der zu Pferde oder auf eigenen +Füßen den Gipfel des Glasberges erklimmen würde. + +Der König ließ nun ein großes Gelage anrichten für alle die Gäste, die +sich einfinden würden. Das Gelage sollte drei Tage währen; für jeden Tag +wurden hundert Ochsen und siebenhundert Schweine geschlachtet, und +fünfhundert Fässer Bier gebraut. Die aufgestapelten Würste ragten gleich +Wänden, die Hefenbröte[67] und Kuchen bildeten Haufen, so hoch wie die +größten Heuschober. + +Die schlafende Königstochter wurde in ihrem Glaskasten auf den Gipfel +des Glasberges getragen. Von allen Seiten strömten Fremde herbei, theils +um das Wagestück zu versuchen, theils um das Wunder mit anzusehen. Der +glänzende Berg strahlte wie eine zweite Sonne, so daß man ihn schon +viele Meilen weit aus der Ferne erblickte. + +Unsere alten Bekannten, die beiden älteren Brüder, hatten sich +Festkleider machen lassen und gingen auch zum Gastmahl. Der jüngste +mußte zu Hause bleiben, damit er in seinem elenden Aufzuge den schmucken +Brüdern keine Schande mache. Aber kaum hatten sich die älteren Brüder +auf den Weg gemacht, so ging der jüngste an des Vaters Grab, that, wie +die Stimme ihn gelehrt hatte, und sprach: »Lieber Vater, ich bitte um +meinen Lohn für die _erste_ nächtliche Wacht!« -- In dem nämlichen +Augenblicke, wo die Bitte über seine Lippen kam, stand ein ehernes Roß +da mit ehernem Zaum, und auf dem Sattel lag die schönste glänzende +Rüstung, vollständig vom Scheitel bis zur Sohle, und Alles paßte so gut, +als wäre es auf seinen Leib gemacht. + +Um Mittag kam der eherne Mann auf seinem ehernen Pferde an den Glasberg, +wo Hunderte und Tausende standen, aber kein Einziger war im Stande, auch +nur einige Schritte den glatten Berg hinauf zu kommen. Der eherne Reiter +drängte sich durch die Menge, ritt ein Drittel des Berges hinauf, als +wäre es geschwendetes Land, kehrte dann um, grüßte den König und +verschwand wieder. Manche Zuschauer wollten bemerkt haben, daß die +schlafende Königstochter ihre Hand regte, als der eherne Mann +hinaufritt. + +Beide Brüder konnten am Abend nicht genug von der wunderbaren That des +ehernen Mannes und seines ehernen Pferdes erzählen. Der jüngste Bruder +hörte ihre Reden schweigend an, ließ sich aber nicht merken, daß er +selber der Mann gewesen war. + +Am andern Morgen gingen die Brüder mit Sonnenaufgang wieder fort, um die +Gasterei nicht zu versäumen. Die Sonne stand in Südost, als der jüngste +Bruder an das Grab des Vaters kam; er that nach der Vorschrift und +sagte: »Lieber Vater, ich bitte um meinen Lohn für die _zweite_ nächtliche +Wacht!« In dem nämlichen Augenblicke, wo die Bitte über seine Lippen +kam, stand ein silbernes Pferd da mit silbernem Zaum und Sattel, und +auf dem Sattel lag die prächtigste glänzendste silberne Rüstung, +vollständig vom Scheitel bis zur Sohle, und Alles paßte so gut, als wäre +es auf seinen Leib gemacht. + +Am Mittag kam der silberne Mann mit seinem Silberpferde an den Glasberg, +wo Hunderte und Tausende standen; aber kein Einziger war im Stande, auch +nur einige Schritte auf den glatten Berg hinaufzukommen. Der silberne +Reiter drängte sich durch die Menge, ritt ein gut Stück über die Hälfte +den Glasberg hinauf, der für die Hufe seines Pferdes wie geschwendetes +Land zu sein schien, kehrte um, grüßte den König und war gleich darauf +wieder verschwunden. Heute hatten die Leute deutlich gesehen, daß die +schlafende Königstochter bei der Annäherung des silbernen Mannes ihren +Kopf bewegt hatte. + +Die Brüder waren am Abend nach Hause gekommen, und konnten nicht genug +Rühmens machen von des silbernen Mannes und seines Silberpferdes +wunderbarer That, meinten aber doch zuletzt, es könne kein wirklicher +Mensch sein, sondern Alles sei nur ein Zauberblendwerk. Der jüngste +Bruder hörte ihren Reden still zu, ließ sich aber nichts davon merken, +daß er selbst der Mann gewesen war. + +Am andern Morgen waren beide älteren Brüder mit Tagesanbruch wieder +fortgegangen. An diesem Tage hatte sich noch mehr Volks versammelt, weil +heute die sieben Jahre und sieben Tage um waren, nach deren Ablauf die +Königstochter aus ihrem langen Schlafe erwachen sollte. Die Sonne stand +schon ziemlich hoch, als der jüngste Bruder an des Vaters Grab ging. Er +that nach der Vorschrift und sprach: »Lieber Vater, ich bitte um meinen +Lohn für die _dritte_ nächtliche Wacht.« In demselben Augenblicke, wo +diese Bitte über seine Lippen kam, stand ein goldenes Pferd da mit +goldenem Zaum und Sattel, und auf dem Sattel lag die schönste goldene +Rüstung, vollständig vom Scheitel bis zur Sohle, und Alles paßte so gut, +als wäre es auf seinen Leib gemacht. + +Um Mittag kam der goldene Mann mit seinem Goldpferde an den Glasberg, wo +Hunderte und Tausende standen, doch kein Einziger war im Stande, auch +nur einige Schritte den glatten Berg hinaufzukommen. Weder der eherne +Reiter noch der silberne hatten Spuren auf dem Berge zurückgelassen, der +glatt geblieben war wie zuvor. Der goldene Reiter drängte sich durch die +Menge, ritt den Berg hinauf bis zum Gipfel, und der Berg schien für die +Hufe seines Pferdes wie geschwendetes Land zu sein. Als er oben +angekommen war, sprang der Deckel des Kastens von selbst auf, die +schlafende Königstochter richtete sich empor, zog einen goldenen Ring +von ihrem Finger und gab ihn dem goldenen Reiter. Dieser aber hob die +Jungfrau auf sein Goldpferd und ritt mit ihr langsam den Berg hinunter. +Dann legte er sie in des Königs Arme, grüßte anmuthig und war im +nächsten Augenblick verschwunden, als wäre er in die Erde gesunken. + +Des Königs Freude könnt ihr euch leicht vorstellen. Am andern Tage hatte +er, dem Rathe des weisen Mannes zufolge, überall bekannt machen lassen, +daß der, welcher der Prinzessin goldenen Ring zurückbringen würde, sein +Schwiegersohn werden sollte. Von den Gästen waren die meisten zur Nacht +dageblieben, um zu sehen, wie die Sache ablaufen werde. Auch unsere +alten Freunde, die älteren Brüder, waren darunter und ließen sich die +Bewirthung trefflich munden. Aber ihr Erstaunen war nicht gering, als +sie sahen, wie ein schlecht gekleideter Mann, in dem sie bald ihren +verschmähten Bruder erkannten, an den König herantrat. Dieser Bettler +trug in der That den Ring der Königstochter an seiner Hand. Da bereute +der König seine Zusage, denn so etwas hatte er nicht ahnden können. + +Aber der Zauberer sagte zum Könige: »Der Jüngling, den ihr seines +schlechten Auszuges wegen für einen Bettler haltet, ist der Sohn eines +mächtigen Königs, dessen Land weit entfernt liegt. Er wurde drei Tage +nach seiner Geburt von einer bösen Frau des Rõugutaja[68] mit einem +Bauernsohne vertauscht; dieser starb jedoch schon im ersten Monate, +während der gestohlene Königssohn in einer Bauernhütte aufwuchs und +seinem vermeintlichen Vater immer gehorsam war.« + +Der König war durch diese Auskunft zufriedengestellt, und ließ einen +großen Hochzeitsschmaus anrichten, der vier Wochen dauerte. Später +vererbte er alle seine Reiche auf seinen Schwiegersohn. Sobald dieser +nur die Bauernkleider abgelegt hatte, benahm er sich gar nicht mehr +einfältig, sondern seinem Stande gemäß und als kluger Herr. Seine +Einfalt war ihm ja nicht angeboren, sondern das böse Weib hatte sie ihm +angethan. Sonntags zeigte er sich dem Volke in seiner Goldrüstung auf +seinem goldenen Roß. Seine vermeintlichen Brüder waren vor Neid und Wuth +gestorben. + +[Fußnote 65: Die Situation und die Verse erinnern an den Besuch, den +Kalews Sohn dem Grabe seines Vaters macht in der Nacht vor dem Tage, der +darüber entscheiden sollte, welcher der drei Brüder einen Felsblock am +weitesten schleudern und dadurch die Herrschaft über das Land erhalten +werde. Kalewipoëg =VII=, 809 ff. L.] + +[Fußnote 66: Der Laut, den eine kleine Schnepfenart (Becassine) beim +Fliegen hervorbringt, klingt dem ehstnischen Ohr wie das Meckern einer +Ziege. L.] + +[Fußnote 67: S. Anm. zum Märchen vom Schlaukopf S. 108. L.] + +[Fußnote 68: S. unten die Anm. zu dem Märchen 15: Rõugutaja's Tochter. +L.] + + + + +14. Der dankbare Königssohn. + + +Einmal hatte sich ein König des Goldlandes[69] im Walde verirrt und +konnte, trotz alles Suchens und hin und her Streifens, den Ausweg nicht +finden. Da trat ein fremder Mann zu ihm und fragte: »Was suchst du, +Brüderchen, hier im dunklen Walde, wo nur wilde Thiere hausen?« Der +König erwiederte: »Ich habe mich verirrt und suche den Weg nach Hause.« +»Versprecht mir zum Eigenthum, was euch zuerst auf eurem Hofe +entgegenkommen wird, so will ich euch den rechten Weg zeigen,« sagte der +Fremde. + +Der König sann eine Weile nach und erwiederte dann: »Warum soll ich wohl +meinen guten Jagdhund einbüßen? Ich finde mich wohl auch noch selbst +nach Hause.« Da ging der fremde Mann fort, der König aber irrte noch +drei Tage im Walde umher, bis sein Speisevorrath zu Ende ging; dem +rechten Wege konnte er nicht auf die Spur kommen. Da kam der Fremde zum +zweiten Mal zu ihm und sagte: »Versprecht ihr mir zum Eigenthum, was +euch auf eurem Hofe zuerst entgegenkommt?« Da der König aber sehr +halsstarrig war, wollte er auch dies Mal noch nichts versprechen. +Unmuthig durchstreifte er wieder den Wald in die Kreuz und die Quer, bis +er zuletzt erschöpft unter einem Baume niedersank und seine Todesstunde +gekommen glaubte. Da erschien der Fremde -- es war kein anderer als der +»alte Bursche« selber -- zum dritten Male vor dem Könige und sagte: +»Seid doch nur kein Thor! Was kann euch an einem Hunde so viel gelegen +sein, daß ihr ihn nicht hingeben mögt, um euer Leben zu retten? +Versprecht mir den geforderten Führerlohn, und ihr sollt eurer Noth +ledig werden und am Leben bleiben.« »Mein Leben ist mehr werth, als +tausend Hunde!« entgegnete der König. »Es hängt daran ein ganzes Reich +mit Land und Leuten. Sei es denn, ich will dein Verlangen erfüllen, +führe mich nach Hause!« Kaum hatte er das Versprechen über die Zunge +gebracht, so befand er sich auch schon am Saum des Waldes und konnte in +der Ferne sein Schloß sehen. Er eilte hin und das Erste, was ihm an der +Pforte entgegen kam, war die Amme mit dem königlichen Säugling, der dem +Vater die Arme entgegenstreckte. Der König erschrack, schalt die Amme +und befahl, das Kind eiligst hinweg zu bringen. Darauf kam sein treuer +Hund wedelnd angelaufen, wurde aber zum Lohn für seine Anhänglichkeit +mit dem Fuße fortgestoßen. So müssen schuldlose Untergebene gar oft +ausbaden, was die oberen in tollem Wahne Verkehrtes gethan haben. + +Als des Königs Zorn etwas verraucht war, ließ er sein Kind, einen +schmucken Knaben, gegen die Tochter eines armen Bauern vertauschen, und +so wuchs der Königssohn am Herde armer Leute auf, während des Bauern +Tochter in der königlichen Wiege in seidenen Kleidern schlief. Nach +Jahresfrist kam der alte Bursche, um seine Forderung einzuziehen und +nahm das kleine Mädchen mit sich, welches er für das echte Kind des +Königs hielt, weil er von der betrügerischen Vertauschung der Kinder +nichts erfahren hatte. Der König aber freute sich seiner gelungenen +List, ließ ein großes Freudenmahl anrichten, und den Eltern des +geraubten Kindes ansehnliche Geschenke zukommen, damit es seinem Sohne +in der Hütte an Nichts fehlen möge. Den Sohn wieder zu sich zu nehmen, +getraute er sich nicht, weil er fürchtete, der Betrug könnte dann heraus +kommen. Die Bauernfamilie war mit dem Tausche sehr zufrieden; sie hatten +einen Esser weniger am Tische und Brot und Geld im Ueberfluß. + +Inzwischen war der Königssohn zum Jüngling herangewachsen, und führte im +Hause seiner Pflege-Eltern ein herrliches Leben. Aber er konnte dessen +doch nicht recht froh werden. Denn als er vernommen hatte, wie es +gelungen war, ihn zu befreien, war er sehr unwillig darüber, daß ein +armes unschuldiges Mädchen statt seiner büßen mußte, was seines Vaters +Leichtsinn verschuldet hatte. Er nahm sich daher fest vor, entweder, +wenn irgend möglich, das arme Mädchen frei zu machen, oder mit demselben +umzukommen. Auf Kosten einer Jungfrau König zu werden, war ihm zu +drückend. Eines Tages legte er heimlich die Tracht eines Bauernknechtes +an, lud einen Sack Erbsen auf die Schulter und ging in jenen Wald, wo +sein Vater sich vor achtzehn Jahren verirrt hatte. + +Im Walde fing er laut an zu jammern. »O ich Armer, wie bin ich irre +gegangen! Wer wird mir den Weg aus diesem Walde zeigen? Hier ist ja weit +und breit keine Menschenseele zu treffen!« Bald darauf kam ein fremder +Mann mit langem grauen Barte und einem Lederbeutel am Gürtel, wie ein +Tatar, grüßte freundlich und sagte: »Mir ist die Gegend hier bekannt, +und ich kann euch dahin führen, wohin euch verlangt, wenn ihr mir eine +gute Belohnung versprecht.« »Was kann ich armer Schlucker euch wohl +versprechen,« erwiederte der schlaue Königssohn, »ich habe nichts weiter +als mein junges Leben, sogar der Rock auf meinem Leibe gehört meinem +Brotherrn, dem ich für Nahrung und Kleidung dienen muß.« Der Fremde +bemerkte den Erbsensack auf der Schulter des Andern und sagte: »Ohne +alle Habe müßt ihr doch nicht sein, ihr tragt ja da einen Sack, der +recht schwer zu sein scheint.« »In dem Sacke sind Erbsen,« war die +Antwort. »Meine alte Tante ist vergangene Nacht gestorben und hat nicht +so viel hinterlassen, daß man den Todtenwächtern nach Landesbrauch +gequollene Erbsen vorsetzen kann. Ich habe mir die Erbsen von meinem +Wirthe um Gottes Lohn ausgebeten, und wollte sie eben hinbringen; um den +Weg abzukürzen, schlug ich einen Waldpfad ein, der mich nun, wie ihr +seht, irre geführt hat.« »Also bist du, aus deinen Reden zu schließen, +eine Waise,« sagte der Fremde grinsend. »Möchtest du nicht in meinen +Dienst treten, ich suche gerade einen flinken Knecht für mein kleines +Hauswesen, und du gefällst mir.« »Warum nicht, wenn wir Handels einig +werden,« antwortete der Königssohn. Zum Knecht bin ich geboren, fremdes +Brot schmeckt überall bitter, da ist es mir denn ziemlich einerlei, +welchem Wirth ich gehorchen muß. Welchen Jahreslohn versprecht ihr mir?« +»Nun,« sagte der Fremde, »alle Tage frisches Essen, zwei Mal wöchentlich +Fleisch, wenn außer Hause gearbeitet wird, Butter oder Strömlinge als +Zukost, vollständige Sommer- und Winterkleidung, und außerdem noch zwei +Külimit[70]-Theil Land zu eigener Nutznießung.« »Damit bin ich +zufrieden,« sagte der schlaue Königssohn. »Die Tante können auch Andere +in die Erde bringen, ich gehe mit euch.« + +Der alte Bursche schien mit diesem vorteilhaften Handel sehr zufrieden +zu sein, er drehte sich wie ein Kreisel auf einem Fuße herum, und +trällerte so laut, daß der Wald davon wiederhallte. Alsdann machte er +sich mit seinem neuen Knechte auf den Weg, wobei er bemüht war, die Zeit +durch angenehme Plaudereien zu verkürzen, ohne zu bemerken, daß sein +Gefährte je nach zehn und funfzehn Schritten immer eine Erbse aus dem +Sack fallen ließ. Ihr Nachtlager hielten die Wanderer im Walde unter +einer breiten Fichte, und setzten am andern Morgen ihre Reise fort. Als +die Sonne schon hoch stand, gelangten sie an einen großen Stein. Hier +machte der Alte Halt, spähte überall scharf umher, pfiff in den Wald +hinein und stampfte dann mit dem Hacken des linken Fußes dreimal gegen +den Boden. Plötzlich that sich unter dem Stein eine geheime Pforte auf, +und es wurde ein Eingang sichtbar, welcher der Mündung einer Höhle +glich. Jetzt faßte der alte Bursche den Königssohn beim Arm und befahl +in strengem Tone: »Folge mir!« + +Dicke Finsterniß umgab sie hier, doch kam es dem Königssohne vor, als ob +ihr Weg immer weiter in die Tiefe führe. Nach einer guten Weile zeigte +sich wieder ein Schimmer, aber das Licht war weder dem der Sonne, noch +dem des Mondes zu vergleichen. Scheu erhob der Königssohn den Blick, +aber er sah weder einen Himmel noch eine Sonne; nur eine leuchtende +Nebelwolke schwebte über ihnen und schien diese neue Welt zu bedecken, +in der Alles ein fremdartiges Gepräge trug. Erde und Wasser, Bäume und +Kräuter, Thiere und Vögel, Alles erschien anders, als er es früher +gesehen hatte. Was ihn aber am meisten befremdete, war die wunderbare +Stille ringsum; nirgends war eine Stimme oder ein Geräusch zu vernehmen. +Alles war still wie im Grabe; nicht einmal seine eigenen Schritte +verursachten ein Geräusch. Man sah wohl hie und da einen Vogel auf dem +Aste sitzen mit lang gerecktem Halse und aufgeblähter Kehle, als ob ein +Laut heraus komme, aber das Ohr vernahm ihn nicht. Die Hunde sperrten +die Mäuler auf, wie zum Bellen, die Ochsen hoben, wie sie pflegen, den +Kopf in die Höhe, als ob sie brüllten, aber weder Gebell noch Gebrüll +wurde hörbar. Das Wasser floß ohne zu rauschen über die Kiesel des +flachen Grundes, der Wind bog die Wipfel des Waldes, ohne daß man ein +Säuseln hörte, Fliege und Käfer flogen ohne zu summen. Der alte Bursche +sprach kein Wort, und wenn sein Gefährte zuweilen zu sprechen +versuchte, so fühlte er gleich, daß ihm die Stimme im Munde erstarb.[71] + +So waren sie, wer weiß wie lange, in dieser unheimlichen stillen Welt +dahin gezogen, die Angst schnürte dem Königssohne das Herz zu und +sträubte sein Haar wie Borsten empor, Schauerfrost schüttelte seine +Glieder -- als endlich, o Wonne! das erste Geräusch sein lauschendes Ohr +traf, und dieses Schattenleben zu einem wirklichen zu machen schien. Es +kam ihm vor, als ob eine große Roßherde sich durch Moorgruud +durcharbeitete. Nun that auch der alte Bursche seinen Mund auf und +sagte, indem er sich die Lippen leckte: »Der Breikessel siedet, man +erwartet uns zu Hause!« Wieder waren sie eine Weile weiter gegangen, als +der Königssohn das Dröhnen einer Sägemühle zu hören glaubte, in der +mindestens ein Paar Dutzend Sägen zu arbeiten schienen, der Wirth aber +sagte: »Die alte Großmutter schläft schon, sie schnarcht.« + +Sie erreichten dann den Gipfel eines Hügels, und der Königssohn +entdeckte in einiger Entfernung den Hof seines Wirthes; der Gebäude +waren so viele, daß man das Ganze eher für ein Dorf oder eine kleine +Vorstadt hätte halten können, als für die Wohnung _eines_ Besitzers. +Endlich kamen sie an, und fanden an der Pforte ein leeres +Hundehäuschen. »Krieche hinein,« herrschte der Wirth, »und verhalte dich +ruhig, bis ich mit der Großmutter deinetwegen gesprochen habe. Sie ist, +wie die alten Leute fast alle, sehr eigensinnig, und duldet keinen +Fremden im Hause.« Der Königssohn kroch zitternd in's Hundehäuschen und +begann schon seine Ueberkühnheit, die ihn in diese Klemme gebracht +hatte, zu bereuen. + +Erst nach einer Weile kam der Wirth wieder, rief ihn aus seinem +Schlupfwinkel heraus und sagte mit verdrießlichem Gesicht: »Merke dir +jetzt genau unsere Hausordnung und hüte dich, dagegen zu verstoßen, +sonst könnte es dir hier recht schlecht gehen: + + »Augen, Ohren halte offen, + Mundes Pforte stets verriegelt! + Ohne Weigerung gehorche, + Hege, wie du willst, Gedanken, + Rede nimmer, wenn gefragt nicht.« + +Als der Königssohn über die Schwelle trat, erblickte er ein junges +Mädchen von großer Schönheit, mit braunen Augen und lockigem Haar. Er +dachte in seinem Sinne: Wenn der Alte solcher Töchter viele hätte, so +möchte ich gern sein Eidam werden! Das Mädchen ist ganz nach meinem +Geschmack.« Die schöne Maid ordnete nun, ohne ein Wort zu sprechen, den +Tisch, trug die Speisen auf und nahm dann bescheiden ihren Sitz am Herde +ein, als ob sie den fremden Mann gar nicht bemerkt hätte. Sie nahm Garn +und Nadeln und fing an, ihren Strumpf zu stricken. Der Wirth setzte sich +allein zu Tisch, und lud weder Knecht noch Magd dazu, auch die alte +Großmutter war nirgends zu sehen. Des alten Burschen Appetit war +grenzenlos; binnen Kurzem machte er reine Bahn mit Allem, was er auf dem +Tische fand, und davon hätten doch wenigstens ein Dutzend Menschen satt +werden können. Nachdem er endlich seinen Kinnladen Ruhe gegönnt hatte, +sagte er zur Jungfrau: »Kehre jetzt aus, was auf dem Boden der Kessel +und Grapen ist, und sättiget euch mit den Resten, die Knochen aber +werfet dem Hunde vor.«[72] + +Der Königssohn verzog wohl den Mund über das angekündigte +Kesselbodenkehrichtsmahl, welches er mit dem hübschen Mädchen und dem +Hunde zusammen verzehren sollte. Aber bald erheiterte sich sein Gesicht +wieder, als er fand, daß die Reste ein ganz leckeres Mahl auf den Tisch +lieferten. Während des Essens sah er unverwandt das Mädchen verstohlener +Weise an, und hätte wer weiß wie viel darum gegeben, wenn er einige +Worte mit ihr hätte sprechen dürfen. Aber sobald er nur den Mund zum +Sprechen öffnen wollte, begegnete ihm der flehende Blick des Mädchens, +der zu sagen schien: »Schweige!« So ließ denn der Jüngling seine Augen +reden, und gab dieser stummen Sprache durch seinen guten Appetit +Nachdruck, denn die Jungfrau hatte ja doch die Speisen bereitet, und es +mußte ihr angenehm sein, wenn der Gast brav zulangte und ihre Küche +nicht verschmähte. Der Alte hatte sich auf der Ofenbank ausgestreckt und +machte seinem vollen Magen dermaßen Luft, daß die Wände davon dröhnten. + +Nach der Abend-Mahlzeit sagte der Alte zum Königssohn: »Zwei Tage kannst +du von der langen Reise ausruhen, und dich im Hause umsehen. Uebermorgen +Abend aber mußt du zu mir kommen, damit ich dir die Arbeit für den +folgenden Tag anweisen kann; denn mein Gesinde muß immer früher bei der +Arbeit sein, als ich selber aufstehe. Das Mädchen wird dir deine +Schlafstätte zeigen.« Der Königssohn nahm einen Ansatz zum Sprechen, +aber o weh! der alte Bursche fuhr wie ein Donnerwetter auf ihn los und +schrie: »Du Hund von einem Knecht! Wenn du die Hausordnung übertrittst, +so kannst du ohne Weiteres um einen Kopf kürzer gemacht werden. Halt das +Maul und jetzt scher' dich zur Ruhe!« + +Das Mädchen winkte ihm, mitzukommen, schloß dann eine Thür auf und +bedeutete ihn, hineinzutreten. Der Königssohn glaubte eine Thräne in dem +Auge des Mädchens quillen zu sehen und wäre gar zu gern noch auf der +Schwelle stehen geblieben, aber er fürchtete den Alten und wagte nicht +länger zu zögern. »Das schöne Mädchen kann doch unmöglich seine Tochter +sein,« dachte der Königssohn, denn sie hat ein gutes Herz. Sie ist am +Ende gar dasselbe arme Mädchen, welches statt meiner hierhergethan +wurde, und um dessen willen ich das tolle Wagstück unternahm.« Es +dauerte lange, ehe er den Schlaf auf seinem Lager fand, und dann ließen +ihm bange Träume keine Ruhe; er träumte von allerlei Gefahr, die ihn +umstrickte, und überall war es die Gestalt der schönen Jungfrau, die ihm +zu Hülfe eilte. + +Als er am andern Morgen erwachte, war sein erster Gedanke, daß er Alles +thun wolle, was er der Schönen an den Augen absehen könnte. Er fand das +fleißige Mädchen schon bei der Arbeit, half ihr Wasser aus dem Brunnen +heraufwinden und in's Haus tragen, Holz spalten, das Feuer unter den +Grapen schüren, und ging ihr bei allen andern Arbeiten zur Hand. +Nachmittags trat er hinaus, um seine neue Wohnstätte näher in +Augenschein zu nehmen, und wunderte sich sehr, daß er die alte +Großmutter nirgends zu Gesicht bekam. Im Stalle fand er ein weißes +Pferd,[73] im Pfahlland eine schwarze Kuh mit einem weißköpfigen Kalbe, +in andern verschlossenen Ställen glaubte er Gänse, Enten, Hühner und +anderes Fasel zu hören. Frühstück und Mittagsessen waren eben so +schmackhaft gewesen, als Abends zuvor, und er hätte mit seiner Lage ganz +zufrieden sein können, wenn es ihm nicht so sehr schwer geworden wäre, +dem Mädchen gegenüber seine Zunge im Zaume zu halten. Am Abend des +zweiten Tages ging er zum Wirth, um die Arbeit für den kommenden Tag zu +erfahren. + +Der Alte sagte: »Für morgen will ich dir eine leichte Arbeit geben. Nimm +die Sense zur Hand, mähe so viel Gras, als das weiße Pferd zu seinem +Tagesfutter braucht, und miste den Stall aus. Wenn ich hin käme und die +Krippe leer oder auf der Diele Mist fände, so könnte es dir bitterbös +bekommen. Hüte dich davor!« + +Der Königssohn war ganz vergnügt, denn er dachte in seinem Sinn: »Mit +dem Bischen Arbeit komme ich schon zu Gange; wenn ich auch bis jetzt +weder Pflug noch Sense geführt habe, so sah ich doch oft, wie leicht die +Landleute mit diesen Werkzeugen umgehen, und Kraft genug habe ich.« Als +er sich eben auf's Lager hinstrecken wollte, kam das Mädchen leise +hereingeschlichen, und fragte ihn mit gedämpfter Stimme: »Was für eine +Arbeit hast du bekommen?« »Morgen« -- erwiederte der Königssohn -- »habe +ich eine leichte Arbeit; ich soll für das weiße Pferd Futtergras mähen +und den Stall säubern, das ist Alles.« »Ach du unglückseliges Geschöpf!« +seufzte das Mädchen: »wie könntest du die Arbeit vollbringen? Das weiße +Pferd, des Wirthes Großmutter, ist ein unersättliches Geschöpf, welchem +zwanzig Mäher kaum das tägliche Futter liefern könnten, und andere +zwanzig hätten vom Morgen bis Abend zu thun, den Mist aus dem Stalle zu +führen. Wie würdest du denn allein mit Beidem zu Stande kommen? Merke +auf meinen Rath und befolge ihn genau. Wenn du dem Pferde einige Schooß +voll Gras in die Krippe geschüttet hast, so mußt du aus Weidenreisern +einen starken Reif flechten, und aus festem Holze einen Keil schnitzen, +und zwar so, daß das Pferd sieht, was du thust. Es wird dich sogleich +fragen, wozu die Dinge dienen sollen, und dann mußt du ihm also +antworten: Mit diesem Reifen binde ich dir das Maul fest, wenn du mehr +fressen wolltest, als ich dir hinschütte, und mit diesem Pflock werde +ich dir den After verkeilen, wenn du mehr solltest fallen lassen, als +ich Lust hätte fortzuschaffen.« Nachdem das Mädchen dies gesprochen, +schlich es auf den Zehen eben so leise wieder hinaus, wie es gekommen +war, ohne dem Jüngling Zeit zum Dank zu lassen. Er prägte sich des +Mädchens Worte ein, wiederholte sich Alles noch einmal, um nichts zu +vergessen, und legte sich dann schlafen. + +Früh am andern Morgen machte er sich an die Arbeit. Er ließ die Sense +wacker im Grase tanzen und hatte zu seiner Freude nach kurzer Zeit so +viel gemäht, daß er einige Schooß voll zusammenharken konnte. Als er dem +Pferde den ersten Schooß voll hingeworfen hatte, und gleich darauf mit +dem zweiten Schooß voll in den Stall trat, fand er zu seinem Schrecken +die Krippe schon leer, und über ein halbes Fuder Mist auf der Diele. +Jetzt sah er ein, daß er ohne des Mädchens klugen Rath verloren gewesen +wäre, und beschloß, denselben sogleich zu benutzen. Er begann den Reifen +zu flechten: das Pferd wandte den Kopf nach ihm hin und fragte +verwundert: »Söhnchen, was willst du mit diesem Reifen machen?« »Gar +nichts,« entgegnete der Königssohn,»ich flechte ihn nur, um dir die +Kinnladen damit fest zu klemmen, falls es dir in den Sinn käme, mehr zu +fressen, als ich Lust habe dir aufzuschütten.« Das weiße Pferd seufzte +tief auf und hielt augenblicklich mit Kauen inne. + +Der Jüngling reinigte jetzt den Stall, und dann machte er sich daran, +den Keil zu schnitzen. »Was willst du mit diesem Keil machen?« fragte +das Pferd wieder. »Gar nichts,« war die Antwort. »Ich mache ihn nur +fertig, um ihn im Nothfalle als Spunt für die Ausleerungspforte zu +gebrauchen, damit dir das Futter nicht zu rasch durch die Knochen +schießt.« Das Pferd sah ihn wieder seufzend an, und hatte ihn sicher +verstanden, denn als Mittag längst vorüber war, hatte das weiße Pferd +noch Futter in der Krippe, und die Diele war rein geblieben. Da kam der +Wirth, um nachzusehen, und als er Alles in bester Ordnung fand, fragte +er etwas erstaunt: »Bist du selber so klug, oder hast du kluge +Rathgeber?« Der schlaue Königssohn erwiederte schnell: »Ich habe +Niemand, als meinen schwachen Kopf und einen mächtigen Gott im Himmel.« +Der Alte warf unwillig die Lippen auf und verließ brummend den Stall; +der Königssohn aber freute sich, daß Alles gelungen war. + +Am Abend sagte der Wirth: »Morgen hast du keine eigentliche Arbeit, da +aber die Magd manches Andere im Hause zu besorgen hat, so mußt du unsere +schwarze Kuh melken. Hüte dich aber, daß keine Milch im Euter +zurückbleibt. Fände ich das, so könnte es dir das Leben kosten.« Der +Königssohn dachte, als er hinausging: »wenn dahinter nicht etwa wieder +eine Tücke steckt, so kann mir die Arbeit nicht schwer werden; ich habe, +Gottlob, starke Finger, und will die Zitzen schon so pressen, daß kein +Tropfen Milch darin bleiben soll.« Als er sich eben zur Ruhe legen +wollte, kam das Mädchen wieder zu ihm und fragte: »Was für eine Arbeit +hast du morgen?« »Morgen habe ich Gesellentag« -- antwortete der +Königssohn. »Ich bin morgen den ganzen Tag frei, und habe nichts weiter +zu thun, als die schwarze Kuh zu melken, so daß kein Tropfen Milch im +Euter zurückbleibt.« »O du unglückseliges Geschöpf! wie wolltest du das +zu Stande bringen,« sagte das Mädchen seufzend. »Du mußt wissen, lieber +unbekannter Jüngling, daß, wenn du auch vom Morgen bis zum Abend +ununterbrochen melken würdest, du doch nimmer das Euter der schwarzen +Kuh leeren könntest; die Milch strömt gleich einer Wasserader +ununterbrochen. Ich sehe wohl, daß der Alte dich verderben will. Aber +sei unbesorgt, so lange ich am Leben bin, soll dir kein Haar gekrümmt +werden. Achte auf meinen Rath und befolge ihn pünktlich, so wirst du der +Gefahr entgehen. Wenn du zum Melken gehst, so nimm einen Topf voll +glühender Kohlen und eine Schmiedezange mit. Im Stalle lege die Zange in +die Kohlen und blase diese zu heller Flamme an. Wenn die schwarze Kuh +dich dann fragt, weßhalb du das thust, so antworte ihr, was im dir jetzt +in's Ohr sagen werde.« Das Mädchen flüsterte ihm einige Worte in's Ohr, +und schlich dann auf den Zehen, wie sie gekommen war, aus dem Zimmer. +Der Königssohn legte sich schlafen. + +Kaum strahlte die Morgenröthe am Himmel, als er sich schon von seinem +Lager erhob, den Melkkübel in die eine und den Kohlentopf in die andere +Hand nahm und in den Stall ging. Er machte Alles so, wie das Mädchen am +Abend zuvor angegeben hatte. Befremdet sah die schwarze Kuh seinem +Treiben eine Weile zu, dann fragte sie: »Was machst du da, Söhnchen?« +»Gar nichts,« war die Antwort. »Ich will die Zange nur rothglühend +machen, weil manche Kuh die niederträchtige Gewohnheit hat, nach dem +Melken noch Milch im Euter zu behalten, und da ist kein besserer Rath, +als ihr die Zitzen mit einer glühenden Zange zusammenzukneifen, damit +sich die Milch nicht unnütz in's Euter ergieße.« Die schwarz Kuh seufzte +tief auf und sah den Melkenden scheu an. Der Königssohn nahm den Kübel, +melkte das Euter aus, und als er es nach einer Weile wieder anzog, fand +er nicht einen Tropfen Milch. Später kam der Wirth in den Stall, zog und +drückte wiederholt an den Zitzen, fand aber keine Milch, und fragte mit +böser Miene: »Bist du selbst so klug, oder hast du kluge Rathgeber?« Der +Königssohn antwortete: »Ich habe Niemand, als meinen schwachen Kopf und +einen mächtigen Gott im Himmel.« Der Alte ging aufgebracht fort. + +Als der Königssohn sich am Abend beim Wirth nach seiner Arbeit +erkundigte, sagte dieser: »Ich habe noch ein Schoberchen Heu auf der +Wiese stehen, das ich bei trockener Witterung unter Dach bringen möchte. +Führe mir morgen das Heu ein, aber hüte dich, daß nicht das Mindeste +zurückbleibt, sonst könntest du dein Leben einbüßen.« Der Königssohn +verließ vergnügt das Zimmer und dachte: »Heu führen ist keine große +Arbeit, ich habe weiter keine Mühe, als aufzuladen, das Pferd muß +ziehen. Ich werde die Großmutter dieses Wirths nicht schonen.« Abends +kam das Mädchen wieder zu ihm geschlichen, und fragte ihn nach seiner +Arbeit für morgen. Der Königssohn sagte lachend: »Hier lerne ich alle +Arten von Bauernarbeit, morgen soll ich ein Schoberchen Heu einführen, +und nur darauf achten, daß nicht das Mindeste zurückbleibt; das ist mein +ganzes Tagewerk.« »Ach du unglückseliges Geschöpf,« seufzte das Mädchen: +»wie könntest du das vollbringen? Wolltest du auch mit allen Leuten +eines noch so großen Gebiets eine ganze Woche lang Heu führen, so +würdest du doch dieses Schoberchen nicht fortschaffen. Was von oben her +weggenommen wird, das wächst vom Grunde auf wieder nach. Merke wohl, was +ich dir sage: du mußt morgen vor Tagesanbruch aufstehen, das weiße Pferd +aus dem Stalle ziehen, und einige starke Stricke mitnehmen. Dann geh an +den Heuschober, lege die Stricke herum, und schirre das Pferd an die +Stricke. Wenn du damit fertig bist, so klettere auf den Schober hinauf, +und fang' an zu zählen: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs und so +weiter. Das Pferd wird dich sogleich fragen, was du da zählst, dann mußt +du antworten, was ich dir in's Ohr sage.« Das Mädchen flüsterte ihm das +Geheimniß zu, und verließ das Zimmer; der Königssohn wußte nichts +Besseres zu thun, als zu Bette zu gehen. + +Als er den andern Morgen erwachte, fiel ihm sogleich des Mädchens guter +Rath von gestern ein; er nahm starke Stricke, eilte in den Stall, führte +das weiße Pferd heraus, schwang sich darauf und ritt zum Heuschober, der +aber mindestens an funfzig Fuder hielt, also kein »Schoberchen« zu +nennen war. Der Königssohn that Alles, was ihm das Mädchen geheißen +hatte, und als er endlich, oben auf dem Heuschober sitzend, bis zwanzig +gezählt hatte, fragte das weiße Pferd verwundert: »Was zählst du da, +Söhnchen?« »Gar nichts,« war die Antwort. »Ich machte mir nur den Spaß, +die Wolfsherde dort am Walde zu zählen, aber es sind ihrer so viel, daß +ich nicht damit fertig werde.« Kaum hatte er das Wort »Wolfsherde« +heraus, als auch das weiße Pferd wie der Wind davon schoß, so daß es in +einigen Augenblicken mit dem Schober zu Hause war. Des Wirths Erstaunen +war nicht gering, als er nach dem Frühstück hinauskam, und das Tagewerk +des Knechts schon gethan fand. »Bist du selber so klug, oder hast du +kluge Rathgeber?« fragte der Alte, worauf der Königssohn erwiederte: +»Ich habe Niemand, als meinen schwachen Kopf und einen mächtigen Gott im +Himmel.« Der Alte ging kopfschüttelnd und fluchend von dannen. + +In der Abenddämmerung ging der Königssohn wieder zu ihm, nach seiner +Arbeit zu fragen. Der Wirth sagte: »Morgen mußt du mir das weißköpfige +Kalb auf die Weide führen, doch hüte dich, daß es sich nicht verläuft, +sonst könntest du leicht dein Leben einbüßen.« Der Königssohn dachte bei +sich: »mancher zehnjährige Bauerbursch muß eine ganze Herde hüten, da +kann mir doch die Hut eines einzigen Kalbes nicht schwer werden.« Als er +sich eben schlafen legen wollte, kam das Mädchen wieder in seine Kammer +geschlichen und fragte, was für eine Arbeit er morgen habe. »Morgen habe +ich Faullenzerarbeit,« sagte der Königssohn, »ich soll mit dem +weißköpfigen Kalbe auf die Weide gehen.« »O du unglückseliges Geschöpf,« +seufzte das Mädchen: »damit wirst du wohl nimmer durchkommen. Du mußt +wissen, daß dieses Kalb eine solche Rennwuth hat, daß es an einem Tage +dreimal um die Welt laufen könnte. Merke dir genau, was ich dir jetzt +sagen will. Nimm diesen Seidenfaden, binde das eine Ende an das linke +Vorderbein des Kalbes, und das andere Ende an den kleinen Zeh deines +linken Fußes, dann wird das Kalb keinen Schritt von deiner Seite +weichen, gleichviel ob du gehst, stehst oder liegst.« Darauf ging das +Mädchen fort, und der Königssohn legte sich schlafen, aber es ärgerte +ihn, daß er wieder vergessen hatte, für den guten Rath zu danken. + +Den andern Morgen that er pünktlich, was ihm das gute Mädchen +vorgeschrieben hatte, und führte das Kalb an dem seidenen Faden auf die +Weide, wo es, wie ein treues Hündlein, keinen Schritt von seiner Seite +wich. Bei Sonnenuntergang führte er es wieder in den Stall, als ihm der +Wirth auch schon entgegenkam und mit zornfunkelndem Blick fragte: »Bist +du selber so klug, oder hast du kluge Rathgeber?« Der Königssohn +erwiderte: »Ich habe Niemand, als meinen schwachen Kopf und einen +mächtigen Gott im Himmel.« Wieder ging der Alte wüthend davon, und der +Königssohn glaubte nun darüber im Reinen zu sein, daß die Nennung des +göttlichen Namens den alten Burschen jedesmal in Harnisch brachte. + +Spät Abends ging er wieder zum Wirth, um dessen Befehle für den +folgenden Tag einzuholen. Der Wirth gab ihm ein Säckchen mit Gerste und +sagte: »Morgen hast du einen Feiertag und kannst ausschlafen, aber dafür +mußt du dich heute Nacht brav rühren. Säe mir sogleich diese Gerste aus, +sie wird rasch wachsen und reifen; dann schneidest du sie, drischst sie +und windigest sie, so daß du sie mälzen und mahlen kannst. Aus dem +erhaltenen Malzmehl mußt du mir Bier brauen, und morgen früh, wenn ich +erwache, mir eine Kanne frischen Biers zum Morgentrunk bringen. Hab' +Acht, daß meine Befehle genau befolgt werden, sonst könntest du leicht +das Leben einbüßen.« + +Niedergeschlagen, mit sorgenschwerem Herzen verließ der Königssohn das +Gemach, blieb draußen stehen und weinte bitterlich. Er sprach zu sich +selbst: »Die heutige Nacht ist meine letzte, solch' eine Arbeit kann +kein Sterblicher vollbringen, und ebensowenig kann mir des klugen +Mädchens Rath hier helfen. O ich unglückseliges Geschöpf! warum habe ich +leichtsinnig das Königsschloß verlassen und mich in Gefahren verstrickt. +Nicht einmal den Sternen des Himmels kann ich mein bitteres Leid klagen, +denn hier sieht man weder Himmel noch Sterne, doch haben wir einen Gott, +der überall ist.« Als er mit seinem Gerstensäcklein dastand, öffnete +sich die Hausthür und das liebe Mädchen trat zu ihm heraus. Sie fragte, +was ihn so betrübe, und der Jüngling antwortete mit Thränen in den +Augen: »Ach, meine letzte Stunde ist gekommen, wir müssen auf immer +scheiden. Vernimm denn noch Alles, ehe ich scheide: ich bin eines +mächtigen Königs einziger Sohn, dem der Vater einst ein großes Reich +hinterlassen sollte; aber nun ist Alles hin, Glück und Hoffnung.« Dann +erzählte er ihr unter häufigen Thränen, was für eine Arbeit der Wirth +ihm für die Nacht aufgegeben habe, aber es verdroß ihn, zu sehen, daß +das Mädchen sich aus seiner Betrübniß nicht viel machte. Als er endlich +seinen langen Bericht geschlossen hatte, sagte die Jungfrau lachend: +»Heute Nacht kannst du denn, mein lieber Königssohn, ganz ruhig +schlafen, und morgen den ganzen Tag feiern. Merke genau auf meinen Rath +und verschmähe ihn nicht, weil er aus dem Munde einer niedrig geborenen +Magd kommt. Nimm diesen kleinen Schlüssel, er schließt den dritten +Faselstall auf, worin des Alten dienende Geister wohnen. Wirf den +Gerstensack in den Stall und schärfe ihnen Wort für Wort den Befehl ein, +den dir der Wirth für die Nacht gegeben hat; füge aber hinzu: Wenn ihr +ein Haar breit von meiner Vorschrift abweicht, so müßt ihr allesammt +sterben; solltet ihr aber Hülfe brauchen, so wird heut' Nacht die Thür +des siebenten Stalles offen stehen, in welchem des Wirths mächtigste +Geister wohnen.« + +Der Königssohn richtete Alles nach Vorschrift aus, und legte sich +schlafen. Als er am folgenden Morgen aufwachte und in der Brauküche +nachsah, fand er die Bierkufen in voller Gährung, so daß der Schaum über +den Rand floß. Er kostete das Bier, füllte dann eine große Kanne mit dem +schäumenden Trank an, und brachte sie dem Wirthe, der sich eben auf +seinem Lager aufrichtete. Aber statt des erwarteten Dankes sagte der +Wirth ungehalten: »Das kommt nicht aus deinem Kopfe! Ich merke, du hast +gute Freunde und Rathgeber gefunden. Schon gut, heut' Abend wollen wir +weiter sprechen.« + +Am Abend sagte der Alte: »Morgen habe ich dir keine Arbeit aufzutragen, +du mußt nur, wenn ich erwache, vor mein Bett treten, und mir zum Gruße +die Hand reichen.« Der Königssohn spottete innerlich über des Alten +wunderliche Grille, und lachend setzte er das Mädchen davon in Kenntniß. +Dieses aber wurde sehr ernst und sagte: »Wahre deine Haut! Der Alte will +dich morgen früh auffressen. Nur Eins kann dich retten. Du mußt eine +eiserne Schaufel im Ofen rothglühend machen, und ihm statt deiner Hand +das glühende Eisen zum Morgengruß darbieten.«[74] Damit eilte sie davon, +und der Königssohn ging zu Bette. Am Morgen hatte er die Schaufel schon +rothglühend gemacht, ehe noch der alte Bursche aufwachte. Endlich hörte +er ihn rufen: »Fauler Knecht, wo bleibst du? komm' und grüße!« Als +darauf der Königssohn mit der glühenden Schaufel eintrat, rief der Alte +ihm mit kläglicher Stimme zu: »Ich bin heute sehr krank und kann deine +Hand nicht fassen. Aber komm' heute Abend wieder, damit ich dir meine +Befehle geben kann.« + +Der Königssohn schlenderte nun den ganzen Tag umher, und ging dann am +Abend zum Wirth, um sich von ihm die Arbeit für den folgenden Tag +auftragen zu lassen. Der Wirth war sehr freundlich und sagte +schmunzelnd: Ich bin mit dir sehr zufrieden! komm Morgen früh mit dem +Mädchen zu mir, ich weiß, daß ihr euch schon längst lieb habt, und will +euch als Mann und Frau zusammengeben!« + +Der Königssohn hätte vor Freude jauchzen und in die Höhe springen mögen, +aber glücklicher Weise fiel ihm noch zu rechter Zeit die strenge +Hausordnung ein, deßhalb blieb er ruhig. Als er vor Schlafengehen der +Geliebten von seinem Glücke erzählte und von ihr eine gleiche Freude +erwartete, sah er zu seinem großen Erstaunen, daß das Mädchen vor +Schrecken bleich wurde wie eine getünchte Wand, und ihr die Zunge wie +gelähmt war. Als sie sich wieder erholt hatte, sagte sie. »Der alte +Bursche ist dahinter gekommen, daß ich deine Rathgeberin gewesen bin, +und will uns Beide verderben. Wir müssen noch diese Nacht die Flucht +ergreifen, sonst sind wir verloren. Nimm ein Beil, geh' in den Stall und +schlage dem weißköpfigen Kalbe mit einem kräftigen Hiebe den Kopf ab, +mit einem zweiten Hiebe spalte den Schädel entzwei. Im Hirn des Kalbes +findest du ein glänzend rothes Knäulchen, das bringe mir, Alles was +sonst nöthig ist, werde ich selbst besorgen. Der Königssohn dachte: +»lieber tödte ich ein unschuldiges Kalb, als daß ich mich selbst und das +liebe Mädchen umbringen lasse; gelingt uns die Flucht, so sehe ich meine +Heimath wieder. Die Erbsen, welche ich ausstreute, müssen jetzt +aufgegangen sein, so daß wir den Weg nicht verfehlen werden.« + +Darauf ging er in den Stall. Die Kuh lag neben dem Kalbe hingestreckt, +und beide schliefen so fest, daß sie ihn nicht kommen hörten. Als er +aber dem Kalbe den Kopf abhieb, stöhnte die Kuh so schauerlich, als +hätte sie einen schweren Traum. Rasch führte er den zweiten Hieb, der +den Schädel spaltete. Siehe! da wurde der Stall plötzlich hell, wie am +Tage. Das rothe Knäulchen fiel aus dem Gehirn heraus und leuchtete wie +eine kleine Sonne. Der Königssohn wickelte das Knäulchen behutsam in ein +Tuch und steckte es in seinen Busen. Es war ein Glück, daß die Kuh nicht +aufwachte, sonst hätte sie angefangen zu brüllen, und dadurch hätte auch +der Wirth geweckt werden können. + +An der Pforte fand der Königssohn das Mädchen schon reisefertig, ein +Bündelchen am Arme. »Wo ist dein Knäulchen?« fragte sie. »Hier!« +antwortete der Jüngling, und gab es ihr. »Wir müssen schnell fliehen!« +sagte sie, und wickelte einen kleinen Theil des Knäulchens aus dem Tuche +heraus, damit der leuchtende Schein gleich einer Laterne das nächtliche +Dunkel ihres Pfades erhelle. Die Erbsen waren, wie der Königssohn +vermuthet hatte, alle aufgegangen, so daß sie sicher waren, den Weg +nicht zu verfehlen. Unterwegs erzählte ihm die Jungfrau, daß sie einmal +ein Gespräch zwischen dem Alten und seiner Großmutter belauscht und +daraus erfahren habe, daß sie eine Königstochter sei, welche der alte +Bursche ihren Eltern mit List abgenommen habe. Der Königssohn wußte +freilich die Sache besser, schwieg aber und war nur von Herzen froh, daß +es ihm gelungen war, das arme Mädchen zu befreien. So mochten die +Wanderer eine gute Strecke zurückgelegt haben, als es begann zu tagen. + +Der alte Bursche erwachte erst spät am Morgen und rieb sich lange die +Augen, bis der Schlaf abfiel, dann weidete er sich im Voraus an dem +Gedanken, daß er die Beiden bald verzehren würde. Nachdem er ziemlich +lange auf sie gewartet hatte, sagte er für sich: »Sie sind wohl noch +nicht mit ihrem Hochzeitsstaat fertig!« Als ihm aber das Warten doch zu +lange dauerte, rief er: »Knecht und Magd, he! wo bleibt ihr?« Fluchend +und schreiend wiederholte er den Ruf noch einige Mal, aber weder Knecht +noch Magd ließen sich sehen. Endlich kletterte er zornig aus dem Bette +und ging die Säumigen zu suchen. Aber er fand das Haus menschenleer, und +bemerkte auch, daß diese Nacht die Lagerstätten unberührt geblieben +waren. Jetzt stürzte er in den Stall ... als er hier das Kalb getödtet +und das Zauberknäulchen entwendet fand, begriff er Alles. Er fluchte, +daß Alles schwarz wurde, öffnete rasch den dritten Geisterstall und +schickte seine Gehülfen aus, die Entflohenen zu suchen. »Bringt sie mir, +wie ihr sie findet, ich muß ihrer habhaft werden!« So sprach der alte +Bursche und seine Geister stoben wie der Wind davon. + +Die Flüchtlinge befanden sich gerade auf einer großen Fläche, als das +Mädchen den Schritt anhielt und sagte: »Es ist nicht Alles, wie es sein +sollte. Das Knäulchen bewegt sich in meiner Hand, gewiß werden wir +verfolgt!« Als sie hinter sich sahen, erblickten sie eine schwarze +Wolke, welche mit großer Geschwindigkeit näher kam. Das Mädchen drehte +das Knäulchen dreimal in der Hand um und sprach: + + »Höre Knäulchen, höre Knäulchen! + Würde gern alsbald zum Bächlein, + Mein Gefährte auch zum Fischlein!« + +Augenblicklich waren beide verwandelt. Das Mädchen floß als Bächlein +dahin, und der Königssohn schwamm als Fischlein im Wasser. Die Geister +sausten vorüber, kehrten nach einer Weile um, und flogen wieder heim, +aber Bächlein und Fischlein ließen sie unangetastet. Sobald die +Verfolger fort waren, verwandelte sich das Bächlein wieder in ein +Mädchen und machte das Fischlein zum Jüngling, und dann setzten sie in +menschlicher Gestalt ihre Reise fort. + +Als die Geister müde und mit leeren Händen zurückkehrten, fragte sie der +alte Bursche, ob ihnen denn beim Suchen nichts Besonderes aufgefallen +wäre? »Gar nichts!« war die Antwort: »nur ein Bächlein floß in der +Ebene, und ein einziges Fischlein schwamm darin.« Wüthend brüllte der +Alte: »Schafsköpfe. Das waren sie ja, das waren sie ja!« Schnell riß er +die Thüren des fünften Stalles auf, ließ die Geister heraus und befahl +ihnen, des Bächleins Wasser auszutrinken und das Fischlein zu fangen. +Die Geister stoben wie der Wind von dannen. + +Unsere Wanderer näherten sich eben dem Saum eines Waldes, da blieb das +Mädchen stehen und sagte: »Es ist nicht Alles, wie es sein soll. Das +Knäulchen bewegt sich wieder in meiner Hand.« Als sie sich umsahen, +erblicken sie abermals eine Wolke am Himmel, dunkler als die erste und +mit rothen Rändern. »Das sind unsere Verfolger!« rief die Jungfrau und +drehte das Knäulchen dreimal in der Hand um, indem sie sprach: + + »Höre Knäulchen, höre Knäulchen! + Wandele uns alle Beide: + Mich zum wilden Rosenstrauche, + Ihn zur Blüthe an dem Strauche.« + +Augenblicklich waren sie verwandelt. Aus dem Mädchen ward ein wilder +Rosenstrauch, und der Jüngling hing als Rose am Stock. Sausend zogen die +Geister über ihnen hin und kehrten erst nach einer guten Weile wieder +um; da sie weder Bächlein noch Fischlein gefunden hatten, kümmerten sie +sich nicht um den Rosenstrauch. Sobald die Verfolger vorüber waren, +verwandelten sich Strauch und Blume wieder in Mädchen und Jüngling, +welche nach der kurzen Ruhe rasch weiter eilten. + +»Habt ihr sie gefunden?« fragte der Alte, als er seine Gesellen keuchend +wiederkehren sah. »Nein,« antwortete der Anführer der Geister. »Wir +fanden weder Bächlein noch Fischlein in der Ebene.« »Habt ihr denn sonst +nichts Besonderes unterwegs gesehen?« fuhr der Alte auf. Der Anführer +antwortete: »Dicht am Saume des Waldes stand ein wilder Rosenstrauch an +dem eine Rose hing.« Schafsköpfe!« schrie der Alte, »das waren sie ja, +das waren sie ja!« Er schloß darauf den siebenten Stall auf und +schickte seine mächtigsten Geister aus, sie zu suchen. »Bringt sie mir, +wie ihr sie findet, todt oder lebendig! ich muß ihrer habhaft werden. +Reißt den verfluchten Rosenstrauch mit den Wurzeln heraus, und nehmt +Alles mit, was euch Befremdliches aufstößt.« Wie der Sturmwind flogen +die Geister davon. + +Die Flüchtlinge ruhten eben im Schatten eines Waldes aus, und stärkten +die ermüdeten Glieder durch Speise und Trank. Plötzlich rief das +Mädchen. »Alles ist nicht, wie es sein soll; das Knäulchen will mit +Gewalt aus meinem Busen. Gewiß verfolgt man uns wieder, und die Gefahr +ist nahe, aber der Wald verbirgt uns unsere Feinde noch.« Dann nahm sie +das Knäulchen aus dem Busen, drehte es dreimal in der Hand herum und +sprach: + + »Höre Knäulchen, höre Knäulchen! + Mache mich alsbald zum Lüftchen, + Den Gefährten mein zum Mücklein!« + +Augenblicklich waren beide verwandelt. Das Mädchen löste sich in Luft +aus, der Königssohn aber schwebte darin als Mücklein. Die mächtige +Geisterschaar brauste wie ein Sturm über sie hin, und kehrte nach +einiger Zeit wieder um, weil sie weder einen Rosenstrauch noch sonst +etwas Befremdliches gefunden hatten. Aber kaum waren die Geister +vorüber, so verwandelte der Lufthauch sich wieder in das Mädchen, und +machte aus der Mücke den Jüngling. »Jetzt müssen wir eilen,« rief das +Holdchen, »bevor der Alte selber kommt zu suchen -- der wird uns in +jeder Verwandlung erkennen.« + +Sie liefen nun eine gute Strecke vorwärts, bis sie den dunklen Gang +erreichten, in welchem sie bei dem hellen Schein des Knäulchens +ungehindert emporstiegen. Erschöpft und athemlos kamen sie endlich an +den großen Stein. Hier wurde das Knäulchen wiederum dreimal gedreht, +wobei die kluge Jungfrau sprach: + + »Höre Knäulchen, höre Knäulchen! + Laß den Stein empor sich heben, + Eine Pforte sich bereiten!« + +Augenblicklich hob sich der Stein weg, und sie waren glücklich wieder +auf der Erde. »Gott sei Dank!« rief das Mädchen aus: »wir sind gerettet. +Hier hat der alte Bursche keine Macht mehr über uns, und vor seiner List +wollen wir uns hüten. Aber jetzt, Freund, müssen wir uns trennen. Du +gehst zu deinen Eltern, und ich will die meinigen aufsuchen.« -- »Mit +nichten,« erwiederte der Königssohn: »ich kann mich nicht mehr von dir +trennen, du mußt mit mir kommen und mein Weib werden. Du hast +Leidenstage mit mir ertragen, darum ist es billig, daß du nun auch +Freudentage mit mir theilst.« Zwar sträubte sich das Mädchen Anfangs, +aber endlich ging sie doch mit dem Jüngling. + +Im Walde trafen sie einen Holzhacker, von dem sie erfuhren, daß im +Schlosse, wie im ganzen Lande, große Trauer herrsche über das +unbegreifliche Verschwinden des Königssohnes, von dem seit Jahren jede +Spur verloren sei. Mit Hülfe des Zauberknäulchens schaffte das Mädchen +dem heimkehrenden Sohne seine früheren Kleider wieder, damit er vor +seinem Vater erscheinen könne. Sie selbst aber blieb einstweilen in +einer Bauernhütte zurück, bis der Königssohn Alles mit seinem Vater +besprochen hätte. + +Aber der alte König war noch vor dem Eintreffen seines Sohnes dahin +geschieden: der Kummer über den Verlust des einzigen Sohnes hatte sein +Ende beschleunigt. Noch auf seinem Todbette hatte er sein leichtsinniges +Versprechen und seinen Betrug bereut, daß er dem alten Burschen ein +armes unschuldiges Mädchen überlieferte, wofür Gott ihn durch den +Verlust des Sohnes gezüchtigt habe. Der Königssohn beweinte, wie es +einem guten Sohne geziemt, den Tod seines Vaters und ließ ihn mit großen +Ehren bestatten. Dann trauerte er drei Tage, ohne Speise und Trank zu +sich zu nehmen. Am vierten Morgen aber zeigte er sich dem Volke als +neuer Herrscher, versammelte seine Räthe und theilte ihnen mit, was für +wunderbare Dinge er in des alten Burschen Behausung gesehen und ertragen +habe, vergaß auch nicht zu erzählen, wie die kluge Jungfrau seine +Lebensretterin geworden. + +Da riefen die Räthe wie aus einem Munde: »Sie muß eure Gemahlin und +unsere Herrscherin werden.« + +Als der junge König sich nun aufmachte, um seine Braut einzuholen, +erstaunte er sehr, als ihm die Jungfrau in königlicher Pracht +entgegenkam. Mit Hülfe des Zauberknäulchens hatte sie sich alles Nöthige +verschafft, weßhalb auch das ganze Land glaubte, daß sie die Tochter +eines unermeßlich reichen Königs und aus fernen Landen gekommen sei. +Darauf wurde die Hochzeit ausgerichtet, welche vier Wochen dauerte, und +sie lebten darnach glücklich und zufrieden noch manches liebe Jahr. + +[Fußnote 69: Ist wohl identisch mit dem mythischen Kungla-Lande. S. d. +Anm. 2, S. 102, zum Märchen 8, vom Schlaukopf. L.] + +[Fußnote 70: Külimit ist ein Getreidemaß von verschiedener Größe. Das +Revalsche Loof von drei Külimit ist etwas weniger als ein viertel +Scheffel Preußisch. L.] + +[Fußnote 71: Die Grundzüge dieser phantasievollen Schilderung finden +sich im Kalewipoëg =X=, 378 ff. vgl. mit =XIII=, 491 ff. Auch dort scheinen +auf der Straße zur Wohnung des höllischen Geistes weder Sonne, noch Mond +und Sterne -- nur von den Fackeln zu beiden Seiten des Höllenthors geht +ein trüber Schimmer aus, der die Ankommenden leitet. L.] + +[Fußnote 72: Reminiscenz aus dem Kalewipoëg =XIII=, 401 ff., wo dem +Kalewsohn über den in der Eingangshöhle zur Hölle kochenden Kessel +Auskunft ertheilt wird. Erst kostet der Gehörnte, dann die alte Mutter, +dann kommen Hund und Katze dran, in den Rest theilen sich Köche und +Knechte. L.] + +[Fußnote 73: Die eine der in der Unterwelt gefangen gehaltenen drei +Schwestern erzählt dem Kalewsohn, daß des Gehörnten Base die +Höllenhündin, seine Großmutter die weiße Mähre sei. Kalewipoëg =XIV=, 428. +-- Auf einem weißen Rosse sitzt der Kalewsohn als Höllenwächter, =ibid.= +=XX=, 1005. Vgl. eine von _Rußwurm_ über Kalews Tod mitgetheilte Sage. +_Rußwurm_, Sagen aus Hapsal u. s. w. Reval 1861. S. 9-10. L.] + +[Fußnote 74: Vgl. das Glühendmachen der künstlichen Hand und das +Darreichen derselben an die Hexe im Pfortenriegel, in dem Märchen von +Schnellfuß, Flinkhand und Scharfauge, S. 54. L.] + + + + +15. Rõugatajas Tochter. + + +Es lebte einmal vor Zeiten in einer breiten Waldlichtung der alte +Rõugataja[75] mit seinem Weibe. Sie hatten auch eine Tochter, die nicht +in natürlicher Beschaffenheit zur Welt gekommen war, dennoch bemühte +sich die Mutter, sie nach Art der Menschenkinder aufzuziehen, um +späterhin einen Schwiegersohn zu bekommen. Es ging die Rede, daß das +Mägdlein, so viel davon sichtbar wurde, wohl menschliche Haut hatte, daß +aber unter dem Gewande Tannenrinde statt der Haut den Körper deckte. +Nichtsdestoweniger hoffte die Mutter, sie mit der Zeit an den Mann zu +bringen, und schickte deßhalb das Mädchen überall hin unter die Leute, +wo nur in den Dörfern eine Gasterei oder Festlichkeit vorkam. Der +Tochter schöne Kleider, vielfach gewundene Perlenschnüre, Halsgeschmeide +von vergoldeten Münzen, große Brustspange und Seidenbänder stachen den +jungen Burschen wohl in die Augen, aber Freier zogen sie doch nicht in's +Haus. Die Burschen lachten und spotteten: oben hübsch und glatt, +unterhalb rauh wie Krötenhaut. + +Damit nun das Töchterchen nicht zuletzt daheim als alte Jungfer +verschimmele, suchte die Mutter bei einer Hexenmutter Hülfe und ließ von +ihr einen geheimnißvollen Trank bereiten, der, sobald ein Junggeselle +unversehens davon kostete, ihn unfehlbar trieb, dem Mädchen +nachzugehen, er mochte nun wollen oder nicht. Die Mutter gab der alten +Hexe ein Bündelchen mit Achselhaaren nebst andern Heimlichkeiten von +ihrer Tochter, womit die Hexe das Reizmittel für die Burschen bereiten +sollte. Als der Wundertrank gekocht war, sagte die Hexe: »Von diesem Naß +sieben Tropfen, in Speise oder Trank geträufelt, bethören jeden +Burschen, der davon kostet.« + +Darnach wurde auf dem Hofe des Rõugataja ein großer Gastschmaus +angerichtet, zu welchem von allen Seiten Mengen zusammengebeten wurden, +besonders zahlreich aber Junggesellen, damit die Jungfer aus der Schaar +derselben einen wählen könnte, der vor allen andern nach ihrem Geschmack +wäre. Als das Gelage nun schon zwei Tage im Gange war, zeigte die +Tochter ihrer Mutter einen jungen Mann, den sie sich gar sehr zum +Ehgemahl ersehnte. Die schlaue Mutter that heimlich sieben Tropfen vom +Zaubertrank in einen Kuchen und gab ihn dem Burschen zu essen, worauf +der arme Schelm nirgends mehr seines Bleibens fand, sondern, wie das +Kätzchen nach dem Strohhalm, der Tochter Rõugataja's nachlaufen mußte, +da er sonst weder Tag noch Nacht Ruhe hatte. Bald darauf erschien er als +Freier, und sein Branntwein wurde freundlich angenommen. Einige Wochen +später wurde ein prächtiges Hochzeitsmahl angerichtet, so daß noch +Kinder und Kindeskinder der Pracht und Herrlichkeit gedachten. Aber was +half das Alles? Als das junge Paar Abends in die Kammer geführt wurde, +um zu Bette zu gehen, fand der Bräutigam unter der Decke so viel +Unheimliches, daß ihm das Blut im Herzen gerann; noch in derselben +Nacht nahm er die Flucht und ließ die junge Frau als Wittwe zurück. +Mutter und Tochter warteten wohl noch eine Zeitlang, daß der Liebestrank +der Hexenmutter den jungen Mann wieder herlocken würde; aber wer nicht +kam, war der entwichene Bräutigam. Als noch eine Woche verstrichen war, +und der Mann gleichwohl ausblieb, regten sich allerdings Zweifel in +ihnen. Endlich kam die Nachricht, daß der entwichene Mann eine andere +Frau gefreit hatte, und damit nahm denn ihr Harren und Hoffen ein Ende. + +Ein Jahr später hörte die alte Frau des Rõugataja, daß ihres vormaligen +Schwiegersohnes Frau einen Knaben geboren hatte. Da reizte ein böser +Anschlag ihr Herz, daß sie nirgends mehr Ruhe fand, bis mit Hülfe der +Hexe des Kindes Mutter in einen Wärwolf verwandelt war. Sodann schaffte +sie heimlich ihre Tochter an Stelle der Wöchnerin in's Bett. Da aber die +Tochter keine Brust hatte, wie Frauen sie sonst haben, so konnte sie +auch das Kind nicht säugen. Wohl goß sie Kuhmilch in die künstlich aus +Bork geformte Brust, allein das Kind nahm sie nicht in den Mund, sondern +schrie Tag und Nacht vor Hunger, daß der Zeter kein Ende nahm. Es wurden +zwar Kindesbaderinnen und Thränenstillerinnen von nah und fern +zusammengeholt, allein was konnte es helfen? Das Kind ließ nicht ab zu +schreien. Eines Tages rief der Vater in zornigem Muthe: »Tragt den +Schreihals aus der Stube, sonst sprengt er mir die Ohren: ich kann sein +Geschrei nicht länger aushalten.« Die Wärterin ging mit dem Kinde +hinaus, da kam auf dessen Geschrei aus einem Erlenbusch eine Wölfin +hervor, entriß der Wärterin das Kind mit Gewalt, that aber weder ihr +noch dem Kinde ein Leides, sondern legte fein säuberlich das Kleine sich +an die Brust und säugte es. Als das Kind darauf süß eingeschlummert war, +brachte die Wärterin es nach Haus und legte es in die Wiege, wo es bis +zum andern Tage ganz ruhig lag. Die Wärterin ließ nichts verlauten von +dem Vorfall mit der Wölfin, ging aber den folgenden Tag wieder auf's +Feld, wo sich Alles ganz so begab, wie Tags zuvor. Dabei war die +Wärterin guter Laune, denn sie hatte es jetzt leicht, und auch der Vater +des Kindes war seines Lebens wieder froher geworden, weil kein Geschrei +mehr im Hause war, wiewohl die Wöchnerin noch immer schwer krank zu +Bette lag und vorgab, weder Hand noch Fuß rühren zu können. Als nun am +dritten Tage die Wärterin wieder ging, dem Kinde seine Amme zu suchen, +sagte die Wölfin. »Ich darf nicht jeden Tag so öffentlich in's Freie +kommen, das Kind zu säugen. Wenn du es aber alle Morgen an den +Erlenbusch am Ukkofelsen bringst, so will ich es säugen; doch mußt du, +so lang' ich es säuge, am Rande des Busches Wache halten, damit nicht +Jemand plötzlich dazu komme und sehe, wie ich das Kind säuge. Und auch +du selbst darfst nicht eher nach dem Kinde kommen, als bis ich dich +rufe.« Die Wärterin that, wie geboten war, und die Sache ging über eine +Woche lang vortrefflich; das Kind gedieh zusehends, schlief ruhig ohne +Geschrei, und erwachte aus dem Schlafe mit freundlich lächelndem +Antlitz. + +Eines Tages dünkte der Wärterin das Säugen der Wölfin allzulange zu +dauern, und das Verbot übertretend ging sie heimlich zu spähen, was wohl +die Amme mit dem Kinde machen möchte. Ein wunderbares Ding war es denn +freilich, was sie da erblickte. Am Ukkofels saß eine junge nackte Frau, +das Kind auf ihrem Schooße, welches sie zärtlich liebkoste und auf den +Armen schaukelte. Endlich nahm sie eine Wolfshaut vom Felsen, schlüpfte +hinein und rief dann die Wärterin, daß sie käme, das Kind zu nehmen. Als +die Wärterin drei Tage nach der Reihe diese wunderbare Säugung des +Kindes beobachtet hatte, konnte sie zu Hause nicht mehr reinen Mund +halten, sondern that dem Vater Alles kund, was bisher täglich mit dem +Kinde geschehen war, sowohl das Säugen durch die Wölfin, als auch die +Gestalt der Frau, die aus der Wolfshaut herausgeschlüpft war. Der Mann +schloß sofort, daß es hier nicht mit rechten Dingen zugehen könne; er +verbot der Wärterin das Geheimniß irgend Jemand weiter zu sagen, und +eilte selbst zu einem berühmten weisen Manne, um Rath und Hülfe zu +suchen. + +Der weise Mann sagte, als er die Erzählung gehört hatte: »Hier scheint +einer bösen Hexe Werk dahinter zu stecken, was ich sofort ganz +aufzuklären nicht im Stande bin; aber wir müssen versuchen, durch List +die Wolfshaut zu erlangen und zu vernichten, dann werden wir schon +sehen, was für ein Betrug hier verübt ist.« Dann befahl er dem Manne, in +der Nacht den Ukkofels glühend heiß zu machen, damit, wenn die Wölfin +die Haut wieder auf den Fels werfen würde, diese versengt und zum +Anziehen untauglich gemacht würde. Der Mann führte den andern Tag, als +des Kindes Säugerin sich in den Wald zurückgezogen hatte, ein Paar Fuder +Holz um den Fels her und auf denselben, und zündete dann in der Nacht +das Holz an, wodurch der Ukkofels gluthroth wurde, wie die Glühsteine +eines Badstubenofens. Als dann die Zeit herannahte, wo des Kindes +Säugerin zu kommen pflegte, räumte er Brände und Asche bei Seite und +schlüpfte selbst hinter das Gebüsch in ein Versteck, wo er Alles sehen +konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Auf des Kindes Geschrei kam die +Wölfin aus dem Walde gerufen, nahm der Wärterin das Kind ab, und legte +es dann so lange in's Gras, bis sie die Wolfshaut abgezogen und auf den +Felsrand geworfen hatte. Dann nahm sie das Kind auf den Schooß und +begann es zu säugen. Je schärfer der Mann die Säugende ansah, desto +bekannter wurden ihm Gesicht und Gestalt der Frau. Ja -- er erkannte in +der Säugerin des Kindes sein Weib und begriff jetzt, weßhalb die +Wöchnerin noch immer zu Hause im dunkeln Zimmer saß. Er sprang nun aus +dem Gebüsch hervor und eilte auf die Frau zu. Diese schrie vor Schrecken +auf, legte das Kind in's Gras und wollte ihre Wolfshaut wieder vom +Felsen nehmen und anziehen, aber das Fell war ganz verbrannt, und nur +ein zusammengeschrumpftes Ende davon nachgeblieben. Auch dieses warf +jetzt der Mann auf die allerheißeste Stelle, wo nun die letzten Fetzen +zu Asche verbrannten. Dann zog er seinen Rock aus, gab ihn der Frau, +sich damit zu bedecken, und bat sie, so lange mit dem Kinde da zu +bleiben, bis er nach Hause ginge, die Badstube zu heizen. Zu Hause ging +er mit freundlicher Ansprache zur Wöchnerin und sagte: »Du mußt heute in +die Badstube gehn, Liebchen, dann wirst du schneller gesund werden.« Die +Frau sträubte sich zwar mit aller Macht dagegen; sie könne den Luftzug +nicht vertragen; wie könne sie so über den Hof in die Badstube gehn. +»Wenn ich so über den Hof ginge, so würde ich draußen ohnmächtig werden +und mir den Tod holen.« Der Mann erwiederte: »Das hat gar nichts zu +sagen, wir wickeln dir Mund und Augen in eine wollene Decke, so daß der +Luftzug deinem zarten Körper nicht schaden kann.« Damit war die Frau +ganz zufrieden, denn sie fürchtete nicht den Luftzug, sondern des Mannes +Auge, der den Betrug gleich erkannt haben würde. + +Als die in die Decke gewickelte Wöchnerin mit Hülfe des Mannes in die +Badstube gebracht worden war, machte der Mann die Thür so fest zu, daß +keine lebende Seele herein noch heraus kommen konnte, setzte sich dann +zu Pferde und jagte im Galopp nach Rõugataja's Hof. In die Stube tretend +rief er mit freundlicher Stimme: »Guten Tag, liebe Schwiegermutter. Ich +komme euch zu danken, daß ihr mir ein gutes Weib erzogen und mich von +der Ofengabel von Frau losgemacht habt, die ich in meinem einfältigen +Sinn gefreit hatte. Wir leben glücklich mit einander, und deßhalb +wünscht die Tochter euch zu sehen, damit ihr euch selbst von unserer +Zufriedenheit überzeugen könnt.« Rõugatajas Frau merkte den Betrug +nicht, sondern freute sich, daß die Sache so gut gegangen war. Der +Schwiegersohn spannte an, setzte sich mit der Schwiegermutter auf den +Wagen und fuhr nach Haus. Hier sagte er: »Die junge Frau ist in die +Badstube gegangen, sich zu baden, habt ihr nicht auch Lust +hineinzugehen, um den Staub der Fahrt abzuwaschen?« »Warum nicht!« +erwiederte die Mutter. Der Mann ließ sie in die Badstube treten, +verschloß die Thür und warf dann den rothen Hahn auf's Dach. Da +verbrannte denn die Badstube sammt Rõugataja's Frau und ihrer Tochter. +-- Da jetzt das Haus von der bösen Sippschaft gereinigt war, nahm der +Mann Weib und Kind zu sich, und sie lebten ungestört bis an ihr Ende. + +[Fußnote 75: Rõugataja, dessen Frau hier (wie im Märchen 13 S. 173) +eine so häßliche Rolle spielt, erscheint im Kalewipoëg =II=. 501 ff. als +geburtshelfender Gott. Er und der Gott =Ukko=, welcher gleichbedeutend ist +mit dem Fruchtbarkeit verleihenden Obergotte =Tara= treten an das Lager +der kreißenden Wittwe Linda, welche ihre Hülfe angerufen hatte, und +nachdem beide Götter eine Stunde bei ihr geweilt, kommt der Kalewsohn +glücklich zur Welt. Nach _=Castrén=_. Vorl. S. 45, wurde der finnische =Ukko= +nur bei schweren Kindesnöthen in Anspruch genommen. Auch sonst kennt die +ehstnische Ueberlieferung den Rõugataja als Schützer der Wöchnerinnen +und Neugeborenen; auch bei Heirathen wurde ihm geopfert, damit der +mütterliche Schooß nicht unfruchtbar bleibe. S. _Kreutzwald_ zu _Boecler_ S. +18. 42. 43. Dann tritt Rõugataja mit abgeschwächter Bedeutung nur noch +als Schutzgott der Neugeborenen auf, den die Wärterinnen beim ersten +Bade eines Kindes, so wie beim Baden kranker Kinder anrufen. Ebend. S. +49. 53. 54. u. _Kreutzwald_ u. _Neus_, myth. u. mag. Lieder S. 108. Zuletzt +ist der Gott Rõugataja (etwa wie Knecht Ruprecht) zum Popanz entstellt, +mit welchem man die Kinder erschreckt und beschwichtigt. -- Der Name, +der auch in der Form =Raugutaja= vorkommt, scheint mit dem finnischen +Roggen- oder Saatengott =Ronkoteus= zusammenzuhängen. Daß ein Gott der +Saaten mit dem Gebären des Weibes in Verbindung gesetzt wird, kann nicht +auffallen, auch Thor ist Saatgott und zugleich Gott der Ehe, und der +Mythus von der Persephone weist auf dieselbe Combination. Die +griechische Braut betritt mit gerösteter Gerste das Haus des Bräutigams. +Auffallend ist es, daß die ehstnische Mythologie, die doch sonst an +weiblichen Personificationen reich ist, keine Gestalt wie die +griechische Eileithyia, oder die römische Lucina aufzuweisen hat. L.] + + + + +16. Die Meermaid + + +In der alten glücklichen Zeit gab es auf Erden viel bessere Menschen als +jetzt, darum ließ ihnen der himmlische Vater auch manche Wunder offenbar +werden, welche heut' zu Tage entweder ganz verborgen bleiben, oder nur +selten einmal einem Glückskinde erscheinen. Zwar die Vögel singen nach +alter Weise, und die Thiere tauschen ihre Laute aus, aber leider +verstehen wir ihre Sprache nicht, und was sie sagen, bringt uns weder +Lehre noch Nutzen. + +In der _Wiek_ wohnte vor Zeiten am Strande eine schöne Meermaid, die sich +den Leuten oftmals zeigte; noch meines Großvaters Vetter, der in dieser +Gegend aufwuchs, hatte sie zuweilen auf einem Steine sitzen sehen, aber +das Bürschlein hatte nicht gewagt näher zu treten. Die Jungfrau erschien +in mancherlei Gestalten, bald als Füllen oder Färse, bald wieder als ein +anderes Thier; manchen Abend mischte sie sich unter die Kinder, und ließ +es sich gefallen, daß sie mit ihr spielten, daß sich die Knäblein ihr +auf den Rücken setzten -- dann war sie plötzlich wie unter die Erde +gesunken! + +Wie die alten Leute jener Zeit erzählten, konnte man die Jungfrau in +früheren Tagen fast jeden schönen Sommerabend am Meeresufer sehen, wo +sie auf einem Steine sitzend ihr langes blondes Haar mit goldenem Kamme +glättete, und so schöne Lieder sang, daß den Hörern das Herz hinschmolz. +Die Annäherung der Menschen aber duldete sie nicht, sondern entschwand +ihren Blicken, oder entwich in's Meer, wo sie als Schwan sich auf den +Wellen schaukelte. Warum sie vor den Menschen floh, und nicht mehr das +frühere Zutrauen zu ihnen hatte, darüber wollen wir jetzt das nähere +melden. + +In alten Tagen, lange vor der Schwedenzeit, lebte am Strande der Wiek +ein wohlhabender Bauer mit seiner Frau und vier Söhnen; ihren täglichen +Unterhalt gewannen sie mehr der See als dem Acker ab, weil der Fischfang +zu ihrer Zeit gar reich gesegnet war. Ihr jüngster Sohn zeigte sich von +klein auf in allen Stücken anders als seine Brüder, er mied die +Gesellschaft der Menschen, schlenderte am Meeresufer und im Walde umher, +sprach mit sich selbst, mit den Vögeln oder mit Wind und Wellen, aber +wenn er unter die Leute kam, öffnete er den Mund nicht viel, sondern +stand wie träumend. Wenn im Herbst die Stürme aus dem Meere tobten, die +Wellen sich haushoch thürmten und sich schäumend am Ufer brachen, dann +ließ es dem Knaben zu Hause keine Ruhe mehr, er lief wie besessen, oft +halb nackend, an den Strand. Wind und Wetter scheute sein abgehärteter +Körper nicht. Er sprang in den Kahn, ergriff die Ruder und fuhr, gleich +einer wilden Gans, auf dem Kamme der tobenden Wellen weit in die See +hinaus, ohne daß seine Verwegenheit ihm jemals Gefahr gebracht hätte. Am +Morgen, wenn der Sturm ausgetobt hatte, fand man ihn am Meeresufer in +süßem Schlafe. Schickte man ihn irgend wohin, um ein Geschäft zu +besorgen, z. B. im Sommer das Vieh zu hüten, oder sonst kleine Arbeiten +zu übernehmen, so machte er seinen Eltern nur Verdruß. Er warf sich +irgendwo in den Schatten eines Busches, ohne der Thiere zu achten, die +sich zerstreuten, Wiesen oder Kornfelder betraten, und sich auch +theilweise verliefen, so daß die Brüder Stunden lang zu thun hatten, bis +sie der verlorenen Thiere wieder habhaft wurden. Wohl hatte der Vater +den Knaben die Ruthe bitter genug fühlen lassen, aber das wirkte nicht +mehr, als Wasser auf eine Gans gegossen. Als der Knabe zum Jüngling +herangewachsen war, ging es auch nicht besser, keine Arbeit gedieh unter +seinen lässigen Händen; er zerschlug und zerbrach das Arbeitsgerät, +mattete die Arbeitsthiere ab, und schaffte doch nichts Rechtes. + +Der Vater gab ihn nun auf fremde Bauerhöfe in Dienst, weil er hoffte, +daß vielleicht die fremde Peitsche den Lotterer bessern und zum +ordentlichen Menschen machen möchte; aber wer den Burschen eine Woche +lang auf Probe gehabt hatte, schickte ihn auch in der nächsten Woche +wieder zurück. Die Eltern schalten ihn einen Tagedieb, und die Brüder +hießen ihn »_Schlaf-Tönnis_;« binnen kurzem war dieser Spitzname in aller +Munde, wiewohl er auf den Namen _Jürgen_ getauft war. Weil nun der +Schlaf-Tönnis keinem Menschen Nutzen brachte, vielmehr Eltern und +Geschwistern nur zur Last fiel und im Wege war, so hätten sie gern ein +Stück Geld hingegeben, wenn jemand sie von dem Faullenzer befreit hätte. +Als der Schlaf-Tönnis nirgends mehr aushielt, und auch Niemand ihn +behalten wollte, verdingte ihn endlich der Vater bei einem fremden +Schiffer als Knecht, weil er doch auf der See nicht davon laufen konnte, +und weil der Bursche auch das Meer von klein auf geliebt hatte. Trotzdem +war er nach einigen Wochen, ich weiß nicht wie? von dem Schiffe +entkommen, und hatte seine trägen Füße wieder auf den heimischen Boden +gesetzt. Nur schämte er sich, das Haus seiner Eltern zu betreten, wo er +auf keinen freundlichen Empfang hoffen durfte, er trieb sich von einem +Orte zum andern herum, und suchte sein Leben zu fristen, wie es ging, +ohne zu arbeiten. Er war ein hübscher starker Bursche, und konnte ganz +angenehm sprechen, wenn er wollte, obschon er im elterlichen Hause +seinen Mund nie viel zum Reden gebraucht hatte. Jetzt mußten ihn sein +schmuckes Aussehen und seine glatte Rede erhalten, denn er wußte sich +damit bei Frauen und Mädchen einzuschmeicheln. + +Da geschah es, als er an einem schönen Sommerabend nach Sonnenuntergang +allein am Strande sich erging, daß der Meermaid holder Gesang an sein +Ohr drang. Schlaf-Tönnis dachte alsbald: »Sie ist auch ein Weib, und +wird mir nichts zu Leide thun!« Er zögerte also nicht, dem Gesange +nachzugehen, um den schönen Vogel in Augenschein zu nehmen. Er bestieg +den höchsten Hügel, und gewahrte von da über einige Felder weg die +Meermaid, die auf einem Steine saß, wo sie mit goldenem Kamme ihr Haar +glättete und ein herrliches Lied sang. Der Jüngling hätte sich mehr +Ohren gewünscht, um den Gesang zu hören, der ihm in's Herz schlug wie +eine Flamme; als er aber näher kam, sah er, daß hier eben so viele Augen +Noth thäten, die Schönheit der Jungfrau zu fassen. Gewiß hatte die +Meermaid den Kommenden bemerkt, aber sie floh nicht vor ihm, was sie +doch sonst immer that, wenn sich Menschen ihr näherten. Schlaf-Tönnis +mochte etwa noch zehn Schritte von ihr sein, als er plötzlich still +stand, unentschlossen, ob er warten oder näher treten solle. Und +wunderbar! Die Meermaid erhob sich vom Steine und kam ihm mit +freundlicher Miene entgegen. Grüßend bot sie dem Jüngling die Hand und +sagte: »Ich habe dich hier schon manchen Tag erwartet, weil ein +bedeutsamer Traum mir deine Ankunft kündete. Du hast unter den Menschen +nirgends Haus noch Heim, wohin du gehen könntest, oder wo Leute deines +Schlages taugten. Warum solltest du auch von Fremden abhängig sein, wenn +die Eltern dir in ihrem Hause keine Stätte bieten? Ich kenne dich von +klein auf und besser, als die Menschen dich kennen, weil ich ungesehen +oft um dich war und dich schützte, wenn dein verwegener Uebermuth dich +hätte verderben können. Ja, meine Hände haben oft dein schwankes Boot +gehütet, daß es nicht in die Tiefe sank! Komm mit mir, du sollst +Herrentage haben, und es soll dir an nichts mangeln, was dein Herz nur +begehrt, sollst du kosten. Ich will dich warten und hüten wie meinen +Augapfel, daß weder Wind noch Regen noch Frost dir etwas anhaben +sollen.« Schlaf-Tönnis stand noch immer im Zweifel, er kratzte sich +hinter den Ohren und überlegte, was er antworten solle; obgleich jedes +Wort der Jungfrau ihm wie ein Feuerpfeil in's Herz gedrungen war. +Endlich fragte er schüchtern, ob ihre Behausung weit von hier sei. »Wir +können mit Windesschnelle dahin kommen, wenn du festes Vertrauen zu mir +hast,« erwiederte die Meermaid. Da fielen dem Schlaf-Tönnis plötzlich +mancherlei Reden ein, die er früher von den Leuten über die Meermaid +gehört hatte, das Herz bangte ihm, und er bat sich drei Tage Bedenkzeit +aus. »Ich will deinen Wunsch erfüllen,« sagte die Meermaid, »aber damit +du nicht wieder unsicher werdest, will ich dir, bevor wir scheiden, +meinen goldenen Ring an deinen Finger stecken, auf daß du das +Wiederkommen nicht vergessest. Wenn wir dann näher mit einander bekannt +werden, so kann vielleicht aus diesem Pfande ein Verlobungsring werden.« +Mit diesen Worten zog sie den Ring ab, steckte ihn dem Jüngling an den +kleinen Finger und verschwand dann, als wäre sie in Luft zerflossen. +Schlaf-Tönnis blieb mit offenen Augen stehen, und hätte das Vorgefallene +für einen Traum gehalten, wenn nicht der glänzende Ring an seinem Finger +das Gegentheil dargethan hätte. -- Aber mit diesem Ringe schien wie ein +fremder Geist in ihn gefahren zu sein, der ihm nirgends mehr Rast noch +Ruhe ließ. Er streifte die ganze Nacht unstet am Strande umher und kam +immer wieder zu dem Steine zurück, auf welchem die Jungfrau gesessen +hatte -- aber der Stein war kalt und leer. Am Morgen legte er sich ein +wenig nieder, aber unruhige Träume störten seinen Schlaf. Als er +erwachte, fühlte er weder Hunger noch Durst, all sein Sinnen stand nur +auf den Abend, da hoffte er die Meermaid wieder zu sehen. Der Tag neigte +sich endlich, es wurde Abend, der Wind legte sich, die Vögel im +Erlenbusch hörten auf zu singen, und steckten die müden Schnäbel unter +die Flügel -- aber die Meermaid sah er an dem Abend nirgends. + +Sorge und Leid preßten ihm schwere Thränen aus, in seinem Unmuth hätte +er sich die bitterste Qual anthun mögen -- warum hatte er am gestrigen +Abend das dargebotene Glück verschmäht und sich eine Bedenkzeit +ausbedungen, wo ein klügerer als er das Glück mit beiden Händen bei den +Hörnern gepackt haben würde. Nun half keine Reue noch Klage. Nicht +minder trübselig verstrich ihm die Nacht und der folgende Tag; unter der +Last des Kummers fühlte er nicht einmal den Hunger. Gegen +Sonnenuntergang setzte er sich zerknirschten Herzens auf eben den Stein, +auf welchem die Meermaid vorgestern gesessen hatte, fing an bitterlich +zu weinen und sagte ächzend: »Wenn sie heute nicht kommt, so will ich +nicht länger mehr leben, sondern entweder hier auf dem Steine Hungers +sterben, oder mich jählings in die Wellen stürzen und in der Tiefe des +Meeres mein elendes Leben enden!« -- Ich weiß nicht, wie lange er so in +Gram versunken gesessen hatte, als er eine weiche warme Hand auf seiner +Stirne fühlte. Als er die Augen aufschlug, sah er die Jungfrau vor sich, +die ihn liebreich anredete: »Ich sah deine herbe Qual, hörte dein +sehnsüchtiges Seufzen und mochte nicht länger zögern, obgleich deine +Bedenkzeit erst morgen Abend abläuft.« + +»Vergebt mir, vergebt mir, theure Jungfrau!« bat Schlaf-Tönnis +schluchzend. »Vergebt mir! ich war ein sinnloser Thor, daß ich das +unverhoffte Glück nicht festzuhalten wußte. Der Teufel weiß, was für +eine Tollheit mir vorgestern in den Kopf kam. Bringt mich, wohin ihr +wollt, ich widerstrebe nicht, ja ich würde mit Freuden mein Leben für +euch hingeben.« + +Die Meermaid erwiederte lachend: »Mich verlangt nicht nach deinem Tode, +sondern ich will dich lebend als lieben Genossen zu mir nehmen.« Dann +nahm sie den Jüngling bei der Hand, führte ihn einige Schritte näher +an's Meer, verband ihm mit einem seidenen Tuche die Augen, und in +demselben Augenblicke fühlte sich Schlaf-Tönnis von zwei starken Armen +umfaßt, welche ihn wie im Fluge emporhoben und dann jählings in die Flut +stürzten. Als die kalte Flut seinen Leib berührte, verlor er das +Bewußtsein, so daß er nicht mehr wußte, was mit ihm und um ihn vorging. +Er konnte also späterhin auch nicht sagen, wie lange seine Ohnmacht +gedauert hatte. + +Als er erwachte, sollte er noch Seltsameres erfahren. + +Er fand sich auf weichem Kissen in seidenem Bette, das in einem +prächtigen Gemache stand, dessen Wände von Glas und von innen mit rothen +Sammetdecken verhüllt waren, damit das grelle Licht den Schläfer nicht +wecke. Eine Zeit lang wußte er selbst nicht recht, ob er noch lebe oder +sich nach dem Tode an einem unbekannten Orte befinde. Er reckte seine +Glieder hin und her, nahm seine Nasenspitze zwischen die Finger, und +siehe! -- es war Alles, wie es sein mußte. Angethan war er mit einem +feinen weißen Hemde, und schöne Kleider lagen auf einem Stuhl vor seinem +Bette. Nachdem er sich eine Zeit lang im Bette gedehnt und sich +handgreiflich überzeugt hatte, daß er wirklich am Leben sei, stand er +endlich auf und zog sich an. -- Zufällig hustete er, und augenblicklich +traten zwei Mädchen ein, grüßten ehrerbietig und baten, der »_gnädige +Herr_« möge ihnen sagen, was er frühstücken wolle. Während die eine den +Tisch deckte, ging die andere die Speisen zu bereiten. Es dauerte nicht +lange, so standen Schüsseln mit Schweinefleisch, Wurst, Blutklößen und +Scheibenhonig, nebst Bier- und Methkannen auf dem Tische -- gerade als +ob eine prächtige Hochzeit gefeiert würde. Schlaf-Tönnis, der mehrere +Tage ohne Nahrung geblieben war, setzte seine Kinnladen in Bewegung und +aß, was der Magen fassen wollte, dann streckte er sich aufs Bett, um zu +verdauen. Als er wieder aufstand, kamen die Dienerinnen zurück und baten +den »gnädigen Herrn«, im Garten spazieren zu gehen, während die gnädige +Frau sich ankleiden lasse. Es wurden ihm von allen Seiten so viel +»gnädige Herren« an den Hals geworfen, daß er schon anfing, sich für +einen solchen zu halten, und seines früheren Standes vergaß. + +Ich Garten fand er auf Schritt und Tritt Schönheit und Zierde; im grünen +Laube glänzten goldene und silberne Aepfel, sogar die Fichten- und +Tannenzapfen waren golden und goldgefiederte Vögel hüpften in den +Wipfeln und auf den Zweigen. Zwei Mädchen traten hinter einem Gebüsche +hervor, sie hatten Auftrag, den »gnädigen Herrn« im Garten herum zu +führen und ihm alle Schönheiten desselben zu zeigen. Weiter gehend +gelangten sie an den Rand eines Teiches, auf welchem silbergefiederte +Gänse und Schwäne schwammen. Ueberall schimmerte Morgenroth, doch +nirgends sah man die Sonne. Die mit Blüthen bedeckten Gebüsche hauchten +süßen Duft aus, und Bienen, groß wie Bremsen, flogen um die Blüthen +herum. Alles, was unser Freund hier von Bäumen und Gewächsen erblickte, +war viel herrlicher, als wir es jemals schauen. Sodann erschienen zwei +prächtig gekleidete Mädchen, um den »gnädigen Herrn« zur gnädigen Frau +einzuladen, welche ihn erwarte. Ehe man ihn zu ihr führte, wurde ihm +noch ein blauseidener Shawl[76] um die Schultern gelegt. Wer hätte in +diesem Aufzuge den früheren Schlaf-Tönnis wieder erkannt? + +In einer prächtigen Halle, die so groß wie eine Kirche und auch, wie das +Schlafgemach, aus Glas gegossen war, saßen zwölf scheue Jungfrauen auf +silbernen Stühlen. Hinter ihnen auf einer Erhöhung unweit der Wand +standen zwei goldene Stühle, auf deren einem die hehre Königin saß, +während der andere noch leer war. Als Schlaf-Tönnis über die Schwelle +trat, erhoben sich alle Jungfrauen von ihren Sitzen und grüßten den +Ankömmling ehrerbietig, setzen sich auch nicht eher wieder, als bis es +ihnen geheißen worden. Die Herrin selber blieb auf ihrem Stuhle sitzen, +nickte dem Jünglinge ihren Gruß zu und winkte befehlend mit dem Finger, +worauf die Führerinnen den Schlaf-Tönnis in die Mitte nahmen und zur +Herrin geleiteten. Der Jüngling ging schüchternen Schrittes vorwärts, +und wagte nicht die Augen aufzuschlagen, denn all' die unerwartete +Pracht und Herrlichkeit blendete ihn. Man wies ihm seinen Platz auf dem +goldenen Stuhle neben der Herrin an, und diese sagte: »Dieser Jüngling +ist mein lieber Bräutigam, dem ich mich verlobt und den ich mir zu +meinem Gemahl erkoren habe. Ihr müßt ihm jegliche Ehre erweisen und ihm +eben so gehorchen wie mir. Jedes Mal, daß ich das Haus verlasse, müßt +ihr ihm die Zeit vertreiben und ihn pflegen und hüten wie meinen +Augapfel. Schwere Strafe würde den treffen, der meinen Willen nicht +pünktlich erfüllt.« + +Schlaf-Tönnis sah wie verbrüht drein, weil er gar nicht wußte, was er +von der Sache halten solle; die Erlebnisse dieser Nacht schienen +wunderbarer als Wunder. Er mußte sich in Gedanken immer wieder fragen, +ob er wache oder träume. Die Herrin errieth, was in ihm vorging, erhob +sich von ihrem Stuhle, nahm ihn bei der Hand und führte ihn aus einem +Zimmer in's andere; alle waren menschenleer. So waren sie in das zwölfte +Gemach gelangt, das etwas kleiner aber noch prächtiger war, als die +andern. Hier nahm die Herrin ihre Krone vom Haupte, warf den +goldverbrämten seidenen Mantel ab, und als Schlaf-Tönnis jetzt die Augen +aufzuschlagen wagte, sah er keine fremde Herrin, sondern die Meermaid an +seiner Seite. O du liebe Zeit! jetzt wuchs ihm plötzlich der Muth und +seine Hoffnung erblühte. Freudig rief er: »O theure Meermaid!« -- aber +in demselben Augenblick schloß die Hand der Jungfrau ihm den Mund; sie +sprach in ernstem Tone: »Wenn dir mein und dein eigenes Glück lieb ist, +so nenne nie mehr diesen Namen, den man mir zum Schimpf beigelegt hat. +Ich bin der Wasser-Mutter[77] Tochter, und unserer sind viele +Schwestern, wenn wir auch alle einsam, jede an ihrem Ort, im Meere, in +Seeen und Flüssen wohnen, und uns nur selten einmal durch einen +glücklichen Zufall zu sehen bekommen.« Dann erklärte sie ihm, sie habe +bis jetzt jungfräulich gelebt, müsse aber als verordnete Herrscherin +Namen und Würde einer königlichen Frau aufrecht erhalten. Schlaf-Tönnis +war durch sein unverhofftes Glück wie von Sinnen gekommen, er wußte +nicht, was er in seiner Freude beginnen sollte, aber die Zunge war ihm +wie gebunden, und er brachte nicht viel mehr heraus als _Ja_ oder _Nein_. +Als er sich aber beim Mittagsmahl die leckeren Speisen schmecken ließ, +und als die köstlichen Getränke ihm warm machten, da löste sich auch +seine Zunge, und er wußte sich nicht bloß wie sonst gut zu unterhalten, +sondern auch manchen artigen Scherz anzubringen. + +Am folgenden und am dritten Tage ging dieses glückliche Leben eben so +fröhlich weiter; Schlaf-Tönnis glaubte sich bei lebendigem Leibe in den +Himmel versetzt. Vor Schlafengehen sagte die Meermaid zu ihm: »Morgen +haben wir Donnerstag,[78] und allwöchentlich muß ich, einem Gelübde +gemäß an diesem Tage fasten und einsam von allen Andern getrennt leben. +Donnerstags kannst du mich nicht früher sehen, als bis der Hahn Abends +drei Mal gekräht hat. Meine Dienerinnen werden inzwischen für dich +sorgen, daß dir die Zeit nicht lang werde, und es dir an Nichts fehle.« + +Am andern Morgen fand Schlaf-Tönnis seine Genossin nirgends -- er +gedachte dessen, was sie ihm am Abend zuvor angekündigt hatte, nämlich, +daß er heute und jeden künftigen Donnerstag ohne seine Gemahlin +zubringen müsse. Die Dienerinnen bemühten sich, ihm auf alle Weise die +Zeit zu vertreiben, sie sangen, spielten und führten heitere Tänze auf; +dann setzten sie ihm wieder Speise und Trank vor, wie ein geborener +Königssohn sie nicht besser haben konnte, und der Tag verging ihm +schneller als er geglaubt hatte. Nach dem Abendessen begab er sich zur +Ruhe, und als der Hahn das dritte Mal gekräht hatte, kam die Schöne +wieder zu ihm. Ebenso ging es an jedem folgenden Donnerstage. Oft zwar +hatte er die Geliebte gebeten, am Donnerstage mit ihr zusammen fasten zu +dürfen, aber vergebens. Als er nun einst wieder an einem Mittwoch seine +Gemahlin mit dieser Bitte quälte und ihr keine Ruhe ließ, sagte die +Meermaid mit thränenden Augen: »Nimm mein Leben, wenn du willst, ich +gebe es gerne hin, aber deinen Wunsch, dich zu meinem Fasttage +mitzunehmen, kann und darf ich nicht erfüllen.« + +Ein Jahr oder darüber mochte ihnen so verflossen sein, als sich Zweifel +im Herzen des Schlaf-Tönnis regten, die immer quälender wurden, so daß +er keine Ruhe mehr fand. Das Essen wollte ihm nicht munden, und der +Schlaf erquickte ihn nicht. Er fürchtete nämlich, daß die Meermaid außer +ihm noch einen heimlichen Geliebten habe, in dessen Armen sie jeden +Donnerstag ruhe, während er die Zeit mit ihren Dienerinnen hinbringen +müsse. Die Kammer, in welcher die Meermaid sich Donnerstags verborgen +hielt, kannte er längst, aber was half es? Die Thür war immer +verschlossen und die Fenster waren von innen durch doppelte Vorhänge so +dicht verhüllt, daß nirgends eine Oeffnung wenn auch nur von der Breite +eines Nadelöhrs blieb, durch welche ein Sonnenstrahl, geschweige denn +ein menschliches Auge, hätte eindringen können. Aber je unmöglicher die +Aufhellung dieses Geheimnisses schien, desto heftiger wurde sein +Verlangen, der Sache auf den Grund zu kommen. Wenngleich er von dem, was +ihm auf dem Herzen lastete, der Meermaid kein Wörtchen verrieth, so +merkte sie doch an seinem unsteten Wesen, daß die Sachen nicht mehr +standen wie sie sollten. Wiederholt bat sie ihn mit Thränen in den +Augen, er möge sie und sich selbst doch nicht mit verkehrten Gedanken +plagen. »Ich bin,« sagte sie, »frei von aller Schuld gegen dich, ich +habe keine heimliche Liebe noch irgend eine andere Sünde gegen dich auf +dem Gewissen. Aber dein falscher Argwohn macht uns Beide unglücklich, +und wird unsern Herzensfrieden zerstören. Mit Freuden würde ich jeden +Augenblick mein Leben für dich hingeben, wenn du es wünschen würdest, +aber an meinem Fasttage kann ich dich nicht in meine Nähe lassen. Es +darf nicht sein, und würde unserer Liebe und unserem Glücke für immer +den Untergang bringen. Wir leben ja sechs Tage in der Woche in ruhigem +Glücke mit einander, wie kann uns die Trennung _eines_ Tages so schwer +fallen, daß du sie nicht ertragen solltest.« + +Sechs Tage hielt solch' ein verständiger Zuspruch immer wieder vor, aber +wenn der nächste Donnerstag kam, und die Meermaid nicht erschien, dann +verlor er den Kopf und geberdete sich wie ein halb Verrückter. Er hatte +keine Ruhe mehr, zuletzt wollte er am Donnerstage Niemand um sich +haben, die Dienerinnen durften nur die Speisen und Getränke auftragen +und mußten sich dann gleich entfernen, damit er allein hausen könne wie +ein Gespenst. + +Diese gänzliche Verwandlung nahm Alle Wunder, und als die Meermaid die +Sache erfuhr, wollte sie sich die Augen aus dem Kopfe weinen; doch +überließ sie sich ihrem Schmerze nur, wenn Niemand dabei war. +Schlaf-Tönnis hoffte, wenn er allein gelassen würde, bessere Gelegenheit +zur Untersuchung der geheimnißvollen Fastenkammer zu finden -- +vielleicht entdeckte er doch irgendwo ein Spältchen, durch welches er +spähen und beobachten könnte, was dort vorginge. Je mehr er sich aber +abquälte, desto unmuthiger wurde auch die Meermaid, und wenn sie noch +ein freundliches Antlitz zeigte, so kam ihr doch die Freundlichkeit +nicht mehr von Herzen wie sonst. + +So vergingen einige Wochen, und die Sache wurde nicht besser und nicht +schlechter; da fand Schlaf-Tönnis eines Donnerstags neben dem Fenster +eine kleine Stelle, wo die Vorhänge sich zufällig verschoben hatten, so +daß der Blick in die Kammer dringen konnte. Was er da sah, machte sein +Herz ärger als Februarkälte gerinnen. Das geheimnißvolle Gemach hatte +keinen Fußboden, sondern sah aus wie ein großer viereckiger Kübel, der +viele Fuß hoch mit Wasser gefüllt war. Darin schwamm seine geliebte +Meermaid. Vom Kopf bis zum Bauch hatte sie noch die Schönheit des +weiblichen Körpers, aber die untere Hälfte vom Nabel abwärts war ganz +Fisch, mit Schuppen bedeckt und mit Flossen versehen. Mit dem breiten +Fischschwanz plätscherte sie zuweilen im Wasser, daß es hoch +aufspritzte. -- Der Späher wich wie betäubt zurück, und ging betrübt +hinweg. Wie viel hätte er darum gegeben, wenn er diesen Anblick aus +seinem Gedächtnisse hätte auslöschen können! Er dachte hin und her, +wußte aber nicht, was er anfangen sollte. + +Der Hahn hatte am Abend wie gewöhnlich drei Mal gekräht, aber die +Meermaid kam nicht zu ihm zurück. Er durchwachte die ganze Nacht, aber +die Schöne erschien immer noch nicht. Erst am Margen kam sie in +schwarzen Trauerkleidern, das Gesicht mit einem dünnen Seidentuch +verhüllt, und sprach mit weinender Stimme: »O, du Unseliger, der du +durch deine Torheit unserem glücklichen Leben ein Ende gemacht hast! Du +siehst mich heute zum letzten Male und mußt nun wieder in deinen +früheren Zustand zurückkehren, was du dir selber zuzuschreiben hast. +Leb' wohl zum letzten Male!« + +Ein plötzlicher Krach und ein starkes Getöse, als ob der Boden unter den +Füßen weg rollte, warf den Schlaf-Tönnis nieder, und in seiner Betäubung +hörte und sah er nicht mehr, was mit ihm und um ihn her vorging. + +Als er endlich, wer weiß wie lange nachher, aus seiner Ohnmacht +erwachte, fand er sich am Meeresstrande, dicht bei demselben Steine, auf +welchem die schöne Meermaid gesessen hatte, als sie den +Freundschaftsbund mit ihm schloß. Statt der prächtigen Kleider, die er +in der Behausung der Meermaid täglich getragen hatte, fand er seinen +alten Anzug, der aber viel älter und zerlumpter aussah, als es nach +seiner Annahme der Fall sein konnte. Die Glückstage unseres guten +Freundes waren vorüber, und keine noch so bittere Reue konnte sie +zurückbringen. + +Als er weiter ging, stieß er auf die ersten Gehöfte seines Dorfs. Sie +standen wohl an der alten Stelle, aber sahen doch anders aus. Was ihm +aber, als er sich umsah, noch viel wunderbarer dünkte, war, daß die +Menschen ihm ganz fremd waren, und nicht ein einziges bekanntes Gesicht +ihm begegnete. + +Auch ihn sahen Alle befremdet an, als ob sie ein Wunderthier vor sich +hätten. Schlaf-Tönnis ging nun zum Hofe seiner Eltern; auch hier kamen +ihm fremde Menschen entgegen, die ihn nicht kannten, und die er nicht +kannte. Erstaunt fragte er nach seinem Vater und seinen Brüdern, aber +Niemand konnte ihm Bescheid geben. Endlich kam ein gebrechlicher Alter +auf einen Stock gestützt aus dem Hause und sagte: »Bauer, der Wirth, +nach welchem du dich erkundigst, schläft schon über dreißig Jahre in der +Erde; auch seine Söhne müssen todt sein. Wo kommst du denn her, +Alterchen, um solchen vergessenen Dingen nachzuforschen?« Das Wort +»Alterchen« hatte den Schlaf-Tönnis dermaßen erschreckt, daß er nichts +weiter fragen konnte. Er fühlte seine Glieder zittern, wandte den +fremden Menschen den Rücken, und eilte zur Pforte hinaus. Die Anrede +»Alterchen« ließ ihm keine Ruhe; dies Wort war ihm centnerschwer auf die +Seele gefallen -- die Füße versagten ihm den Dienst. + +An der nächsten Quelle besah er seine Gestalt im Wasserspiegel: die +bleichen zusammengeschrumpften Wangen, die eingefallenen Augen, der +lange graue Bart und die grauen Haare bestätigten, was er vernommen +hatte. Diese vergilbte, verwelkte Gestalt hatte keine Aehnlichkeit mehr +mit dem Jüngling, den die Meermaid sich zum Bräutigam erkoren hatte. +Jetzt erst ward der Unglückliche inne, daß die vermeintlichen paar Jahre +ihm den größten Theil seines Lebens hinweggenommen hatten, denn als +blühender Jüngling war er in das Haus der Meermaid eingezogen, und als +gespenstischer Alter war er zurückgekommen. Dort hatte er weder den Fluß +der Zeit noch das Hinschwinden des Körpers gespürt, und er konnte es +sich nicht erklären, wie die Bürde des Alters ihm so plötzlich, gleich +einer Vogelschlinge, über den Hals gekommen war. Was sollte er jetzt +beginnen, da er als Fremder unter Fremde verschneit war? -- Einige Tage +lang streifte er am Strande von einem Bauerhofe zum andern umher, und +gute Menschen gaben ihm aus Barmherzigkeit ein Stück Brot. Da traf er +einst mit einem munteren Burschen zusammen, dem er seinen Lebenslauf +ausführlich erzählte, aber in derselben Nacht war er auch verschwunden. +Nach einigen Tagen wälzten die Wellen seinen Leichnam an's Ufer. Ob er +vorsätzlich oder zufällig im Meere ertrunken war, ist nicht bekannt +geworden. + +Von dieser Zeit an hat sich das Wesen der Meermaid den Menschen +gegenüber gänzlich verändert; nur Kindern erscheint sie zuweilen, fast +immer in anderer Gestalt, erwachsene Menschen aber läßt sie nicht an +sich heran kommen, sondern scheut sie wie das Feuer. + +[Fußnote 76: Sfoba, »ein Stück des festlichen Anzuges, ein weißes +wollenes Tuch mit bunt ausgenähten Kanten und mit Troddeln an den kurzen +Rändern, auf der Brust mit einer Spange zusammengehalten.« _Wiedemann_, +Wörterb. s. v. L.] + +[Fußnote 77: Vgl. Nota zu dem Märchen von den zwölf Töchtern S. 89. L.] + +[Fußnote 78: Vgl. Anm. zum Märchen 1, die Goldspinnerinnen S. 2. L.] + + + + +17. Die Unterirdischen.[79] + + +In einer stürmigen Nacht zwischen Weihnacht und Neujahr war ein Mann vom +Wege abgekommen; während er sich durch die tiefen Schneetriften +durchzuarbeiten suchte, erlahmte seine Kraft, so daß er von Glück sagen +konnte, als er unter einem dichten Wachholderbusch Schutz vor dem Winde +fand. Hier wollte er übernachten, in der Hoffnung, am hellen Morgen den +Weg leichter zu finden. Er zog seine Glieder zusammen wie ein Igel, +wickelte sich in seinen warmen Pelz und schlief bald ein. Ich weiß +nicht, wie lange er so gelegen hatte, als er fühlte, daß Jemand ihn +rüttele. Als er aus dem Schlafe auffuhr, schlug eine fremde Stimme an +sein Ohr: »Bauer, ohe! steh auf! sonst begräbt dich der Schnee, und du +kommst nicht wieder heraus.« Der Schläfer steckte den Kopf aus dem Pelze +hervor und sperrte die noch schlaftrunkenen Augen weit auf. Da sah er +einen Mann von langem schlanken Wuchse vor sich; der Mann trug als Stock +einen jungen Tannenbaum, der doppelt so hoch war wie sein Träger. »Komm +mit mir,« sagte der Mann mit dem Tannenstock -- »für uns ist im Walde +unter Bäumen ein Feuer gemacht, wo sich's besser ruht, als hier auf +freiem Felde.« Ein so freundliches Anerbieten mochte der Mann nicht +ausschlagen, vielmehr stand er sogleich auf, und schritt rüstig mit dem +fremden Manne vorwärts. Der Schneesturm tobte so heftig, daß man auf +drei Schritt nicht sehen konnte, aber wenn der fremde Mann seinen +Tannenstock aufhob und mit strenger Stimme rief: »Hoho! +Stümesmutter![80] mach' Platz!« so bildete sich vor ihnen ein breiter +Pfad, wohin auch kein Schneeflöckchen drang. Zu beiden Seiten und im +Rücken tobte wildes Schneegestöber, aber die Wanderer focht es nicht an. +Es war, als ob auf beiden Seiten eine unsichtbare Wand das Gestüm +abwehrte. Bald kamen die Männer an den Wald, aus dem schon von fern der +Schein eines Feuers ihnen entgegen leuchtete. »Wie heißt du?« fragte der +Mann mit dem Tannenstock, und der Bauer erwiederte: »Des langen Hans +Sohn Hans.« + +Am Feuer saßen drei Männer mit weißen leinenen Kleidern angethan, als +wäre es mitten im Sommer. Auch sah man in einem Umkreise von dreißig +oder mehr Schritten nur Sommerschöne: das Moos war trocken, die Pflanzen +grün, und der Rasen wimmelte von Ameisen und Käferchen. Von fern aber +hörte des langen Hans Sohn den Wind sausen und den Schnee brausen. Noch +verwunderlicher war das brennende Feuer, welches hellen Glanz +verbreitete, ohne daß ein Rauchwölkchen aufstieg. »Was meinst du, Sohn +des langen Hans, ist dies nicht ein besserer Ruheplatz für die Nacht, +als da auf freiem Felde unter dem Wachholderbusch?« Hans mußte dies +zugeben, und dem fremden Manne dafür danken, daß er ihn so gut geführt +hatte. Dann warf er seinen Pelz ab, wickelte ihn zu einem Kopfkissen +zusammen, und legte sich im Scheine des Feuers nieder. Der Mann mit dem +Tannenstock nahm sein Fäßchen aus einem Busche und bot Hansen einen +Labetrunk, der schmeckte vortrefflich und erfreute ihm das Herz. Der +Mann mit dem Tannenstock streckte sich nun auch auf den Boden hin und +redete mit seinen Genossen in einer fremden Sprache, von der unser Hans +kein Wörtchen verstand; er schlief darum bald ein. + +Als er aufwachte, fand er sich allein an einem fremden Orte, wo weder +Wald noch Feuer mehr war. Er rieb sich die Augen und rief sich das +Erlebniß der Nacht zurück, meinte aber geträumt zu haben; doch konnte er +nicht begreifen, wie er denn hierher an einen ganz fremden Ort gerathen +war. Aus der Ferne drang ein starkes Geräusch an sein Ohr, und er fühlte +den Boden unter seinen Füßen zittern. Hans horchte eine Zeit lang, von +wo der Lärm komme, und beschloß dann, dem Schalle nachzugehen, weil er +hoffte, auf Menschen zu treffen. So kam er an die Mündung einer +Felsengrotte, aus welcher der Lärm erscholl, und ein Feuer hervorschien. +Als er in die Grotte trat, sah er eine ungeheure Schmiede vor sich mit +einer Menge von Blasebälgen und Ambosen; an jedem Ambos standen sieben +Arbeiter. Närrischere Schmiede konnten auf der Welt nicht zu finden +sein. Die einem Manne bis zum Knie reichenden Männlein hatten Köpfe, die +größer waren als ihre winzigen Leiber, und führten Hämmer, die mehr als +doppelt so groß waren, als ihre Träger. Aber sie hämmerten mit ihren +schweren Eisenkeulen so wacker auf den Ambos los, daß die kräftigsten +Männer keine wuchtigeren Schläge hätten führen können. Bekleidet waren +die kleinen Schmiede nur mit Lederschürzen, die vom Halse bis zu den +Füßen reichten; auf der Rückseite waren die Körper nackend, wie Gott sie +geschaffen hatte. Im Hintergrund an der Wand saß der Hansen wohlbekannte +Mann mit dem Tannenstocke auf einem hohen Block, und gab scharf Acht auf +die Arbeit der kleinen Gesellen. Zu seinen Füßen stand eine große Kanne, +aus welcher die Arbeiter ab und zu einen Trunk thaten. Der Herr der +Schmiede hatte nicht mehr die weißen Kleider von gestern an, sondern +trug einen schwarzen rußigen Rock und um die Hüften einen Ledergürtel +mit großer Schnalle; mit seinem Tannenstocke gab er den Gesellen von +Zeit zu Zeit einen Wink, denn das Menschenwort wäre bei dem Getöse +unvernehmlich gewesen. Ob Jemand den Hans bemerkt hatte, blieb diesem +unklar, sintemal Meister und Gesellen ihre Arbeit hurtig förderten, ohne +den fremden Mann zu beachten. Nach einigen Stunden wurde den kleinen +Schmieden eine Rast gegönnt; die Bälge wurden angehalten, und die +schweren Hämmer zu Boden geworfen. Jetzt, da die Arbeiter die Grotte +verließen, erhob sich der Wirth vom Blocke und rief den Hans zu sich: +»Ich habe deine Ankunft wohl bemerkt,« sagte er, »aber da die Arbeit +drängte, konnte ich nicht früher mit dir reden. Heute mußt du mein Gast +sein, um meine Lebensweise und Haushaltung kennen zu lernen. Verweile +hier so lange, bis ich die schwarzen Kleider ablege.« Mit diesen Worten +zog er einen Schlüssel aus der Tasche, schloß eine Thür in der +Grottenwand auf, und ließ Hans hineintreten. + +O was für Schätze und Reichthümer Hans hier erblickte! Ringsum lagen +Gold- und Silberbarren aufgestapelt und schimmerten und flimmerten ihm +vor den Augen. Hans wollte zum Spaße die Goldbarren eines Haufens +überzählen und war gerade bis fünfhundert und siebzig gekommen, als der +Wirth zurückkehrte und lachend rief: »Laß nur das Zählen, es würde dir +zu viel Zeit kosten. Nimm dir lieber einige Barren vom Haufen, ich will +sie dir zum Andenken verehren.« Natürlich ließ sich Hans so etwas nicht +zweimal sagen; mit beiden Händen erfaßte er einen Goldbarren, konnte ihn +aber nicht einmal von der Stelle rühren, geschweige denn aufheben. Der +Wirth lachte und sagte: »Du winziger Floh vermagst nicht das kleinste +meiner Geschenke fortzubringen, begnüge dich denn mit der Augenweide.« +Mit diesen Worten führte er Hans in eine andere Kammer, von da in eine +dritte, vierte und so fort, bis sie endlich in die siebente +Grottenkammer kamen, die von der Größe einer großen Kirche und gleich +den anderen vom Fußboden bis zur Decke mit Gold- und Silberhaufen +angefüllt war. Hans wunderte sich über die unermeßlichen Schätze, womit +man sämmtliche Königreiche der Welt hätte zu erb und eigen kaufen +können, und die hier nutzlos unter der Erde lagen. Er fragte den Wirth: +»Weßwegen häuft ihr hier einen so ungeheuren Schatz an, wenn doch kein +lebendes Wesen von dem Gold und Silber Vortheil zieht? Käme dieser +Schatz in die Hände der Menschen, so würden sie alle reich werden, und +Niemand brauchte zu arbeiten oder Noth zu leiden.« »Gerade deßhalb,« +erwiederte der Wirth -- »darf ich den Schatz nicht an die Menschen +überliefern; die ganze Welt würde vor Faulheit zu Grunde gehen, wenn +Niemand mehr für das tägliche Brot zu sorgen brauchte. Der Mensch ist +dazu geschaffen, daß er sich durch Arbeit und Sorgfalt erhalten soll.« +Hans wollte das durchaus nicht wahr haben und bestritt nachdrücklich die +Ansicht des Wirths. Endlich bat er, ihm doch zu erklären was es fromme, +daß hier all' das Gold und Silber als Besitzthum eines Mannes lagere und +schimmele, und daß der Herr des Goldes unablässig bemüht sei, seinen +Schatz zu vergrößern, da er schon einen so überschwenglichen Ueberfluß +habe? Der Wirth gab zur Antwort: »Ich bin kein Mensch, wenn ich gleich +Gestalt und Gesicht eines solchen habe, sondern eines jener höheren +Geschöpfe, welche nach der Anordnung des Allvaters geschaffen sind, der +Welt zu walten. Nach seinem Gebot muß ich mit meinen kleinen Gesellen +ohne Unterlaß hier unter der Erde Gold und Silber bereiten, von welchem +alljährlich ein kleiner Theil zum Bedarf der Menschen herausgegeben +wird, nur knapp soviel als sie brauchen, um ihre Angelegenheiten zu +betreiben. Aber Niemand soll sich die Gabe ohne Mühe zueignen. Wir +müssen deßhalb das Gold erst fein stampfen, und dann die Körnlein mit +Erde, Lehm und Sand vermischen; später werden sie, wo das Glück will, in +diesem Grant gefunden, und müssen mühsam herausgesucht werden. Aber, +Freund, wir müssen unsere Unterhaltung abbrechen, denn die Mittagsstunde +naht heran. Hast du Lust, meinen Schatz noch länger zu betrachten, so +bleib hier, erfreue dein Herz an dem Glanze des Goldes, bis ich komme +dich zum Essen zu rufen.« Damit trennte er sich von Hans. + +Hans schlenderte nun wieder aus einer Schatzkammer in die andere, und +versuchte hie und da ein kleineres Stück Gold aufzuheben, aber es war +ihm ganz unmöglich. Er hatte zwar schon früher von klugen Leuten sagen +hören, wie schwer Gold sei, aber er hatte es niemals glauben wollen -- +jetzt lehrten es ihn seine eigenen Versuche. Nach einer Weile kam der +Wirth zurück, aber so verwandelt, daß Hans ihn im ersten Augenblick +nicht erkannte. Er trug rothe feuerfarbene Seidengewänder, reich +verziert mit goldenen Tressen und goldenen Franzen, ein breiter goldener +Gürtel umschloß seine Hüften und auf seinem Kopfe schimmerte eine +goldene Krone, aus welcher Edelsteine funkelten, wie Sterne in einer +klaren Winternacht. Statt des Tannenstockes hielt er ein kleines aus +feinem Golde gearbeitetes Stäbchen in der Hand, an welchem sich +Verästelungen befanden, so daß das Stäbchen aussah wie ein Sproß des +großen Tannenstockes. + +Nachdem der königliche Besitzer des Schatzes die Thüren der +Schatzkammern verschlossen und die Schlüssel in die Tasche gesteckt +hatte, nahm er Hans bei der Hand und führte ihn aus der +Schmiedewerkstatt in ein anderes Gemach, wo für sie das Mittagsmahl +angerichtet war. Tische und Sitze waren von Silber; in der Mitte der +Stube stand ein prächtiger Eßtisch, zu beiden Seiten desselben ein +silberner Stuhl. Eß- und Trinkgeschirr, als da sind Schalen, Schüsseln, +Teller, Kannen und Becher, waren von Gold. Nachdem sich der Wirth mit +seinem Gaste am Tische niedergelassen hatte, wurden zwölf Gerichte nach +einander aufgetragen; die Diener waren ganz wie die Männlein in der +Schmiede, nur daß sie nicht nackt gingen sondern helle reine Kleider +trugen. Sehr wunderbar kam Hansen ihre Behendigkeit und Geschicklichkeit +vor; denn obgleich man keine Flügel an ihnen wahrnahm, so bewegten sie +sich doch so leicht, als wären sie gefedert. Da sie nämlich nicht bis +zur Höhe des Tisches hinanreichten, so mußten sie wie die Flöhe immer +vom Boden auf den Tisch hüpfen. Dabei hielten sie die großen mit Speisen +angefüllten Schalen und Schüsseln in der Hand, und wußten sich doch so +in Acht zu nehmen, daß nicht ein Tropfen verschüttet ward. Während des +Essens gossen die kleinen Diener Meth und köstlichen Wein aus den Kannen +in die Becher und reichten diese den Speisenden. Der Wirth unterhielt +sich freundlich und erläuterte Hansen mancherlei Geheimnisse. So sagte +er, als auf sein nächtliches Zusammentreffen mit Hans die Rede kam: +»Zwischen Weihnacht und Neujahr streife ich oft zum Vergnügen auf der +Erde umher, um das Treiben der Menschen zu beobachten und einige von +ihnen kennen zu lernen. Von dem, was ich bis jetzt gesehen und erfahren +habe, kann ich nicht viel Rühmens machen. Die Mehrzahl der Menschen lebt +einander zum Schaden und zum Verdruß. Jeder klagt mehr oder weniger über +den Andern, Niemand sieht seine eigene Schuld und Verfehlung, sondern +wälzt auf Andere, was er sich selbst zugezogen hat.« Hans suchte nach +Möglichkeit die Wahrheit dieser Worte abzuleugnen, aber der freundliche +Wirth ließ ihm reichlich einschenken, so daß ihm endlich die Zunge so +schwer wurde, daß er kein Wort mehr entgegnen, und auch nicht verstehen +konnte, was der Hausherr sagte. Binnen kurzem schlief er auf seinem +Stuhle ein, und wußte nicht mehr, was mit ihm vorging. + +In seinem schlaftrunkenen Zustande hatte er wunderbare bunte Träume, in +welchen ihm unaufhörlich die Goldbarren vorschwebten. Da er sich im +Traume viel stärker fühlte, nahm er ein paar Goldbarren auf den Rücken +und trug sie mit Leichtigkeit davon. Endlich ging ihm aber doch unter +der schweren Last die Kraft aus, er mußte sich niedersetzen und Athem +schöpfen. Da hörte er schäkernde Stimmen, er hielt es für den Gesang der +kleinen Schmiede; auch das helle Feuer von ihren Blasebälgen traf sein +Auge. Als er blinzelnd aufschaute, sah er um sich her grünen Wald, er +lag auf blumigem Rasen und kein Feuer von Blasebälgen, sondern der +Sonnenstrahl war es, was ihm freundlich in's Gesicht schien. Er riß sich +nun vollends aus den Banden des Schlafes los, aber es dauerte eine Zeit +lang, ehe er sich auf das besinnen konnte, was ihm in der Zwischenzeit +begegnet war. + +Als endlich seine Erinnerungen wieder wach wurden, schien ihm Alles so +seltsam und so wunderbar, daß er es mit dem natürlichen Lauf der Dinge +nicht zu reimen wußte. Hans besann sich, wie er im Winter einige Tage +nach Weihnacht in einer stürmigen Nacht vom Wege abgekommen war, und +auch was sich später zugetragen hatte, tauchte wieder in seiner +Erinnerung auf. Er hatte die Nacht mit einem fremden Manne an einem +Feuer geschlafen, war am andern Tage zu diesem Manne, der einen +Tannenstock führte, zu Gast gegangen, hatte dort zu Mittag gegessen und +sehr viel getrunken -- kurz er hatte ein paar Tage in Saus und Braus +verlebt. Aber jetzt war doch rings um ihn her vollständiger Sommer, es +konnte also nur Zauberei im Spiele sein. Als er sich erhob, fand er +ganz in der Nähe eine alte Feuerstelle, welche in der Sonne wunderbar +glänzte. Als er die Stätte schärfer in's Auge faßte, sah er, daß der +vermeintliche Aschenhaufe feiner Silberstaub und die übrig gebliebenen +Brände lichtes Gold waren. O dieses Glück. Woher nun einen Sack nehmen, +um den Schatz nach Hause zu tragen? Die Noth macht erfinderisch. Hans +zog seinen Winterpelz aus, fegte die Silberasche zusammen, daß auch kein +Stäubchen übrig blieb, that die Goldbrände und das Zusammengefegte in +den Pelz und band dann die Zipfel desselben mit seinem Gürtel zusammen, +so daß nichts herausfallen konnte. Obwohl die Bürde nicht groß war, so +wurde sie ihm doch gehörig schwer, so daß er wie ein Mann zu schleppen +hatte, ehe er einen passenden Platz fand, um seinen Schatz zu +verstecken. + +Auf diese Weise war Hans durch ein unverhofftes Glück plötzlich zum +reichen Manne geworden, der sich wohl ein Landgut hätte kaufen können. +Als er aber mit sich zu Rathe ging, hielt er es zuletzt für das Beste, +seinen alten Wohnort zu verlassen, und sich weiter weg einen neuen +auszusuchen, wo die Leute ihn nicht kannten. Dort kaufte er sich denn +ein hübsches Grundstück, und es blieb ihm noch ein gut Stück Geld übrig. +Dann nahm er eine Frau und lebte als reicher Mann glücklich bis an sein +Ende. Vor seinem Tode hatte er seinen Kindern das Geheimniß entdeckt, +wie es der Unterirdischen Wirth gewesen, der ihn reich gemacht. Aus dem +Munde der Kinder und Kindeskinder verbreitete sich dann die Geschichte +weiter. + +[Fußnote 79: Die Unterirdischen (=ma-alused=) »die geheimen Schmiede +Allvaters« schaffen bei nächtlicher Weile und ruhen am Tage. Legt man +zwischen Weihnacht und Neujahr um Mitternacht das Ohr an die Erde, so +hört man das Schmieden der als Zwerge gedachten Unterirdischen -- ja man +unterscheidet, ob Eisen, Silber oder Gold bearbeitet wird. In der +Neujahrsnacht werden sie sichtbar und treiben mit dem nächtlichen +Wanderer Schabernack. Da die Unterirdischen in der Weihnachts- und +Neujahrsnacht auch in menschlicher Gestalt erscheinen, so ist man +gastfrei gegen jeden Unbekannten; läßt auch den Tisch mit Speisen +besetzt stehen und verschließt die Speisekammer nicht. Nach _Rußwurm_, +Sagen aus Hapsal und der Umgegend, Reval 1846, S. 20, erhalten die +Unterirdischen, was am Sonnabend Abend oder Donnerstag Abend ohne Licht +gearbeitet wird. Die Unterirdischen verlieben sich zuweilen in schöne +Mädchen, woraus beiden Theilen Leid und Unheil erwächst. Die verlassenen +Bräute hören noch Wochenlang das nächtliche Wehklagen der Geister, und +werden von diesen geplagt, wenn sie später Verbindungen mit ihres +Gleichen eingehen. + +Die Unterirdischen wollen nicht gestört sein; wer sich (erhitzt!) auf +den feuchten Boden setzt, unter welchem sie gerade hausen, wird mit +einem Hautausschlag bestraft, der Erdhauch (norweg. =alvgust=, Elb-, +Elf-Hauch) oder Erdzorn heißt, und den man heilt, indem man die Urheber +durch ein Opfer von geschabtem Silber besänftigt. (Nach _Kreutzwald_ und +_Neus_.) + +Die finnischen =maahiset=, denen diese ehstnischen Unterirdischen +(=ma-alused=) entsprechen, bezeichnen nach =Castrén= (finn. Mythol. S. 169) +eine eigene Art von Naturgeistern, die sich in der Erde, unter Bäumen, +Steinen und Schwellen aufhalten; es sind unsichtbare aber +menschenähnliche Zwerge reizbarer Natur, die mit Hautkrankheit strafen. +Man ehrt und nährt sie. -- Mit den Haus- und Schutzgeistern hängen die +finnischen und ehstnischen Unterirdischen nicht zusammen, wenn auch in +ehstnischen Beschwörungsformeln die Schlange als Unterirdische +bezeichnet wird, und wenn auch der Schlangencultus noch vor nicht gar +langer Zeit geübt wurde. L.] + +[Fußnote 80: S. d. Anm. zum Märchen 6, die zwölf Töchter, S. 89. L.] + + + + +18. Der Nordlands-Drache + + +Vormals lebte, der Erzählung alter Leute zufolge, ein gräuliches +Unthier, das aus Nordland gekommen war, schon große Landstriche von +Menschen und Thieren entblößt hatte, und allmählich, wenn Niemand +Abhülfe gebracht hätte, alles Lebendige vom Erdboden vertilgt haben +würde. + +Es hatte einen Leib wie ein Ochs und Beine wie ein Frosch, nämlich zwei +kurze vorn und zwei lange hinten, ferner einen schlangenartigen zehn +Klafter langen Schweif; es bewegte sich wie ein Frosch, legte aber mit +jedem Sprunge eine halbe Meile zurück. Zum Glücke blieb es an dem Orte, +wo es sich einmal niedergelassen hatte, mehrere Jahre, und zog nicht +eher weiter, als bis die ganze Umgegend kahl gefressen war. Der Leib war +über und über mit Schuppen bedeckt, welche fester waren als Stein und +Erz, so daß Nichts ihn beschädigen konnte. Die beiden großen Augen +funkelten bei Nacht und bei Tage wie die hellsten Kerzen, und wer einmal +das Unglück hatte, in ihren Glanz hinein zu blicken, der war wie +bezaubert, und mußte von selbst dem Ungeheuer in den Rachen laufen. So +kam es, daß sich ihm Thiere und Menschen selber zum Fraße lieferten, +ohne daß es sich von der Stelle zu rühren brauchte. Die Könige der +Umgegend hatten demjenigen überaus reichen Lohn verheißen, der durch +Zauber oder durch andere Gewalt das Ungeheuer vertilgen könnte, und +Viele hatten schon ihr Heil versucht, aber ihre Unternehmungen waren +alle gescheitert. So wurde einst ein großer Wald, in welchem das +Ungeheuer hauste, in Brand gesteckt; der Wald brannte nieder, aber dem +schädlichen Thiere konnte das Feuer nicht das Mindeste anhaben. +Allerdings sagten Ueberlieferungen, die im Munde alter Leute waren, daß +Niemand auf andere Weise des Ungeheuers Herr werden könne, als durch des +Königs Salomo Siegelring; auf diesem sei eine Geheimschrift eingegraben, +aus welcher man erfahre, wie das Unthier umgebracht werden könne. Allein +Niemand wisse zu melden, wo jetzt der Ring verborgen sei, und eben so +wenig sei ein Zauberer zu finden, der die Schrift deuten könne. + +Endlich entschloß sich ein junger Mann, der Herz und Kopf auf dem +rechten Flecke hatte, auf gut Glück den Spuren des Ringes +nachzuforschen. Er schlug den Weg gen Morgen ein, allwo vornehmlich die +Weisheit der Vorzeit zu finden ist. Erst nach einigen Jahren traf er mit +einem berühmten Zauberer des Ostens zusammen und fragte ihn um Rath. Der +Zauberer erwiederte: »Das Bischen Klugheit der Menschen kann dir hier +nichts helfen, aber Gottes Vögel unter dem Himmel werden dir die besten +Führer sein, wenn du ihre Sprache erlernen willst. Ich kann dir dazu +verhelfen, wenn du einige Tage bei mir bleiben willst.« Der Jüngling +nahm das freundliche Anerbieten mit Dank an und sagte: »Für jetzt bin +ich freilich nicht im Stande, dich für deine Wohlthat zu beschenken, +fällt aber mein Unternehmen glücklich aus, so werde ich dir deine Mühe +reichlich vergelten.« Nun kochte der Zauberer aus neunerlei Kräutern, +die er heimlich bei Mondenschein gesammelt hatte, einen kräftigen Trank +und gab davon dem Jünglinge drei Tage hintereinander neun Löffel täglich +zu trinken, was zur Folge hatte, daß ihm die Vogelsprache verständlich +wurde. Beim Abschiede sagte der Zauberer: »Solltest du das Glück haben, +Salomonis Ring zu entdecken und desselben habhaft zu werden, so komm zu +mir zurück, damit ich dir die Schrift auf dem Ringe deute, denn es lebt +jetzt außer mir Keiner, der das vermöchte.« + +Schon am nächsten Tage fand der Jüngling die Welt wie verwandelt, er +ging nirgends mehr allein, sondern hatte überall Gesellschaft, weil er +die Vogelsprache verstand, durch welche ihm Vieles offenbar wurde, was +menschliche Einsicht ihn nicht hätte lehren können. Aber geraume Zeit +verfloß, ohne daß er von dem Ringe etwas gehört hätte. Da geschah es +eines Abends, als er vom Gang und der Hitze ermüdet, sich zeitig im +Walde unter einem Baume niedergelassen hatte, um sein Abendbrot zu +verzehren, daß auf hohem Wipfel zwei buntgefiederte fremde Vögel ein +Gespräch mit einander führten, welches ihn betraf. Der erste Vogel +sagte: »Ich kenne den windigen Herumtreiber unter dem Baume da, der +schon so lange wandert, ohne die Spur zu finden. Er sucht den verlorenen +Ring des Königs Salomo.« Der andere Vogel erwiederte: »Ich glaube, er +müßte bei der Höllenjungfrau Hülfe suchen, die wäre gewiß im Stande ihm +auf die Spur zu helfen. Wenn sie den Ring auch nicht selbst hat, so weiß +sie doch ganz genau, wer das Kleinod jetzt besitzt.« Der erste Vogel +versetzte: »Das wäre schon recht, aber wo soll er die Höllenjungfrau +auffinden, die nirgends eine bleibende Stätte hat, sondern heute hier +und morgen dort wohnt: eben so gut könnte er die Luft fest halten!« Der +andere Vogel erwiederte: »Ihren gegenwärtigen Aufenthalt weiß ich zwar +nicht anzugeben, aber heute binnen drei Tagen kommt sie zur Quelle, ihr +Gesicht zu waschen, wie sie jeden Monat in der Nacht des Vollmonds thut, +damit die Jugendschöne nie von ihren Wangen schwinde und die Runzeln des +Alters ihr Antlitz nicht zusammenziehen.« Der erste Vogel sagte: »Nun, +die Quelle ist nicht weit von hier; wollen wir des Spaßes halber ihr +Treiben mit ansehen?« »Meinethalben, wenn du willst,« gab der andere +Vogel zur Antwort. -- Der Jüngling war gleich entschlossen, den Vögeln +zu folgen und die Quelle aufzusuchen, doch machte ihn zweierlei besorgt, +erstens, daß er die Zeit verschlafen könne, wo die Vögel aufbrächen, und +zweitens, daß er keine Flügel hatte, um dicht hinter ihnen zu bleiben. +Er war zu sehr ermüdet, um die ganze Nacht wach zu bleiben, die Augen +fielen ihm zu. Aber die Sorge ließ ihn doch nicht ruhig schlafen, er +wachte öfters auf, um den Aufbruch der Vögel nicht zu verpassen. Darum +freute er sich sehr, als er bei Sonnenaufgang zum Wipfel hinauf blickte +und die buntgefiederten Gesellen noch sah, wie sie unbeweglich saßen, +mit den Schnäbeln unter den Federn. Er verzehrte sein Frühstück und +wartete dann, daß die Vögel aufbrechen sollten. Aber sie schienen +diesen Morgen nirgends hin zu wollen, sie flatterten, wie zur Kurzweil +oder um Nahrung zu suchen, von einem Wipfel zum andern und trieben das +so fort bis zum Abend, wo sie sich an der alten Stelle zur Ruhe begaben. +Eben so ging es noch den folgenden Tag. Erst am Mitmorgen des dritten +Tages sagte der eine Vogel zum andern. »Heute müssen wir zur Quelle, um +zu sehen, wie sich die Höllenjungfrau ihr Antlitz wäscht.« Bis Mittag +blieben sie noch, dann flogen sie davon und nahmen ihren Weg gerade gen +Süden. Dem Jüngling klopfte das Herz vor Furcht, seine Führer aus dem +Gesicht zu verlieren. Aber die Vögel waren nicht weiter geflogen, als +sein Gesichtskreis reichte, und hatten sich dann auf einem Baumwipfel +niedergelassen. Der Jüngling rannte ihnen nach, daß seine Haut dampfte +und ihm der Athem zu stocken drohte. Nach dreimaligem Ausruhen kamen die +Vögel auf eine kleine Fläche, an deren Rande sie sich auf einem hohen +Baumwipfel niederließen. Als der Jüngling nach ihnen dort anlangte, +gewahrte er mitten in der Fläche eine Quelle; er setzte sich nun unter +denselben Baum, auf dessen Wipfel die Vögel sich aufhielten. Dann +spitzte er seine Ohren, um zu vernehmen, was die gefiederten Geschöpfe +miteinander redeten. + +»Die Sonne ist noch nicht unter« -- sagte der eine Vogel -- »wir müssen +noch eine Weile warten, bis der Mond aufgeht, und die Jungfrau zur +Quelle kommt. Wollen doch sehen, ob sie den Jüngling unter dem Baume +bemerkt?« Der andere Vogel erwiderte: »Ihrem Auge entgeht wohl Nichts, +was nach einem jungen Manne riecht, Sollte der Jüngling verschlagen +genug sein, um nicht in ihr Garn zu gehen?« Worauf der erste Vogel +sagte: »Wir werden ja sehen, wie sie miteinander fertig werden.« + +Der Abend war schon vorgerückt, der Vollmond stand schon hoch über dem +Walde, da hörte der Jüngling ein leises Geräusch: nach einigen +Augenblicken trat aus dem Walde eine Maid hervor, und schritt flüchtigen +Fußes, so daß ihre Sohlen den Boden nicht zu berühren schienen, über den +Rasen zur Quelle. Der Jüngling mußte sich gestehen, daß er in seinem +Leben noch kein schöneres Weib gesehen habe, und mochte kein Auge mehr +von der Jungfrau verwenden. + +Diese ging, ohne seiner zu achten, zur Quelle, hob die Augen zum Monde +empor, fiel auf die Knie, tauchte neun Mal ihr Antlitz in die Quelle, +blickte nach jedem Male den Mond an und rief: »Vollwangig und hell, wie +du jetzt bist, möge auch meine Schönheit blühen unvergänglich!« Dann +ging sie neun Mal um die Quelle und sang nach jedem Gange: + + »Nicht der Jungfrau Antlitz welke, + Nie der Wangen Roth erbleiche, + Ob der Mond auch wieder schwinde, + Möge ich doch immer wachsen, + Mir das Glück stets neu erblühen!« + +Darauf trocknete sie sich mit ihren langen Haaren das Gesicht ab, und +wollte von dannen gehen, als ihre Augen plötzlich auf die Stelle fielen, +wo der Jüngling unter dem Baume saß. Sogleich wandte sie ihre Schritte +dahin. Der junge Mann erhob sich und blieb in Erwartung stehen. Die +schöne Maid kam näher und sagte: »Eigentlich müßtest du einer schweren +Strafe verfallen, daß du der Jungfrau heimliches Thun im Mondschein +belauscht hast; aber da du fremd bist und zufällig herkamst, so will ich +dir verzeihen. Doch mußt du mir wahrheitsgetreu bekennen, woher du bist +und wie du hierher kamst, wohin bisher noch kein Sterblicher seinen Fuß +gesetzt hat?« Der Jüngling antwortete mit vielem Anstande: »Vergebet, +theure Jungfrau, wenn ich ohne Wissen und Willen gegen euch gefehlt +habe. Da ich nach langer Wanderung hierher gerieth, fand ich den schönen +Platz unter dem Baume, und wollte da mein Nachtlager nehmen. Eure +Ankunft ließ mich zögern, so blieb ich sitzen, weil ich glaubte, daß +stilles Schauen euch nicht nachtheilig werden könne.« Die Jungfrau +versetzte liebreich: »Komm zur Nacht zu uns! Auf Kissen ruht es sich +besser als hier auf kühlem Moose.« Der Jüngling stand ein Weilchen +zweifelnd, und wußte nicht, was er thun solle, ob das freundliche +Anerbieten annehmen oder zurückweisen. Da sprach auf dem Baumwipfel ein +Vogel zum andern. »Er wäre ein Thor, wenn er sich das Anerbieten nicht +gefallen ließe.« Die Jungfrau, die der Vogelsprache wohl nicht kundig +war, sagte mit freundlicher Mahnung: »Fürchte nichts, mein Freund! ich +lade dich nicht in böser Absicht ein, ich wünsche dir von ganzem Herzen +Gutes.« Die Vögel sagten hinterdrein: »geh', wohin man dich ruft, aber +hüte dich, Blut zu geben, um deine Seele nicht zu verkaufen.« + +Nun ging der Jüngling mit ihr. Nicht weit von der Quelle kamen sie in +einen schönen Garten, in welchem ein prächtiges Wohnhaus stand, das im +Mondschein schimmerte, als wären Dach und Wände aus Gold und Silber +gegossen. Als der Jüngling hineintrat, fand er viele prachtvolle +Gemächer, eins immer schöner als das andere; viele hundert Kerzen +brannten auf goldenen Leuchtern und verbreiteten überall eine Helligkeit +wie die des Tages. Darauf gelangten sie in ein Gemach, wo eine mit +köstlichen Speisen besetzte Tafel sich befand; an der Tafel standen zwei +Stühle, der eine von Silber, der andere von Gold; die Jungfrau ließ sich +auf den goldenen Stuhl nieder, und bat den Jüngling, sich auf den +silbernen zu setzen. Weißgekleidete Mädchen trugen die Speisen auf und +räumten sie wieder ab, wobei aber kein Wort gesprochen wurde, auch +traten die Mädchen so leise auf, als gingen sie auf Katzenpfoten. Nach +Tisch, als der Jüngling mit der königlichen Jungfrau allein geblieben +war, wurde ein anmuthiges Gespräch geführt, bis endlich ein Frauenzimmer +in rother Kleidung erschien, um zu erinnern, daß es Zeit sei, sich +schlafen zu legen. + +Da führte die Jungfrau den Jüngling in eine andere Kammer, wo ein +seidenes Bett mit Daunenkissen stand; sie wies es ihm und entfernte +sich. Der Jüngling meinte bei lebendigem Leibe im Himmel zu sein, auf +Erden sei solch' ein Leben nicht zu finden. Nur darüber wußte er später +keine Rechenschaft zu geben, ob ihn Träume getäuscht, oder ob er +wirklich Stimmen an seinem Bette vernommen hätte, welche ihm ein Wort +zuriefen, das sein Herz erschreckte: »Gieb kein Blut!« + +Am andern Morgen fragte ihn die Jungfrau, ob er nicht Lust habe hier zu +bleiben, wo die ganze Woche aus lauter Feiertagen bestehe. Und als der +Jüngling auf die Frage nicht gleich Antwort gab, setzte sie hinzu: »Ich +bin, wie du selbst siehst, jung und blühend, und ich stehe unter +Niemandes Botmäßigkeit, sondern kann thun, was mir beliebt. Bisher ist +es mir noch nie in den Sinn gekommen zu heiraten, aber von dem +Augenblicke an, wo ich dich erblickte, stiegen mir plötzlich andere +Gedanken auf, denn du gefällst mir. Sollten nun unsere Gedanken +übereinstimmen, so könnte ein Paar aus uns werden. Hab' und Gut besitze +ich unendlich viel, wie du dich selber auf Schritt und Tritt überzeugen +kannst, und so kann ich Tag für Tag königlich leben. Was dein Herz nur +begehrt, kann ich dir gewähren.« Wohl drohte die Schmeichelrede der +schönen Maid des Jünglings Sinn zu verwirren, aber zu seinem Glücke fiel +ihm ein, daß die Vögel sie die Höllenjungfrau genannt und ihn gewarnt +hatten, daß er ihr Blut gebe, und daß er auch in der Nacht, sei es +träumend oder wachend, dieselbe Warnung vernommen habe. Darum erwiederte +er: »Theure Jungfrau, verargt es mir nicht, wenn ich euch ganz +aufrichtig gestehe, daß man das Freien nicht abmachen kann wie einen +Roßkauf, sondern daß es dazu längerer Ueberlegung bedarf. Vergönnt mir +deshalb einige Tage Bedenkzeit, dann wollen wir uns darüber +verständigen.« »Warum nicht,« erwiederte die schöne Maid -- meinethalben +kannst du dich einige Wochen bedenken und mit deinem Herzen zu Rathe +gehen.« + +Damit nun dem Jünglinge inzwischen die Zeit nicht lang würde, führte ihn +die Jungfrau von einer Stelle ihres prächtigen Hauses zur andern, und +zeigte ihm all' die reichen Schatzkammern und Truhen, welche sein Herz +erweichen sollten. All' diese Schätze waren aber durch Zauberei +entstanden, denn die Jungfrau konnte mit Hülfe des Salomonischen +Siegelringes alle Tage und an jedem Orte eine solche Wohnung nebst allem +Zubehör hervorbringen, aber das Alles hatte keine Dauer, es war vom +Winde hergeweht, und ging auch wieder in den Wind, ohne eine Spur +zurückzulassen.[81] Da der Jüngling das aber nicht wußte, so hielt er +das Blendwerk für Wirklichkeit. Eines Tages führte ihn die Jungfrau in +eine verborgene Kammer, wo auf einem silbernen Tische ein goldenes +Schächtelchen stand. Auf das Schächtelchen zeigend sagte sie: »Hier +steht mein theuerster Schatz, dessen Gleichen auf der ganzen Welt nicht +zu finden ist, es ist ein kostbarer goldener Ring. Wenn du mich freien +solltest, so würde ich dir diesen Ring zum Mahlschatz geben, und er +würde dich zum glücklichsten aller Menschen machen. Damit aber das Band +unserer Liebe ewige Dauer erhalte, mußt du mir dann für den Ring drei +Tropfen Blut von dem kleinen Finger deiner linken Hand geben.« + +Als der Jüngling diese Rede hörte, überlief es ihn kalt; daß sie sich +Blut ausbedang, erinnerte ihn daran, daß er seine Seele aufs Spiel +setze. Er war aber schlau genug, sich nichts merken zu lassen, und auch +keine Einwendung zu machen, vielmehr fragte er, wie beiläufig, was es +für eine Bewandniß mit dem Ringe habe. Die Jungfrau erwiederte: »Kein +Lebendiger ist bis jetzt im Stande gewesen, die Kraft dieses Ringes ganz +zu ergründen, weil keiner die geheimen Zeichen desselben vollständig zu +deuten wußte. Aber schon mit dem halben Verständniß vermag ich Wunder zu +verrichten, welche mir kein anderes Wesen nachmachen kann. Stecke ich +den Ring auf den kleinen Finger meiner linken Hand, so kann ich mich wie +ein Vogel in die Luft schwingen, und hinfliegen wohin ich will. Stecke +ich den Ring auf den Ringfinger meiner linken Hand, so bin ich sogleich +für Alle unsichtbar, mich selbst und Alles, was mich umgiebt, sehe ich, +aber die Andern sehen mich nicht. Stecke ich den Ring an den +Mittelfinger meiner linken Hand, dann kann mir kein scharfes Werkzeug, +noch Wasser und Feuer etwas anhaben. Stecke ich den Ring an den +Zeigefinger meiner linken Hand, dann kann ich mir mit seiner Hülfe alle +Dinge schaffen, die ich begehre; ich kann in einem Augenblicke Häuser +aufbauen und sonstige Gegenstände hervorbringen. So lange endlich der +Ring am Daumen der linken Hand sitzt, ist die Hand so stark, daß sie +Felsen und Mauern brechen kann.[82] Außerdem trägt der Ring noch andere +geheime Zeichen, welche, wie gesagt, bis heute noch Niemand zu deuten +wußte; doch läßt sich denken, daß sie noch viele wichtige Geheimnisse +enthalten. Der Ring war vor Alters Eigenthum des Königs Salomo, des +weisesten der Könige, unter dessen Regierung die weisesten Männer +lebten. Doch ist es bis auf den heutigen Tag nicht kund geworden, ob der +Ring durch göttliche Kraft oder durch Menschenhände entstanden ist; es +wird behauptet, daß ein Engel dem weisen Könige den Ring geschenkt +habe.« Als der Jüngling die Schöne so reden hörte, war sein erster +Gedanke, sich des Ringes durch List zu bemächtigen, er that deshalb, als +ob er das Gehörte durchaus nicht für wahr halten könne. So hoffte er die +Jungfrau zu bewegen, daß sie den Ring aus dem Schächtelchen nehme und +ihm zeige -- wobei er dann vielleicht Gelegenheit fände, sich des +Wunderringes zu bemächtigen. Er wagte aber nicht, die Jungfrau geradezu +darum zu bitten, daß sie ihm den Ring zeige. Er umschmeichelte sie und +geberdete sich zärtlich, aber sein Herz sann nur darauf, in den Besitz +des Ringes zu gelangen. Schon nahm die Jungfrau den Schlüssel zum +Kästchen aus dem Busen, um es aufzuschließen, aber sie steckte ihn +wieder zu sich und sagte: »Dazu haben wir künftig noch Zeit genug.« Ein +Paar Tage darauf kam die Rede wieder auf den Wunderring, und der +Jüngling sagte: »Nach meinem Dafürhalten sind solche Dinge, wie ihr sie +mir von der Kraft eures Ringes erzählt, schlechterdings nicht möglich.« +Da öffnete die Jungfrau das Schächtelchen und nahm den Ring heraus, der +zwischen ihren Fingern blitzte wie der hellste Sonnenstrahl. Dann +steckte sie ihn zum Spaße an den Mittelfinger ihrer linken Hand und +sagte dem Jüngling, er solle ein Messer nehmen und damit auf sie +losstechen wohin er wolle, denn es könne ihr doch nicht schaden. Der +Jüngling sträubte sich gegen dies bedenkliche Beginnen, als aber die +Jungfrau nicht abließ, mußte er sich fügen. Obwohl er nun, anfangs mehr +spielend, dann aber ernsthaft, auf alle Weise die Jungfrau mit dem +Messer zu treffen suchte, so war es doch, als ob eine unsichtbare Wand +von Eisen zwischen Beiden stünde; die Schneide konnte nicht eindringen, +und die Jungfrau stand lachend und unbewegt vor ihm. Darauf steckte sie +den Ring an ihren Ringfinger, und war im Nu den Blicken des Jünglings +entschwunden, so daß dieser durchaus nicht begreifen konnte, wohin sie +gekommen war. Bald stand sie wieder lachend vor ihm auf der alten +Stelle, den Ring zwischen den Fingern haltend. »Laßt doch sehen« -- bat +der Jüngling -- »ob es mir auch möglich ist, so seltsame Dinge mit dem +Ringe zu machen?« Die Jungfrau, welche keinen Betrug ahndete, gab ihm +den Wunderring. + +Der Jüngling that, als wisse er noch nicht recht Bescheid, und fragte: +»An welchen Finger muß ich den Ring stecken, damit mir ein scharfes +Werkzeug nicht schaden könne?« -- Worauf die Jungfrau lachend +erwiederte: »An den Mittelfinger der linken Hand!« Sie nahm dann selbst +das Messer und suchte damit zu stoßen, konnte aber dem Jüngling keinen +Schaden thun. Darauf nahm dieser das Messer und versuchte sich selber zu +beschädigen, aber es war auch ihm unmöglich. Darauf bat er die Jungfrau, +ihm zu zeigen, wie er mit dem Ringe Steine und Felsen spalten könne. Sie +führte ihn in den Hof, wo ein klafterhoher Kiesel lag. »Jetzt stecke den +Ring« -- so unterwies ihn die Jungfrau -- »an den Daumen deiner linken +Hand, und schlage dann mit der Faust auf den Stein, und du wirst sehen, +welche Kraft in deiner Hand liegt.« Der Jüngling that es und sah zu +seinem Erstaunen, wie der Stein unter dem Schlage seiner Hand in tausend +Trümmer barst. Da dachte der Jüngling, wer das Glück nicht bei den +Hörnern zu fassen weiß, der ist ein Thor, denn einmal entflohen, kehrt +es nicht zurück. Während er noch über die Zertrümmerung des Steines +scherzte, steckte er wie spielend den Ring an den Ringfinger seiner +linken Hand. Da rief die Jungfrau: »Jetzt bist du für mich so lange +unsichtbar, bis du den Ring abziehst.« Aber das zu thun war der Jüngling +nicht gesonnen, vielmehr ging er rasch einige Schritte weiter, steckte +dann den Ring an den kleinen Finger der linken Hand, und schwang sich in +die Höhe wie ein Vogel. Als die Jungfrau ihn davon fliegen sah, hielt +sie Anfangs auch diesen Versuch für bloßen Scherz, und rief: »Komm +zurück, mein Freund! Jetzt hast du gesehen, daß ich dir die Wahrheit +gesagt habe!« Aber wer nicht zurückkam, war der Jüngling; da merkte die +Jungfrau den Betrug, und brach in bittere Klagen aus über ihr Unglück. + +Der Jüngling hielt seinen Flug nicht eher an, als bis er nach einigen +Tagen wieder zu dem berühmten Zauberer gekommen war, bei welchem er die +Vogelsprache gelernt hatte. Der Zauberer war außerordentlich froh, daß +des Mannes Wanderung so guten Erfolg gehabt hatte. Er machte sich +sogleich daran, die geheime Schrift auf dem Ringe zu deuten, er brauchte +aber sieben Wochen ehe er damit zu Stande kam. Darauf gab er dem +Jünglinge folgende Auskunft, wie der Nordlands-Drache zu vertilgen sei: +»Du mußt dir ein eisernes Pferd gießen lassen, das unter jedem Fuße +kleine Räder hat, so daß man es vorwärts und rückwärts schieben kann. +Dann mußt du aufsitzen und dich mit einem eisernen zwei Klafter langen +Speere bewaffnen, den du freilich nur führen kannst, wenn der Wunderring +am Daumen deiner linken Hand steckt. Der Speer muß in der Mitte die +Dicke einer mäßigen Birke haben und seine beiden Enden müssen gleich +scharf sein. In der Mitte des Speeres mußt du zwei starke zehn Klafter +lange Ketten befestigen, die stark genug sind, den Drachen zu halten. +Sobald der Drache sich in den Speer fest gebissen hat, so daß dieser ihm +die Kinnlade durchbohrt, mußt du wie der Wind vom Eisenroß herunter +springen, um dem Unthier nicht in den Rachen zu fallen, und mußt die +Enden der Ketten mit eisernen Pflöcken dergestalt in die Erde rammen, +daß keine Gewalt sie herausziehen kann. Nach drei oder vier Tagen ist +die Kraft des Unthiers so weit erschöpft, daß du dich ihm nähern kannst, +dann stecke Salomos Kraftring an den Daumen deiner linken Hand, und +schlage es vollends todt. Bis du aber herangekommen bist, muß der Ring +am Ringfinger deiner linken Hand stecken, damit das Unthier dich nicht +sehen kann, sonst würde es dich mit seinem langen Schwanze todt +schlagen. Wenn du Alles vollbracht hast, trage Sorge, daß du den Ring +nicht verlierst, und daß dir auch Niemand mit List das Kleinod +entwende.« + +Unser Freund dankte dem Zauberer für die Belehrung und versprach, ihn +später für seine Mühe zu belohnen. Aber der Zauberer erwiederte: »Ich +habe aus der Entzifferung der Geheimschrift des Ringes so viel +Zauberweisheit geschöpft, daß ich keines anderen Gutes weiter bedarf.« +So trennten sie sich, und der Jüngling eilte nach Hause, was ihm nicht +mehr schwer wurde, da er wie ein Vogel fliegen konnte wohin er wollte. + +Als er nach einigen Wochen in der Heimath anlangte, hörte er von den +Leuten, daß der gräuliche Nordlands-Drache schon in der Nähe sei, so daß +er jeden Tag über die Grenze kommen könne. Der König ließ überall +bekannt machen, daß er demjenigen, der dem Unthier das Garaus machen +würde, nicht nur einen Theil seines Königreiches schenken, sondern auch +seine Tochter zur Frau geben wolle. Nach einigen Tagen trat unser +Jüngling vor den König und erklärte, er hoffe das Unthier zu vernichten, +wenn der König Alles wolle anfertigen lassen, was dazu erforderlich sei. +Der König ging mit Freuden darauf ein. Es wurden nun sämmtliche +geschickte Meister aus der Umgegend zusammenberufen, die mußten erst das +Eisenpferd gießen, dann den großen Speer schmieden, und endlich auch die +eisernen Ketten, deren Ringe zwei Zoll Dicke hatten. Als aber Alles +fertig war, fand es sich, daß das eiserne Pferd so schwer war, daß +hundert Männer es nicht von der Stelle bringen konnten. Da blieb dem +Jüngling nichts übrig, als mit Hülfe seines Kraftringes das Pferd allein +fort zu bewegen. + +Der Drache war keine Meile mehr entfernt, so daß er mit ein Paar +Sprüngen über die Grenze setzen konnte. Der Jüngling überlegte nun, wie +er allein mit dem Unthier fertig werden solle, denn da er das schwere +Eisenpferd von hinten her schieben mußte, so konnte er sich nicht +aufsetzen, wie es der Zauberer vorgeschrieben hatte. Da belehrte ihn +unerwartet eines Raben Schnabel: »Setze dich auf das Eisenpferd, und +stemme den Speer gegen den Boden, als wolltest du einen Kahn vom Ufer +abstoßen.« Der Jüngling machte es so und fand, daß er auf diese Weise +vorwärts kommen könne. Das Ungeheuer sperrte schon von Weitem den Rachen +auf, um die erwartete Beute zu vertilgen. Noch einige Klafter, so wären +Mann und Eisenroß im Rachen des Unthiers gewesen. Der Jüngling bebte vor +Entsetzen und das Herz erstarrte ihm zu Eis, allein er ließ sich nicht +verwirren, sondern stieß mit aller Kraft zu, so daß der eiserne Speer, +den er aufrecht in der Hand hielt, den Rachen des Unthiers durchbohrte. +Dann sprang er vom Eisenroß und wandte sich schnell wie der Blitz, als +das Unthier die Kinnladen zusammenklappte. Ein gräßliches Gebrüll, das +viele Meilen weit erscholl, gab den Beweis, daß der Nordlands-Drache +sich festgebissen hatte. Als der Jüngling sich umwandte, sah er eine +Spitze des Speers Fuß lang aus der oberen Kinnlade hervorragen, und +schloß daraus, daß die andere im Boden fest steckte. Das Eisenroß aber +hatte der Drache mit seinen Zähnen zermalmt. Jetzt eilte der Jüngling, +die Ketten am Boden zu befestigen, wozu starke Eisenpflöcke von mehreren +Klaftern Länge in Bereitschaft gesetzt waren. + +Der Todeskampf des Ungeheuers dauerte drei Tage und drei Nächte: wenn es +sich bäumte, schlug es so gewaltig mit dem Schwanze gegen den Boden, daß +die Erde auf zehn Meilen weit bebte. Als es endlich den Schwanz nicht +mehr rühren konnte, hob der Jüngling mit Hülfe des Ringes einen Stein +auf, den zwanzig Männer nicht hätten bewegen können, und schlug damit +dem Thiere so lange auf den Kopf, bis es kein Lebenszeichen mehr von +sich gab. + +Grenzenlos war überall der Jubel, als die Botschaft kam, daß der +schlimme Feind sein Ende gefunden. --Der Sieger wurde in der Königsstadt +mit großen Ehrenbezeugungen empfangen, als wäre er der mächtigste +König. Der alte König brauchte auch seine Tochter nicht zur Heirath zu +zwingen, sondern diese verlangte selber, sich dem starken Manne zu +vermählen, der allein ausgerichtet hatte, was die Andern auch mit einer +ganzen Armee nicht vermochten. Nach einigen Tagen wurde eine prachtvolle +Hochzeit gefeiert, welche vier Wochen lang dauerte, und zu welcher alle +Könige der Nachbarländer sich versammelt hatten, um dem Manne zu danken, +der die Welt von ihrem schlimmsten Feinde befreit hatte. Allein über dem +Hochzeitsjubel und der allgemeinen Freude hatte man vergessen, daß des +Ungeheuers Leichnam unbegraben liegen geblieben war, und da er jetzt in +Verwesung überging, so verbreitete er einen solchen Gestank, daß Niemand +sich in die Nähe wagte. Es entstanden Seuchen, welche viele Menschen +hinrafften. Deshalb beschloß der Schwiegersohn des Königs, Hülfe bei dem +Zauberer im Osten zu suchen, was ihm mit seinem Ringe nicht schwer fiel, +weil er auf Vogelschwingen hin fliegen konnte. + +Aber das Sprichwort sagt, unrecht Gut gedeiht nicht, und wie gewonnen, +so zerronnen. Diese Erfahrung sollte auch des Königs Schwiegersohn mit +dem entwendeten Ringe machen. Der Höllenjungfrau ließ es weder Tag noch +Nacht Ruhe, ihrem Ringe wieder auf die Spur zu kommen. Als sie mit Hülfe +von Zauberkünsten erfahren hatte, daß des Königs Schwiegersohn sich in +Vogelgestalt zu dem Zauberer aufmache, verwandelte sie sich in einen +Adler, und kreiste so lange in den Lüften, bis ihr der Vogel, auf den +sie wartete, zu Gesicht kam -- sie erkannte ihn sogleich an dem Ringe, +der ihm an einem Bande um den Hals hing. Da schoß der Adler auf den +Vogel nieder und in demselben Augenblick, wo seine Klauen ihn packten, +hatte er ihm auch mit dem Schnabel den Ring vom Halse gerissen, ehe noch +der Mann in Vogelgestalt etwas dagegen thun konnte. Jetzt ließ der Adler +sich mit seiner Beute zur Erde nieder, und beide standen in ihrer +früheren Menschengestalt neben einander. »Jetzt bist du in meiner Hand, +Frevler!« rief die Höllenjungfrau. -- »Ich nahm dich als meinen +Geliebten auf, und du übtest Betrug und Diebstahl: ist das mein Lohn? Du +nahmst mir mein kostbarstes Kleinod durch List, und hofftest, als +Schwiegersohn des Königs ein glückliches Leben zu führen, aber jetzt hat +sich das Blatt gewandt. Du bist in meiner Gewalt und sollst mir für +allen Frevel büßen.« »Vergebt, vergebt,« bat des Königs Schwiegersohn, +ich weiß wohl, daß ich mich schwer gegen euch vergangen habe, und bereue +meine Schuld von ganzem Herren.« Die Jungfrau erwiederte: »Deine Bitten +und deine Reue kommen zu spät, und Nichts kann dir mehr helfen. Ich darf +dich nicht schonen, das brächte mir Schande und machte mich zum Gespött +der Leute. Zwiefach hast du dich an mir versündigt, erst hast du meine +Liebe verschmäht, und dann meinen Ring entwendet, dafür mußt du Strafe +leiden.« Mit diesen Worten steckte sie den Ring an den Daumen ihrer +linken Hand, nahm den Mann wie eine Hedekunkel auf den Arm und ging mit +ihm von dannen. Diesmal führte ihr Weg nicht in jene prächtige +Behausung, sondern in eine Felsenhöhle, wo Ketten von der Wand herunter +hingen. Die Jungfrau ergriff die Enden der Ketten, und fesselte damit +dem Manne Hände und Füße, so daß Entkommen unmöglich war; dann sagte +sie mit Zorn: »Hier sollst du bis an dein Ende gefangen bleiben. Ich +werde dir täglich so viel Nahrung bringen lassen, daß du nicht Hungers +sterben kannst, aber auf Befreiung darfst du nimmer hoffen.« Damit +verließ sie ihn. + +Der König und seine Tochter verlebten eine schwere Zeit des Kummers, als +Woche auf Woche verging, und der Schwiegersohn weder zurück kam, noch +auch Nachricht von sich gab. Oftmals träumte der Königstochter, daß ihr +Gemahl schwere Pein leiden müsse, sie bat deßhalb ihren Vater, von allen +Seiten her Zauberer zusammenrufen zu lassen, damit sie vielleicht +Auskunft darüber gäben, wo der Verschwundene lebe, und wie er zu +befreien sei. Aber sämmtliche Zauberer konnten nichts weiter berichten, +als daß er noch lebe und schwere Pein leide, keiner wußte den Ort zu +nennen, wo er sich befinde, noch anzugeben, wie man ihn auffinden könne. +Endlich wurde ein berühmter Zauberer aus Finnland vor den König geführt, +der den weiteren Bescheid ertheilen konnte, daß des Königs Schwiegersohn +im Ostlande gefangen gehalten werde, und zwar nicht durch Menschen, +sondern durch ein mächtigeres Wesen. Also schickte der König seine Boten +in der genannten Richtung aus, um den verlorenen Schwiegersohn +aufzusuchen. Glücklicherweise kamen sie zu dem alten Zauberer, der die +Schrift auf Salomonis Siegelring gedeutet und daraus eine Weisheit +geschöpft hatte, die allen Uebrigen verborgen blieb. Dieser Zauberer +fand bald heraus, was er wissen wollte, und sagte: »Den Mann hält man +durch Zaubermacht da und da gefangen, aber ohne meine Hülfe könnt ihr +ihn nicht befreien, ich muß selbst mit euch gehen.« + +Sie machten sich also auf und kamen, von Vögeln geführt, nach einigen +Tagen in die Felsenhöhle, wo des Königs Schwiegersohn jetzt schon beinah +sieben Jahre die schwere Kerkerhaft erduldet hatte. Er erkannte den +Zauberer augenblicklich, dieser aber erkannte ihn nicht, weil er sehr +abgemagert war. Der Zauberer löste durch seine Kunst die Ketten, nahm +den Befreiten zu sich, und pflegte und heilte ihn, bis er wieder kräftig +genug war, um die Reise anzutreten. Er langte an demselben Tage an, wo +der alte König gestorben war, und wurde nun zum Könige erhoben. Jetzt +kamen nach langen Leidenstagen die Freudentage, welche bis an sein Ende +währten; den Wunderring aber erhielt er nicht wieder, -- auch hat ihn +nachmals keines Menschen Auge mehr gesehen. + +[Fußnote 81: Vgl. Anm. zu Märchen 1, die Goldspinnerinnen, S. 11. L.] + +[Fußnote 82: Vgl. Anm. zu S. 110. im Märchen 8. L.] + + + + +19. Das Glücksei. + + +Einmal lebte in einem großen Walde ein armer Mann mit seinem Weibe; Gott +hatte ihnen acht Kinder gegeben, von denen die ältesten schon ihr Brod +bei fremden Leuten verdienten, und so machte es den Eltern gerade nicht +viel Freude, als ihnen im späten Alter noch ein neuntes Söhnlein geboren +wurde. Aber Gott hatte es ihnen einmal geschenkt, und so mußten sie es +nehmen, und ihm nach Christenbrauch die Taufe geben lassen. Nun wollte +aber Niemand zu dem Kinde Gevatter stehen, weil Jeder besorgte: wenn die +Eltern sterben, so fällt mir das Kind zur Last. Da dachte der Vater: ich +nehme das Kind, und trage es am Sonntag in die Kirche, und sage, daß ich +nirgends Gevattern habe finden können, mag dann der Prediger thun, was +er will, mag er das Kind taufen oder nicht, auf meine Seele kann keine +Sünde fallen. Als er sich am Sonntag aufmachte, fand er nicht weit von +seinem Hause einen Bettler am Wege sitzen, der ihn um ein Almosen bat. +Der Mann sagte: »Ich habe dir nichts zu geben, Brüderchen, die wenigen +Kopeken, die ich in der Tasche habe, muß ich für die Kindtaufe +ausgeben; willst du mir aber einen Gefallen thun, so komm und steh bei +meinem Kinde Gevatter, nachher gehen wir nach Hause und nehmen vorlieb +mit dem, was uns die Hausfrau zum Taufschmaus beschert hat.« Der +Bettler, den bis dahin noch niemand zu Gevatter gebeten hatte, erfüllte +mit Freuden die Bitte des Mannes, und ging mit ihm zur Kirche. Als sie +eben dort angekommen waren, fuhr eine prächtige Kutsche mit vier Pferden +vor, und eine junge vornehme Dame stieg aus. Der arme Mann dachte, hier +will ich zum letzten Male mein Glück versuchen, trat mit demüthigem +Gruße vor die Frau oder das Fräulein, was sie nun sein mochte, und +sagte: »Geehrtes Fräulein, oder was ihr sonst sein mögt! würdet ihr euch +nicht der Mühe unterziehen, bei meinem Kinde Gevatter zu stehen?« Das +Fräulein sagte zu. + +Als nun nach der Predigt das Kind zur Taufe gebracht wurde, verwunderten +sich Prediger und Gemeinde sehr darüber, daß ein armseliger Bettelmann +und eine stolze vornehme Dame zusammen bei dem Kinde Gevatter standen. +Das Kind erhielt in der Taufe den Namen Pärtel. Die reiche Pathe +bezahlte das Taufgeld und machte noch ein Pathengeschenk von drei +Rubeln, worüber der Vater des Kindes höchlich erfreut war. Der Bettler +ging dann mit zum Taufschmause. Ehe er am Abend fortging, nahm er ein in +einen kleinen Lappen gewickeltes Schächtelchen aus der Tasche, gab es +der Mutter des Kindes, und sagte: »Mein Pathengeschenk ist zwar +unbedeutend, aber verschmähet es dennoch nicht, vielleicht erwächst +eurem Söhnlein einmal Glück daraus. Ich hatte eine sehr kluge Tante, die +sich auf vielerlei Zauberkünste verstand, die gab mir vor ihrem Tode +das Vogelei in diesem Schächtelchen, indem sie sagte: »Wenn dir einmal +etwas ganz Unerwartetes begegnet, was du niemals ahnden konntest, dann +entäußere dich dieses Eies; wenn es demjenigen zu Theil wird, für den es +bestimmt ist, so kann es ihm großes Glück bringen. Aber hüte das Ei wie +deinen Augapfel, damit es nicht zerbricht, denn die Glücksschale ist +zart.« Nun ist mir bis auf den heutigen Tag, obwohl ich nahe an sechzig +Jahre alt bin, noch nichts so Unerwartetes begegnet, als daß ich heute +morgen zu Gevatter gebeten wurde, und es war gleich mein erster Gedanke: +Du mußt dem Kinde das Ei zum Pathengeschenk geben.« + +Der kleine Pärtel gedieh vortrefflich, und wuchs seinen Eltern zur +Freude auf, bis er im Alter von zehn Jahren in ein anderes Dorf zu einem +wohlhabenden Wirthe als Hüterknabe kam. Alle im Hause waren mit dem +Hüterknaben sehr zufrieden, da er ein frommer stiller Bursche war, der +seiner Brotherrschaft niemals Verdruß machte. Die Mutter hatte ihm beim +Abschied das Pathengeschenk in die Tasche gesteckt, und ihm empfohlen, +es sorgsamlich zu hüten, wie seinen Augapfel, was Pärtel auch befolgte. +Auf dem Weideplatz stand ein alter Lindenbaum, und unter diesem lag ein +großer Kieselstein; diesen Ort hatte der Knabe sehr lieb, so daß den +Sommer über kein Tag verging, an dem er nicht unter der Linde auf dem +Steine gesessen hätte. Auf diesem Steine verzehrte er auch gewöhnlich +das Brot, welches ihm alle Morgen mitgegeben wurde, und seinen Durst +stillte eine kleine Quelle in der Nähe des Steines. Mit den anderen +Hirtenknaben, die viel Muthwillen trieben, hielt Pärtel keine +Freundschaft. Wunderbar war es, daß ringsum nirgends so schönes Gras +anzutreffen war, als zwischen dem Stein und der Quelle; obwohl die Herde +jeden Tag hier weidete, so hatte doch am andern Morgen der Rasen mehr +das Ansehen einer geschonten Wiese als das einer Weide. + +Wenn Pärtel zuweilen an einem heißen Tage auf dem Steine ein wenig +einschlummerte, so erfreuten ihn jedesmal wunderbare Träume, und noch +beim Erwachen klangen ihm Spiel und Gesang in den Ohren, so daß er mit +offenen Augen weiter träumte. Der Stein war ihm wie ein theurer Freund, +von dem er täglich mit schwerem Herzen schied, und zu dem er den andern +Morgen voll Sehnsucht zurückeilte. So war Pärtel funfzehn Jahre alt +geworden, und sollte nun nicht länger mehr Hüterknabe bleiben. Der Wirth +nahm ihn zum Knecht, ohne ihm jedoch schwerere Arbeit aufzulegen, als er +zu leisten vermochte. Am Sonntage oder an Sommerabenden, wenn die +anderen Bursche mit den Dirnen schäkerten, gesellte sich Pärtel nicht zu +ihnen, sondern ging still sinnend auf den Weideplatz an seinen lieben +Lindenbaum, unter welchem er nicht selten die halbe Nacht zubrachte. So +saß er einmal wieder an einem Sonntag Abend auf dem Steine und schlug +die Maultrommel, da kroch eine milchweiße Schlange unter dem Steine +hervor, hob den Kopf, als wollte sie zuhören, und blickte den Pärtel mit +ihren klaren Augen an, die wie feurige Funken glänzten. Dies wiederholte +sich in der Folge, weßhalb Pärtel, sobald er nur freie Zeit hatte, immer +nach seinem Steine eilte, um die schöne weiße Schlange zu sehen, die +sich zuletzt so an ihn gewöhnt hatte, daß sie sich oftmals um seine +Beine wand. + +Pärtel war nun in das Jünglingsalter getreten, seine beide Eltern waren +gestorben, und seine Brüder und Schwestern lebten alle weit entfernt, so +daß sie nicht viel von einander hörten, geschweige denn einander sahen. +Aber lieber als Brüder und Schwestern war ihm die weiße Schlange +geworden; bei Tage waren seine Gedanken auf sie gerichtet, und fast jede +Nacht träumte er von ihr. Deßhalb wurde ihm die Winterzeit sehr lange, +wo tiefer Schnee lag und der Boden gefroren war. Als im Frühling die +Sonnenstrahlen den Schnee geschmolzen und den Boden aufgethaut hatten, +war Pärtels erster Gang wieder zum Steine unter der Linde, obwohl noch +kein Blättchen am Baume zu sehen war. O die Freude! Sobald er seine +Sehnsucht in den Tönen der Maultrommel ausgehaucht hatte, kroch die +weiße Schlange unter dem Stein hervor und spielte zu seinen Füßen, aber +dem Pärtel schien es heute, als wenn die Schlange Thränen vergossen +hätte, und das that seinem Herzen weh. Er ließ nun keinen Abend mehr +hingehen, ohne zum Steine zu kommen, und die Schlange wurde immer +dreister, so daß sie sich schon streicheln ließ, aber wenn Pärtel sie +festhalten wollte, schlüpfte sie ihm durch die Finger und kroch wieder +unter den Stein. + +Am Abend des Johannistages, da alle Dorfbewohner, alt und jung, mit +einander zum Johannisfeuer gingen, durfte doch auch Pärtel nicht +zurückbleiben, obwohl sein Herz ihn auf einen andern Weg lockte. Aber +mitten in der Lustbarkeit, als die andern sangen, tanzten und andere +Kurzweil trieben, schlich er sich von ihnen fort zum Lindenbaum, denn +das war der einzige Ort, wo sein Herz Ruhe fand. Als er näher kam, +glänzte ihm vom Steine her ein helles kleines Feuer entgegen, was ihn +sehr in Verwunderung setzte, da, so viel er wußte, Menschen sich um +diese Zeit dort nicht aufhielten. Als er ankam, war das Feuer erloschen, +und hatte weder Asche noch Funken zurückgelassen. Er setzte sich auf den +Stein und fing an, wie gewöhnlich, die Maultrommel zu rühren. Mit einem +Male tauchte das Feuer wieder auf, und es war nichts anderes als das +funkelnde Augenpaar der weißen Schlange. Diese spielte wieder zu seinen +Füßen, ließ sich streicheln, und sah ihn so durchdringend an, als wollte +sie sprechen. Mitternacht konnte nicht weit sein, als die Schlange unter +den Stein in ihr Nest schlüpfte, und auch auf Bartels Spiel nicht wieder +zum Vorschein kam. Als er sein Instrument vom Munde nahm, in die Tasche +steckte, und sich anschickte, nach Hause zu gehen, da säuselte das Laub +der Linde im Hauch des Windes so wunderbar, daß es wie eine +Menschenstimme an sein Ohr schlug, und er mehrmals die Worte zu hören +glaubte: + + »Zarte Schale hat das Glücksei, + Zähen Kernes ist die Trübsal;[83] + Zaudre nicht das Glück zu haschen.« + +Da fühlte er ein so schmerzliches Verlangen, daß ihm das Herz zu brechen +drohte, und doch wußte er selber nicht, wonach er sich sehnte. Bittre +Thränen rannen ihm von den Wangen, und er klagte: »Was hilft mir +Unglücklichem das Glücksei, da mir auf dieser Welt doch kein Glück +beschieden ist! Von klein auf fühle ich, daß ich für die Menschen nicht +passe, sie verstehen mich nicht, und ich sie nicht: was ihnen Freude +macht, das schafft mir Qual, was mich aber glücklich machen könnte, das +weiß ich selbst nicht, wie sollten es Andere wissen. Der Reichthum und +die Armuth haben beide bei mir zu Gevatter gestanden, darum habe ich +auch zu nichts Rechtem kommen können.« Da wurde es plötzlich so hell um +ihn her, als ob Linde und Stein von der vollen Sonne beschienen würden, +so daß er eine Weile die Augen nicht öffnen konnte, sondern sich erst an +die Helligkeit gewöhnen mußte. Da sah er neben sich auf dem Steine ein +schönes Frauenbild stehen, in schneeweißen Kleidern, wie wenn ein Engel +vom Himmel herunter gestiegen wäre. Aus dem Munde der Jungfrau aber +tönte eine Stimme, die ihm süßer klang, als der Gesang der Nachtigall, +und die Stimme sprach: »Lieber Jüngling, fürchte dich nicht, sondern +erhöre die Bitte eines unglücklichen Mädchens! Ich Arme lebe in einem +trübseligen Kerker, und wenn du dich meiner nicht erbarmst, so habe ich +nimmer Hoffnung auf Erlösung. O, lieber Jüngling, habe Mitleid mit mir, +und weise mich nicht ab. Ich bin eines mächtigen Königs Tochter aus dem +Ostlande, unendlich reich an Gold und Schätzen, aber das kann mir nichts +helfen, weil ein Zauber mich zwang, in Gestalt einer Schlange hier unter +dem Felsen zu leben, wo ich schon viele hundert Jahre weile, ohne je +älter zu werden. Obwohl ich noch nie einem Menschenkinde Böses zugefügt +habe, so fliehen doch Alle vor meiner Gestalt, so wie sie mich +erblicken. Du bist das einzige lebende Wesen, das meine Annäherung nicht +scheute; ja, ich durfte zu deinen Füßen spielen, und deine Hand hat mich +oftmals freundlich gestreichelt. Darum erwachte in meinem Herzen die +Hoffnung, daß du mein Retter werden könntest. Dein Herz ist rein, wie +das eines Kindes, in welchem Lug und Trug noch nicht wohnen. Auch trifft +bei dir Alles zu, was zu meiner Rettung erforderlich ist: eine vornehme +Dame und ein Bettler standen zusammen Gevatter bei dir, und das Glücksei +wurde dein Pathengeschenk. Nur einmal nach je fünf und zwanzig Jahren in +der Johannisnacht ist es mir vergönnt, in Menschengestalt eine Stunde +lang auf der Erde zu wandeln, und wenn dann ein Jüngling reinen Herzens, +der diese besonderen Gaben besitzt, kommen und meine Bitte erhören +würde, so könnte ich aus meiner langen Gefangenschaft erlöst werden. +Rette, o rette mich aus der endlosen Kerkerhaft, ich bitte dich in aller +Engel Namen.« So sprechend fiel sie dem Pärtel zu Füßen, umfaßte seine +Knie und weinte bitterlich. + +Dem Pärtel schmolz das Herz bei diesem Anblick und bei dieser Rede, er +bat die Jungfrau aufzustehen und ihm zu sagen, wie die Rettung möglich +sei. »Ich würde ja ohne Zögern durch Feuer und Wasser gehen,« sagte er, +»wenn dadurch deine Rettung möglich würde, und hätte ich zehn Leben zu +verlieren, ich würde sie alle für deine Rettung hingeben! Eine nie +gekannte Sehnsucht läßt mir keine Ruhe mehr, aber wonach ich mich sehne, +weiß ich selbst nicht.« + +Die Jungfrau sagte: »Komm morgen Abend gegen Sonnenuntergang wieder +hierher, und wenn ich dir dann als Schlange entgegen komme, und mich wie +einen Gürtel um deinen Leib winde, und dich dreimal küsse, so erschrick +nicht, und bebe nicht zurück, sonst muß ich wieder weiter seufzen unter +dem Fluche der Verzauberung, und wer weiß auf wie viel hundert Jahre.« +Mit diesen Worten war die Jungfrau den Blicken des Jünglings +entschwunden, und wieder säuselte es aus dem Laube der Linde: + + »Zarte Schale hat das Glücksei, + Zähen Kernes ist die Trübsal; + Zaudre nicht das Glück zu haschen!« + +Pärtel war nach Hause gekommen und hatte sich vor Tages Anbruch schlafen +gelegt, aber wunderbar bunte Träume, theils freundliche, theils +häßliche, scheuchten die Ruhe von seinem Lager. Mit einem Schrei sprang +er auf, weil ein Traum ihm vorgespiegelt hatte, daß die weiße Schlange +sich um seine Brust schlang und ihn erstickte. Zwar achtete er nicht +weiter auf dieses Schreckbild, vielmehr war er fest entschlossen, die +Königstochter aus den Banden der Verzauberung zu erlösen, und wenn er +selber darüber zu Grunde gehen sollte -- aber dennoch wurde ihm das Herz +immer schwerer, je näher die Sonne dem Horizonte kam. Zur festgesetzten +Zeit stand er am Steine unter der Linde, und blickte seufzend zum Himmel +empor, den er um Muth und Kraft anflehte, damit er nicht vor Schwäche +zittere, wenn sich die Schlange um seinen Leib winden und ihn küssen +werde. Da fiel ihm plötzlich das Glücksei ein; er zog das Schächtelchen +aus der Tasche, wickelte es los, und nahm das kleine Ei, das nicht +größer war, als das Ei einer Grasmücke, zwischen die Finger. + +In demselben Augenblicke war die schneeweiße Schlange unter dem Steine +hervorgeschlüpft, hatte sich um seinen Leib gewunden, und richtete eben +ihren Kopf empor, um ihn zu küssen, da -- der Mann wußte selbst nicht +wie es geschah -- hatte er der Schlange das Glücksei in den Mund +gesteckt. Er stand, ob auch mit frierendem Herzen, ohne zu beben, bis +die Schlange ihn dreimal geküßt hatte. Jetzt erfolgte ein Krachen und +Leuchten, als hätte der Blitz in den Stein geschlagen, und schwerer +Donner machte die Erde erzittern, so daß Pärtel wie todt zu Boden fiel, +und nicht mehr wußte, was mit ihm oder um ihn her geschah. + +Aber in diesem furchtbaren Augenblicke waren die Bande des Zaubers +gebrochen, und die königliche Jungfrau war aus ihrer langen Haft erlöst. +Als Pärtel aus seiner schweren Ohnmacht erwachte, fand er sich auf +weichen Seidenkissen, in einem prächtigen Glasgemach von himmelblauer +Farbe. Das schöne Mädchen kniete vor seinem Bette, streichelte seine +Wangen, und rief, als er die Augen aufschlug: »Dank dem himmlischen +Vater, der mein Gebet erhört hat! und tausend, tausend Dank auch dir, +theurer Jüngling, der du mich aus der langen Verzauberung erlöst hast. +Nimm jetzt zum Lohne mein Reich, dieses prachtvolle Königsschloß mit +allen seinen Schätzen, und wenn du willst, auch mich als Gemahlin mit in +den Kauf. Du sollst fortan hier glücklich leben, wie es dem Herrn des +Glücksei's gebührt. Bis heute war dein Loos wie das deines _Taufvaters_, +jetzt harrt deiner ein besseres Loos, ein solches, wie es deiner +_Taufmutter_ zugefallen war.« + +Pärtel's Glück und Freude vermöchte wohl Niemand zu schildern; alle +unbegriffene Sehnsucht seines Herzens, die ihn ruhelos immer wieder +unter die Linde trieb, war jetzt gestillt. Von der Welt geschieden lebte +er mit seiner theuren Gemahlin im Schooße des Glückes bis an sein Ende. +-- In dem Dorfe aber und auf dem Bauerhofe, wo er gedient hatte, und wo +man ihn um seines frommen Wesens willen lieb hatte, erregte sein +Verschwinden große Betrübniß. Darum machten sich Alle auf, ihn zu +suchen, und ihr erster Gang war zur Linde, welche Pärtel so häufig zu +besuchen pflegte, und wohin man ihn auch Abends zuvor noch hatte gehen +sehn. Groß war das Erstaunen der Leute, als sie dort weder den Pärtel, +noch die Linde, noch den Stein mehr vorfanden; auch die kleine Quelle in +der Nähe war vertrocknet, und keines Menschen Auge hat selbige Dinge +jemals wieder erblickt. + +[Fußnote 83: Aus Kalewipoëg =XIX=, 140, 141, wo aber der Gehörnte mit +diesen Versen den Kalewsohn vor Uebermuth warnt. L.] + + + + +20. Der Frauenmörder. + + +Es lebte einmal ein reicher hochadliger Gutsherr, unter dessen +Botmäßigkeit ausgedehnte Gebiete, Landgüter und eine Unzahl von Leuten +standen. Seinen Wohnsitz hatte er auf einem einsamen festen Schlosse, +das hinter Wäldern und Sümpfen versteckt lag wie eine Bärenhöhle, und +rings mit Mauern und Gräben umgeben war, so daß Feinde nicht leicht +eindringen konnten. Man meinte, der große Herr habe den einsamen Ort +deßwegen zu seinem Wohnsitz gewählt, damit seine unermeßliche Habe den +Leuten nicht in die Augen steche und ihre Habsucht reize. Es sollten da +nämlich große Felsenkeller mit Gold und Silber angefüllt sein, womit der +Besitzer, wenn er gewollt hätte, ganze Königreiche hätte kaufen können. +An Geld und Schätzen hatte er also Ueberfluß, aber mit seinen Frauen +hatte er kein Glück. Sie starben ihm alle binnen kurzer Frist, eine nach +der andern; doch hielt sich der Wittwer nie mit langem Trauern auf, +sondern ritt jedesmal ohne Zeitverlust von neuem auf die Freite. Obschon +er noch im mittleren Mannesalter stand, sollte er doch schon eilf Frauen +auf der Bahre gesehen haben, als er auszog, um die zwölfte zu freien. +Man weiß, daß es einem reichen Manne nie schwer wird, zu einer Frau zu +kommen, denn mit dem Goldnetze kann man die Mädchen zu Dutzenden fangen. +Trotzdem stellten sich unserem reichen Freier, als er jetzt die zwölfte +Frau nehmen wollte, Hindernisse in den Weg, so daß er wie ein geringer +Mann an mancher Thüre anklopfen mußte, ehe er eine Braut unter die Haube +bringen konnte. Das rasche Wegsterben seiner vielen Frauen hatte den +jungen Damen der Umgegend Schrecken eingeflößt; es konnte doch wohl +nicht mit rechten Dingen zugehen, daß die jungen blühenden Frauen so +rasch dahin welkten. Ein Geheimniß mußte hier obwalten -- aber es blieb +Allen ein Räthsel. + +Als nun der stolze reiche Freier lange Zeit vergebliche Wege gemacht +hatte, beschloß er endlich, sein Glück auf einem Edelhofe zu versuchen, +wo ein armer Edelmann mit seinen drei blühenden Töchtern lebte. Sie +waren alle drei schön und glichen köstlichen Aepfeln, aber die jüngste +überstrahlte die beiden andern, so daß sie recht gut auch die Gemahlin +eines Königs hätte werden können. Der vornehme Freier hatte sein Auge +alsbald auf das jüngste Fräulein geworfen; zwar schien des Fräuleins +Herz anfangs kalt gegen ihn zu sein, aber seine reichen Geschenke, +seidene Kleider, goldene Ketten und sonstiger Schmuck, übten eine so +erwärmende Wirkung, daß es dem Vater und den beiden Schwestern gelang, +das Mädchen zu überreden. Der Vater hoffte an dem reichen Schwiegersohne +eine Stütze zu finden, und auch die Töchter erwarteten, daß ihnen der +Schwager nützlich sein werde, der schon versprochen hatte, ihnen auf +seine Kosten prächtige Hochzeitskleider machen zu lassen. Da die +Schwestern sich sehr lieb hatten, so waren die älteren nicht im +mindesten neidisch darüber, daß die jüngste zuerst heirathen sollte. Der +Bräutigam hatte seinen künftigen Schwiegervater darum gebeten, die +Hochzeit nicht auszurichten, da er sie auf seinem Schlosse zu feiern und +alle Kosten selbst zu tragen wünsche. + +So weit war es mit der Werbung gut gegangen, und der Bräutigam war schon +wieder abgereist, um sein Haus für die Hochzeit herzurichten, und hatte +auch schon den Tag für die Hochzeit angesetzt. Da ereignete sich ein +Vorfall, der dem alten Herrn Verdruß bereitete, und das Herz der Braut +mit Betrübniß erfüllte. Auf dem Edelhofe lebte ein armer Knabe, den die +Herrschaft nach dem Tode seiner Eltern, als er erst zwei Jahr alt war, +zu sich genommen hatte; man hatte ihn später zum Gänsejungen gebraucht, +seit länger als einem Jahre aber war er Aufwärter. Die Gutsleute nannten +ihn immer noch den Gänse-Tönnis. Er war ein halbes Jahr jünger als das +jüngste Fräulein, und hatte als Kind mit ihr gespielt; dadurch war eine +Freundschaft zwischen ihnen entstanden, und das Fräulein war immer sehr +liebreich gegen den Tönnis gewesen. Tönnis verehrte auf der ganzen Welt +kein lebendes Wesen so sehr, wie sein theures Fräulein. Was er dem +Fräulein nur an den Augen absehen konnte, das that er ungeheißen, und er +wäre ohne Zagen durch Feuer und Wasser gegangen, wenn das Fräulein es +befohlen hätte. Als er hörte, daß das Fräulein sich mit einem Wittwer +vermählen würde, erschrack er so heftig, daß er verzweifeln wollte; +mehrere Tage nahm er keine Nahrung zu sich, noch kam Nachts Schlaf in +sein Auge. Er ging umher wie eine wandelnde Leiche, und Alle glaubten, +daß er schwer krank sei. Als Tönnis den Bräutigam zum erstenmal gesehen +hatte, war ihm dieser Anblick wie ein schneidendes Schwert durchs Herz +gegangen. »Mein theures Fräulein rennt in ihr Verderben,« dachte er. Er +wartete jetzt immer nur auf einen Augenblick, wo er mit dem Fräulein +sprechen könnte. Als sie nun eines Tages in den Gemüsegarten gegangen +war, trat ihr Tönnis demüthig entgegen: »Gnädiges theures Fräulein, +höret auf meine Bitte! Werdet nicht die Gattin eines Mörders, der euch +ebenso umbringen würde, wie die eilf, die ihn vor euch geheirathet +haben.« Das Fräulein erschrack, als sie diese Rede hörte, und fragte, +woher er denn wissen könne, daß die früheren Frauen dieses Herrn einen +gewaltsamen Tod gefunden. Tönnis antwortete: »Mein Herz sagte es mir, +als ich den Bräutigam zum erstenmale erblickte, und mein Herz hat mich +noch niemals betrogen.« Als das Fräulein ihren Schwestern und ihrem +Vater erzählte, was sie vernommen, gerieth der alte Herr in so heftigen +Zorn, daß er drohte, den Tönnis halb todt zu schlagen, und dann mit den +Hunden vom Hofe jagen zu lassen. Wer weiß, ob er die Drohung nicht +ausgeführt hätte, wenn die Fräulein sich nicht mit Bitten dazwischen +gelegt und sich bemüht hätten, seinen Zorn zu besänftigen. Die Fräulein +sagten: »Der Bursche hat es ja doch nicht böse gemeint, vielmehr wünscht +er uns nur Gutes.« Nach einigen Tagen ließ der alte Herr den Tönnis +rufen, schalt ihn wegen seines thörichten Geschwätzes und sagte endlich: +»Wenn du dem Fräulein noch einmal mit solchem leeren Gerede in den +Ohren liegst, so lasse ich dich wie einen tollen Hund niederschießen.« +Um seine Töchter zu beruhigen, sagte ihnen der alte Herr, daß der Tönnis +durch eine Krankheit schwachsinnig geworden sei. Gleichwohl waren im +Herzen des jüngsten Fräuleins Zweifel aufgestiegen, und sie hätte sich +gern von ihrem Bräutigam losgemacht, wenn sich nur irgend eine +Möglichkeit gezeigt hätte. Aber Vater und Schwestern widersetzten sich +diesem Vorhaben einmüthig, indem sie sagten: »Stoße dein Glück nicht +leichtsinnig von dir. Du wirst eines reichen Mannes Frau, wirst dort ein +Leben haben wie im Himmel, und auch uns helfen können.« Je näher der +Hochzeitstag heranrückte, desto schwerer wurde dem Fräulein das Herz, +ihr schmeckte kein Essen mehr und kein Schlaf kam Nachts in ihr Auge. +Endlich ließ sie eines Tages heimlich den Tönnis rufen, und fragte ihn, +was sie thun solle, da der alte Herr von einem Zurücktreten durchaus +nichts wissen wolle. Darauf antwortete Tönnis mit der Bitte, ihn +mitzunehmen: »So lange ich euch nahe bin,« -- sagte er, -- »soll Niemand +es wagen, Hand an euch zu legen.« Darauf bat das Fräulein ihren Vater um +Erlaubniß, den Tönnis mitzunehmen. »Meinethalben,« -- sagte der alte +Herr, -- »wenn dein Bräutigam nichts dagegen einzuwenden hat.« Der +Bräutigam verzog zwar ein wenig das Gesicht, als er den Wunsch seiner +Braut vernahm, aber da er die Braut nicht fahren lassen wollte, so mußte +er ihrem Begehren willfahren. + +Der Hochzeitstag wurde im Hause des Bräutigams mit Jubel und großer +Pracht begangen, über eine Woche blieben sämmtliche Hochzeitsgäste, und +jeder mußte, als er heimkehrte, bekennen, daß er in seinem Leben noch +keine schönere Hochzeit gesehen habe. Der Schwiegervater und die +Schwägerinnen blieben noch einige Wochen länger, und führten ein Leben +wie im Himmel. Beim Abschiede hatte ihnen der Schwiegersohn noch viele +kostbare Geschenke mitgegeben, und das junge Paar war allein auf dem +stolzen Edelhofe zurückgeblieben. + +Einige Wochen später sagte der Herr zu seiner Gemahlin: »Ich muß nun, +mein Herzchen, auf drei Wochen verreisen, um meine entlegeneren Güter +und Besitzungen zu besichtigen, deßhalb habe ich eine Botschaft nach dem +Hause deines Vaters abgefertigt, um eine deiner Schwestern +herzubescheiden, die dir Gesellschaft leisten soll, bis ich wiederkomme. +Die Schwester kann heute Abend oder morgen Mittag hier eintreffen. +Während meiner Abwesenheit wird hier das Ganze unter deiner Leitung +stehen, sorge dafür, daß Alles so fortgeht, wie ich es angeordnet habe. +Hier sind meine Schlüssel, vertraue sie Niemanden an; du selbst hast +überall Zutritt. Nur in diesem Kästchen hier liegt ein einzelner +goldener Schlüssel; in dasjenige Zimmer, welches er aufschließt, darfst +du deinen Fuß nicht setzen, noch auch die Thür öffnen, um hineinzusehen. +Ich bitte dich, Liebchen, hüte dich vor solchem Vorwitz, denn dein und +mein Glück würde zerstört, sobald du mein Verbot übertrittst. Solltest +du absichtlich oder von ungefähr die verbotene Kammer betreten -- und +mir würde das nicht unbekannt bleiben --, so müßte ich dir mit eigener +Hand das Haupt vom Rumpfe abschlagen.« Die Frau weigerte sich, den +unheimlichen Schlüssel in Verwahrung zu nehmen, aber der Herr ließ +nicht ab, sondern drang so lange in sie, bis sie den goldenen Schlüssel +empfing. Beim Abschiede sprach sie noch zum Schloßherrn: »Meinetwegen +kannst du unbesorgt sein, ich will deine Geheimnisse nicht sehen, wenn +du sie mir nicht selbst zeigen magst.« + +Am Tage nach der Abreise des Herrn traf die mittlere Schwester ein, um +der jungen Frau die Zeit zu vertreiben. Die Schwestern unterhielten +sich, und scherzten mit einander, und manches Mal kam auch die Rede +darauf, daß des Tönnis böse Ahnung ihnen ganz unnütze Angst eingeflößt +habe. Dennoch wurde die junge Frau wieder unruhiger, als ihr eines +Morgens gemeldet wurde, daß Tönnis in der Nacht verschwunden sei, und +Niemand wisse, wo er hingekommen. Den Abend zuvor hatte er zur Frau +gesagt: »Ich weiß nicht, wie es kommt, daß ich euretwegen in schwerer +Sorge bin, es könne euch irgend ein Unglück zustoßen. Jede Nacht träume +ich von euch, wie wenn ein böser Mensch hinter euch steht, der euch das +Garaus machen will. Und des Morgens weckt mich gewöhnlich ein häßlicher +Traum, wo ihr mit blutigem Kopfe vor meinem Bette steht.« Die Frau hatte +sich jeder Besorgniß vor diesen Träumen als einer leeren Furcht zu +erwehren gesucht, aber als sie des Burschen Verschwinden erfuhr, fiel +ihr dessen Rede von gestern Abend doch schwer auf's Herz. Sie schickte +Leute nach allen Richtungen aus, um ihn aufzusuchen; die Leute kehrten +am Abend zurück, aber keiner von ihnen hatte eine Spur des +Verschwundenen gefunden. Der Frau kam es vor, als wäre mit Tönnis ihr +bester Beschützer und ihr treuester Freund von ihr geschieden. Wiewohl +das Fräulein sich auf alle Weise bemühte, den Kummer der Schwester zu +mildern, so fand die arme Frau doch keinen Trost. + +Eines Tages wollte sie ihrer Schwester alle Räume und Schatzkammern des +Schlosses zeigen, sie gingen von einem Gemach zum andern, musterten +Alles, und befriedigten ihre Schaulust. Zuletzt kamen sie auch vor die +Thür, welche der goldene Schlüssel öffnete, allein das war die Kammer, +welche die Frau nicht betreten durfte --sollte sie doch nicht einmal an +der Schwelle nach den Geheimnissen dieser Kammer spähen. Das Fräulein +hatte große Lust, sich diese geheimnißvolle Kammer anzusehen, und bat +ihre Schwester, die Thür aufzuschließen. Die Frau mochte wohl kein +geringeres Verlangen danach empfinden, allein sie rief sich das Verbot +ihres Gemahls in's Gedächtniß zurück, und sagte, es sei ihr nicht +erlaubt, diese Kammer zu betreten. Die Schwester spottete ihrer Furcht: +»Schlüssel und Schloß« -- meinte sie -- »haben keine Zunge, mit der sie +dem Herrn verrathen könnten, daß sich Jemand ihrer bedient hat. Was kann +hier auch weiter versteckt sein, als allerlei Kostbarkeiten, die er dir, +wer weiß aus welcher Laune, nicht zeigen will. Wenn die Männer aus Laune +vor ihren Frauen etwas verbergen, so dürfen auch die Frauen aus Laune +dem Verbote der Männer zuwider handeln. Wenn du dich fürchtest zu +öffnen, so gieb mir den Schlüssel, ich werde dir die Thür aufschließen.« +Obwohl die Frau sich mit dem Munde noch gegen das Verlangen der +Schwester sträubte, so war sie doch im Herzen schon längst eines Sinnes +mit ihr. Sie nahm den Schlüssel aus dem Kästchen und steckte ihn in's +Schloß. Noch ehe sie Zeit gehabt hatte, den Schlüssel im Schlosse +umzudrehen, sprang die Thür mit großem Geräusch auf, wobei Zauberkünste +im Spiele gewesen sein mußten. Aber wer vermöchte das Entsetzen zu +beschreiben, welches jetzt die Beiden überfiel, als ihr Blick über die +Schwelle in das Innere der geheimnißvollen Kammer drang. In der Mitte +derselben stand ein Eichenblock, und auf diesem lag ein breites Beil; +der ganze Fußboden war mit geronnenem Blute bedeckt! Was aber das +Gräßlichste war, und den letzten Blutstropfen in ihren Herzen erstarren +machte: hinten an der Wand standen in einer Reihe auf einem langen +Tische die blutigen Köpfe der früheren eilf Frauen! Diese unglücklichen +Geschöpfe hatten alle in dieser Mordkammer den Tod gefunden +--wahrscheinlich weil auch sie in ihrem Vorwitze des Mannes Verbot +übertreten hatten. + +Derselbe gräßliche Tod drohte auch jetzt der zwölften Frau, denn sie +sagte sich sogleich, daß der teuflische Mann, der die andern umgebracht +habe, ihr auch keine Barmherzigkeit schenken werde. Schon sah sie ihren +Hals auf dem blutigen Blocke, fühlte die Schneide des Beils in ihrem +Nacken, als sie voll Entsetzen über die Schwelle zurückschwankte. Den +Schlüssel hatte sie beim Einstecken auf den Boden fallen lassen; als sie +ihn jetzt aufhob, fand sie blutige Rostflecken daran, die kein Wischen +und kein Scheuern vertilgen konnte. Als sie dann versuchten, die Thür +zuzuschließen, fanden sie es unmöglich; die Thür klaffte eine Hand breit +auseinander, als ob zwischen Thür und Pfosten ein unsichtbarer Keil sich +befände. Jetzt fehlte es nicht an Jammer und Reue, aber was konnte es +fruchten? Zum Glück hatten sie noch eine Woche bis zur Rückkehr des +Herrn, während dieser Frist wollten sie auf Mittel sinnen, die Sache wo +möglich wieder gut zu machen. + +Schlaflos verging den Schwestern die Nacht; so oft ihnen die Augen +zufielen, stand gleich der blutige Block mit dem Beile wieder vor ihnen, +und scheuchte allen Schlummer. Am Morgen trat die Kammerjungfer bei der +Frau ein und meldete, der Herr halte schon vor der Pforte. Die Frau +erbebte am ganzen Leibe, und war unfähig, sich von ihrem Sitze zu +erheben. Kaum war der Herr vom Pferde gestiegen, so fragte er nach der +Frau, und ging rasch die Treppe hinauf. Als er in's Zimmer trat, +brannten seine Augen wie zwei Feuer; die vor Angst erbleichende Frau +wollte aufstehen, sank aber wieder auf ihren Stuhl zurück. Der Herr sah +augenblicklich, was hier vorgegangen war, und fragte, wo der goldene +Schlüssel sei. Mit zitternder Hand zog die Frau das Kästchen aus ihrer +Tasche, und überreichte es dem Herrn, der beim Oeffnen sogleich die +Rostflecke am Schlüssel fand. Da schwoll sein Gesicht blauroth an, und +seine Augen rollten wie Feuerräder, so daß die Frau ihn nicht ansehen +konnte. »Ruchloses Geschöpf!« -- schrie er mit fürchterlicher Stimme -- +»du mußt ohne Gnade von meiner Hand sterben, weil du mein Gebot +übertreten hast. Gott im Himmel mag dir vergeben, ich kann deinen +Vorwitz nicht ungestraft lassen. Hatte ich dir doch das Regiment und +alle meine Habe anvertraut, und du hast mich betrogen! Mit den +Reichthümern, die ich dir gegeben, konntest du wie eine Königin in Glück +und Freude leben! Warum hast du mein Gebot übertreten?! Bereite dich +zum Tode, denn deine Tage sind zu Ende!« + +Die Frau versuchte einige Worte zu ihrer Entschuldigung vorzubringen, +aber der Herr tobte noch ärger: »Bereite dich zum Tode, denn deine +Augenblicke sind gezählt!« Die Schwester der Frau hatte sich gleich, als +der Lärm begann, geflüchtet, und wagte nicht mehr sich zu zeigen, denn +sie war bange, sich ebenfalls den Tod zuzuziehen. Die Frau fiel vor dem +Herrn auf die Knie, betete zu Gott, und versuchte dazwischen wieder +ihres Gatten Herz zu erweichen. + +»Des Geschwätzes ist genug!« schrie der Herr. »Lege deinen Kopf auf den +Block!« Als die Frau diesem Befehle nicht gleich Folge leistete, +schleppte er sie bei den Haaren an den Block, drückte mit der linken +Hand den Kopf nieder und ergriff mit der rechten das Beil, um sie zu +tödten. + +Aber in demselben Augenblicke, wo er das Beil emporhob, fiel von hinten +ein schwerer Knüttel auf seinen Kopf, so daß ihm das Beil aus der Hand +fiel, und er selbst hinstürzte. In seiner Wuth hatte der Mörder nicht +bemerkt, daß ein Mann mit einem Knüttel hinter ihm her schritt, als er +die Frau in die Mordkammer schleppte. Dieser Mann war Tönnis. Die Frau +war vor Angst und Schrecken in Ohnmacht gefallen, so daß sie nichts mehr +von dem wußte, was um sie her vorging. Tönnis band dem Herrn Hände und +Füße mit starken Stricken, und als derselbe sich wieder von seiner +Betäubung erholte, konnte er sich nicht mehr los machen, und Niemanden +Böses zufügen. Dann eilte Tönnis der ohnmächtigen Frau zu Hülfe, die +erst nach einigen Stunden aus ihrer Ohnmacht erwachte. + +Jetzt setzte man das Gericht in Kenntniß, und schickte sogleich eine +Botschaft an den Vater der Frau, daß er her käme. Die Untersuchung +brachte an den Tag, daß der Mörder eilf Frauen umgebracht hatte, und +auch die letzte gemordet haben würde, wenn Tönnis nicht zu Hülfe +gekommen wäre; der Mörder wurde deshalb vor das peinliche Gericht +gestellt, und zum Tode verurtheilt. Da er keine näheren Verwandten +hatte, denen ein Erbrecht zustand, so wurden alle Edelhöfe und +Besitzungen der Wittwe zugesprochen; nur ein Theil des Vermögens wurde +unter die Armen vertheilt. + +Bei der reichen Wittwe meldeten sich Freier von allen Seiten, aber sie +heirathete keinen derselben, sondern nahm nach einem Jahre den Tönnis +zum Gemahl, und Beide führten ein glückliches Leben bis an ihr Ende. + + + + +21. Der herzhafte Riegenaufseher.[84] + + +Einmal lebte ein Riegenaufseher, der an Herzhaftigkeit nicht viele +seines Gleichen hatte. Von ihm hatte der »alte Bursche« selber gerühmt, +ein herzhafterer Mann sei ihm auf der ganzen Welt noch nicht +vorgekommen. Der Alte ging deßhalb häufig an den Abenden, wo die +Drescher nicht in der Scheune waren, zum Aufseher zu Gast, und unter +angenehmen Gesprächen wurde ihnen die Zeit niemals lang. Der alte +Bursche meinte zwar, der Aufseher kenne ihn nicht, sondern halte ihn für +einen einfachen Bauer, allein der Aufseher kannte ihn recht gut, wenn er +sich auch nichts merken ließ, und hatte sich vorgenommen, den (alten +Hörnerträger) Teufel wo möglich einmal über's Ohr zu hauen. Als der alte +Bursche eines Abends über sein Junggesellen-Leben klagte, und daß er +Niemanden habe, der ihm einen Strumpf stricke oder einen Handschuh nähe, +fragte der Aufseher: »Warum gehst du denn nicht auf die Freite, +Brüderchen?« Der alte Bursche erwiederte: »Ich habe schon manchmal mein +Heil versucht, aber die Mädchen wollen mich nicht. Je jünger und +blühender sie waren, desto ärger spotteten sie meiner.« Der Aufseher +rieth ihm, um ältere Mädchen oder Wittwen zu freien, die viel eher kirre +zu machen seien, und nicht leicht einen Freier verschmähen würden. Nach +einigen Wochen heirathete denn auch der alte Bursche ein bejahrtes +Mädchen; es dauerte aber nicht gar lange, so kam er wieder zum +Riegenaufseher, ihm seine Noth zu klagen, daß die junge Frau voller +Tücke sei; sie lasse ihm weder bei Nacht noch bei Tage Ruhe, sondern +quäle ihn ohne Unterlaß. »Was bist du denn für ein Mann,« lachte der +Aufseher, »daß dein Weib die Hosen hat anziehen dürfen! Nahmst du einmal +ein Weib, so mußtest du auch deines Weibes Herr werden!« Der alte +Bursche erwiederte: »Ich werde mit ihr nicht fertig. Hole sie der und +jener, ich setze meinen Fuß nicht mehr in's Haus.« Der Riegenaufseher +suchte ihm Trost einzusprechen, und sagte, er solle sein Heil noch +einmal versuchen, aber der alte Bursche meinte, es sei an der ersten +Probe genug, und hatte nicht Lust, seinen Nacken zum zweiten Male in das +Joch eines Weibes zu legen. + +Im Herbste des nächsten Jahres, als das Dreschen wieder begonnen hatte, +machte der alte Bekannte dem Aufseher einen neuen Besuch. Der Aufseher +merkte gleich, daß dem Bauer etwas auf dem Herzen brannte, er fragte +aber nicht, sondern wollte abwarten, daß der Andere selber mit der Sache +herauskäme. Er erfuhr denn auch bald des alten Burschen Mißgeschick. Im +Sommer hatte derselbe die Bekanntschaft einer jungen Wittwe gemacht, +die wie ein Täubchen girrte, so daß dem Männlein abermals +Freiersgedanken aufstiegen. Er heirathete sie auch, fand aber später, +daß sie der ärgste Hausdrache war, den es geben konnte, und daß sie ihm +gern die Augen aus dem Kopfe gerissen hätte, so daß er endlich seinem +Glücke dankte, als er sich von der bösen Sieben losgemacht hatte. Der +Riegenaufseher sagte: »Ich sehe wohl, daß du zum Ehemann nicht taugst, +denn du bist ein Hasenfuß, und verstehst nicht, ein Weib zu regieren.« +Darin mußte ihm denn der alte Bursche Recht geben. Nachdem sie dann noch +eine Weile über Weiber und Heirathen geplaudert hatten, sagte der alte +Bursche: »Wenn du denn wirklich ein so herzhafter Mann bist, daß du dir +getraust, den schlimmsten Höllendrachen unter dem Weibervolk zahm zu +machen, so will ich dir eine Bahn zeigen, auf welcher deine +Herzhaftigkeit bessern Lohn finden wird, als bei der Zähmung eines bösen +Weibes. Du kennst doch die Ruinen des alten Schlosses auf dem Berge? +dort liegt ein großer Schatz aus alten Zeiten, der noch Niemandem zu +Theil geworden ist, weil eben noch keiner Muth genug hatte, ihn zu +heben.« Der Riegenaufseher gab lachend zur Antwort: »Wenn hier nichts +weiter nöthig ist, als Muth, so habe ich den Schatz schon so gut wie in +der Tasche!« Darauf theilte der alte Bursche dem Aufseher mit, daß er in +künftiger Donnerstags-Nacht, wo der Mond voll werde, hingehen müsse, um +den vergrabenen Schatz zu heben, und fügte hinzu: »Hüte dich aber, daß +nicht die geringste Furcht dich anwandle, denn wenn dir das Herz bangen, +oder auch nur eine Faser an deinem Leibe zittern sollte, so verlierst +du nicht nur den gehofften Schatz, sondern kannst auch dein Leben +einbüßen, wie viele Andere, die vor dir ihr Glück versuchten. Wenn du +mir nicht glaubst, so gehe nur in irgend einen Bauerhof und laß die +Leute erzählen, was sie über das Gemäuer des alten Schlosses gehört -- +Manche auch wohl mit eigenen Augen gesehen haben. Noch einmal: wenn dir +dein Leben lieb ist, und du des Schatzes habhaft werden willst, so hüte +dich vor aller Furcht.« + +Am Morgen des bezeichneten Donnerstags machte sich der Riegenaufseher +auf den Weg, und obgleich er nicht die geringste Furcht empfand, so +kehrte er doch in der Dorfschenke ein, in der Hoffnung, dort auf +Menschen zu stoßen, die ihm Eins oder das Andere über die alten +Schloßmauern berichten könnten. Er fragte den Wirth, was das für alte +Mauern wären auf dem Berge, und ob die Leute noch etwas darüber wüßten, +wer sie aufgeführt, und wer sie dann wieder zerstört habe. Ein alter +Bauer, der die Frage des Riegenaufsehers gehört hatte, gab folgenden +Bescheid: »Der Sage nach hat vor vielen hundert Jahren ein steinreicher +Gutsherr dort gewohnt, der über weite Ländereien und zahlreiches Volk +gebot. Dieser Herr führte ein eisernes Regiment, und behandelte seine +Unterthanen grausam, aber mit dem Schweiß und Blut derselben hatte er +unermeßlichen Reichthum zusammengescharrt, so daß Gold und Silber +fuderweise von allen Seiten her auf's Schloß kam, wo es in tiefen +Kellern vor Dieben und Räubern verwahrt wurde. Auf welche Weise der +reiche Bösewicht zuletzt seinen Tod fand, hat Niemand erfahren. Die +Diener fanden eines Morgens sein Bett leer, drei Blutstropfen auf dem +Boden, und eine große schwarze Katze zu Häupten des Bettes, die man +vorher nie gesehen hatte und nachher nie wieder sah. Man meinte daher, +die Katze sei der böse Geist selber gewesen, der in dieser Gestalt den +Herrn in seinem Bette erwürgt, und dann zur Hölle gebracht habe, wo er +für seine Frevel büßen müsse. -- Als später auf die Nachricht von dem +Todesfall die Verwandten des Schloßherrn sich einfanden, um dessen +Schatz in Besitz zu nehmen, fand sich nirgends ein Kopek Geld vor. +Anfangs hielt man die Diener für die Diebe, und stellte sie vor Gericht; +allein da sie sich ihrer Unschuld bewußt waren, so bekannten sie auch +auf der Folter Nichts. Inzwischen hatten viele Menschen Nachts ein +Geklapper, wie mit Geld, tief unter der Erde, vernommen, und machten dem +Gericht davon Anzeige, und als dieses eine Untersuchung anstellte und +die Aussage bestätigt fand, wurden die Diener freigelassen. Das seltsame +nächtliche Geldgeklapper wurde später noch oft gehört, auch fanden sich +Manche, die dem Schatze nachgruben, aber es kam nichts zu Tage, und von +den Schatzgräbern kehrte keiner zurück; sicher hatte eben Der sie +geholt, der dem Herrn des Geldes ein so gräßliches Ende bereitet hatte. +Soviel sah Jeder, daß hier Etwas nicht geheuer war, -- darum getraute +sich auch Niemand in dem alten Schlosse zu wohnen, bis endlich das Dach +und die Wände durch Wind und Regen verfielen, und nichts weiter übrig +blieb, als die alten Ruinen. Kein Mensch wagt sich bei nächtlicher Weile +in die Nähe, noch weniger erkühnt sich Einer, dort nach alten Schätzen +zu suchen.« --So sprach der alte Bauer. + +Als der Riegenaufseher seine Erzählung vernommen hatte, äußerte er wie +halb im Scherze: »Ich hätte Lust, mein Heil zu versuchen! Wer geht +künftige Nacht mit mir?« Die Männer schlugen ein Kreuz und betheuerten +einhellig, daß ihnen ihr Leben viel lieber sei, als alle Schätze der +Welt, die doch Niemand erlangen könne, ohne seine Seele zu verderben. +Dann baten sie den Fremden, er möge den eitlen Gedanken fahren lassen, +und sein Leben nicht dem Teufel überantworten. Allein der kühne +Riegenaufseher achtete weder Bitten noch Einschüchterungen, sondern war +entschlossen, sein Heil auf eigene Hand zu versuchen. Er bat sich am +Abend von dem Schenkwirth ein Bund Kienspan aus, um nicht im Dunkeln zu +bleiben, und erkundigte sich dann nach dem kürzesten Wege zu den alten +Schloßruinen. + +Einer der Bauern, der etwas mehr Muth zu haben schien als die Andern, +ging ihm eine Strecke weit mit einer brennenden Laterne als Führer +voran, kehrte aber um, als sie noch über eine halbe Werst weit von dem +Gemäuer entfernt waren. Da der bewölkte Nachthimmel Nichts erkennen +ließ, so mußte der Riegenaufseher seinen Weg tastend verfolgen. Das +Pfeifen des Windes und das Geschrei der Nachteulen schlug schauerlich an +sein Ohr, konnte aber sein tapferes Herz nicht schrecken. Sobald er im +Stande war, unter dem Schutze des Mauerwerks Feuer zu machen, zündete er +einen Span an, und spähte nach einer Thür oder einer Oeffnung umher, +durch die er unter die Erde hinabsteigen könnte. Nachdem er eine Weile +vergebens gesucht hatte, sah er endlich am Fuße der Mauer ein Loch, +welches abwärts führte. Er steckte den brennenden Span in eine +Mauerspalte, und räumte mit den Händen soviel Geröll und Schutt fort, +daß er hineinkriechen konnte. Nachdem er eine Strecke weit gekommen war, +fand er eine steinerne Treppe, und der Raum wurde weit genug, daß er +aufrecht gehen konnte. Das Kienspan-Bund auf der Schulter und einen +brennenden Span in der Hand, stieg er die Stufen hinunter, und kam +endlich an eine eiserne Thür, die nicht verschlossen war. Er stieß die +schwere Thür auf und wollte eben eintreten, als eine große schwarze +Katze mit feurigen Augen windschnell durch die Thür und zur Treppe +hinauf schoß. Der Riegenaufseher dachte: die hat gewiß den Herrn des +Geldes erwürgt, stieß die Thür zu, warf das Kienspan-Bund zu Boden, und +sah sich dann den Ort näher an. Es war ein großer breiter Saal, an +dessen Wänden überall Thüren angebracht waren; er zählte deren zwölf, +und überlegte, welche von ihnen er zuerst versuchen sollte. »Sieben ist +doch eine Glückszahl!« sagte er, und zählte dann von der Eingangsthür +bis zur siebenten; aber diese war verschlossen und wollte nicht +aufgehen. Als er sich indeß mit aller Leibeskraft gegen die Thür +stemmte, gab das verrostete Schloß nach, und die Thür sprang auf. Als +der Riegenaufseher hineintrat, fand er ein Gemach von mittlerer Größe, +welches an einer Wand einen langen Tisch nebst einer Bank, an der andern +Wand einen Ofen und vor demselben einen Herd enthielt; neben dem Herde +lagen auch Scheite Holz am Boden. Der Mann machte nun Feuer an, und sah +beim Scheine desselben, daß ein kleiner Grapen und eine Schale mit Mehl +auf dem Ofen standen, auch fand er etwas Salz im Salzfaß. »Sieh' doch!« +rief der Aufseher. »Hier finde ich ja unerwartet Mundvorrath, Wasser +habe ich mir im Fäßchen mitgebracht, jetzt kann ich mir eine warme Suppe +kochen.« Damit stellte er den Grapen auf's Feuer, that Mehl und Wasser +hinein, streute Salz darauf, rührte mit einem Splitter um, und kochte +die Suppe gar; dann goß er sie in die Schale, und setzte sie auf den +Tisch. Das helle Feuer des Herdes erleuchtete die Stube, so daß er +keinen Span anzuzünden brauchte. Der muthige Riegenaufseher setzte sich +nun an den Tisch, nahm den Löffel und fing an, sich mit der warmen Suppe +den leeren Magen zu füllen. Plötzlich sah er, als er aufblickte, die +schwarze Katze mit den feurigen Augen auf dem Ofen sitzen; er konnte +nicht begreifen, wie das Thier dahin gekommen sei, da er doch mit +eigenen Augen gesehen hatte, wie die Katze die Treppe hinauf gerannt +war. Darauf wurden draußen drei laute Schläge an die Thür gethan, so daß +Wände und Fußboden schütterten, aber der Riegenaufseher verlor den Muth +nicht, sondern rief mit strenger Stimme: »Wer einen Kopf auf dem Rumpfe +hat, soll eintreten!« Augenblicklich prallte die Thür weit auf, die +schwarze Katze sprang vom Ofen herunter und schoß durch die Thür, wobei +ihr aus Maul und Augen Feuerfunken sprühten. Als die Katze davon +gelaufen war, traten vier lange Männer ein in langen weißen Röcken und +mit feuerrothen Mützen, welche dermaßen funkelten, daß sich Tageshelle +im Gemach verbreitete. Die Männer trugen eine Bahre auf den Schultern, +und auf der Bahre stand ein Sarg; das flößte aber dem beherzten +Riegenaufseher keine Furcht ein. Ohne ein Wort zu sagen, stellten die +Männer den Sarg auf den Boden, gingen dann einer nach dem andern zur +Thür hinaus und zogen sie hinter sich zu. Die Katze miaute und kratzte +an der Thür, als ob sie herein wollte, aber der Riegenaufseher kümmerte +sich nicht darum, sondern verzehrte ruhig seine warme Suppe. Als er satt +war, stand er auf und besah sich den Sarg; er brach den Deckel auf und +erblickte einen kleinen Mann mit langem weißen Barte. Der Riegenaufseher +hob ihn heraus, und brachte ihn zum Herde an's Feuer, um ihn zu +erwärmen. Es dauerte auch nicht lange, so fing das alte Männchen an, +sich zu erholen und Hände und Füße zu regen. Der muthige Riegenaufseher +hatte nicht die geringste Furcht; er nahm die Suppenschüssel und den +Löffel vom Tische, und fing an, den Alten zu füttern. Diesem aber +dauerte das zu lange, drum faßte er die Schüssel mit beiden Händen und +schlürfte hastig alle Suppe hinunter. Dann sagte er: »Dank dir, +Söhnchen! daß du dich über mich Armen erbarmt, und meinen von Hunger und +Kälte erstarrten Leib wieder aufgerichtet hast. Für diese Wohlthat will +ich dir so fürstlichen Lohn spenden, daß du mich Zeit Lebens nicht +vergessen sollst. -- Da hinter dem Ofen findest du Pechfackeln, zünde +eine derselben an, und komm mit mir. Vorher aber mach die Thür fest zu, +damit die wüthige Katze nicht herein kann, die dir den Hals brechen +würde. Später wollen wir sie so kirre machen, daß sie Niemanden mehr +Schaden zufügen kann.« + +Mit diesen Worten hob der Alte eine viereckige Fliese von der Breite +einer halben Klafter aus dem Boden, und es zeigte sich, daß der Stein +den Eingang zu einem Keller bedeckt hatte. Der Alte stieg zuerst die +Stufen hinunter, und furchtlos folgte ihm der Riegenaufseher mit der +brennenden Pechfackel auf dem Fuße, bis sie in eine schauerliche tiefe +Höhle gelangten. + +In dieser großen kellerartig gewölbten Höhle lag ein gewaltiger +Geldhaufe, so hoch wie der größte Heuschober, halb Silber, halb Gold. +Das alte Männchen nahm jetzt aus einem Wandschranke eine Handvoll +Wachslichter, drei Flaschen Wein, einen geräucherten Schinken und ein +Brotlaib heraus, und sagte dann zum Riegenaufseher: »Ich gebe dir drei +Tage Zeit, diesen Geldklumpen zu zählen und zu sondern. Du mußt den +Haufen in zwei Theile theilen, so daß beide ganz gleich werden und kein +Rest bleibt. Während du mit dieser Theilung dich beschäftigst, will ich +mich an der Wand schlafen legen, aber hüte dich, daß du dabei nicht das +geringste Versehen machst, sonst erwürge ich dich.« Der Riegenaufseher +machte sich sogleich an die Arbeit, und der Alte streckte sich nieder. +Damit kein Versehen vorkommen könne, theilte der Riegenaufseher so, daß +er immer zwei gleichartige Geldstücke nahm, es mochten Thaler oder +Rubel, Gold- oder Silbermünzen sein; das eine Geldstück legte er dann +links und das andere rechts, so daß zwei Haufen entstanden. Wenn ihm die +Kraft auszugehen drohte, so erquickte er sich durch einen Schluck aus +der Flasche, genoß etwas Brot und Fleisch, und setzte dann neugestärkt +seine Arbeit fort. Weil er sich die Nacht nur einen kurzen Schlaf +gönnte, um die Arbeit rasch zu fördern, wurde er schon am Abend des +zweiten Tages mit der Theilung fertig, aber ein kleines Silberstück war +übrig geblieben. Was jetzt thun? Das machte dem braven Riegenaufseher +keine Noth, er zog sein Messer aus der Tasche, legte die Schneide auf +die Mitte des Geldstücks, und schlug dann mit einem Steine so kräftig +auf des Messers Rücken, daß das Geldstück in zwei Hälften gespalten +wurde. Die eine Hälfte legte er dann zu dem Haufen rechts, und die +andere zu dem Haufen links; darauf weckte er den Alten auf und lud ihn +ein, die Arbeit in Augenschein zu nehmen. Als der Alte die beiden +Hälften des übrig gebliebenen Geldstücks je rechts und links erblickte, +fiel er mit einem Freudengeschrei dem Riegenaufseher um den Hals, +streichelte lange seine Wangen und sagte endlich: »Tausend und aber +tausend Dank dir, kühner Jüngling, der du mich aus meiner langen, langen +Gefangenschaft erlöst hast. Ich habe schon viele hundert Jahre meinen +Schatz hier bewachen müssen, weil sich kein Mensch fand, der Muth oder +Verstand genug hatte, das Geld so zu theilen, daß Nichts übrig blieb. +Ich mußte deshalb, einem eidlichen Gelöbnisse zufolge, Einen nach dem +Andern erwürgen, und da Keiner wiederkehrte, so wagte in den letzten +zweihundert Jahren Niemand mehr her zu kommen, obgleich ich keine Nacht +verstreichen ließ, ohne mit dem Gelde zu klappern. Dir, du Glückskind! +war es beschieden, mein Retter zu werden, als mir schon alle Hoffnung +schwinden wollte, und ich ewige Gefangenschaft fürchten mußte. Dank, +tausend Dank dir für deine Wohlthat! Den einen Geldhaufen bekommst du +jetzt zum Lohn für deine Mühe, den andern aber mußt du unter die Armen +vertheilen, zur Sühne für meine schweren Sünden; denn ich war, als ich +auf Erden lebte und diesen Schatz anhäufte, ein großer Frevler und +Bösewicht. Noch eine Arbeit hast du zu meinem und deinem Nutzen zu +vollbringen. Wenn du wieder hinaufgehst, und die große schwarze Katze +dir auf der Treppe entgegenkommt, dann packe sie und hänge sie auf. Hier +ist eine Schlinge, aus der sie sich nicht wieder herausziehen soll.« +Damit zog er eine aus feinem Golddraht geflochtene Schnur von der Dicke +eines Schuhbandes aus dem Busen, gab sie dem Riegenaufseher und +verschwand, als wäre er in den Boden gesunken. Aber in demselben +Augenblicke entstand ein Gekrach, als ob die Erde unter den Füßen des +Riegenaufsehers bersten wollte. Das Licht erlosch, und um ihn her +herrschte tiefe Finsterniß, allein auch dieses unerwartete Ereigniß +machte ihn nicht muthlos. Er suchte tappend seinen Weg, bis er an die +Treppe kam, kletterte die Stufen hinan, und kam in die erste Stube, wo +er sich die Suppe gekocht hatte. Das Feuer auf dem Herde war längst +ausgegangen, aber er fand in der Asche noch Funken, die er zur Flamme +anblasen konnte. Der Sarg stand noch auf der Bahre, aber statt des Alten +schlief die große schwarze Katze darin. Der Riegenaufseher packte sie am +Kopfe, schlang die Goldschnur um ihren Hals, hing sie an einem starken +eisernen Nagel in der Wand auf, und legte sich auf den Boden zur Ruhe. + +Erst am andern Morgen kam er aus dem Gemäuer heraus, und nahm den +nächsten Weg zur Schenke, in der er vorher eingekehrt war. Als der Wirth +sah, daß der Fremde unversehrt entronnen sei, kannten seine Freude und +sein Erstaunen keine Grenzen. Der Riegenaufseher aber sagte: »Besorge +mir für gute Bezahlung ein paar Dutzend Säcke von Tonnengehalt und +miethe Pferde, damit ich meinen Schatz wegführen kann.« Daran merkte +der Schenkwirth, daß des Fremden Gang kein fruchtloser gewesen war, und +erfüllte sogleich des reichen Mannes Verlangen. Als darauf der +Riegenaufseher von den Leuten erkundet hatte, was für Gebiete vor Alters +unter der Herrschaft des damaligen Schloßbesitzers gestanden hatten, +wies er den dritten Theil des den Armen bestimmten Geldes jenen Gebieten +zu, übergab die beiden andern Drittel dem Gericht zur Vertheilung und +siedelte sich mit seinem eigenen Gelde in einem fernen Lande an, wo ihn +Niemand kannte. Dort müssen noch heutigen Tags seine Verwandten als +reiche Leute leben, und die Kühnheit ihres Ahnherrn preisen, der diesen +Schatz errungen hatte. + +[Fußnote 84: Riege ist baltischer Provinzialismus für Scheune, Dörr- +und Dresch-Scheune. Die (steinerne) Gutsriege enthält auch Kornkammern, +Flachsspeicher, Branntweinkeller. L.] + + + + +22. Wie ein Königssohn als Hüterknabe aufwuchs. + + +Es war einmal ein König, der seine Unterthanen milde und liebreich +regierte, so daß Niemand im Königreiche war, der ihn nicht gesegnet, und +den himmlischen Vater um die Verlängerung seiner Lebenstage angefleht +hätte. + +Der König lebte schon manches Jahr in glücklicher Ehe, aber kein Kind +war den Ehegatten geschenkt worden. Groß war daher seine und sämmtlicher +Unterthanen Freude, als die Königin ein Söhnlein zur Welt brachte, aber +die Mutter sollte dieses Glück nicht lange genießen. Drei Tage nach des +Sohnes Geburt schlossen sich ihre Augen für immer -- der Sohn war Waise, +und der König Wittwer. Schweren Kummer empfand der König über den Tod +seiner theuren Gemahlin, und mit ihm trauerten die Unterthanen; man sah +nirgends mehr ein fröhliches Antlitz. Zwar nahm der König, auf Andringen +seiner Unterthanen, drei Jahre später eine andere Gemahlin, aber bei der +neuen Wahl war ihm das Glück nicht wieder günstig: ein Täubchen hatte er +begraben, und einen Habicht dafür bekommen; es geht leider vielen +Wittwern so. Die junge Frau war ein böses, hartherziges Weib, das weder +dem Könige noch den Unterthanen Gutes erwies. Den Sohn der vorigen +Königin konnte sie nicht vor Augen leiden, da sie besorgen mußte, die +Regierung werde an diesen Stiefsohn fallen, den die Unterthanen um +seiner hingeschiedenen Mutter willen liebten. Die tückische Königin +faßte darum den bösen Vorsatz, das Knäblein heimlich an einen Ort zu +schaffen, wo der König es nicht wiederfinden könne; es umzubringen, dazu +hatte sie nicht den Muth. Ein nichtswürdiges altes Weib half für gute +Bezahlung der Königin die böse That auszuführen. Bei nächtlicher Weile +wurde das Kind dem gottlosen Weibe überliefert, und von diesem auf +Schleichwegen weit weg gebracht, und armen Leuten als Pflegkind +übergeben. Unterwegs zog die Alte dem Kinde seine guten Kleider aus, und +hüllte es in Lumpen, damit Niemand den Betrug merke. Der Königin hatte +sie mit einem schweren Eide gelobt, keinem Menschen den Ort zu nennen, +wohin der Königssohn geschafft worden. Am Tage wagte die Kindesdiebin +nicht zu wandern, weil sie Verfolgung fürchtete; darum dauerte es lange, +bis sie einen verborgenen Ort fand, der sich zum Aufenthalte für das +königliche Kind eignete. In ein einsames Waldgehöft, das fremder +Menschen Fuß selten betreten hatte, wurde der gestohlene Königssohn als +Pflegling gethan, und der Wirth erhielt für das Aufziehen des Kindes die +Summe von hundert Rubeln. Es war ein Glück für den Königssohn, daß er zu +guten Menschen gekommen war, die für ihn sorgten, als wäre er ihr +leibliches Kind. Der muntere Knabe machte ihnen oft Spaß, besonders +wenn er sich einen Königssohn nannte. Sie sahen wohl aus der reichlichen +Bezahlung, die sie erhalten hatten, daß das Knäblein kein rechtmäßiger +Sprößling sei, und vom Vater oder von der Mutter her vornehmer Abkunft +sein mochte, allein so hoch verstiegen sich ihre Gedanken nicht, daß sie +für wahr gehalten hätten, wessen das Kind in seinem einfältigen Sinne +sich rühmte. + +Man kann sich leicht vorstellen, wie groß der Schrecken im Hause des +Königs war an dem Morgen, wo man entdeckte, daß das Söhnchen in der +Nacht gestohlen war, und zwar auf so wunderbare Weise, daß Niemand es +gehört hatte, und daß nicht die leiseste Spur des Diebes zurückgeblieben +war. Der König weinte Tage lang bitterlich um den Sohn, den er im +Andenken an dessen Mutter um so zärtlicher liebte, je weniger er mit +seiner neuen Gemahlin glücklich war. Zwar wurden lange Zeit hindurch +aller Orten Nachforschungen angestellt, um dem verschwundenen Kinde auf +die Spur zu kommen, auch wurde Jedem eine große Belohnung verheißen, der +irgend eine Auskunft darüber geben könnte, aber Alles blieb vergeblich, +das Knäblein schien wie weggeblasen. Kein Mensch konnte das Geheimniß +aufklären, und Manche glaubten, das Kind sei durch einen bösen Geist +oder durch Hexerei entführt. In das einsame Waldgehöft, wo der +Königssohn lebte, hatte keiner der Suchenden seine Schritte gelenkt, und +ebensowenig konnten die Bekanntmachungen dahin dringen. -- Während nun +der Königssohn daheim als Todter beweint wurde, wuchs er im stillen +Walde auf und gedieh fröhlich, bis er in das Alter trat, daß er schon +Geschäfte besorgen konnte. Da legte er denn eine wunderbare Klugheit an +den Tag, so daß seine Pflegeeltern sich oft genug gestehen mußten, daß +hier das Ei viel klüger sei als die Henne. + +Der Königssohn hatte schon über zehn Jahre in dem Waldgehöfte gelebt, +als er ein Verlangen empfand, unter die Leute zu kommen. Er bat seine +Pflegeeltern um Erlaubniß, sich auf eigene Hand sein Brot zu verdienen, +indem er sagte: »Ich habe Verstand und Kraft genug, um mich ohne eure +Hülfe zu ernähren. Bei dem einsamen Leben hier wird mir die Zeit sehr +lang.« Die Pflegeeltern sträubten sich anfangs sehr dagegen, mußten aber +endlich nachgeben, und den Wunsch des jungen Burschen erfüllen. Der +Wirth ging selbst mit, um ihn zu begleiten, und eine passende Stelle für +ihn ausfindig zu machen. In einem Dorfe fand er einen wohlhabenden +Bauerwirth, der einen Hüterknaben brauchte, und da sich der Pflegesohn +gerade einen solchen Dienst wünschte, so wurde man bald einig. Der +Vertrag lautete auf ein Jahr, allein es wurde ausdrücklich bedungen, daß +es dem Knaben zu jeder Zeit gestattet sein solle, den Dienst zu +verlassen und zu seinen Pflegeeltern zurückzukehren. Ebenso konnte der +Wirth, wenn er mit dem Knaben nicht zufrieden war, ihn noch vor Ablauf +des Jahres entlassen, jedoch nicht ohne Vorwissen der Pflegeeltern. Das +Dorf, wo der Königssohn diesen Dienst gefunden hatte, lag unweit einer +großen Landstraße, auf welcher täglich viele Menschen vorbeikamen, Hohe +wie Niedere. Der königliche Hüterknabe saß häufig dicht an der +Landstraße, und unterhielt sich mit den Vorübergehenden, von denen er +Manches erfuhr, was ihm bis dahin unbekannt geblieben war. Da geschah +es eines Tages, daß ein alter Mann mit grauen Haaren und langem weißen +Barte des Weges kam, als der Königssohn auf einem Steine sitzend die +Maultrommel schlug; die Thiere grasten indeß, und wenn eines derselben +sich zu weit von den übrigen entfernen wollte, so trieb des Knaben Hund +es zurück. Der Alte betrachtete ein Weilchen den Knaben und seine Herde, +trat dann einige Schritte näher und sagte: »Du scheinst mir nicht zum +Hüterknaben geboren zu sein.« Der Knabe erwiederte: »Mag sein, ich weiß +nur soviel, daß ich zum Herrscher geboren bin, und hier vorerst das +Geschäft des Herrschens erlerne. Geht es mit den Vierfüßlern gut, so +versuche ich weiterhin mein Glück auch wohl mit den Zweifüßlern.« Der +Alte schüttelte wie verwundert den Kopf und ging seiner Wege. Ein +anderes Mal fuhr eine prächtige Kutsche vorbei, in der ein Frauenzimmer +mit zwei Kindern saß: auf dem Bocke der Kutscher und hinten auf ein +Lakai. Der Königssohn hatte gerade ein Körbchen mit frischgepflückten +Erdbeeren in der Hand, welches der stolzen deutschen Frau in die Augen +fiel, und ihren Appetit reizte. Sie befahl dem Kutscher zu halten, und +rief gebieterisch zum Kutschenfenster hinaus: »Du Rotzlöffel! bring die +Beeren her, ich will dir ein paar Kopeken zu Weißbrot dafür geben!« Der +königliche Hüterknabe that, als ob er nichts hörte, und auch nicht +glaubte, daß ihm der Befehl gelte, so daß die Frau ein zweites und ein +drittes Mal rufen mußte, was aber auch nur in den Wind gesprochen war. +Da rief sie dem Lakaien hinter der Kutsche zu: »Geh und ohrfeige diesen +Rotzlöffel, damit er gehorcht.« Der Lakai stürzte hin, um den +erhaltenen Befehl auszuführen. Noch ehe er ankam, war der Hüterknabe +aufgesprungen, hatte einen tüchtigen Knüppel ergriffen, und schrie dem +Lakai zu: »Wenn dich nicht nach einem blutigen Kopf gelüstet, so thue +keinen Schritt weiter, oder ich zerschlage dir das Gesicht!« Der Lakai +ging zurück, und meldete, was ihm begegnet war. Da rief die Dame zornig: +»Schlingel! willst du dich vor dem Rotzlöffel von Jungen fürchten? Geh +und nimm ihm den Korb mit Gewalt weg, ich will ihm zeigen, wer ich bin, +und werde auch noch seine Eltern bestrafen lassen, die ihn nicht besser +zu erziehen verstanden.« -- »Hoho!« rief der Hüterknabe, der den Befehl +gehört hatte, »so lange noch Leben in meinen Gliedern sich regt, soll +Niemand mir mit Gewalt nehmen, was mein rechtmäßiges Eigenthum ist. Ich +stampfe Jeden zu Brei, der mir meine Erdbeeren rauben will!« So +sprechend spuckte er in die Hand, und schwang den Knüppel um den Kopf, +daß es sauste. Als der Lakai das sah, hatte er nicht die geringste Lust, +die Sache zu probiren; die Frau aber fuhr unter schweren Drohungen +davon, versichernd, daß sie diesen Schimpf nicht ungeahndet lassen +werde. Andere Hüterknaben, welche den Vorfall von Weitem mit angesehen +und angehört hatten, erzählten ihn am Abend ihren Hausgenossen. Da +geriethen Alle in Furcht, daß man auch ihnen zu nahe thun könnte, wenn +die vornehme Frau sich vor Gericht über die thörichte Widerspenstigkeit +des Burschen beklagte, und es zur Untersuchung käme. Den Königssohn +schalt sein Wirth und sagte: »Ich werde nicht für dich sprechen; was du +dir eingebrockt hast, kannst du auch ausessen.« Der Königssohn +erwiederte: »Damit will ich schon zurecht kommen, das ist meine Sache. +Gott hat mir selber einen Mund in den Kopf, und eine Zunge in den Mund +gesetzt, ich kann selber für mich sprechen, wenn es noth thut, und werde +euch nicht bitten, mein Fürsprecher zu sein. Hätte die Frau auf +geziemende Weise die Erdbeeren verlangt, ich hätte sie ihr gegeben, aber +wie durfte sie mich Rotzlöffel schimpfen? Meine Nase ist noch immer eben +so rein von Rotz gewesen wie die ihrige.« + +Die Frau war in die Stadt des Königs gefahren, wo sie nichts Eiligeres +zu thun hatte, als sich bei Gericht über das unverschämte Benehmen des +Hüterknaben zu beschweren. Man schritt auch ungesäumt zur Untersuchung, +und es wurde Befehl gegeben, das Bürschlein sammt seinem Wirthe vor's +Gericht zu bringen. Als die Gerichtsdiener in's Dorf kamen, um den +Befehl auszuführen, sagte der Königssohn: »Mein Wirth hat mit dieser +Sache nichts zu schaffen; was ich gethan habe, das muß ich auch +verantworten.« Jetzt wollte man ihm die Hände auf den Rücken binden, und +ihn als Gefangenen vor Gericht führen, aber er zog ein scharfes Messer +aus der Tasche, trat rasch einige Schritte zurück, richtete die Spitze +des Messers auf sein Herz, und rief aus: »Lebend soll mich Niemand +binden! Ehe eure Hand mich bindet, stoße ich mir das Messer in's Herz! +Meinen Leichnam mögt ihr dann binden, und damit machen, was ihr wollt; +so lange ich noch Athem habe, soll kein Mensch mir einen Strick oder +eine Fessel anlegen! Vor Gericht will ich gern erscheinen, und Auskunft +geben, als Gefangenen lasse ich mich nicht fortführen.« Seine Kühnheit +setzte die Gerichtsdiener dermaßen in Schrecken, daß sie nicht wagten, +ihm nahe zu kommen; sie fürchteten, es möchte ihnen zur Last fallen, +wenn der Knabe in seinem Trotze sich umbrächte. Und da er ihnen +gutwillig folgen wollte, so mußten sie sich zufrieden geben. Unterwegs +wunderten sich die Gerichtsdiener täglich mehr über den Verstand und die +Klugheit ihres Gefangenen, denn dieser wußte in allen Dingen besser +Bescheid als sie selber. Noch viel größer war die Verwunderung der +Richter, als sie den Hergang der Sache aus dem Munde des Knaben +vernahmen; er sprach so klar und bündig, daß man ihm Recht geben und ihn +von aller Schuld frei sprechen mußte. Auch der König, an den sich die +vornehme Frau jetzt wandte, und der sich auf ihre Bitten die ganze Sache +auseinander setzen ließ, mußte den Richtern beistimmen, und den Burschen +straflos lassen. Jetzt wollte die vornehme Frau bersten vor Zorn, sie +geberdete sich wie eine Katze, die wüthend auf einen Hund schnaubt, so +ein Rotzlöffel von Bauerjungen sollte ihr gegenüber Recht behalten! Sie +klagte ihre Noth der Königin, von der sie wußte, daß sie ungleich härter +war als der König. »Mein Gemahl,« sagte die Königin, »ist eine alte +Nachtmütze, und seine Richter sind all' zusammen Schafsköpfe! Schade, +daß ihr eure Sache vor Gericht brachtet, und nicht lieber gleich zu mir +kamt; ich hätte euren Handel anders geschlichtet und euch Recht gegeben. +Jetzt, da die Sache durchs Gericht entschieden und vom Könige bestätigt +ist, bin ich nicht mehr im Stande, der Sache öffentlich eine bessere +Wendung zu geben, aber wir müssen sehen, wie wir ohne Aufsehen über den +Burschen eine Züchtigung verhängen können.« Da fiel es der Frau zur +rechten Zeit ein, daß auf ihrem Gebiete eine sehr böse Bauerwirthin +angesessen war, bei der kein Knecht mehr bleiben wollte; auch gab der +Wirth selber zu, daß es bei ihnen ärger hergehe als in der Hölle. Wenn +man das naseweise Bürschlein auf diesen Hof als Hüterknaben geben +könnte, so würde ihm das gewiß eine schwerere Züchtigung sein, als +irgend ein Richterspruch ihm zuerkennen könnte. »Ich will die Sache +gleich so einrichten, wie ihr wünscht,« sagte die Königin, ließ einen +zuverlässigen Diener rufen, und gab ihm an, was er zu thun habe. Hätte +ihre Seele geahndet, daß der Hüterknabe der von ihr verstoßene +Königssohn sei, so hätte sie ihn ohne weiteres tödten lassen, ohne sich +um König oder Richterspruch zu kümmern. + +Der Bauerwirth hatte kaum den Befehl der Königin erhalten, als er auch +den Hüterknaben seines Dienstes entließ. Er dankte seinem Glücke, daß er +noch so leichten Kaufes davon gekommen war. Der Königin Diener führte +nun den Burschen selber auf den Bauerhof, auf welchen sie ihn wider +seinen Willen verdungen hatte. Die tückische Wirthin jauchzte auf vor +Freude, daß die Königin ihr einen Hüterknaben geschafft, und ihr +zugleich frei gestellt hatte, mit ihm zu machen was sie wollte, weil das +Bürschlein sehr halsstarrig und in Gutem nicht zu lenken sei. Sie kannte +des neuen Mühlsteins Härte noch nicht, und hoffte, in ihrer alten Weise +mit ihm zu mahlen. Bald aber sollte das höllische Weib inne werden, daß +ihr dieser Zaun denn doch zu hoch war, um hinüber zu kommen, sintemal +das Bürschlein einen gar zähen Sinn hatte, und kein Haar breit von +seinem Rechte vergab. Wenn ihm die Wirthin ohne Grund ein böses Wort +gab, so erhielt sie deren gleich ein Dutzend zurück; wenn sie die Hand +gegen den Knaben aufhob, so raffte dieser einen Stein oder ein +Holzscheit, oder was ihm gerade zur Hand war, auf und rief: »Wage es +nicht, einen Schritt näher zu kommen, oder ich schlage dir das Gesicht +entzwei, und stampfe deinen Leib zu Brei!« Solche Reden hatte die +Hausfrau in ihrem Leben noch von Niemanden, am wenigsten aber von ihren +Knechten gehört; der Wirth aber freute sich im Stillen, wenn er ihren +Hader mit anhörte, und stand auch seiner Frau nicht bei, da der Knabe +seine Pflicht nicht versäumte. Die Wirthin suchte nun den Hüterknaben +durch Hunger zu zähmen, und weigerte ihm die Nahrung, aber der Knabe +nahm das Laib mit Gewalt, wo er es fand, und melkte sich dazu Milch von +der Kuh, so daß sein Magen kein Nagen des Hungers verspürte. Je weniger +die Wirthin mit dem Hüterknaben fertig werden konnte, desto mehr suchte +sie ihr Müthchen am Manne und dem Gesinde zu kühlen. Als der Königssohn +sich dieses heillose Leben, das einen Tag wie den andern war, einige +Wochen lang mit angesehen hatte, beschloß er, der Wirthin alle ihre +Schlechtigkeit heimzuzahlen, und zwar in der Weise, daß die Welt den +Drachen gänzlich los würde. Um seinen Vorsatz auszuführen, fing er ein +Dutzend Wölfe ein, und sperrte sie in eine Höhle, wo er ihnen alle Tage +ein Thier von seiner Herde vorwarf, damit sie nicht verhungerten. Wer +vermöchte der Wirthin Wuth zu beschreiben, als sie ihr Eigenthum dahin +schwinden sah, denn der Knabe brachte alle Abende ein Stück Vieh weniger +nach Hause, als er am Morgen auf die Weide getrieben hatte, und +antwortete auf alle Fragen nichts weiter als: »Die Wölfe haben's +zerrissen!« Die Wirthin schrie wie eine Rasende, und drohte, das +Bürschlein den wilden Thieren zum Fraß vorzuwerfen, aber der Knabe +entgegnete lachend: »Da wird ihnen dein wüthiges Fleisch besser munden!« +Darauf ließ er seine Wölfe in der Höhle drei Tage lang ohne Futter, +trieb dann in der Nacht, als Alles schlief, die Herde aus dem Stalle und +statt derselben die zwölf Wölfe hinein, worauf er die Thür fest +verschloß, so daß die wilden Bestien nicht heraus konnten. Als die Sache +soweit in Ordnung war, machte er sich auf die Socken, da ihm der +Hirtendienst schon längst zuwider geworden war, und er jetzt auch Kraft +genug in sich fühlte, um größere Arbeiten zu unternehmen. + +O du liebe Zeit! was begab sich da am Morgen, als die Wirthin in den +Stall ging, um die Thiere herauszulassen und die Kühe zu melken. Die vom +Hunger wüthend gewordenen Wölfe sprangen auf sie los, rissen sie nieder +und verschlangen sie sammt ihren Kleidern mit Haut und Haar, so daß +nichts weiter von ihr übrig blieb, als Zunge und Herz, diese beiden +taugten nicht einmal den wilden Bestien, weil sie zu giftig waren. Weder +Wirth noch Gesinde betrübten sich über dieses Unglück, vielmehr war +Jeder dem Geschicke dankbar, das ihn von dem Höllenweibe befreit hatte. + +Der Königssohn hatte einige Jahre die Welt durchstreift, und bald dies +bald jenes Gewerbe versucht, er hielt aber an keinem Orte lange aus, +weil ihn die Erinnerungen seiner Kindheit, die ihm wie lebhafte Träume +vorschwebten, stets daran mahnten, daß er durch seine Geburt einem +höheren Stande angehöre. Von Zeit zu Zeit traf er wieder mit dem alten +Manne zusammen, der ihn schon damals in's Auge gefaßt hatte, als er noch +Hüterknabe war. Als der Königssohn achtzehn Jahr alt war, trat er bei +einem Gärtner in Dienst, um die Gärtnerei zu erlernen. Gerade zu der +Zeit ereignete sich etwas, was seinem Leben eine andere Wendung geben +sollte. Die ruchlose Alte, welche ihn auf Befehl der Königin geraubt und +als Pflegkind in das Waldgehöft gebracht hatte, beichtete auf ihrem +Todbette dem Geistlichen den von ihr verübten Frevel, denn ihre unter +der Last der Sünde seufzende Seele fand nicht eher Ruhe, als bis sie die +böse That aufgedeckt hatte. Sie nannte auch den Bauerhof, auf welchen +sie das Kind gebracht hatte, konnte aber nichts weiter darüber sagen, ob +das Kind am Leben geblieben oder gestorben sei. Der Geistliche machte +sich eilig auf, dem Könige die Freudenbotschaft zu bringen, daß eine +Spur seines verschwundenen Sohnes gefunden sei. Der König verrieth +Niemanden, was er erfahren, ließ augenblicklich ein Pferd satteln und +machte sich mit drei treuen Dienern auf den Weg. Nach einigen Tagen +erreichten sie das Waldgehöft; Wirth und Wirthin bekannten der Wahrheit +gemäß, daß ihnen vor so und so langer Zeit ein Kind männlichen +Geschlechts als Pflegling übergeben worden, und daß sie gleichzeitig +hundert Rubel für das Aufziehen desselben erhalten hatten. Daraus hatten +sie freilich gleich geschlossen, daß das Kind von vornehmer Geburt sein +könne, aber das sei ihnen niemals in den Sinn gekommen, daß das Kind von +königlichem Geblüte sei, vielmehr hätten sie immer nur ihren Spaß daran +gehabt, wenn das Kind sich selbst einen Königssohn genannt hätte. Darauf +führte der Wirth selbst den König in das Dorf, wohin er den Knaben als +Hirtenjungen gebracht hatte, wiewohl nicht aus eigenem Antriebe, sondern +auf Verlangen des Knaben, der an dem einsamen Orte nicht länger hatte +leben mögen. Wie erschrack der Wirth, und noch mehr der König, als sich +in dem Dorfe der Knabe, der zum Jüngling herangewachsen sein mußte, +nicht fand, und man auch keine nähere Auskunft über ihn erhalten konnte. +Die Leute wußten nur soviel zu sagen, daß der Knabe auf die Klage einer +vornehmen Dame vor Gericht gestellt, von diesem aber freigesprochen und +losgelassen worden sei. Später aber sei ein Diener der Königin +erschienen, der den Knaben fortgeführt und in einem andern Gebiete in +Dienst gegeben habe. Der König eilte dahin, und fand auch das Gesinde, +in welchem sein Sohn eine kurze Zeit gewesen war, darnach aber war er +entflohen, und man hatte nichts weiter von ihm gehört. Wie sollte man +jetzt aufs Geratewohl weiter suchen, und wer war im Stande, den rechten +Weg zu weisen? + +Während der König noch voller Kümmerniß war, daß sich hier alle Spuren +verloren, trat ein alter Mann vor ihn hin -- derselbe, der schon mehrere +Mal mit dem Königssohne zusammen getroffen war -- und sagte, er sei +einem jungen Manne, wie man ihn suche, dann und wann begegnet, und habe +ihn anfangs als Hirten und später in mancherlei anderen Handthierungen +gesehen; und er hoffe, die Spur des Verschwundenen zu finden. Der König +sicherte dem Alten reiche Belohnung, wenn er ihn auf die Spur des Sohnes +bringen könne, befahl einem der Diener, vom Pferde zu steigen, und hieß +den Alten aufsitzen, damit sie rascher vorwärts kamen. Dieser aber +sagte lächelnd: »So viel wie eure Pferde laufen können, leisten meine +Beine auch noch; sie haben ein größeres Stück Welt durchwandert, als +irgend ein Pferd.« Nach einer Woche kamen sie wirklich dem Königssohne +auf die Spur, und fanden ihn auf einem stattlichen Herrenhofe, wo er, +wie oben erzählt, die Gärtnerei erlernte. Grenzenlos war des Königs +Freude, als er seinen Sohn wieder fand, den er schon so manches Jahr als +todt beweint hatte. Freudenthränen rannen von seinen Wangen, als er den +Sohn umarmte, ihn an seine Brust drückte und küßte. Doch sollte er aus +des Sohnes Munde eine Nachricht vernehmen, welche ihm die Freude des +Wiederfindens schmälerte und ihn in neue Betrübniß versetzte. Der +Gärtner hatte eine junge blühende Tochter, welche scheuer war als alle +Blumen in dem prachtvollen Garten, und so fromm und schuldlos wie ein +Engel. Diesem Mädchen hatte der Königssohn sein Herz geschenkt, und er +gestand seinem Vater ganz offen, daß er nie eine Dame von edlerer +Herkunft freien, sondern die Gärtnerstochter zu seiner Gemahlin machen +wolle, sollte er auch sein Königreich aufgeben müssen. »Komm nur erst +nach Hause,« sagte der König, »dann wollen wir die Sache schon in +Ordnung bringen.« Da bat sich der Sohn von seinem Vater einen kostbaren +goldenen Ring aus, steckte ihn vor Aller Augen der Jungfrau an den +Finger und sagte: »Mit diesem Ringe verlobe ich mich dir, und über kurz +oder lang komme ich wieder, um als Bräutigam dich heim zu führen.« Der +König aber sagte: »Nein, nicht so --auf andere Weise soll die Sache vor +sich gehen!« -- zog den Ring wieder vom Finger des Mädchens und hieb +ihn mit seinem Schwerte in zwei Stücke. Die eine Hälfte gab er seinem +Sohne, die andere der Gärtnerstochter, und sagte: »Hat Gott euch für +einander geschaffen, so werden die beiden Hälften des Ringes zu rechter +Zeit von selbst ineinander schmelzen, so daß kein Auge die Stellen wird +entdecken können, wo der Ring durchgehauen war. Jetzt bewahre Jeder von +euch seine Hälfte, bis die Zeit erfüllt sein wird.« + +Die Königin wollte vor Wuth bersten, als ihr Stiefsohn, den sie für +immer verschollen glaubte, plötzlich zurück kehrte, und zwar als +rechtmäßiger Thronerbe, da dem Könige aus seiner zweiten Ehe nur zwei +Töchter geboren waren. Als nach einigen Jahren des Königs Augen sich +geschlossen hatten, wurde sein Sohn zum König erhoben. Wiewohl ihm die +Stiefmutter schweres Unrecht zugefügt hatte, wollte er doch nicht Böses +mit Bösem vergelten, sondern überließ die Strafe dem Gerichte Gottes. Da +nun die Stiefmutter keine Hoffnung mehr hatte, eine ihrer Töchter +vermittelst eines Schwiegersohnes auf den Thron zu bringen, so wollte +sie wenigstens eine fürstliche Jungfrau aus ihrer eigenen Sippschaft dem +Könige vermählen, aber dieser entgegnete kurz: »Ich will nicht! ich habe +meine Braut längst gewählt.« Als die verwittwete Königin dann erfuhr, +daß der junge König ein Mädchen von niederer Herkunft zu freien gedenke, +stachelte sie die höchsten Räthe des Reichs auf, sich einmüthig dagegen +zu stemmen. Aber der König blieb fest und gab nicht nach. Nachdem man +lange hin und her gestritten hatte, gab der König schließlich den +Bescheid: »Wir wollen ein großes Fest geben und dazu alle Königstöchter +und die andern vornehmen Jungfrauen einladen, so viel ihrer sind, und +wenn ich eine unter ihnen finde, welche meine erwählte Braut an +Schönheit und Züchten übertrifft, so will ich sie freien. Ist das aber +nicht der Fall, so wird meine erwählte auch meine Gemahlin.« + +Jetzt wurde im Königsschloß ein prächtiges Freudenfest hergerichtet, +welches zwei Wochen dauern sollte, damit der König Zeit hätte, die +Jungfrauen zu mustern, ob eine derselben den Vorzug vor der +Gärtnerstochter verdiene. Alle fürstlichen Frauen der Umgegend waren mit +ihren Töchtern zum Feste gebeten, und da der Zweck der Einladung +allgemein bekannt war, hoffte jedes Mädchen, daß ihr das Glücksloos +zufallen werde. Schon näherte sich das Fest seinem Ende, aber noch immer +hatte der junge König Keine gefunden, die nach seinem Sinne war. Am +letzten Tage des Festes erschienen in der Frühe die höchsten Räthe des +Reichs wieder vor dem Könige und sagten --auf Eingebung der +Königin-Wittwe -- wenn der König nicht bis zum Abend eine Wahl getroffen +habe, so könne ein Aufstand ausbrechen, weil alle Unterthanen wünschten, +daß der König sich vermähle. Der König erwiederte: »Ich werde dem +Wunsche meiner Unterthanen nachkommen und mich heute Abend erklären.« +Dann schickte er ohne Vorwissen der Andern einen zuverlässigen Diener +zur Gärtnerstochter, mit dem Auftrage, sie heimlich herzubringen, und +hier bis zum Abend versteckt zu halten. Als nun am Abend des Königs +Schloß von Lichtern strahlte, und alle fürstlichen Jungfrauen in ihrem +Feststaat den Augenblick erwarteten, der ihnen Glück oder Unglück +bringen sollte, trat der König mit einer jungen Dame in den Saal, deren +Antlitz so verhüllt war, daß kaum die Nasenspitze heraus sah. Was Allen +aber gleich auffiel, war der schlichte Anzug der Fremden: sie war in +weißes feines Leinen gekleidet, und weder Seide, noch Sammet, noch Gold +war an ihr zu finden, während alle Andern von Kopf bis zu Fuß in Sammet +und Seide gehüllt waren. Einige verzogen spöttisch den Mund, andere +rümpften unwillig die Nase, der König aber that, als bemerkte er es +nicht, löste die Kopfhülle der Jungfrau, trat dann mit ihr vor die +verwittwete Königin und sagte: »Hier ist meine erwählte Braut, die ich +zur Gemahlin nehmen will, und ich lade euch und Alle, die hier +versammelt sind, zu meiner Hochzeit ein.« Die verwittwete Königin rief +zornig aus: »Was kann man auch Besseres erwarten von einem Manne, der +bei der Herde aufgewachsen ist! Wenn ihr da wieder hin wollt, dann nehmt +die Magd nur mit, die wohl verstehen mag, Schweine zu füttern, sich aber +nicht zur Gemahlin eines Königs eignet -- eine solche Bauerdirne kann +den Thron eines Königs nur verunehren!« Diese Worte weckten des Königs +Zorn, und streng entgegnete er: »Ich bin König und kann thun, was ich +will; aber wehe euch, daß ihr mir jetzt meinen früheren Hirtenstand in's +Gedächtniß zurückriefet; damit habt ihr mich zugleich daran erinnert, +wer mich in diesen Stand verstoßen. Indeß, da kein vernünftiger Mensch +die Katze im Sacke kauft, will ich noch vor meiner Trauung Allen +deutlich machen, daß ich nirgends eine bessere Gemahlin hätte finden +können, als gerade dieses Mädchen, das fromm und rein ist wie ein Engel +vom Himmel.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und kam bald +darauf mit eben dem Alten zurück, den er von seinem Hirtenstande her +kannte, und der den König später auf die Spur seines Sohnes gebracht +hatte. Dieser Alte war ein berühmter Zauberer Finnlands, der sich auf +viele geheime Künste verstand. Der König sprach zu ihm: »Liebster +Zauberer! offenbaret uns durch eure Kunst das innere Wesen der hier +anwesenden Jungfrauen, damit wir erkennen, welche unter ihnen die +würdigste ist, meine Gemahlin zu werden.« Der Zauberer nahm eine Flasche +mit Wein, besprach ihn, bat die Jungfrauen, in der Mitte des Saales +zusammenzutreten, und besprengte dann den Kopf einer Jeden mit ein paar +Tropfen des Zauberweins, worauf sie Alle stehenden Fußes einschliefen. O +über das Wunder, welches sich jetzt aufthat! Nach kurzer Zeit sah man +sie sämmtlich verwandelt, so daß keine mehr ihre menschliche Gestalt +hatte, sondern statt ihrer allerlei wilde und gezähmte Thiere +erschienen, einige waren in Schlangen, Wölfe, Baren, Kröten, Schweine, +Katzen, andere wieder in Habichte und sonstige Raubvögel verwandelt. +Mitten unter allen diesen Thiergestalten aber war ein herrlicher +Rosenstock gewachsen, der mit Blüthen bedeckt war, und auf dessen +Zweigen zwei Tauben saßen. Das war die vom Könige zur Gemahlin erwählte +Gärtnerstochter. Darauf sagte der König: »Jetzt haben wir einer +Jeglichen Kern gesehen, und ich lasse mich nicht durch die glänzende +Schale blenden!« Die Königin-Wittwe wollte vor Zorn bersten, aber was +konnte es ihr helfen, da die Sache so klar da lag. Darauf räucherte der +Zauberer mit Zauberkräutern, bis alle Jungfrauen aus dem Schlafe +erwachten, und wieder Menschengestalt erhielten. Der König erfaßte die +aus dem Rosenstrauche hervorgegangene Geliebte, und fragte nach ihrem +halben Ringe, und als die Jungfrau ihn aus dem Busen nahm, zog auch er +seinen halben Ring hervor, und legte beide Hälften auf seine Handfläche; +augenblicklich verschmolzen sie mit einander, so daß kein Auge einen Riß +oder irgend ein Merkmal der Stellen entdeckte, wo die Schneide des +Schwertes den Ring einst getrennt hatte. »Jetzt ist auch meines +heimgegangenen Vaters Wille in Erfüllung gegangen!« sagte der junge +König, und ließ sich noch an demselben Abend mit der Gärtnerstochter +trauen. Dann lud er alle Anwesende zum Hochzeitsschmaus, aber die +fürstlichen Jungfrauen hatten erfahren, welches Wunder sich während +ihres Schlafes mit ihnen begeben, und gingen voller Scham nach Hause. Um +so größer war der Unterthanen Freude, daß ihre Königin von Innen und von +Außen ein untadelhaftes Menschenbild war. + +Als das Hochzeitsfest zu Ende war, ließ der junge König eines Tages +sämmtliche Oberrichter des Reiches versammeln und fragte sie, welche +Strafe ein Frevler verdiene, der einen Königssohn heimlich habe +wegstehlen, und in einem Bauerhofe als Hüterknaben aufziehen lassen, und +der außerdem noch den Jüngling schnöde gelästert habe, nachdem ihn das +Glück seinem früheren Stande zurückgegeben. Sämmtliche Richter +erwiederten wie aus einem Munde: »Ein solcher Frevler muß den Tod am +Galgen erleiden.« Darauf sagte der König: »Nun wohl! Rufet die +verwittwete Königin vor Gericht!« Die Königin-Wittwe wurde gerufen und +das gefällte Urtheil ihr verkündet. Als sie es hörte, wurde sie bleich +wie eine getünchte Wand, warf sich vor dem jungen Könige auf die Knie +und bat um Gnade. Der König sagte: »Ich schenke euch das Leben, und +hätte euch niemals vor Gericht gestellt, wenn es euch nicht eingefallen +wäre, mich noch hinterher mit eben dem Leiden zu schmähen, welches ich +durch euren Frevel habe erdulden müssen; in meinem Königreiche aber ist +eures Bleibens nicht mehr. Packet noch heute eure Sachen zusammen, um +vor Sonnenuntergang meine Stadt zu verlassen. Diener werden euch bis +über die Grenze begleiten. Hütet euch, jemals wieder den Fuß auf mein +Gebiet zu setzen, da es Jedermann, auch dem Geringsten, frei steht, euch +wie einen tollen Hund todt zu schlagen. Eure Töchter, die auch meines +heimgegangenen Vaters Töchter sind, dürfen hier bleiben, weil ihre Seele +rein ist von dem Frevel, den ihr an mir verübt habt.« + +Als die verwittwete Königin fortgebracht war, ließ der junge König in +der Nähe seiner Stadt zwei hübsche Wohnhäuser aufbauen, von denen das +eine den Eltern seiner Frau, und das andere dem Wirthe des Bauerhofs +geschenkt wurde, der den hülflosen Königssohn liebevoll aufgezogen +hatte. Der als Hüterknabe aufgewachsene Königssohn und seine aus +niederem Geschlecht entsprossene Gemahlin lebten dann glücklich bis an +ihr Ende, und regierten ihre Unterthanen so liebevoll wie Eltern ihre +Kinder. + + + + +23. Dudelsack-Tiidu. + + +Es lebte einmal ein armer Käthner, den Gott mit Kindern reichlicher +gesegnet hatte, als mit Brot. Töchter und Söhne wuchsen den Eltern zur +Freude auf, und verdienten sich meist schon ihr Stück Brot bei Fremden +--nur aus einem Sohne wollte nichts Rechtes werden. Ob der Bursche von +Natur einfältig war, oder ob sonst ein Gebreste ihn drückte, oder ob er +träges Blut unter den Nägeln hatte, das konnte Niemand mit Sicherheit +sagen. Aber daß er faul und lotterig war und zu keinerlei Geschäft +taugte, das mußten seine Eltern sowohl wie das ganze Dorf eingestehen. +Es halfen auch weder gute Worte noch Ruthenstreiche, vielmehr wuchs die +Faulheit des Burschen, je älter er wurde. Im Winter hinter dem Ofen +liegen und im Sommer unter einem Busche schlafen, war sein +Haupt-Tagewerk, dazwischen pfiff er oder blies die Weidenflöte, daß es +eine Lust war anzuhören. So saß er eines Tages wieder hinter einem +Busche und blies mit den Vögeln um die Wette, als ein fremder alter Mann +des Weges daher kam. Er fragte mit freundlicher Stimme: »Sage mir, +Söhnchen! was für ein Gewerbe möchtest du denn einst treiben?« Der +Bursche erwiderte: »Das Gewerbe wäre meine geringste Sorge, könnte ich +nur ein reicher Mann werden, daß ich nicht nöthig hätte zu arbeiten, und +unter anderer Leute Zuchtruthe zu stehen.« Der alte Mann lachte und +sagte: »Der Plan wäre gar nicht übel, aber ich sehe nicht ein, woher dir +Reichthum kommen soll, wenn du gar nicht arbeiten willst? Läuft doch die +Maus einer schlafenden Katze nicht in den Rachen. Wer Geld und Gut +erwerben will, der muß seine Glieder rühren, arbeiten und sich Mühe +geben, sonst« -- Der Bursche fiel ihm in die Rede und bat: »Lassen wir +diese Reden! das habe ich schon viele hundert Mal gehört, und es kommt +mir vor, wie wenn man Wasser auf die Gans gießen wollte, denn aus mir +kann doch nimmer ein Arbeiter werden.« Der alte Mann erwiederte milde: +»Der Schöpfer hat dir eine Gabe verliehen, mit welcher du leicht das +tägliche Brot und noch ein Stück Geld dazu verdienen könntest, wenn du +dich auf's Dudelsackpfeifen legen würdest. Verschaffe dir einen guten +Dudelsack, blase ihn eben so geschickt wie jetzt die Weidenflöte, und du +findest Brot und Geld überall, wo fröhliche Menschen wohnen.« »Aber +woher soll ich den Dudelsack nehmen?« fragte der junge Bursche. Der Alte +erwiederte: »Verdiene dir Geld und kaufe dir dann einen Dudelsack. Für +den Anfang kannst du die Weidenflöte blasen und auf dem Blatte pfeifen, +auf beiden bist du schon ein kleiner Meister! Ich hoffe auch künftig +noch mit dir zusammen zu treffen, dann wollen wir sehen, ob du meinen +Rath benutzt hast, und welcher Gewinn dir aus meiner Belehrung erwachsen +ist.« Damit trennte er sich von dem Burschen und ging seines Weges. +_Tiidu_ -- so hieß der Bursche -- begann über des alten Mannes Rede +nachzudenken, und je länger er sann, desto mehr mußte er dem Alten Recht +geben. Er entschloß sich, den von dem Alten angegebenen Weg zum Glücke +einzuschlagen; allein er verrieth Niemanden ein Wort von seinem +Vorhaben, sondern ging eines Morgens vom Hause und -- kam nicht wieder. +Den Eltern machte sein Scheiden keinen Kummer, der Vater dankte noch +seinem Geschicke, daß er den faulen Sohn los geworden war, und hoffte, +daß die Welt mit der Zeit dem Tiidu die faule Haut abstreifen und die +Noth ihn zum ordentlichen Menschen erziehen würde. + +Tiidu strich einige Wochen von Dorf zu Dorf und von Gut zu Gut umher; +überall nahmen die Leute ihn freundlich auf, und hörten gern zu, wenn er +seine Weidenflöte blies, gaben ihm zu essen, und schenkten ihm auch +manchmal einige Kopeken. Diese Kopeken sammelte der Bursche sorgfältig, +bis er endlich soviel beisammen hatte, um sich einen guten Dudelsack +kaufen zu können. Jetzt fing sein Glück an zu blühen, denn weit und +breit war kein Dudelsackpfeifer zu finden, der so kunstgerecht und so +taktmäßig zu blasen verstand. Tiidu's Dudelsack setzte alle Beine in +Bewegung. Wo nur eine Hochzeit, ein Ernteschmaus, oder eine andere +Lustbarkeit begangen wurde, da durfte der _Dudelsack-Tiidu_ nicht mehr +fehlen. Nach einigen Jahren war er ein so berühmter Dudelsackpfeifer +geworden, daß man ihn wie einen Zauberkundigen von einem Orte zum +andern, oft viele Meilen weit, kommen ließ. So blies er einst auf einem +Gute beim Ernteschmaus, wozu auch viele Gutsherren aus der Umgegend +gekommen waren, um die Belustigung des Volkes mit anzusehen. Alle +mußten einmüthig bekennen, daß ihnen in ihrem Leben noch kein +geschickterer Dudelsackpfeifer vorgekommen war. Ein Gutsherr nach dem +andern lud den Dudelsack-Tiidu zu sich, dann mußte er die Herrschaft +durch sein Spiel ergötzen und erhielt dafür gute Kost und gutes Getränk, +dazu noch Geld und mancherlei Geschenke. Einer der reichen Herren ließ +ihn von Kopf zu Fuß neu kleiden, ein anderer schenkte ihm einen schönen +Dudelsack mit messingener Röhre. Die Fräulein banden ihm seidene Bänder +an den Hut, und die Frauen strickten ihm bunte Handschuhe. Jeder Andere +wäre an Tiidu's Stelle mit diesem Glücke sehr zufrieden gewesen, aber +seine Sehnsucht nach Reichthum ließ ihm keine Ruhe, sondern trieb ihn +wie mit einer Feuergeißel immer weiter. Je mehr er einsah, daß der +Dudelsack allein ihn nicht zum reichen Manne machen könne, desto stärker +wurde seine Geldgier. Erzählungen, die im Munde des Volkes lebten, +wußten viel zu berichten von dem Reichthume des Landes Kungla,[85] und +Tiidu konnte das Tag und Nacht nicht aus dem Kopfe bringen. Wenn ich nur +hinkommen könnte, dachte er, so würde ich schon den Weg zum Reichthum +finden. Er wanderte nun am Strande hin, um vielleicht durch einen +glücklichen Zufall ein Schiff oder ein Segelboot zu finden, das ihn über +die See brächte. Endlich kam er in die Stadt Narwa, wo gerade viele +fremde Kauffahrer im Hafen lagen. Einer derselben sollte nach einigen +Tagen nach Land Kungla absegeln, und Tiidu suchte den Schiffer auf. +Dieser wollte ihn mitnehmen, aber der geforderte Preis war dem kargen +Dudelsackpfeifer zu hoch. Er suchte sich nun durch seinen Dudelsack bei +dem Schiffsvolke einzuschmeicheln, und hoffte dadurch die Kosten der +Fahrt zu verringern. Das Glück wollte, daß er einen jungen Matrosen +fand, der ihm versprach, ihn heimlich hinter dem Rücken des Schiffers +auf's Schiff zu bringen. In der letzten Nacht vor dem Abgange des +Schiffes brachte der Matrose wirklich den Tiidu auf's Schiff und +versteckte ihn in einem dunkeln Winkel zwischen Fässern, brachte ihm +auch, ohne daß die Andern es merkten, Speise und Trank dahin, damit er +in seinem Schlupfwinkel nicht Hunger leide. In der folgenden Nacht, als +das Schiff schon auf hoher See war, und Tiidu's Freund auf dem Verdeck +allein Wache hielt, holte er ihn aus seinem Schlupfwinkel hervor, band +ihm ein Tau um den Leib, befestigte das andere Ende des Taues am Schiffe +und sagte: »Ich werde dich jetzt an dem Taue in's Meer lassen, und wenn +man dir zu Hülfe eilt, so mußt du das Tau von deinem Leibe losschneiden +und ihnen weiß machen, du seiest vom Hafen her dem Schiffe +nachgeschwommen.« Obwohl dem Tiidu ein wenig bange wurde, hoffte er doch +mit Hülfe des Taues sich eine Zeit lang über Wasser zu halten, da er ein +guter Schwimmer war. Sobald er in's Wasser gelassen worden, weckte sein +Freund die anderen Matrosen und zeigte ihnen die menschliche Gestalt, +die schwimmend dem Schiffe folgte. Die Leute sperrten Mund und Augen +auf, als sie das seltsame Abenteuer erblickten, und weckten auch den +Schiffer, damit er sich die Sache ansehe. Dieser schlug dreimal das +Kreuz und fragte dann den Schwimmer: »Bekenne wahrhaft, wer du bist, +ein Geist oder ein sterblicher Mensch?« Der Schwimmer antwortete: »Ein +armer sterblicher Mensch, dessen Kraft bald erschöpft sein wird, wenn +ihr euch seiner nicht erbarmt.« Der Schiffer ließ nun ein Tau in's Meer +werfen, um den Schwimmenden daran heraufzuziehen. Als Tiidu das Ende des +Taues gefaßt hatte, schnitt er erst mit einem Messer das um seinen Leib +geschlungene Tau entzwei und bat sodann, man möge ihn heraufziehen. Als +es geschehen war, fragte ihn der Schiffer: »Sage, woher du kommst und +wie du bis hierher gelangtest.« Dudelsack-Tiidu erwiederte: »Ich schwamm +eurem Schiffe nach, als ihr aus dem Hafen abfuhrt, und hielt mich von +Zeit zu Zeit, wenn die Kraft mir auszugehen drohte, am Steuer fest. So +hoffte ich nach Land Kungla zu kommen, weil ich nicht so viel Geld +hatte, als ihr für die Ueberfahrt verlangtet.« Des Jünglings wunderbare +Kühnheit rührte des Schiffer's Herz, und freundlich sagte er: »Danke dem +himmlischen Vater, der dein Leben so wunderbar beschützt hat! Ich will +dich unentgeltlich nach Kungla bringen.« Dann befahl er, dem Tiidu +trockene Kleider anzuziehen, und ihn in der Schiffskajüte zu betten, +damit er sich von der Anstrengung der langen Schwimmfahrt erhole. Tiidu +aber und sein Freund waren froh, daß ihre List so glücklich abgelaufen +war. + +Am andern Morgen sah das Schiffsvolk auf den Tiidu wie auf ein Wunder, +da er eine Strecke geschwommen war, wie es Keiner für möglich gehalten. +Weiterhin machte ihnen sein schönes Dudelsackspiel große Freude, und +der Schiffer gestand mehr als einmal, daß er noch nie einen so +herrlichen Dudelsack gehört habe. Als das Schiff nach einigen Tagen in +Land Kungla vor Anker gegangen war, verbreitete sich durch der +Schiffsleute Mund mit Windesschnelle die Kunde von dem melodischen +Fisch, den sie im Meere gefangen, und der Nacht und Tag dem Schiffe +nachgeschwommen wäre. Natürlich durften Tiidu und sein Freund dieser +Erzählung nicht widersprechen, da sie sich sonst selber in Gefahr +gebracht hätten. Die wunderbare Mär verschaffte dem Tiidu an der fremden +Küste viele Freunde, weil Jeder die wunderbare Schwimmfahrt aus seinem +eigenen Munde hören wollte. Da mußte denn der Bursche aus der Noth eine +Tugend machen, und den Leuten vorlügen, daß es puffte. Es wurde ihm mehr +als ein Dienst angeboten, allein er lehnte alle ab, weil er fürchtete, +als Lügner dazustehen, sobald sein Herr eine Probe seiner Schwimmkunst +zu sehen wünschte. Lieber wollte er gerades Wegs in die Königsstadt +gehen, wo weder er noch seine Schwimmkraft bekannt war, dort hoffte er +am leichtesten einen Dienst zu finden, der ihn zum reichen Manne machte. +Als er nach einigen Tagen ankam, schwindelte ihm der Kopf bei dem +Anblicke der Pracht und Herrlichkeit, die überall verbreitet waren. Für +zwei Augen war es schlechterdings unmöglich, das Alles ordentlich zu +betrachten, dazu hätte er einiger Dutzend Augen bedurft. Je mehr er sich +in die Anschauung dieses Glanzes und Reichthums vertiefte, desto +kläglicher kam ihm seine eigene Armuth vor. Noch unerträglicher war es +ihm, daß keiner von den stolzen Leuten seiner achtete, sondern daß man +ihn wie einen Lump aus dem Wege stieß, als hätte er gar nicht das +Recht, sich in den Strahlen von Gottes Sonne zu wärmen. -- Seinen +Dudelsack wagte er gar nicht sehen zu lassen, denn er dachte mit Zagen: +wer von diesen stolzen Leuten wird auf meinen armen Dudelsack hören! -- +So irrte er viele Tage in den Straßen der Stadt umher und trachtete nach +einem Dienste, fand aber keinen, bei dem er hoffen konnte, in kurzer +Zeit reich zu werden. Endlich, als er schon die Flügel hängen ließ, fand +er einen Dienst im Hause eines reichen Kaufmannes, dessen Koch gerade +einen Küchenjungen brauchte. Hier konnte nun Tiidu den Reichthum von +Land Kungla gründlich kennen lernen, der in der That größer war, als man +sich vorstellen konnte. Alle Geräthe für's tägliche Leben, die bei uns +zu Lande aus Eisen, Kupfer, Zinn, Holz oder Lehm verfertigt werden, +waren hier von reinem Silber oder Gold; in silbernen Grapen wurden die +Speisen gekocht, in silbernen Pfannen wurden die Kuchen gebacken, und in +goldenen Schalen und goldenen Schüsseln wurde aufgetragen. Selbst die +Schweine fraßen nicht aus Trögen, sondern aus silbernen Kübeln. Man kann +sich hiernach leicht denken, daß es dem Tiidu an nichts gebrach, er +führte als Küchenjunge ein Herrenleben; aber sein habsüchtiges Gemüth +hatte doch keine Ruhe. Unaufhörlich quälte ihn der eine Gedanke: was +hilft mir all' der Reichthum, den ich vor Augen habe, wenn die Schätze +nicht mein sind; mein Dienst als Küchenjunge kann mich doch niemals zum +reichen Manne machen. Und doch betrug sein Monatslohn mehr als bei uns +ein Jahreslohn, so daß er durch Ansammlung desselben nach Jahren, wenn +nicht reich, doch wohlhabend geworden wäre. + +Er hatte schon ein Paar Jahre als Küchenjunge im Dienst gestanden, und +ein gut Stück Geld zurückgelegt, aber das hatte seine Geldgier nur noch +erhöht. Er war zugleich ein solcher Filz geworden, daß er sich keinen +neuen Anzug besorgen mochte, doch mußte er es thun auf Geheiß des Herrn, +der schlechte Kleider in seinem Hause nicht duldete. Als der Kaufherr +dann einen großen Kindtaufschmaus gab, ließ er allen seinen Dienern auf +seine Kosten schöne Anzüge machen. Den ersten Sonntag nach dieser +Kindtaufe legte Tiidu seinen neuen stattlichen Anzug an, und ging zur +Stadt hinaus in einen Lustgarten, in welchem sich an Sonntagen die +Einwohner der Stadt zu ergehen pflegten. Als er eine Zeit lang unter den +fremden Leuten gewandelt war, von denen er Niemand kannte, und Niemand +ihn, traf sein Blick zufällig auf eine Gestalt, die ihm wie bekannt +vorkam, obwohl er sich nicht darauf besinnen konnte, wo er den Mann +früher gesehen habe. Während er sein Gedächtniß noch anstrengte, verlor +sich der vermeintliche Bekannte in dem Gewühl. Tiidu strich hin und her, +und spähte nach ihm aus, aber alles Suchen war umsonst. Erst gegen Abend +sah er seinen Mann unter einer mächtigen Linde allein auf einer +Rasenbank sitzen. Tiidu war im Zweifel, ob er hinzu treten oder warten +sollte, bis der fremde Mann ihn erblicken und sich merken lassen würde, +ob er ihn, den Tiidu, kenne oder nicht? Ein paar Mal hustete Tiidu, aber +der fremde Mann beachtete es nicht, sondern heftete wie in tiefen +Gedanken die Augen auf den Boden. Ich trete näher --dachte Tiidu -- und +wecke ihn aus seinen Gedanken, dann wird es sich schon zeigen, ob wir +einander kennen oder nicht. Sachte vorwärts gehend, hielt er den Blick +scharf auf den fremden Mann gerichtet. Jetzt schlug dieser die Augen auf +und es war klar, daß er ihn sogleich erkannte, denn er stand auf, ging +auf Tiidu zu und reichte ihm zum Gruße die Hand, dann fragte er: »Wo +hast du deinen Dudelsack gelassen?« Da erst überzeugte sich Tiidu, daß +der Fragende derselbe alte Mann war, der ihm früher empfohlen hatte, +Dudelsackpfeifer zu werden. Er ging nun mit dem Alten aus der Volksmenge +heraus an einen abgelegenen Ort, und erzählte ihm seine bisherigen +Erlebnisse. Der Alte runzelte die Stirn, schüttelte wiederholt den Kopf +und sagte, als Tiidu seinen Bericht beendigt hatte: »Ein Thor bist du +und ein Thor bleibst du! Was war das für ein verrückter Einfall, daß du +den Dudelsack aufgabst und Küchenjunge wurdest? Mit dem Dudelsack +hättest du hier in einem Tage mehr verdienen können, als durch deinen +Dienst in einem halben Jahre. Eile nach Hause, hole deinen Dudelsack her +und blase, so wirst du mit eigenen Augen sehen, daß ich die Wahrheit +gesagt habe.« Tiidu sträubte sich freilich, weil er das Gespötte der +stolzen Leute fürchtete, auch meinte er, er habe in der langen Zeit das +Spielen verlernt. Aber der Alte ließ nicht ab, sondern setzte dem Tiidu +so lange zu, bis er nach Hause ging und seinen Dudelsack herbrachte. Der +Alte hatte so lange unter der Linde gesessen und gewartet; als Tiidu mit +dem Dudelsack wieder kam, sagte er: »Setze dich neben mich auf die +Rasenbank und fang' an zu blasen, dann wirst du schon sehen, wie sich +die Leute um uns her versammeln werden.« Tiidu that es, wenn auch mit +Widerstreben -- aber als er anfing zu spielen, kam es ihm vor, als wäre +heute ein neuer Geist in den Dudelsack gefahren, denn noch niemals hatte +er dem Instrumente einen so schönen Ton entlocken können. Bald sammelte +sich eine dichte Menge um die Linde, angezogen von dem schönen Spiele. +Je zahlreicher die Menge wurde, desto lieblicher ertönten die Weisen des +Dudelsacks. Als die Leute eine Zeitlang zugehört hatten, nahm der Alte +seinen Hut ab und trat unter sie, um die Gaben für den Spieler +einzusammeln. Da wurden von allen Seiten Thaler, halbe Thaler und kleine +Silbermünzen hineingeworfen, dann und wann fiel auch ein blinkendes +Goldstück in den Hut. Tiidu spielte dann noch zum Danke manche schöne +Weise auf, ehe er sich anschickte, nach Hause zu gehen. Als er durch den +dichten Haufen schritt, hörte er vielfach sagen: »Kunstreicher Meister! +komm nächsten Sonntag wieder, uns zu erfreuen!« --Als sie an's Thor +gekommen waren, sagte der Alte: »Nun, was meinst du, ist die heutige +Arbeit von ein paar Stunden nicht angenehmer, als die Handthierung eines +Küchenjungen? -- Zum zweitenmale habe ich dir den Weg gezeigt, packe +nun, wie ein vernünftiger Mann, den Ochsen bei beiden Hörnern, damit das +Glück dir nicht wieder entschlüpfe! Meine Zeit erlaubt mir nicht, hier +länger dein Führer zu sein, drum merke dir, was ich sage, und handle +darnach. Jeden Sonntag Nachmittag setze dich mit deinem Dudelsack unter +die Linde und blase, daß die Leute sich ergötzen. Kaufe dir aber einen +Filzhut mit tiefem Boden, und stelle ihn zu deinen Füßen hin, damit die +Hörer ihre Spenden hineinlegen können. Ruft man dich zu einem Feste, um +den Dudelsack zu spielen, so bedinge niemals einen Preis, sondern +versprich mit dem zufrieden zu sein, was man dir freiwillig geben werde. +Du wirst so von den reichen Bürgern mehr erhalten, als du selbst gewagt +hättest zu verlangen, und kommt es auch zuweilen vor, daß irgend ein +Filz dir zu wenig giebt, so wird es dir durch die reichere Gabe der +Uebrigen zehnfach ersetzt, und du hast noch den Vortheil, daß Niemand +dich geldgierig nennen darf. Vor allen Dingen hüte dich vor dem Geiz! -- +Vielleicht treffen wir künftig noch einmal wieder zusammen, dann werde +ich ja hören, wie du meiner Weisung nachgekommen bist. Für dies Mal Gott +befohlen!« So schieden sie von einander. + +Dudelsack-Tiidu war sehr erfreut, als er zu Hause sein Geld zählte und +fand, daß ihm das Spiel von einigen Stunden mehr eingebracht hatte, als +sein Dienst in einem halben Jahre. Da dauerte ihn die falsch angewandte +Zeit; doch konnte er seinen Dienst nicht sogleich verlassen, weil er +erst einen Stellvertreter schaffen mußte. Nach einigen Tagen fand er +einen solchen und wurde entlassen. Dann ließ er sich schöne farbige +Kleider machen, band einen Gürtel mit silberner Schnalle um die Hüften, +und ging den nächsten Sonntag Nachmittag unter die Linde, um den +Dudelsack zu blasen. Es hatten sich noch viel mehr Leute eingefunden, +als das erste Mal, denn das Gerücht von dem geschickten Dudelsackpfeifer +hatte sich in der Stadt verbreitet, und Jedermann wünschte ihn zu hören. +Als er am Abend sein Geld zählte, fand er fast doppelt so viel als am +ersten Sonntage. Ebenso günstig war ihm das Glück fast jeden Sonntag, so +daß er sich im Herbst eine Wohnung in einem stattlichen Gasthof miethen +konnte. An den Abenden, wo die Bürger den Gasthof besuchten, wurde der +geschickte Meister oft gebeten, die Gäste durch seinen Dudelsack zu +ergötzen, wofür er dann doppelte Bezahlung erhielt, einmal vom Wirth, +und sodann noch von den Gästen. Als der Wirth später sah, wie der +Künstler jeden Abend immer mehr Gäste in's Haus zog, gab er ihm Kost und +Wohnung frei. Gegen den Frühling ließ Tiidu an seinen Dudelsack silberne +Röhren machen, die von innen und von außen vergoldet waren, so daß sie +in der Sonne und am Feuer funkelten. Als es wieder Sommer wurde, kamen +auch die Städter wieder zu ihrer Erholung in's Freie, und Sonntag für +Sonntag spielte Tiidu und sah seinen Reichthum anwachsen. Da kam +einstmals auch der König, um die Lustbarkeit des Volkes mit anzusehen, +und hörte schon von fern das schöne Dudelsackspiel. Der König ließ den +Spielenden zu sich rufen, und schenkte ihm einen Beutel voll Gold. Als +die andern Großen das sahen, ließen sie einer nach dem andern den +Dudelsackpfeifer in ihre Häuser kommen, wo er ihnen vorspielen mußte. +Tiidu beobachtete pünktlich die Vorschrift des Alten, indem er sich nie +einen Lohn ausbedang, sondern Jedem überließ, nach Gutbefinden zu geben, +und es fand sich, daß er fast immer viel mehr erhielt, als er selber zu +fordern gewagt hätte. + +Nach einigen Jahren war Dudelsack-Tiidu im Lande Kungla zum reichen +Manne geworden, und beschloß nun, in seine Heimath zurückzukehren, um +sich dort ein Gut zu kaufen, und das Blasen aufzugeben. Die Geschenke +des Königs und der anderen hohen Herren hatten sein Vermögen +beträchtlich vergrößert, und des alten Mannes Prophezeiung wahr +gemacht. Er brauchte jetzt nicht mehr heimlich in einen Schiffswinkel zu +kriechen, sondern war reich genug, um für sich allein ein Schiff zu +miethen, das ihn mit allen seinen Schätzen in's Vaterland führen sollte. +Er hatte sich, wie das im Lande Kungla üblich war, viele goldene und +silberne Geräthe gekauft, welche jetzt in Kisten gepackt und an Bord +gebracht wurden; wieder andere Kisten waren mit baarem Gelde angefüllt. +Zuletzt bestieg der Herr dieser Schätze selbst das Schiff, und dieses +segelte ab. Ein günstiger frischer Wind trieb sie bald auf die hohe See, +wo nur Himmel und Wasser zu sehen waren. Zur Nacht aber drehte sich der +Wind und trieb das Schiff gegen Süden. Von Stunde zu Stunde wuchs die +Gewalt des Sturms, und der Schiffer konnte keinen festen Curs mehr +halten, weil Wind und Wellen jetzt die einzigen Herren des Schiffes +waren, nach deren Willen es sich bewegen mußte. Als das Schiff einen Tag +und zwei Nächte auf diese Weise hin und hergeschleudert worden, krachte +der Kiel gegen einen Felsen, und das Schiff begann zu sinken. Die Böte +wurden in's Meer gelassen, damit die Menschen dem Tode entrinnen möchten +-- allein was konnte gegen die tobenden Wellen Stand halten? Bald warf +eine hohe Welle das kleine Boot um, in welchem Tiidu mit drei Matrosen +saß, und das feuchte Bett umschloß die Männer. Zum Glück schwamm nicht +weit von Tiidu eine Ruderbank; es gelang ihm, sie zu ergreifen und sich +mit Hülfe derselben auf der Oberfläche zu halten. Als darauf der Wind +sich legte und das Wetter sich aufklärte, sah er das Ufer, das gar nicht +weit zu sein schien. Er nahm seine letzte Kraft zusammen und suchte das +Ufer zu erreichen, fand aber, daß es viel weiter entfernt war, als es +den Anschein gehabt hatte. Auch hätte ihn die eigene Kraft nicht mehr +an's Ziel gebracht, nur mit Hülfe der Brandung, die ihn vorwärts +schleuderte, erreichte er endlich die Küste. Ganz erschöpft, mehr todt +als lebendig, sank er auf das felsige Ufer und schlief ein. Wie lange +sein Schlaf gedauert hatte, darüber konnte er sich keine Rechenschaft +geben, er hatte aber die traumhafte Erinnerung, als habe jener alte Mann +ihn besucht und ihm aus seinem Schlauche zu trinken gegeben, was ihn +wunderbar gestärkt und ihm gleichsam neue Lebensgeister eingeflößt habe. +Als er nach dem langen Schlafe vollends munter wurde, fand er sich +allein auf dem bemoosten Felsen, und sah nun wohl, daß die Ankunft des +Alten nur ein Traum gewesen war. Doch hatte der Schlaf ihn wieder so +weit gestärkt, daß er sich ohne Mühe erheben und eine Wanderung antreten +konnte, auf welcher er Menschen zu finden hoffte. Er ging eine Weile am +Ufer entlang, und spähte nach einem Fußsteige oder sonst einer Spur, die +zu Menschen leiten könnte. Aber soweit sein Auge reichte, war von +Fußstapfen nichts zu entdecken. Moos, Sand und Rasen hatten ein so +friedliches Ansehen, als ob noch niemals die Füße von Menschen oder +Thieren darüber hin geschritten wären. Was jetzt beginnen? Er mochte +überlegen, soviel er wollte, er wußte nichts Besseres, als der Nase nach +weiter zu gehen, in der Hoffnung, daß ein glücklicher Zufall ihn einen +Weg finden lasse, der zu Menschen führe. Eine halbe Meile weiter fand er +schöne üppige Laubwälder, aber die Bäume hatten alle ein fremdartiges +Ansehen, und nicht ein einziger war ihm bekannt. Im Walde fand er weder +Fußtritte von Herden noch von Menschen, sondern je weiter er vordrang, +desto dichter wurde der Wald, und das Weiterkommen wurde immer +schwieriger. Er setzte sich nieder, um seinen müden Beinen Ruhe zu +gönnen. Da wurde ihm plötzlich das Herz schwer, Wehmuth überfiel ihn und +bittre Reue; zum ersten Male kam ihm der Gedanke, er habe unrecht gethan +ohne Wissen und Willen der Eltern von zu Hause fortzulaufen, die +Seinigen zu verlassen, und wie ein Landstreicher umher zu schweifen. +»Wenn ich hier unter wilden Thieren umkomme,« -- schluchzte er -- »so +wird mir der gebührende Lohn für meinen Leichtsinn. Meinen Schatz, der +in's Meer sank, würde ich nicht bedauern -- wie gewonnen, so zerronnen! +wenn mir nur der Dudelsack geblieben wäre, womit ich mein trauerndes +Herz beschwichtigen und meine Sorgenlast erleichtern könnte!« Als er +weiter schritt, erblickte er einen Apfelbaum mit seinem wohlbekannten +Laube, und durch das Laub schimmerten große rothe Aepfel, welche seine +Eßlust reizten. Er eilte hin und -- welch' ein Glück! noch nie hatte er +schmackhafteres Obst gekostet. Er aß sich satt und legte sich dann unter +den Apfelbaum zur Ruhe, indem er dachte: wenn es hier viele solche +Apfelbäume giebt, so ist mir vor Hunger nicht bange. Als er erwachte, +verzehrte er noch einige Aepfel, stopfte sich dann Taschen und Rockbusen +voll und wanderte weiter. Das dunkle Waldesdickicht zwang ihn langsam zu +gehen, und machte an vielen Stellen das Durchkommen schwierig, so daß +die Nacht hereinbrach, ohne daß freies Feld oder Menschenspuren +sichtbar wurden. Tiidu streckte sich auf das weiche Moos und schlief, +als ob er auf den schönsten Kissen läge. Am andern Morgen frühstückte er +einige Aepfel, und suchte dann mit frischer Kraft weiter vorzudringen, +bis er nach einiger Zeit an eine Lichtung kam, die wie eine kleine Insel +mitten im Walde lag. Ein kleiner Bach, der aus einer nahen Quelle +entsprang, ergoß sein klares frisches Wasser über die Lichtung. Als +Tiidu an den Rand des Baches kam, erblickte er zufällig im Wasser sein +Bild, was ihn dermaßen erschreckte, daß er einige Schritte zurücksprang +und an allen Gliedern zitterte wie Espenlaub. Aber auch Beherztere als +er wären hier wohl erschrocken. Sein Bild im Wasserspiegel zeigte ihm +nämlich, daß seine Nasenspitze wie der Fleischzapfen eines Puters aussah +und bis zum Nabel reichte. Die tastende Hand bestätigte, was das Auge +gesehen. Was jetzt beginnen? So konnte er schlechterdings nicht unter +die Leute gehen, die ihn wohl gar wie ein wildes Thier todt geschlagen +hätten. War es nun das Gefühl der Angst, was die Nase zusehends wachsen +ließ, oder reckte sie sich wirklich immer weiter aus -- genug es war dem +Eigenthümer der Nase so gräulich zu Muthe, als ob sie immer länger und +länger würde, so daß er keinen Schritt thun konnte, ohne zu fürchten, +seine Nase würde an die Beine stoßen. Er setzte sich nieder und beklagte +sein Unglück bitterlich: »O wenn nur jetzt Niemand käme, und mich so +fände! Lieber will ich im Walde verhungern, als mich mit einer so +abscheulichen Nase zeigen.« Hätte er jetzt schon gewußt, was er später +erfuhr, daß diese Waldinsel unbewohnt war, so hätte er sich darüber +trösten können. Je mehr ihn aber jetzt sein Unglück verdroß, desto +dicker schwoll seine Nase an, und desto bläulicher wurde sie, wie bei +einem zornigen Puterhahn. Da sieht er nahebei an einem Strauche sehr +schöne Nüsse, und es gelüstet ihn, sich damit zu laben; er pflückt eine +Handvoll, beißt eine Nuß auf und findet einen süßen Kern in der Schale. +Er verschluckt noch einige Kerne und bemerkt zu seinem Erstaunen, daß +die scheußliche Länge seiner Nase sichtlich abnimmt. Nach kurzer Zeit +erblickt er im Wasser seine Nasenspitze wieder an ihrer natürlichen +Stelle, ja noch etwas höher über dem Munde, als sie vorher stand. Jetzt +löste sich sein Kummer in Frohlocken auf, und er verfiel darauf, den +wunderbaren Vorfall näher zu ergründen, um zu erfahren, was denn +eigentlich seine Nase erst lang und dann wieder kurz gemacht habe. +Sollten es die schönen Aepfel gewesen sein -- fragte er sich in +Gedanken, nahm einen Apfel aus der Tasche, und begann davon zu essen. +Sowie er ein Stück gekaut und verschluckt hat, nimmt er im Wasser +deutlich wahr, wie die Nasenspitze sich zusehends in die Länge dehnt. +Spaßes halber ißt er den Apfel ganz auf, und findet jetzt die Nase +spannenlang; dann nimmt er einige Nußkerne, zerkaut und verschluckt sie, +und sieh', o Wunder! die lange Nase schrumpft zusammen, bis sie auf ihr +natürliches Maaß zurückgegangen ist. Jetzt wußte der Mann, woran er war. +Er denkt: was ich für ein großes Unglück hielt, kann mir vielleicht noch +Glück bringen, wenn ich wieder unter Menschen kommen sollte; pflückt +eine Tasche voll Nüsse und eilt, in seine eigenen Fußstapfen tretend, +zurück, um den Baum mit den nasenvergrößernden Aepfeln aufzusuchen. Da +hier nun keine anderen Spuren liefen, als die, welche er selbst +zurückgelassen hatte, fand er den Apfelbaum ohne Mühe wieder. Er schälte +nun erst einige junge Bäume ab und machte sich aus der Rinde einen Korb, +den er dann mit Aepfeln füllte. Da aber die Nacht schon hereinbrach, +wollte er heute nicht weiter gehen, sondern hier sein Nachtlager halten. +Wiederum hatte er das seltsame Traumgesicht, daß der wohlbekannte Alte +ihm aus seinem Fäßchen zu trinken gab und ihm den Rath ertheilte, auf +demselben Wege, den er gekommen, an den Strand zurückzugehen, wo er +gewiß Hülfe finden würde. Zuletzt hatte der Alte gesagt: »Weil du deinen +in's Meer gesunkenen Schatz nicht bedauert hast, sondern nur deinen +Dudelsack, so will ich dir einen neuen zum Andenken verehren.« Am Morgen +erinnerte er sich seines Traumes; aber wer vermöchte seine Freude und +sein Glück zu beschreiben, als er den im Traum ihm verheißenen Dudelsack +neben dem Korbe am Boden liegen sah. Tiidu nahm den Dudelsack und begann +nach Herzenslust zu blasen, daß der Wald davon wiederhallte. Nachdem er +sich satt gespielt hatte, nahm er den Weg unter die Füße und schlug die +Richtung nach der See ein. + +Es war schon etwas über Mittag, als er die Küste erreichte, in deren +Nähe er ein Schiff liegen sah, an welchem das Schiffsvolk eben +Ausbesserungen vornahm. Die Leute wunderten sich, auf dieser Insel, die +sie für unbewohnt gehalten, einen Menschen zu erblicken. Der Schiffer +ließ ein Boot herunter, und schickte mit demselben zwei Männer an's +Ufer. Tiidu erzählte ihnen sein Unglück, wie das Schiff untergegangen +sei, und Gottes Gnade ihn wunderbarer Weise aus Todesgefahr errettet +habe. Der Schiffer versprach ihn unentgeltlich mitzunehmen und nach Land +Kungla zurückzubringen, wohin das Schiff bestimmt war. Unterwegs +erfreute Tiidu den Schiffer und das Schifssvolk durch sein schönes +Spiel; nach einigen Tagen hatten sie die Küste von Land Kungla erreicht. +Mit nassen Augen dankte Tiidu dem Schiffer, der ihn erlöst hatte, und +versprach, das Ueberfahrtsgeld redlich nachzuzahlen, sobald es ihm +wieder gut gehe. Als er nach einigen Tagen wieder in des Königs Stadt +angekommen war, spielte er gleich den ersten Abend öffentlich, und nahm +dafür so viel Geld ein, daß er sich neue Kleider nach ausländischem +Schnitt machen lassen konnte. Darauf that er einige rothe Aepfel in ein +Körbchen und ging mit seiner Waare an das Thor des Königshauses, wo er +sie am leichtesten los zu werden hoffte. Es dauerte auch nicht gar +lange, so kam ein königlicher Diener, kaufte die schönen Aepfel, +bezahlte mehr als gefordert war, und hieß den Verkäufer am nächsten Tage +wiederkommen. Tiidu aber machte sich eilig davon, als ob er Feuer in der +Tasche hätte, und dachte nicht daran, mit seiner Waare wiederzukommen, +denn er wußte ja recht gut, daß der Genuß der Aepfel ein Wachsen der +Nasen hervorbringen würde. Er ließ sich dann noch an demselben Tage +einen andern Anzug machen, und kaufte sich einen langen schwarzen Bart, +den er sich an's Kinn klebte; dadurch veränderte er sein Aussehen +dermaßen, daß selbst seine nächsten Bekannten ihn nicht wieder erkannt +hätten. Daraus nahm er in einem Wirthshause in einer entlegenen Vorstadt +seine Wohnung und nannte sich einen ausländischen Zauberkünstler, der +alle Gebrechen zu heilen wisse. + +Am andern Tage war die ganze Stadt voll Bestürzung über das Unglück, +welches sich im Hause des Königs zugetragen hatte. Der König, seine +Gemahlin und seine Kinder hatten gestern Aepfel genossen, die man von +einem Fremden gekauft hatte, und waren darnach Alle erkrankt. Worin ihre +Krankheit bestand, das wurde nicht verrathen. Alle Doctoren, Aerzte und +Zauberkünstler der Stadt wurden zusammen gerufen, aber keiner konnte +helfen, weil sie eine solche Krankheit noch niemals bei Menschen gesehen +hatten. Später verlautete über die Krankheit, es sei ein Nasenübel. Als +eines Tages alle Aerzte und Zauberkünstler zur Berathung versammelt +waren, hielten einige es für nothwendig, die überflüssige Verlängerung +der Nasen wegzuschneiden; aber der König und seine Familie wollten sich +einer so schmerzhaften Kur nicht unterziehen. Da wurde gemeldet, daß bei +einem Gastwirth in der Vorstadt ein ausländischer Zauberkünstler sich +aufhalte, der alle Gebrechen heilen könne. Der König schickte sogleich +seine mit vier Pferden bespannte Kutsche hin, und ließ den +Zauberkünstler zu sich bescheiden. Tiidu hatte über die halbe Nacht +daran gearbeitet, sich ganz unkenntlich zu machen, und es war ihm so gut +gelungen, daß weder von dem Dudelsackpfeifer noch von dem +Aepfelverkäufer eine Spur nachgeblieben war. Auch seine Ausdrucksweise +war so gebrochen, daß er Manches erst mit den Fingern andeuten mußte, +ehe die Andern daraus klug wurden. Als er zum Könige kam, besah er das +seltsame Gebrechen, nannte es die Puterseuche, und versprach, es ohne +Schneiden zu curiren. Dem Könige und seiner Gemahlin waren die Nasen +schon über eine Elle lang gewachsen, und dehnten sich noch immer weiter. +Dudelsack-Tiidu hatte feines Pulver von seinen Nüssen in eine kleine +Dose gethan, gab jedem Kranken eine Messerspitze voll ein, und ordnete +an, daß die Kranken sich in ein finsteres Gemach verfügten, wo sie sich +zu Bette legen und in Kissen hüllen mußten, damit starker Schweiß +erfolge, und den Krankheitsstoff zum Körper heraustreibe. Als sie nach +einigen Stunden wieder an's Licht traten, hatten alle ihre vorigen Nasen +wieder. + +Der König hätte in seiner Freude gern die Hälfte seines Königreiches für +diese Cur hingegeben, die ihn und die Seinigen von der greulichen +Nasenkrankheit befreit hatte. Allein durch die Noth, welche +Dudelsack-Tiidu beim Schiffbruch erlebt hatte, war seine Geldgier +schwächer geworden, und er verlangte nicht mehr, als hinreichte um sich +ein Gut zu kaufen, auf welchem er seine Lebenstage friedlich zu +beendigen wünschte. Der König ließ ihm jedoch eine dreimal größere Summe +auszahlen, mit welcher Tiidu zum Hafen eilte und ein Schiff bestieg, das +ihn in seine Heimath zurückbringen sollte. Vor seiner Abfahrt hatte er +seinen falschen Bart abgenommen, und die fremdartigen Kleider mit +anderen vertauscht. Dem Schiffer, der ihn von der wüsten Insel gerettet +hatte, erstattete er das Geld, welches er ihm für die Ueberfahrt +schuldete. Nachdem er an seiner heimischen Küste gelandet war, begab er +sich nach seinem Geburtsorte, und fand seinen Vater, zwei Brüder und +drei Schwestern noch am Leben; die Mutter und drei Brüder waren +gestorben. Tiidu gab sich den Seinigen nicht eher zu erkennen, als bis +er das Gut gekauft hatte. Dann ließ er ein prächtiges Gastmahl +anrichten, und seine ganze Familie dazu einladen. Bei Tische gab er sich +zu erkennen und sagte: »Ich bin _Tiidu_, euer fauler Sohn und Bruder, der +zu Nichts zu gebrauchen war, seinen Eltern Kummer machte, und endlich +heimlich davon lief. Mein Glück war mir holder als ich selbst, und darum +komme ich jetzt als reicher Mann zurück. Jetzt müsset ihr Alle kommen +und auf meiner Besitzung wohnen, und der Vater muß bis an seinen Tod in +meinem Hause bleiben.« -- Später freite er ein tugendsames Mädchen, das +nichts weiter besaß, als ein hübsches Gesicht und ein gutes Herz. Als er +am Abend des Hochzeitstages mit seiner jungen Frau das Schlafgemach +betrat, fand er große Kisten und Kasten vor demselben, welche alle seine +in's Meer gesunkenen Schätze enthielten. In einem der Kasten lag ein +Blatt, worauf die Worte geschrieben waren: »Einem guten Sohne, der für +Eltern und Verwandte sorgt, giebt auch die Meerestiefe den geraubten +Schatz heraus.« Wer aber der zauberkräftige Alte gewesen, der ihn auf +den Weg des Glückes geführt, ihn aus der Seegefahr gerettet und Gier und +Geiz aus seinem Herzen getilgt hatte: das hat er niemals erfahren. + +Ob gegenwärtig noch von Dudelsack-Tiidu's Nachkommen Jemand lebt, ist +mir nicht bekannt, sollte man aber einige von ihnen ausfindig machen, +dann sind es gewiß so feine Herrschaften, daß bei ihnen weder +bäuerlicher Rauchgeruch noch Riegenstaub mehr anzutreffen ist. + +[Fußnote 85: S. die Anm. 2. zu 8, »Schlaukopf«, S. 102. L] + + + + +24. Die aus dem Ei entsprossene Königstochter. + + +Einmal lebte ein König, dessen Gemahlin keine Kinder hatte, was Beide +sehr bekümmerte, besonders wenn sie sahen, wie niedriger stehende +Menschen in dieser Hinsicht viel reicher waren als sie selber. Trauriger +als gewöhnlich war die Königin immer, wenn der König einmal nicht zu +Hause war; dann saß sie fast immer im Garten unter einer breiten Linde, +senkte den Kopf und hatte die Augen voll Thränen. Da saß sie auch wieder +eines Tages, als der König auf einige Wochen verreist war, um die +Kriegsmacht zu besichtigen, welche an der Grenze des Reiches stand, +einen drohenden feindlichen Einbruch abzuwehren. Der Königin war das +Herz so beklommen, als stehe ihr ein unerwartetes Unglück bevor, und +ihre Augen füllten sich mit bitteren Thränen. Als sie das Antlitz +emporhob, sah sie ein altes Mütterchen, welches auf Krücken einher +hinkte, sich an der Quelle bückte, um zu trinken, und nachdem sie ihren +Durst gestillt hatte, gerade auf die Linde zu humpelte, wo die Königin +weilte. Das Mütterchen neigte ihr Haupt und sagte: »Nehmt es nicht übel, +geehrtes hohes Frauchen, daß ich es wage, vor euch zu erscheinen, und +fürchtet euch nicht vor mir, denn es wäre leicht möglich, daß ich zur +guten Stunde gekommen bin und euch Glück bringe.« Die Königin +betrachtete sie zweifelhaft und antwortete: »Du selber scheinst mir an +Glück keinen Ueberfluß zu haben, was kannst du Andern davon gewähren?« +Die Alte ließ sich aber nicht irre machen, sondern sagte: »Unter rauher +Schale steckt oft glattes Holz und süßer Kern. Zeiget mir eure Hand, +damit ich erfahre, wie es mit euch werden wird.« Die Königin streckte +ihr die Hand hin, damit die Alte darin lesen könne. Als diese die Linien +und Striche eine Weile genau betrachtet hatte, ließ sie sich +folgendermaßen vernehmen: »Euer Herz ist jetzt mit zwei Sorgen beladen, +einer alten und einer neuen. Die neue Sorge, die euch quält, ist die um +euren Gemahl, der jetzt weit von euch ist; --aber glaubet meinem Worte, +er ist gesund und munter und wird binnen zwei Wochen zurück kommen und +euch frohe Zeitung bringen. Eure alte Sorge aber, welche eurer Hand +tiefere Striche eingedrückt hat, rührt daher, daß Gott euch keine +Leibesfrucht geschenkt hat!« Die Königin erröthete und wollte ihre Hand +aus der Hand der Alten losmachen, aber die Alte bat: »Habt noch ein +wenig Geduld, so bringen wir Alles auf einmal in's Reine.« Die Königin +fragte: »Sage mir, Mütterchen, wer du bist, daß du mir aus der +Handfläche meine Herzensgedanken kund thun kannst?« Die Alte erwiederte: +»Um meinen Namen ist es hier nicht zu thun, und ebenso wenig darum, +welche Kraft mir eures Herzens geheime Wünsche kund macht; ich freue +mich nur, daß es mir vergönnt ist, euch auf die rechte Bahn zu bringen, +und eures Herzens Kummer zu mindern. Durch Zaubermacht ist euer Leib +verschlossen, so daß ihr nicht eher Kinder zur Welt bringen könnt, bis +die Bänder des Verschlusses gelöst sind, und die natürliche +Beschaffenheit wieder hergestellt ist. Ich kann dies bewirken, jedoch +nur dann, wenn ihr Alles befolgt, was ich euch sagen werde.« »Alles will +ich ja gern thun, und dich auch für deine Mühe königlich belohnen, wenn +du deine Versprechungen wahr machst,« sagte die Königin. -- Die Alte +stand eine Zeitlang in Gedanken und fuhr dann fort: »Heute über's Jahr +sollt ihr sehen, daß meine Prophezeiungen eintreffen.« Mit diesen Worten +zog sie ein in viele Lappen gewickeltes Bündel aus dem Busen, und als +die Lappen abgenommen waren, kam ein kleines Körbchen von Birkenrinde +zum Vorschein; sie gab es der Königin und sagte: »In dem Körbchen findet +ihr ein Vogelei;[86] dieses brütet drei Monate in eurem Schooße aus, bis +ein lebendiges Püppchen herauskommt, das einem menschlichen Kinde +gleicht. Das Püppchen legt in einen Wollkorb, und lasset es so lange +wachsen, bis es die Größe eines neugeborenen Kindes hat; Speise oder +Trank braucht es nicht, das Körbchen aber muß immer an einem warmen Orte +stehen. Neun Monate nach der Geburt des Püppchens werdet ihr einen Sohn +zur Welt bringen. An demselben Tage hat auch das Püppchen die Größe +eines neugeborenen Kindes erreicht, nehmet es dann heraus, leget es +neben den neugeborenen Sohn in's Bette und lasset dem Könige melden, +daß Gott euch Zwillinge geschenkt habe, einen Sohn und eine Tochter. Den +Sohn säuget an eurer Brust, für die Tochter aber müßt ihr eine Amme +nehmen. An dem Tage, wo beide Kinder zur Taufe gebracht werden, bittet +mich, bei der Tochter Pathenstelle zu vertreten. Das macht ihr so: Auf +dem Boden des Körbchens findet ihr unter der Wolle einen Flederwisch, +den blaset zum Fenster hinaus, dann erhalte ich augenblicklich die +Botschaft und komme, bei eurem Töchterchen Gevatter zu stehen. Von dem, +was euch jetzt begegnet ist, dürft ihr Niemanden etwas sagen.« Ehe noch +die Königin ein Wort erwiedern konnte, eilte die hinkende Alte davon, +und nachdem sie zehn Schritte gemacht hatte, war von einer Alten keine +Spur mehr, sondern statt derselben schritt ein junges Weib in aufrechter +Haltung so rasch dahin, daß sie mehr zu fliegen als zu gehen schien. Die +Königin aber konnte sich von ihrer Verwunderung noch nicht erholen, und +würde Alles für einen Traum gehalten haben, wenn nicht das Körbchen in +ihrer Hand bezeugt hätte, daß die Sache wirklich vorgefallen war. Sie +fühlte ihr Herz mit einem Male wunderbar erleichtert. Sie trat in ihr +Gemach, wickelte das Körbchen, in welchem ein kleines Ei in feiner Wolle +lag, in seidene Tücher und steckte es in ihren Busen, wie das Mütterchen +vorgeschrieben hatte. Auch alles Uebrige gelobte sie sich zu erfüllen +und das Geheimniß zu bewahren. + +Gerade als der letzte Tag der zweiten Woche nach dem Besuche der Alten +zu Ende ging, kehrte der König zurück und rief schon von fern der Frau +die frohe Nachricht zu: »Mein Heer hat einen vollständigen Sieg davon +getragen und den Feind mit blutigen Köpfen heimgeschickt, so daß unsere +Unterthanen für's erste Ruhe haben werden.« So war die erste +Prophezeiung der Alten vollständig eingetroffen, und dadurch befestigte +sich im Herzen der Königin die Hoffnung, daß auch die übrigen +Prophezeiungen in Erfüllung gehen würden. Sie hütete das Körbchen mit +dem Ei in ihrem Busen wie ein Kleinod, und ließ ein goldenes Kästchen +machen, in welches sie das Körbchen legte, damit das Eichen nicht etwa +beschädigt würde. Nach drei Monaten schlüpfte aus dem Ei ein lebendiges +Püppchen von halber Fingerlänge, welches der Vorschrift gemäß in den +Wollkorb gelegt wurde, um zu wachsen. So war auch die zweite +Prophezeiung wahr geworden, und die Königin harrte nun mit Spannung der +Zeit, wo ihr Herz zum ersten Male Mutterfreuden schmecken sollte. Und in +der That brachte sie nach Jahresfrist ein Söhnlein zur Welt, wie das +alte Mütterchen vorhergesagt hatte. Da nahm sie das Mägdlein aus dem +Wollkasten, legte es neben den Sohn in die Wiege, und ließ dem Könige +sagen, daß sie Zwillinge geboren habe, einen Sohn und eine Tochter. Die +Freude des Königs und seiner Unterthanen kannte keine Grenzen. -- Alle +glaubten fest daran, daß die Königin mit Zwillingen niedergekommen sei. +An dem Tage, wo die Kinder getauft werden sollten, öffnete die Königin +ein wenig das Fenster und ließ den Flederwisch fliegen, um die +Taufmutter für die Tochter herbeizuschaffen, denn sie war überzeugt, die +Gevatterin würde zur rechten Zeit da sein. Als die eingeladenen +Taufgäste schon alle beisammen waren, fuhr eine prächtige Kutsche mit +sechs dotterfarbigen Rossen vor, und aus der Kutsche stieg eine junge +Frau in rosenrothen goldgestickten seidenen Gewändern, die einen Glanz +verbreiteten, der mit dem Glanze der Sonne wetteiferte; das Antlitz +hatte sie mit einem feinen Schleier verhüllt. Als sie eintrat, nahm sie +den Schleier ab, und Alle mußten staunend bekennen, daß sie in ihrem +Leben noch keine schönere Jungfrau gesehen hätten. Die schöne Jungfrau +nahm nun das Töchterchen auf ihre Arme und trug es zur Taufe, in welcher +dem Kinde der Name _Dotterine_ beigelegt wurde, was freilich Niemanden +verständlich war, als der Königin, da ja das Kind wie ein Vogeljunges +aus einem Eidotter geboren war. Taufvater des Sohnes war ein vornehmer +Herr, und das Knäblein erhielt den Namen _Willem_. Nach vollzogener Taufe +ließ sich die Taufmutter von der Königin das Körbchen mit den +Eierschalen geben, legte das Kind in die Wiege und sagte heimlich zur +Königin: »So lange die Kleine in der Wiege schläft, muß das Körbchen +neben ihr liegen, damit ihr nichts Uebles zustoßen kann, denn in dem +Körbchen ruht ihr Glück. Darum hütet diesen Schatz wie euren Augapfel, +und schärfet auch eurem Töchterchen, wenn es anfängt zu begreifen, ein, +daß es dieses unscheinbare Ding sorgfältig in Acht nehmen muß.« Sie +sprach dann noch Manches mit der Mutter über die Erziehung ihrer Pathe, +küßte diese drei Mal, nahm Abschied, stieg in die Kutsche und fuhr +davon. Niemand wußte, woher sie gekommen war und wohin sie ging; auch +die Königin gab auf Befragen keinen weiteren Bescheid als: es ist eine +mir bekannte Königstochter aus fernem Lande. + +Die Kinder gediehen fröhlich, Willem bei der Muttermilch und Dotterine +an der Brust der Amme. Diese liebte das Mägdlein so zärtlich, als wäre +es ihr leibliches Kind gewesen, und die Königin behielt sie deßhalb nach +der Entwöhnung als Kinderwärterin. Die kleine Dotterine wurde von Tage +zu Tage hübscher, so daß die älteren Leute meinten, sie würde einmal +ihrer Taufmutter ähnlich werden. Die Amme hatte zuweilen bemerkt, daß in +der Nacht, wenn Alles schlief, eine fremde schöne Frau erschien, um den +Säugling zu betrachten; als sie dies der Königin entdeckte, schärfte ihr +diese ein, gegen Niemanden von dem nächtlichen Gaste etwas verlauten zu +lassen. Als die Zwillinge zwei Jahr alt waren, wurde die Königin +plötzlich schwer krank; zwar wurden Aerzte von nah und fern +herbeigerufen, aber sie konnten nicht helfen, denn für den Tod ist kein +Kraut gewachsen. Die Königin fühlte selbst, daß sie von Stunde zu Stunde +dem Grabe immer näher kam, und ließ deßhalb die Wärterin und vormalige +Amme der Dotterine rufen. Ihr, als der treuesten ihrer Dienerinnen, +übergab sie das Glückskörbchen mit den Eierschalen und schärfte ihr ein, +das verwunderliche Ding sorgfältig in Acht zu nehmen. »Wenn mein +Töchterchen,« so sagte die Königin, »zehn Jahr alt ist, dann händige ihr +das Kleinod ein, und ermahne sie, es zu hüten, weil es das Glück ihrer +Zukunft birgt. Um meinen Sohn sorge ich nicht, ihn, als des Reiches +Erben, wird der König unter seine Obhut nehmen.« Die Wärterin mußte ihr +dann eidlich versprechen, das Geheimniß vor jedermann zu bewahren. +Darauf ließ sie den König an ihr Bett rufen und bat ihn, er möge die +gewesene Amme Dotterinen's ihr als Wärterin und Dienerin lassen, so +lange als Dotterine es wünschen würde. Der König versprach es; noch +denselben Abend gab seine Gemahlin ihren Geist auf. + +Nach einigen Jahren freite der verwittwete König wieder, und brachte +eine junge Frau in's Haus, die sich aus dem gealterten Gemahl nichts +machte, sondern ihn nur aus Ehrgeiz genommen hatte. Die Kinder der +ersten Frau konnte sie nicht vor Augen sehen, weßhalb der König sie an +einem abgesonderten Orte aufziehen ließ, wo Dotterinen's frühere Amme +mütterlich für sie sorgte. Kamen die Kinder einmal zufällig der +Stiefmutter zu Gesicht, so stieß sie dieselben wie junge Hunde mit dem +Fuße fort, so daß die Kinder sie scheuten wie das Feuer. Als Dotterine +das Alter von zehn Jahren erreicht hatte, händigte ihr die Amme das +Pathengeschenk ein, und ermahnte sie, dasselbe wohl in Acht zu nehmen. +Da das Geschenk aber dem Kinde so gar unansehnlich vorkam, so gab es +nicht viel darauf, legte es zu den übrigen von der Mutter geerbten +Sachen in den Kasten, und dachte nicht weiter daran. Darüber waren +wieder ein Paar Jahre hingegangen, als eines Tages, da der König sich +entfernt hatte, die Stiefmutter Dotterine im Garten unter einer Linde +sitzen fand: wie ein Habicht fuhr sie auf das Kind los, riß es an den +Ohren und schlug es, daß Blut aus Mund und Nase floß. Weinend lief das +Mädchen in ihr Gemach, und als sie die Amme dort nicht fand, fiel ihr +mit einem Male das Pathengeschenk ein. Sie nahm es aus dem Kasten und +wollte nun zu ihrer Zerstreuung sehen, was denn wohl darin wäre. Aber +sie fand im Körbchen keinen größeren Schatz als eine Handvoll feine +Schafwolle und ein paar leere Eierschalen. Unter der Wolle auf dem +Grunde des Körbchens lag ein Flederwisch. Als nun das Mädchen am +geöffneten Fenster die wertlosen Sachen betrachtete, verursachte es +einen Luftzug, der den Flederwisch fort blies. Augenblicklich stand eine +fremde schöne Frau neben Dotterinen, streichelte ihr Kopf und Wangen und +sagte freundlich: »Fürchte dich nicht, liebes Kind, ich bin deine +Taufmutter, und bin hergekommen, dich zu sehen. Deine vom Weinen +angeschwollenen Augen sagen mir, daß du traurig bist. Ich weiß, daß das +Leben, welches du unter dem Joche deiner Stiefmutter führst, nicht +leicht ist, allein halte aus und bleibe brav in allen Anfechtungen, dann +werden einst bessere Tage für dich anbrechen. Wenn du erwachsen bist, +hat deine Stiefmutter keine Gewalt mehr über dich, und eben so wenig +können andere böse Menschen dir schaden, wenn du dein Körbchen nicht +verloren gehen lässest; auch die Eierschalen darfst du nicht abhanden +kommen lassen, zu rechter Zeit werden sie sich wieder zu einem Eichen +zusammenfügen, und dann wird dein Glück erblühen. Nähe dir ein seidenes +Säckchen, stecke das Körbchen hinein und verwahre es Tag und Nacht im +Busen, so können dir weder deine Stiefmutter noch andere Menschen etwas +Böses anhaben. Sollte dir aber irgend etwas zustoßen, wobei du ohne +meinen Rath nicht durchkommen zu können glaubst, so nimm den Flederwisch +aus dem Körbchen und blase ihn in's Freie; dann werde ich augenblicklich +da sein, dir zu helfen. Komm jetzt in den Garten, da können wir uns +unter der Linde weiter unterhalten, ohne daß ein Anderer es hört.« Unter +der Linde setzten sie sich auf eine Rasenbank und die Taufmutter wußte +der Kleinen durch anmuthiges Gespräch die Zeit so gut zu verkürzen, daß +sie nicht merkte, wie die Sonne schon längst untergegangen war und die +Nacht hereinbrach. Da sagte die Taufmutter: »Reiche mir das Körbchen, +ich will etwas Abendbrot besorgen, damit du nicht mit leerem Magen +schlafen zu gehen brauchst.« Sie sprach dann heimliche Worte über das +Körbchen, worauf ein Tisch mit wohlschmeckenden Speisen aus dem Boden +stieg. Beide aßen sich satt, dann begleitete die Taufmutter Dotterinen +wieder zum Hause des Königs, und lehrte ihr während dieses Ganges die +geheimen Worte, welche sie dem Körbchen zuflüstern müsse, wenn sie etwas +zu begehren hätte. Seltsam war es, daß von da an die Stiefmutter ihrer +Stieftochter kein böses Wort mehr gab, sondern fast immer freundlich +gegen sie war. + +Nach einigen Jahren war Dotterine zur reifen Jungfrau herangewachsen, +und ihre Schönheit und Wohlgestalt war so blendend, daß man glaubte, es +gebe ihres Gleichen nicht auf der Welt. Da brach ein schwerer Krieg aus, +der von Tag zu Tage schlimmer wurde, bis zuletzt der Feind vor die +Königsstadt zog und sie mit Heeresmacht einschloß, so daß keine Seele +heraus noch herein kommen konnte. Der Hunger begann die Einwohner zu +quälen, und auch in des Königs Hause drohte binnen wenigen Tagen der +Mundvorrath auszugehen. -- Da ließ Dotterine eines Tages ihren +Flederwisch fliegen, und siehe da! augenblicklich war die Taufmutter bei +ihr. Als die Königstochter ihr die Noth und das Elend geklagt hatte, +sagte die Taufmutter: »Dich, liebes Kind, kann ich wohl aus dieser +Gefahr erretten, für die andern aber reicht meine Hülfe nicht aus, sie +müssen selber sehen, wie sie durchkommen.« Darauf nahm sie Dotterinen +bei der Hand und führte sie aus der Stadt mitten durch das Heer der +Feinde, deren Augen sie so verblendet hatte, daß Niemand die Flüchtlinge +sehen konnte. Am folgenden Tage fiel die Stadt in die Hand der Feinde, +und der König mit seinem ganzen Hause wurde gefangen genommen, sein Sohn +Willem aber war glücklich entronnen. Die Königin hatte durch einen +feindlichen Speer den Tod gefunden. Für Dotterine hatte die Taufmutter +Bauernkleider besorgt, und ihr Antlitz so verändert, daß Niemand sie +erkennen konnte. »Wenn einst wieder eine bessere Zeit kommt,« sagte die +Taufmutter, »und du dich sehnst, in deiner früheren Gestalt vor die +Leute zu treten, dann flüstere dem Körbchen die geheimen Worte zu und +gebiete ihm, dich in deine eigene Gestalt zurück zu verwandeln; und es +wird so geschehen. Jetzt ertrage eine Zeitlang geduldig schwere Tage, +bis die Lage sich bessert.« Scheidend ermahnte sie noch das Mädchen, das +Körbchen gut in Acht zu nehmen, und entfernte sich dann. Dotterine +wanderte mehrere Tage von einem Orte zum andern umher, da aber der Feind +die ganze Umgegend verwüstet hatte, so fand sie anfangs weder Obdach +noch Dienst. Zwar bot ihr das Körbchen ihre tägliche Nahrung, aber sie +wollte doch nicht so auf eigene Hand weiter leben, und nahm deßhalb mit +Freuden einen Dienst als Magd in einem Bauerhofe an, wo sie so lange zu +bleiben gedachte, bis die Dinge sich wenden würden. Anfangs wurde die +ungewohnte grobe Arbeit Dotterinen sehr schwer, weil sie sich eben noch +niemals damit abgegeben hatte. Aber war es nun, daß ihre Gliedmaßen +sich wirklich so schnell abhärteten, oder daß das Wunderkörbchen ihr +heimlich half -- nach drei Tagen ging ihr Alles so gut von der Hand, als +wäre sie von Kindesbeinen an dabei aufgewachsen. An ihr wurde das alte +Wort zu Schanden, welches sagt: »Man kann wohl aus einem Bauern eine +Herrschaft, aber aus einer Herrschaft keinen Bauern machen.« Da traf es +sich, daß eines Tages eine Edelfrau durchs Dorf fuhr, als Dotterine +gerade auf dem Hofe Holzgefäße scheuerte. Des Mädchens flinkes Thun und +anmuthiges Wesen fesselte die Frau; sie ließ halten, rief das Mädchen +heran und fragte: »Hast du nicht Lust bei mir auf dem Gute in Dienst zu +treten?« »Gern,« antwortete die Königstochter, »wenn meine jetzige +Brotherrschaft mir Erlaubniß giebt.« Die Frau versprach die Sache mit +dem Wirthe in Ordnung zu bringen, ließ das Mädchen den Sitz hinter der +Kutsche einnehmen und fuhr mit ihr auf's Gut. Hier hatte es Dotterine +wieder leichter, denn ihre ganze Arbeit bestand darin, die Zimmer +aufzuräumen und der Frau und den Fräulein beim Ankleiden behülflich zu +sein. Nach einem halben Jahre kam die fröhliche Kunde, daß des alten +Königs Sohn, der den Feinden glücklich entkommen war, in der Fremde ein +Heer gesammelt, mit welchem er sein Königreich dem Feinde wieder +abgenommen habe, und daß er nun selber zum Könige erhoben worden sei. +Die Freudenbotschaft war aber zugleich von einer Todesbotschaft +begleitet: der alte König war im Gefängniß gestorben. Da nun Dotterine +Anderen ihren Kummer nicht zeigen durfte, so weinte sie heimlich bittere +Thränen über ihres Vaters Tod, denn ein anderer als ihr Vater konnte ja +doch der verstorbene König nicht sein. + +Nach Ablauf des Trauerjahres ließ der junge König verkünden, daß er +entschlossen sei, sich zu vermählen. Es wurden deswegen von nah und fern +alle Jungfrauen vornehmer Herkunft zu einem Feste in das Haus des Königs +geladen, damit derselbe sich aus ihrer Mitte eine junge Frau wählen +könne, wie Auge und Herz sie begehrten. Auch die Töchter der Dame, bei +welcher Dotterine diente, und die alle drei jung und blühend waren, +rüsteten sich zum Feste. Dotterine hatte jetzt einige Wochen vom Morgen +bis zum Abend vollauf mit dem Putze der Fräulein zu thun. In dieser Zeit +träumte ihr jede Nacht, ihre Taufmutter käme an ihr Bett und sagte: +»Schmücke erst deine Fräulein zum Feste, und dann folge selber nach. +Keine kann dort so schmuck und so schön sein wie du!« Je näher der Tag +des Festes heranrückte, desto unruhiger wurde Dotterinen zu Muthe, und +als die Frau mit ihren Töchtern davon gefahren war, warf sie sich mit +dem Gesicht auf's Bett und vergoß bittere Thränen. Da war's, als ob ihr +eine Stimme zurief: »Nimm dein Körbchen zur Hand, dann wirst du Alles +finden, was du brauchst.« Dotterine sprang auf, nahm das Körbchen aus +dem Busen, sprach darüber die geheimen Worte, welche sie gelernt hatte, +und siehe das Wunder! augenblicklich lagen prachtvolle goldgewirkte +Gewänder auf dem Bette. Als sie sich dann das Gesicht wusch, erhielt sie +ihr früheres Ansehen wieder, und als sie die prächtigen Kleider angelegt +hatte, und dann vor den Spiegel trat, erschrack sie selber über ihre +Schönheit. Als sie die Treppe hinunter kam, fand sie vor der Thür eine +stattliche Kutsche mit vier dotterfarbigen Pferden bespannt. Sie setzte +sich ein und fuhr mit Windesschnelle fort, so daß sie in weniger als +einer Stunde vor der Pforte des Königshauses angelangt war. Als sie eben +aussteigen wollte, fand sie zu ihrem Schrecken, daß sie beim raschen +Ankleiden das Glückskörbchen zu Hause vergessen hatte. Was jetzt +beginnen? Schon entschloß sie sich zurückzufahren, als eine kleine +Schwalbe mit dem Körbchen im Schnabel an's Kutschfenster geflogen kam. +Erfreut nahm ihr Dotterine das Körbchen aus dem Schnabel, steckte es in +den Busen und hüpfte leicht wie ein Eichhörnchen die Treppe hinauf. + +Im Festgemach funkelte Alles von Pracht und Schönheit, die vornehmen +Fräulein hatten ihren kostbarsten Schmuck angelegt, jede in der +Hoffnung, daß des jungen Königs Auge auf sie fallen würde. Als aber +plötzlich die Thür sich öffnete und Dotterine eintrat, da erbleichte der +Andern Glanz wie der der Sterne beim Aufgang der Sonne, so daß der +Königssohn nur noch diese Jungfrau sah. Einige ältere Personen, die sich +noch dessen erinnerten, was vorgefallen war, als der König mit seiner +später verschwundenen Schwester die Taufe erhielt, sprachen zu einander: +»Diese Jungfrau kann gar wohl die Tochter jener unbekannten Dame sein, +welche bei unseres alten Königs Tochter Gevatter stand.« Der König kam +Dotterinen nicht mehr von der Seite, und kümmerte sich nicht um die +übrigen Gäste. Um Mitternacht geschah etwas Wunderbares: das Gemach war +plötzlich wie in Wolken gehüllt, so daß man weder den Glanz der Lichter +noch die Menschen sah. Nach einer kleinen Weile entwickelte sich aus +dem Nebel wieder Helligkeit und es erschien eine Frau, die keine andere +war, als Dotterinens Taufmutter. Sie sprach zum jungen Könige: »Das +Mädchen, welches neben dir steht, ist deine vermeintliche Schwester, +welche mit dir zusammen getauft wurde, und an dem Tage verschwand, wo +die Stadt in die Hände der Feinde fiel. Die Jungfrau ist aber nicht +deine Schwester, sondern eines weit entfernten Königs Tochter, welche +ich aus der Verzauberung erlöste, und deiner verstorbenen Mutter zur +Pflege übergab.« Dann krachte es, daß die Wände zitterten, und in +demselben Augenblick war die Taufmutter verschwunden, ohne daß jemand +sah, wo sie hingekommen war. Der junge König ließ sich am folgenden Tage +mit Dotterinen trauen, worauf eine prächtige Hochzeitsfeier folgte. Der +König lebte mit seiner Gemahlin sehr glücklich bis an sein Ende, aber +Niemand hat je gehört, wohin das Glückskörbchen gekommen ist. Man meint, +die Taufmutter habe es heimlich mitgenommen, als sie ihre Pathe das +letzte Mal gesehen. + +[Fußnote 86: Aus dem von einem Hühnchen ausgebrüteten Ei eines +Birkhuhns ist Linda, die Gattin des Kalew und die Mutter des +Kalewsohnes, hervorgegangen. S. den Anfang des _Kalewipoëg_. L.] + + + + +Anmerkungen + +von + +Reinhold Köhler und Anton Schiefner. + + +1. Die Goldspinnerinnen. + +Wie S. 10 eine Handvoll aus _neunerlei_ Arten gemischter Hexenkräuter zur +Verfertigung des Hexenknäuels gebraucht wird, so kömmt S. 243 ein Trank +aus _neunerlei_ Kräutern vor, wovon ein Jüngling drei Tage hinter einander +_neun_ Löffel täglich erhält. S. 246 wäscht sich die Höllenjungfrau _neun_ +mal ihr Gesicht in der Quelle und umwandelt sie _neun_ mal. S. 262 _neun_ +Kinder. Die Heiligkeit und die häufige Anwendung der Neunzahl ist +bekanntlich uralt und weit verbreitet, namentlich auch bei den +finnisch-tatarischen Völkern. Vgl. Ph. J. v. Strahlenberg Das Nord- und +Ostliche Theil von Europa und Asia, Stockholm 1730, S. 75-82, und +Schiefner Die Heldensagen der Minussinschen Tataren S. =XXIX=. Auch in den +in neuster Zeit von W. Radloff gesammelten Proben der Volksliteratur der +türkischen Stämme Süd-Sibiriens begegnet die Neunzahl sehr oft. Was +insbesondere die _neunerlei Kräuter_ betrifft, so erwähnt Strahlenberg S. +78, daß die Bauern in Liefland »gemeiniglich neunerlei Kräuter zu ihren +Arzenei-Getränken gebrauchen.« Auch im deutschen Aberglauben spielen die +neunerlei Kräuter eine wichtige Rolle (A. Wuttke Der deutsche +Volksaberglaube der Gegenwart, 2. völlig neue Bearbeitung, Berlin 1869, +§. 120, vgl. auch §§. 74, 85, 92, 253, 495, 528, 683). K. + + +3. Schnellfuß, Flinkhand und Scharfauge. + +Märchen von Menschen mit derartigen wunderbaren Eigenschaften sind +zahlreich. Viele derselben hat Benfey in seinem Aufsatz »Das Märchen von +den Menschen mit den wunderbaren Eigenschaften« im Ausland 1858, Nr. +41-45 zusammengestellt. Vgl. auch noch Jahrbuch für romanische und +englische Literatur =VII=, 32. Das ehstnische Märchen ist eine durchaus +eigenthümliche Gestaltung des Stoffes. K. + +S. 34, Z. 1 und 18 lese man »_drei Eier eines schwarzen Huhns_.« Wie hier +ein _schwarzes_ Huhn, so S. 62 ein _schwarzer_ Hund, S. 70 u. 289 eine +_schwarze_ Katze, S. 97 ein _schwarzes_ Pferd, S. 99 _schwarze_ Ochsen. Sch. + +Der S. 42 vorkommende _Goldapfelbaum_, von dem Goldäpfel entwendet werden +und bei dem nachts gewacht wird, bis der Dieb entdeckt wird, ist einem +vielverbreiteten Märchen entnommen, welches man »das Märchen von dem +Goldapfelbaum und von den drei Königssöhnen« betiteln kann. Es findet +sich bei Grimm Nr. 57, v. Hahn Griechische und albanesische Märchen Nr. +70, Schott Walachische M. Nr. 26, J. W. Wolf Zeitschrift für deutsche +Mythologie =II=, 389 (aus der Bukowina), Wuk Serbische Volksmärchen Nr. 4, +Waldau Böhmisches Märchenbuch S. 131, Glinski =Bajarz polski I=, 1, Vogl +Die ältesten Volksmärchen der Russen Nr. 2 und nach Schiefners +Mittheilung bei Afanasjew =VII=, 121 und Salmelainen =IV=, 45. In allen +diesen Märchen sind es wunderbare Vögel, welche die Aepfel entwenden. +Das masurische Märchen bei Töppen Aberglauben aus Masuren, 2. Aufl., S. +139, gehört nur dem Anfang nach her, verläuft aber dann in ein ganz +andres Märchen. K. + +S. 47 wäre statt »der Hexenmeister _Piirisilla_« genauer zu übersetzen +»der Hexenmeister von _Piirisild_« d. h. Gränzbrücke (Genitiv _Piirisilla_). +Vielleicht steckt in dem Piirisild eine Erinnerung an den Zauberer +Virgilius. Letzterer ist sogar noch in einem polnischen Kinderspiel +bekannt, das dem englischen »Simon sagts« (s. Wagner Illustrirtes +Spielbuch für Knaben, Leipzig O. Spamer, 2. Aufl., Nr. 714) zunächst +kommt. Sch. + +S. 51, Z. 4 ist mit dem ehstnischen Texte übereinstimmend zu lesen +»_schwedische_ Brüder«. Es zogen diese ja zu dem Könige im _Nordlande_, wie +wir aus S. 49 Zeile 6 ersehen. Wir haben zugleich einen Fingerzeig über +die Quelle des Märchens. So finden wir auch S. 60 den _Schwedenkönig_ +genannt. Sch. + + +4. Der Tontlawald. + +In dem russischen Märchen »die schöne Wasilissa« (Afanasjew =IV=, 44) wird +die Stieftochter in den Wald geschickt, um von der dort wohnenden Hexe +(=Jagá babá=) Feuer zu holen. Auf den Rath der ihr von der Mutter auf dem +Sterbebett übergebenen Puppe, mit der sie ihre Nahrung theilt, begiebt +sie sich in den Wald und besteht dort alle Gefahren. Die Hexe giebt ihr +einen Todtenkopf mit funkelnden Augen mit, welcher ihre Stiefschwestern +zu Asche verbrennt. + +Gute Kenner der ehstnischen Gebräuche bestätigen mir die S. 74 und 177 +vorkommende Sitte, für die Todtenwächter zur Nacht Erbsen in Salz zu +kochen. Sch. + + +5. Der Waise Handmühle. + +Außer dem von Herrn Löwe in der Anmerkung auf S. 80 Angeführten verweise +ich auf den Aufsatz »Ueber das Wort Sampo im finnischen Epos« im +Bulletin der Petersburger Akademie =III=, 497-506 = =Mélanges russes IV=, +195-209, in welchem ich verschiedene auf Wundermühlen bezügliche +russische Märchen vorführe. Sch. + + +7. Wie eine Waise unverhofft ihr Glück fand. + +Dieses Märchen ist früher von Herrn Kreutzwald mir mitgeteilt und von +mir im Bulletin =XVI=, 448-56 und 562-63 (= =Mélanges russes IV=, 7-18) in +dem Aufsatz »Zum Mythus vom Weltuntergange« veröffentlicht worden, wo +auch das in finnischen Märchen Vorkommende verwandten Inhalts berührt +ist. Sch. + +Wie sich in diesem Märchen (S. 95 f.) ein ins Wasser geworfenes +Klettenblatt in einen Nachen verwandelt, so verwandeln sich in Ariostos +Rasendem Roland (=XXXIX=, 26-28) die von Astolf ins Meer geworfenen +verschiedenen Blätter in Schiffe. K. + + +8. Schlaukopf. + +Dieses Märchen erinnert einigermaßen an die, welche ich im Jahrbuch für +roman. und engl. Literatur =VII=, 137 f. zusammengestellt habe. Nach +Schiefners Mittheilung gehört dazu noch ein finnisches (Salmelainen =IV=, +126), wo Helli dem Bergkobold (=Wuoren peikko=) Pferd, Geld und goldene +Decke stiehlt. K. + + +11. Der Zwerge Streit. + +Der Streit der Erben (Geister, Teufel, Riesen, Zwerge, Menschen) um +Wunschdinge, welche dann der von den Streitenden erwählte Schiedsrichter +sich aneignet, kömmt oft in den Märchen des Morgen- und Abendlandes vor. +Näher darauf einzugehen ist hier nicht der Ort, nur folgendes sei +bemerkt. Die Zahl der Wunschdinge ist häufig drei, und darunter befinden +sich sehr oft ein Paar Schuhe oder Stiefeln und ein Hut oder eine Mütze. +Erstere bringen den Besitzer entweder, wie hier, sofort an einen +gewünschten Ort, oder er kann wenigstens in ihnen mit jedem Schritt +Meilen (7-1000) zurücklegen. Der Hut oder die Mütze hat meistens die +Eigenschaft unsichtbar zu machen: daß der Träger des Hutes aber alles, +auch das fernste und den gewöhnlichen Menschen sonst unsichtbare, sehen +kann, ist dem ehstnischen Märchen eigen, ebenso wie der Alles +schmelzende Stock. Zwar kömmt unter den Wunschdingen in mehreren Märchen +ein Stock oder eine Keule vor, aber nicht mit dieser Eigenschaft. + +Was den Umstand betrifft, daß der Hut aus Nägelschnitzeln gemacht ist, +so ist außer dem S. 143, Anm. 1 Bemerkten noch auf Schiefners +Mittheilung im Bulletin =II=, 293 zu verweisen, daß die Lithauer in +Samogitien ihre Nägelschnitzel nicht wegwerfen, sondern an ihrem Leibe +verwahren, aus Furcht, der Teufel könne dieselben auflesen und sich +einen Hut daraus machen. Schiefner erinnert auch an das aus +Nägelschnitzeln Todter gebildete Todtenschiff Naglfari in der Edda. + +Daß Zwerge bei Hochzeiten unsichtbar mitessen, kömmt öfters in deutschen +Sagen vor, z. B. in Büschings Wöchentlichen Nachrichten =I=, 73, +Müllenhoff Sagen, Märchen und Lieder aus Schleswig u. s. w. S. 280, Nr. +380, Kuhn und Schwartz Norddeutsche Sagen Nr. 189, 4; 270, 2; 291. K. + + +13. Wie eine Königstochter sieben Jahre geschlafen. + +Man vgl. das finnische Märchen aus Salmelainens Sammlung in Ermans +Archiv für wissenschaftliche Kunde von Rußland =XIII=, 483, das masurische +bei Töppen Aberglauben aus Masuren S. 148, das von Chavannes in der +Sammelschrift »Die Wissenschaften im 19. Jahrhundert« =IX=, 100 +mitgetheilte russische, das polnische bei Glinski =Bajarz polski I=, 38, +das tiroler bei Zingerle Tirols Volksdichtungen und Volksgebräuche =II=, +395. Alle diese Märchen gehen gleich dem ehstnischen davon aus, daß ein +sterbender Vater seine drei Söhne auffordert, nach seinem Tode der Reihe +nach je eine Nacht auf seinem Grabe zuzubringen, welcher Aufforderung +jedoch die beiden ältesten nicht nachkommen, während der jüngste, der +als Dümmling gilt, alle drei Nächte auf dem väterlichen Grabe wacht. Die +Hand der Königstochter soll im finnischen Märchen der erhalten, welcher +sein Pferd bis ans dritte Stockwerk der Hofburg springen lassen und der +da sitzenden Prinzessin einen Kuß geben kann; im masurischen, wer zu +Pferde zweimal in das vierte Stockwerk des Schlosses zur Prinzessin +gelangen kann; im russischen, wer zu Pferde der im dritten Stockwerk +sitzenden Prinzessin einen Kuß geben, oder nach Varianten: wer über +zwölf Glastafeln oder über so und so viel Balken zu ihr oder ihrem Bild +zu Pferd gelangen kann; im tiroler, wer einen steilen Felsen empor +reiten kann; im polnischen, wer in Ritterspielen siegt. In einigen der +zahlreichen, sonst ähnlichen Märchen, in denen jedoch die Nachtwachen +auf dem Grabe des Vaters fehlen, muß, wie im ehstnischen, der Bewerber +um die Hand der Königstochter einen Glasberg hinaufreiten (Sommer Sagen, +Märchen und Gebräuche aus Sachsen und Thüringen =I=, 96, Asbjörnsen und +Moë Norske Folkeeventyr Nr. 52, Grundtvig Gamle danske Minder i +Folkemunde =I=, 211, Müllenhoff Sagen, Märchen und Lieder aus Schleswig u. +s. w. S. 437, Anmerk. zu Nr. =XIII=). In fast allen hierher gehörigen +Märchen macht der Dümmling von seinem Siege zunächst keinen Gebrauch, +begibt sich vielmehr unerkannt nach Hause und wird erst nach einiger +Zeit, meist ohne sein Zuthun, als der gesuchte Sieger erkannt. In diesem +Punkte ist das ehstnische Märchen entstellt. Durchaus eigentümlich dem +ehstnischen Märchen sind der siebenjährige Schlaf der Königstochter und +der Umstand, daß der Bauernsohn ein vertauschter Prinz ist. K. + +Daß der Glaskasten, in dem die Königstochter ruht, und der Glasberg +Nachklänge der altnordischen Brynhildr-Mythe sind, bemerke ich, indem +ich kurz auf Mannhardt Germanische Mythen S. 333 verweise, woselbst man +auch das hierher gehörige dänische Volkslied citiert findet, demzufolge +Sigfrid den Glasberg hinaufreitet. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der +in der russischen Heldensage räthselhaft dastehende Swjatogor (ob nicht +entstellt aus Sigurd?), der sein Weib in einem Krystall-Schrein auf den +Schultern trägt (Rybnikow =I=, 37), hierher zu ziehen ist. Wie sehr +Verunstaltungen im Laufe der Zeit entstehen können, erkennt man leicht, +wenn man bedenkt, wie die dem Swjatogor vom Schicksal bestimmte Braut im +Land am Meeresstrand dreißig Jahre auf einem Misthaufen ruht und ihr +Leib wie Tannenrinde aussieht; vgl. meinen Aufsatz »Zur russischen +Heldensage« im Bulletin =IV=, 273-85 = =Mélanges russes IV=, 230-48. In dem +Märchen »der Krystallberg« bei Afanasjew =VII=, 209, kriecht der +Königssohn Iwan in Gestalt einer Ameise in den Krystallberg, in welchen +der zwölfköpfige Drache die Königstochter entführt hatte; er tödtet den +Drachen und findet in dessen rechter Seite einen Kasten, in dem Kasten +einen Hasen, in dem Hasen eine Ente, in der Ente ein Ei, in dem Ei ein +Samenkorn; dieses zündet er an und bringt es zum Krystallberg, der +alsbald zerschmilzt. Sch. + + +14. Der dankbare Königssohn. + +Man vgl. die von mir in Benfeys Orient und Occident =II=, 103-114 +zusammengestellten Märchen, denen man noch Haltrich Volksmärchen aus dem +Sachsenlande in Siebenbürgen Nr. 26, v. Hahn Griechische und +albanesische Märchen Nr. 54, Glinski =Bajarz polski I=, 109, Kletke +Märchensaal =II=, 71, Schneller Märchen aus Wälschtirol Nr. 27 beifüge. In +allen diesen Märchen geräth ein Jüngling -- meistens in Folge eines +erzwungenen oder erlisteten Versprechens seines Vaters -- in die Gewalt +eines feindlichen Wesens (Teufel, Dämon, Geist, Riese, Meerfrau, +Zauberer, Hexe) und trifft da eine Jungfrau -- in den meisten Märchen +die Tochter jenes Wesens --, durch deren Hilfe er die ihm aufgegebenen +schweren Arbeiten verrichtet und die dann mit ihm entflieht. Die meisten +Märchen schließen aber nicht hiermit, sondern sie erzählen noch, wie der +Jüngling seine Retterin in Folge der Uebertretung einer ihm von ihr +gegebenen Vorschrift eine Zeitlang vergißt. -- Wie im ehstnischen +Märchen der verirrte König dem Teufel das versprechen muß, was ihm auf +seinem Hof zuerst entgegen kömmt, so müssen in dem entsprechenden +Märchen bei Müllenhoff Nr. 6 die verirrten Eltern dasselbe versprechen, +und in dem parallelen schwedischen Märchen bei Cavallius Nr. =XIV=, =A=, muß +der König in seinem Schiff dem Meerweib das versprechen, was ihm am +Strande zuerst begegne. In andern der hierher gehörigen Märchen wird das +verlangt und versprochen, was man zu Hause habe, ohne es zu wissen +(Glinski, Kletke), oder was die Königin unter dem Gürtel trägt +(Cavallius Nr. =XIV=, =B=), oder der Sohn wird geradezu verlangt (Campbell, +v. Hahn); bei Haltrich endlich wird »en noa Sil« verlangt, was ein +neues Seil und eine neue Seele bedeutet.[87] -- Dem ehstnischen Märchen +ganz eigentümlich ist die Vertauschung des Königssohn mit der +Bauerntochter. Auch die Aufgaben, die im ehstnischen Märchen der Teufel +gibt, sind andere als in den übrigen Märchen. -- Daß die Jungfrau sich +und ihren Schützling auf der Flucht verwandelt, kömmt in mehreren der +parallelen Märchen vor, insbesondere die Verwandlung in Rosenstrauch und +Rose bei Grimm Nr. 113 und Müllenhoff Nr. 6, auch in den theilweis +hierher gehörigen Märchen bei Wolf deutsche Hausmärchen S. 292 und +Waldau Böhmisches Märchenbuch S. 268, die in Wasser und Fisch bei Grimm +Nr. 113. K. + +Wie S. 194 der Königssohn statt seiner Hand eine glühende Schaufel +reicht, so in einem russischen Heldenlied Ilja von Murom dem blinden +Vater Swjatogors ein Stück erhitztes Eisen (Rybnikow =III=, 6). Sch. + +[Fußnote 87: Nicht diese letztere Form des Versprechens, aber die +übrigen kommen auch in anderen, sonst nicht unmittelbar in diesen Kreis +gehörigen Märchen vor, z. B. bei Grimm Nr. 92, Schott Walachische +Märchen Nr. 2 (das zuerst Begegnende); Asbjörnsen Nr. 9 (das unterm +Gürtel); Wolf S. 199, Waldau S. 26, v. Saal Märchen der Magyaren S. 129 +(das nicht Gewußte zu Hause).] + + +15. Rõugatajas Tochter. + +In dem finnischen Märchen »die wunderliche Birke (Salmelainen =I=, 76) hat +die böse Syöjätär die vom Königssohne geheirathete Tuhkimus +(Aschenbrödel) in eine Rennthierkuh verwandelt; in dieser Gestalt stillt +sie ihr Kind; die Rennthierhaut wird vom Königssohn verbrannt; Syöjätär +und ihre Tochter kommen in der Badstube um. Sch. + +Insofern in beiden Märchen die abgelegte Thierhaut verbrannt wird, +berühren sie sich mit den zahlreichen, übrigens anders verlaufenden +Märchen von der verbrannten Thierhülle. Vgl. Benfey Pantschatantra =I=, +254 und meine Zusammenstellung im Jahrbuch für roman. und englische +Literatur =VII=, 254 ff., die sich noch vermehren läßt. K. + + +16. Die Meermaid. + +Die ehstnische Ueberschrift »_Näkineitsi_« d. i. buchstäblich +»Näk-Mädchen« (Nixe) weist auf schwedischen Ursprung des Märchens hin. +Sch. + +Man vergleiche die bekannte französische, fast in ganz Europa, auch in +_Schweden_ zum Volksbuch gewordene Dichtung von der Melusine, die alle +Sonnabende[88] vom Nabel abwärts zur Schlange wurde und welcher Graf +Raimund vor seiner Vermählung mit ihr versprechen mußte, sie nie +Sonnabends sehen zu wollen. + +Wenn Schlaf-Tönnis aus dem Reich der Meermaid als Greis auf die Erde +zurückkehrt, so beruht dies auf dem Glauben, daß Sterblichen im Elfen- +oder Feen-Lande die Zeit, ihnen unbewußt, mit reißender Geschwindigkeit +verfließt. So glaubt Thomas der Reimer bei der Elfenkönigin drei Tage +gewesen zu sein, während doch drei Jahre verflossen sind. (W. Scott +=Border Minstrelsy=, =Edinburgh 1861=, =IV=, 127). Ein schwedischer Ritter ist +40 Jahre im Elfenland gewesen und glaubt nur eine Stunde da verbracht zu +haben (Afzelius Volkssagen und Volkslieder aus Schwedens älterer und +neuerer Zeit, übersetzt von Ungewitter =II=, 297). Vgl. auch das Märchen +aus Wales bei Rodenberg Ein Herbst in Wales S. 128 und die +Kiffhäuser-Sagen bei A. Witzschel Sagen aus Thüringen Nr. 277 und 278. +Legenden erzählen Gleiches von Menschen, die im Paradies gewesen sind. +Vgl. Liebrechts Anmerkung zu Dunlop a. a. O. S. 543 und W. Menzel +Christliche Symbolik =II=, 194 ff. K. + +[Fußnote 88: Die Fee Manto in Ariosts Rasendem Roland (=XLIII=, 98) und +die Sibylle im Roman »Guerino Meschino« (Dunlop Geschichte der +Prosadichtungen, übersetzt von F. Liebrecht, S. 315) werden ebenfalls +alle Sonnabende -- aber nicht bloß vom Nabel an, sondern ganz -- zu +Schlangen.] + + +18. Der Nordlands-Drache. + +Ueber den _Ring Salomonis_ vgl. Eisenmenger Entdecktes Judenthum S. 351 +ff., J. v. Hammer Rosenöl =I=, 171 ff., G. Weil Biblische Legenden der +Muselmänner S. 231 und 271 ff., F. Liebrecht Des Gervasius von Tilbury +=Otia imperialia= S. 77. In einem Märchen der 1001 Nacht (Der Tausend und +Einen Nacht noch nicht übersetzte Mährchen u. s. w. in's Französische +übersetzt von J. v. Hammer und aus dem Französischen in's Deutsche von +A. E. Zinserling, =I=, 311) wird, wie im ehstnischen Märchen, der Ring +Salomos, der mit diesem Ring am Finger in einer Insel der sieben Meere +begraben liegt, gesucht. K. + + +19. Das Glücksei. + +Daß in Schlangen, Kröten oder dergl. verwandelte Jungfrauen nur erlöst +werden können, wenn ein Jüngling sie dreimal küßt oder sich küssen läßt, +kömmt in deutschen Sagen öfters vor. S. Grimm Deutsche Mythologie S. +921, W. Menzel Die deutsche Dichtung I, 192, Curtze Volksüberlieferungen +aus Waldeck S. 198. K. + + +20. Der Frauenmörder. + +Eine Variante des bekannten Blaubart-Märchens. S. die Anmerkung zu Grimm +Nr. 46 und Jahrbuch für romanische und englische Literatur =VII=, 151 f. +K. + + +23. Dudelsack-Tiidu. + +In Bezug auf die Aepfel, welche ein Wachsen der Nasen verursachen, und +die Nüsse, durch welche die Nasen wieder klein werden, vergleiche man +die Geschichte des Fortunatus und seiner Söhne (s. Zachers Artikel +»Fortunatus« in der Encyklopädie von Ersch und Gruber) und Grimm Nr. +122, Zingerle Tirols Volksdichtungen =II=, 73, Curtze Volksüberlieferungen +aus Waldeck S. 34, Campbell =Popular tales of the West Highlands= Nr. 10, +das finnische Märchen aus Salmelainens Sammlung (=I=, 4.) bei Asbjörnsen +und Gräße Nord und Süd S. 145, das rumänische im Ausland 1856, S. 716, +Nr. 8. K. + + + + +Berichtigungen und Zusätze. + + +S. 34 Z. 1 u. 18 v. o. l. drei Eier von einer schwarzen Henne + st. drei schwarze Hühnereier (die es ja nicht giebt!) + +S. 117 Z. 2 v. o. l. alsdann st. aldann. + +S. 127 Anm. 2 l. Oesel st. Desel. + +S. 174 Die in den Verhandlungen der gelehrten ehstn. Gesellschaft + zu Dorpat abgedruckte Kreutzwaldsche Uebersetzung + des Märchens vom dankbaren Königssohn ist verglichen + worden; der ehstnische Text hat in der helsingforser + Sammlung verschiedene Zusätze erhalten. Uebersetzungen + anderer ehstnischer Märchen haben mir nicht vorgelegen. + +S. 174 Z. 2 v. u. fehlt »zu« vor: ihm. + +S. 184 Nota. In Beziehung auf das weiße Pferd bemerkt Neus + zu der Sage von =Issi teggi= (Selbst gethan) im illustrirten + Revalschen Almanach für 1856, daß das weiße + Pferd in heidnischer Zeit, wie bei andern Völkern, so + auch wohl bei den Ehsten, für besonders heilig galt und + daher seit Einführung des Christentums für besonders + teuflisch. + +S. 188 Z. 15 v. o. l. Im st. Ich. + +S. 229 Z. 3 v. u. l. fast immer st. meist. + +S. 354 Z. 8 v. u. l. einander st. eiander. + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Ehstnische Märchen, +by Friedrich Kreutzwald + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EHSTNISCHE MÄRCHEN *** + +***** This file should be named 21658-8.txt or 21658-8.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/2/1/6/5/21658/ + +Produced by Taavi Kalju and the Online Distributed +Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was +produced from scanned images of public domain material +from the Google Print project.) + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact +information can be found at the Foundation's web site and official +page at http://pglaf.org + +For additional contact information: + Dr. Gregory B. Newby + Chief Executive and Director + gbnewby@pglaf.org + + +Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation + +Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide +spread public support and donations to carry out its mission of +increasing the number of public domain and licensed works that can be +freely distributed in machine readable form accessible by the widest +array of equipment including outdated equipment. Many small donations +($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt +status with the IRS. + +The Foundation is committed to complying with the laws regulating +charities and charitable donations in all 50 states of the United +States. 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Thus, we do not necessarily +keep eBooks in compliance with any particular paper edition. + + +Most people start at our Web site which has the main PG search facility: + + http://www.gutenberg.org + +This Web site includes information about Project Gutenberg-tm, +including how to make donations to the Project Gutenberg Literary +Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to +subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks. diff --git a/21658-8.zip b/21658-8.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..8753308 --- /dev/null +++ b/21658-8.zip diff --git a/21658-h.zip b/21658-h.zip Binary files differnew file mode 100644 index 0000000..c7bea7e --- /dev/null +++ b/21658-h.zip diff --git a/21658-h/21658-h.htm b/21658-h/21658-h.htm new file mode 100644 index 0000000..d0bc883 --- /dev/null +++ b/21658-h/21658-h.htm @@ -0,0 +1,9884 @@ +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> + <head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=iso-8859-1" /> + <title> + The Project Gutenberg eBook of Ehstnische Märchen, by Friedrich Reinhold Kreutzwald. + </title> + <style type="text/css"> +/*<![CDATA[ XML blockout */ +<!-- + p { margin-top: .75em; + text-align: justify; + margin-bottom: .75em; + } + h1,h2,h3,h4,h5,h6 { + text-align: center; /* all headings centered */ + clear: both; + } + hr { width: 33%; + margin-top: 2em; + margin-bottom: 2em; + margin-left: auto; + margin-right: auto; + clear: both; + } + + table {margin-left: auto; margin-right: auto;} + + body{margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + } + + .pagenum { /* uncomment the next line for invisible page numbers */ + /* visibility: hidden; */ + position: absolute; + left: 1%; + font-size: smaller; + text-align: left; + color: gray; + } /* page numbers */ + + em.gesperrt {letter-spacing: 0.35ex; padding-left: 0.35ex; font-style: normal;} + em.antiqua {font-family: "Courier New", monospace; font-size: smaller; font-style: normal;} + + .linenum {position: absolute; top: auto; left: 4%;} /* poetry number */ + .blockquot{margin-left: 5%; margin-right: 10%;} + .sidenote {width: 20%; padding-bottom: .5em; padding-top: .5em; + padding-left: .5em; padding-right: .5em; margin-left: 1em; + float: right; clear: right; margin-top: 1em; + font-size: smaller; color: black; background: #eeeeee; border: dashed 1px;} + + .bb {border-bottom: solid 2px;} + .bl {border-left: solid 2px;} + .bt {border-top: solid 2px;} + .br {border-right: solid 2px;} + .bbox {border: solid 2px;} + + .center {text-align: center;} + .smcap {font-variant: small-caps;} + .u {text-decoration: underline;} + + .caption {font-weight: bold;} + + .figcenter {margin: auto; text-align: center;} + + .figleft {float: left; clear: left; margin-left: 0; margin-bottom: 1em; margin-top: + 1em; margin-right: 1em; padding: 0; text-align: center;} + + .figright {float: right; clear: right; margin-left: 1em; margin-bottom: 1em; + margin-top: 1em; margin-right: 0; padding: 0; text-align: center;} + + .footnotes {border: dashed 1px;} + .footnote {margin-left: 10%; margin-right: 10%; font-size: 0.9em;} + .footnote .label {position: absolute; right: 84%; text-align: right;} + .fnanchor {vertical-align: super; font-size: .8em; text-decoration: none;} + + .poem {margin-left:10%; margin-right:10%; text-align: left;} + .poem br {display: none;} + .poem .stanza {margin: 1em 0em 1em 0em;} + .poem span.i0 {display: block; margin-left: 0em; padding-left: 3em; text-indent: -3em;} + .poem span.i2 {display: block; margin-left: 2em; padding-left: 3em; text-indent: -3em;} + .poem span.i4 {display: block; margin-left: 4em; padding-left: 3em; text-indent: -3em;} + // --> + /* XML end ]]>*/ + </style> + </head> +<body> + + +<pre> + +The Project Gutenberg EBook of Ehstnische Märchen, by Friedrich Kreutzwald + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Ehstnische Märchen + +Author: Friedrich Kreutzwald + +Commentator: Anton Schiefner + Reinhold Köhler + +Translator: Ferdinand Löwe + +Release Date: June 1, 2007 [EBook #21658] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EHSTNISCHE MÄRCHEN *** + + + + +Produced by Taavi Kalju and the Online Distributed +Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was +produced from scanned images of public domain material +from the Google Print project.) + + + + + + +</pre> + + + + + +<h1>Ehstnische Märchen.</h1> + + +<h3>Aufgezeichnet</h3> + +<h4>von</h4> + +<h2>Friedrich Kreutzwald.</h2> + +<hr style="width: 15%;" /> + +<h3>Aus dem Ehstnischen übersetzt</h3> + +<h4>von</h4> + +<h3>F. Löwe,</h3> +<h4>ehem. Bibliothekar a. d. Petersb. Akad. d. Wissenschaften.</h4> + +<hr style="width: 15%;" /> + +<h4>Nebst einem Vorwort von <em class="gesperrt">Anton Schiefner</em> und Anmerkungen +von <em class="gesperrt">Reinhold Köhler</em> und <em class="gesperrt">Anton Schiefner</em>.</h4> + +<hr style="width: 15%;" /> + +<h5>Halle,<br /> +Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses.<br /> +1869. +</h5> + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_iii" id="Page_iii">[S iii]</a></span></p> +<h2>Vorwort.</h2> + + +<p>Im dritten Bande der Kinder- und Hausmärchen hat <em class="gesperrt">Wilhelm Grimm</em> auf S. +353 der Ausgabe von 1856 auf die ihm bis zu der Zeit bekannt gewordenen +ehstnischen Märchen hingewiesen, und auf S. 385 namentlich die zuerst +von <em class="gesperrt">Fählmann</em> im Jahre 1842 in dem ersten Bande der Verhandlungen der +gelehrten ehstnischen Gesellschaft zu Dorpat veröffentlichte anmuthige +Dichtung Koit und Ämmarik hervorgehoben. In ausführlicherer Fassung ist +die letztere später (1854) von <em class="antiqua">Dr.</em> <em class="gesperrt">Friedrich Kreutzwald</em> mir mitgetheilt +und von mir im Bulletin der St. Petersburger Akademie <em class="antiqua">T. XII.</em> Nr. 3, 4 +(auch in den <em class="antiqua">Mélanges russes</em> <em class="antiqua">T. II.</em> S. 409) in dem Aufsatz »zur +ehstnischen Mythologie« abgedruckt worden. Ebendaselbst habe ich auch +auf die Möglichkeit einer Entlehnung dieser Dichtung von einem +Nachbarvolke aufmerksam gemacht. An solchen Entlehnungen sind die Ehsten +nicht ärmer als andere Völker, und es gewährt ein eigenthümliches +Interesse, mehr oder minder anderswoher bekannte Stoffe in ihrer +ehstnischen Einkleidung zu betrachten. Allein nicht bloß die Freude an +der poetischen Behandlung der einzelnen Märchen ist es, was uns +auffordert, denselben unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es knüpfen sich +<span class='pagenum'><a name="Page_iv" id="Page_iv">[S iv]</a></span>eine ganze Anzahl rein ethnographischer und historischer Fragen an die +Betrachtung ihres Inhalts.</p> + +<p>Der Uebersetzer hat es für angemessen erachtet, auf so manche Züge +hinzuweisen, welche die einzelnen Märchen mit der von <em class="antiqua">Dr.</em> <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> ins +Leben gerufenen Dichtung »Kalewipoëg« gemein haben. Manches ist +allerdings aus den nicht bloß bei den Ehsten in Umlauf befindlichen +Märchen erst in die Sage und daraus in die epischen Lieder gewandert, +anderes bietet uns aber treulichst erhaltene Spuren altscandinavischer +Mythen dar. Habe ich bereits im Jahre 1860 bei Gelegenheit der +Besprechung des Kalewipoëg (Bulletin B. <em class="antiqua">II.</em> S. 273-297 = <em class="antiqua">Mélanges russes</em> +B. <em class="antiqua">II.</em> S. 126-161) darauf aufmerksam gemacht, wie im Kalewipoëg vielfach +Nachklänge des alten Thor-Cultus vorliegen, so kann man das mit gleichem +Recht von den in vorliegender Sammlung dargebotenen Märchen behaupten. +Man berücksichtige außer dem von Herrn Löwe S. 2 angeführten z. B. S. +113 die dem Donnerer gehörige Gerte aus Ebereschenholz, sowie auch S. +137 das Ruder aus demselben Holze. Vgl. über die auch S. 18 vorkommende +Eberesche als dem Donnerer heilig Mannhardt Germanische Mythen S. 13 f.</p> + +<p>Als ich im Jahre 1855 über den Mythengehalt der finnischen Märchen +(<em class="antiqua">Bullet. hist. philol. T. XII.</em> Nr. 24) kurz berichtete, waren von den +ehstnischen Märchen nur sehr wenige bekannt, und die ganze reiche +Märchenliteratur der Russen, von der uns die von <em class="gesperrt">Afanasjew</em> in den Jahren +<span class='pagenum'><a name="Page_v" id="Page_v">[S v]</a></span>1855-1863 erschienene Sammlung in acht Bänden eine Ahnung giebt, war +nur in wenigen Proben zugänglich. Bei einem eingehenden Studium der +ebengenannten Sammlung dürften nicht allein die finnischen Märchen in +einem andern Lichte erscheinen, sondern auch die ehstnischen richtiger +gewürdigt werden können. Sicher ist es wenigstens, daß, wenn wir die +ehstnischen Märchen betrachten, wir es mit den Einflüssen der +verschiedensten Zeiten und Völker zu thun haben.</p> + +<p>Manche Züge weisen unverkennbar auf litauische Berührungen hin, andere +zahlreichere und wohl auch jüngere auf russische Elemente; da die +Küstenstriche Ehstlands und namentlich die zunächst liegenden Inseln +schwedische Bevölkerung gehabt und zum Theil auch noch gegenwärtig +haben, ist der letzteren nebst manchem Märchen auch mancher aus der +ältesten Zeit stammende Mythus entnommen. Aber auch die neueste Zeit hat +aus der Kinderstube der deutschen Familien sowohl in der Stadt als auf +dem Lande so manches Märchen in die Bauerhütten verpflanzt. Nicht minder +haben die aus dem Kriegsdienste heimkehrenden Ehsten so manche +Erzählung, die sie früher im schwedischen oder später im russischen +Heere vernommen hatten, den hörlustigen Leuten in der Heimath +zugetragen.</p> + +<p>Außer den von <em class="gesperrt">W. Grimm</em> a. a. O. namhaft gemachten Sammlungen sind +verschiedene ehstnische Märchen veröffentlicht worden, namentlich in den +Jahrgängen 1846, 1848, 1849, 1852 und 1858 des »Inlands«, im +illustrirten revalschen Almanach 1855 und 1856 und anderswo; eine +ziemlich genaue Aufzählung derselben wird man in <em class="antiqua">Dr.</em> <em class="gesperrt">Winkelmanns</em> nun im +Druck befind<span class='pagenum'><a name="Page_vi" id="Page_vi">[S vi]</a></span>licher <em class="antiqua">Bibliotheca Livoniae historica</em> S. 39 f. finden. Am +beachtenswertesten sind die von den auch sonst um die Literatur der +Ehsten hochverdienten beiden Männern Heinrich <em class="gesperrt">Neus</em> in Reval und +Friedrich <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> in Werro mitgetheilten Märchen. Der letztere der +beiden genannten Herren erhielt auch von der finnischen +Literaturgesellschaft in Helsingfors den ehrenvollen Auftrag, eine +umfassende Sammlung von ehstnischen Märchen herauszugeben. Diese +Sammlung, welche auf 368 Seiten 43 größere und 18 kleinere Stücke +umfaßt, erschien im Jahre 1866 zu Helsingfors im Verlage der +Literaturgesellschaft mit Bewilligung der letzteren und des Herrn +<em class="gesperrt">Kreutzwald</em> hat Herr <em class="gesperrt">Löwe</em>, welcher sich während seines Aufenthalts in +Ehstland anerkennenswerthe Kenntnisse der ehstnischen Sprache erworben +hat, vorliegende Uebersetzung unternommen, die sich durch sich selbst so +sehr empfiehlt, daß eine Empfehlung von meiner Seite überflüssig sein +dürfte. Die Leser dieser freundlichen Schöpfungen der Volkspoesie werden +es nicht minder als ich wünschen, daß baldigst eine Fortsetzung der +Uebersetzung erscheine.</p> + +<p>Schließlich kann ich die erfreuliche Nachricht mittheilen, daß in kurzer +Zeit die Veröffentlichung mehrerer durch die Herren <em class="gesperrt">Hurt</em> und <em class="gesperrt">Jakobson</em> +aus dem Volksmunde aufgezeichneter ehstnischer Märchen in den Schriften +der gelehrten ehstnischen Gesellschaft in Dorpat zu erwarten ist.</p> + +<p><span style="margin-left: 2em;">St. Petersburg, den 8. (20.) Februar 1869.</span></p> + +<p><span style="margin-left: 6em;"><b>A. Schiefner.</b></span></p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_vii" id="Page_vii">[S vii]</a></span></p> +<h2><em class="gesperrt">Inhalt.</em></h2> + + +<div class='center'> +<table border="0" cellpadding="4" cellspacing="0" summary=""> +<tr> + <td align='left'></td> + <td align='left'></td> + <td align='right'>Seite</td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>1.</td> + <td align='left'>Die Goldspinnerinnen</td> + <td align='right'><a href='#Page_1'>1-24</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>2.</td> + <td align='left'>Die im Mondschein badenden Jungfrauen</td> + <td align='right'><a href='#Page_25'>25-31</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>3.</td> + <td align='left'>Schnellfuß, Flinkhand und Scharfauge</td> + <td align='right'><a href='#Page_32'>32-58</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>4.</td> + <td align='left'>Der Tontlawald</td> + <td align='right'><a href='#Page_59'>59-76</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>5.</td> + <td align='left'>Der Waise Handmühle</td> + <td align='right'><a href='#Page_77'>77-81</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>6.</td> + <td align='left'>Die zwölf Töchter</td> + <td align='right'><a href='#Page_82'>82-91</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>7.</td> + <td align='left'>Wie eine Waise unverhofft ihr Glück fand</td> + <td align='right'><a href='#Page_92'>92-101</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>8.</td> + <td align='left'>Schlaukopf</td> + <td align='right'><a href='#Page_102'>102-121</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>9.</td> + <td align='left'>Der Donnersohn</td> + <td align='right'><a href='#Page_122'>122-132</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>10.</td> + <td align='left'>Pikne's Dudelsack</td> + <td align='right'><a href='#Page_133'>133-140</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>11.</td> + <td align='left'>Der Zwerge Streit</td> + <td align='right'><a href='#Page_141'>141-147</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>12.</td> + <td align='left'>Die Galgenmännlein</td> + <td align='right'><a href='#Page_148'>148-159</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>13.</td> + <td align='left'>Wie eine Königstochter sieben Jahre geschlafen</td> + <td align='right'><a href='#Page_160'>160-173</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>14.</td> + <td align='left'>Der dankbare Königssohn</td> + <td align='right'><a href='#Page_174'>174-202</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>15.</td> + <td align='left'>Rõugatajas Tochter</td> + <td align='right'><a href='#Page_203'>203-211</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>16.</td> + <td align='left'>Die Meermaid</td> + <td align='right'><a href='#Page_212'>212-229</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>17.</td> + <td align='left'>Die Unterirdischen</td> + <td align='left'><a href='#Page_230'>230-240</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>18.</td> + <td align='left'>Der Nordlands-Drache</td> + <td align='right'><a href='#Page_241'>241-261</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>19.</td> + <td align='left'>Das Glücksei</td> + <td align='right'><a href='#Page_262'>262-272</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'><span class='pagenum'><a name="Page_viii" id="Page_viii">[S viii]</a></span>20.</td> + <td align='left'>Der Frauenmörder</td> + <td align='right'><a href='#Page_273'>273-284</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>21.</td> + <td align='left'>Der herzhafte Riegenaufseher</td> + <td align='right'><a href='#Page_285'>285-297</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>22.</td> + <td align='left'>Wie ein Königssohn als Hüterknabe aufwuchs</td> + <td align='right'><a href='#Page_298'>298-317</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>23.</td> + <td align='left'>Dudelsack-Tiidu</td> + <td align='right'><a href='#Page_318'>318-340</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='right'>24.</td> + <td align='left'>Die aus dem Ei entsprossene Königstochter</td> + <td align='right'><a href='#Page_341'>341-355</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='left'></td> + <td align='left'>Anmerkungen</td> + <td align='right'><a href='#Page_356'>356-365</a></td> +</tr> +<tr> + <td align='left'></td> + <td align='left'></td> + <td align='left'></td> +</tr> +<tr> + <td align='left' colspan="2">Berichtigungen und Zusätze</td> + <td align='right'><a href='#Page_366'>366</a></td> +</tr> +</table></div> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_1" id="Page_1">[S 1]</a></span></p> +<h2>1. Die Goldspinnerinnen.<a name="FNanchor_1_1" id="FNanchor_1_1"></a><a href="#Footnote_1_1" class="fnanchor">[1]</a></h2> + + +<p>Ich will euch eine schöne Geschichte aus dem Erbe der Vorzeit erzählen, +welche sich zutrug, als noch die Anger nach alter Weise von der +Weisheit-Sprache der Vierfüßer und der Befiederten wiederhallten.</p> + +<p>Es lebte einmal vor Zeiten in einem tiefen Walde eine lahme Alte mit +drei frischen Töchtern: ihre Hütte lag im Dickicht versteckt. Die +Töchter blühten schönen Blumen gleich um der Mutter verdorrten Stumpf; +besonders war die jüngste Schwester schön und zierlich wie ein +Bohnenschötchen. Aber in dieser Einsamkeit gab es keine andern Beschauer +als am Tage die Sonne, und bei Nacht den Mond und die Augen der Sterne.</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Brennend heiß mit Jünglingsaugen<br /></span> +<span class="i0">Schien die Sonn' auf ihren Kopfputz,<br /></span> +<span class="i0">Glänzte auf den bunten Bändern,<br /></span> +<span class="i0">Röthete die bunten Säume.«<br /></span> +</div></div> + +<p>Die alte Mutter ließ die Mädchen nicht müßig gehen, noch säumig sein, +sondern hielt sie vom Morgen bis zum Abend zur Arbeit an; sie saßen Tag +für Tag am Spinn<span class='pagenum'><a name="Page_2" id="Page_2">[S 2]</a></span>rocken und spannen Goldflachs zu Garn. Den armen +Dingern wurde weder Donnerstag noch Sonnabend<a name="FNanchor_2_2" id="FNanchor_2_2"></a><a href="#Footnote_2_2" class="fnanchor">[2]</a> Abend Muße gegönnt, den +Gabenkasten zu bereichern,<a name="FNanchor_3_3" id="FNanchor_3_3"></a><a href="#Footnote_3_3" class="fnanchor">[3]</a> und wenn nicht in der Dämmerung oder im +Mondenschein verstohlener Weise die Stricknadel zur Hand genommen wurde, +so blieb der Kasten ohne Zuwachs. War die Kunkel abgesponnen, so wurde +sofort eine neue aufgesetzt, und überdies mußte das Garn eben, drall und +fein sein. Das fertige Garn verwahrte die Alte hinter Schloß und Riegel +in einer geheimen Kammer, wohin die Töchter ihren Fuß nicht setzen +durften. Von wo der Goldflachs in's Haus gebracht wurde, oder zu was +für<span class='pagenum'><a name="Page_3" id="Page_3">[S 3]</a></span> einem Gewebe die Garne gesponnen wurden, das war den Spinnerinnen +nicht bekannt geworden; die Mutter gab auf solche Fragen niemals +Antwort. Zwei oder drei Mal in jedem Sommer machte die Alte eine Reise, +man wußte nicht wohin, blieb zuweilen über eine Woche aus und kam immer +bei nächtlicher Weile zurück, so daß die Töchter niemals erfuhren, was +sie mitgebracht hatte. Ehe sie abreiste, theilte sie jedesmal den +Töchtern auf so viel Tage Arbeit aus, als sie auszubleiben gedachte.</p> + +<p>Jetzt war wieder die Zeit gekommen, wo die Alte ihre Wanderung +unternehmen wollte. Gespinnst auf sechs Tage wurde den Mädchen +ausgetheilt, und dabei abermals die alte Ermahnung eingeschärft:»Kinder +laßt die Augen nicht schweifen und haltet die Finger geschickt, damit +der Faden in der Spule nicht reißt, sonst würde der Glanz des Goldgarns +verschwinden und mit eurem Glücke würde es auch aus sein!« Die Mädchen +verlachten diese mit Nachdruck gegebene Ermahnung; ehe noch die Mutter +auf ihrer Krücke zehn Schritte weit vom Hause gekommen war, fingen sie +alle drei an zu höhnen. »Dieses alberne Verbot, das immer wiederholt +wird, hätten wir nicht nöthig gehabt,« sagte die jüngste Schwester. »Der +Goldgarnfaden reißt nicht beim Zupfen, geschweige denn beim Spinnen.« +Die andere Schwester setzte hinzu: »Eben so wenig ist es möglich, daß +der Goldglanz sich verliere.« Oft schon hat Mädchen-Vorwitz Manches +voreilig verspottet, woraus doch endlich nach vielem Jubel Thränenjammer +erwuchs.</p> + +<p>Am dritten Tage nach der Mutter Abreise ereignete sich ein unerwarteter +Vorfall, der den Töchtern anfangs<span class='pagenum'><a name="Page_4" id="Page_4">[S 4]</a></span> Schrecken, dann Freude und Glück, auf +lange Zeit aber Kummer bereiten sollte. Ein Kalew-Sproß,<a name="FNanchor_4_4" id="FNanchor_4_4"></a><a href="#Footnote_4_4" class="fnanchor">[4]</a> eines Königs +Sohn, war beim Verfolgen des Wildes von seinen Gefährten abgekommen, und +hatte sich im Walde so weit verirrt, daß weder das Gebell der Hunde noch +das Blasen der Hörner ihm einen Wegweiser herbeischaffte. Alles Rufen +fand nur sein eigenes Echo,<a name="FNanchor_5_5" id="FNanchor_5_5"></a><a href="#Footnote_5_5" class="fnanchor">[5]</a> oder fing sich im dichten Gestrüpp. +Ermüdet und verdrießlich stieg der königliche Jüngling endlich vom +Pferde und warf sich nieder, um im Schatten eines Gebüsches auszuruhen, +während das Pferd sich nach Gefallen auf dem Rasen sein Futter suchen +durfte. Als der Königssohn aus dem Schlaf erwachte, stand die Sonne +schon niedrig. Als er jetzt von neuem in die Kreuz und in die Quer nach +dem Wege suchte, entdeckte er endlich einen kleinen Fußsteig, der ihn +zur Hütte der lahmen Alten brachte. Wohl erschracken die Töchter, als +sie plötzlich den fremden Mann sahen, dessen Gleichen ihr Auge nie zuvor +erblickt hatte. Indeß hatten sie sich nach Vollendung ihres Tagewerks in +der Abendkühle mit dem Fremden befreundet, so daß sie gar nicht einmal +zur Ruhe gehen mochten. Und als endlich die älteren Schwestern sich +schlafen gelegt hatten,<span class='pagenum'><a name="Page_5" id="Page_5">[S 5]</a></span> saß die jüngste noch mit dem Gaste auf der +Thürschwelle, und es kam ihnen diese Nacht kein Schlaf in die Augen.</p> + +<p>Während die Beiden im Angesicht des Mondes und der Sterne sich ihr Herz +öffnen und süße Gespräche führen, wollen wir uns nach den Jägern +umsehen, die ihren Anführer im Walde verloren hatten. Unermüdlich war +der ganze Wald nach allen Seiten hin von ihnen durchsucht worden, bis +das Dunkel der Nacht dem Suchen ein Ziel setzte. Dann wurden zwei Männer +in die Stadt zurückgeschickt, um die traurige Botschaft zu überbringen, +während die Uebrigen unter einer breiten ästigen Fichte ihr Nachtlager +aufschlugen, um am nächsten Morgen wieder weiter zu suchen. Der König +hatte gleich Befehl gegeben, am andern Morgen ein Regiment zu Pferde und +eins zu Fuß ausrücken zu lassen, um seinen verlorenen Sohn aufzusuchen. +Der lange weite Wald dehnte die Nachforschungen bis zum dritten Tage +aus; dann erst wurden in der Frühe Fußstapfen gefunden, die man +verfolgte und dadurch den Fußsteig entdeckte, der zur Hütte führte. Dem +Königssohne war in Gesellschaft der Mädchen die Zeit nicht lang +geworden, noch weniger hatte er Sehnsucht nach Hause gehabt. Ehe er +schied, gelobte er der Jüngsten heimlich, daß er in kurzer Zeit +wiederkommen und dann, sei es im Guten oder mit Gewalt, sie mit sich +nehmen und zu seiner Gemahlin machen wolle. Wenn gleich die ältern +Schwestern von dieser Verabredung nichts gehört hatten, so kam die Sache +doch heraus und zwar in einer Weise, die Niemand vermuthet hätte.</p> + +<p>Nicht gering war nämlich der jüngsten Tochter Bestürzung, als sie, +nachdem der Königssohn fortgegangen<span class='pagenum'><a name="Page_6" id="Page_6">[S 6]</a></span> war, sich an den Rocken setzte und +fand, daß der Faden in der Spule gerissen war. Zwar wurden die Enden des +Fadens im Kreuzknoten wieder zusammengeknüpft und das Rad in rascheren +Gang gebracht, damit emsige Arbeit die im Kosen mit dem Bräutigam +verlorene Zeit wieder einbrächte. Allein ein unerhörter und +unerklärlicher Umstand machte das Herz des Mädchens beben: das Goldgarn +hatte nicht mehr seinen vorigen Glanz. — Da half kein Scheuern, kein +Seufzen und kein Benetzen mit Thränen; die Sache war nicht wieder gut zu +machen. Das Unglück springt zur Thür in's Haus, kommt durch's Fenster +herein und kriecht durch jede Ritze, die es unverstopft findet, sagt ein +altes weises Wort; so geschah es auch jetzt.</p> + +<p>Die Alte war in der Nacht nach Hause gekommen. Als sie am Morgen in die +Stube trat, erkannte sie augenblicklich, daß hier etwas Unrechtes +vorgegangen sei. Ihr Herz entbrannte in Zorn; sie ließ die Töchter eine +nach der andern vor sich kommen und verlangte Rechenschaft. Mit Leugnen +und Ausreden kamen die Mädchen nicht weit, Lügen haben kurze Beine; die +schlaue Alte brachte bald heraus, was der Dorfhahn hinter ihrem Rücken +der jüngsten Tochter in's Ohr gekräht hatte. Das alte Weib fing nun an +so gräulich zu fluchen, als wollte sie Himmel und Erde mit ihren +Verwünschungen verfinstern. Zuletzt drohte sie, dem Jüngling den Hals zu +brechen und sein Fleisch den wilden Thieren zur Speise vorzuwerfen, wenn +er sich gelüsten ließe, noch einmal wieder zu kommen. —Die jüngste +Tochter wurde roth wie ein gesottener Krebs, fand den ganzen Tag keine +Ruhe und konnte auch die Nacht kein Auge zuthun; immer lag es ihr schwer +auf<span class='pagenum'><a name="Page_7" id="Page_7">[S 7]</a></span> der Seele, daß der Jüngling, wenn er zurück käme, seinen Tod finden +könnte. Früh am Morgen, als die Mutter und die Töchter noch im +Morgenschlummer lagen, verließ sie heimlich das Haus, um in der +Thaueskühle aufzuathmen. Zum Glück hatte sie als Kind von der Alten die +Vogelsprache gelernt, und das kam ihr jetzt zu Statten. In der Nähe saß +auf einem Fichtenwipfel ein Rabe, der mit dem Schnabel sein Gefieder +zurechtzupfte. Das Mädchen rief. »<em class="gesperrt">Lieber Lichtvogel, klügster</em> des +Vogelgeschlechts! willst du mir zu Hülfe kommen?« »Was für Hülfe +begehrst du?« fragte der Rabe. Das Mädchen erwiederte: »Flieg' aus dem +Walde heraus über Land, bis dir eine prächtige Stadt mit einem +Köuigssitz aufstößt. Suche mit dem Königssohn zusammenzukommen und melde +ihm, was für ein Unglück mir widerfahren ist.« Darauf erzählte sie dem +Raben die Geschichte ausführlich, vom Reißen des Fadens an bis zu der +gräßlichen Drohung der Mutter, und sprach die Bitte aus, daß der +Jüngling nicht mehr zurückkommen möchte. Der Rabe versprach, den Auftrag +auszurichten, wenn er Jemand fände, der seiner Sprache kundig wäre und +flog sogleich davon.</p> + +<p>Die Mutter ließ die jüngste Tochter nicht mehr am Spinnrocken Platz +nehmen, sondern hielt sie an, das gesponnene Garn abzuwickeln. Diese +Arbeit wäre dem Mädchen leichter gewesen als die frühere, aber das ewige +Fluchen und Zanken der Mutter ließ ihr vom Morgen bis zum Abend keine +Ruhe. Versuchte die Jungfrau, sich zu entschuldigen, so wurde die Sache +noch ärger. Wenn einem Weibe einmal die Galle überläuft, und der Zorn<span class='pagenum'><a name="Page_8" id="Page_8">[S 8]</a></span> +ihre Kinnladen geöffnet hat, so vermag keine Gewalt sie wieder zu +schließen.</p> + +<p>Gegen Abend rief der Rabe vom Fichtenwipfel her kraa, kraa! und das +gequälte Mädchen eilte hinaus, um den Bescheid zu hören. Der Rabe hatte +glücklicherweise in des Königs Garten eines Windzauberers<a name="FNanchor_6_6" id="FNanchor_6_6"></a><a href="#Footnote_6_6" class="fnanchor">[6]</a> Sohn +gefunden, der die Vogelsprache vollkommen verstand. Ihm meldete der +schwarze Vogel die von der Jungfrau ihm anvertraute Botschaft, und bat +ihn, die Sache dem Königssohn mitzutheilen. Als der Gärtnerbursche dem +Königssohn alles erzählt hatte, wurde diesem das Herz schwer, doch pflog +er mit seinen Freunden heimlich Rath über die Befreiung der Jungfrau. +»Sage dem Raben,« so unterwies er dann des Windzauberer's Sohn — »daß +er eilig zurückfliege und der Jungfrau melde: sei wach in der neunten +Nacht, dann erscheint ein Retter, der das Küchlein den Klauen des +Habichts entreißen wird.« Zum Lohn für die Bestellung erhielt der Rabe +ein Stück Fleisch, um seine Flügel zu kräftigen, und dann wurde er +wieder zurück geschickt. Die Jungfrau dankte dem schwarzen Vogel für +seine Besorgung, verbarg aber das Gehörte in ihrem Herzen, damit die +andern nichts davon erführen. Aber je näher der neunte Tag kam, desto +schwerer wurde ihr das Herz, wenn sie bedachte, daß ein +unvorhergesehenes Unglück alles zu Schanden machen könnte.</p> + +<p>In der neunten Nacht, als die alte Mutter und die Schwestern sich zur +Ruhe gelegt hatten, schlich die jüngste<span class='pagenum'><a name="Page_9" id="Page_9">[S 9]</a></span> Schwester auf den Zehen aus dem +Hause, und setzte sich unter einen Baum auf den Rasen, um des Bräutigams +zu harren. Hoffnung und Furcht erfüllten zugleich ihr Herz. Schon krähte +der Hahn zum zweiten Mal, aber vom Walde her war weder ein Geräusch von +Tritten noch ein Rufen zu hören. Zwischen dem zweiten und dritten +Hahnenschrei drang von weitem ein Geräusch wie leises Pferdegetrappel an +ihr Ohr. Sie ließ sich durch dies Geräusch leiten und ging den Kommenden +entgegen, damit deren Annäherung die im Hause Schlafenden nicht wecken +möchte. Bald erblickte sie die Kriegerschaar, an deren Spitze der +Königssohn selbst als Führer ritt, denn er hatte, als er von hier +fortgegangen war, an den Bäumen heimliche Zeichen gemacht, durch die er +den rechten Weg erkannte. Als er die Jungfrau gewahr wurde, sprang er +vom Pferde, half ihr in den Sattel, setzte sich selbst vor sie hin, +damit sie sich an ihn lehne und dann ging es schleunig heimwärts. Der +Mond gab zwischen den Bäumen so viel Licht, daß der bezeichnete Pfad +ihnen nicht verloren ging. Das Frühroth hatte überall der Vögel Zungen +gelöst und ihr Gezwitscher geweckt. Hätte die Jungfrau auf sie zu achten +und aus ihrer Zwiesprach Belehrung zu schöpfen gewußt, es hätte den +Beiden mehr genügt als die honigsüße Schmeichelrede, welche aus des +Königssohnes Munde floß und das Einzige war, was in ihr Ohr drang. Sie +hörte und sah nichts Anderes als den Bräutigam, der sie bat, alle eitle +Furcht aufzugeben und dreist auf den Schutz der Krieger zu bauen. Als +sie in's Freie kamen, stand die Sonne schon ziemlich hoch.<span class='pagenum'><a name="Page_10" id="Page_10">[S 10]</a></span></p> + +<p>Zum Glück hatte die alte Mutter am Morgen früh der Tochter Flucht nicht +gleich bemerkt; erst etwas später, als sie die Garnwinde nicht +abgewickelt fand, fragte sie, wohin die jüngste Schwester gegangen sei. +Darauf wußte Niemand Antwort zu geben. Aus mancherlei Zeichen ersah +jetzt die Mutter, daß die Tochter entflohen war; sofort faßte sie den +tückischen Vorsatz, der flüchtigen die Strafe auf dem Fuße nachzusenden. +Sie holte vom Boden herunter eine Handvoll aus neunerlei Arten +gemischter Hexenkräuter, schüttete Salz, das besprochen war, dazu und +band Alles in ein Läppchen, daß es ein Quast wurde; dann hauchte sie +Flüche und Verwünschungen darauf und ließ nun das Hexenknäuel mit dem +Winde davon ziehen, während sie sang:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Wirbelwind! verleihe Flügel!<br /></span> +<span class="i0">Windesmutter! deinen Fittig!<br /></span> +<span class="i0">Treibet dieses Knäulchen vorwärts,<br /></span> +<span class="i0">Daß es windesschnell dahin saust,<br /></span> +<span class="i0">Daß es todverbreitend hinfährt,<br /></span> +<span class="i0">Seuchenbringend weiter fliege!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Zwischen Mittmorgen und Mittag gelangte der Königssohn mit der +Kriegerschaar an das Ufer eines breiten Flusses, über welchen eine +schmale Brücke geschlagen war, so daß die Männer nur einzeln herüber +konnten. Der Königssohn ritt eben mitten auf der Brücke, als mit dem +Winde das Hexenknäuel daher fuhr und wie eine Bremse auf das Pferd traf. +Das Pferd schnaubte vor Schreck, stellte sich plötzlich hoch auf die +Hinterbeine, und eh' noch jemand zu Hülfe kommen konnte, glitt die +Jungfrau vom Sattel herab jählings in den Fluß. Der Königs<span class='pagenum'><a name="Page_11" id="Page_11">[S 11]</a></span>sohn wollte +ihr nachspringen, aber die Krieger verhinderten ihn daran, indem sie ihn +festhielten; denn der Fluß war grundlos tief und menschliche Hülfe +konnte dem Unglück, das einmal geschehen war, doch nicht mehr abhelfen.</p> + +<p>Schrecken und tiefe Betrübnis hatten den Königssohn ganz betäubt; die +Krieger führten ihn gegen seinen Willen nach Hause zurück, wo er Wochen +lang in stiller Kammer über das Unglück trauerte, so daß er anfangs +nicht einmal Speise noch Trank zu sich nahm. Der König ließ aus allen +Orten von nah und fern Zauberer zusammenrufen, aber keiner konnte die +Krankheit erklären, noch wußte einer ein Mittel dagegen anzugeben. Da +sagte eines Tages des Windzauberers Sohn, der in des Königs Garten +Gärtnerbursch war: »Sendet nur nach Finnland, daß der uralte Zauberer +komme, der versteht mehr als die Zauberer eures Landes.«</p> + +<p>Alsbald sandte der König eine Botschaft an den alten Zauberer Finnlands, +und dieser traf schon nach einer Woche auf Windesflügeln ein. Er sagte +zum König: »Geehrter König! die Krankheit ist vom Winde angeweht. Ein +böses Hexen-Knäuel hat des Jünglings bessere Herzenshälfte hingerafft, +und darüber grämt er sich beständig. Schicket ihn oft in den Wind, damit +der Wind die Sorgen in den Wald treibt.«<a name="FNanchor_7_7" id="FNanchor_7_7"></a><a href="#Footnote_7_7" class="fnanchor">[7]</a><span class='pagenum'><a name="Page_12" id="Page_12">[S 12]</a></span></p> + +<p>So kam es auch wirklich; der Königssohn fing an sich zu erholen, Nahrung +zu nehmen und Nachts zu schlafen. Zuletzt gestand er seinen Eltern +seinen Herzenskummer; der Vater wünschte, daß der Sohn wieder auf die +Freite gehen und ein junges Weib nach seinem Sinne heim führen möchte, +aber der Sohn wollte nichts davon wissen.</p> + +<p>Schon über ein Jahr war dem Jüngling in Trauer verstrichen, als er eines +Tages zufällig an die Brücke kam, wo seine Liebste ihr Ende gefunden +hatte. Als er sich das Unglück in's Gedächtniß zurückrief, traten ihm +bittere Thränen in die Augen. Mit einem Male hörte er einen schönen +Gesang anstimmen, obwohl nirgends ein menschliches Wesen zu sehen war. +Die Stimme sang:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Durch der Mutter Fluch beschworen<br /></span> +<span class="i0">Nahm das Wasser die Unsel'ge,<br /></span> +<span class="i0">Barg das Wellengrab die Kleine,<br /></span> +<span class="i0">Deckte Ahti's<a name="FNanchor_8_8" id="FNanchor_8_8"></a><a href="#Footnote_8_8" class="fnanchor">[8]</a> Fluth das Liebchen.«<br /></span> +</div></div> + +<p>Der Königssohn stieg vom Pferde und spähte nach allen Seiten, ob nicht +Jemand unter der Brücke versteckt<span class='pagenum'><a name="Page_13" id="Page_13">[S 13]</a></span> sei, aber soweit sein Auge reichte, +war nirgends ein Sänger zu sehen. Auf der Wasserfläche schaukelte +zwischen breiten Blättern ein Teichröschen, das war der einzige +Gegenstand, den er erblickte. Aber ein schaukelndes Blümchen konnte doch +nicht singen, dahinter mußte irgend ein wunderbares Geheimniß stecken. +Er band sein Pferd am Ufer an einen Baumstumpf, setzte sich auf die +Brücke und lauschte, ob Auge oder Ohr nähere Auskunft geben würden. Eine +Zeitlang blieb Alles still, dann sang wieder der unsichtbare Sänger:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Durch der Mutter Fluch beschworen<br /></span> +<span class="i0">Nahm das Wasser die Unsel'ge,<br /></span> +<span class="i0">Barg das Wellengrab die Kleine,<br /></span> +<span class="i0">Deckte Ahti's Fluth das Liebchen.«<br /></span> +</div></div> + +<p>Wie dem Menschen nicht selten ein guter Gedanke unerwartet vom Winde +zugeweht wird, so geschah es auch hier. Der Königssohn dachte: wenn ich +ungesäumt zur Waldhütte reite, wer weiß, ob mir nicht die +Goldspinnerinnen diesen wunderbaren Fall deuten können. So stieg er zu +Pferde und schlug den Weg zum Walde ein. An den früheren Zeichen hoffte +er sich leicht zurecht zu finden, allein der Wald war gewachsen und er +hatte über einen Tag lang zu suchen, ehe er auf den Fußsteig gelangte. +In der Nähe der Hütte hielt er an, um zu warten, ob eine der Jungfrauen +herauskommen würde. Früh Morgens kam die älteste Schwester zur Quelle, +um sich das Gesicht zu waschen. Der Jüngling trat näher, erzählte das +Unglück, welches sich voriges Jahr auf der Brücke zugetragen, und was +für einen Gesang er vor einigen Tagen dort<span class='pagenum'><a name="Page_14" id="Page_14">[S 14]</a></span> gehört habe. Die alte Mutter +war glücklicher Weise gerade nicht daheim, deßwegen lud die Jungfrau den +Königssohn in's Haus. Als die Mädchen die ausführliche Erzählung +angehört hatten, begriffen sie ohne Weiteres, daß das Unglück des +vorigen Jahres durch ein Hexenknäuel der Mutter entstanden war, und daß +die Schwester jetzt noch nicht gestorben sei, sondern in Zauberbanden +liege. Die älteste Schwester fragte: »Ist euren Blicken auf dem +Wasserspiegel nichts begegnet, was einen Gesang hätte können ertönen +lassen?« »Nichts,« erwiederte der Königssohn. »So weit mein Auge +reichte, war auf dem Wasserspiegel nichts weiter zu sehen, als ein +gelbes Teichröschen zwischen breiten Blättern, aber Blümchen und Blätter +können doch nicht singen.« Die Töchter muthmaßten sogleich, daß das +Teichröschen nichts Anderes sein könne, als ihre in den Wellen +versunkene und durch Hexenkunst in ein Blümchen verwandelte Schwester. +Sie wußten, wie die alte Mutter das fluchbehaftete Hexenknäuel hatte +fliegen lassen, welches die Schwester, wenn es sie nicht tödtete, in +jeglicher Weise verwandeln konnte. Von dieser Vermuthung sagten sie +indeß dem Königssohne nichts, denn so lange sie noch nicht Rath wußten +zu ihrer Befreiung, wollten sie keine eitle Hoffnung erwecken. Da die +Rückkehr der Mutter erst in einigen Tagen erwartet wurde, hatten sie +Zeit sich zu berathen.</p> + +<p>Die älteste Schwester holte nun am Abend eine Handvoll gehörig +gemischter Zauberkräuter vom Boden herunter, zerrieb sie, machte daraus +mit Mehl einen Teig, buck einen Kuchen und gab ihn dem Jüngling zu +essen, ehe er sich am Abend zur Ruhe legte. Der Königssohn hatte<span class='pagenum'><a name="Page_15" id="Page_15">[S 15]</a></span> in der +Nacht einen wunderbaren Traum, als ob er im Walde unter den Vögeln lebte +und die einem jeden derselben eigene Sprache verstünde. Als er am Morgen +seinen Traum den Jungfrauen erzähle, sagte die älteste Schwester: »Zur +guten Stunde habt ihr euch zu uns aufgemacht, zur guten Stunde habt ihr +den Traum gehabt, der euch auf eurem Heimwege zur Wirklichkeit werden +wird. Mein Schweinefleischkuchen von gestern, den ich euch zum Frommen +buck und zu essen gab, war mit Zauberkräutern gefüllt, welche euch in +den Stand setzen, Alles zu verstehen, was die klugen Vögel unter +einander reden. In diesen Männlein im Federkleide steckt viel verborgene +Weisheit, die den Menschen unbekannt ist, deßhalb gebt scharf Acht, was +die Vögelschnäbel verkünden. Und wenn dann eure Leidenszeit vorüber ist, +so denkt auch an uns arme Kinder, die wir hier wie in einem ewigen +Kerker am Rocken sitzen.«</p> + +<p>Der Königssohn dankte den Mädchen für ihre gute Gesinnung und versprach, +sie später aus ihrer Knechtschaft zu befreien, sei es für ein Lösegeld +oder mit Gewalt; nahm Abschied und trat eilig die Rückreise an. Die +Mädchen freuten sich, als sie sahen, daß ihnen der Faden nicht gerissen +und der Goldglanz nicht verblichen sei; die alte Mutter konnte, wenn sie +heim kam, ihnen nichts vorwerfen.</p> + +<p>Um so spaßhafter ging die Sache mit dem Königssohne, der im Walde wie +mitten in zahlreicher Gesellschaft dahin ritt, weil der Gesang und das +Gezwitscher der Vögel ganz verständlich wie Worte an sein Ohr schlugen. +Hier sah er voll Verwunderung, wie viel Weisheit dem Menschen<span class='pagenum'><a name="Page_16" id="Page_16">[S 16]</a></span> dadurch +unbekannt bleibt, daß er die Vogelsprache nicht versteht. Von dem, was +das Federvolk anfangs redete, konnte der Wanderer das Meiste nicht recht +fassen; es wurde über vielerlei Menschen dies und jenes ausgeplaudert, +aber diese Menschen und ihr Treiben waren ihm fremd. Da sah er plötzlich +auf einem hohen Föhrenwipfel eine Elster und eine Drossel, deren +Unterhaltung auf ihn gemünzt war.</p> + +<p>»Die Dummheit der Menschen ist groß,« sagte die Drossel. »Sie wissen +auch die geringfügigsten Dinge nicht recht anzufassen. Dort sitzt neben +der Brücke in Gestalt einer Teichrose des alten lahmen Weibes Pflegekind +schon ein ganzes Jahr, klagt singend den Vorübergehenden ihre Noth, aber +Niemand kommt sie zu erlösen. Vor einigen Tagen erst ritt ihr ehemaliger +Bräutigam über die Brücke, und hörte den sehnsüchtigen Gesang der +Jungfrau, war aber auch nicht klüger als die Andern.« Die Elster +erwiederte: »Und gleichwohl muß das Mädchen um seinetwillen von der +Mutter die Strafe erdulden. Wenn ihm keine größere Weisheit zu Theil +wird, als die, welche er aus dem Munde der Menschen vernimmt, so bleibt +das Mädchen ewig ein Blümlein.« »Des Mädchens Befreiung würde eine +Kleinigkeit sein,« sagte die Drossel, »wenn die Sache dem alten Zauberer +von Finnland gründlich dargelegt würde. Er könnte die Jungfrau leicht +aus ihrem nassen Kerker und ihrem Blumenzwang befreien.«</p> + +<p>Dieses Gespräch machte den Jüngling nachdenklich; indem er weiter ritt, +ging er mit sich zu Rathe, wo er wohl einen Boten hernähme, den er nach +Finnland schicken könnte. Da hörte er über seinem Haupte, wie eine<span class='pagenum'><a name="Page_17" id="Page_17">[S 17]</a></span> +Schwalbe zur andern sagte: »Komm, laß uns nach Finnland ziehen, dort ist +besser nisten als hier!«</p> + +<p>»Haltet, Freunde!« rief der Königssohn in der Vogelsprache. »Bringt dem +alten Zauberer in Finnland tausend Grüße von mir und bittet ihn um +Bescheid, wie es wohl möglich wäre, eine in eine Teichrose verwandelte +Jungfrau wieder zu einem Menschenbilde zu machen.« Die Schwalben +versprachen den Auftrag auszurichten und flogen davon.</p> + +<p>Als er an's Ufer des Flusses kam, ließ er sein Pferd verschnaufen und +blieb auf der Brücke stehen, um zu horchen, ob nicht der Gesang sich +wieder hören lasse. Aber Schweigen herrschte ringsum und es war nichts +zu hören, als das Rauschen der Wellen und das Sausen des Windes. +Unmuthig setzte sich der Jüngling wieder zu Pferde, und ritt heim, sagte +aber Niemanden ein Wort von dieser Wanderung und ihrem Abenteuer.</p> + +<p>Eine Woche später saß er eines Tages im Garten, und dachte, die +Schwalben müßten seine Botschaft wohl vergessen haben, als ein großer +Adler hoch in den Lüften über seinem Haupte kreiste. Allmählich stieg +der Vogel immer tiefer herunter, bis er sich endlich auf einem Lindenast +in der Nähe des Königssohnes niederließ. »Der alte Zauberer in +Finnland,« so ließ der Adler sich vernehmen, »sendet euch viele Grüße, +und bittet es ihm nicht zu verübeln, daß er nicht früher Antwort +ertheilt hat. Es war gerade Niemand zu finden, der hierher wollte. Um +die Jungfrau aus ihrem Blumenzustande zu erlösen, ist nur dies nöthig: +Gehet an das Ufer des Flusses, werfet eure Kleider ab und schmiert euch +den Körper über und über<span class='pagenum'><a name="Page_18" id="Page_18">[S 18]</a></span> mit Schlamm ein, so daß kein weißer Fleck +bleibt; dann nehmt die Nasenspitze zwischen die Finger und rufet: »»Aus +dem Mann ein Krebs!«« Augenblicklich werdet ihr zum Krebs, dann geht in +die Tiefe des Flusses; Ertrinken habt ihr nicht zu befürchten. Drängt +euch dreist unter die Wurzeln des Teichröschens, und löset sie von +Schlamm und Schilf, so daß sie nirgends mehr fest sitzen. Hängt euch +dann mit euren Scheeren an ein Zweiglein der Wurzel an, so wird euch das +Wasser sammt dem Blümchen auf die Oberfläche heben. Dann treibet mit dem +Strom so lange fort, bis euch links am Ufer eine Eberesche mit +beblätterten Zweigen zu Gesicht kommt. Nicht weit von der Eberesche +steht ein Stein von der Höhe einer kleinen Badstube. Beim Steine müßt +ihr die Worte ausstoßen: »»Aus der Teichrose die Jungfrau, aus dem Krebs +der Mann!«« In demselben Augenblick wird es so geschehen.« Als der Adler +geendigt hatte, hob er die Fittige und flog davon. Der Jüngling sah ihm +eine Weile nach und wußte nicht, was er davon halten sollte.</p> + +<p>Unter zweifelnden Gedanken verstrich ihm über eine Woche; er hatte weder +Muth noch Vertrauen genug, die Befreiung in dieser Weise zu versuchen. +Da hörte er eines Tages aus dem Munde einer Krähe: »Was zögerst du, der +Weisung des Alten nachzukommen? Der alte Zauberer hat noch nie falschen +Bescheid geschickt, und auch die Vogelsprache hat noch nie getrogen. +Eile an das Ufer des Flusses und trockne die Sehnsuchtsthränen der +Jungfrau.« Die Rede der Krähe machte dem Jünglinge Muth; er dachte: +Größeres Unglück kann mir nicht widerfahren als der Tod, aber leichter +ist der Tod als unaufhörliches<span class='pagenum'><a name="Page_19" id="Page_19">[S 19]</a></span> Trauern. Er setzte sich zu Pferde und +ritt den bekannten Weg zum Ufer des Flusses. Als er an die Brücke kam, +hörte er den Gesang:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Durch der Mutter Fluch beschworen<br /></span> +<span class="i0">Muß ich hier im Schlummer liegen,<br /></span> +<span class="i0">Muß das junge Kind verwelken,<br /></span> +<span class="i0">In der Wellen Schoos hinsiechen.<br /></span> +<span class="i0">Feucht und kalt das tiefe Bette<br /></span> +<span class="i0">Decket jetzt die zarte Jungfrau.«<br /></span> +</div></div> + +<p>Der Königssohn legte seinem Pferde die Fußfessel an, damit es sich nicht +zu weit von der Brücke entfernen könnte, warf die Kleider ab, schmierte +den Körper über und über mit Schlamm, so daß nirgends ein weißer Fleck +blieb, faßte sich dann an die Nasenspitze und sprang in's Wasser mit dem +Rufe: »Aus dem Mann ein Krebs!« Einen Augenblick zischte das Wasser auf, +dann war Alles wieder still wie zuvor.</p> + +<p>Das in einen Krebs verwandelte Männlein begann die Wurzeln der Teichrose +aus dem Flußbette loszumachen, brauchte aber viel Zeit dazu. Die +Würzelchen saßen im Schlamm und Schilf fest, so daß der Krebs sieben +Tage schwere Arbeit hatte, bis die Sache von Statten ging. Als die +Arbeit beendigt war, hakte das Krebsmännlein seine Scheeren in ein +Zweiglein der Wurzel ein, und das Wasser hob ihn sammt dem Blümchen auf +die Oberfläche des Flusses. Die schaukelnden Wellen trieben Krebs und +Teichrose nur allmählich vorwärts, und wiewohl Bäume und Sträuche genug +am Ufer sichtbar wurden, so kam doch immer die Eberesche mit dem großen +Stein nicht zum Vorschein. Endlich sah er links am Ufer den Baum mit<span class='pagenum'><a name="Page_20" id="Page_20">[S 20]</a></span> +seinem Laube und den rothen Beerenbüscheln, und etwas weiterhin stand +auch der Fels, der die Höhe einer kleinen Badstube hatte. Jetzt stieß +das Krebsmännlein die Worte aus: »Aus der Teichrose die Jungfrau, aus +dem Krebse der Mann!« — Augenblicklich schwammen auf dem Wasser zwei +Menschenhäupter, ein männliches und ein weibliches, das Wasser trieb sie +an's Ufer, aber Beide waren splitternackt, wie Gott sie geschaffen.</p> + +<p>Die verschämte Jungfrau bat nun: »Lieber Jüngling, ich habe keine +Kleider anzuziehen, darum mag ich nicht aus dem Wasser steigen.« — Der +Jüngling bat dagegen: »Tretet an's Ufer unter die Eberesche, ich mache +so lange die Augen zu, bis ihr hinauf klettert und euch unter dem Baume +berget. Dann eile ich zur Brücke, wo ich mein Pferd und meine Kleider +ließ, als ich in den Fluß sprang.« Die Jungfrau hatte sich unter der +Eberesche verborgen, und der Jüngling eilte zur Brücke, wo er Kleider +und Pferd gelassen hatte; aber er fand dort weder das Eine noch das +Andere. Daß sein Krebszustand so viele Tage gedauert hatte, wußte er +nicht, vielmehr glaubte er nur einige Stunden auf dem Grunde des Wassers +gewesen zu sein. Siehe, da kommt ihm am Ufer eine prächtige mit sechs +Pferden bespannte Kutsche langsam entgegen. In der Kutsche fand er alles +Nöthige, sowohl für sich, wie für die aus dem Wasserkerker erlöste +Jungfrau; sogar ein Diener und eine Zofe waren mit der Kutsche +angekommen. Den Diener behielt der Königssohn für sich, das Mädchen +schickte er mit der Kutsche und den Kleidern dahin, wo sein nacktes +Liebchen unter der Eberesche harrte. Es verging über eine Stunde, da kam +die hochzeitlich geschmückte<span class='pagenum'><a name="Page_21" id="Page_21">[S 21]</a></span> Jungfrau in der Kutsche an die Stelle, wo +der Königssohn ihrer wartete. Er war gleichfalls prächtig als Bräutigam +gekleidet und setzte sich zu ihr in die Kutsche. Sie fuhren gradeswegs +zur Stadt und vor die Kirchenthür. Der König und die Königin saßen in +Trauerkleidern in der Kirche, denn sie trauerten über den theuren +verlorenen Sohn, den man im Flusse ertrunken glaubte, da man Pferd und +Kleider am Ufer gefunden hatte. Groß war der Eltern Freude, als der für +todt beweinte Sohn lebend an der Seite einer schönen Jungfrau vor sie +trat, beide in Prunkgewändern. Der König führte sie selbst zum Altar und +sie wurden getraut. Dann wurde ein Hochzeitsfest veranstaltet, das in +Saus und Braus sechs Wochen lang dauerte.</p> + +<p>Im Gange der Zeit ist zwar kein Stillstand und keine Ruhe, dennoch +scheinen die Tage der Freude rascher dahin zu fließen als die Stunden +der Trübsal. Nach dem Hochzeitsfeste war der Herbst eingetreten, dann +kam Frost und Schnee, so daß das junge Paar nicht viel Lust hatte, den +Fuß aus dem Hause zu setzen. Als aber der Frühling wiederkehrte und neue +Freuden brachte, ging der Königssohn mit seiner jungen Gattin im Garten +spazieren. Da hörten sie, wie eine Elster vom Wipfel eines Baumes herab +rief: »O du undankbares Geschöpf, das in den Tagen des Glücks seine +hülfreichen Freunde vergessen hat. Sollen die beiden armen Jungfrauen +ihr Lebelang Goldgarn spinnen? Die lahme Alte ist nicht die Mutter der +Mädchen, sondern eine Zauberhexe, welche die Jungfrauen als Kinder aus +fernen Landen gestohlen hat. Der Alten Sünden sind groß, sie verdient +keine Barmherzigkeit.<span class='pagenum'><a name="Page_22" id="Page_22">[S 22]</a></span> Gekochter Schierling wäre für sie das beste +Gericht; sonst würde sie wohl das gerettete Kind abermals mit einem +Hexenknäuel verfolgen.«</p> + +<p>Jetzt fiel es dem Königssohne wieder ein und er bekannte seiner Gattin, +wie er zur Waldhütte gegangen sei, die Schwestern um Rath zu fragen, +dort die Vogelsprache gelernt und den Jungfrauen versprochen habe, sie +aus ihrer Gefangenschaft zu erlösen. Die Gattin bat mit Thränen in den +Augen, den Schwestern zu Hülfe zu eilen. Als sie den andern Morgen +erwachte, sagte sie: »Ich hatte einen bedeutungsvollen Traum. Die alte +Mutter war von Hause gegangen und hatte die Töchter allein gelassen; +jetzt wäre gewiß die rechte Zeit ihnen zu Hülfe zu kommen.«</p> + +<p>Der Königssohn ließ sofort eine Kriegerschaar sich rüsten und zog mit +ihnen zur Waldhütte. Am andern Tage langten sie dort an. Die Mädchen +waren, wie der Traum geweissagt hatte, allein zu Hause und kamen mit +Freudengeschrei den Errettern entgegen. Einem Kriegsmanne wurde Befehl +gegeben, Schierlingswurzeln zu sammeln und daraus für die Alte ein +Gericht zu kochen, so daß, wenn sie nach Hause käme und sich daran satt +äße, ihr die Lust am Essen für immer verginge. Sie blieben zur Nacht in +der Waldhütte und machten sich am andern Morgen in der Frühe mit den +Mädchen auf den Weg, so daß sie Abends die Stadt erreichten. Der +Schwestern Freude war groß, als sie sich hier nach zwei Jahren wieder +vereinigt fanden.</p> + +<p>Die Alte war in derselben Nacht nach Hause gekommen; sie verzehrte mit +großer Gier die Speise, welche sie<span class='pagenum'><a name="Page_23" id="Page_23">[S 23]</a></span> auf dem Tische fand und kroch dann +in's Bett um zu ruhen, wachte aber nicht wieder auf: der Schierling +hatte dem Leben des Unholds ein Ende gemacht. Als der Königssohn eine +Woche später einen zuverlässigen Hauptmann hinschickte, sich die Sache +anzusehen, fand man die Alte todt. In der heimlichen Kammer wurden +funfzig Fuder Goldgarn aufgehäuft gefunden, welche unter die Schwestern +vertheilt wurden. Als der Schatz weggeführt war, ließ der Hauptmann den +Feuerhahn auf's Dach setzen. Schon streckte der Hahn seinen rothen Kamm +zum Rauchloch<a name="FNanchor_9_9" id="FNanchor_9_9"></a><a href="#Footnote_9_9" class="fnanchor">[9]</a> heraus, als eine große Katze mit glühenden Augen vom +Dache her an der Wand herunterkletterte. Die Kriegsleute jagten der +Katze nach und wurden ihrer bald habhaft. Ein Vögelchen gab von einem +Baumwipfel herab die Weisung: »Heftet der Katze eine Falle an den +Schwanz, dann wird Alles an den Tag kommen!« Die Männer thaten es.</p> + +<p>»Peinigt mich nicht, ihr Männer!« bat nun die Katze. »Ich bin ein Mensch +wie ihr, wenn ich auch jetzt durch Hexenzauber in Katzengestalt gebannt +bin. Es war der Lohn für meine Schlechtigkeit, daß ich in eine Katze +verwandelt wurde. Ich war weit von hier in einem reichen Königsschlosse +Haushälterin, und die Alte war der Königin erste Kammerjungfer. Von +Habgier getrieben machten wir mit einander den heimlichen Anschlag, des +Königs drei Töchter und außerdem einen großen Schatz zu stehlen und dann +zu entfliehen. Nachdem wir allmählich alle goldenen<span class='pagenum'><a name="Page_24" id="Page_24">[S 24]</a></span> Geräthe bei Seite +geschafft hatten, welche die Alte in goldenen Flachs verwandelte, nahmen +wir die Kinder, deren ältestes drei Jahre, das jüngste sechs Monate alt +war. Die Alte fürchtete dann, daß ich bereuen und anderen Sinnes werden +möchte, und verwandelte mich deshalb in eine Katze; zwar wurde mir in +ihrer Todesstunde die Zunge gelöst, aber die frühere Gestalt habe ich +nicht wieder erhalten.« Der Kriegshauptmann sagte, als die Katze +ausgesprochen hatte: »Du brauchst kein besseres Ende zu nehmen, als die +Alte!« und ließ sie in's Feuer werfen.</p> + +<p>Die beiden Königstöchter aber bekamen bald, wie ihre jüngste Schwester, +Königssöhne zu Männern, und das von ihnen in der Waldhütte gesponnene +Goldgarn war ihnen reiche Mitgift. Ihr Geburtsort und ihre Eltern +blieben unbekannt. Man erzählt sich, daß das alte Weib noch manches +Fuder Goldgarn unter der Erde vergraben hatte, aber Niemand konnte die +Stelle angeben.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_25" id="Page_25">[S 25]</a></span></p> +<h2>2. Die im Mondschein badenden Jungfrauen.</h2> + + +<p>Es lebte einmal ein Jüngling, der nirgends Ruhe hatte, sondern sich +abmühte, alle verborgenen Dinge zu erforschen, die andern Leuten +unbekannt geblieben waren. Als er die Vogelsprache und andere geheime +Weisheit genugsam erlernt hatte, hörte er zufällig, daß unter der Decke +der Nacht sich Manches zutragen solle, was den Augen Sterblicher zu +schauen verwehrt sei. Jetzt sehnte er sich darnach, solche +Heimlichkeiten der Nacht zu ergründen, und mochte sich nicht eher +zufrieden geben, als bis ihm diese verborgene Kunde geworden wäre. Wohl +ging er eine Zeit lang von einem Zauberer zum andern, und lag ihnen an, +ihm zu seinem Zwecke die Augen zu schärfen, aber keiner konnte helfen. +Da kam er durch einen glücklichen Zufall endlich mit einem +Mana-Zauberer<a name="FNanchor_10_10" id="FNanchor_10_10"></a><a href="#Footnote_10_10" class="fnanchor">[10]</a> aus<span class='pagenum'><a name="Page_26" id="Page_26">[S 26]</a></span> Finnland zusammen, der über diese verborgenen +Dinge Auskunft zu geben wußte. Als er diesem seinen Wunsch kund gethan +hatte, sagte der Zauberer warnend: »Söhnlein! jage nicht allerlei leerer +Weisheit nach, welche dir kein Glück bringen kann, wohl aber Unglück. +Manches ist den Augen der Menschen verhüllt, weil es dem Frieden des +Herzens ein Ende machen müßte, wenn es erkannt würde. Wer alle geheimen +Dinge schauen lernt, der findet keine Freude mehr an dem, was ihm die +Alltagswelt vor Augen bringt. Dies bedenke, ehe du später bereuest. +—Dennoch will ich, falls du meiner Abmahnung nicht achtest und dein +Unglück wünschest, dich unterweisen, wie du die unter der Decke der +Nacht geschehenden Dinge gewahr werden kannst. Aber du mußt mehr als +Mannesmuth haben, sonst kannst du nie geheimer Weisheit inne werden.« +Darauf gab ihm der Zauberer aus Finnland einen Ort an und nannte ihm +die, zum Glück nahe bevorstehende Nacht,<a name="FNanchor_11_11" id="FNanchor_11_11"></a><a href="#Footnote_11_11" class="fnanchor">[11]</a> wo der Schlangenkönig immer +nach sieben Jahren<span class='pagenum'><a name="Page_27" id="Page_27">[S 27]</a></span> mit seinem Hofstaat zusammenkommt, um ein großes +Festgelage zu halten. »Der Schlangenkönig hat ein Goldschüsselchen mit +Himmelsziegenmilch vor sich; wenn es dir nur gelingt, ein Stückchen Brot +in diese Milch zu tunken und den eingetunkten Bissen in den Mund zu +stecken, ehe du dich wieder auf die Flucht begiebst, so kannst du alles +Geheime schauen, was unter der Decke der Nacht geschieht, ohne daß die +Menschen Kunde davon haben. Als einen glücklichen Zufall kannst du es +ansehen, daß des Schlangenkönigs Fest gerade in dieses Jahr fällt, sonst +hättest du sieben Jahre auf die Wiederkehr desselben warten müssen. Sei +aber dreist, beherzt und rasch, sonst geht die Sache schief.« — Der +Jüngling dankte für diese Belehrung und ging mit dem festen Vorsatz, +derselben nachzukommen, und müßte er auch dabei sein Leben einbüßen. Als +nun die bezeichnete Nacht herangekommen war, ging er Abends auf ein +großes Moor, wo der Schlangenkönig mit seinen Unterthanen zusammenkommen +sollte, um das Fest zu feiern. Obwohl aber der Jüngling seine Augen nach +allen Seiten scharf umhergehen ließ, so sah er doch im Mondenschein +nichts weiter, als eine Anzahl Rasenhügel, die unbeweglich da lagen. +Schon wurde ihm die Zeit lang, Mitternacht konnte nicht mehr fern sein, +als plötzlich mitten auf dem Moor ein heller Feuerschein aufstieg, etwa +wie wenn ein Stern des Himmels auf einem der Rasenhügel schimmerte. In +demselben Augenblicke, wo der Feuerschein aufglänzte, fingen sämmtliche +Rasenhügelchen an zu krimmeln und zu wimmeln, und von jedem derselben +kamen Hunderte von Schlangen herunter und krochen alle auf den +Feuerschein zu — und<span class='pagenum'><a name="Page_28" id="Page_28">[S 28]</a></span> jetzt war nur noch flaches Moor vorhanden. Die +vermeintlichen Hügelchen waren nichts weiter als Haufen lebendiger +Schlangen gewesen, die hier ihren König erwartet hatten. Als nun +sämmtliche Schlangen sich an der Stelle, wo der Feuerschein glänzte, +versammelt und sich dort zu <em class="gesperrt">einem</em> Haufen zusammengeknäult hatten, war +dieser so hoch und breit wie ein kleiner Heuschober geworden, und auf +der Spitze desselben hielt sich der helle Feuerschein. Das Gewirre und +Geschwirre in dem Schlangenhaufen war so groß, daß der Jüngling vor +Furcht keinen Schritt näher zu treten wagte, sondern lange von weitem +stehen blieb, und das Wunder betrachtete. Allmählich aber faßte er sich +ein Herz, und ging fein sachte Schritt vor Schritt auf den Zehen +vorwärts. Was er da sah, war gräulicher als gräulich, und ging über alle +Begriffe. Tausende von Schlangen, groß und klein, von allen Farben, +waren hier wie in einem Traubenbündel um eine große Schlange gelagert, +deren Körper die Dicke eines tüchtigen Balkens zu haben schien, und die +auf dem Kopfe eine prächtige goldene Krone<a name="FNanchor_12_12" id="FNanchor_12_12"></a><a href="#Footnote_12_12" class="fnanchor">[12]</a> trug, von welcher jener +Glanz ausstrahlte. Hunderte und Tausende von Schlangenhäuptern, die aus +dem Haufen hervorragten, züngelten und zischten wie böse Gänse und +machten ein so arges Geräusch, daß es zum Taubwerden war. Der Jüngling +hatte lange nicht das Herz, an den Schlangenhaufen heranzugehen, wo +jeder Augenblick ihm Tod drohte; als er aber plötzlich das +Goldschüsselchen, von dem er<span class='pagenum'><a name="Page_29" id="Page_29">[S 29]</a></span> gehört hatte, vor dem Schlangenkönig +erblickte und an den daran geknüpften Gewinn dachte, durfte er nicht +länger zaudern. Obwohl ihm die Haare zu Berge standen und das Blut im +Herzen erstarrte, so stachelte ihn doch sein Verlangen und trieb ihn +vorwärts. — O was für ein Gewirr und Geschwirr sich jetzt in dem +Schlangenhaufen erhob! Alle die Tausend Köpfe sperrten die Mäuler weit +auf und suchten den Mann zu stechen, aber zum Glück konnten sie ihre +Leiber nicht so schnell aus dem Knäuel los wickeln. Der Jüngling hatte +mit Blitzesschnelle einen Bissen Brot in das Goldschüsselchen getunkt, +ihn in den Mund gesteckt und dann Fersengeld gegeben, als ob Feuer +hinter ihm drein jagte. Aber der Verfolger war schlimmer als Feuer, +darum ließ er sich nicht Zeit, hinter sich zu blicken, obgleich ihm war, +als ob Tausende von Feinden ihm auf der Ferse wären und er stets das +Geräusch derselben zu hören glaubte. Endlich stockte ihm der Athem und +seine Kraft erlahmte; er fiel ohne Bewußtsein auf den Rasen und blieb +starr wie ein Todter liegen. Wohl war er in Schlaf gefallen, aber +schreckliche Traumbilder ließen die Gefahr noch viel größer erscheinen. +So träumte ihm, als wäre der Schlangenkönig mit der funkelnden Goldkrone +auf ihn gefallen und wollte ihn verschlingen. Mit lautem Geschrei sprang +er auf und zur Seite, um dem Feinde zu entkommen und sah, daß der Strahl +der aufgehenden Sonne ihn geweckt hatte. Er riß die Augen weit auf, sah +aber nirgends die nächtlichen Feinde, und das Moor, wo er in so großer +Gefahr gewesen, mußte zum mindesten eine Meile weit entfernt sein. +Sicherlich hatte die Himmelsziegenmilch seine Kraft gestählt, daß er<span class='pagenum'><a name="Page_30" id="Page_30">[S 30]</a></span> so +weit hatte laufen können. Als er dann seine Gliedmaßen prüfte, fand er +sie unversehrt; und nun war seine Freude groß, daß er mit heiler Haut +davon gekommen war.</p> + +<p>Nach Mittag ruhte er mehrere Stunden vom Schrecken und der Ermüdung der +vergangenen Nacht aus, dann beschloß er, noch in dieser Nacht in den +Wald zu gehen, um den Nutzen der Himmelsziegenmilch zu erproben, ob ihm +nun wirklich verborgene Dinge offenbar werden würden. Im Walde sah er +alsbald, was noch kein sterbliches Auge gesehen hatte und auch gewiß +nicht wieder sehen wird. Unter den Baumwipfeln zeigten sich goldene, +röthlich schimmernde Badebänke, silberne Quäste und silberne Eimer +fehlten nicht, aber nirgends waren lebende Wesen sichtbar, welche hätten +baden wollen. Der Vollmond glänzte und gab so viel Licht, daß der Mann +Alles deutlich sehen konnte. Nach einiger Zeit hörte er ein Geräusch im +Laube, als ob ein Wind sich erhoben hätte, dann kamen von allen Seiten +nackte Jungfrauen, viel schöner und stattlicher anzuschauen, als sie +irgendwo in unsern Dörfern aufwachsen. Sie waren alle des Waldelfen und +der Rasenmutter<a name="FNanchor_13_13" id="FNanchor_13_13"></a><a href="#Footnote_13_13" class="fnanchor">[13]</a> Töchter und kamen, um zu baden. Der hinter dem +Gebüsch spähende Jüngling hätte sich diese Nacht hundert Augen +gewünscht, denn seine zwei konnten all' die Schönheit nicht erschauen. +Endlich, als es schon gegen Morgen ging, verlor der Schauende +Badegerüste und badende Jungfrauen aus dem Gesichte, als wären sie in +Nebel verschwommen. Er blieb noch, bis die Sonne<span class='pagenum'><a name="Page_31" id="Page_31">[S 31]</a></span> aufging; dann erst +ging er wieder heim. Wohl dehnte sich seinem Sehnen der Tag länger als +ein Jahr, bis wieder Abend und Nacht hereinbrachen, wo er hoffte, der im +Mondschein badenden Jungfrauen abermals ansichtig zu werden; doch +endlich war auch diese Zeit des Sehnens verstrichen. Aber im Walde fand +er nichts mehr, weder Badegerüst noch Jungfrauen. Dennoch wurde er nicht +müde, Nacht für Nacht hinzugehen, aber jeder Gang war vergeblich. Jetzt +nagte der Kummer an ihm, es gab nichts mehr auf der Welt, was ihm hätte +Freude machen können; er nahm weder Speise noch Trank zu sich, sondern +verzehrte sich vor Sehnsucht. Gewiß ist es für den Menschen ein Glück, +wenn er dergleichen Geheimnisse nimmer schaut.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_32" id="Page_32">[S 32]</a></span></p> +<h2>3. Schnellfuß, Flinkhand und Scharfauge.</h2> + + +<p>Es lebte einmal ein wohlhabender Bauerwirth mit seinem Weibe; es +mangelte ihnen an Nichts, vielmehr hatte Gott sie mit Allem reichlich +gesegnet, so daß sie in den Augen der Menschen als glücklich galten. +Aber eins fehlte ihnen doch, was kein Reichthum geben konnte, sie waren +kinderlos, wiewohl ihre Ehe schon über zehn Jahre dauerte.</p> + +<p>Da geschah es eines Abends, als der Mann von Hause gegangen war und die +Frau allein im Zimmer saß, daß ihr die Zeit lang wurde und Unmuth sie +überfiel. »Da sind doch die Nachbarweiber viel glücklicher als ich,« +dachte die Frau. »Sie haben das Zimmer voll Kinder, um sich die Zeit zu +vertreiben; ist auch der Mann einmal von Hause, so brauchen sie doch +nicht allein zu sitzen. Ich aber habe Niemand weiter, den ich mein +nenne, wie ein verdorrter Baumstamm muß ich allein im leeren Gemache +hausen.« Während sie so dachte, traten ihr die Thränen in die Augen, und +ich weiß nicht, wie lange die Frau schon so kummervoll da gesessen +hatte, ohne zu bemerken, daß ein unerwarteter Gast in's Zimmer getreten +war. Plötzlich fühlte sie, daß etwas ihre Fußknöchel kitzele und meinte, +es sei die Katze, als sie aber die Augen an den Boden heftete, sah sie +einen zierlichen Zwerg<span class='pagenum'><a name="Page_33" id="Page_33">[S 33]</a></span> zu ihren Füßen. »Ach!« rief sie erschreckt und +wollte aufspringen und fliehen, aber des Zwergleins Hände hielten sie +fest wie mit eisernen Zangen, so daß sie nicht von der Stelle konnte. +»Erschrick nicht, liebes junges Weib!« sagte der Zwerg freundlich — +»daß ich ungerufen kam deinen Sinn zu erheitern und deinen Gram zu +stillen; du bist allein, der lange Abend schleicht dem Menschen so träge +hin, dein Mann ist verreist und kommt erst nach einigen Tagen zurück. +Liebes junges Weib.« — Die Frau unterbrach ihn unwillig: »Spotte nur +nicht, die Haube, welche ich bei der Hochzeit trug, schimmelt schon über +zehn Jahre in der Truhe und beweint, verwaist, die frühere bessere +Zeit.«<a name="FNanchor_14_14" id="FNanchor_14_14"></a><a href="#Footnote_14_14" class="fnanchor">[14]</a> »Was thut's,« erwiederte der Zwerg, »Wenn die Frau noch +keinen Schweif hinter sich hat, und noch jugendlich und frisch ist wie +du, dann ist sie immer noch »junges Weib«, und du hast ja bis jetzt +keine Kinder gehabt, darfst dich also auch so nennen lassen.« »Ja,« +sagte die Frau, »das ist es eben, was mich oft so bekümmert, daß mein +Mann mich schon längst gering achtet, da er mich fruchtlos umarmt wie +einen dürren Stamm, der keine Zweige mehr treibt.« Der Zwerg aber sagte +tröstend: »Sorge nicht, du stehst noch nicht am Abend deiner Tage, und +ehe du ein Jahr älter geworden bist, werden deinem Stamm, den du für +vertrocknet hältst, drei Zweige entsprießen und den Eltern zur Freude +aufwachsen. Du mußt nun aber Alles so machen, wie ich dir jetzt anzeigen +werde. Wenn dein Mann wieder nach Hause<span class='pagenum'><a name="Page_34" id="Page_34">[S 34]</a></span> kommt, so mußt du ihm drei Eier +von einer schwarzen Henne sieden und Abends zu essen geben. Wenn er dann +schlafen geht, so mache dir etwas auf dem Hofe zu schaffen und verweile +dort einige Zeit, bevor du an die Seite deines Mannes ins Bette +schlüpfst. Wenn die Zeit da ist, daß meine Worte in Erfüllung gehen, so +komme ich wieder. Bis dahin bleibe mein heutiger Besuch Allen ein +Geheimniß. Leb' wohl, liebes junges Weib, bis ich wiederkehre und: +Mutter! sage.« Darauf entschwand der Zwerg den Blicken der Frau, als +wäre er in die Erde gesunken. Das junge Weib — ihr war der Name +kränkend — rieb sich lange die Augen, als ob sie hinter die Wahrheit +kommen und sehen wollte, ob es Wirklichkeit oder Traum gewesen sei. +Wonach der Mensch sich sehnt, das hält er meist für wahr, und so war es +auch mit der Frau. Der seltsame Vorfall mit dem Zwerge kam ihr nicht +mehr aus dem Sinn, und als der Mann nach einigen Tagen heimkehrte, sott +die Frau drei Eier von einer schwarzen Henne gab sie ihm am Abend zu +essen und that sonst, wie ihr vorgeschrieben war.</p> + +<p>Nach einigen Wochen traf ein, was der Zwerg vorausgesagt hatte. Mann und +Frau waren froh und konnten zuletzt kaum die lange Frist abwarten, +binnen welcher sich ihr Verlangen erfüllen sollte. Zur rechten Zeit kam +die Frau in die Wochen und brachte Drillinge zur Welt, lauter Knaben, +schön und gesund. Als die Wöchnerin schon wieder in der Genesung und der +Mann eines Tages von Hause gegangen war, um Taufgäste und Gevattern +zusammen zu bitten, kam der glückbringende Zwerg, die Wöchnerin zu +besuchen. »Guten Tag, Goldmutter!«<span class='pagenum'><a name="Page_35" id="Page_35">[S 35]</a></span> rief der Zwerg in's Zimmer tretend. +»Siehst du jetzt, wie Gott deinen Herzenswunsch mit einem Male erfüllt +hat? Du bist Mutter dreier Knaben geworden. Da siehst du, daß meine +Prophezeiung keine leere war, und du kannst jetzt um so leichter +glauben, was ich dir heute sagen werde. Deine Söhne werden weltberühmte +Männer werden und werden dir noch viele Freude machen vor deinem Tode. +Zeige mir doch deine Bübchen!« Mit diesen Worten war er wie eine Katze +auf den Rand der Wiege geklettert, nahm ein Knäulchen rothen Garns aus +der Tasche und band dem einen Knaben einen Faden um beide Fußknöchel, +dem andern wieder um die Handgelenke und dem dritten über die +Augenlieder um die Schläfen herum. »Diese Fäden,« so lautete des Zwerges +Vorschrift, mußt du so lange an ihrer Stelle belassen, bis die Kinder +zur Taufe geführt werden; dann verbrenne die Fäden, sammle die Asche in +einem kleinen Löffel und netze sie, wenn die Kinder nach Hause gebracht +werden, mit etwas Milch aus deiner Brust. Von dieser stärkenden +Aschenmilch mußt du jedem Knaben ein Paar Tropfen auf die Zunge gießen, +ehe du ihm die Brust reichst. Dadurch wird jeder von ihnen da stark +werden, wo der Faden haftete, der eine an den Füßen, der andere an den +Händen und der dritte an den Augen, so daß ihres Gleichen nicht sein +wird auf der Welt. Jeder wird schon mit seiner eigenen Glücksgabe Ehre +und Reichthum finden, wenn sie aber selbdritt etwas unternehmen, so +können sie Dinge ausrichten, die man nicht für möglich halten würde, +wenn man sie nicht vor Augen sähe. Mich wirst du nicht mehr wiedersehen, +aber du wirst dich wohl noch manches Mal<span class='pagenum'><a name="Page_36" id="Page_36">[S 36]</a></span> dankbar meiner erinnern, wenn +deine Knäblein zu Männern herangewachsen sind und dir Freude machen +werden. Und jetzt sage ich dir zum letzten Male Lebewohl, liebe junge +Mutter! — Mit diesen Worten war der Zwerg wieder, wie das erste Mal, +plötzlich verschwunden.</p> + +<p>Die Wöchnerin that sorgfältig Alles, was ihr in Betreff der Kinder +vorgeschrieben war. Sie verbrannte am Tauftage die rothen Fäden zu +Asche, ließ, als die Kinder aus der Kirche nach Hause gebracht wurden, +Milch aus ihrer Brust auf die Asche fließen und goß von dieser +Kraftmilch jedem Kinde ein Paar Tropfen auf die Zunge, ehe sie ihm die +Brust reichte. Doch sagte sie Anfangs weder ihrem Manne noch sonst +jemanden ein Wort von den wunderbaren Dingen, die ihr mit dem Zwerge +begegnet waren.</p> + +<p>Die Kinder wuchsen alle drei blühend heran und gaben, als sie fest auf +ihren Füßen standen, Proben großer Klugheit. Doch zeigte sich schon von +früh auf, daß bei jedem die durch den Wunderfaden gekräftigten Glieder +am tüchtigsten waren: bei dem einen die Augen, bei dem andern die Hände +und bei'm dritten die Füße. Deßhalb nannten die Eltern sie später je +nach ihrer Hauptstärke, den ersten <em class="gesperrt">Scharfauge</em>, den zweiten <em class="gesperrt">Flinkhand</em> und +den dritten <em class="gesperrt">Schnellfuß</em>. Als nach einigen Jahren die Brüder in's +Jünglingsalter getreten waren, beschlossen sie, im Einvernehmen mit +ihren Eltern, in die Fremde zu ziehen, wo jeder durch seine Stärke und +Geschicklichkeit Dienste und Lohn zu finden hoffte. Und zwar wollte +jeder der Brüder für sich allein den Weg zum Glücke antreten, der eine +gen Morgen, der andere gen Mittag<span class='pagenum'><a name="Page_37" id="Page_37">[S 37]</a></span> und der dritte gen Abend; nach drei +Jahren aber wollten sie alle drei wieder zu den Eltern zurückkommen und +melden, wie es ihnen in fremden Landen ergangen sei.</p> + +<p><em class="gesperrt">Schnellfuß</em> nahm den Weg gen Morgen, von ihm müssen wir nun zuerst +erzählen. Daß er mit seinen mächtigen Schritten viel rascher vorwärts +kam als seine Brüder, das kann Jeder leicht ermessen, denn wo die Meilen +einem Manne unter den Füßen schwinden, ohne daß diese ermüden, da wird +ihm das Wandern nicht beschwerlich. Gleichwohl sollte er die Erfahrung +machen, daß flinke Beine wohl überall einen Menschen aus einer Gefahr +befreien können, aber nicht so leicht zu Amt und Brod verhelfen: denn +Hände sind aller Orten nöthiger als Füße. <em class="gesperrt">Schnellfuß</em> fand erst nach +geraumer Zeit bei einem Könige in Ostland einen festen Dienst. Der König +besaß große Roßherden, unter denen viele stätische Renner waren, die +kein Mensch fangen konnte, auch nicht einmal zu Roß. Aber mit <em class="gesperrt">Schnellfuß</em> +konnte kein Pferd Schritt halten, der Mann war immer schneller als das +Roß. Was früher funfzig Pferdehirten zusammen nicht ausrichten konnten, +das besorgte er ganz allein und ließ nie ein Pferd von der Herde +wegkommen. Darum zahlte ihm der König unweigerlich den Lohn von funfzig +Hirten, und machte ihm außerdem noch Geschenke. Die flüchtigen Schritte +des neuen Roßhirten hatten Windesschnelle, und wenn er vom Abend bis zum +Morgen die ganze Nacht durch oder vom Morgen bis zum Abend den Tag über +gelaufen war, ohne auszuruhen, so war er doch nicht müde, sondern konnte +am andern und am dritten Tage wieder eben so viel laufen. Es geschah +oft, daß die Rosse, bei heißem Wetter von<span class='pagenum'><a name="Page_38" id="Page_38">[S 38]</a></span> Bremsen gestochen, nach allen +Seiten hin auseinander fuhren und viele Meilen weit rannten: aber +dennoch war am Abend die ganze Herde wieder beisammen. Da gab einst der +König ein großes Gastmahl, zu welchem viele vornehme Herren und Fürsten +geladen waren. Während des Festes hatte der König seinen Gästen viel von +seinem schnellfüßigen Roßhirten erzählt, so daß alle den Wundermann zu +sehen begehrten. Manche meinten, es dürfe wohl nicht Wunder nehmen, wenn +die in der Herde aufgezogenen und an den Hirten gewöhnten Rosse sich +einfangen ließen; das allerstörrigste Pferd höre auf des Herrn Wort und +komme auf dessen Ruf. Aber gebt ihm einmal ein Pferd aus einem fremden +Stalle, das ihn nicht kennt, dann werden wir sehen, wie weit die +Schnelligkeit des Mannes gegen die des Rosses kommt. Da ließen einige +fremde Herren die bestgefütterten und feurigsten Rosse aus ihren Ställen +herführen und dann ins Freie treiben, auf daß <em class="gesperrt">Schnellfuß</em> sie einfange. +Das war dem Hirten mit den beflügelten Füßen eine Kleinigkeit, denn auch +ein gestandennes, wohlgenährtes Pferd kann doch nicht mit Einem um die +Wette laufen, der wie ein Vogel des Waldes gewohnt ist, Nacht und Tag +sich zu rühren. Die fremden Herrschaften priesen die Schnellfüßigkeit +des Mannes und schenkten ihm viel goldene und silberne Münzen, +versprachen auch daheim von ihm zu reden, damit man erfahre, wo solch' +ein Mann zu finden sei. Bald darauf war im ganzen Ostlande der Name +<em class="gesperrt">Schnellfuß</em> berühmt geworden, und wenn irgend ein König einmal einen +schnellen Boten brauchte, so wurde <em class="gesperrt">Schnellfuß</em> gemiethet, der dann +reichen Lohn und außerdem noch Geschenke erhielt, damit er sich ein +anderes Mal<span class='pagenum'><a name="Page_39" id="Page_39">[S 39]</a></span> wieder willig finden ließe. Als er nach drei Jahren sich +aufmachte um in die Heimath zurückzukehren, hatte er soviel Geld und +Schätze gesammelt, daß er zwanzig Pferde damit beladen konnte, welche +ihm der König geschenkt hatte.</p> + +<p>Der zweite Bruder, <em class="gesperrt">Flinkhand</em>, der gen Mittag gezogen war, fand aller +Orten lohnenden Dienst; alle Meister brauchten seine Arbeit, weil kein +anderer Gesell so geschickt war und so viel fertig machte wie er. Obwohl +er nicht in einer Zunft ein bestimmtes Handwerk erlernt hatte, so +gerieth in seiner geschickten Hand doch jegliche Arbeit; er war +Schneider, Schuster, Tischler, Drechsler, Gold- und Grobschmied, oder +was sonst dergleichen, und es war auf der Welt kein Meister zu finden, +dem er nicht zum Gesellen getaugt hätte. Einmal war er bei einem +Schneidermeister auf Stücklohn in Arbeit und nähte in einem Tage zwanzig +Paar Hosen, ein anderes Mal machte er für einen Schuster in eben der +Zeit ebensoviel Paar Stiefel fertig. Dabei war Alles, was er machte, so +vollkommen, daß, wer einmal seine Arbeit kennen gelernt hatte, von +derjenigen anderer Meister und Gesellen nichts mehr wissen wollte. +<em class="gesperrt">Flinkhand</em> hätte bei jedem Handwerk ein reicher Mann werden können, wenn +er irgendwo längere Zeit hätte aushalten können, allein er sehnte sich +darnach, die weite Welt zu sehen und streifte deßhalb gewöhnlich von +einem Ort zum andern. So kam er auch einmal in eine Königsstadt, wo er +Alles in großer Bewegung fand. Es sollten Truppen gegen den Feind +ausgesandt werden, aber es mangelte an Kleidern, an Fuß- und +Kopfbedeckung und auch an Waffen. Und obgleich überall Meister und +Gesellen von früh Morgens bis Mitternacht eifrig arbeiteten<span class='pagenum'><a name="Page_40" id="Page_40">[S 40]</a></span> und sogar +Sonntags und Montags nicht feierten, so konnten sie doch in der kurzen +Zeit nicht soviel anfertigen, wie der König wollte. Zwar wurde nah und +fern nach Gesellen gesucht, die helfen sollten, aber des Fehlenden war +so viel, daß all' die Arbeit nicht hinreichend schien, es herzustellen.</p> + +<p>Eines Tages nun trat <em class="gesperrt">Flinkhand</em> in des Königs Schloß und wünschte den +König zu sprechen. Dann sagte er: »Geehrter König! ich höre von den +Leuten, daß ihr sehr eilige Arbeiten braucht. Ich bin ein weitgereister +Meister und kann vielleicht die Arbeiten übernehmen, wenn wir Handels +einig werden und ihr mir die Frist nennt, binnen welcher sie fertig sein +müssen.« Als der König die Frist genannt hatte, sagte <em class="gesperrt">Flinkhand</em>: »Lasset +alle Meister der Stadt zusammenrufen und befragt sie, ob sie bis zu dem +genannten Tage mit den Arbeiten fertig werden können, wenn das nicht der +Fall ist, so übernehme ich Alles, aber den Arbeitslohn habt ihr dann mir +allein zu zahlen.« — »Das wäre schon recht,« erwiederte der König, +»wenn ihr so viele Gesellen bekommen könntet, aber das ist ja eben, was +unsern städtischen Meistern fehlt, sie finden nicht genug Arbeiter.« — +»Das sei meine Sorge,« erwiederte <em class="gesperrt">Flinkhand</em>. Den andern Tag wurden alle +Meister der Stadt in das Schloß gerufen und gefragt, wann Jeder mit +seiner Arbeit fertig zu werden glaube, worauf einige vier und fünf +Monate, andere noch mehr Zeit verlangten. »Nun,« sagte <em class="gesperrt">Flinkhand</em> zum +Könige, »wenn ihr mir für drei Monate den doppelten Lohn versprecht, so +will ich allein all' die Arbeit übernehmen, mit der die Andern wohl erst +in einem halben Jahre zu Stande kämen.«<span class='pagenum'><a name="Page_41" id="Page_41">[S 41]</a></span> Das schien indeß dem Könige so +wunderbar und so unglaublich, daß er besorgte, man wolle ihm einen +Possen spielen und deßhalb fragte: »Was für eine Bürgschaft kannst du +mir geben, daß du deine Versprechungen erfüllen wirst?« <em class="gesperrt">Flinkhand</em> +erwiederte: »Geld und Kostbarkeiten, die ich als Schadenersatz bieten +könnte, habe ich freilich nicht, aber wenn ihr mein Leben zum Pfande +wollt, so ist unser Handel bald geschlossen. Damit ihr aber auch nicht +die Katze im Sack zu kaufen braucht, will ich euch morgen eine +Probearbeit bringen.« Das war der König zufrieden. Die Gesellen aber +meinten untereinander, wenn er doppelte Zahlung erhält, so muß er uns +auch doppelten Arbeitslohn geben, sonst werden wir ihm nicht helfen. Als +der König am folgenden Tage die Probearbeit gesehen hatte, war er sehr +zufrieden damit, und obwohl alle übrigen Meister vor Neid bersten +wollten, konnte doch keiner die Arbeit tadeln. Jetzt machte sich +<em class="gesperrt">Flinkhand</em> wie ein Mann an's Werk. War ihm auch früher schon alle Arbeit +von der Hand geflogen, so war doch die Hurtigkeit, die er jetzt von früh +bis spät entfaltete, mehr als wunderbar; kaum nahm er sich soviel Zeit, +um zu essen und in der Nacht ein wenig, wie ein Vogel auf dem Ast, zu +ruhen. Zwei Wochen vor der bedungenen Frist war aller Bedarf für die +Soldaten fertig und dem Könige abgeliefert. Der König zahlte den für +drei Monate bedungenen Preis doppelt, und fügte fast eben soviel noch +als Geschenk hinzu. Dann sagte er: »Lieber kluger Meister! ich möchte +mich von dir nicht so schnell trennen. Hast du nicht Lust mit dem Heere +gegen die Feinde zu ziehen? Wer so geschickt alle Arbeiten anzufer<span class='pagenum'><a name="Page_42" id="Page_42">[S 42]</a></span>tigen +weiß, aus dem kann sicher auch der allerbeste Kriegsmann werden.« +<em class="gesperrt">Flinkhand</em> erwiederte: »Vielleicht verhält sich die Sache so, wie ihr, +geehrter König, meint, aber aufrichtig gesagt: ich habe, so lang ich +lebe, das Kriegshandwerk noch nicht versucht, sondern bis jetzt nur +unblutige Arbeit gethan. Ueberdieß rückt auch die Zeit heran, wo die +Eltern mich zu Hause erwarten; nehmt es darum nicht übel, wenn ich eurem +Verlangen diesmal nicht entsprechen kann.« So schied er von der +Königsstadt, wo er in kurzer Zeit zum reichen Manne geworden war. Er +hatte noch über ein halbes Jahr bis zur Heimreise, darum streifte er von +einem Orte zum andern und wenn er sich irgendwo länger aufhielt, so +arbeitete er, um das Reisegeld zusammenzubringen, denn er wollte sein +angesammeltes Vermögen nicht angreifen.</p> + +<p>Der dritte Bruder, <em class="gesperrt">Scharfauge</em>, der seinen Weg gen Abend genommen hatte, +schweifte lange von einem Orte zum andern, ohne einen passenden und +lohnenden Dienst zu finden. Als geschickter Schütze konnte er zwar +allenthalben soviel erwerben, um seinen täglichen Unterhalt zu +bestreiten, aber was hatte er dann bei der Heimkehr mit nach Hause zu +bringen? Mit der Zeit war er auf seiner Wanderung in eine große Stadt +gerathen, wo man nur von dem Unglück sprach, das den König schon drei +Mal getroffen hatte, und das Niemand zu begreifen, geschweige zu +verhüten vermochte. Die Sache verhielt sich so. Der König hatte in +seinem Garten einen kostbaren Baum, der wie ein Apfelbaum aussah, aber +goldene Aepfel trug, von denen manche so groß waren wie ein großes +Knäuel Garn, und viele tausend Rubel werth sein<span class='pagenum'><a name="Page_43" id="Page_43">[S 43]</a></span> mochten. Es läßt sich +denken, daß ein solches Obst nicht ungezählt blieb, und daß Nacht und +Tag Wachen rings umher standen, um jeden Diebstahl zu verhüten. Trotzdem +war schon drei Nächte hintereinander immer einer der größeren Aepfel +gestohlen worden; man schätzte den Werth eines solchen auf sechstausend +Rubel. Die Wachen hatten weder den Dieb gesehen noch seine Spur +gefunden. <em class="gesperrt">Scharfauge</em> dachte sich gleich, daß hier eine ganz besondere +List obwalte, die er mit seinem durchdringenden Blick wohl herausbringen +könnte. Er meinte, wenn der Dieb nicht körperlos und unsichtbar zum +Baume kommt, so wird er meinem scharfen Auge nicht entgehen. Er bat +deßhalb den König um die Erlaubniß, sich in den Garten begeben zu +dürfen, um ohne Vorwissen der Wächter seine Beobachtungen anzustellen. +Als er die Erlaubniß erhalten hatte, machte er sich im Wipfel eines +hohen Baumes, der nicht weit von dem Goldapfelbaume stand, ein Versteck +zurecht, wo Niemand ihn gewahr werden konnte, während sein scharfes Auge +überall hin reichte und Alles, was vorging, sehen konnte. — Brotsack +und Milchfäßchen nahm er mit sich, damit er nicht genöthigt wäre seinen +Schlupfwinkel zu verlassen, falls das Wachen sich in die Länge zöge. Den +Goldapfelbaum und was rings um denselben vorging, behielt er nun +unausgesetzt im Auge. Die Wachtsoldaten hatten um den Baum herum drei so +dichte Kreise geschlossen, daß kein Mäuslein unbemerkt hätte +durchschlüpfen können. Wenn der Dieb nicht etwa Flügel hatte, auf dem +Boden konnte er nicht an den Baum gelangen. Den ganzen Tag über bemerkte +Scharfauge nichts, was einem Diebe ähnlich gesehen hätte. Bei<span class='pagenum'><a name="Page_44" id="Page_44">[S 44]</a></span> +Sonnenuntergang flatterte ein kleiner gelber Schmetterling um den +Apfelbaum herum, bis er sich endlich auf einen seiner Zweige niederließ, +an welchem gerade ein sehr schöner Apfel hing. Daß ein kleiner +Schmetterling keinen goldenen Apfel vom Baume fortbringen konnte, +begreift Jeder so gut wie <em class="gesperrt">Scharfauge</em>, allein da dieser nichts Größeres +gewahr wurde, so verwandte er kein Auge von dem gelben Schmetterling. +Die Sonne war längst untergegangen und auch die Abendröthe verschwand +allmählich vom Horizont, aber die um den Baum herum aufgestellten +Laternen gaben so viel Licht, daß man Alles sehen konnte. Der gelbe +Schmetterling saß immer noch unbeweglich auf seinem Zweige. Es mochte um +Mitternacht sein, als dem Wächter auf dem Baume die Augen ein wenig +zufielen. Wie lange er geschlummert hatte, wußte er nicht, als aber +seine Augen wieder auf den Apfelbaum fielen, sah er, daß der gelbe +Schmetterling nicht mehr auf dem Zweige saß, — noch mehr erschrak er, +als er entdeckte, daß auch der herrliche Goldapfel von diesem Zweige +verschwunden war. Ein Diebstahl war geschehen, daran war nicht zu +zweifeln, allein wenn der geheime Wächter die Sache erzählt hätte, so +würden die Leute ihn für verrückt gehalten haben, denn soviel konnte ein +Kind einsehen, daß ein Schmetterling nicht im Stande war, den Goldapfel +weg zu tragen. Am Morgen gab es wieder großen Lärm, als man fand, daß +ein Apfel fehle, ohne daß einer der Wächter eine Spur vom Diebe gesehen +hätte. Da trat <em class="gesperrt">Scharfauge</em> abermals vor den König und sagte: »Ich habe +zwar den Apfeldieb ebensowenig gesehen wie eure Wachen, aber wenn ihr in +der Stadt oder in der Nähe derselben einen<span class='pagenum'><a name="Page_45" id="Page_45">[S 45]</a></span> zauberkundigen Mann habt, so +weiset mich zu ihm, mit seiner Hülfe hoffe ich künftige Nacht des Diebes +habhaft zu werden.« Als er erfahren hatte, wo der Zauberer zu finden +sei, ging er unverzüglich zu ihm. Die Männer rathschlagten dann, wie sie +die Sache wohl am besten anfangen könnten. Nach einiger Zeit rief +<em class="gesperrt">Scharfauge</em> »Ich habe einen Plan! kannst du durch Zauber einem +Spinngewebe solche Festigkeit geben, daß die Fäden auch das stärkste +Geschöpf festhalten, dann legen wir den Dieb in Fesseln, so daß er uns +nicht wieder entrinnt.« Der Zauberer sagte, das sei möglich; nahm drei +große Kreuzspinnen, machte sie durch Hexenkraft so stark, daß kein +Geschöpf sich aus ihrem Gewebe losmachen konnte, that sie in ein +Schächtelchen und gab sie dem <em class="gesperrt">Scharfauge</em>. »Setze diese Spinnen, wohin du +willst, und zeige ihnen mit dem Finger an, wie sie ihr Netz ziehen +sollen, so spinnen sie alsbald einen Käfig um den Gefangenen, aus +welchem nur Mana's<a name="FNanchor_15_15" id="FNanchor_15_15"></a><a href="#Footnote_15_15" class="fnanchor">[15]</a> Weisheit erlösen kann; übrigens eile ich dir zu +Hülfe, wenn es dessen bedarf.«</p> + +<p><em class="gesperrt">Scharfauge</em> schlüpfte mit dem Schächtelchen im Busen wieder auf seinen +Baum, um den Verlauf der Sache zu überwachen. Zu derselben Zeit wie +gestern sah er den gelben Falter wieder um den Apfelbaum her schweben, +aber es dauerte heute viel länger als gestern, ehe sich der +Schmetterling auf einen Zweig setzte, an welchem ein großer Goldapfel +hing. Sofort ließ sich Scharfauge von seinem Baume herunter, näherte +sich dem Goldapfel<span class='pagenum'><a name="Page_46" id="Page_46">[S 46]</a></span>baum, ließ eine Leiter anlegen, kletterte sachte +hinauf, um den Schmetterling nicht zu scheuchen, und setzte seine +kleinen Weber je auf drei Zweige. Eine Spinne kam so einige Spannen über +dem Schmetterling, die andere zu seiner Rechten, die dritte zu seiner +Linken zu sitzen; dann beschrieb Scharfauge mit dem Finger eine Linie in +die Kreuz und die Quer um den Schmetterling herum. Dieser saß mit +aufgerichteten Flügeln unbeweglich da. Mit Sonnenuntergang war der +Wächter wieder in seinem Baumversteck. Von da aus sah er zu seiner +Freude, wie die drei Gesellen um den Schmetterling her von allen Seiten +ein Gehege machten, aus welchem das Männlein nicht hoffen durfte zu +entkommen, wenn anders die Kraft, deren der Zauberer sich gerühmt hatte, +sich bewähren würde. Wohl suchte unser Mann auf seinem Baume sich vor +dem Einschlummern zu hüten, aber dennoch waren ihm mit einem Male die +Augen zugefallen. Wie lange er geschlummert hatte, wußte er nicht, aber +ein großer Lärm hatte ihn plötzlich aufgeweckt. Als er hinsah, nahm er +wahr, daß die Wachtsoldaten wie die Ameisen um den Goldapfelbaum herum +liefen und tobten; auf dem Baume aber saß ein alter graubärtiger Mann, +einen Goldapfel in der Faust, in einem eisernen Netze. Hurtig stieg +<em class="gesperrt">Scharfauge</em> von seinem Wipfel herunter, aber ehe er den Goldapfelbaum +erreicht hatte, war auch schon der König da, der bei dem Lärm der Wachen +aus dem Bette gesprungen und herbeigeeilt war, um zu sehen, was sich +Unerwartetes in seinem Garten zutrug. Da saß nun der Dieb im Eisenkäfig +und konnte nirgends hin »Geehrter König,« sagte dann <em class="gesperrt">Scharfauge</em>: »jetzt +könnt ihr euch<span class='pagenum'><a name="Page_47" id="Page_47">[S 47]</a></span> ruhig niederlegen und bis zum hellen Morgen schlafen, +der Dieb entkommt uns nicht mehr. Wäre er auch noch so stark, so kann er +doch die durch Hexenkraft entstandenen Maschen seines Käfigs nicht +zerreißen.« Der König dankte und befahl dem Haupthaufen der +Wachtsoldaten ebenfalls schlafen zu gehen, so daß nur noch einige unter +dem Baume auf Wache blieben; <em class="gesperrt">Scharfauge</em>, der zwei Nächte und zwei Tage +gewacht hatte, ging ebenfalls um auszuschlafen.</p> + +<p>Am andern Morgen ging er mit dem Zauberer in des Königs Schloß. Der +Zauberer war froh, als er den Dieb im Käfig fand und wollte ihn auch +nicht eher herauslassen, als bis das Männlein seine wahre Gestalt +gezeigt haben würde. Zu dem Ende schnitt er ihm den halben Bart unter +dem Kinne ab, ließ Feuer bringen und fing an die Barthaare zu sengen. O +der Pein und Qual, welche der Vogel im Eisenkäfig jetzt auszustehen +hatte!<a name="FNanchor_16_16" id="FNanchor_16_16"></a><a href="#Footnote_16_16" class="fnanchor">[16]</a> Er schrie jämmerlich und überschlug sich vor Schmerz, aber +der Zauberer ließ nicht ab, sondern sengte immer mehr Haare, um den Dieb +mürber zu machen. Dann rief er: »Bekenne, wer du bist?« Das Männlein +antwortete: »Ich bin des Hexenmeisters <em class="gesperrt">Piirisilla</em> Knecht, den sein Herr +ausgeschickt hat zu stehlen.« Der Zauberer begann wieder die Barthaare +zu sengen. »Au, au!« schrie der Hexenmeister, »laßt mir Zeit, ich will +bekennen! Ich bin nicht der Knecht, ich bin des Hexenmeisters Sohn.« +Abermals wurden Haare gesengt, da rief der Gefangene heulend: »Ich bin +der Hexenmeister Piirisilla selbst.«<span class='pagenum'><a name="Page_48" id="Page_48">[S 48]</a></span> »Zeige uns deine natürliche +Gestalt — oder ich senge wiederum,« befahl der mächtige Zauberer. Da +begann das Männlein im Käfig sich zu strecken und auszudehnen, und war +in wenig Augenblicken zu einem gewöhnlichen Manne angewachsen, der die +Entwendung der Goldäpfel ohne Umschweife eingestand. Jetzt wurde er +sammt dem Käfige vom Baume heruntergenommen und gefragt, wo das +Gestohlene versteckt sei? Er versprach die Stelle selbst zu zeigen, aber +<em class="gesperrt">Scharfauge</em> bat den König, den Dieb ja nicht aus dem Käfig zu lassen, +denn sonst könnte er sich wieder in einen Schmetterling verwandeln und +ihnen entkommen. Ehe er aber alle Diebslöcher angab, mußte er noch +manches Mal gesengt werden, und als endlich alle Goldäpfel +herbeigeschafft waren, wurde der böse Dieb im Käfig verbrannt und seine +Asche in die Luft gestreut.</p> + +<p>Als der König seinen Schatz wieder hatte, zahlte er dem <em class="gesperrt">Scharfauge</em> einen +sehr großen Lohn, so daß er auf ein Mal wohl noch reicher ward als seine +beiden Brüder. Der König hätte ihn gern in seine Dienste genommen, aber +<em class="gesperrt">Scharfauge</em> sagte: »Ich kann jetzt keinen Dienst mehr annehmen, sondern +muß nach Hause, um meine Eltern zu sehen.« Darauf schenkte ihm der König +Pferde, Wagen und Diener, welche ihm seine Reichthümer nach Hause +brachten.</p> + +<p>Als nun die Brüder im elterlichen Hause wieder beisammen waren, fanden +sie sich so reich, daß sie mehr als ein halbes Königreich hätten kaufen +können. Die Mutter erinnerte sich jetzt, wie der glückbringende Zwerg +das Alles zu Wege gebracht hatte, aber sie verschwieg den wunderbaren +Vorfall. Reichthum war jetzt in solchem Maße vor<span class='pagenum'><a name="Page_49" id="Page_49">[S 49]</a></span>handen, daß die Söhne +gewiß nicht nöthig gehabt hätten sich einen neuen Dienst zu suchen; aber +wo fände man wohl auf der Welt den Reichen, der mit seiner Habe +zufrieden wäre und dieselbe nicht immer noch zu mehren suchte? Als die +Brüder später erfuhren, daß eines überaus reichen Königs Tochter im +Nordlande demjenigen zu Theil werden sollte, der drei besonders +schwierige Dinge ausführen könnte, die bis dahin noch keinem möglich +gewesen waren — beschlossen sie einmüthig, die Sache zu versuchen. Es +waren schon Leute genug von weit und breit erschienen, um sich daran zu +versuchen, aber Keiner war im Stande gewesen die Aufgaben zu lösen, +denen ihre Kräfte nicht gewachsen waren. Einem Einzelnen zumal war es +ganz unmöglich das Verlangte zu vollbringen. Als die Brüder den +Entschluß gefaßt hatten, machten sie sich selbdritt auf den Weg, und +damit sie rascher vorwärts kämen, trug <em class="gesperrt">Schnellfuß</em> die beiden Andern von +Zeit zu Zeit auf seinem Rücken weiter. Weil nun aber die Arbeit von +<em class="gesperrt">einem</em> Manne gethan werden sollte, so konnten sie nicht alle drei +zugleich vor den König treten. <em class="gesperrt">Schnellfuß</em> wurde ausgesandt, +Erkundigungen einzuziehen. Die drei Probestücke, welche der künftige +Schwiegersohn des Königs ausführen sollte, waren folgende: Erstens +sollte er einen Tag mit einer großen Rennthierkuh auf die Weide gehen +und Sorge tragen, daß ihm das windschnelle Thier nicht davon laufe; +Abends mit Sonnenuntergang sollte er es wieder in den Stall bringen. +Zweitens sollte er Abends das Schloßthor verschließen. Das dritte +Probestück erschien als das schwerste. Er sollte nämlich mit seinem +Bogen einen Apfel wegschießen, dessen Stiel ein Mann auf<span class='pagenum'><a name="Page_50" id="Page_50">[S 50]</a></span> einem hohen +Berge im Munde hielt, ohne daß der Mann Schaden nähme, und so, daß der +Pfeil mitten durch den Apfel ginge. Die beiden ersten Arbeiten schienen +wohl nicht so schwer, doch hatte Niemand sie bisher ausführen können, +und zwar deßhalb, weil es nicht mit rechten Dingen zuging. Die +Rennthierkuh besaß nämlich eine so wunderbare Schnelligkeit, daß sie in +einem Tage von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang durch die ganze Welt +hätte laufen können. Wie konnte ein Mensch mit ihr aushalten? Bei dem +zweiten Probestück war Hexerei im Spiel. Eine Hexe hatte sich in den +eisernen Pfortenriegel verwandelt, und wenn der Mann die Leiter +hinanstieg, um den Riegel anzufassen, so packte sie mit höllischer Kraft +die Hand des Unglücklichen, und keine Gewalt konnte sie befreien, bis +die Hexe selber los ließ. Das war aber noch nicht Alles — in demselben +Augenblicke, wo die Hand festgeklemmt war, fing der Pfortenflügel an, +wie vom Winde geschüttelt hin und her zu tanzen. So mußte der an der +Hand festgehaltene Mann bis zum Morgen wie ein Glockenschwengel hin und +her baumeln, und wenn er endlich losgelassen wurde, war er mehr todt als +lebendig. Obendrein lachten der König und die Leute über sein Unglück +und er mußte mit Schande abziehen; auch hatten sich Viele die Schultern +so verrenkt, daß sie zeitlebens nicht mehr arbeiten konnten. Die dritte +Aufgabe konnte nur einem geschickten Schützen gelingen, dessen Hand und +Auge gleich fest und sicher waren. Als Schnellfuß dies Alles erfahren +hatte, ging er nicht gleich zum Könige, sondern suchte erst seine Brüder +wieder auf, die ihn vor der Stadt erwarteten. Nachdem sich die Männer +berathen hatten, fanden sie, daß sie zu Dreien<span class='pagenum'><a name="Page_51" id="Page_51">[S 51]</a></span> diese Dinge wohl zu +Stande bringen könnten, das Verdrießliche war nur, daß sie in den Augen +des Königs als Einer erscheinen mußten, wenn sie den versprochenen +Kampflohn erringen wollten. Die schlauen<a name="FNanchor_17_17" id="FNanchor_17_17"></a><a href="#Footnote_17_17" class="fnanchor">[17]</a> Brüder beschnitten also +ihre Bärte auf gleiche Weise, so daß keinem weder auf der Oberlippe noch +unter dem Kinn die Haare dichter standen als dem andern; und da sie als +Söhne einer Mutter und als Drillinge an Körperbildnug und Geberde wenig +verschieden waren, so konnte ein fremdes Auge den Betrug nicht +herausfinden. Sie ließen sich dann einen gar prächtigen fürstlichen +Anzug machen, der aus Seide und dem kostbarsten Sammet bestand und mit +Gold und blitzenden Edelsteinen verziert war, so daß Alles glänzte und +schimmerte, wie der Sternenhimmel in einer klaren Winternacht. Ehe sie +sich anschickten, die Probearbeiten zu unternehmen, gelobten sich die +Brüder mit einem Eide, daß nur das Loos entscheiden solle, wer von ihnen +des Königs Schwiegersohn werden sollte. Da nun die starken Brüder auf +diese Weise allen künftigen Mißhelligkeiten vorgebeugt hatten, +schmückten sie eines Tages <em class="gesperrt">Schnellfuß</em> mit den prächtigen Kleidern und +schickten ihn zum Könige, damit er die Rennthierkuh auf die Weide führe. +Ging die Sache nach Wunsch, so war der erste große Stein hinweggewälzt, +der bis jetzt alle dreier verhindert hatte, die Brautkammer zu betreten.</p> + +<p><em class="gesperrt">Schnellfuß</em> trat so stolz vor den König hin, als wäre er ein geborener +Königssohn, grüßte mit Anstand<span class='pagenum'><a name="Page_52" id="Page_52">[S 52]</a></span> und bat um Erlaubniß, das Probestück am +andern Morgen zu versuchen. Der König gab sie, fügte aber hinzu: »Gut +wäre es, wenn ihr schlechtere Kleider anzöget, denn unsere Rennthierkuh +läuft unbekümmert durch Sumpf und Moor, immer gerade aus, da könntet ihr +die theuren Kleider verderben.« <em class="gesperrt">Schnellfuß</em> erwiederte: »Wer eure Tochter +freien will, was macht sich der aus Kleidern?« und ging dann zur Ruhe, +um den andern Tag desto munterer zu sein. Des Königs Tochter, die +heimlich durch eine Thürspalte nach dem stattlichen Manne gespäht hatte, +sagte seufzend: »Wenn ich doch dem Rennthier Fußfesseln anlegen könnte, +ich thäte es, um diesen Mann zum Gemahle zu erhalten.«</p> + +<p>Als den andern Morgen die Sonne aufgegangen war, band <em class="gesperrt">Schnellfuß</em> der +Rennthierkuh einen Halfterstrang<a name="FNanchor_18_18" id="FNanchor_18_18"></a><a href="#Footnote_18_18" class="fnanchor">[18]</a> um den Hals und nahm das andere +Ende in die Faust, damit die Kuh sich nicht zu weit entfernen könnte. +Als die Stallthür geöffnet wurde, schoß die Kuh wie der Wind davon, der +Hirte aber lief den Halfter festhaltend neben ihr her, und blieb keinen +Schritt zurück. Der König und die Zuschauer aus der Stadt erstaunten +über die wunderbare Schnelligkeit des Mannes, denn bis hierzu hatte noch +Keiner auch nur ein paar hundert Schritt weit neben der Kuh herlaufen +können. Wiewohl <em class="gesperrt">Schnellfuß</em> sobald keine Ermüdung zu fürchten hatte, so +hielt er es doch für gerathen, die Kuh zu besteigen, sobald er den +Leuten aus den Augen war. Er sprang auf den Rücken des Thieres,<span class='pagenum'><a name="Page_53" id="Page_53">[S 53]</a></span> hielt +sich am Halfter fest und ließ sich weiter tragen. Es war noch früh am +Morgen, als die Rennthierkuh schon merkte, daß von diesem Hirten nicht +loszukommen sei; sie hielt den Schritt an und rupfte das Gras vom Boden. +<em class="gesperrt">Schnellfuß</em> sprang ab und warf sich unter einen Busch, um auszuruhen, +hielt aber den Halfter fest, damit die Kuh nicht davon liefe. Als die +Sonne um Mittag brannte, legte sich auch die Kuh neben ihn in den +Schatten und fing an wiederzukäuen. Nach Mittag versuchte das Thier noch +einige Mal die Schnelligkeit seiner Beine, um dem Hirten zu entkommen, +aber dieser war wie der Wind wieder auf dem Rücken der Kuh, so daß er +seine Beine nicht anzustrengen brauchte. Sehr groß war das Erstaunen des +Königs und der Leute, als sie bei Sonnenuntergang sahen, wie die +störrige Rennthierkuh gleich dem frömmsten Lamme mit ihrem Hirten heim +kehrte. <em class="gesperrt">Schnellfuß</em> führte sie in den Stall, verschloß die Thür und +speiste dann auf Einladung des Königs an dessen Tafel. Nach dem +Abendessen verabschiedete er sich, indem er sagte, er wollte zeitig zur +Ruhe gehen, um die Ermüdung des Tages los zu werden.</p> + +<p>Allein er ging nicht zur Ruhe, sondern begab sich zu seinen Brüdern, die +seiner im Walde harrten. Den anderen Tag sollte <em class="gesperrt">Flinkhand</em> die prächtigen +Kleider anziehen und zum Könige gehen, um das zweite Probestück +auszuführen. Der König, welcher ihn für den Mann von gestern hielt, +lobte seine Hirtenarbeit und wünschte ihm Glück zu seiner heutigen +Aufgabe, nämlich am Abend die Pforte zu verschließen. Des Königs Tochter +hatte wieder durch die Thürspalte nach dem stattlichen<span class='pagenum'><a name="Page_54" id="Page_54">[S 54]</a></span> Manne gespäht +und sagte seufzend: »Wenn ich könnte, ich schaffte die böse Hexe von der +Pforte fort, damit diesem theuren Jünglinge kein Leid geschähe, den ich +mir zum Gemahl wünsche.«</p> + +<p><em class="gesperrt">Flinkhand</em>, der genau wußte, wie es sich mit dem Pfortenriegel verhielt, +ging vom Könige gerades Wegs zum Schmied und ließ sich eine starke +eiserne Hand machen. Als am Abend alle Welt im Schlosse zur Ruhe +gegangen war, machte er Feuer an und ließ darin die Eisenhand +rothglühend werden. Darauf stellte er eine Leiter gegen die Pforte, denn +seine Körperlänge reichte nicht hinan. Von der Leiter aus legte er die +glühende Eisenhand an den Riegel, und in demselben Augenblick hatte die +Hexe, die darin steckte, zugepackt und die Hand ergriffen, welche sie +für eine natürliche hielt. Als sie aber den brennenden Schmerz fühlte, +fing sie so an zu brüllen, daß alle Wände bebten und viele Schläfer im +Schloß durch den Lärm aufgeweckt wurden. Aber <em class="gesperrt">Flinkhand</em> hatte in +demselben Augenblick, wo die Eisenhand ihn selbst vor dem Griffe der +Hexe geschützt hatte, den Riegel vorgeschoben, so daß die Pforte +verschlossen war. Gleichwohl blieb er wach, bis der König am Morgen +aufstand und die Sache selbst in Augenschein nahm. Die Pforte war noch +verriegelt. Der König lobte die Geschicklichkeit des Jünglings, der +schon zwei schwierige Arbeiten ausgeführt hatte und lud ihn zu Mittag zu +Gaste. <em class="gesperrt">Flinkhand</em> aß sich an des Königs Tafel satt und wußte sich auch +angenehm zu unterhalten, bis er endlich um Erlaubniß bat, nach Hause zu +gehen, und auszuruhen, da er die ganze vorige Nacht kein Auge zugethan, +auch noch mancherlei Vorbereitungen für den<span class='pagenum'><a name="Page_55" id="Page_55">[S 55]</a></span> kommenden Tag zu treffen +habe. Er ging dann in den Wald, wo die Brüder ihn längst erwarteten und +wissen wollten, wie das Probestück abgelaufen wäre. Da nun die starken +Brüder sich einander nicht beneideten und keiner voraus wissen konnte, +wen endlich das Glück treffen würde, Schwiegersohn des Königs zu werden, +so freuten sie sich gemeinschaftlich des gelungenen Werkes.</p> + +<p>Am folgenden Morgen wurde <em class="gesperrt">Scharfauge</em> mit dem prächtigen königlichen +Anzuge bekleidet und ausgeschickt, um das dritte Probestück auszuführen. +Nicht minder stolz und anmuthig wie die beiden andern Brüder trat er vor +den König, und bat um die Erlaubniß, das letzte Probestück zu +unternehmen. Der König sagte: »Ich freue mich sehr, daß es euch möglich +gewesen ist zwei Arbeiten zu vollbringen, welche bis auf den heutigen +Tag noch Keiner ausführen konnte, so viel ihrer auch von allen Seiten +zusammenströmten, um den Versuch zu machen. Dennoch fürchte ich, daß ihr +die dritte Arbeit nicht zu Stande bringen werdet, denn das Ziel, welches +ihr treffen müßt, steht sehr hoch und ist ein kleiner Körper.« +<em class="gesperrt">Scharfauge</em> erwiederte: »Wer euer Schwiegersohn werden will, der darf +nichts für schwer achten, denn so großes Glück fällt Niemanden im +Schlafe zu.« Darauf gab der König die Erlaubniß, am folgenden Morgen das +Probestück zu unternehmen. Aber des Königs Tochter, welche wiederum +durch die Thürspalte nach dem Jüngling gespäht hatte, seufzte mit +Thränen in den Augen: »Könnte ich etwas für diesen Jüngling thun, daß er +morgen zum dritten Male Sieger bliebe, ich gäbe Hab' und Gut dafür —um +ihn zum Gemahl zu erhalten.«<span class='pagenum'><a name="Page_56" id="Page_56">[S 56]</a></span></p> + +<p>War schon das erste und zweite Mal eine große Menge Volks von allen +Seiten herbei gekommen, um die Wunderwerke zu sehen, so waren heute die +Tausende gar nicht mehr zu zählen. Auf dem Gipfel eines Berges stand der +Apfelträger, der in solcher Höhe nicht viel größer aussah als eine +Krähe, und ihm sollte <em class="gesperrt">Scharfauge</em> den Apfel vom Munde weg schießen, so +daß der Pfeil ihn in der Mitte spaltete. Niemand hielt die Sache für +möglich. Gleichwohl fürchtete der Mann oben, der den Apfel am Stiele im +Munde zu halten hatte, der Schütze könnte doch vielleicht in's Ziel +treffen, darum beschloß er in seinem mißgünstigen Sinne, dem Schützen +die an sich schwere Aufgabe noch schwerer zu machen. Er faßte nicht, wie +vorgeschrieben war, den Apfel mit den Zähnen am Stiele, sondern steckte +den halben Apfel in den Mund und dachte: je kleiner ich den Gegenstand +mache, auf den er zielen muß, desto weniger kann er sehen und treffen. +Aber für <em class="gesperrt">Scharfauge</em> war der halbe Apfel nicht minder deutlich als der +ganze. Er zielte einige Augenblicke mit seinem durchdringenden Blicke, +schnellte den Pfeil vom Bogen und o Wunder! der Apfel war mitten +durchgespalten, so daß beide Hälften genau gleiche Größe hatten. Der +neidische Apfelhüter hatte zugleich den verdienten Lohn für seine +Bosheit erhalten, denn da <em class="gesperrt">Scharfauge</em> gerade auf die Mitte des Apfels +gezielt hatte, der Mann aber dessen größere Hälfte im Munde hielt, so +hatte der Pfeil von beiden Seiten des Mundes ein Stück Fleisch mit +weggerissen. Als der entzwei geschossene Apfel dem Könige zum Beweise +überreicht wurde, brach die Menge in ein Freudengeschrei aus. Ein +solches Wunder hatte sich noch<span class='pagenum'><a name="Page_57" id="Page_57">[S 57]</a></span> nicht begeben. Des Königs Tochter vergoß +Freudenthränen, da ihres Herzens Wunsch in Erfüllung gegangen war; der +König aber lud <em class="gesperrt">Scharfauge</em> ein, zu ihm zu kommen, damit er ihn sofort +seiner Tochter verloben könne. Scharfauge lehnte es ehrfurchtsvoll ab +mit den Worten: »Vergönnt mir, den heutigen Tag mich nach der Arbeit zu +erholen! morgen wollen wir uns der Freude ergeben!« Er wollte sich +nämlich keines Fehls gegen seine Brüder schuldig machen, welche gleich +ihm ihren Theil der Arbeit gethan hätten: das Loos mußte entscheiden, +welchem von ihnen der Lohn zufallen sollte.</p> + +<p>Als Scharfauge zu seinen Brüdern kam, erzählte er ihnen den Hergang, und +sie freuten sich erst noch mit einander wie die Kinder, ehe sie das Loos +warfen. Nach Gottes Fügung brachte das Loos dem <em class="gesperrt">Scharfauge</em> Glück; er +sollte nun des Königs Schwiegersohn werden. Noch einmal schliefen die +Brüder beisammen, dann schlug die bittere Trennungsstuude, <em class="gesperrt">Scharfauge</em> +begab sich in die Königsstadt, <em class="gesperrt">Schnellfuß</em> und <em class="gesperrt">Flinkhand</em> machten sich in +die Heimath zu ihren Eltern auf.</p> + +<p>Nach ihrer Rückkehr kauften die beiden reichen Brüder sich viele Güter +und Ländereien, so daß ihr Gebiet bald einem kleinen Königreiche glich. +<em class="gesperrt">Scharfauge</em> hatte Alles seinen Eltern und Brüdern geschenkt, da er, als +Schwiegersohn des Königs, seines eigenen Vermögens nicht mehr bedurfte. +Die Eltern freuten sich über das Glück ihrer Kinder, nur war der Mutter +das Herz oft schwer, weil ihr dritter Sohn so weit von ihnen in der +Fremde lebte, daß sie nicht hoffen durfte ihn wieder zu sehen. Als aber +die Eltern später gestorben waren, da hatten <em class="gesperrt">Schnellfuß</em> und<span class='pagenum'><a name="Page_58" id="Page_58">[S 58]</a></span> <em class="gesperrt">Flinkhand</em> +keine Ruhe mehr in der Heimath, sie verpachteten ihre Besitzungen und +streiften wieder in fremden Landen umher, um neue Reichthümer und +Schätze durch ihre Gaben zu erwerben. Wie weit ihre Wanderung reichte, +was für Thaten sie auf derselben verrichteten und ob sie später wieder +in die Heimath zurückkehrten, darüber kann ich euch nichts weiter +melden. Aber <em class="gesperrt">Scharfauge's</em> Geschlecht muß noch heutiges Tages in dem +Lande wohnen, wo der Stammvater einst das Glück hatte, Schwiegersohn des +Königs zu werden.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_59" id="Page_59">[S 59]</a></span></p> +<h2>4. Der Tontlawald.</h2> + + +<p>Zu alten Zeiten stand in Allentacken<a name="FNanchor_19_19" id="FNanchor_19_19"></a><a href="#Footnote_19_19" class="fnanchor">[19]</a> ein schöner Hain, der +Tontlawald hieß, den aber kein Mensch zu betreten wagte. Dreistere, die +zufällig einmal näher gekommen waren und gespäht hatten, erzählten, sie +hätten unter dichten Bäumen ein verfallenes Haus gesehen und um dasselbe +herum menschenähnliche Wesen, von denen der Rasen wie von einem +Ameisenhaufen wimmelte. Die Geschöpfe hätten rußig und zerlumpt +ausgesehen wie die Zigeuner, und es wären namentlich viel alte Weiber +und halbnackte Kinder darunter gewesen. Als einst ein Bauer, der in +finsterer Nacht von einem Schmause nach Hause ging, etwas tiefer in den +Tontlawald hineingerathen war, hatte er seltsame Dinge gesehen. Um ein +helles Feuer war eine Unzahl Weiber und Kinder versammelt, einige saßen +am Boden, die andern tanzten auf dem Plan. Ein altes Weib hatte einen +breiten eisernen Schöpflöffel in der Hand, mit welchem sie von Zeit zu +Zeit die glühende Asche über den Rasen hinstreute, worauf die Kinder mit +Geschrei in die Luft hinauf fuhren und wie<span class='pagenum'><a name="Page_60" id="Page_60">[S 60]</a></span> Nachteulen um den +aufsteigenden Rauch flatterten, bis sie zuletzt wieder herabkamen. Dann +trat aus dem Walde ein kleiner alter langbärtiger Mann, der auf dem +Rücken einen Sack trug, der länger war als er selbst. Weiber und Kinder +liefen dem Männlein lärmend entgegen, tanzten um ihn herum und suchten +ihm den Sack vom Rücken zu reißen, aber der Alte machte sich von ihnen +los. Jetzt sprang eine schwarze Katze, so groß wie ein Fohlen, die mit +glühenden Augen auf der Thürschwelle gesessen, auf des Alten Sack und +verschwand dann in der Hütte. Weil aber dem Zuschauer schon der Kopf +brannte und es ihm vor den Augen flimmerte, so blieb auch seine +Erzählung unsicher, und man konnte nicht recht dahinter kommen, was +daran wahr und was falsch sei. Auffallend war es, daß von Geschlecht zu +Geschlecht solche Dinge vom Tontlawalde erzählt wurden; aber Niemand +wußte genauere Auskunft zu geben. Der Schwedenkönig hatte mehr als +einmal befohlen, den gefürchteten Wald zu fällen, aber die Leute wagten +es nicht den Befehl zu vollziehen. Einmal hieb ein dreister Mann mit +einer Axt in einige Bäume, da floß sogleich Blut und man hörte +Jammergeschrei wie von gequälten Menschen.<a name="FNanchor_20_20" id="FNanchor_20_20"></a><a href="#Footnote_20_20" class="fnanchor">[20]</a> Der erschreckte +Holzfäller nahm zitternd und bebend die Flucht; seitdem war kein noch so +strenger Befehl, kein noch so reichlicher Lohn im Stande,<span class='pagenum'><a name="Page_61" id="Page_61">[S 61]</a></span> wieder einen +Holzfäller in den Tontlawald zu locken. —Sehr wunderbar erschien es +auch, daß weder ein Weg aus dem Walde heraus noch einer hinein führte; +auch sah man das ganze Jahr durch keinen Rauch aufsteigen, der das +Dasein menschlicher Wohnstätten verrathen hätte. Groß war der Wald +nicht, und rings um ihn her war flaches Feld, so daß man freien Ausblick +auf den Wald hatte. Hausten wirklich hier von Alters her lebende Wesen, +so konnten sie doch nicht anders in dem Walde ein- und ausgehen als auf +unterirdischen Schlupfwegen, oder sie mußten auch wie die Hexen bei +nächtlicher Weile, wo Alles ringsum schlief, durch die Luft fahren. Das +Letztere ist, dem Erzählten zufolge, das Wahrscheinlichere. Vielleicht +erhalten wir über diese Wundervögel mehr Auskunft, wenn wir den Wagen +der Erzählung etwas weiterlenken und im nächsten Dorfe ausruhen.</p> + +<p>Einige Werst vom Tontlawalde lag ein großes Dorf. Ein verwittweter Bauer +hatte unlängst wieder ein junges Weib genommen und, wie das wohl oft +vorkommt, ein rechtes Schüreisen in's Haus gebracht, so daß Verdruß und +Zank kein Ende nahmen. Das von der ersten Frau nachgebliebene +siebenjährige Mädchen, mit Namen Else, war ein kluges sinniges Geschöpf. +Dieser Armen machte aber die böse Stiefmutter das Leben ärger als die +Hölle, sie puffte und knuffte das Kind vom Morgen bis zum Abend und gab +ihm schlechteres Essen als den Hunden. Da die Frau die Hosen anhatte, so +konnte die Tochter sich auf ihren Vater nicht stützen: der Hansdampf +mußte ja selbst nach des Weibes Pfeife tanzen. Länger als zwei Jahre +hatte Else dieses schwere Leben ertragen und hatte viele Thränen +vergossen. Da ging sie eines<span class='pagenum'><a name="Page_62" id="Page_62">[S 62]</a></span> Sonntags mit andern Dorfkindern aus, um +Beeren zu pflücken. Schlendernd, nach Kinderart, waren sie unvermerkt an +den Rand des Tontlawaldes gekommen, wo sehr schöne Erdbeeren wuchsen, so +daß der Rasen ganz roth davon war. Die Kinder aßen von den süßen Beeren +und pflückten noch soviel in ihre Körbchen, als jedes konnte. Plötzlich +rief ein älterer Knabe, der die gefürchtete Stelle erkannt hatte: +»Fliehet, fliehet! wir sind im Tontlawalde!« Dies Wort war schlimmer als +Donner und Blitz, alle Kinder nahmen Reißaus, als wären ihnen die +Tontla-Unholde schon auf den Fersen. Else, welche etwas weiter gegangen +war als die Andern, und unter den Bäumen sehr schöne Beeren gefunden +hatte, hörte wohl das Rufen des Knaben, mochte sich aber nicht von dem +Beerenfleck trennen. Sie dachte wohl: Die Tontla-Bewohner können doch +nicht schlimmer sein als meine Stiefmutter daheim. Da kam ein kleiner +schwarzer Hund mit einem silbernen Glöcklein um den Hals bellend auf sie +zu. Auf dies Gebell eilte ein kleines Mädchen in prächtigen seidenen +Kleidern herbei, verwies den Hund zur Ruhe und sagte dann zur Else: +»Sehr gut, daß du nicht mit den andern Kindern davongelaufen bist. +Bleibe mir zur Gesellschaft hier, dann wollen wir gar schöne Spiele +spielen und alle Tage miteinander gehen Beeren zu pflücken; die Mutter +wird es mir gewiß nicht abschlagen, wenn ich sie darum bitte. Komm, laß +uns sogleich zu ihr gehen!« Damit faßte das prächtige fremde Kind Else +bei der Hand und führte sie tiefer in den Wald hinein. Der kleine +schwarze Hund bellte jetzt vor Vergnügen, sprang an Elsen herauf und +leckte ihr die Hand, als wären sie alte Bekannte.<span class='pagenum'><a name="Page_63" id="Page_63">[S 63]</a></span></p> + +<p>Ach du liebe Zeit, was für Wunder und Herrlichkeit tauchten jetzt vor +Else's Augen auf. Sie glaubte sich im Himmel zu befinden. Ein prächtiger +Garten, mit Obstbäumen und Beerensträuchern angefüllt, stand vor ihnen; +auf den Zweigen der Bäume saßen Vögel, bunter als die schönsten +Schmetterlinge, manche mit Gold- und Silberfedern bedeckt. Und die Vögel +waren nicht scheu, die Kinder konnten sie nach Belieben in die Hand +nehmen. Mitten im Garten stand das Wohnhaus, aus Glas und Edelsteinen +aufgeführt, so daß Wände und Dach glänzten wie die Sonne. Eine Frau in +prächtigen Kleidern saß vor der Thür auf einer Bank und fragte die +Tochter: »Was bringst du da für einen Gast?« Die Tochter antwortete: +»Ich fand sie allein im Walde und nahm sie mir zur Gesellschaft mit. +Erlaubst du, daß sie hier bleibt?« Die Mutter lächelte, sagte aber kein +Wort, sondern musterte Else mit scharfem Blick vom Kopf bis zu den +Füßen. Dann hieß sie Else näher treten, streichelte ihre Wangen und +fragte freundlich, wo sie zu Hause sei, ob ihre Eltern noch lebten, und +ob sie den Wunsch habe, hier zu bleiben? Else küßte der Frau die Hand, +fiel vor ihr nieder, umfaßte ihre Kniee und erwiederte dann unter +Thränen: »Die Mutter ruht schon lange unter dem Rasen.</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">Mutter ward hinweg getragen<br /></span> +<span class="i0">Liebe zog mit ihr von dannen!<a name="FNanchor_21_21" id="FNanchor_21_21"></a><a href="#Footnote_21_21" class="fnanchor">[21]</a><br /></span> +</div></div> + +<p>Der Vater lebt wohl noch, aber was hilft mir das, die Stiefmutter haßt +mich und schlägt mich unbarmherzig alle Tage. Nichts kann ich ihr recht +machen. Bitte,<span class='pagenum'><a name="Page_64" id="Page_64">[S 64]</a></span> Goldfrauchen, laßt mich hier bleiben! Laßt mich die +Herde hüten, oder gebt mir andere Arbeit, ich will Alles thun und euch +gehorchen, aber schickt mich nur nicht zur Stiefmutter zurück! Sie +schlüge mich halb todt, weil ich nicht mit den anderen Dorfkindern +gekommen bin.« Die Frau lächelte und sagte: »Wir wollen sehen, was mit +dir zu machen ist.« Dann erhob sie sich von der Bank und trat in's Haus. +Die Tochter aber sagte zur Else: »Sei getrost, meine Mutter ist +freundlich! Ich sah an ihrem Blicke, daß sie unsere Bitte gewähren wird, +wenn sie die Sache näher überlegt hat.« Sie ging dann ihrer Mutter nach +und hieß Else warten. Diese bebte zwischen Furcht und Hoffnung, und +ungeduldig harrte sie des Bescheides, den die Tochter bringe würde.</p> + +<p>Nach einer Weile kam die Tochter mit einem Schächtelchen in der Hand +zurück und sagte: »Die Mutter will, daß wir heute mit einander spielen, +derweil sie deinetwegen Weiteres beschließen wird. Ich hoffe, du bleibst +uns, ich möchte dich nicht mehr von mir lassen. Bist du schon zur See +gefahren?« Else machte große Augen und fragte dann: »Zur See? was ist +das? davon habe ich noch nie etwas gehört.« »Du sollst es sogleich +sehen,« erwiederte das Fräulein und nahm den Deckel vom Schächtelchen. +Da lagen ein Blatt von Frauenmantel, eine Muschelschale und zwei +Fischgräten; auf dem Blatte schimmerten ein Paar Tropfen, diese +schüttete das Kind auf den Rasen. Augenblicklich waren Garten, Rasen und +was sonst noch da gestanden hatte, verschwunden, als hätte die Erde es +verschlungen: und soweit das Auge reichte, war nur Wasser sichtbar, das +in der Ferne mit dem<span class='pagenum'><a name="Page_65" id="Page_65">[S 65]</a></span> Himmel zusammenzustoßen schien. Nur unter ihren +Füßen war ein kleiner Fleck trocken geblieben. Jetzt setzte das Fräulein +die Muschelschale auf's Wasser und nahm die Fischgräten zur Hand. Die +Muschelschale schwoll an, und dehnte sich zu einem hübschen Nachen aus, +worin ein Duzend Kinder und wohl noch mehr Platz gehabt hätten. Die +Kinder setzten sich nun selbander in den Nachen, Else mit Zagen, das +Fräulein aber lachte; die Gräten, welche sie hielt, wurden zu Rudern. +Von den Wellen wurden die Mädchen fortgeschaukelt, wie in einer Wiege; +nach und nach kamen andere Kähne in ihre Nähe, in jedem saßen Menschen, +welche sangen und fröhlich waren. »Wir müssen ihren Gesang beantworten,« +sagte das Fräulein, aber Else verstand nicht zu singen. Um so schöner +sang das Fräulein. Von dem, was die andern sangen, konnte Else nicht +viel verstehen, nur ein Wort kehrte immer wieder, nämlich »Kiisike.« +Else fragte, was es bedeute, und das Fräulein antwortete: »Das ist mein +Name.« Ich weiß nicht, wie lange sie so spazieren gefahren waren, da +hörten sie rufen: »Kinder, kommt nach Hause, es wird Abend.« Kiisike +nahm ihr Körbchen aus der Tasche, in welchem das Blatt lag, und tauchte +es in's Wasser, so daß einige Tropfen daran hängen blieben, — +augenblicklich waren sie in der Nähe des prächtigen Hauses, mitten im +Garten; Alles ringsum erschien trocken und fest wie zuvor, Wasser war +nirgends. Die Muschelschale und die Fischgräten wurden sammt dem Blatte +in's Körbchen gelegt, und die Kinder gingen in's Haus.</p> + +<p>In einem großen Gemache saßen um einen Eßtisch vier und zwanzig Frauen, +alle in prächtigen Kleidern,<span class='pagenum'><a name="Page_66" id="Page_66">[S 66]</a></span> als wären sie auf einer Hochzeit. Oben am +Tische saß die Herrin auf einem goldenen Stuhle.</p> + +<p>Else wußte nicht, woher die Augen nehmen, um all die Herrlichkeit zu +betrachten, die ihr hier entgegenschimmerte. Auf dem Tische standen +dreizehn Gerichte, alle in goldenen und silbernen Schüsseln; ein Gericht +aber blieb unberührt und wurde abgetragen, wie es aufgetragen war, ohne +daß man den Deckel gelüftet hätte. Else aß von den köstlichen Speisen, +die noch besser schmeckten als Kuchen, und es kam ihr wieder vor, als +müßte sie im Himmel sein; auf Erden konnte sie sich dergleichen nicht +denken. Bei Tische wurde leise gesprochen, aber in einer fremden +Sprache, von der Else kein Wort verstand. Die Frau sagte jetzt einige +Worte zu einer Magd, die hinter ihrem Stuhle stand; die Magd eilte +hinaus und kam bald mit einem kleinen alten Manne wieder, dessen Bart +länger war als er selber. Der Alte machte einen Bückling und blieb am +Thürpfosten stehen. Die Frau deutete mit dem Finger auf Else und sagte: +»Betrachte dir dieses Bauermädchen, ich will es als Pflegekind annehmen. +Forme mir ein Abbild von ihr, welches wir morgen statt ihrer in's Dorf +schicken können.« Der Alte sah Else scharf an, als wolle er das Maaß +nehmen, verbeugte sich dann wieder vor der Frau und verließ das Gemach. +Nach Tische sagte die Frau freundlich zu Else: »Kiisike hat mich +gebeten, ich möchte dich ihr zur Gesellschaft hier behalten und du +selbst sagtest, du hättest Lust hier zu bleiben. Ist dem nun wirklich +so?« Else fiel auf die Kniee, und küßte der Frau Hände und Füße zum Dank +für die barmherzige Rettung aus den Klauen der bösen<span class='pagenum'><a name="Page_67" id="Page_67">[S 67]</a></span> Stiefmutter. Die +Frau aber hob sie vom Boden auf, streichelte ihr den Kopf und die +thränenfeuchten Wangen und sagte: »Wenn du immer ein folgsames gutes +Kind bleibst, so wird es dir gut gehen, ich will für dich sorgen und dir +allen nöthigen Unterricht geben lassen, bis du erwachsen bist und dich +selbst fortbringen kannst. Meine Fräulein, welche Kiisike unterrichten, +werden auch dir behilflich sein, alle feinen Handarbeiten zu erlernen +und dir andere Kenntnisse zu erwerben.«</p> + +<p>Nach einem Weilchen kam der Alte zurück mit einer langen mit Lehm +gefüllten Mulde auf der Schulter, und einem kleinen Deckelkörbchen in +der linken Hand. Er setzte Mulde und Körbchen an die Erde, nahm ein +Stück Lehm und machte daraus eine Puppe, welche Menschengestalt hatte. +In den Leib, der hohl geblieben war, legte der Alte drei gesalzene +Strömlinge und ein Stückchen Brot. Dann machte er in der Brust der Puppe +ein Loch, nahm aus dem Korbe einen ellenlangen schwarzen Wurm und ließ +ihn durch das Loch hineinkriechen. Die Schlange zischte und wand sich +mit dem Schwanze, als sträubte sie sich, aber sie mußte doch hinein. +Nachdem die Frau die Puppe von allen Seiten betrachtet hatte, sagte der +Alte: »Jetzt brauchen wir nichts weiter als ein Tröpflein von dem Blute +des Bauermädchens.« Else wurde blaß vor Schrecken, als sie das hörte; +sie meinte ihre Seele damit dem Bösen zu verkaufen.<a name="FNanchor_22_22" id="FNanchor_22_22"></a><a href="#Footnote_22_22" class="fnanchor">[22]</a> Aber die Frau +tröstete sie:<span class='pagenum'><a name="Page_68" id="Page_68">[S 68]</a></span> »Fürchte nichts! Wir wollen dein Blut nicht zu etwas +Bösem sondern lediglich zu etwas Gutem und zu deinem künftigen Glücke.« +Dann nahm sie eine kleine goldene Nadel, stach damit der Else in den Arm +und gab die Nadel dem Alten, der sie in das Herz der Puppe bohrte. +Darauf legte er diese in den Korb, damit sie darin wachse und versprach, +am nächsten Morgen der Frau zu zeigen, was für ein Werk aus seinen +Händen hervorgegangen sei. Man ging hernach zur Ruhe, und auch Else +wurde von einer Stubenmagd in ihre Schlafkammer gebracht, wo ihr ein +weiches Bett bereitet wurde.</p> + +<p>Als sie am andern Morgen in dem seidenen Bette auf weichem Pfühl +erwachte und ihre Augen weit auf machte, fand sie sich mit einem feinen +Hemde bekleidet und sah reiche Gewänder auf einem Stuhle vor dem Bette +liegen. Dann trat ein Mädchen in's Zimmer und hieß Else sich waschen und +kämmen, worauf es sie vom Kopf bis zum Fuß mit den schönen Kleidern +schmückte, als wäre sie das stolzeste deutsche Kind. Nichts machte Elsen +so viel Freude als die Schuhe. Sie war ja bis jetzt fast immer barfuß +gegangen. Nach Else's Meinung konnten auch des Königs Töchter keine +schöneren Schuhe haben. In ihrer Freude über die Schuhe hatte sie nicht +Zeit die übrigen Stücke des Anzugs zu beachten, obschon Alles prachtvoll +war. Die Bauernkleider, welche sie mitgebracht hatte, waren in der Nacht +fortgenommen worden, weshalb? das sollte sie später erfahren. Ihre +Kleider<span class='pagenum'><a name="Page_69" id="Page_69">[S 69]</a></span> waren nämlich der Lehmpuppe angelegt worden, welche an ihrer +Statt in's Dorf gehen sollte. Die Puppe war in der Nacht in ihrem +Behälter angeschwollen und am Morgen ein vollständiges Ebenbild der Else +geworden, und ging einher wie ein von Gott geschaffenes Wesen. Else +erschrack, als sie die Puppe erblickte, die ganz so aussah, wie sie +selbst gestern ausgesehen hatte. Als die Frau Else's Erschrecken +bemerkte, sagte sie: »Fürchte dich nicht, Kind! Das Lehmbild kann dir +keinen Schaden zufügen, wir jagen es zu deiner Stiefmutter, damit es ihr +als Prügelklotz diene! Mag sie es schlagen, so viel sie will, das +steinharte Lehmbild fühlt keinen Schmerz. Aber wenn das böse Weib nicht +andern Sinnes wird, so kann dein Ebenbild einmal die verdiente Strafe an +ihr vollziehen.«</p> + +<p>Von diesem Tage an lebte Else so glücklich wie ein verwöhntes deutsches +Kind, das in goldener Wiege geschaukelt worden; sie hatte weder Sorge +noch Mühe; das Lernen wurde ihr von Tag zu Tage leichter und das vorige +harte Leben im Dorfe erschien ihr nur noch wie ein böser Traum. Aber je +tiefer sie das Glück dieses Lebens empfand, desto wunderbarer erschien +ihr auch Alles. Auf natürliche Weise konnte es nicht zugehen — es mußte +eine unbekannte unerklärliche Macht hier walten. Auf dem Hofe stand ein +Granitblock etwa zwanzig Schritt vom Hause. Wenn die Essenszeit +heranrückte, ging der Alte mit dem langen Barte an den Block, zog ein +silbernes Stäbchen aus dem Busen und klopfte damit dreimal an, so daß es +hell wiederklang. Dann sprang ein großer goldener Hahn heraus und setzte +sich auf den Block. So oft er in dieser Stellung mit den Flügeln schlug +und<span class='pagenum'><a name="Page_70" id="Page_70">[S 70]</a></span> krähte, kam aus dem Block etwas hervor, zuerst ein langer gedeckter +Tisch, auf dem so viel Teller standen als essende Personen waren; der +Tisch ging von selbst in's Haus, als trügen ihn des Windes Flügel. Wenn +der Hahn zum zweiten Male krähte, kamen Stühle dem Tische nachgegangen; +darauf eine Schüssel mit Speise nach der andern — Alles sprang aus dem +Block heraus und flog wie der Wind zum Eßtisch. Desgleichen +Methflaschen, Aepfel und Beeren; Alles schien beseelt, so daß Niemand zu +heben noch zu tragen brauchte. Wenn Alle sich satt gegessen hatten, +klopfte der Alte zum zweiten Male mit dem Silberstäbchen an den Block, +und dann krähte der goldene Hahn Flaschen, Schüsseln, Teller, Stühle und +Tisch wieder in den Block hinein. Wenn aber die dreizehnte Schüssel kam, +aus welcher niemals gegessen wurde, so lief eine große schwarze Katze +der Schüssel nach, und beide blieben auf dem Block neben dem Hahn, bis +der Alte sie forttrug. Er nahm die Schüssel in die Hand, die Katze in +den Arm und den goldenen Hahn auf die Schulter, und verschwand mit ihnen +unter dem Block. Nicht nur Speisen und Getränke, sondern auch alle +übrigen Bedürfnisse des Haushalts, selbst Kleider kamen auf das Krähen +des Hahns aus dem Block hervor. — Obwohl bei Tische wenig und immer in +einer fremden Sprache gesprochen wurde, welche Else nicht verstand, so +wurde dafür desto mehr geredet und gesungen, wenn die Frau mit ihren +Fräulein in Zimmer und Garten weilte. Allmählich lernte Else auch die +Sprache ihrer Gefährtinnen auffassen; sie verstand fast Alles, was +gesagt wurde, aber Jahre verstrichen, ehe ihre eigne Zunge sich den +fremden<span class='pagenum'><a name="Page_71" id="Page_71">[S 71]</a></span> Lauten gewöhnte. Einst hatte Else die Kiisike gefragt, warum +die dreizehnte Schüssel täglich auf den Tisch komme, da doch Niemand +daraus esse, aber Kiisike konnte es ihr nicht erklären. Sie mußte es +aber ihrer Mutter gesagt haben, denn nach einigen Tagen ließ diese Elsen +zu sich rufen und sprach zu ihr mit ernstem Ausdruck: »Beschwere dein +Herz nicht mit unnützen Grübeleien. Du möchtest wissen, warum wir +niemals aus der dreizehnten Schüssel essen. Sieh, liebes Kind, das ist +die Schüssel <em class="gesperrt">verborgenen</em> Segens; wir dürfen sie nicht anrühren, sonst +würde es mit unserem glücklichen Leben zu Ende sein. Auch mit den +Menschen würde es auf dieser Welt viel besser stehn, wenn sie nicht in +ihrer Habsucht alle Gaben an sich rissen, ohne dem himmlischen +Segenspender irgend etwas zum Danke zu lassen.<a name="FNanchor_23_23" id="FNanchor_23_23"></a><a href="#Footnote_23_23" class="fnanchor">[23]</a> Habsucht ist der +Menschen größter Fehler!«</p> + +<p>Die Jahre verstrichen Elsen in ihrem Glücke pfeilgeschwind, sie war zur +blühenden Jungfrau herangewachsen und hatte Vieles gelernt, womit sie in +ihrem Dorfe ihr Leben lang nicht bekannt geworden wäre. Kiisike aber war +immer noch dasselbe kleine Kind wie an dem Tage, wo sie das erste Mal +mit Elsen im Walde zusammen getroffen war. Die Fräulein, welche bei der +Frau vom Hause lebten, mußten Kiisike und Else täglich einige Stun<span class='pagenum'><a name="Page_72" id="Page_72">[S 72]</a></span>den +im Lesen und Schreiben und in allerlei feinen Handarbeiten unterweisen. +Else begriff Alles gut, aber Kiisike hatte mehr Sinn für kindliche +Spiele als für nützliche Beschäftigung. Wenn ihr die Laune kam, so warf +sie die Arbeit weg, nahm ihr Schächtelchen und lief in's Freie, um See +zu spielen, was ihr Niemand übel nahm. Manchmal sagte sie zu Elsen: +»Schade, daß du so groß geworden bist, du kannst nun nicht mehr mit mir +spielen.«</p> + +<p>Als jetzt neun Jahre in dieser Weise verflossen waren, ließ die Frau +eines Abends Else in ihr Schlafzimmer rufen. Else wunderte sich darüber, +denn um diese Zeit hatte die Frau sie noch niemals zu sich kommen +lassen. Das Herz schlug ihr so heftig, daß es zu springen drohte. Als +sie über die Schwelle trat, sah sie, daß die Wangen der Frau geröthet +waren, ihre Augen voll Thränen standen, welche sie rasch trocknete, als +wollte sie dieselben vor Elsen verbergen. »Liebes Pflegkind,« begann die +Frau, »die Zeit ist gekommen, wo wir scheiden müssen.« »<em class="gesperrt">Scheiden</em>?« rief +Else und warf sich schluchzend der Frau zu Füßen. »Nein, theure Frau, +das kann nimmermehr geschehen, bis uns einst der Tod trennt. Ihr habt +mich einmal huldreich aufgenommen, darum verstoßt mich nicht wieder!« +Die Frau sagte beschwichtigend: »Kind, sei ruhig! Du weißt ja noch gar +nicht, was ich für dein Glück thun will. Du bist herangewachsen und ich +darf dich hier nicht länger in Haft halten. Du mußt wieder unter +Menschen gehen, wo Glückspfade deiner warten.« Else aber bat +flehentlich: »Theure Frau, verstoßet mich nicht. Ich sehne mich nach +keinem anderen Glücke, als bei euch zu leben und zu sterben. Macht mich +zur Stubenmagd oder gebt mir<span class='pagenum'><a name="Page_73" id="Page_73">[S 73]</a></span> andere Arbeit, nach eurem Belieben, aber +schickt mich nicht fort in die weite Welt. Da wäre es besser gewesen, +ihr hättet mich bei der Stiefmutter im Dorfe gelassen, als daß ihr mich +auf so viele Jahre in den Himmel brachtet, um mich jetzt wieder in die +Hölle zu stoßen.« »Still, liebes Kind!« sagte die Frau — »du begreifst +nicht, was ich zu deinem Glücke zu thun verpflichtet bin, wie sehr es +mich auch schmerzt. Aber Alles muß so sein, wie ich es mache. Du bist +ein sterbliches Menschenkind, deine Jahre nehmen zu ihrer Zeit ein Ende +und deshalb darfst du nicht länger hier bleiben. Ich und die mich +umgeben haben wohl Menschengestalt, aber wir sind nicht Menschen, wie +ihr, sondern Geschöpfe höherer Art und euch unbegreiflich. Du wirst in +der Ferne einen lieben Gemahl finden, der für dich geschaffen ist, und +wirst glücklich mit ihm sein, bis eure Tage sich zu Ende neigen. Die +Trennung von dir wird mir nicht leicht, aber es muß sein, und deßhalb +mußt du dich ruhig darein fügen.« Dann strich sie mit ihrem goldenen +Kamme durch Elsens Haar und hieß sie zu Bette gehen; aber wo sollte die +arme Else in dieser Nacht den Schlaf hernehmen? Das Leben kam ihr vor +wie ein dunkler sternenloser Nachthimmel.</p> + +<p>Während wir Else ihrem Kummer überlassen, wollen wir uns ins Dorf +begeben, um zu sehen, wie die Sachen auf dem väterlichen Hofe gehen, wo +das <em class="gesperrt">Lehmbild</em> an ihrer Statt der Prügelklotz ihrer Stiefmutter war. Daß +ein böses Weib im Alter nicht besser wird, ist eine bekannte Sache; man +erfährt wohl, daß aus einem hitzigen Jünglinge im Alter ein frommes Lamm +wird, aber kommt ein Mädchen, das kein gutes Herz hat, unter die Haube,<span class='pagenum'><a name="Page_74" id="Page_74">[S 74]</a></span> +so wird sie auf die alten Tage wie ein reißender Wolf. Wie ein +Höllenbrand quälte die Stiefmutter das Lehmbild Tag und Nacht, aber dem +starren Geschöpfe, dessen Körper keinen Schmerz empfand, schadete es +nicht. Wollte der Mann einmal dem Kinde zu Hülfe kommen, so setzte es +für ihn gleichfalls Prügel, zum Lohn für seinen Versuch Frieden zu +stiften. Eines Tages hatte die Stiefmutter ihre Lehmtochter wieder +fürchterlich geschlagen und drohte ihr dann, sie umzubringen. Wüthend +packte sie das Lehmbild mit beiden Händen an der Gurgel, um es zu +erwürgen, siehe, da fuhr eine schwarze Schlange zischend aus des Kindes +Munde, und stach der Stiefmutter in die Zunge, so daß sie todt +niederfiel, ohne einen Laut von sich zu geben. Als der Mann Abends nach +Hause kam, fand er die todte Frau dick aufgeschwollen am Boden liegen; +die Tochter war nirgends zu finden. Auf sein Geschrei kamen die +Dorfbewohner herbei. Die Nachbarn hatten wohl um Mittag einen großen +Lärm im Hause gehört, aber da so etwas fast täglich dort vorfiel, war +Niemand hingegangen. Nachmittags war Alles still geblieben, aber Niemand +hatte die Tochter erblickt. Der Körper der todten Frau wurde nun +gewaschen und gekleidet, und es wurden für die Todtenwächter zur Nacht +Erbsen in Salz gekocht. Der müde Mann ging in seine Kammer, um zu ruhen, +und dankte sicherlich seinem Glücke, daß er diesen Höllenbrand los war. +Auf dem Tische fand er drei gesalzene Strömlinge und einen Bissen Brot, +verzehrte Beides und legte sich zu Bette. Am andern Morgen wurde er todt +auf dem Platze gefunden, und zwar ebenso aufgeschwollen wie die Frau. +Nach einigen Tagen wurden<span class='pagenum'><a name="Page_75" id="Page_75">[S 75]</a></span> beide in ein Grab gelegt, wo sie einander +kein Leid mehr anthun konnten. Von der verschwundenen Tochter erfuhren +die Bauern seitdem nichts weiter.</p> + +<p>Else hatte die ganze Nacht kein Auge zugethan, sie weinte und beklagte +die harte Notwendigkeit, so schnell und unerwartet von ihrem Glücke +scheiden zu müssen. Am Morgen steckte ihr die Frau einen goldenen +Siegelring an den Finger und hing ihr eine kleine goldene Schachtel an +einem seidenen Bande um den Hals, rief dann den Alten, zeigte mit der +Hand auf Else, und nahm darauf mit betrübter Miene von ihr Abschied. +Eben wollte Else danken, als der Alte dreimal mit seinem Silberstäbchen +sanft ihren Kopf berührte. Else fühlte alsbald, daß sie zum Vogel +geworden war; aus den Armen wurden Flügel und aus den Beinen Adlerfüße +mit langen Klauen, aus der Nase ein krummer Schnabel, Federn bedeckten +den ganzen Leib. Dann hob sie sich plötzlich in die Luft und schwebte +ganz wie ein aus dem Ei gebrüteter Adler unter den Wolken dahin. So war +sie schon mehrere Tage gen Süden geflogen und hatte wohl zuweilen +gerastet, wenn die Flügel ermatteten, aber Hunger hatte sie nicht +gefühlt. Da geschah es, daß sie eines Tages über einem niedrigen Walde +schwebte, wo Jagdhunde sie anbellten, die freilich dem Vogel nichts +anhaben konnten, weil ihnen Flügel fehlten. Mit einem Male fühlte sie +ihr Gefieder von einem scharfen Pfeile durchbohrt und fiel zu Boden. Vor +Schrecken war sie ohnmächtig geworden.</p> + +<p>Als Else aus ihrer Ohnmacht erwachte und die Augen weit öffnete, fand +sie sich in menschlicher Gestalt unter einem Gebüsche. Wie sie dahin +gekommen und was<span class='pagenum'><a name="Page_76" id="Page_76">[S 76]</a></span> ihr sonst Seltsames begegnet war, lag wie ein Traum +hinter ihr. Da kam ein stolzer junger Königssohn daher geritten, sprang +vom Pferde und bot Elsen freundlich die Hand, indem er sagte: »Zur +glücklichen Stunde bin ich heute Morgen ausgeritten! Von euch, theures +Fräulein, träumte mir ein halbes Jahr lang jede Nacht, daß ich euch hier +im Walde finden würde. Obschon ich den Weg wohl hundert Mal umsonst +gemacht hatte, ließ doch meine Sehnsucht und meine Hoffnung nicht nach. +Heute schoß ich einen großen Adler, der hierher gefallen sein mußte; ich +ging der erlegten Beute nach und fand statt des Adlers — euch.« Dann +half er Elsen auf's Pferd und ritt mit ihr zur Stadt, wo der alte König +sie freudig empfing. Einige Tage später ward eine prachtvolle Hochzeit +gefeiert; am Morgen des Hochzeitstages waren funfzig Fuder mit +Kostbarkeiten angekommen, welche die liebe Pflegemutter Elsen geschickt +hatte. Nach des alten Königs Tode wurde Else Königin und hat dann im +Alter die Ereignisse ihrer Jugend selbst erzählt. Aber vom Tontlawald +hat man seitdem Nichts mehr gesehen noch gehört.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_77" id="Page_77">[S 77]</a></span></p> +<h2>5. Der Waise Handmühle.</h2> + + +<p>Ein armes elternloses Mädchen war allein nachgeblieben wie ein Lamm, und +dann als Pflegekind in eine böse Wirthschaft gekommen, wo es keinen +andern Freund hatte als den Hofhund, dem es zuweilen eine Brotrinde gab. +Das Mädchen mußte vom Morgen bis zum Abend für die Wirthin auf der +Handmühle mahlen, und stand einmal die Mühle stille, weil die müde Hand +ausruhen wollte, so war gleich der Stock da, um das arme Kind +anzutreiben. Des Abends waren die Hande der Waise so starr wie die +Klötze. Das Gnadenbrot, welches die Waisen essen, muß fast immer mit +Schweiß und Blut bezahlt werden. Gott im Himmel allein hört die Seufzer +der Waisen und zählt die Thränen, die von ihren Wangen rollen! — Eines +Tages, als das schwache Mädchen wieder die schwere Mühle drehte und +voller Unmuth war, weil die Wirthin sie den Morgen nüchtern gelassen +hatte, kam ein hinkender einäugiger Bettler in zerlumpten Kleidern +heran. Es war aber kein wirklicher Bettler, sondern ein berühmter +Zauberer aus Finnland, der sich, um nicht erkannt zu werden, in einen +Bettler verwandelt hatte. Der Bettler setzte sich auf die Schwelle, sah +sich die schwere Arbeit des Kindes an, nahm ein Stück Brot aus seinem<span class='pagenum'><a name="Page_78" id="Page_78">[S 78]</a></span> +Schultersack, steckte es dem Kinde in den Mund und sagte: »Mittag ist +noch weit, iß etwas Brot zur Stärkung.« Die Waise nahm den trockenen +Bissen und er schmeckte ihr besser als Weißbrot, auch fühlte sie gleich +ihre Kräfte wieder zunehmen. Der Bettler sagte dann: »Dir Armen müssen +wohl von dem ewigen Umdrehen der schweren Mühle die Hände recht müde +sein?« Das Mädchen sah den Alten ungewiß an, wie um zu forschen, ob +seine Frage ernsthaft oder spöttisch gemeint sei. Da sie aber fand, daß +sein Antlitz einen liebreichen und ernsthaften Ausdruck hatte, so +erwiederte sie: »Wer kümmert sich um die Hände einer Waise? Das Blut +dringt mir immer unter die Nägel, und der Stock fährt mir über den +Rücken, wenn ich nicht so viel arbeiten kann, als die Wirthin verlangt.« +Der Bettler ließ sich nun ausführlich erzählen, was für ein Leben das +Kind führe. Als die Waise geendigt hatte, nahm der Alte aus seinem Sacke +ein altes Tuch, gab es ihr und sagte: »Wenn du dich heut Abend schlafen +legst, so binde dies Tuch um deinen Kopf und seufze aus der Tiefe des +Herzens: »Süßer Traum, trage mich dahin, wo ich eine Handmühle finde, +welche von selbst mahlt, so daß ich mich nicht mehr abmühen darf!« Die +Waise steckte das Tuch in ihren Busen und dankte dem Alten, der sich +sogleich entfernte. Als sich das Waisenkind Abends schlafen legte, that +es nach Vorschrift des Bettlers, band das Tuch um den Kopf und stieß +unter Seufzern und Thränen seinen Wunsch aus, obgleich es selber nicht +viel Hoffnung darauf setzte. Dennoch schlief es leichteren Herzens ein, +als sonst. Ein wunderbarer Traum führte das Mädchen in weite Fernen und +ließ es<span class='pagenum'><a name="Page_79" id="Page_79">[S 79]</a></span> auf seiner Wanderung viel seltsame Dinge erleben. Zuletzt kam +es tief unter die Erde, und da mochte wohl die Hölle sein, denn alles +sah schauerlich und fremd aus. Die Hofthore standen weit offen und kein +lebendes Wesen rührte sich. Als das Mädchen weiter ging, ließ sich ein +Geräusch vernehmen, wie wenn eine Handmühle gemahlen würde. Dem Geräusch +folgend ging das Waisenkind schüchternen Schrittes vorwärts, bis es +unter dem Abschauer einer Klete<a name="FNanchor_24_24" id="FNanchor_24_24"></a><a href="#Footnote_24_24" class="fnanchor">[24]</a> einen großen Kasten fand, aus +welchem das Geräusch einer Mühle an sein Ohr drang. Das Kind war nicht +stark genug den Kasten zu rühren, geschweige denn von der Stelle zu +bringen. Da sah es im Stalle ein weißes Pferd an der Krippe und kam auf +den guten Einfall, das Pferd aus dem Stalle zu ziehen, es mit Stricken +vor den Kasten zu spannen, und ihn so fortzuführen. Gedacht, gethan: die +Waise schirrte das Pferd an, setzte sich auf den Deckel des Kastens, +ergriff eine lange Ruthe und jagte in vollem Galop nach Hause.</p> + +<p>Als sie am andern Morgen erwachte, fiel ihr der bedeutsame Traum wieder +ein, und zwar stand er so lebendig vor ihr, als wäre sie wirklich eine +Strecke weit auf dem Deckel gefahren. Als sie die Augen aufriß, +erblickte sie den Kasten an ihrem Lager. Sie sprang auf, nahm ein halbes +Loof (Scheffel) Gerste, das vom Abend nachgeblieben war, schüttete es in +die Oeffnung, die sie im Deckel des Kastens fand und siehe das freudige +Wunder: die Steine fingen augenblicklich an zu lärmen. Es dauerte<span class='pagenum'><a name="Page_80" id="Page_80">[S 80]</a></span> nicht +lange, so war das fertige Mehl im Sacke.<a name="FNanchor_25_25" id="FNanchor_25_25"></a><a href="#Footnote_25_25" class="fnanchor">[25]</a> Jetzt hatte die Waise einen +leichten Stand; die Mühle im Kasten mahlte Alles, was man ihr bot, und +das Mädchen hatte weiter keine Mühe, als das Getraide oben +hineinzuschütten und das Mehl unten herauszunehmen. Den Deckel des +Kastens durfte sie aber nicht öffnen, der Bettler hatte es ihr streng +verboten, indem er hinzufügte: das würde dein Tod sein!</p> + +<p>Die Wirthin kam bald dahinter, daß der Kasten dem Waisenkinde beim +Mahlen half, sie beschloß daher das Mädchen aus dem Hause zu jagen und +dafür den Mahlkasten zu behalten, der kein Futter verlangen würde. +Zuerst wollte sie sich aber mit dem Dinge näher bekannt machen, um zu +sehen, wo denn der Wundermüller eigentlich stecke. Die Begierde, das +Geheimniß herauszubringen, stachelte das Weib Tag und Nacht. An einem +Sonntag Morgen schickte sie das Waisenkind zur Kirche, und sagte, sie +selbst wolle da bleiben, um das Haus zu hüten. Ein so freundliches +Anerbieten hatte die Waise noch niemals vernommen; vergnügt zog sie ein +reines Hemd und etwas bessere Kleider an, und machte sich eilig auf den +Weg. Die Wirthin lauerte so lange hinter der Thür, bis ihr das Mädchen +aus dem Gesichte war, dann nahm sie aus<span class='pagenum'><a name="Page_81" id="Page_81">[S 81]</a></span> der Klete ein halb Loof +Getraide und schüttete es auf den Deckel, damit der Kasten es mahle, +aber der Kasten that es nicht. Erst als eine Hand voll in das Loch des +Deckels kam, machten sich die Steine an's Werk; aber nun kostete es dem +Weibe noch viel Mühe und Arbeit, den schweren Kastendeckel los zu +machen. Endlich ging er so weit auf, daß die Alte den Kopf +hineinzustecken wagte, — aber o weh! eine lichte Lohe schlug aus dem +Kasten heraus und verbrannte die Wirthin, als wär's eine Hedekunkel; es +blieb nichts weiter von ihr übrig als eine Handvoll Asche.</p> + +<p>Als der Wittwer späterhin eine andere Frau nehmen wollte, fiel ihm ein, +daß sein Pflegekind, die Waise, vollständig erwachsen war, so daß er +nicht erst anderswo auf die Freite zu gehen brauche. Die Hochzeit wurde +still gefeiert, und als sich die Nachbaren am Abend entfernt hatten, +ging der Mann mit seiner jungen Frau zu Bette. Als diese den andern +Morgen in die Klete ging, war der Kasten mit der Handmühle verschwunden, +ohne daß man die Spuren eines Diebes fand. Obgleich nun überall gesucht +und nah und fern angefragt wurde, ob der vermißte Gegenstand irgend +Jemanden zu Gesicht gekommen sei, so hat man doch bis auf den heutigen +Tag nichts entdeckt. Der wunderbare Handmühlen-Kasten, den einst ein +Traum aus der Tiefe der Erde herausgeholt hatte, mußte wohl in eben so +wunderbarer Weise dahin zurückgekehrt sein.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_82" id="Page_82">[S 82]</a></span></p> +<h2>6. Die zwölf Töchter.</h2> + + +<p>Es war einmal ein armer Käthner, der zwölf Töchter hatte, unter ihnen +zwei Paar Zwillinge. Die hübschen Mädchen waren alle gesund und frisch +und von zierlichem Wesen. Da die Eltern es so knapp hatten, mochte es +manchem unbegreiflich sein, wie sie den vielen Kindern Nahrung und +Kleidung schaffen konnten; die Kinder waren täglich gewaschen und +gekämmt und trugen immer reine Hemden, wie deutsche Kinder. Einige +meinten, der Käthner habe einen heimlichen Schatzträger,<a name="FNanchor_26_26" id="FNanchor_26_26"></a><a href="#Footnote_26_26" class="fnanchor">[26]</a> Andere +hielten ihn für einen Hexenmeister, wieder Andere für einen +Windzauberer,<a name="FNanchor_27_27" id="FNanchor_27_27"></a><a href="#Footnote_27_27" class="fnanchor">[27]</a> der im Wirbelwinde einen verborgenen Schatz zusammen +zu raffen wußte. In Wahrheit aber verhielt sich die Sache ganz anders. +Die Frau des Käthners hatte eine heimliche Gegenspenderin, welche die +Kinder nährte, säuberte und kämmte. Als sie nämlich noch als<span class='pagenum'><a name="Page_83" id="Page_83">[S 83]</a></span> Mädchen +aus einem fremden Bauerhofe diente, sah sie drei Nächte hinter einander +im Traume eine stattliche Frau, welche zu ihr trat und ihr befahl,<a name="FNanchor_28_28" id="FNanchor_28_28"></a><a href="#Footnote_28_28" class="fnanchor">[28]</a> +in der Johannisnacht zur Quelle des Dorfes zu gehen. Sie hätte nun wohl +auf diesen Traum nicht weiter geachtet, wenn nicht am Johannisabend ein +Stimmchen ihr immerwährend wie eine Mücke in's Ohr gesummt hätte: »Geh +zur Quelle, geh zur Quelle, wo deines Glückes Wasseradern rieseln!« +Obgleich sie den heimlichen Rathschlag nicht ohne Schrecken vernahm, +faßte sie sich doch endlich ein Herz, verließ die andern Mädchen, die +bei der Fiedel um das Feuer herum lärmten und schritt auf die Quelle zu. +Aber je näher sie kam, desto bänger wurde ihr um's Herz; sie wäre +umgekehrt, wenn ihr das Mückenstimmchen Ruhe gelassen hätte; +unwillkürlich ging sie weiter. Als sie hinkam, sah sie eine Frau in +weißen Kleidern, die auf einem Steine an der Quelle saß. Als die Frau +des Mädchens Furcht gewahrte, ging sie demselben einige Schritte +entgegen, bot ihm die Hand zum Gruß und sagte: »Fürchte dich nicht, +liebes Kind, ich thue dir ja nichts zu Leide! Merke auf und behalte +genau, was ich dir sage. Auf den Herbst wird man um dich freien; der +Mann ist so arm wie du, aber mach' dir deshalb keine Sorge, sondern nimm +seinen Branntwein an.<a name="FNanchor_29_29" id="FNanchor_29_29"></a><a href="#Footnote_29_29" class="fnanchor">[29]</a> Da ihr beide gut seid, will ich euch Glück +bringen und euch forthelfen; aber<span class='pagenum'><a name="Page_84" id="Page_84">[S 84]</a></span> lasset darum Sorgsamkeit und Arbeit +nicht dahinten, sonst kann kein Glück Dauer haben. Nimm dieses Säckchen +und stecke es in die Tasche, es sind nur einige Steinchen darin.<a name="FNanchor_30_30" id="FNanchor_30_30"></a><a href="#Footnote_30_30" class="fnanchor">[30]</a> +Nachdem du das erste Kind zur Welt gebracht hast, wirf ein Steinchen in +den Brunnen, damit ich komme dich zu sehen. Wenn das Kind zur Taufe +geführt wird, will ich zu Gevatter stehen. Von unserer nächtlichen +Zusammenkunft laß gegen Niemanden etwas verlauten — für dieses Mal sage +ich dir Lebe wohl!« Mit diesen Worten war die wunderbare Fremde dem +Mädchen entschwunden, als wäre sie unter die Erde gesunken. Vielleicht +hätte das Mädchen auch diesen Vorfall für einen Traum gehalten, wenn +nicht das Säckchen in ihrer Hand das Gegentheil bezeugt hätte; sie fand +darin zwölf Steinchen.</p> + +<p>Die Prophezeiung traf ein, das Mädchen wurde im Herbst verheirathet und +der Mann war ein armer Knecht. Im folgenden Jahre brachte die junge Frau +die erste Tochter zur Welt, besann sich auf das, was ihr in der +Johannisnacht begegnet war, stand heimlich aus dem Bette auf, ging an +den Brunnen und warf ein Steinchen hinein. Plumps fiel es in's Wasser! +Sofort stand die freundliche Frau weiß gekleidet vor ihr und sagte: »Ich +danke dir, daß du mich nicht vergessen hast. Sonntag über vierzehn Tage +laß das Kind zur Taufe bringen, dann komme ich<span class='pagenum'><a name="Page_85" id="Page_85">[S 85]</a></span> auch in die Kirche und +will beim Kinde Gevatter stehen.« Als an dem bezeichneten Tage das Kind +in die Kirche gebracht wurde, trat eine fremde Dame hinzu, nahm es auf +den Schoos und ließ es taufen. Als dies geschehen war, band sie einen +silbernen Rubel in die Windel des Kindes und sandte es der Mutter +zurück. Ganz ebenso geschah es später bei jeder neuen Taufe, bis das +Dutzend voll war. Bei der Geburt des letzten Kindes hatte die Frau zur +Mutter gesagt: »Von heute an wird dein Auge mich nicht mehr schauen, +obwohl ich ungesehen täglich um dich und deine Kinder sein werde. Das +Wasser des Brunnens wird den Kindern mehr Gedeihen bringen als die beste +Kost. Wenn die Zeit herankommt, daß deine Töchter heirathen, so mußt du +einer Jeden den Rubel mitgeben, den ich zum Pathengeschenk brachte. So +lange sie ledig sind, sollen sie keinen größeren Staat machen, als daß +sie Alltags und Sonntags saubere Hemden und Tücher tragen.«</p> + +<p>Die Kinder wuchsen und gediehen, daß es eine Lust war anzusehen; Brot +gab es im Hause zur Genüge, auch zuweilen dünne Zukost, doch am meisten +wurden Eltern und Kinder offenbar durch das Brunnenwasser gestärkt. Die +älteste Tochter wurde dann an einen wohlhabenden Wirthssohn +verheirathet. Wiewohl sie ihm außer der nothdürftigsten Kleidung nichts +zubrachte, so wurde doch ein Brautkasten gemacht und Kleider und +Pathen-Rubel hineingelegt. Als die Männer den Kasten auf den Wagen +hoben, fanden sie ihn so schwer, daß sie glaubten es seien Steine darin, +denn der arme Käthner hatte doch seiner Tochter sonst nichts Werthvolles +mitzugeben. Weit<span class='pagenum'><a name="Page_86" id="Page_86">[S 86]</a></span> mehr aber war die junge Frau erstaunt, als sie im +Hause des Bräutigam's den Kasten öffnete, und ihn mit Stücken Leinewand +angefüllt und auf dem Grunde einen ledernen Beutel mit hundert +Silberrubeln fand. Dasselbe wiederholte sich nachher bei jeder neuen +Verheirathung; und die Töchter wurden bald alle weggeholt, als es +bekannt geworden war, welch' einen Brautschatz eine jede mitbekam.</p> + +<p>Einer der Schwiegersöhne war aber sehr habsüchtig und mochte sich mit +der Mitgift seiner Frau nicht zufrieden geben. Er dachte nämlich: die +Eltern müssen wohl selbst noch vielen Reichthum besitzen, wenn sie schon +jeder Tochter so viel mitgeben konnten. Er ging daher eines Tages zu +seinem Schwiegervater und suchte ihm den Schatz abzuzwacken. Der Käthner +sagte ganz der Wahrheit gemäß: »Ich habe Nichts hinter Leib und Seele, +und auch meinen Töchtern konnte ich nichts weiter mitgeben als den +Kasten. Was jede in ihrem Kasten gefunden hat, das rührt nicht von mir +her, sondern war die Pathengabe der Taufmutter, welche jedem Kinde an +seinem Tauftage einen Rubel schenkte. Diese Liebesgabe hat sich im +Kasten vervielfältigt.« Der habsüchtige Schwiegersohn glaubte indessen +den Worten des Schwiegervaters nicht, sondern drohte vor Gericht die +Anklage zu erheben, daß der Alte ein Hexenmeister und ein Windbeschwörer +sei, der mit Hülfe des Bösen einen großen Schatz zusammengebracht habe. +Da der Käthner ein reines Gewissen hatte, so flößte ihm die Drohung +seines Schwiegersohnes keine Furcht ein. Dieser aber klagte wirklich. +Das Gericht ließ darauf die andern Schwiegersöhne des Käthners +vorfordern und befragte sie, ob jeder von ihnen dieselbe Mitgift +erhalten habe. Die Männer sagten aus,<span class='pagenum'><a name="Page_87" id="Page_87">[S 87]</a></span> daß Jeder einen Kasten voll +Leinewand und hundert Silberrubel erhalten habe. Das erregte große +Verwunderung, denn die ganze Nachbarschaft wußte recht gut, daß der +Käthner arm war und keinen andern Schatz hatte als zwölf hübsche +Töchter. Daß diese Töchter von klein auf stets reine weiße Hemden +getragen hatten, wußten die Leute wohl, aber Niemand hatte sonst einen +Prunk an ihnen bemerkt, weder Brustspangen noch bunte Halstücher. Die +Richter beschlossen jetzt, die wunderliche Sache näher zu untersuchen, +um herauszubringen, ob der Alte wirklich ein Hexenmeister sei.</p> + +<p>Eines Tages verließen die Richter, von einer Häscherschaar begleitet, +die Stadt. Sie wollten das Haus des Käthners mit Wachen umstellen, damit +Niemand heraus und kein Schatz auf die Seite gebracht werden könne. Der +habsüchtige Schwiegersohn machte den Führer. Als sie an den Wald +gekommen waren, in welchem die Hütte des Käthners stand, wurden von +allen Seiten Wachen aufgestellt, die keinen Menschen durchlasse sollten, +bis die Sache aufgeklärt sei. Man ließ hier die Pferde zurück und schlug +den Fußsteig zur Hütte ein. Der Schwiegersohn mahnte zu leisem Auftreten +und zum Schweigen, damit der Hexenmeister nicht aufmerksam werde und +sich auf Windesflügeln davon mache. Schon waren sie nahe bei der Hütte, +als plötzlich ein wunderbarer Glanz sie blendete, der durch die Bäume +drang. Als sie weiter gingen, wurde ein großes schönes Haus sichtbar; es +war ganz von Glas und viele hundert Kerzen brannten darin, obgleich die +Sonne schien und Helligkeit genug gab. Vor der Thür standen zwei Krieger +Wache, die ganz in Erz<span class='pagenum'><a name="Page_88" id="Page_88">[S 88]</a></span> gehüllt waren und lange bloße Schwerter in der +Hand hielten. Die Gerichtsherrn wußten nicht, was sie denken sollten, +Alles schien ihnen mehr Traum als Wirklichkeit zu sein. Da öffnete sich +die Thür: ein schmucker Jüngling in seidenen Kleidern trat heraus und +sagte: »Unsere Königin hat befohlen, daß der oberste Gerichtsherr vor +ihr erscheine.« Obgleich dieser einige Furcht empfand, folgte er doch +dem Jüngling in's Haus.</p> + +<p>Wer beschriebe die Pracht und Herrlichkeit, die sich vor seinen Augen +aufthat. In der prächtigen Halle, welche die Größe einer Kirche hatte, +saß auf einem Throne eine mit Seide, Sammet und Gold geschmückte Frau. +Einige Fuß tiefer saßen auf kleineren goldenen Sesseln zwölf schöne +Fräulein, ebenso prächtig geschmückt wie die Königin, nur daß sie keine +goldene Krone trugen. Zu beiden Seiten standen zahlreiche Diener, alle +in hellen seidenen Kleidern, mit goldenen Ketten um den Hals. Als der +oberste Gerichtsherr unter Verbeugungen näher trat, fragte die Königin: +»Weßhalb seid ihr heute mit einer Schaar von Häschern gekommen, als +hättet ihr Uebelthäter einzufangen?« Der Gerichtsherr wollte antworten, +aber der Schrecken band ihm die Zunge, so daß er kein Wörtchen +vorbringen konnte. »Ich kenne die boshafte und lügnerische Anklage,« +fuhr die Frau fort, »denn meinen Augen bleibt nichts verborgen. Lasset +den falschen Kläger hereinkommen, aber legt ihm zuvor Hände und Füße in +Ketten, dann will ich ihm Recht sprechen. Auch die übrigen Richter und +die Diener sollen eintreten, damit die Sache offenkundig wird und sie +bezeugen können, daß hier Niemanden Unrecht geschieht.« Einer ihrer +Diener eilte hinaus, um den<span class='pagenum'><a name="Page_89" id="Page_89">[S 89]</a></span> Befehl zu vollziehen. Nach einiger Zeit +wurde der Kläger vorgeführt, an Händen und Füßen gefesselt und von sechs +Geharnischten bewacht. Die anderen Gerichtsherren und deren Diener +folgten. Dann begann die Königin also:</p> + +<p>»Bevor ich über das Unrecht die verdiente Strafe verhänge, muß ich euch +kurz erklären, wie die Sache zusammenhängt. Ich bin die oberste +Wasserbeherrscherin,<a name="FNanchor_31_31" id="FNanchor_31_31"></a><a href="#Footnote_31_31" class="fnanchor">[31]</a> alle Wasseradern, welche aus der Erde quillen, +stehen unter meiner Botmäßigkeit. Des Windkönigs ältester Sohn war mein +Liebster, aber da sein Vater ihm nicht erlaubte eine Frau zu nehmen, so +mußten wir unsere Ehe geheim halten, so lange der Vater lebte. Da ich +nun meine Kinder nicht zu Hause aufziehen konnte, so vertauschte ich +jedesmal, wenn des Käthners Frau niederkam, sein Kind gegen das meinige. +Des Käthners Kinder aber wuchsen als Pfleglinge auf dem Hofe meiner +Tante auf. Kam die Zeit, daß eine von den Töchtern des Käthners +heirathen wollte, so wurde ein abermaliger Tausch vorgenommen. Jedesmal +ließ ich die Nacht vor der Hoch<span class='pagenum'><a name="Page_90" id="Page_90">[S 90]</a></span>zeit meine Tochter wegholen und dafür +des Käthners Kind hinbringen. Der alte Windkönig lag schon lange krank +darnieder, so daß er von unserem Betruge nichts merkte. Am Tauftage +schenkte ich jedem Kinde ein Rubelstück, welches die Mitgift im Kasten +hecken sollte. Die Schwiegersöhne waren denn auch alle mit ihren jungen +Frauen und dem, was sie mitbrachten, zufrieden, nur dieser habgierige +Frevler, den ihr hier in Ketten seht, unterfing sich, falsche Klage +gegen seinen Schwiegervater zu führen, in der Hoffnung sich dadurch zu +bereichern. Vor zwei Wochen ist nun der alte Windkönig gestorben und +mein Gemahl zur Herrschaft gelangt. Jetzt brauchen wir unsere Ehe und +unsere Kinder nicht länger zu verheimlichen. Hier vor euch sitzen meine +zwölf Töchter, deren Pflegeeltern, der Käthner und sein Weib, bis an +ihren Tod bei mir das Gnadenbrot essen werden. Aber du verworfener +Bösewicht, den ich habe fesseln lassen, sollst sogleich den verdienten +Lohn erhalten. In deinen Ketten sollst du in einem Goldberge gefangen +sitzen, damit deine gierigen Augen das Gold beständig sehen, ohne daß +dir ein Körnchen davon zu Theil wird. Siebenhundert Jahre sollst du +diese Qual erdulden, ehe der Tod Macht erhält dich zur Ruhe zu bringen. +Das ist mein Richterspruch.«</p> + +<p>Als die Königin bis dahin gesprochen hatte, entstand ein Gekrach wie ein +starker Donnerschlag, so daß die Erde bebte und die Richter sammt ihren +Dienern betäubt niederfielen. Als sie wieder zu sich kamen, fanden sie +sich zwar in dem Walde, zu welchem der Führer sie geleitet hatte, aber +da, wo eben noch das gläserne Haus in aller Pracht gestanden hatte, +sprudelte jetzt aus einer<span class='pagenum'><a name="Page_91" id="Page_91">[S 91]</a></span> kleinen Quelle klares kaltes Wasser hervor. +— »Von dem Käthner, seiner Frau und dem habsüchtigen Schwiegersohne ist +später nie mehr etwas vernommen worden; des letzteren Wittwe hatte im +Herbst einen anderen Mann geheirathet, mit dem sie glücklich lebte bis +an ihr Ende.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_92" id="Page_92">[S 92]</a></span></p> +<h2>7. Wie eine Waise unverhofft ihr Glück fand.</h2> + + +<p>Einmal lebte ein armer Tagelöhner, der sich mit seiner Frau kümmerlich +von einem Tage zum andern durchbrachte. Von drei Kindern war ihnen das +jüngste, ein Sohn, geblieben, der neun Jahr alt war, als man erst den +Vater und dann die Mutter begrub. Dem Knaben blieb nichts übrig, als vor +den Thüren guter Menschen sein Brot zu suchen. Nach Jahresfrist gerieth +er auf den Hof eines wohlhabenden Bauerwirths, wo man gerade einen +Hüterknaben brauchte. Der Wirth war nicht eben böse, aber das Weib hatte +die Hosen an und regierte im Hause wie ein böser Drache (»Schüreisen«). +Wie es dem armen Waisenknaben da erging, läßt sich denken. Die Prügel, +die er alle Tage bekam, wären dreimal mehr als genug gewesen, Brot aber +wurde nie soviel gereicht, daß er satt geworden wäre. Da aber das +Waisenkind nichts Besseres zu hoffen hatte, mußte es sein Elend +ertragen. Zum Unglück verlor sich eines Tages eine Kuh von der Herde; +wohl lief der Knabe bis Sonnenuntergang den Wald entlang, von einer +Stelle zur andern, aber er fand die verlorene Kuh nicht wieder. Obwohl +er wußte, was seinem Rücken zu Hause bevorstand, mußte er doch jetzt +nach Sonnenuntergang die Herde zusammentreiben. Die<span class='pagenum'><a name="Page_93" id="Page_93">[S 93]</a></span> Sonne war noch +nicht lange unter dem Horizont, da hörte er schon der Wirthin Stimme: +»Fauler Hund! wo bleibst du mit der Herde?« Da half kein Zaudern, nur +rasch nach Hause unter den Stock. Zwar dämmerte es schon, als die Herde +zur Pforte hereinkam, aber das scharfe Auge der Wirthin hatte sogleich +entdeckt, daß eine Kuh fehle. Ohne ein Wort zu sagen, riß sie den +nächsten Staken aus dem Zaun und begann damit den Rücken des Knaben zu +bearbeiten, als wollte sie ihn zu Brei stampfen. In der Wuth hätte sie +ihn auch zu Tode geprügelt oder ihn auf Zeit Lebens zum Krüppel gemacht, +wenn der Wirth, der das Schreien und Schluchzen hörte, dem Armen nicht +mitleidig zu Hülfe gekommen wäre. Da er die Gemüthsart des tückischen +Weibes genau kannte, so wollte er sich nicht geradezu dazwischen legen, +sondern suchte zu vermitteln. Er sagte halb in bittendem Tone: »Brich +ihm lieber die Beine nicht entzwei, damit er doch die verlorene Kuh +suchen kann. Davon werden wir mehr Nutzen haben, als wenn er umkommt.« +»Wahr,« sagte die Wirthin, »das Aas kann auch die theure Kuh nicht +ersetzen,« — zählte ihm noch ein Paar tüchtige Hiebe auf und schickte +ihn dann fort, die Kuh zu suchen. »Wenn du ohne die Kuh zurückkommst,« +— setzte sie drohend hinzu, —»so schlage ich dich todt.« Weinend und +stöhnend ging der Knabe zur Pforte hinaus und geradeswegs in den Wald, +wo er Tages mit der Herde gewesen war, suchte die ganze Nacht, fand aber +nirgends eine Spur von der Kuh. Als am andern Morgen die Sonne sich aus +dem Schoße der Morgenröthe erhoben hatte, war des Knaben Entschluß +gefaßt. »Werde aus mir, was da wolle, nach Hause<span class='pagenum'><a name="Page_94" id="Page_94">[S 94]</a></span> gehe ich nicht +wieder.« Mit diesen Worten nahm er Reißaus und lief in einem Athem +vorwärts, so daß er das Haus bald weit hinter sich hatte. Wie lange und +wie weit er so gelaufen war, wußte er selber nicht, als ihm aber zulegt +die Kraft ausging und er wie todt niederfiel, stand die Sonne fast schon +in Mittagshöhe. Als er aus einem langen schweren Schlafe erwachte, kam +es ihm vor, als ob er etwas Flüssiges im Munde gehabt habe, und er sah +einen kleinen alten Mann mit langem grauen Barte vor sich stehen, der +eben im Begriffe war, den Spund wieder auf den Lägel (Milchfäßchen) zu +setzen. »Gieb mir noch zu trinken!« bat der Knabe. »Für heute hast du +genug,« erwiederte der alte Vater, »wenn mein Weg mich nicht zufällig +hierher geführt hätte, so wäre es sicher dein letzter Schlaf gewesen, +denn als ich dich fand, warst du schon halb todt.« Dann befragte der +Alte den Knaben, wer er wäre und wohin er wollte. Der Knabe erzählte +Alles, was er erlebt hatte so lange er sich erinnern konnte, bis zu den +Schlägen von gestern Abend. Schweigend und nachdenklich hatte der Alte +die Erzählung angehört, und nachdem der Knabe schon eine Weile verstummt +war, sagte jener ernsthaft: »Mein liebes Kind! dir ist es nicht besser +noch schlimmer ergangen als so Manchen, deren liebe Pfleger und Tröster +im Sarge unter der Erde ruhen. Zurückkehren kannst du nicht mehr. Da du +einmal fortgegangen bist, so mußt du dir ein neues Glück in der Welt +suchen. Da ich weder Haus noch Hof, weder Weib noch Kind habe, so kann +ich auch nicht weiter für dich sorgen, aber einen guten Rath will ich +dir umsonst geben. Schlafe diese Nacht hier ruhig aus; wenn morgen die<span class='pagenum'><a name="Page_95" id="Page_95">[S 95]</a></span> +Sonne aufgeht, so merke dir genau die Stelle, wo sie emporstieg. In +dieser Richtung mußt du wandern, so daß dir die Sonne jeden Morgen in's +Gesicht und jeden Abend in den Nacken scheint. Deine Kraft wird von Tage +zu Tage wachsen. Nach sieben Jahren wird ein mächtiger Berg vor dir +stehen, der so hoch ist, daß sein Gipfel bis an die Wolken reicht. Dort +wird dein künftiges Glück blühen. Nimm meinen Brotsack und mein Fäßchen, +du wirst darin täglich soviel Speise und Trank finden, als du bedarfst. +Aber hüte dich davor, jemals ein Krümchen Brot oder ein Tröpfchen vom +Trank unnütz zu vergeuden, sonst könnte deine Nahrungsquelle leicht +versiegen. Einem hungrigen Vogel und einem durstigen Thiere darfst du +reichlich geben: Gott sieht es gern, wenn ein Geschöpf dem andern Gutes +thut. Auf dem Grunde des Brotsacks wirst du ein zusammengerolltes +Klettenblatt finden; das mußt du sehr sorgfältig in Acht nehmen. Wenn du +auf deinem Wege an einen Fluß oder einen See kommst, so breite das +Klettenblatt auf dem Wasser aus, es wird sich sofort in einen Nachen +verwandeln und dich über die Flut tragen. Dann wickele das Blatt wieder +zusammen und stecke es in deinen Brotsack.« Nach dieser Unterweisung gab +er dem Knaben Sack und Fäßchen und rief: »Gott befohlen!« Im nächsten +Augenblick war er den Augen des Knaben entschwunden.</p> + +<p>Der Knabe hätte Alles für einen Traum gehalten, wenn nicht Sack und +Fäßchen in seiner Hand die Wirklichkeit des Geschehenen bezeugt hätten. +Er ging jetzt daran, den Brotsack zu prüfen und fand darin: ein halbes +Brot, ein Schächtelchen voll gesalzener Strömlinge, ein anderes<span class='pagenum'><a name="Page_96" id="Page_96">[S 96]</a></span> mit +Butter und dazu noch ein hübsches Stückchen Speckschwarte. Als der Knabe +sich satt gegessen hatte, legte er sich schlafen, Sack und Fäßchen unter +dem Kopfe, damit kein Dieb sie wegnehmen könne. Den andern Morgen wachte +er mit der Sonne auf, stärkte seinen Körper durch Speise und Trank und +machte sich dann auf die Wanderung. Wunderbarer Weise fühlte er gar +keine Müdigkeit in seinen Beinen; erst der leere Magen mahnte ihn daran, +daß die Mittagszeit gekommen war. Er sättigte sich mit der guten Kost, +that ein Schläfchen und wanderte weiter. Daß er den rechten Weg +eingeschlagen hatte, sagte ihm die untergehende Sonne, die ihm gerade im +Nacken stand. So war er viele Tage in derselben Richtung vorwärts +gegangen, als er einen kleinen See vor sich erblickte. Hier konnte er +die Kraft seines Klettenblattes prüfen. Wie es der alte Mann +vorausgesagt hatte, so geschah es: ein kleines Boot mit Rudern lag vor +ihm auf dem Wasser. Er stieg ein, und einige tüchtige Ruderschläge +führten ihn an's andere Ufer. Dort verwandelte sich das Boot wieder in +ein Klettenblatt, und dieses ward in den Sack gesteckt.<a name="FNanchor_32_32" id="FNanchor_32_32"></a><a href="#Footnote_32_32" class="fnanchor">[32]</a></p> + +<p>So war der Knabe schon manches Jahr gewandert, ohne daß die Nahrung im +Brotsack und im Fäßchen abgenommen hätte. Sieben Jahre konnten recht gut +verstrichen sein, denn er war zu einem kräftigen Jüngling +herangewachsen; da sah er eines Tages von weitem einen hohen Berg, der +bis in die Wolken hinein zu ragen schien. Es verging aber noch eine +Woche, ehe er den Berg<span class='pagenum'><a name="Page_97" id="Page_97">[S 97]</a></span> erreichte. Dann setzte er sich am Fuße des +Berges nieder, um auszuruhen und zu sehen, ob die Prophezeiungen des +alten Mannes in Erfüllung gehen würden. Er hatte noch nicht lange +gesessen, als ein eigentümliches Zischen sein Ohr berührte: gleich +darauf wurde eine große Schlange sichtbar, welche mindestens zwölf +Klafter lang war und sich dicht bei dem jungen Manne vorbeiwand. +Schrecken lähmte seine Glieder, so daß er nicht fliehen konnte; aber im +Nu war auch die Schlange vorüber. Dann blieb ein Weilchen Alles still. +Darauf schien es ihm, als käme aus der Ferne ein schwerer Körper in +einzelnen Sätzen herangehüpft. Es war eine große Kröte, so groß wie ein +zweijähriges Füllen. Auch dieses häßliche Geschöpf zog an dem Jüngling +vorüber, ohne ihn gewahr zu werden. Sodann vernahm er in der Höhe ein +starkes Rauschen, als wenn ein schweres Gewitter sich erhebe. Als er +hinauf sah, flog hoch über seinem Haupte ein großer Adler in derselben +Richtung, welche vorher die Schlange und die Kröte genommen hatten. »Das +sind wunderbare Dinge, die mir Glück bringen sollen!« dachte der +Jüngling. Da sieht er plötzlich einen Mann auf einem schwarzen Pferde +auf sich zu kommen. Das Pferd schien Flügel an den Füßen zu haben, denn +es flog mit Windesschnelle. Als der Mann den Jüngling am Berge sitzen +sah, hielt er sein Pferd an und fragte, »Wer ist hier vorübergekommen?« +Der Jüngling erwiederte: »Erstens eine große Schlange, wohl zwölf +Klafter lang, dann eine große Kröte von der Größe eines zweijährigen +Füllens und endlich ein großer Adler hoch über meinem Kopfe. Wie groß er +war, konnte ich nicht abschätzen, aber sein Flügelschlag rauschte wie<span class='pagenum'><a name="Page_98" id="Page_98">[S 98]</a></span> +ein Gewitter daher.« — »Du hast recht gesehen,« sagte der Fremde, »es +sind meine schlimmsten Feinde, und ich jage ihnen jetzt eben nach. Dich +könnte ich in meinem Dienste brauchen, wenn du nichts Besseres vor hast. +Klettere über den Berg, so kommst du gerade in mein Haus. Ich werde dort +mit dir zugleich anlangen, wenn nicht noch früher.« — Der junge Mann +versprach zu kommen, worauf der Fremde wie der Wind davon ritt.</p> + +<p>Es war nicht leicht, den Berg zu erklimmen. Unser Wanderer brauchte drei +Tage, ehe er den Gipfel erreichte, und dann wieder drei Tage, ehe er auf +der andern Seite an den Fuß des Berges gelangte. Der Wirth stand schon +vor seinem Hause und erzählte, daß er Schlange und Kröte glücklich +erschlagen habe, des Adlers aber nicht habhaft geworden sei. Dann fragte +er den jungen Mann, ob er Lust habe, als Knecht bei ihm einzutreten. +»Gutes Essen bekommst du täglich, soviel du willst, und auch mit dem +Lohne will ich nicht geizen, wenn du dein Amt getreulich verwaltest.« +Der Vertrag wurde abgeschlossen und der Wirth führte den neuen Knecht im +Hause umher, und zeigte ihm, was er zu thun habe. Es war dort ein Keller +im Felsen angebracht und durch dreifache Eisenthüren verschlossen. »In +diesem Keller sind meine bösen Hunde angekettet,« sagte der Wirth, »du +mußt dafür sorgen, daß sie sich nicht unterhalb der Thür mit den Pfoten +herausgraben. Denn wisse: wenn auch nur einer dieser Hunde frei würde, +so wäre es nicht mehr möglich, die beiden anderen fest zu halten, +sondern sie würden nacheinander dem Führer folgen und alles Lebendige +auf Erden vertilgen. Wenn endlich der letzte Hund ausbräche, so wäre<span class='pagenum'><a name="Page_99" id="Page_99">[S 99]</a></span> +das Ende der Welt da, und die Sonne hätte zum letzten Male geschienen.« +Darauf führte er den Knecht an einen Berg, den Gott nicht geschaffen +hatte, sondern der von Menschenhänden aus mächtigen Felsblöcken +aufgethürmt war. »Diese Steine« — sagte der Wirth — »sind deßwegen +zusammengetragen, damit immer wieder ein neuer Stein hingewälzt werden +kann, so oft die Hunde ein Loch ausgraben. Die Ochsen, welche den Stein +führen sollen, will ich dir im Stalle zeigen, und dir auch alles Uebrige +mittheilen, was du dabei zu beobachten hast.«</p> + +<p>Im Stalle fanden sie an hundert schwarze Ochsen, deren jeder sieben +Hörner hatte; sie waren reichlich zwei Mal so groß wie die größesten +Ukrainer Ochsen. »Sechs Paar Ochsen vor die Steinfuhre gespannt, führen +einen Stein mit Leichtigkeit weg. Ich werde dir eine Brechstange geben, +wenn du den Stein damit berührst, rollt er von selbst auf den Wagen. Du +siehst, deine Arbeit ist so mühsam nicht, desto größer muß deine +Wachsamkeit sein. Drei Mal bei Tage und ein Mal bei Nacht mußt du nach +der Thür sehen, damit kein Unglück geschieht, der Schade könnte sonst +größer sein, als du vor mir verantworten könntest.«</p> + +<p>Bald hatte unser Freund Alles begriffen und sein neues Amt war ganz nach +seinem Sinne: alle Tage das beste Essen und Trinken, wie es ein Mensch +nur begehren konnte. Nach zwei bis drei Monaten hatten die Hunde ein +Loch unter der Thür gekratzt, groß genug, um die Schnauze +durchzustecken, aber sogleich wurde ein Stein davor gestemmt, und die +Hunde mußten ihre Arbeit von neuem beginnen.<span class='pagenum'><a name="Page_100" id="Page_100">[S 100]</a></span></p> + +<p>So waren viele Jahre verstrichen und unser Knecht hatte sich ein +hübsches Stück Geld gesammelt. Da erwachte in ihm das Verlangen, ein Mal +wieder unter andere Menschen zu kommen; er hatte so lange in kein +anderes Menschenantlitz gesehen, als in das seines Herrn. War der Herr +auch gut, so wurde dem Knecht doch die Zeit entsetzlich lang, zumal wenn +den Herrn die Lust anwandelte, einen langen Schlaf zu halten. Dann +schlief er immer sieben Wochen lang ohne Unterbrechung und ohne sich +sehen zu lassen.</p> + +<p>Wieder war einmal eine solche Schlaflaune über den Wirth gekommen, als +eines Tages ein großer Adler sich auf dem Berge niederließ und so zu +sprechen anhub: »Bist du nicht ein großer Thor, daß du dein schönes +Leben für gute Kost hinopferst? Dein zusammengespartes Geld nützt dir +nichts, denn es sind ja keine Menschen hier, die es brauchen. Nimm des +Wirthes windschnelles Roß aus dem Stalle, binde ihm deinen Geldsack um +den Hals, setze dich auf und reite in der Richtung fort, wo die Sonne +untergeht, so kommst du nach wenig Wochen wieder unter Menschen. Du mußt +aber das Pferd an einer eisernen Kette fest binden, damit es nicht davon +laufen kann, sonst kehrt es zu seiner gewohnten Stätte zurück und der +Wirth kann kommen, um dich anzufechten. Wenn er aber das Pferd nicht +hat, so kann er nicht von der Stelle.« »Wer soll denn hier die Hunde +bewachen, wenn ich weggehe, während der Wirth schläft?« fragte der +Knecht. »Ein Thor bist du, und ein Thor bleibst du!« erwiederte der +Adler. »Hast du denn noch nicht begriffen, daß der liebe Gott ihn dazu +geschaffen hat, daß er die Höllenhunde<span class='pagenum'><a name="Page_101" id="Page_101">[S 101]</a></span> bewache? Es ist reine Faulheit, +daß er sieben Wochen schläft. Wenn er keinen fremden Knecht mehr hat, so +wird er sich aufraffen und seines Amtes selber warten.«</p> + +<p>Der Rath gefiel dem Knechte sehr. Er that, wie der Adler gesagt hatte, +nahm das Pferd, band ihm den Geldsack um, setzte sich auf und ritt +davon. Noch war er nicht gar weit vom Berge, als er schon hinter sich +den Wirth rufen hörte: »Halt an! Halt an! Geh' in Gottes Namen mit +deinem Gelde, aber laß mir mein Pferd.« Der Knecht hörte nicht darauf, +sondern ritt immer weiter, bis er nach einigen Wochen wieder zu +sterblichen Menschen kam. Dort baute er sich ein hübsches Haus, freite +ein junges Weib, und lebte glücklich als reicher Mann. Wenn er nicht +gestorben ist, so muß er noch heute leben; aber das windschnelle Roß ist +schon längst verschieden.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_102" id="Page_102">[S 102]</a></span></p> +<h2>8. Schlaukopf.<a name="FNanchor_33_33" id="FNanchor_33_33"></a><a href="#Footnote_33_33" class="fnanchor">[33]</a></h2> + + +<p>In den Tagen des Kalew-Sohnes lebte im Kungla-Lande<a name="FNanchor_34_34" id="FNanchor_34_34"></a><a href="#Footnote_34_34" class="fnanchor">[34]</a> ein sehr reicher +König, der seinen Unterthanen alle sieben Jahre in der Mitte des Sommers +ein großes Gelage gab, das jedesmal zwei, auch drei Wochen +hintereinander dauerte. Das Jahr eines solchen Festes war wieder +herangekommen und man erwartete den Beginn desselben binnen einigen +Monaten; aber die Leute schienen dies Mal noch unsicher in ihren +Hoffnungen, weil ihnen nämlich schon zwei Mal, vor vierzehn und vor +sieben<span class='pagenum'><a name="Page_103" id="Page_103">[S 103]</a></span> Jahren, die erwartete Freude zu Wasser geworden war. Von Seiten +des Königs war beide Male hinlänglich für die nöthigen Vorräthe gesorgt +worden, aber keines Menschen Zunge war dazu gekommen, sie zu kosten. +Wohl schien die Sache wunderbar und unglaublich, aber es fanden sich +aller Orten viele Menschen, welche die Wahrheit derselben als +Augenzeugen bekräftigten. Beide Male, — so wurde erzählt — als die +Gäste der hergerichteten Speisen und Getränke warteten, war ein +unbekannter fremder Mann zum Oberkoch gekommen und hatte ihn gebeten, +von Speise und Trank ein paar Mundvoll kosten zu dürfen; aber das bloße +Eintunken des Löffels in den Suppenkessel und das Heben der Bierkanne +zum Munde hatte hingereicht, um mit wunderbarer Gewalt alle +Vorrathskammern, Schaffereien und Keller leer zu machen, so daß auch +kein Körnchen und kein Tröpfchen übrig blieb.<a name="FNanchor_35_35" id="FNanchor_35_35"></a><a href="#Footnote_35_35" class="fnanchor">[35]</a> Köche und Küchenjungen +hatten alle den Vorfall gesehen<span class='pagenum'><a name="Page_104" id="Page_104">[S 104]</a></span> und beschworen; gleichwohl war des +Volkes Zorn über die zerstörte Festfreude so groß, daß der König, um die +Leute zu besänftigen, vor sieben Jahren den Oberkoch hatte aufhängen +lassen, weil er dem Fremden die verlangte Erlaubnis gegeben hatte. Damit +nun jetzt nicht abermals ein solches Aergerniß entstünde, war von Seiten +des Königs demjenigen, der die Herstellung des Festes übernähme, eine +reiche Belohnung zugesichert worden: und als gleichwohl Niemand die +Verantwortlichkeit auf sich nehmen wollte, versprach der König endlich +dem Uebernehmer seine jüngste Tochter zur Gemahlin; wenn aber die Sache +unglücklich ausfiele, sollte er mit seinem Leben für den Schaden büßen.</p> + +<p>An der Grenze des Reichs, weit von der Königsstadt, wohnte ein +wohlhabender Bauer mit drei Söhnen, von denen der jüngste schon von +klein auf einen scharfen Verstand zeigte, weil die Rasenmutter<a name="FNanchor_36_36" id="FNanchor_36_36"></a><a href="#Footnote_36_36" class="fnanchor">[36]</a> ihn +aufgezogen und ihn gar oft heimlich an ihrer Brust gesäugt hatte. Der<span class='pagenum'><a name="Page_105" id="Page_105">[S 105]</a></span> +Vater nannte diesen Sohn deshalb <em class="gesperrt">Schlaukopf</em>. Er pflegte zu seinen Söhnen +zu sagen: »Ihr, die beiden älteren Brüder, müsset durch Körperkraft und +Händearbeit euch das tägliche Brod verdienen; du, kleiner Schlaukopf, +kannst durch deinen Verstand in der Welt fortkommen und dich einmal über +deine Brüder emporschwingen.« — Vor seinem Tode teilte er Aecker und +Wiesen zu gleichen Theilen unter seine beiden älteren Söhne. Dem +jüngsten gab er so viel Reisegeld, daß er in die weite Welt gehen +konnte, um sein Glück zu versuchen. Noch war des Vaters Leiche auf dem +Tische nicht kalt geworden, als auch die älteren Brüder ihrem jüngsten +Alles bis auf den letzten Kopeken wegnahmen, dann warfen sie ihn zur +Thür hinaus und riefen ihm höhnisch nach: »Du schlauer Kopf sollst dich +über uns erheben und blos durch deinen Verstand in der Welt fortkommen, +drum könnte das Geld dir lästig sein!«</p> + +<p>Der jüngste Bruder schlug sich die Mißgunst seiner beiden Brüder aus dem +Sinne und machte sich sorglos auf den Weg. »Gott giebt wohl schon +Glück!« den Spruch hatte er sich zum Trost und Begleiter aus dem +Vaterhause mitgenommen; er pfiff die trüben Gedanken fort und ging +leichten Schrittes weiter. Als er anfing Hunger zu verspüren, traf er +zufällig mit zwei reisenden Handwerksgesellen zusammen. Sein angenehmes +Wesen und seine Scherzreden gefielen den Gesellen, sie gaben ihm, als +Rast gehalten wurde, von ihrer Kost ab, und so brachte Schlaukopf den +ersten Tag glücklich zu Ende. Er trennte sich vor Abend von den Gesellen +und ging vergnügt fürbaß, denn das Gefühl der Sättigung ließ keine Sorge +für den nächsten Tag aufkommen. Ein Nachtlager bot sich ihm überall,<span class='pagenum'><a name="Page_106" id="Page_106">[S 106]</a></span> wo +der grüne Rasen die Diele unter ihm und der blaue Himmel das Dach über +ihm bildete; ein Stein unter dem Haupte diente als weiches Schlafkissen. +Am folgenden Tage kam er Vormittags an ein einsames Gehöft. Vor der Thür +saß eine junge Frau und weinte kläglich. Schlaukopf fragte, was sie so +sehr bekümmere, und erfuhr Folgendes: »Ich habe einen schlimmen Mann, +der mich alle Tage schlägt, wenn ich seine tollen Launen nicht +befriedigen kann. Heute befahl er mir, ihm zur Nacht einen Fisch zu +kochen, der kein Fisch sein dürfe, und der wohl Augen, aber nicht am +Kopfe habe. Wo auf der Welt soll ich ein solches Thier finden?« — +»Weine nicht, junges Weibchen« — tröstete sie Schlaukopf: »dein Mann +will einen Krebs, der zwar im Wasser lebt, aber kein Fisch ist, und der +auch Augen hat, aber nicht im Kopfe.«<a name="FNanchor_37_37" id="FNanchor_37_37"></a><a href="#Footnote_37_37" class="fnanchor">[37]</a> Die Frau dankte für die gute +Belehrung, gab ihm zu essen und noch einen Brotsack mit auf die Reise, +von dem er manchen Tag leben konnte. Da ihm nun diese unvermuthete Hülfe +geworden war, beschloß er sogleich in die Königsstadt zu gehen, wo +Klugheit am Meisten werth sein müsse, und wo er sicher sein Glück zu +finden hoffte.</p> + +<p>Ueberall, wohin er kam, hörte er von nichts Anderem sprechen, als von +dem Sommerfeste des Königs. Als er erfuhr, was für ein Lohn demjenigen +verheißen war, der das Fest herstellen werde, ging er mit sich zu Rathe, +ob es nicht möglich sei, die Sache zu übernehmen. Gelingt<span class='pagenum'><a name="Page_107" id="Page_107">[S 107]</a></span> es — so +sprach er zu sich selbst — so bin ich mit einem Male auf dem Wege zum +Glücke. Was sollte ich wohl fürchten? Im allerschlimmsten Falle würde +ich mein Leben verlieren, allein sterben müssen wir doch einmal, sei es +früher oder später. Wenn ich's beim rechten Ende anfange, warum sollte +es nicht gehen? Vielleicht habe ich mehr Glück als die Andern. Und gäbe +mir dann auch der König seine Tochter nicht, so muß er mir doch den +versprochenen Lohn an Gelde auszahlen, der mich zum reichen Manne macht. +Unter diesen Gedanken schritt er vorwärts, sang und pfiff wie eine +Lerche, ruhte zuweilen im Schatten eines Busches von des Tages Hitze +aus, schlief die Nacht unter einem Baume oder im Freien, und langte +glücklich an einem Abend in der Königsstadt an, nachdem er am Morgen +seinen Brotsack bis auf den Grund geleert hatte. Am folgenden Tage erbat +er sich Zutritt zum Könige. Dieser sah, daß er es mit einem gescheuten +und unternehmenden Menschen zu thun hatte und so wurde man leicht +Handels einig. Dann fragte der König: »Wie heißt du?« Der Mann von Kopf +erwiederte: »Mein Taufname ist Nikodemus, aber zu Hause wurde ich immer +<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> genannt, um anzudeuten, daß ich nicht auf den Kopf gefallen +bin.« »Ich will dir diesen Namen lassen,« — sagte der König, — »denn +dein Kopf muß mir für allen Schaden einstehen, wenn die Sache schief +geht!«</p> + +<p><em class="gesperrt">Schlaukopf</em> bat sich vom Könige siebenhundert Arbeiter aus und machte +sich ungesäumt an die Vorbereitungen zum Feste. Er ließ zwanzig große +Riegen<a name="FNanchor_38_38" id="FNanchor_38_38"></a><a href="#Footnote_38_38" class="fnanchor">[38]</a> aufführen, die<span class='pagenum'><a name="Page_108" id="Page_108">[S 108]</a></span> nach Art gutsherrlicher Viehställe im Viereck +zu stehen kamen, so daß ein weiter Hofraum in der Mitte blieb, zu +welchem eine einzige große Pforte hineinführte. In den heizbaren Räumen +ließ er große Kochgrapen und Kessel einmauern, und die Oefen mit +Eisenrosten versehen, um darauf Fleisch, Blutklöße und Würste zu braten. +Andere Riegen wurden mit Kesseln und großen Kufen zum Bierbrauen +versehen, so daß oben die Kessel, unten die Kufen standen. Noch andere +Häuser ohne Feuerstellen wurden aufgeführt, um zu Schaffereien für kalte +Speisen zu dienen, die eine um Schwarzbrot, die andere um Hefenbrot<a name="FNanchor_39_39" id="FNanchor_39_39"></a><a href="#Footnote_39_39" class="fnanchor">[39]</a>, +die dritte um Weißbrot u. s. w. aufzubewahren. Alle nöthigen Vorräthe, +wie Mehl, Grütze, Fleisch, Salz, Fett. Butter u. dgl. wurden auf dem +Hofraum aufgestapelt, und dann wurden funfzig Soldaten als Wache vor die +Pforte gestellt, damit kein Diebesfinger etwas antasten könnte. Der +König besichtigte alle Tage die Zurüstungen und rühmte <em class="gesperrt">Schlaukopfs</em> +Geschick und Klugheit. Außer dem wurden noch einige Dutzend Backöfen im +Freien erbaut, und vor jedem Ofen eine eigene Abtheilung Wachtsoldaten +aufgestellt. Für das Fest wurden geschlachtet tausend Mastochsen, +zweihundert Kälber, fünfhundert Schweine und Ferkel, zehntausend Schafe +und noch viel anderes Kleinvieh, das herdenweise von allen Seiten +zusammengetrieben wurde. Auf den Flüssen sah man Kähne und Böte, auf den +Landstraßen Frachtwagen unauf<span class='pagenum'><a name="Page_109" id="Page_109">[S 109]</a></span>hörlich Proviant zuführen, und zwar waren +die Fuhren nun schon seit Wochen in Bewegung. An Bier allein wurden +siebentausend Ahm gebraut. Wiewohl die siebenhundert Gehülfen von früh +bis spät arbeiteten, und ab und zu auch noch Tagelöhner angenommen +wurden, so lastete doch die meiste Sorge und Mühe auf <em class="gesperrt">Schlaukopf</em>, weil +seine Einsicht die Andern in allen Stücken leiten mußte. Den Köchen, +Bäckern und Brauern hatte er aufs strengste eingeschärft, nicht +zuzulassen, daß ein fremder Mund von den Speisen und Getränken koste; +wer gegen diesen Befehl handle, dem war der Galgen angedroht. Sollte +sich aber irgendwo so ein naschhafter Fremder zeigen, so müsse derselbe +augenblicklich vor den obersten Anordner des Festes gebracht werden.</p> + +<p>Am Morgen des ersten Festtages erhielt <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> Nachricht, daß ein +unbekannter alter Mann in eine Küche gekommen sei und den Koch um +Erlaubniß gebeten habe, aus dem Suppengrapen mit dem Schöpflöffel ein +wenig zu kosten, was ihm der Koch nun also auf eigene Hand nicht +gestatten durfte. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> befahl, den Fremden vorzuführen, und bald +erschien ein kleiner alter Mann mit grauen Haaren, welcher demüthig um +Erlaubniß bat, die Festspeisen und das Getränk schmecken zu dürfen. +<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> hieß ihn in eine der Küchen mitkommen, dort wolle er, wenn es +möglich sei, den ausgesprochenen Wunsch erfüllen. Während sie gingen, +sah er scharf hin, ob an dem Alten nicht irgend etwas Absonderliches zu +entdecken sei. Da erblickte er einen glänzenden goldenen Ring an dem +Ringfinger der linken Hand des Alten. Als sie in die Küche getreten +waren, fragte <em class="gesperrt">Schlaukopf</em>: »Was für<span class='pagenum'><a name="Page_110" id="Page_110">[S 110]</a></span> ein Pfand kannst du mir geben, daß +kein Schaden entsteht, wenn ich dich die Speise kosten lasse?« »Gnädiger +Herr,« — erwiederte der Fremde — »ich habe dir nichts zum Pfande zu +geben.« <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> zeigte auf den schönen goldenen Ring und verlangte +ihn zum Pfande.<a name="FNanchor_40_40" id="FNanchor_40_40"></a><a href="#Footnote_40_40" class="fnanchor">[40]</a> Dagegen sträubte sich der alte Schelm, indem er +versicherte, der Ring sei ein Andenken seiner verstorbenen Frau und er +dürfe ihn einem Gelübde zufolge niemals aus der Hand geben, weil sonst +Unglück kommen könnte. »Dann ist es mir auch nicht möglich, dein +Verlangen zu erfüllen,« sagte <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> — »ohne Pfand kann ich +Niemanden weder Festes noch Flüssiges schmecken lassen.« Den Alten +stachelte die Lüsternheit so sehr, daß er endlich seinen Ring zum Pfande +gab. Als er jetzt den Löffel in den Kessel tunken wollte, versetzte ihm +<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> von hinten mit dem Rücken eines Beiles einen so gewaltigen +Schlag auf den Kopf, daß der stärkste Mastochse davon umgefallen wäre, +aber der alte Schelm sank nicht, sondern taumelte nur ein Bischen. +<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> packte ihn jetzt mit beiden Händen am Barte und ließ starke +Stricke bringen, mit denen dem Alten Hände und Füße festgebunden wurden, +worauf er bei den Beinen an einem Balken in die Höhe gezogen wurde. +<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> rief ihm spottend zu: »Da warte nun,<span class='pagenum'><a name="Page_111" id="Page_111">[S 111]</a></span> bis die Festtage +vorüber sind, dann wollen wir weiter miteinander abrechnen. Der Ring, in +welchem deine Kraft steckt, bleibt mir inzwischen als Pfand.« Der Alte +mußte sich wohl oder übel zufrieden geben; er konnte, gefesselt wie er +war, nicht Hand noch Fuß bewegen.</p> + +<p>Jetzt begann das Gelage, zu welchem die Leute zu Tausenden von allen +Seiten herbeigeströmt waren. Obwohl die Gasterei volle drei Wochen +dauerte, so mangelte es doch weder an Speise noch an Trank, vielmehr +blieb von Allem noch ein gut Theil übrig.</p> + +<p>Das Volk war voll Dank und Preis für den König und den Hersteller des +Festes. Als der König diesem den bedungenen Lohn ausbezahlen wollte, +sagte <em class="gesperrt">Schlaukopf</em>: »Ich habe noch mit dem Fremden ein kleines Geschäft +abzumachen, ehe ich meinen Lohn in Empfang nehme.« Dann nahm er sieben +starke Männer mit sich, die er mit tüchtigen Knütteln versorgen ließ, +und führte sie dahin, wo er den Alten vor drei Wochen an einen Balken +aufgehängt hatte. »Ihr Männer! Fasset die Knüttel fest in die Faust und +verarbeitet mir den Alten, daß er dieses Bad und unser Gastgebot in +seinem Leben nicht vergesse!« — Die Männer begannen nun alle sieben den +Alten greulich durchzugerben, so daß sie ihm fast das Leben genommen +hätten; aber von ihren harten Schlägen riß endlich der Strick. Das +Männlein fiel herunter und verschwand im Nu unter der Erde, hinterließ +aber eine breite Oeffnung. Schlaukopf sagte: »Ich habe ein Pfand, mit +welchem ich ihm folgen muß. Bringet dem Könige viele tausend Grüße und +saget ihm, er möge, wenn ich nicht zurück kommen sollte, meinen Lohn +unter die Armen vertheilen.«<span class='pagenum'><a name="Page_112" id="Page_112">[S 112]</a></span></p> + +<p>Er kroch nun durch dasselbe Schlupfloch, durch welches der Alte +verschwunden war, in die Tiefe. Anfangs fand er den Weg sehr eng, aber +einige Klafter tiefer wurde er viel breiter, so daß man leicht vorwärts +kommen konnte. Eingehauene Stufen bewahrten den Fuß davor, daß er trotz +der Finsterniß nicht glitt. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> war eine Weile gegangen, als er +an eine Thür kam. Er lugte durch eine kleine Oeffnung und sah drei junge +Mädchen sitzen und den ihm wohlbekannten Alten, dessen Kopf dem einen +der Mädchen im Schooße lag. Das Mädchen sagte: »Wenn ich noch ein Paar +Mal die Beule mit der Klinge presse, so vergeht Geschwulst und Schmerz.« +<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> dachte, das ist gewiß die Stelle, die ich vor drei Wochen mit +dem Rücken des Beils gezeichnet habe. Er nahm sich vor, so lange hinter +der Thür zu warten, bis der Hausherr sich schlafen gelegt habe und das +Feuer ausgelöscht sei. Der Alte bat: »Helft mir in die Kammer, daß ich +mich zu Bette lege, mein Körper ist ganz aus den Gelenken, ich kann +nicht Hand noch Fuß regen.« Darauf wurde er in die Schlafkammer geführt. +Während der Dämmerung, als die Mädchen das Gemach verlassen hatten, +schlich <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> herein und fand ein Versteck hinter dem +Biertönnchen.<a name="FNanchor_41_41" id="FNanchor_41_41"></a><a href="#Footnote_41_41" class="fnanchor">[41]</a></p> + +<p>Die Mädchen kamen bald zurück und sprachen leise miteinander, um den +alten Papa nicht aufzuwecken. »Die Kopfbeule hätte nichts zu sagen,« +meinte die eine, <span class='pagenum'><a name="Page_113" id="Page_113">[S 113]</a></span>— »und der verrenkte Körper würde sich auch schon +wieder herstellen, aber der verlorene Kraftring ist ein unersetzlicher +Schade, und der quält den Alten wohl mehr als sein körperlicher +Schmerz.« Als man später den Alten schnarchen hörte, trat <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> aus +seinem Versteck hervor und befreundete sich mit den Mädchen. Anfangs +sahen diese wohl erschrocken drein, aber der verschlagene Jüngling wußte +ihre Furcht zu beschwichtigen, so daß sie ihn zur Nacht da bleiben +ließen. Er hatte von den Mädchen herausgebracht, daß der Alte zwei ganz +besondere Dinge besitze, ein berühmtes Schwert und eine Gerte vom +Ebereschenbaum,<a name="FNanchor_42_42" id="FNanchor_42_42"></a><a href="#Footnote_42_42" class="fnanchor">[42]</a> und er gedachte beides mit zu nehmen. Die Gerte +schuf auf dem Meere eine Brücke vor ihrem Besitzer her, und mit dem +Schwerte ließ sich das zahlreichste Heer vernichten. Den folgenden Abend +hatte sich <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> richtig des Schwertes und der Gerte bemächtigt, +und war vor Tagesanbruch mit Hülfe des jüngsten Mädchens entkommen. Aber +vor der Thür fand er das alte Schlupfloch nicht mehr, sondern einen +großen Hofplatz und weiterhin wogte das Meer hinter der Koppel.</p> + +<p>Unter den Mädchen hatte sich nach seinem Scheiden ein Wortwechsel +erhoben, der so heftig wurde, daß der Alte von dem Lärm erwachte. Aus +ihrem Zanke wurde ihm klar, daß ein Fremder hier verkehrt hatte, er +stand zornig auf und fand Schwert und Gerte entwendet. »Mein<span class='pagenum'><a name="Page_114" id="Page_114">[S 114]</a></span> bester +Schatz ist mir geraubt!« brüllte er, vergaß allen Körperschmerz und +stürmte hinaus. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> saß noch immer am Meeresufer und sann +darüber, ob er die Kraft der Gerte erproben oder sich einen trockenen +Weg suchen solle. Plötzlich hört er hinter sich ein Sausen wie von einer +Windsbraut. Als er sich umsieht, erblickt er den Alten, der wie toll +gerade auf ihn los rennt. Er springt auf und hat eben noch Zeit, mit der +Gerte auf die Wellen zu schlagen und zu rufen: »Brücke vorn, Wasser +hinten!«<a name="FNanchor_43_43" id="FNanchor_43_43"></a><a href="#Footnote_43_43" class="fnanchor">[43]</a> Kaum hat er das Wort gesprochen, so befindet er sich auf +einer Brücke im Meere, schon eine Strecke vom Ufer entfernt.</p> + +<p>Der Alte kommt ächzend und keuchend an's Ufer und bleibt stehen, als er +den Dieb auf der Brücke über dem Meere sieht. Schnaufend ruft er:<a name="FNanchor_44_44" id="FNanchor_44_44"></a><a href="#Footnote_44_44" class="fnanchor">[44]</a> +»Nikodemus, Söhnchen! wo willst du hin?« — »Nach Hause, Papachen!« war +die Antwort. »Nikodemus, Söhnchen! du hast mir mit dem Beil auf den Kopf +geschlagen und mich bei den Beinen am Balken ausgehängt?« — »Ja, +Papachen.« »Nikodemus, Söhnchen! hast du mich von sieben Mann<span class='pagenum'><a name="Page_115" id="Page_115">[S 115]</a></span> +durchprügeln lassen und meinen goldenen Ring geraubt?« — »Ja, +Papachen!« »Nikodemus, Söhnchen! hast du dich mit meinen Töchtern +befreundet?« — »Ja, Papachen.« »Nikodemus, Söhnchen! hast du das +Schwert und die Gerte gestohlen?« — »Ja, Papachen.« »Nikodemus, +Söhnchen! willst du zurück kommen?« — »Ja, Papachen!« gab <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> +wieder zur Antwort. Inzwischen war er auf der Brücke so weit gekommen, +daß er des Alten Rede nicht mehr hören konnte. Als er über das Meer +hinübergelangt war, erfragte er den nächsten Weg zur Stadt des Königs +und eilte dahin, um seinen Lohn zu fordern.</p> + +<p>Aber siehe da! er fand hier Alles ganz anders als er gehofft hatte. +Seine Brüder standen beide im Dienste des Königs, der eine als Kutscher, +der andere als Kammerdiener. Beide lebten gar lustig: sie waren reiche +Leute. Als Schlaukopf sich vom Könige seinen Lohn ausbat, sagte dieser: +»Ich hatte dich ein ganzes Jahr lang erwartet, da aber nichts von dir zu +hören noch zu sehen war, so hielt ich dich für todt, und wollte deinen +Lohn unter die Armen vertheilen lassen nach deinem Geheiß. Da kamen aber +eines Tages deine älteren Brüder, um diesen Lohn zu erben. Ich übergab +die Sache dem Gericht, welches ihnen den Lohn zuerkannte, wie sich's +auch gebührte, weil man glaubte, du seiest nicht mehr am Leben. Später +traten deine Brüder in meinen Dienst, und stehen noch darin.« Als +<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> diese Rede des Königs hörte, glaubte er zu träumen, denn +seines Bedünkens war er nicht länger als zwei Nächte in der +unterirdischen Behausung des Alten gewesen, und hatte dann einige Tage +gebraucht, um heim<span class='pagenum'><a name="Page_116" id="Page_116">[S 116]</a></span>zukehren; jetzt zeigte sich's aber, daß jede Nacht +Jahreslänge gehabt hatte. Er wollte seine Brüder nicht verklagen, ließ +ihnen das Geld, dankte Gott, daß er mit dem Leben davon gekommen war und +sah sich nach einem neuen Dienste um. Der königliche Koch nahm ihn als +Küchenjungen an, und er mußte jetzt alle Tage den Braten am Spieße +drehen. Seine Brüder verachteten ihn wegen dieser geringen Handthierung +und mochten nicht mit ihm umgehen, er aber hatte sie doch lieb. So hatte +er ihnen auch eines Abends Manches von dem erzählt, was er in der +Unterwelt gesehen hatte, wo die Gänse und Enten goldenes und silbernes +Gefieder trugen. Die Brüder hinterbrachten das Gehörte dem Könige und +baten ihn, er möge ihren jüngsten Bruder doch hinschicken, damit er die +seltenen Vögel herbringe. Der König ließ den Küchenjungen rufen und +befahl ihm, sich am nächsten Morgen aufzumachen, um die Vögel mit dem +kostbaren Gefieder zu holen.</p> + +<p>Mit schwerem Herzen machte sich <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> auf den Weg, nahm aber Ring, +Gerte und Schwert, die er heimlich bewahrt hatte, mit sich. Nach einigen +Tagen kam er an den Meeresstrand und sah an der Stelle, wo er auf seiner +Flucht an's Land gestiegen war, einen alten Mann an einem Steine sitzen. +Als er näher trat, fragte ihn der Mann, der einen langen grauen Bart +hatte: »Weßhalb bist du so verdrießlich, Freundchen?« <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> +erzählte ihm den schlimmen Handel. Der Alte hieß ihn gutes Muths und +ohne Sorge sein und sagte: »So lange der Kraftring in deiner Hand ist, +kann dir nichts Böses geschehen.« Dann erhielt <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> eine Muschel<span class='pagenum'><a name="Page_117" id="Page_117">[S 117]</a></span> +von ihm und wurde bedeutet, mit der Zaubergerte die Brücke bis in die +Mitte des Meeres zu schlagen; alsdann solle er mit dem linken Fuße auf +die Muschel treten, so werde er dadurch in die Unterwelt gelangen, wo +das Gesinde gerade schlafen werde. Weiter hieß er ihn aus +Spinnegewebe<a name="FNanchor_45_45" id="FNanchor_45_45"></a><a href="#Footnote_45_45" class="fnanchor">[45]</a> einen Sack nähen, um die silber- und goldgefiederten +Schwimmvögel hineinzuthun; dann solle er unverzüglich zurück kommen. +<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> dankte für die erwünschte Anleitung und eilte fort. Die Sache +ging so, wie vorhergesagt war; aber kaum war er mit seiner Beute bis +an's Meeresufer gelangt, so hörte er den alten Burschen hinterdrein +keuchen und vernahm auch, wie er auf die Brücke trat, wieder dieselben +Fragen als das erste Mal: »Nikodemus, Söhnchen! Du hast mir mit dem +Rücken des Beils auf den Kopf geschlagen und hast mich bei den Beinen am +Balken aufgehängt?« u. s. w. bis zuletzt noch die Frage hinzukam, welche +den an den Schwimmvögeln verübten Diebstahl betraf. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> +antwortete auf jede Frage »ja« und eilte weiter.</p> + +<p>So wie ihm der Freund mit dem grauen Barte vorausgesagt hatte, kam er am +Abend mit seiner kostbaren Vogellast in der Stadt des Königs an; der +Sack aus Spinnegewebe hielt die Thiere so fest, daß keines heraus +konnte. Der König schenkte ihm ein Trinkgeld und befahl ihm, am +folgenden Tage wieder hinzugehen, denn er hatte von den älteren Brüdern +gehört, der Herr der Unterwelt besitze sehr viele goldene und silberne +Hausgeräthe, und diese begehrte der König für sich. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> wagte +nicht<span class='pagenum'><a name="Page_118" id="Page_118">[S 118]</a></span> sich dem Befehle zu widersetzen, aber er ging unmuthig von +dannen, weil er nicht vorher wissen konnte, wie die Sache ablaufen +würde. Am Meeresufer aber kam ihm der Mann mit dem grauen Barte +freundlich entgegen und fragte ihn nach der Ursache seiner Betrübniß. +Alsdann erhielt <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> wiederum eine Muschel und noch eine Handvoll +kleiner Steinchen nebst folgender Anweisung: »Wenn du nach Mittag hin +kommst, so liegt der Wirth im Bette, um zu verdauen, die Töchter spinnen +in der Stube, und die Großmutter scheuert in der Küche die goldenen und +silbernen Gefäße blank. Klettere dann behend auf den Schornstein, wirf +die in ein Läppchen eingebundenen Steinchen der Alten an den Hals, folge +selbst schleunigst nach, stecke die kostbaren Geräthe in den Sack von +Spinnegewebe und dann lauf', was die Beine halten wollen.« <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> +dankte und machte es ganz, wie vorgeschrieben war. Als er aber das +Läppchen mit den Steinchen fahren ließ, dehnte es sich zu einem +sechslöfigen mit Kieselsteinen gefüllten Sacke aus, der die Alte zu +Boden schmetterte. Flugs hatte <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> alle goldenen und silbernen +Gefäße in den Sack von Spinnegewebe gepackt und war davon gejagt.<a name="FNanchor_46_46" id="FNanchor_46_46"></a><a href="#Footnote_46_46" class="fnanchor">[46]</a> +Der »alte Bursche« meinte, als er das Gepolter des Sackes hörte, der +Schornstein sei eingestürzt und getraute sich nicht gleich nachzusehen. +Als er aber die Großmutter lange vergeblich gerufen hatte, mußte er +endlich selbst gehen. Als er das Unglück entdeckte, eilte er, dem Diebe +nachzusetzen, der noch nicht weit sein konnte. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> war schon auf +dem Meere, als<span class='pagenum'><a name="Page_119" id="Page_119">[S 119]</a></span> der Verfolger ächzend und keuchend an's Ufer kam. +»Nikodemus, Söhnchen!« u. s. w. wiederholte der alte Bursche alle +früheren fragen der Reihe nach. Die letzte Frage war: »Nikodemus, +Söhnchen! hast du mir mein Gold- und Silbergeräth gestohlen?« »Freilich, +Papachen!« war die Antwort. »Nikodemus, Söhnchen! versprichst du noch +wiederzukommen?« — »Nein, Papachen!« antwortete <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> und lief auf +der Brücke vorwärts. Obwohl der alte Bursche hinter dem Diebe her +schimpfte und fluchte, so konnte er seiner doch nicht habhaft werden, +weil alle Zauberwerkzeuge in den Händen des Diebes waren.</p> + +<p><em class="gesperrt">Schlaukopf</em> fand den Alten mit dem grauen Barte wieder am Strande, warf +den schweren Sack mit den Gold- und Silbersachen, den er nur mit Hülfe +des Kraftringes hatte fortbringen können, ab, und setzte sich dann, um +die müden Glieder auszuruhen. Im Gespräch erfuhr er nun von dem alten +Manne Manches, was ihn erschreckte. Der Alte sagte: »Die Brüder hassen +dich und trachten, dir auf alle Weise das Garaus zu machen, — wenn du +ihrem bösen Anschlag nicht zuvorkommst. Sie werden den König hetzen, dir +solche Arbeit aufzutragen bei der du leicht den Tod finden kannst. Wenn +du nun heute Abend mit der reichen Last vor den König trittst, so wird +er freundlich gegen dich sein, dann erbitte dir als einzigen Gnadenlohn, +daß die Tochter des Königs Abends heimlich hinter die Thür gebracht +werde, um zu hören, was deine Brüder untereinander sprechen.«</p> + +<p>Als <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> darnach mit der reichen Habe, die man wenigstens auf zehn +Pferdelasten schätzen konnte, vor den König trat, fand er diesen sehr +freundlich und gütig.<span class='pagenum'><a name="Page_120" id="Page_120">[S 120]</a></span> <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> bat nun um den von dem Alten +angegebenen Gnadenlohn. Der König war froh, daß der Schatzbringer keinen +größeren Lohn verlangte und befahl seiner Tochter, sich Abends heimlich +hinter die Thür zu begeben, um zu hören, was der Kutscher und der +Kammerdiener miteinander sprächen. Durch das Wohlleben übermüthig +geworden, prahlten die Brüder mit ihrem Glücke, und was noch einfältiger +war, sie beschimpften dabei lügenhafter Weise des Königs Tochter. Der +Kutscher sagte: »Sie ist viele Mal des Nachts zu mir gekommen, um bei +mir zu schlafen.« Der Kammerdiener erwiederte lachend: »Das kam daher, +weil ich sie nicht mehr wollte und meine Thür vor ihr zuschloß, sonst +würde sie jede Nacht in meinem Bette sein.« Roth vor Scham und Zorn kam +die Tochter zu ihrem Vater, erzählte weinend, welche eine schamlose Lüge +sie mit ihren eigenen Ohren von den Dienern hatte aussprechen hören, und +bat, die Frevler zu bestrafen. Der König ließ die Beiden alsbald in's +Gefängniß werfen und am andern Tage, nachdem sie vor Gericht ihre Schuld +eingestanden hatten, hinrichten. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> wurde zum Rathgeber des +Königs erhoben.</p> + +<p>Nach einiger Zeit fiel ein fremder König mit einem großen Heere in's +Land, und <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> ward gegen den Feind in's Feld geschickt. Da zog er +sein aus der Unterwelt geholtes Schwert<a name="FNanchor_47_47" id="FNanchor_47_47"></a><a href="#Footnote_47_47" class="fnanchor">[47]</a> zum ersten Mal aus der +Scheide<span class='pagenum'><a name="Page_121" id="Page_121">[S 121]</a></span> und begann das feindliche Heer niederzumähen, bis nach kurzer +Zeit Alle auf der blutigen Wahlstatt den Tod gefunden hatten. Der König +freute sich über diesen Sieg so sehr, daß er <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> zum +Schwiegersohn nahm.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_122" id="Page_122">[S 122]</a></span></p> +<h2>9. Der Donnersohn.<a name="FNanchor_48_48" id="FNanchor_48_48"></a><a href="#Footnote_48_48" class="fnanchor">[48]</a></h2> + + +<p>Der Donnersohn schloß mit dem Teufel einen Vertrag auf sieben Jahre, +laut dessen der Teufel ihm als<span class='pagenum'><a name="Page_123" id="Page_123">[S 123]</a></span> Knecht dienen und unweigerlich in allen +Stücken des Herrn Willen erfüllen sollte; zum Lohn für treue Dienste +versprach<span class='pagenum'><a name="Page_124" id="Page_124">[S 124]</a></span> ihm der Donnersohn seine Seele zu geben. Der Teufel that +seine Schuldigkeit gegen seinen Herrn, er scheute nicht die schwerste +Arbeit und murrte nimmer über das Essen, denn er wußte ja, was für einen +Lohn er nach sieben Jahren von Rechtswegen erhalten sollte. Sechs Jahre +waren vorüber, und das siebente hatte begonnen, aber der Donnersohn +hatte durchaus keine Lust, dem bösen Geist seine Seele so wohlfeilen +Kaufes zu überlassen, und hoffte deshalb durch irgend eine List den +Klauen des Feindes zu entrinnen. Schon beim Abschluß des Vertrages hatte +er dem alten Burschen den Streich gespielt, daß er ihm statt des eigenen +Blutes Hahnenblut<a name="FNanchor_49_49" id="FNanchor_49_49"></a><a href="#Footnote_49_49" class="fnanchor">[49]</a> zur Besiegelung gab, und der kurzsichtige hatte +den Betrug nicht gemerkt. Und doch war eben dadurch das Band, welches +die Seele des Donnersohns unauflöslich verstricken sollte ganz locker +geworden.<span class='pagenum'><a name="Page_125" id="Page_125">[S 125]</a></span> Obgleich indeß das Ende der Dienstzeit immer näher rückte, +hatte der Donnersohn sich immer noch keinen Kunstgriff ersonnen, der ihn +frei machen konnte. Da traf es sich, daß an einem heißen Tage von Mittag +her eine schwarze Wetterwolke aufstieg, die den Ausbruch eines schweren +Gewitters drohte. Der alte Bursche verkroch sich sogleich in der Tiefe +der Erde, zu welchem Behuf er immer ein Schlupfloch unter einem Steine +bereit hatte. »Komm Brüderchen, und leiste mir Gesellschaft, bis das +Ungewitter vorüber ist!« bat der Teufel seinen Herrn mit honigsüßer +Zunge. »Was versprichst du mir, wenn ich deine Bitte erfülle?« fragte +der Donnersohn. Der Teufel meinte, darüber könne man sich unten einigen, +denn hier oben mochte er die Bedingungen nicht mehr besprechen, da die +Wolke ihm jeden Augenblick über den Hals zu kommen drohte. Der +Donnersohn dachte: heute hat die Furcht den alten Burschen ganz mürbe +gemacht; wer weiß, ob es mir nicht glückt, mich von ihm los zu machen. +So ging er denn mit ihm in die Höhle. Das Gewitter dauerte sehr lange, +Krach folgte auf Krach, daß die Erde zitterte und die Felsen erbebten. +Bei jeder Erschütterung drückte sich der alte Bursche die Fäuste gegen +die Ohren und kniff die Augen fest zu; kalter Schweiß bedeckte seine +zitternden Glieder, und er konnte kein Wort hervorbringen. Gegen Abend, +als das Gewitter vorüber war, sagte er zum Donnersohn: »Wenn der alte +Vater nicht dann und wann so viel Lärm und Getöse<a name="FNanchor_50_50" id="FNanchor_50_50"></a><a href="#Footnote_50_50" class="fnanchor">[50]</a> machte, so könnte +ich mit ihm<span class='pagenum'><a name="Page_126" id="Page_126">[S 126]</a></span> schon durchkommen und könnte ruhig leben, da mir seine +Pfeile unter der Erde nicht schaden können. Aber sein gräßliches Getöse +greift mich so an, daß ich gleich die Besinnung verliere und nicht mehr +weiß, was ich thue. Denjenigen, der mich von diesem Drangsal befreite, +würde ich reichlich belohnen.« Der Donnersohn erwiederte: »Da ist kein +besserer Rath, als dem alten Papa das Donnergeräth heimlich +wegzunehmen.« »Ich würde es schon entwenden,« antwortete der Teufel, +»wenn die Sache möglich wäre, aber der alte <em class="antiqua">Kõu</em><a name="FNanchor_51_51" id="FNanchor_51_51"></a><a href="#Footnote_51_51" class="fnanchor">[51]</a> ist stets wachsam, +er läßt weder Tag noch Nacht das Donnerwerkzeug aus den Augen, wie wäre +da ein Entwenden möglich?« Der Donnersohn blieb aber dabei, daß sich die +Sache wohl machen ließe. »Ja, wenn du mir helfen würdest,« rief der +Teufel, »dann könnte der Anschlag vielleicht gelingen, ich allein komme +damit nicht zu Gange.« Der Donnersohn versprach nun sein Helfershelfer +zu werden, verlangte aber dafür keinen geringeren Lohn, als daß der +Teufel den Seelenkauf rückgängig mache. »Meinethalben nimm drei Seelen, +wenn du mich von dieser gräßlichen Noth und Angst befreist!« rief der +Teufel vergnügt. Nun setzte ihm der<span class='pagenum'><a name="Page_127" id="Page_127">[S 127]</a></span> Donnersohn auseinander, in welcher +Weise er die Entwendung für möglich halte, wenn sie sich Beide einmüthig +und mit vereinten Kräften an's Werk machten. »Aber,« so schloß er, »wir +müssen so lange warten, bis der alte Papa sich wieder einmal so sehr +ermüdet, daß er in tiefen Schlaf fällt, denn gewöhnlich schläft er ja +wie der Hase mit offenen Augen.«</p> + +<p>Einige Zeit nach dieser Berathung brach ein schweres Gewitter aus, das +lange anhielt. Der Teufel saß wieder mit dem Donnersohn in seinem +Schlupfwinkel unter dem Steine. Die Furcht hatte den alten Burschen so +betäubt, daß er kein Wort von dem hörte, was sein Gefährte sprach. Am +Abend aber erstiegen Beide einen hohen Berg, wo der alte Bursche den +Donnersohn auf seine Schultern hob und sich dann selber durch Zauber +immer weiter in die Höhe reckte,<a name="FNanchor_52_52" id="FNanchor_52_52"></a><a href="#Footnote_52_52" class="fnanchor">[52]</a> wobei er sang:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Recke, Brüderchen, dich aufwärts,<br /></span> +<span class="i0">Wachse, Freundchen, in die Höhe!«<br /></span> +</div></div> + +<p>bis er zur Wolkengrenze hinaufgewachsen war. Als der Donnersohn über den +Wolkenrand<a name="FNanchor_53_53" id="FNanchor_53_53"></a><a href="#Footnote_53_53" class="fnanchor">[53]</a> hinüber spähte, sah er den Papa <em class="antiqua">Kõu</em> ruhig schlafen, den +Kopf auf zusammen<span class='pagenum'><a name="Page_128" id="Page_128">[S 128]</a></span>geballte Wolken gestützt, aber die rechte Hand lag +quer über das Donnergeräth ausgestreckt. Man konnte das Instrument nicht +fortnehmen, weil das Berühren der Hand den Schlafenden geweckt haben +würde. Der Donnersohn kroch nun von der Schulter des alten Burschen in +die Wolken hinein, schlich leise wie eine Katze näher und suchte sich +durch List zu helfen. Er holte hinter seinem Ohre eine Laus hervor und +setzte sie dem Papa <em class="antiqua">Kõu</em> zum Kitzeln auf die Nase. Der Alte nahm alsbald +die Hand, um seine Nase zu kratzen, in demselben Augenblick aber packte +der Donnersohn das frei gewordene Donnerwerkzeug und sprang vom +Wolkenrand auf den Nacken des Teufels zurück, der mit ihm den Berg +hinunter rannte, als hätte er Feuer hinter sich. Der alte Bursche hielt +auch nicht eher an, als bis er die Hölle erreicht hatte. Hier verschloß +er seinen Raub in eiserner Kammer hinter sieben Schlössern, dankte dem +Donnersohn für die treffliche Hülfe und leistete auf dessen Seele völlig +Verzicht.</p> + +<p>Jetzt aber brach über die Welt und die Menschen ein Unglück herein, +welches der Donnersohn nicht hatte vorhersehen können: die Wolken +spendeten keinen Tropfen Feuchtigkeit mehr, und Alles welkte in der +Dürre hin. — Habe ich leichtsinniger Weise dieses unerwartete Elend +über die Leute gebracht, so muß ich suchen, die Sache, soweit möglich, +wieder gut zu machen, — dachte der Donnersohn und überlegte, wie der +Noth abzuhelfen sei. Er zog gen Norden an die finnische Grenze, wo ein +berühmter Zauberer wohnte, entdeckte ihm den Raub und gab auch an, wo +das Donnerwerkzeug gegenwärtig versteckt sei. Da sagte der Zauberer: +»Zunächst muß dem alten<span class='pagenum'><a name="Page_129" id="Page_129">[S 129]</a></span> Vater <em class="antiqua">Kõu</em> Kunde werde, wo sein Donnergeräth +festgehalten wird, er findet dann selbst wohl Mittel und Wege, wieder zu +seinem Eigenthume zu gelangen.« Und er schickte dem alten Wolkenvater +Botschaft durch den Adler des Nordens. Gleich am folgenden Morgen kam +<em class="antiqua">Kõu</em> zum Zauberer, um ihm dafür zu danken, daß er die Spur des Diebstahls +nachgewiesen hatte. Sodann verwandelte sich der Donnerer in einen +Knaben, suchte einen Fischer auf und verdingte sich bei demselben als +Sommerarbeiter. Er wußte nämlich, daß der Teufel häufig an den See kam, +um Fische zu raffen, und hoffte ihn dort einmal zu treffen. Wiewohl nun +der Knabe <em class="antiqua">Pikker</em><a name="FNanchor_54_54" id="FNanchor_54_54"></a><a href="#Footnote_54_54" class="fnanchor">[54]</a> Tag und Nacht kein Auge von seinen Netzen +verwandte, so verging doch eine Weile, ehe er des Feindes ansichtig +wurde. Dem Fischer war es längst aufgefallen, daß oftmals die bei Nacht +in den See gelassenen Netze am Morgen leer heraufgezogen wurden, aber er +konnte die Ursache nicht erklären. Sein Knabe wußte freilich recht gut, +wer der Fischdieb sei, aber er wollte nicht früher sprechen, als bis er +seinem Herrn den Dieb auch zeigen könnte.</p> + +<p>In einer mondhellen Nacht, als er mit seinem Herrn an den See kam, um +nach den Netzen zu sehen, traf es sich, daß der Dieb gerade bei der +Arbeit war. Als sie über den Rand ihres Kahnes in's Wasser blickten, +sahen sie Beide, wie der alte Bursche aus den Maschen des Netzes Fische +heraus holte und in seinen Schultersack stopfte. Am folgenden Tage ging +der Fischer einen berühmten Zauberer um Hülfe an und bat ihn, den Dieb +durch seine<span class='pagenum'><a name="Page_130" id="Page_130">[S 130]</a></span> Kunst dermaßen an das Netz zu bannen, daß er ohne Willen +des Besitzers sich nicht los machen könne. Das geschah denn auch ganz +nach des Fischers Wunsch. Als man am folgenden Tage das Netz aus dem See +herauf wand, kam auch der alte Bursche mit an die Oberfläche und wurde +an's Ufer gebracht. Hei! was er da vom Fischer und Fischerknaben +durchgegerbt wurde! Da er ohne Willen des Zauberers vom Netze nicht +loskommen konnte, so mußte er alle Hiebe ruhig hinnehmen. Die Fischer +zerschlugen ihm wohl ein Fuder Prügelstecken auf dem Leibe, ohne +hinzusehen auf welchen Körpertheil die Schläge fielen. Des alten +Burschen Kopf blutete und war dick aufgeschwollen, die Augäpfel traten +aus ihren Höhlen, — es war ein gräßlicher Anblick — aber der Fischer +und sein Knabe hatten kein Erbarmen mit dem gemarterten Teufel, sondern +ruhten nur von Zeit zu Zeit aus, um von neuem darauf los zu dreschen. +Als klägliches Bitten nicht half, bot der alte Bursche endlich ein hohes +Lösegeld, ja er versprach dem Fischer die Hälfte seiner Habe und noch +mehr, wenn der Bann gelöst würde. Der erzürnte Fischer ließ sich aber +nicht eher auf den Handel ein, als bis ihm die letzte Kraft ausging, so +daß er keinen Stock mehr rühren konnte. Endlich kam, nachdem ein Vertrag +geschlossen worden, der alte Bursche mit Hülfe des Zauberers vom Netze +los, worauf er den Fischer bat, er möge nebst seinem Knaben mit ihm +kommen, um das Lösegeld abzuholen. Wer weiß, ob er nicht hoffte, sie +noch durch irgend eine List zu betrügen.</p> + +<p>Im Höllenhofe wurde den Gästen ein prächtiges Fest bereitet, das über +eine Woche dauerte und bei welchem es<span class='pagenum'><a name="Page_131" id="Page_131">[S 131]</a></span> an nichts fehlte. Der alte Wirth +zeigte den Gästen seine Schatzkammern und geheimnisvollen Geräthe, und +ließ von seinen Spielleuten dem Fischer zur Erheiterung die schönsten +Weisen aufspielen. Eines Morgens sprach der Knabe <em class="antiqua">Pikker</em> heimlich zum +Fischer: »Wenn du heute wieder bewirthet und geehrt wirst, so bitte dir +aus, daß man das Instrument bringe, welche in der Eisenkammer hinter +sieben Schlössern liegt.« Bei Tische, als die Männer schon einen halben +Rausch hatten, bat der Fischer, man möge ihm das Instrument aus der +geheimen Kammer zeigen. Der Teufel zeigte sich willig, holte das +Instrument herbei und fing selbst an darauf zu spielen. Allein obgleich +er aus Leibeskräften hineinblies und die Finger an der Röhre auf und ab +bewegte, so war der Ton, den er herausbrachte, doch nicht besser als das +Geschrei einer Katze, die in den Schwanz gekniffen wird, oder das +Gequieke eines Ferkels, das man auf die Wolfsjagd nimmt.<a name="FNanchor_55_55" id="FNanchor_55_55"></a><a href="#Footnote_55_55" class="fnanchor">[55]</a> Lachend +sagte der Fischer: »Quälet euch nicht umsonst ab! ich sehe wohl, daß aus +euch doch kein Dudelsackbläser mehr wird. Mein Hüterknabe wurde es +besser machen.« »Oho!« rief der Teufel. — »Ihr meint vielleicht, das +Blasen auf dem Dudelsack sei ungefähr wie das Flöten auf einem +Weidenrohr, und haltet es für ein Kinderspiel? Komm, Freundchen, +versuch' es erst, und wenn du oder dein Hüterknabe etwas wie einen Ton +auf dem Instrumente hervorbringen könnt, so will ich nicht länger der +Höllenwirth heißen.« »Da versuch's!« rief er und reichte das<span class='pagenum'><a name="Page_132" id="Page_132">[S 132]</a></span> Instrument +dem Knaben hin. Der Knabe <em class="antiqua">Pikker</em> nahm es, als er aber den Mund an die +Röhre setzte und hineinblies, da erbebten die Wände der Hölle, der +Teufel und sein Gesinde fielen ohnmächtig hin und lagen wie todt da. +Plötzlich stand an Stelle des Knaben der alte Vater Donnerer selbst +neben dem Fischer, dankte für geleistete Hülfe und sagte: »Künftig, wenn +mein Instrument wieder aus den Wolken ertönt, soll deinen Netzen reiche +Gabe beschieden sein.« Dann trat er eilig die Heimkehr an.</p> + +<p>Unterwegs kam ihm der Donnersohn entgegen, fiel auf die Knie, bereute +seine Schuld und bat demüthig um Verzeihung. Der Vater <em class="antiqua">Kõu</em> sagte: »Oft +genug vergeht sich des Menschen Leichtsinn gegen die Weisheit des +Himmels; danke drum deinem Glücke, Söhnchen, daß ich wieder Macht habe, +die Spuren des Elends zu vertilgen, welches deine Thorheit über die +Leute gebracht hat.« Mit diesen Worten setzte er sich auf einen Stein +und blies das Donnerinstrument, bis die Regenpforten sich aufthaten und +die Erde tränkten. Den Donnersohn nahm der alte <em class="antiqua">Kõu</em> als Knecht zu sich, +und da muß er noch sein.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_133" id="Page_133">[S 133]</a></span></p> +<h2>10. Pikne's Dudelsack.</h2> + + +<p>In der Urzeit hatte Altvater gar viel zu thun, die Welt in Ordnung zu +bringen, und das nahm ihm vom Morgen bis zum Abend alle seine Zeit, so +daß er Manches nicht beachtete, was hier und da hinter seinem Rücken +vorging. Riesen standen schon von Anbeginn der Welt wider einander, was +gar oft die Ruhe störte. So hatten Pikne und der alte Tühi<a name="FNanchor_56_56" id="FNanchor_56_56"></a><a href="#Footnote_56_56" class="fnanchor">[56]</a> eine +Zeitlang ihre Kraft aneinander versucht und darum gekämpft, wer von +Beiden die Oberhand gewänne. Obwohl die Männer Tag und Nacht einander +auflauerten und sich schier die Köpfe zerbrachen, ob sie einen +Gewaltstreich verüben oder List anwenden sollten — so hatten sie doch +noch nicht den passenden Augenblick zur Ausführung ihrer Anschläge +gefunden. Da traf es sich einmal, daß Pikne, von dem beständigen Wachen +müde geworden, eingenickt war und bald wie ein Sack schlief; +unglücklicherweise hatte er vergessen, sich seinen Dudelsack zu Häupten +zu legen, wo das Instrument sonst immer seinen Platz fand. Der tiefe +Schlaf verschloß ihm Augen und Ohren so fest, daß der Mann weder sah +noch<span class='pagenum'><a name="Page_134" id="Page_134">[S 134]</a></span> hörte, was in seiner Nähe vorging. Der alte Tühi, der dem Feinde +fast immer auf Schritt und Tritt nachspürte, fand den Pikne schlafend, +trat sachte auf den Zehen heran, nahm den Dudelsack von der Seite des +Schlafenden und machte sich mit seinem Raube auf die Socken. Dadurch +hoffte er jetzt des Donnerer's Vater am meisten zu ärgern und die Macht +desselben zu schwächen, daß er das Werkzeug versteckte, welches bis +dahin das schlimmste Züchtigungsmittel für die Bewohner der Hölle +gewesen war. Als nun Pikne, aus dem Schlafe erwachend, die Augen weit +aufsperrte, sah er alsbald, welch einen Verlust ihm, derweil er schlief, +der Feind verursacht hatte. Daß kein Andrer als der alte Tühi den +Dudelsack hatte stehlen können, das war ihm gleich klar; allein wie +sollte er es anfangen, das ihm gestohlene Eigenthum den Klauen des +Diebes wieder zu entreißen? Wohl hätte er Altvater die Sache mit den +Diebstahl klagen und ihn um Hülfe bitten können, aber dadurch hätte er +seine eigene Sorglosigkeit verrathen, und Altvater hätte ihn im Zorn +noch obendrein gezüchtigt. Diese Gedanken machten dem Pikne eine +Zeitlang viel Sorge, und er flüchtete sich meist an einsame Orte, wo +Niemand ihn zu Gesicht bekam. Der alte Tühi nun, der sonst ungeschlacht +wie ein Kalb und in allen Stücken einfältig war, hatte doch seine Haut +immer vor Pikne zu wahren gewußt. Sonst fürchtete er Pikne's Dudelsack +wie die Pest, so daß er schon von weitem davon lief; jetzt aber konnte +er schon etwas mehr wagen. Er kannte manches heimliche Schlupfloch, wo +Pikne's Pfeile ihm nichts anhaben konnten: auf dem Meeresgrunde konnte +er vor Pikne ohne Sorge sein. Pikne dachte gleich, als er des<span class='pagenum'><a name="Page_135" id="Page_135">[S 135]</a></span> alten +Tühi Tagelang nicht ansichtig wurde, daß er irgendwo unter dem Wasser +versteckt säße, doch fand er immer keinen zweckmäßigen Plan, wie er des +Feindes habhaft werden und ihm den Dudelsack wieder abnehmen könnte. Da +hatte er eines Tages plötzlich einen prächtigen Einfall, mit dessen +Ausführung er auch nicht säumte. Er nahm die Gestalt eines kleinen +Knaben an, ging früh Morgens in ein Dorf am Strande und forschte dort +nach, ob es nicht möglich sei, irgendwo bei einem Fischer in Dienst zu +treten.</p> + +<p>Ein wohlhabender Fischer, Namens Lijon, sagte, nachdem er des feinen +Knaben Rede angehört: »Eine Viehherde habe ich nun zwar nicht, wo ich +deinesgleichen brauchen könnte, aber ich will dich auf Probe nehmen, ob +man aus dir nicht mit der Zeit einen Gehülfen beim Fischfang machen +kann. Du siehst mir ganz aus wie ein Geschöpf von klugem Geiste, wenn du +nun auch fleißig und folgsam sein wirst, so können wir leicht Handels +einig werden.« Als er am folgenden Morgen an den See ging, nahm er den +Knaben mit, und lehrte ihn mit Angel und Netzen umzugehen und alle +übrigen Obliegenheiten eines Fischers zu besorgen. Schon nach einigen +Tagen fand er, daß ihm der muntere Lehrling von Nutzen war, der alle +Handgriffe leicht auffaßte und seinem Herrn auf jedem Schritt behülflich +zu sein wußte. Allmälig wurde der Knabe gleichsam seine rechte Hand, so +daß der Fischer gar nicht mehr allein auf den Fischfang ging. Die +anderen Fischer nannten den Knaben spöttisch Lijon's Pudel. Der Knabe +aber nahm den Spitznamen gar nicht übel, sondern freute sich des +unverhofften Glückes, daß er jetzt täglich vom Morgen bis zum Abend auf +dem Wasser fahren konnte,<span class='pagenum'><a name="Page_136" id="Page_136">[S 136]</a></span> wo der Feind sich doch sicher irgendwo auf +dem Grunde versteckt hielt.</p> + +<p>Jetzt traf es sich, daß der alte Tühi seinem Sohne Hochzeit machen und +den Hochzeitsgästen prächtige Feste geben wollte, so daß die Leute noch +lange von seinem Reichthum zu erzählen hätten; — Eitelkeit ist für den +Teufel der schlimmste Kitzel! Der alte Höllenvater streckte die Pfoten +überall hin, wo er einen Fang zu thun hoffte, am meisten aber trachtete +er, das Getreide von solchen Feldern zu schneiden, auf welchen Andere +gesäet hatten, so daß er keine weitere Mühe hatte, als den Fleiß Anderer +einzusacken. So gerieth er eines Tages auch an den See, dahin, wo der +Fischer in der Nacht seine Netze ausgelegt hatte. Er holte sich eben +gemächlich die Fische aus den Maschen heraus, als der Fischer mit dem +Knaben kam, um die Netze herauszuziehen. Des Knaben Luchsauge hatte mit +Blitzesschnelle schon von weitem den Feind unter dem Wasser erblickt. Er +zog seinen Herrn bei Seite und flüsterte ihm in's Ohr, woran es läge, +daß ihr Fang in den letzten Tagen so schlecht ausgefallen sei. »Eine +Diebshand fuschelt jetzt eben am Netze herum« — sagte er, indem er mit +ausgestrecktem Finger des Wirths Auge auf den Dieb lenkte, der eben auf +dem Grunde des See's bei der Arbeit war und die Kommenden nicht +bemerkte. Aber Lijon war ein gewiegter Zauberkünstler, der eine +Diebspfote auf frischer That zu bannen wußte, so daß der Dieb nicht +hoffen konnte, ohne ihn wieder loszukommen. Als er alle geheimen Bräuche +der Ordnung nach vollzogen hatte, ging er mit dem Knaben wieder heim und +sagte scherzend: »Mag er bis morgen<span class='pagenum'><a name="Page_137" id="Page_137">[S 137]</a></span> früh die Fische zahlen, wie viel +ihrer in's Netz gegangen sind!« Als man am andern Morgen an den See kam, +um die Netze herauszuziehen, wurde Altväterchen Tühi in der Schlinge +festgemacht gefunden, und konnte sich nicht losmachen, sondern war +genötigt, dem Fischer unter die Augen zu treten. Als nun sein Kopf mit +dem Netze auf die Oberfläche des Wassers stieg, versetzte ihm der +Fischer mit dem Ruder von Ebereschenholz gleich einige Hiebe zum Gruß, +daß dem Männlein die Ohren sausten. Am Ufer nahmen dann Beide, der +Fischer und sein Knabe, die Knüttel zur Hand und machten sich daran, dem +Diebe seinen Lohn auszuzahlen. Obgleich der Knabe von schmächtigem +Körperbau zu sein schien, so schmeckten doch seine Hiebe so bitter, daß +sie dem alten Tühi durch Mark und Bein gingen und ihm den Athem zu +benehmen drohten. Da begann Tühi zu schreien und zu flehen: »Vergieb mir +diesmal, Brüderchen, und höre nur meine Entschuldigung an. Noth treibt +den Ochsen an den Brunnen, und Noth trieb auch mich Armen jetzt an dein +Netz. Mir steht zu Hause des Sohnes Hochzeit bevor, die, wie du wohl +weißt, sich ohne Fische nicht ausrichten läßt. Und da ich selbst keine +Netze hatte, mußte ich schon einige Fische aus deinen Netzen auf Borg +nehmen. Dies war mein erstes Vergehen gegen dich und soll auch mein +letztes bleiben. Ich will mein Lebtag das Bad nicht vergessen, das ihr +mir heute eingeheizt habt. Dein Knabe hat mich so wacker gequästet, daß +ich meine Knochen nicht fühle und nicht Hand noch Fuß regen kann.« Der +Fischer erwiederte: »Mag denn unser Handel diesmal abgemacht sein. Du +kennst jetzt meine Netze und wirst dich sicherlich ein ander Mal vor +ihnen zu hüten<span class='pagenum'><a name="Page_138" id="Page_138">[S 138]</a></span> wissen. Nimm den Fischsack auf den Rücken, und dann geh +mir flink aus den Augen, daß ich deine Fersen nicht mehr sehe, oder aber +—!« Bei diesen Worten zeigte er ihm den Stock. Der alte Tühi küßte dem +Fischer die Füße zum Dank dafür, daß er so leichten Kaufes losgekommen +war. Obwohl er aber schon über ein Fuder fremder Fische im Sacke hatte, +so gelüstete es ihn doch, noch einen Fisch zu fangen, den er für das +allerköstlichste Gericht hielt. Mit Honigworten begann er den Fischer zu +bitten, auf seines Sohnes Hochzeit zu Gast zu kommen, denn er hoffte +dort mit Gewalt oder mit List der Seele des Fischers habhaft zu werden. +Der Fischer versprach zu kommen, wenn er auch den Knaben mitbringen +könnte. Der alte Tühi dachte: »Vortrefflich, das Glück scheint mir +günstiger zu sein, als ich mir vorstellte, hier werden mir zwei für +einen geboten.« »Meinethalben bringe den Bengel mit, wenn du allein +nicht kommen willst!« rief er Abschied nehmend und schleppte seine vor +Schmerz steif gewordenen Glieder weiter.</p> + +<p>Obwohl der alte Tühi nun gewöhnlich durch und durch ein Filz ist, so +richtete er doch seinem Sohne eine prächtige Hochzeit aus, wo es an +Nichts fehlte, sondern Ueberfluß, Glanz und Jubel auf Schritt und Tritt +sich vor den Augen der Gäste entfalteten. Tühi zeigte ihnen seinen +unermeßlichen Reichthum an Geld und Schätzen, womit in seinen Speichern +Kisten und Kasten bis zum Rande angefüllt waren. Er ließ auch mancherlei +wundersame Instrumente spielen und noch wundersamere Tänze aufführen, +wie es Niemand sonst verstand, als eben nur sein Hausgesinde. »Bitte ihn +doch, daß er den Dudelsack<span class='pagenum'><a name="Page_139" id="Page_139">[S 139]</a></span> herausnimmt, der hinter sieben Schlössern +liegt, und uns darauf eine Weise vorspielen läßt!« sagte der Knabe +heimlich zu seinem Herrn. Der Fischer kam seinem Wunsche nach und begann +sofort dem Höllenvater anzuliegen, daß er ihnen seinen wunderbaren +Dudelsack zeige und den Hochzeitsgästen zur Lust ein Stücklein darauf +spielen lasse.</p> + +<p>Der alte Tühi ging, ohne etwas zu ahnen, zum zweitenmal in die Halle. Er +holte des Himmelsdonnerers Dudelsack hinter sieben Schlössern hervor, +legte seine fünf Finger an den Hals desselben und fing an aus +Leibeskräften zu blasen. Aber sein Spiel gab einen gräulichen Klang. +»Werdet nicht böse und nehmt es nicht übel, wenn ich euch geradeaus +sage, daß aus euch kein Meister auf dem Dudelsack mehr wird; mein +Hirtenknabe könnte es wohl besser machen. Ja ihr könntet bei ihm noch +alle Tage in die Lehre gehen.« Tühi, der keinen Betrug witterte, gab dem +Knaben den Dudelsack in die Hand. Ob man da ein Wunder sah! Statt des +Knaben steht plötzlich der alte Pikne selber da und bläst den Dudelsack +so gewaltig, daß der böse Geist mit sammt seinem Gesinde zu Boden +stürzt. Pikne eilte darauf mit dem Fischer von dannen, sehr erfreut, daß +ihnen die List so vortrefflich gelungen war.</p> + +<p>Als sie eine Strecke Weges zurückgelegt hatten, setzten sie sich Beide +auf den Rand eines breiten Steines, um auszuruhen. Hier begann Pikne zur +Lust den Dudelsack zu blasen, worauf er dann dem Fischer erzählte, was +für Listen er angewandt, um seinen Dudelsack dem alten Tühi wieder +abzunehmen. Während des Gespräches fiel plötzlich Regen, welcher die +ausgetrocknete Erde nach sieben<span class='pagenum'><a name="Page_140" id="Page_140">[S 140]</a></span> Monden wieder erfrischte. Pikne dankte, +als er schied, seinem gewesenen Brotherrn und versprach, dessen Gebet +immer zu erhören. Von der Zeit an ist Lijon der Mittelsmann zwischen +Göttern und Menschen geworden und bis auf diesen Tag in diesem Ehrenamte +geblieben.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_141" id="Page_141">[S 141]</a></span></p> +<h2>11. Der Zwerge<a name="FNanchor_57_57" id="FNanchor_57_57"></a><a href="#Footnote_57_57" class="fnanchor">[57]</a> Streit.</h2> + + +<p>Es ging einmal ein Mann durch einen Wald und stieß auf eine kleine +Lichtung, wo drei Zwerge in argem Streite miteinander begriffen waren. +Sie schlugen, stießen, bissen einander, traten sich mit Füßen und +packten sich an den Haaren, daß es gräulich anzusehen war. Der Mann trat +näher und fragte, worüber ihr Zank sich entsponnen. »Sehr gut, Bauer, +daß du gekommen bist,« schrieen die Zwerge — »du kannst Richter sein +und unsern Zank schlichten!« Der Mann sagte: »Erst erzählt mir die +Ursache eures Streites, damit ich Recht sprechen kann. Aber schreit +nicht Alle zugleich, sondern Einer rede zur Zeit und deutlich, damit ich +aus dem, was ihr vorbringt, klug werde.« — »Sehr wohl,« erwiederte +Einer der Zwerge. »Ich will dir den Ursprung unserer Streitigkeit +erklären. Sieh! Gestern starb unser Vater und wir drei Brüder wollten +jetzt seine Erbschaft untereinander theilen; und daraus entstand der +Zank.« Der Mann fragte: »Was für eine Erbschaft hinterließ euch denn der +Vater?« — »Hier ist seine ganze Verlassenschaft,« erwiederte der<span class='pagenum'><a name="Page_142" id="Page_142">[S 142]</a></span> +wortführende Zwerg, und zeigte dem Manne einen alten Filzhut, ein Paar +Bastschuhe und einen tüchtigen Knüttel.</p> + +<p>»Seid doch nicht unvernünftig,« sagte der Mann, »sind denn diese +unnützen Dinge des Zankes werth? Ein Klügerer würde sie alle zusammen +auf einen Misthaufen werfen. Da ihr das aber nicht wollt, so theilt +denn. Ihr seid eurer drei und drei Dinge hat der Vater hinterlassen, +also nehme Einer den Hut, der Andere die Bastschuhe und der Dritte den +Stock, so ist die Sache in Ordnung.« »Das geht nicht!« schrieen die +Zwerge. »Diese Dinge darf Niemand theilen, sonst schwindet die geheime +Kraft daraus; die Dinge müssen ungetrennt bleiben.« Der Mann erkundigte +sich nun weiter, warum man diese unnützen Dinge nicht trennen dürfe, und +Einer der Zwerge gab ihm folgenden Bescheid:</p> + +<p>»Der alte unscheinbare verknitterte Hut, den ihr da sehet, ist für den, +der ihn trägt, der größte Schatz.<a name="FNanchor_58_58" id="FNanchor_58_58"></a><a href="#Footnote_58_58" class="fnanchor">[58]</a> Wenn er den Hut auf hat, so sieht +er Alles, was auf der Welt vorgeht, es sei nah oder fern, sichtbar oder +unsichtbar; — ja der Besitzer des Hutes erkennt dann sogar die Gedanken +der Menschen. Legt er dann noch die Bastschuhe an und sagt: Ich will +nach Kurland oder Polen, so braucht er nichts weiter zu thun, als den +Fuß aufzuheben: augenblicklich gelangt er an die gewünschte Stätte. +Nimmt der Träger des Hutes und der Bastschuhe dann den Stock in die Hand +und schlägt damit durch die Luft, so muß Alles vor ihm schmelzen, es sei +Freund oder Feind. Ja starre Felsen, Berge und selbst<span class='pagenum'><a name="Page_143" id="Page_143">[S 143]</a></span> böse Geister +müssen vor diesem Stocke schwinden, denn er ist noch mächtiger als der +Donnerkeil, Pikne's Pfeil. Ihr sehet nun selbst, daß man diese drei +Dinge nicht trennen darf, sondern wir müssen uns ihrer der Reihe nach +bedienen, der Eine heute, der Andere morgen und der Dritte übermorgen.«</p> + +<p>»Die Sache scheint spaßhaft genug,« sagte der Mann, dem beim Anhören +dieser Erzählung ein guter Gedanke aufstieg. »Wenn ich aber euren +Erbschaftsstreit schlichten soll, so muß ich erst probiren, ob auch +Alles wahr ist, was ihr sagt.« — »Das kannst du thun,« riefen die +Zwerge wie aus einem Munde, »aber beeile dich. Heute wird in Kurland +gerade eine prächtige Hochzeit gefeiert, und unsere ganze Freundschaft +und Sippschaft hat sich dort versammelt. Wir möchten auch dahin.« Der +Mann erwiederte: »Das könnt ihr ja leicht machen, wenn die gerühmte +Zauberkraft wirklich in den Dingen steckt.« Darauf nahm er zuerst den +alten verknitterten Hut zur Hand, und sah, daß derselbe nicht aus Filz +gemacht war, sondern vielmehr aus menschlichen Nägelschnitzeln<a name="FNanchor_59_59" id="FNanchor_59_59"></a><a href="#Footnote_59_59" class="fnanchor">[59]</a> +bestand.<span class='pagenum'><a name="Page_144" id="Page_144">[S 144]</a></span> Als er den Hut aufsetzte, ward er die prächtige Hochzeit in +Kurland gewahr und Alles, was sonst noch in der weiten Welt geschah. +Drauf sagte er zu den Zwergen: »Legt mir nun die Bastschuhe an und gebt +mir den Stock, dann stellt euch alle drei in eine Reihe, den Rücken zu +mir und das Gesicht gegen Morgen gewendet, aber seht euch nicht eher um, +als bis ich euch den Bescheid ertheile, wie ihr eure Zauberdinge dem +Willen des Vaters gemäß theilen müsset.« — Die einfältigen Zwerge +erfüllten ohne Widerrede des Richters Geheiß, kehrten das Gesicht nach +Morgen und wandten ihm den Rücken zu. Als der Mann den Hut auf dem Kopfe +und die Bastschuhe an den Füßen hatte, schwang er den Knüttel ein paar +Mal in der Luft um und ließ ihn dann hart auf die Zwerge fallen. +Augenblicklich waren diese wie weggefegt, und es war keine Spur weiter +von ihnen geblieben, als drei Tropfen Wasser auf<span class='pagenum'><a name="Page_145" id="Page_145">[S 145]</a></span> dem +Frauenmantel-Blatt,<a name="FNanchor_60_60" id="FNanchor_60_60"></a><a href="#Footnote_60_60" class="fnanchor">[60]</a> auf welchem die Männlein gestanden hatten.</p> + +<p>Da ihm das erste Probestück so gut gelungen war, beschloß der Mann sich +nach Kurland zur Hochzeit zu begeben. Mit diesem Wunsche hob er den Fuß +auf und rief: »Zur kurischen Hochzeit!« und war in demselben Augenblicke +auf dem Feste angekommen. Da fand er eine große Menge Menschen +versammelt, Hohe und Niedere, denn der Hochzeitgeber war ein +vielgenannter reicher Wirth. Da der Mann mit dem Zauberhute Verborgenes +eben so gut gewahrte, wie Offenbares, so sah er, als er die Augen zur +Decke emporhob, daß sich an derselben und auf den Dörrstangen<a name="FNanchor_61_61" id="FNanchor_61_61"></a><a href="#Footnote_61_61" class="fnanchor">[61]</a> ein +Schwarm kleiner Gäste befand, deren Menge viel größer zu sein schien, +als die der eingeladenen Gäste unten. Außer ihm aber konnte niemand das +kleine Volk sehen. Die Kleinen flüsterten: »Seht doch! der alte Ohm ist +auch zur Hochzeit gekommen.« — »Nein!« riefen andere dagegen, — »der +fremde Mann hat wohl des Ohms Hut, Bastschuhe und Stock, aber der Ohm +selbst ist nicht hier.« Inzwischen wurden die Schüsseln mit den Speisen +aufgetragen, und zwar lagen Deckel darauf. Da sah der Allsichtige, was +von den Uebrigen niemand bemerkte, daß mit einer wunderbaren +Geschwindigkeit die guten Speisen aus den Schüsseln herausgenom<span class='pagenum'><a name="Page_146" id="Page_146">[S 146]</a></span>men und +schlechtere dafür hineingethan wurden.<a name="FNanchor_62_62" id="FNanchor_62_62"></a><a href="#Footnote_62_62" class="fnanchor">[62]</a> Eben so ging es mit den +Kannen und Flaschen. Jetzt fragte der Allsichtige nach dem Hausherrn, +trat mit schicklichem Gruß zu ihm und sagte: »Nehmt es nicht übel, daß +ich als unbekannter Fremder unerwartet zu eurem Feste gekommen bin.« +»Seid willkommen,« entgegnete der Wirth —»Speise und Trank haben wir +genug, so daß uns ein und der andere ungeladene Gast nicht lästig fallen +kann.« Der Allsichtige versetzte: »Ich will es glauben, daß ein Gast +mehr oder weniger hier nicht lästig fällt, wenn aber die Zahl der +ungebetenen Gäste die der gebetenen übersteigt, da kann doch auch der +reichste Wirth zu kurz kommen.« »Ich verstehe eure Rede nicht,« sagte +der Wirth. Der Fremde gab ihm seinen Hut und sagte: »Setzet meinen Hut +auf und hebt die Augen zur Decke hinauf, da werdet ihr schon sehen.« Der +Wirth that es, und als er sah, was für Streiche die kleinen Gäste mit +der Mahlzeit verübten, wurde er todtenbleich und rief mit zitternder +Stimme: »Ei, Freundchen! von diesen Gästen hat meine Seele nichts +gewußt; und da ich euren Hut wieder abnehme, sind sie verschwunden. Wie +könnte ich sie wohl los werden?« Der Eigner des Hutes erwiederte: »Ich +will euch die kleinen Gäste bald vom Halse schaffen, wenn ihr die +geladenen Gäste auf kurze Zeit hinausführen, Thüren und Fenster +sorgfältig verschließen und dafür sorgen wollt, daß nirgends ein Astloch +oder ein Spalt in der Wand unver<span class='pagenum'><a name="Page_147" id="Page_147">[S 147]</a></span>stopft bleibt.« Obwohl der Festgeber +dem Dinge nicht recht traute, so that er doch was der Fremde gewünscht +hatte, und bat ihn, die kleinen Windbeutel hinauszujagen.</p> + +<p>Nach einer kleinen Weile war das Gemach von den geladenen Gästen +geräumt, Thüren, Fenster und andere Oeffnungen sorgfältig verschlossen, +und der Allsichtige war mit den kleinen Gästen allein. Da begann er +seinen Knüttel gegen die Decke und in den Zimmerecken zu schwingen, daß +es eine Lust war zu sehen! In wenigen Augenblicken war die ganze Schaar +der kleinen Gäste vernichtet, und an der Diele lagen so viele +Wassertropfen, als wenn es stark geregnet hätte. Nur ein Bohrloch war +zufällig unverstopft geblieben, dahinaus schlüpfte eins der Zwerglein, +wiewohl der Knüttel den Flüchtling noch gestreift hatte. Dieser stöhnte +auf dem Hofe: »Ai, ai, was für ein Schmerz! Schon manches Mal habe ich +die Pfeile des alten Papa Pikne geschmeckt, aber das war nichts gegen +diesen Knüttel.«</p> + +<p>Als der Wirth mit Hülfe des Wunderhutes sich überzeugt hatte, daß das +Gemach von den Zwerglein gereinigt war, bat er die Gäste wieder +einzutreten. Bei Tische durchschaute der Allsichtige die geheimen +Gedanken der Hochzeitsgäste, und erfuhr Manches, wovon die Andern nichts +ahndeten. Der Bräutigam trug mehr Verlangen nach der Habe seines +Schwiegervaters, als nach seiner jungen Frau; diese, welche als Mädchen +mit dem Junker des Gutes zu thun gehabt hatte, hoffte durch ihren Mann +und ihre Haube ihre Schande zu bedecken. — Jammerschade, daß in unsern +Tagen solche Hüte nirgends mehr zu finden sind.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_148" id="Page_148">[S 148]</a></span></p> +<h2>12. Die Galgenmännlein.</h2> + + +<p>Ein Prediger suchte schon seit einiger Zeit einen Knecht, der neben +seinen andern Geschäften auch die Verpflichtung übernehmen sollte, +allmitternächtlich die Kirchenglocke zu läuten. Zwar hatten schon viele +und zum Theil sehr brauchbare Männer den Dienst angenommen, allein +sobald sie sich aufgemacht hatten, um das nächtliche Läuten zu besorgen, +waren sie plötzlich wie in die Erde gesunken; kein Glockenschlag war zu +hören, und kein Glöckner kam zurück. Der Prediger hielt die Sache sehr +geheim, aber das plötzliche Verschwinden so vieler Menschen wurde doch +allmählich ruchbar, und es wollte Niemand mehr bei ihm dienen.</p> + +<p>Je bekannter die Sache wurde, desto bedenklicher schüttelten die Leute +den Kopf, und es fehlte auch nicht an bösen Zungen, welche aussprengten, +daß der Prediger selber die Knechte umgebracht habe. Nothgedrungen hatte +er jetzt verdoppelten Lohn nebst guter Kost angeboten. Monate lang hatte +er jeden Sonntag nach der Predigt von der Kanzel herab verkündet: »Ich +brauche einen tüchtigen Knecht, verspreche reichlichen Lohn, gute +Nahrung u. s. w.« — es war aber<span class='pagenum'><a name="Page_149" id="Page_149">[S 149]</a></span> immer erfolglos geblieben. Da kommt +eines Tages der schlaue Hans und bietet sich an; er hatte zuletzt bei +einem geizigen Herrn gedient, darum zog ihn das Versprechen guter +Nahrung zu dem Geistlichen, und er wollte den Dienst gleich antreten. +»Ganz wohl, mein Sohn,« sagte der Prediger: »wenn es dir an Muth und +Gottvertrauen nicht fehlt, so kannst du schon diese Nacht dein +Probestück ablegen. Morgen wollen wir dann den Dienstvertrag +abschließen.«</p> + +<p>Hans war damit zufrieden, ging in die Gesinde-Stube und machte sich um +seinen neuen Dienst keine Sorge. Der Prediger war ein Geizhals und ward +immer verdrießlich, wenn das Gesinde zu viel aß, deßhalb kam er meist +während der Mahlzeit herein, weil er hoffte, die Leute würden in seiner +Gegenwart weniger dreist zulangen. Er ermahnte das Gesinde, zwischen dem +Essen recht oft zu trinken, denn er meinte, je mehr Flüssiges Einer im +Magen habe, desto weniger Platz werde für Brot und Zukost übrig bleiben. +Hans aber war schlauer als sein Herr, er leerte den Krug auf einen Zug +und sagte: »Das macht noch einmal so viel Platz für die Speise.« Der +Prediger wähnte, daß sich die Sache wirklich so verhalte, und forderte +seitdem seine Leute nicht mehr zum Trinken auf. Hans aber lachte +innerlich, daß ihm das Schelmstück gelungen war.</p> + +<p>Etwa eine Stunde vor Mitternacht ging Hans in die Kirche. Er fand sie +inwendig erleuchtet und war ein wenig verwundert, als er beim Eintreten +eine zahlreiche Gesellschaft vorfand, welche nicht die Andacht hier +zusammengeführt hatte. Die Leute saßen um einen langen Tisch<span class='pagenum'><a name="Page_150" id="Page_150">[S 150]</a></span> und +spielten Karten. Hans empfand keine Furcht, oder, wenn er etwas davon +verspürte, so war er doch klug genug, es sich nicht merken zu lassen. Er +ging dreist an den Tisch und setzte sich zu den Spielern. Einer +derselben bemerkte ihn und fragte: »Freundchen, was hast du hier zu +suchen?« Hans sah ihn eine Weile groß an und sagte dann lachend: »Du +Naseweis solltest dir lieber das Maul stopfen! Wenn Jemand hier ein +Recht hat zu fragen, so meine ich es zu sein. Wenn ich mich meines +Rechtes nicht bediene, so wäre es für euch gewiß das Gescheuteste, euer +vorlautes Maul zu stopfen!«</p> + +<p>Darauf nahm Hans Karten zur Hand und spielte mit den unbekannten +Männern, als wären es seine besten Freunde. Er hatte viel Glück, denn +sein Einsatz verdoppelte sich ihm, und dadurch wurden manchem seiner +Mitspieler die Taschen geleert. Da hörte man einen Hahnenschrei, +Mitternacht mußte angebrochen sein, plötzlich erloschen die Lichter und +im Nu waren die Spieler sammt Tisch und Bänken verschwunden. Hans mußte +in der dunklen Kirche eine Zeitlang herumtappen, bis er endlich den +Eingang zur Thurmtreppe fand.</p> + +<p>Als er den ersten Absatz hinauf geklettert war, sah er auf der obersten +Stufe ein Männlein sitzen, dem der Kopf fehlte. »Hoho, mein Kleiner, was +hast du hier zu suchen?« fragte Hans, und versetzte ihm, ohne die +Antwort abzuwarten, einen so derben Fußtritt in den Nacken, daß das +Männlein die lange Treppe hinunter rollte. Auf der zweiten, dritten und +vierten Treppe fand er eben solche stumme Wächter, und ließ sie einen +nach dem andern hinunterpurzeln, daß ihnen alle Knochen im Leibe +knackten.<span class='pagenum'><a name="Page_151" id="Page_151">[S 151]</a></span></p> + +<p>Endlich war Hans ungehindert zur Glocke gelangt. Als er hinauf sah, um +sich zu überzeugen, daß Alles in gehörigem Stande sei, erblickte er noch +ein kopfloses Männlein, das zusammengekauert in der Glocke saß. Es hatte +den Glockenklöppel losgemacht und schien darauf zu warten, daß Hans den +Glockenstrang anzöge, um ihm dann den schweren Klöppel auf den Kopf zu +schmeißen, was dem Glöckner sicher den Tod gebracht hätte.</p> + +<p>»Halt, Freundchen!« rief Hans — »so haben wir nicht gewettet. Du hast +wohl gesehen, wie ich deine kleinen Kameraden, ohne ihre eigenen +Beinchen zu bemühen, die Treppe habe hinunter rollen lassen? Gleich +sollst du hinter ihnen her fliegen. Aber weil du am höchsten sitzest, +sollst du auch die stolzeste Fahrt machen, ich will dich zur Luke +hinauswerfen, daß dir die Lust vergehen soll, wiederzukommen.«</p> + +<p>Mit diesen Worten setzte er die Leiter an, um den Kleinen aus der Glocke +heraus zu holen und seine Drohung wahr zu machen. Das Männlein erkannte +die Gefahr, in der es schwebte, und fing an zu bitten: »Brüderchen! +schone mein armes Leben! Dafür will ich dir fest versprechen, daß weder +ich noch meine Kameraden dich je wieder beim nächtlichen Läuten stören +sollen. Wohl bin ich klein und unansehnlich, allein wer weiß, ob es sich +nicht einmal fügt, daß ich dir für deine Wohlthat mehr erstatten kann, +als einen Bettlerdank.«</p> + +<p>»Du winziger Knirps!« lachte Hans. »Deine Dankesgabe wird eine Mücke auf +ihrem Schwanze fortbringen können! Aber da ich heute gerade bei guter +Laune bin, so magst du am Leben bleiben. Doch hüte dich, mir<span class='pagenum'><a name="Page_152" id="Page_152">[S 152]</a></span> wieder in +die Quere zu kommen, ich möchte sonst ein zweites Mal nicht mit dir +spaßen.« Das kopflose Männlein dankte demüthig, kletterte wie ein +Eichhörnchen an dem Glockenstrang herab und lief die Thurmtreppe +herunter, als hätte es Feuer in der Tasche. Hans läutete jetzt nach +Herzenslust.</p> + +<p>Als der Pfarrer um Mitternacht die Kirchenglocke hörte, verwunderte er +sich und war froh, daß er doch endlich einen Knecht gefunden, der das +Probestück glücklich zu Stande gebracht hatte. Hans ging nach gethaner +Arbeit auf den Heuboden und legte sich schlafen.</p> + +<p>Der Pfarrer pflegte früh am Morgen aufzustehen, um nachzusehen, ob die +Leute bei ihrer Arbeit seien. Alle waren an ihrem Platze, nur der neue +Knecht fehlte, und keiner wollte ihn gesehen haben. Als nun +Mittmorgen<a name="FNanchor_63_63" id="FNanchor_63_63"></a><a href="#Footnote_63_63" class="fnanchor">[63]</a> vorüber war, und es eilf Uhr wurde und Hans noch immer +nicht erschien, da ward dem Pfarrer bange und er glaubte nicht anders, +als daß der Glöckner sein Ende gefunden habe, wie seine Vorgänger. Als +aber das Gesinde durch das Klopfbrett zum Mittagessen zusammengerufen +wurde, kam auch Hans zum Vorschein. »Wo bist du den ganzen Vormittag +gewesen?« fragte der Pfarrer. »Ich habe geschlafen,« antwortete Hans +gähnend.</p> + +<p>»Geschlafen!« rief der Pfarrer erstaunt. »Du wirst doch nicht meinen, +daß du alle Tage bis Mittag schlafen kannst?«</p> + +<p>»Ich meine,« erwiederte Hans, »das ist so klar wie Quellwasser. Niemand +kann zweien Herren dienen. Wer<span class='pagenum'><a name="Page_153" id="Page_153">[S 153]</a></span> Nachts arbeitet, der muß am Tage +schlafen, so wie für den Tagarbeiter die Nacht zur Ruhe gemacht ist. +Nehmt mir das nächtliche Glockenläuten ab, so bin ich bereit, mit +Sonnenaufgang an die Arbeit zu gehen. Wenn ich aber Nachts die Glocke +läuten soll, so muß ich am Tage schlafen, zum allermindesten bis +Mittag.«</p> + +<p>Nachdem sie lange hin und her gestritten hatten, wurden sie endlich über +folgende Bedingungen einig. Hans sollte von dem nächtlichen Läuten +befreit werden, und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten, nach +Mittmorgen eine halbe und nach dem Mittagsessen eine ganze Stunde +schlafen; den Sonntag aber ganz frei sein. »Aber,« sagte der Pfarrer, +»bisweilen könnten doch noch Kleinigkeiten vorfallen, besonders im +Winter, wo die Tage kurz sind, und die Arbeit würde dann länger dauern.« +—»Mit nichten,« rief Hans, — »dafür sind im Sommer die Tage wieder +lang.<a name="FNanchor_64_64" id="FNanchor_64_64"></a><a href="#Footnote_64_64" class="fnanchor">[64]</a> Ich werde nicht mehr thun, als wozu ich verpflichtet bin, +nämlich an Werkeltagen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten.«</p> + +<p>Einige Zeit darauf wurde der Pfarrer gebeten, zu einer großen Kindtaufe +zur Stadt zu kommen. Die Stadt war nur einige Stunden weit vom Pfarrhof, +dennoch nahm Hans den Brotsack mit. »Weswegen thust du das?« fragte der +Prediger, »wir werden ja zum Abend in der Stadt sein.« Hans antwortete: +»Wer kann Alles vorher wissen?<span class='pagenum'><a name="Page_154" id="Page_154">[S 154]</a></span> unterwegs kann so Manches vorfallen, was +unsere Fahrt verzögert, und ihr kennt unsern Contract, nach welchem ich +nur bis Sonnenuntergang verpflichtet bin, euch zu bedienen. Sollte die +Sonne untergehen, ehe wir die Stadt erreichen, so müßtet ihr schon +allein weiter fahren.«</p> + +<p>Da der Pfarrer diese Rede für Scherz hielt, gab er ihm keine Antwort, +und sie fuhren ab. Kurz vorher war frischer Schnee gefallen, den der +Wind zusammengeweht hatte, so daß der Weg stellenweise verschüttet war +und schnelles Fahren unmöglich machte. Unweit der Stadt mußten sie durch +einen großen Wald. Als sie ihn erreicht hatten, lag die Sonne schon auf +den Wipfeln der Bäume. Die Pferde schleppten sich langsam Schritt für +Schritt durch den tiefen Schnee, und Hans drehte sich öfter nach der +Sonne um. »Warum siehst du so oft hinter dich?« fragte der Pfarrer. +»Weil ich im Nacken keine Augen habe,« erwiederte Hans. »Laß jetzt deine +Narrenspossen,« sagte der Pfarrer, »und sieh' zu, daß wir in die Stadt +kommen, ehe es ganz finster wird.« Hans fuhr weiter, ohne ein Wort zu +verlieren, unterließ aber nicht, von Zeit zu Zeit die Sonne zu +beobachten.</p> + +<p>Sie mochten etwa in der Mitte des Waldes sein, als die Sonne unterging. +Hans hielt die Pferde an, nahm seinen Brotsack und stieg aus dem +Schlitten. »Nun Hans, bist du toll geworden? was machst du?« fragte der +Seelenhirt. Aber Hans gab ruhig zur Antwort: »Ich will mir hier ein +Nachtlager zurecht machen, die Sonne ist untergegangen, und meine +Arbeitszeit ist um.« Sein Brotherr that alles Mögliche, er bat und +drohte abwechselnd, als aber Alles nichts half, versprach er ihm +zuletzt<span class='pagenum'><a name="Page_155" id="Page_155">[S 155]</a></span> ein gutes Trinkgeld und eine Zulage zum Jahreslohn. »Schämt ihr +euch nicht, Herr Pastor!« sagte Hans —»wollt ihr der Versucher sein und +mich vom rechten Wege abbringen, so daß ich gegen die Abmachung handle? +Alle Schätze der Welt können mich dazu nicht verlocken; man faßt den +Mann beim Wort, wie den Ochsen beim Horn. Wollt ihr noch heut Abend zur +Stadt, so fahret in Gottes Namen allein, ich kann nicht weiter mit euch +kommen, denn meine Dienst-Stunden sind abgelaufen.«</p> + +<p>»Mein lieber Hans, Goldjunge!« sagte jetzt der Pfarrer, »ich darf dich +hier nicht allein lassen. Blick' nur um dich, so wirst du sehen, in +welche Gefahr du dich muthwillig begiebst. Dort ist der Richtplatz mit +dem Galgen, es hängen zwei Missethäter daran, deren Seelen in der Hölle +brennen. Du wirst doch nicht in der Nähe solcher Gesellen die Nacht +zubringen wollen?« »Warum denn nicht?« fragte Hans. »Die Galgenvögel +hängen oben in der Luft, ich nehme mein Nachtlager unten auf der Erde, +da können wir uns einander nichts anhaben.« Mit diesen Worten kehrte er +seinem Herrn den Rücken und ging mit seinem Brotsack davon.</p> + +<p>Wollte der Pfarrer die Taufgebühren nicht einbüßen, so mußte er allein +zur Stadt fahren. Hier war man nicht wenig erstaunt, ihn ohne Kutscher +ankommen zu sehen; als er aber seine wunderliche Unterhaltung mit Hans +erzählt hatte, wußten die Leute nicht, wen sie für den größten Thoren +halten sollten, ob den Herrn oder den Diener.</p> + +<p>Hansen war es gleichgültig, was die Leute von ihm dachten oder sagten. +Mit Hülfe seines Brotsacks hatte er<span class='pagenum'><a name="Page_156" id="Page_156">[S 156]</a></span> die Forderungen seines Magens +befriedigt, dann zündete er sich seinen Nasenwärmer (Pfeife) an, machte +unter einer breiten ästigen Fichte sein Lager zurecht, wickelte sich in +seinen warmen Pelz und schlief ein. Einige Stunden mochte er geschlafen +haben, als ein plötzlicher Lärm ihn aufweckte. Die Nacht war mondhell. +Dicht neben seinem Lager standen zwei kopflose Männlein unter der Fichte +und führten zornige Reden. Hans richtete sich in die Höhe, um besser zu +sehen, aber in demselben Augenblick riefen die Männlein: »Er ist es, er +ist es!« Der eine trat dann näher an Hansen's Lager und sagte: »Alter +Freund! ein glücklicher Zufall führt uns zusammen. Meine Knochen thun +mir noch weh von der Thurmtreppe her in der Kirche, du hast wohl die +Geschichte nicht vergessen? dafür sollen heute deine Knochen dermaßen +bearbeitet werden, daß du Wochenlang an unser Zusammentreffen denken +sollst. He! Gesellen! Holt aus und macht euch dran!«</p> + +<p>Wie ein dichter Mückenschwarm sprangen nun von allen Seiten die +kopflosen Männlein herbei, Alle mit tüchtigen prügeln bewaffnet, die +größer waren als ihre Träger. Die Masse dieser kleinen Feinde drohte +Gefahr, denn ihre Schläge fielen so hart, daß ein starker Mann kaum +bessere hätte führen können. Hans glaubte, sein letztes Stündlein sei +gekommen; einem so zahlreichen Feindeshaufen konnte er keinen Widerstand +leisten. Sein Glück war es, daß gerade, als das Prügeln im besten Gange +war, noch ein Männlein dazu kam. »Haltet ein, haltet ein, Kameraden!« +rief er den Seinigen zu. »Dieser Mann war einst mein Wohlthäter und ich +bin sein Schuldner. Er schenkte mir<span class='pagenum'><a name="Page_157" id="Page_157">[S 157]</a></span> das Leben, als ich in seiner Gewalt +war. Hat er einige von euch unsanft die Treppe hinunter geworfen, so ist +doch glücklicher Weise keiner lahm geworden. Das warme Bad hat die +zerschlagenen Glieder längst wieder geschmeidigt, darum verzeiht ihm und +geht nach Hause.«</p> + +<p>Die kopflosen Männlein ließen sich leicht durch ihren Kameraden +beschwichtigen und gingen still fort. Hans erkannte jetzt in seinem +Retter den nächtlichen Geist in der Kirchenglocke. Dieser setzte sich +nun unter der Fichte neben Hans nieder und sagte: »Damals verlachtest du +mich, als ich dir sagte, vielleicht komme einmal eine Zeit, wo ich dir +nützlich werden könnte. Heute ist ein solcher Augenblick nun +eingetreten, und daraus lerne, daß man auch das kleinste Geschöpf auf +der Welt nicht verachten darf.« »Ich danke dir von Herzen,« sagte Hans +— »meine Knochen sind von ihren Schlägen wie zermalmt, und ich hätte +das Bad leicht mit dem Leben bezahlen können, wenn du nicht zu rechter +Zeit dazu gekommen wärest.«</p> + +<p>Das kopflose Männlein fuhr fort: »Meine Schuld wäre jetzt getilgt; aber +ich will mehr thun und dir für die erhaltenen Schläge noch +Schmerzensgeld zahlen. Du brauchst dich nicht länger als Knecht bei +einem geizigen Pastor zu quälen. Wenn du morgen nach Hause kommst, so +geh' gleich zur nördlichen Kirchenecke, da wirst du einen großen Stein +eingemauert finden, der nicht wie die andern mit Kalk getüncht ist. +Uebermorgen Nacht haben wir Vollmond: dann brich um Mitternacht den +bezeichneten Stein mit der Brechstange aus der Mauer heraus. Unter dem +Steine wirst du einen unermeßlichen Schatz finden, an dem viele +Geschlechter gesammelt haben: goldenes und silbernes<span class='pagenum'><a name="Page_158" id="Page_158">[S 158]</a></span> Kirchengeräthe und +sehr viel baares Geld wurde hier, als einst eine Kriegsnoth herrschte, +vergraben. Diejenigen, welche den Schatz hier verbargen, sind schon vor +mehr als hundert Jahren alle gestorben, und keine Seele weiß jetzt um +die Sache. Ein Drittel des Geldes mußt du unter die Kirchspiels-Armen +vertheilen, alles Andere ist von Rechtswegen dein Eigenthum, womit du +verfahren kannst, wie es dir beliebt.« In diesem Augenblicke hörte man +aus dem fernen Dorfe den Hahnenschrei und plötzlich war das kopflose +Männlein wie weggefegt. Hans konnte lange vor Schmerz in den Gliedern +nicht einschlafen und dachte viel über den verborgenen Schatz; erst +gegen Morgen verfiel er in Schlummer.</p> + +<p>Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sein Brotherr aus der Stadt +zurückkam. »Hans, du warst gestern ein großer Thor, daß du nicht mit mir +fuhrst,« sagte der Pfarrer. »Sieh', ich habe gut gegessen und getrunken +und überdies noch Geld in der Tasche.« Indem er so sprach, klapperte er +mit dem Gelde, um dem Knecht das Herz noch schwerer zu machen. Hans aber +erwiederte ruhig: »Ihr, geehrter Herr Pastor, habt für das Bischen Geld +die Nacht wachen müssen, während ich im Schlafe hundertmal mehr verdient +habe.« »Zeige mir doch, was hast du verdient?« fragte der Prediger. Aber +Hans antwortete: »Die Narren prahlen mit ihren Kopeken, aber die Klugen +verstecken ihre Rubel.«</p> + +<p>Zu Hause angelangt, besorgte Hans rasch, was ihm oblag, spannte die +Pferde aus und warf ihnen Futter vor, ging dann um die Kirche herum und +fand an der bezeichneten Stelle den nicht getünchten Mauerstein.<span class='pagenum'><a name="Page_159" id="Page_159">[S 159]</a></span></p> + +<p>In der ersten Nacht des Vollmonds, als die Andern alle schliefen, +verließ er heimlich mit einer Brechstange das Haus, brach mit vieler +Mühe den Stein heraus und fand in der That die Grube mit dem Gelde, ganz +wie das Männlein gesagt hatte. Am Sonntage vertheilte er den dritten +Theil unter die Armen des Kirchspiels, kündigte dann dem Prediger auf, +und da er für die kurze Zeit keinen Lohn verlangte, so wurde er ohne +Widerrede entlassen. Hans aber zog weit weg, kaufte sich einen schönen +Bauerhof, nahm ein junges Weib und lebte dann noch viele Jahre glücklich +und in Frieden.</p> + +<p>Zu der Zeit, als mein Großvater Hüterknabe war, lebten in unserm Dorfe +noch viele alte Leute, welche den Hans gekannt hatten und die Wahrheit +dieser Geschichte bezeugen konnten.</p> + + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_160" id="Page_160">[S 160]</a></span></p> +<h2>13. Wie eine Königstochter sieben Jahre geschlafen.</h2> + + +<p>Einmal war eines großen Königs Tochter plötzlich gestorben, und Trauer +und Wehklagen erfüllte das ganze Land. An dem Tage, wo die Todte +eingesargt werden sollte, kam aus fernen Landen ein weiser Mann +(Zauberer) in die trauernde Königsstadt. Er schloß aus der allgemeinen +Bekümmerniß, daß hier etwas Besonderes vorgefallen sein müsse und +fragte, was denn die Bewohner so sehr drücke. Als er Auskunft erhalten +hatte, begab er sich in den königlichen Palast, nannte sich einen weisen +Arzt und bat um Zutritt zum Könige. Schon auf der Schwelle rief er mit +starker Stimme: »Die Jungfrau ist nicht todt, sondern nur müde, laßt sie +eine Zeitlang ruhen.« Als der König diesen Ausspruch gehört hatte, +befahl er dem Fremden, näher zu treten. Der Zauberer aber sagte: »Die +Jungfrau darf nicht zu Grabe gebracht werden. Ich werde einen Glaskasten +machen, darin wollen wir sie betten und ruhig schlafen lassen, bis die +Zeit des Erwachens heran kommt.«</p> + +<p>Der König war höchlich erfreut über diese Rede und versprach dem +Zauberer reichen Lohn, wenn seine Ver<span class='pagenum'><a name="Page_161" id="Page_161">[S 161]</a></span>heißung sich erfüllen würde. +Dieser machte darauf einen großen Glaskasten, legte seidene Kissen +hinein, bettete die Königstochter darauf, schloß den Deckel und ließ den +Kasten in ein großes Gemach tragen, jedoch Wachen vor die Thür stellen, +damit Niemand die Schlafende wecke.</p> + +<p>Nachdem dies geschehen war, sagte der Zauberer zum Könige: »Sendet jetzt +überall hin und lasset allen Glasvorrath aufkaufen, dann werde ich einen +Ofen bauen, der größer sein wird als eure Königsstadt, und in welchem +wir unser Glas zu einem Berge zusammenschmelzen wollen. Wenn sechs Jahre +verstrichen sind, und der Lerchensang den siebenten Sommer ankündigt, +dann sendet Boten nach allen Richtungen hin, und lasset bekannt machen, +daß es jedem jungen Manne erlaubt sei, sich als Bewerber um eure Tochter +einzufinden. Wer von den Freiern dann, sei es zu Pferde, oder auf seinen +eigenen Füßen, des Glasberges Gipfel erklimmt, der muß euer +Schwiegersohn werden. Wenn nämlich der auserkorene Mann kommt, was +binnen sieben Jahren und sieben Tagen geschehen wird, dann wird eure +Tochter aus dem Schlafe erwachen und dem Jüngling einen goldenen Ring +geben. Wer euch diesen Ring bringt, und wäre es der geringste eurer +Unterthanen, ja auch eines Tagelöhner's Sohn, dem müßt ihr eure Tochter +zur Gemahlin geben, sonst wird sie in ewigen Schlaf versinken.«</p> + +<p>Der König versprach, sich in allen Stücken nach dieser Vorschrift zu +richten, und gab sofort Befehl, in allen angränzenden Ländern den +Glasvorrath anzukaufen. Als das sechste Jahr ablief, war so viel Glas +beisammen, daß es eine Fläche von einer Meile sieben Klafter hoch +bedeckte.<span class='pagenum'><a name="Page_162" id="Page_162">[S 162]</a></span></p> + +<p>Inzwischen hatte der Zauberer seinen Schmelzofen fertig, der so hoch +war, daß er fast an die unterste Wolkenschicht reichte. Der König +stellte ihm zweitausend Arbeiter zur Verfügung, welche das Glas in den +Ofen thaten. Hier schmolz es, und die Hitze wurde so stark, daß Sümpfe, +Flüsse und kleine Seen austrockneten, ja selbst in Quellen und tiefen +Brunnen eine Abnahme des Wassers zu bemerken war.</p> + +<p>Während nun der Zauberer seinen Glasberg zusammenschmilzt, wollen wir in +eine Bauernhütte treten, die nicht weit von der Königsstadt liegt, und +wo ein alter Vater mit seinen drei Söhnen wohnt. Die beiden älteren +Brüder waren gescheute, gewiegte Bursche, der jüngste aber etwas +einfältig. Als der Vater erkrankte und sein Ende herannahen fühlte, ließ +er seine Söhne vor sein Lager treten und sprach folgendermaßen: »Ich +fühle, daß mein Heimgang herannaht, deßhalb will ich euch meinen letzten +Willen kund thun. Ihr, meine lieben älteren Söhne, sollt +gemeinschaftlich Haus und Acker bestellen, so lange ihr nicht beide +heirathet. Die Herrschaft zweier Herdesköniginnen würde einen Riß in's +Hauswesen bringen. Denn ein altes wahres Wort sagt: »Wo sieben +unbeweibte Brüder friedlich bei einander leben, da wird es zweien Frauen +zu eng; sie müssen sich zausen.« Tritt aber dieser Fall ein, so sollt +ihr Haus und Felder unter einander theilen. Euer jüngster Bruder aber, +der weder zum Wirth noch zum Knecht taugt, soll bei euch Obdach und +Nahrung finden, so lange er lebt. Zu diesem Behufe vermache ich euch +beiden meinen Geldkasten. Euer jüngster Bruder ist zwar etwas kurz von +Verstande, aber er hat<span class='pagenum'><a name="Page_163" id="Page_163">[S 163]</a></span> ein gutes Herz, und wird euch eben so willig +gehorchen, wie er mir immer gehorcht hat.« Die älteren Brüder +versprachen mit trockenem Auge und geläufiger Zunge des Vaters Willen zu +erfüllen, der jüngste sprach kein Wort und weinte bitterlich. »Noch Eins +will ich sagen,« fuhr der Vater fort — »wenn ich todt bin und ihr mich +begraben habt, so erweiset mir als letzten kleinen Liebesdienst, daß +jeder von euch eine Nacht an meinem Grabe wacht.« Beide älteren Brüder +versprachen mit trockenem Auge und geläufiger Zunge, des Vaters Willen +zu erfüllen, der jüngste sagte kein Wort und weinte bitterlich. Bald +nach dieser Unterredung hatte der Vater seine Augen auf immer +geschlossen.</p> + +<p>Die beiden älteren Brüder richteten ein großes Gastmahl an und luden +viele Gäste ein, damit der todte Vater mit allen Ehren bestattet werde. +Sie selbst waren guter Dinge und aßen und tranken wie auf einer +Hochzeit, während ihr dritter Bruder still weinend am Sarge des Vaters +stand; als der Sarg dann weggetragen und in's Grab gesenkt wurde, da war +dem jüngsten Sohne zu Muthe, als wären nun alle Freuden abgestorben und +mit dem Vater begraben.</p> + +<p>Spät am Abend, als die letzten Gäste fortgegangen waren, fragte der +jüngste Bruder, wer die erste Nacht am Grabe des Vaters wachen würde. +Die andern sagten: »Wir sind müde von der Besorgung des Begräbnisses, +wir können heute Nacht nicht wachen, aber du hast nichts Besseres zu +thun, also geh du und halte Wache.«</p> + +<p>Der jüngste Bruder ging ohne ein Wort zu sagen zum Grabe des Vaters, wo +Alles still war und nur die<span class='pagenum'><a name="Page_164" id="Page_164">[S 164]</a></span> Grille zirpte. Um nicht einzuschlafen, ging +er leisen Schrittes auf und ab. Es mochte um Mitternacht sein, als es +wie von einer klagenden Stimme aus dem Grabe tönte:<a name="FNanchor_65_65" id="FNanchor_65_65"></a><a href="#Footnote_65_65" class="fnanchor">[65]</a></p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Wessen Schritt ist's, der da schüttet<br /></span> +<span class="i0">Groben Kiessand auf die Augen,<br /></span> +<span class="i0">Schwarze Erde auf die Brauen.«<br /></span> +</div></div> + +<p>Der Sohn verstand die Frage und antwortete:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Das ist ja dein jüngster Knabe,<br /></span> +<span class="i0">Dessen Schritt ist's, der da schüttet<br /></span> +<span class="i0">Groben Kiessand auf die Augen,<br /></span> +<span class="i0">Schwarze Erde auf die Brauen.«<br /></span> +</div></div> + +<p>Die Stimme fragte weiter, warum die älteren Brüder nicht zuerst zur +Wacht gekommen seien, worauf der jüngste sie entschuldigte, sie hätten, +ermüdet von der Beerdigung, heute nicht kommen können.</p> + +<p>Wieder hob des Vaters Stimme an: »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes +werth, darum will ich dir auch deinen Lohn nicht vorenthalten. Es wird +bald eine Zeit kommen, wo du dir bessere Kleider wünschen wirst, um in +die Gesellschaft vornehmer Leute kommen zu können. Dann tritt an mein +Grab, stampfe mit deiner linken Ferse dreimal auf den Grabhügel und +sprich: »Lieber Vater, ich bitte um meinen Lohn für die <em class="gesperrt">erste</em> nächtliche +Wacht.«<span class='pagenum'><a name="Page_165" id="Page_165">[S 165]</a></span> Dann wirst du einen Anzug und ein Pferd erhalten. Aber sage +deinen Brüdern nichts davon.«</p> + +<p>Mit Tagesanbruch ging der Grabeswächter heim, frühstückte etwas, um sich +zu stärken, und legte sich dann nieder, um zu ruhen.</p> + +<p>Als am Abend die Zeit herankam, fragte er bei den Brüdern an, wer von +ihnen die Nacht am Grabe des Vaters wachen würde. Die Brüder antworteten +spöttisch: »Nun es wird wohl Niemand kommen, um den Vater aus dem Grabe +zu stehlen. Wenn du aber Lust hast, so kannst du ja auch diese Nacht +dort wachen. Aber mit all deinem Wachen wirst du den Vater nicht wieder +ins Leben zurückrufen.« Der jüngste Bruder wurde über diese lieblose +Rede noch betrübter und verließ mit Thränen in den Augen das Gemach.</p> + +<p>Auf dem Grabe des Vaters war Alles ruhig, wie gestern Nacht, nur die +Grille zirpte im Grase. Damit er nicht einschliefe, ging er leisen +Schrittes auf und ab. Es mochte wohl Mitternacht sein, die Hähne hatten +schon zweimal gekräht, als eine klagende Stimme aus dem Grabe sich +vernehmen ließ:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Wessen Schritt ist's, der da schüttet<br /></span> +<span class="i0">Groben Kiessand auf die Augen,<br /></span> +<span class="i0">Schwarze Erde auf die Brauen?«<br /></span> +</div></div> + +<p>Der Sohn verstand die Frage und erwiederte:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Das ist ja dein jüngster Knabe,<br /></span> +<span class="i0">Dessen Schritt ist's, der da schüttet<br /></span> +<span class="i0">Groben Kiessand auf die Augen,<br /></span> +<span class="i0">Schwarze Erde auf die Brauen.«<br /></span> +<span class='pagenum'><a name="Page_166" id="Page_166">[S 166]</a></span></div></div> + +<p>Die Stimme fragte weiter, warum keiner der älteren Brüder gekommen sei, +und der jüngste entschuldigte sie, sie seien von dem Tagewerk zu +ermüdet, um zu wachen.</p> + +<p>Wieder hob des Vaters Stimme an: »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes +werth, darum werde ich dir auch deinen Lohn nicht vorenthalten. Bald +wird eine Zeit kommen, wo du dir einen noch besseren Anzug wünschen +wirst, als den, welchen du dir gestern verdient hast. Dann tritt nur +dreist an mein Grab, stampfe mit deiner linken Ferse dreimal auf den +Grabhügel und sprich: »Lieber Vater, ich bitte um meinen Lohn für die +<em class="gesperrt">zweite</em> nächtliche Wacht!« Sofort wirst du einen prächtigeren Anzug und +ein schöneres Pferd erhalten, so daß die Leute ihre Augen nicht von dir +wegwenden mögen. Aber sage deinen Brüdern nichts davon.«</p> + +<p>Mit Tagesanbruch ging er von der Grabeswacht nach Hause, fand die beiden +älteren Brüder noch schlafend, frühstückte etwas, um sich zu stärken, +streckte sich dann auf die Ofenbank hin und schlief, bis die Sonne schon +etwas über Mittag stand.</p> + +<p>Als am Abend die Zeit wieder herannahte, fragte er die Brüder, wer von +ihnen die Nacht am Grabe des Vaters wachen würde? Sie lachten und +antworteten spöttisch: »Wer die wohlfeile Arbeit zwei Nächte gethan hat, +der kann sie auch die dritte Nacht thun. Der Vater wird aus seinem Grabe +nicht davonlaufen, und noch weniger werden die Leute kommen, ihn zu +stehlen. Wäre er noch bei vollem Verstande gewesen, so hätte er einen +Wunsch dieser Art gar nicht geäußert.« Der jüngste Bruder war sehr +betrübt über<span class='pagenum'><a name="Page_167" id="Page_167">[S 167]</a></span> ihre lieblose Rede, und ging wieder mit thränenden Augen +davon.</p> + +<p>Auf dem Grabe des Vaters war Alles still, wie die beiden Nächte zuvor, +nur die Grille zirpte im Grase, und die Schnepfe<a name="FNanchor_66_66" id="FNanchor_66_66"></a><a href="#Footnote_66_66" class="fnanchor">[66]</a> meckerte unter +hohem Himmel. Um nicht einzuschlafen, ging der Grabeswächter leisen +Schrittes auf und ab. Es mochte Mitternacht sein, die Hähne hatten schon +zweimal gekräht, da rief wieder die klagende Stimme aus dem Grabe:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Wessen Schritt ist's, der da schüttet<br /></span> +<span class="i0">Groben Kiessand auf die Augen,<br /></span> +<span class="i0">Schwarze Erde auf die Brauen?«<br /></span> +</div></div> + +<p>Der Sohn verstand die Frage und erwiederte:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Das ist ja dein jüngster Knabe,<br /></span> +<span class="i0">Dessen Schritt ist's, der da schüttet<br /></span> +<span class="i0">Groben Kiessand auf die Augen,<br /></span> +<span class="i0">Schwarze Erde auf die Brauen.«<br /></span> +</div></div> + +<p>Die Stimme fragte wieder, weßwegen die älteren Brüder nicht gekommen +seien, und erhielt dieselbe Antwort wie gestern.</p> + +<p>Aber des Vaters Stimme hob wieder an: »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes +werth, ich will dir den deinigen nicht vorenthalten. Bald wird eine Zeit +kommen, wo du an dir selbst erfahren wirst, daß der Mensch, je mehr er +hat, desto mehr begehrt. Einem guten Sohne aber, der seinem Vater auch +nach dem Tode noch Liebe erwies, müssen alle Wünsche erfüllt werden. +Anfangs wollte ich meine verborgenen Schätze unter deine Brüder theilen, +jetzt bist du mein einziger Erbe. Wenn dir deine prächtigen<span class='pagenum'><a name="Page_168" id="Page_168">[S 168]</a></span> Kleider und +Pferde, die ich dir für die erste und zweite nächtliche Wacht zum Lohne +versprach, nicht mehr gefallen, so tritt dreist an mein Grab, stampfe +mit deiner linken Ferse dreimal auf den Grabhügel und sprich: »Lieber +Vater, ich bitte um meinen Lohn für die <em class="gesperrt">dritte</em> nächtliche Wacht!« und +augenblicklich wirst du die allerprächtigsten Kleider und die +allerkostbarsten Pferde erhalten. Alle Welt wird mit Bewunderung auf +dich blicken, deine älteren Brüder werden dich beneiden und ein großer +König wird dich zum Schwiegersohne wählen. Aber sage deinen Brüdern +nichts davon.«</p> + +<p>Mit Tagesanbruch ging der Grabeswächter nach Hause und dachte bei sich +selbst: so eine Zeit wird für mich Armen wohl niemals kommen. Als er +dann ein wenig gefrühstückt hatte, um sich zu stärken, streckte er sich +auf die Ofenbank, schlief ein und erwachte erst, als die Sonne schon in +den Wipfeln des Waldes stand.</p> + +<p>Während er schlief, sprachen die älteren Brüder untereinander: »Dieser +Nachtwacher und Tagschläfer wird uns nie zu was nützen, wozu füttern wir +ihn? Wir thäten besser, das Futter einem Schweine zu geben, das wir zu +Weihnacht schlachten können.« Der älteste Bruder setzte hinzu: »Werfen +wir ihn aus dem Hause, er kann vor fremder Leute Thüren sein Brod +betteln.« Da meinte aber der andere, das würde doch nicht gut angehen, +und würde ihnen selber Schande bringen, wenn sie, als wohlhabende Leute, +den Bruder betteln gehen ließen. »Lieber wollen wir ihm die Brosamen von +unserm Tische hinwerfen, satt soll er nicht dabei werden, aber auch +nicht Hungers sterben.«<span class='pagenum'><a name="Page_169" id="Page_169">[S 169]</a></span></p> + +<p>Inzwischen hatte der Zauberer seinen Glasberg fertig geschmolzen, und +der König hatte überall bekannt machen lassen, daß jeder junge Mann +kommen dürfe, sich um seine Tochter zu bewerben, daß aber nur demjenigen +die Jungfrau ihre Hand reichen würde, der zu Pferde oder auf eigenen +Füßen den Gipfel des Glasberges erklimmen würde.</p> + +<p>Der König ließ nun ein großes Gelage anrichten für alle die Gäste, die +sich einfinden würden. Das Gelage sollte drei Tage währen; für jeden Tag +wurden hundert Ochsen und siebenhundert Schweine geschlachtet, und +fünfhundert Fässer Bier gebraut. Die aufgestapelten Würste ragten gleich +Wänden, die Hefenbröte<a name="FNanchor_67_67" id="FNanchor_67_67"></a><a href="#Footnote_67_67" class="fnanchor">[67]</a> und Kuchen bildeten Haufen, so hoch wie die +größten Heuschober.</p> + +<p>Die schlafende Königstochter wurde in ihrem Glaskasten auf den Gipfel +des Glasberges getragen. Von allen Seiten strömten Fremde herbei, theils +um das Wagestück zu versuchen, theils um das Wunder mit anzusehen. Der +glänzende Berg strahlte wie eine zweite Sonne, so daß man ihn schon +viele Meilen weit aus der Ferne erblickte.</p> + +<p>Unsere alten Bekannten, die beiden älteren Brüder, hatten sich +Festkleider machen lassen und gingen auch zum Gastmahl. Der jüngste +mußte zu Hause bleiben, damit er in seinem elenden Aufzuge den schmucken +Brüdern keine Schande mache. Aber kaum hatten sich die älteren Brüder +auf den Weg gemacht, so ging der jüngste an des Vaters Grab, that, wie +die Stimme ihn gelehrt hatte, und sprach:<span class='pagenum'><a name="Page_170" id="Page_170">[S 170]</a></span> »Lieber Vater, ich bitte um +meinen Lohn für die <em class="gesperrt">erste</em> nächtliche Wacht!« — In dem nämlichen +Augenblicke, wo die Bitte über seine Lippen kam, stand ein ehernes Roß +da mit ehernem Zaum, und auf dem Sattel lag die schönste glänzende +Rüstung, vollständig vom Scheitel bis zur Sohle, und Alles paßte so gut, +als wäre es auf seinen Leib gemacht.</p> + +<p>Um Mittag kam der eherne Mann auf seinem ehernen Pferde an den Glasberg, +wo Hunderte und Tausende standen, aber kein Einziger war im Stande, auch +nur einige Schritte den glatten Berg hinauf zu kommen. Der eherne Reiter +drängte sich durch die Menge, ritt ein Drittel des Berges hinauf, als +wäre es geschwendetes Land, kehrte dann um, grüßte den König und +verschwand wieder. Manche Zuschauer wollten bemerkt haben, daß die +schlafende Königstochter ihre Hand regte, als der eherne Mann +hinaufritt.</p> + +<p>Beide Brüder konnten am Abend nicht genug von der wunderbaren That des +ehernen Mannes und seines ehernen Pferdes erzählen. Der jüngste Bruder +hörte ihre Reden schweigend an, ließ sich aber nicht merken, daß er +selber der Mann gewesen war.</p> + +<p>Am andern Morgen gingen die Brüder mit Sonnenaufgang wieder fort, um die +Gasterei nicht zu versäumen. Die Sonne stand in Südost, als der jüngste +Bruder an das Grab des Vaters kam; er that nach der Vorschrift und +sagte: »Lieber Vater, ich bitte um meinen Lohn für die <em class="gesperrt">zweite</em> nächtliche +Wacht!« In dem nämlichen Augenblicke, wo die Bitte über seine Lippen +kam, stand ein silbernes Pferd da mit silbernem Zaum und Sattel, und<span class='pagenum'><a name="Page_171" id="Page_171">[S 171]</a></span> +auf dem Sattel lag die prächtigste glänzendste silberne Rüstung, +vollständig vom Scheitel bis zur Sohle, und Alles paßte so gut, als wäre +es auf seinen Leib gemacht.</p> + +<p>Am Mittag kam der silberne Mann mit seinem Silberpferde an den Glasberg, +wo Hunderte und Tausende standen; aber kein Einziger war im Stande, auch +nur einige Schritte auf den glatten Berg hinaufzukommen. Der silberne +Reiter drängte sich durch die Menge, ritt ein gut Stück über die Hälfte +den Glasberg hinauf, der für die Hufe seines Pferdes wie geschwendetes +Land zu sein schien, kehrte um, grüßte den König und war gleich darauf +wieder verschwunden. Heute hatten die Leute deutlich gesehen, daß die +schlafende Königstochter bei der Annäherung des silbernen Mannes ihren +Kopf bewegt hatte.</p> + +<p>Die Brüder waren am Abend nach Hause gekommen, und konnten nicht genug +Rühmens machen von des silbernen Mannes und seines Silberpferdes +wunderbarer That, meinten aber doch zuletzt, es könne kein wirklicher +Mensch sein, sondern Alles sei nur ein Zauberblendwerk. Der jüngste +Bruder hörte ihren Reden still zu, ließ sich aber nichts davon merken, +daß er selbst der Mann gewesen war.</p> + +<p>Am andern Morgen waren beide älteren Brüder mit Tagesanbruch wieder +fortgegangen. An diesem Tage hatte sich noch mehr Volks versammelt, weil +heute die sieben Jahre und sieben Tage um waren, nach deren Ablauf die +Königstochter aus ihrem langen Schlafe erwachen sollte. Die Sonne stand +schon ziemlich hoch, als der jüngste Bruder an des Vaters Grab ging. Er +that nach der Vorschrift und sprach: »Lieber Vater, ich bitte um meinen +Lohn für die <em class="gesperrt">dritte</em> nächtliche Wacht.« In demselben<span class='pagenum'><a name="Page_172" id="Page_172">[S 172]</a></span> Augenblicke, wo +diese Bitte über seine Lippen kam, stand ein goldenes Pferd da mit +goldenem Zaum und Sattel, und auf dem Sattel lag die schönste goldene +Rüstung, vollständig vom Scheitel bis zur Sohle, und Alles paßte so gut, +als wäre es auf seinen Leib gemacht.</p> + +<p>Um Mittag kam der goldene Mann mit seinem Goldpferde an den Glasberg, wo +Hunderte und Tausende standen, doch kein Einziger war im Stande, auch +nur einige Schritte den glatten Berg hinaufzukommen. Weder der eherne +Reiter noch der silberne hatten Spuren auf dem Berge zurückgelassen, der +glatt geblieben war wie zuvor. Der goldene Reiter drängte sich durch die +Menge, ritt den Berg hinauf bis zum Gipfel, und der Berg schien für die +Hufe seines Pferdes wie geschwendetes Land zu sein. Als er oben +angekommen war, sprang der Deckel des Kastens von selbst auf, die +schlafende Königstochter richtete sich empor, zog einen goldenen Ring +von ihrem Finger und gab ihn dem goldenen Reiter. Dieser aber hob die +Jungfrau auf sein Goldpferd und ritt mit ihr langsam den Berg hinunter. +Dann legte er sie in des Königs Arme, grüßte anmuthig und war im +nächsten Augenblick verschwunden, als wäre er in die Erde gesunken.</p> + +<p>Des Königs Freude könnt ihr euch leicht vorstellen. Am andern Tage hatte +er, dem Rathe des weisen Mannes zufolge, überall bekannt machen lassen, +daß der, welcher der Prinzessin goldenen Ring zurückbringen würde, sein +Schwiegersohn werden sollte. Von den Gästen waren die meisten zur Nacht +dageblieben, um zu sehen, wie die Sache ablaufen werde. Auch unsere +alten Freunde, die älteren Brüder, waren darunter und ließen sich die +Bewir<span class='pagenum'><a name="Page_173" id="Page_173">[S 173]</a></span>thung trefflich munden. Aber ihr Erstaunen war nicht gering, als +sie sahen, wie ein schlecht gekleideter Mann, in dem sie bald ihren +verschmähten Bruder erkannten, an den König herantrat. Dieser Bettler +trug in der That den Ring der Königstochter an seiner Hand. Da bereute +der König seine Zusage, denn so etwas hatte er nicht ahnden können.</p> + +<p>Aber der Zauberer sagte zum Könige: »Der Jüngling, den ihr seines +schlechten Auszuges wegen für einen Bettler haltet, ist der Sohn eines +mächtigen Königs, dessen Land weit entfernt liegt. Er wurde drei Tage +nach seiner Geburt von einer bösen Frau des Rõugutaja<a name="FNanchor_68_68" id="FNanchor_68_68"></a><a href="#Footnote_68_68" class="fnanchor">[68]</a> mit einem +Bauernsohne vertauscht; dieser starb jedoch schon im ersten Monate, +während der gestohlene Königssohn in einer Bauernhütte aufwuchs und +seinem vermeintlichen Vater immer gehorsam war.«</p> + +<p>Der König war durch diese Auskunft zufriedengestellt, und ließ einen +großen Hochzeitsschmaus anrichten, der vier Wochen dauerte. Später +vererbte er alle seine Reiche auf seinen Schwiegersohn. Sobald dieser +nur die Bauernkleider abgelegt hatte, benahm er sich gar nicht mehr +einfältig, sondern seinem Stande gemäß und als kluger Herr. Seine +Einfalt war ihm ja nicht angeboren, sondern das böse Weib hatte sie ihm +angethan. Sonntags zeigte er sich dem Volke in seiner Goldrüstung auf +seinem goldenen Roß. Seine vermeintlichen Brüder waren vor Neid und Wuth +gestorben.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_174" id="Page_174">[S 174]</a></span></p> +<h2>14. Der dankbare Königssohn.</h2> + + +<p>Einmal hatte sich ein König des Goldlandes<a name="FNanchor_69_69" id="FNanchor_69_69"></a><a href="#Footnote_69_69" class="fnanchor">[69]</a> im Walde verirrt und +konnte, trotz alles Suchens und hin und her Streifens, den Ausweg nicht +finden. Da trat ein fremder Mann zu ihm und fragte: »Was suchst du, +Brüderchen, hier im dunklen Walde, wo nur wilde Thiere hausen?« Der +König erwiederte: »Ich habe mich verirrt und suche den Weg nach Hause.« +»Versprecht mir zum Eigenthum, was euch zuerst auf eurem Hofe +entgegenkommen wird, so will ich euch den rechten Weg zeigen,« sagte der +Fremde.</p> + +<p>Der König sann eine Weile nach und erwiederte dann: »Warum soll ich wohl +meinen guten Jagdhund einbüßen? Ich finde mich wohl auch noch selbst +nach Hause.« Da ging der fremde Mann fort, der König aber irrte noch +drei Tage im Walde umher, bis sein Speisevorrath zu Ende ging; dem +rechten Wege konnte er nicht auf die Spur kommen. Da kam der Fremde zum +zweiten Mal zu ihm und sagte: »Versprecht ihr mir zum Eigenthum, was +euch auf eurem Hofe zuerst entgegenkommt?« Da der<span class='pagenum'><a name="Page_175" id="Page_175">[S 175]</a></span> König aber sehr +halsstarrig war, wollte er auch dies Mal noch nichts versprechen. +Unmuthig durchstreifte er wieder den Wald in die Kreuz und die Quer, bis +er zuletzt erschöpft unter einem Baume niedersank und seine Todesstunde +gekommen glaubte. Da erschien der Fremde — es war kein anderer als der +»alte Bursche« selber — zum dritten Male vor dem Könige und sagte: +»Seid doch nur kein Thor! Was kann euch an einem Hunde so viel gelegen +sein, daß ihr ihn nicht hingeben mögt, um euer Leben zu retten? +Versprecht mir den geforderten Führerlohn, und ihr sollt eurer Noth +ledig werden und am Leben bleiben.« »Mein Leben ist mehr werth, als +tausend Hunde!« entgegnete der König. »Es hängt daran ein ganzes Reich +mit Land und Leuten. Sei es denn, ich will dein Verlangen erfüllen, +führe mich nach Hause!« Kaum hatte er das Versprechen über die Zunge +gebracht, so befand er sich auch schon am Saum des Waldes und konnte in +der Ferne sein Schloß sehen. Er eilte hin und das Erste, was ihm an der +Pforte entgegen kam, war die Amme mit dem königlichen Säugling, der dem +Vater die Arme entgegenstreckte. Der König erschrack, schalt die Amme +und befahl, das Kind eiligst hinweg zu bringen. Darauf kam sein treuer +Hund wedelnd angelaufen, wurde aber zum Lohn für seine Anhänglichkeit +mit dem Fuße fortgestoßen. So müssen schuldlose Untergebene gar oft +ausbaden, was die oberen in tollem Wahne Verkehrtes gethan haben.</p> + +<p>Als des Königs Zorn etwas verraucht war, ließ er sein Kind, einen +schmucken Knaben, gegen die Tochter eines armen Bauern vertauschen, und +so wuchs der Königs<span class='pagenum'><a name="Page_176" id="Page_176">[S 176]</a></span>sohn am Herde armer Leute auf, während des Bauern +Tochter in der königlichen Wiege in seidenen Kleidern schlief. Nach +Jahresfrist kam der alte Bursche, um seine Forderung einzuziehen und +nahm das kleine Mädchen mit sich, welches er für das echte Kind des +Königs hielt, weil er von der betrügerischen Vertauschung der Kinder +nichts erfahren hatte. Der König aber freute sich seiner gelungenen +List, ließ ein großes Freudenmahl anrichten, und den Eltern des +geraubten Kindes ansehnliche Geschenke zukommen, damit es seinem Sohne +in der Hütte an Nichts fehlen möge. Den Sohn wieder zu sich zu nehmen, +getraute er sich nicht, weil er fürchtete, der Betrug könnte dann heraus +kommen. Die Bauernfamilie war mit dem Tausche sehr zufrieden; sie hatten +einen Esser weniger am Tische und Brot und Geld im Ueberfluß.</p> + +<p>Inzwischen war der Königssohn zum Jüngling herangewachsen, und führte im +Hause seiner Pflege-Eltern ein herrliches Leben. Aber er konnte dessen +doch nicht recht froh werden. Denn als er vernommen hatte, wie es +gelungen war, ihn zu befreien, war er sehr unwillig darüber, daß ein +armes unschuldiges Mädchen statt seiner büßen mußte, was seines Vaters +Leichtsinn verschuldet hatte. Er nahm sich daher fest vor, entweder, +wenn irgend möglich, das arme Mädchen frei zu machen, oder mit demselben +umzukommen. Auf Kosten einer Jungfrau König zu werden, war ihm zu +drückend. Eines Tages legte er heimlich die Tracht eines Bauernknechtes +an, lud einen Sack Erbsen auf die Schulter und ging in jenen Wald, wo +sein Vater sich vor achtzehn Jahren verirrt hatte.<span class='pagenum'><a name="Page_177" id="Page_177">[S 177]</a></span></p> + +<p>Im Walde fing er laut an zu jammern. »O ich Armer, wie bin ich irre +gegangen! Wer wird mir den Weg aus diesem Walde zeigen? Hier ist ja weit +und breit keine Menschenseele zu treffen!« Bald darauf kam ein fremder +Mann mit langem grauen Barte und einem Lederbeutel am Gürtel, wie ein +Tatar, grüßte freundlich und sagte: »Mir ist die Gegend hier bekannt, +und ich kann euch dahin führen, wohin euch verlangt, wenn ihr mir eine +gute Belohnung versprecht.« »Was kann ich armer Schlucker euch wohl +versprechen,« erwiederte der schlaue Königssohn, »ich habe nichts weiter +als mein junges Leben, sogar der Rock auf meinem Leibe gehört meinem +Brotherrn, dem ich für Nahrung und Kleidung dienen muß.« Der Fremde +bemerkte den Erbsensack auf der Schulter des Andern und sagte: »Ohne +alle Habe müßt ihr doch nicht sein, ihr tragt ja da einen Sack, der +recht schwer zu sein scheint.« »In dem Sacke sind Erbsen,« war die +Antwort. »Meine alte Tante ist vergangene Nacht gestorben und hat nicht +so viel hinterlassen, daß man den Todtenwächtern nach Landesbrauch +gequollene Erbsen vorsetzen kann. Ich habe mir die Erbsen von meinem +Wirthe um Gottes Lohn ausgebeten, und wollte sie eben hinbringen; um den +Weg abzukürzen, schlug ich einen Waldpfad ein, der mich nun, wie ihr +seht, irre geführt hat.« »Also bist du, aus deinen Reden zu schließen, +eine Waise,« sagte der Fremde grinsend. »Möchtest du nicht in meinen +Dienst treten, ich suche gerade einen flinken Knecht für mein kleines +Hauswesen, und du gefällst mir.« »Warum nicht, wenn wir Handels einig +werden,« antwortete der Königssohn. Zum Knecht bin ich geboren, fremdes +Brot schmeckt überall<span class='pagenum'><a name="Page_178" id="Page_178">[S 178]</a></span> bitter, da ist es mir denn ziemlich einerlei, +welchem Wirth ich gehorchen muß. Welchen Jahreslohn versprecht ihr mir?« +»Nun,« sagte der Fremde, »alle Tage frisches Essen, zwei Mal wöchentlich +Fleisch, wenn außer Hause gearbeitet wird, Butter oder Strömlinge als +Zukost, vollständige Sommer- und Winterkleidung, und außerdem noch zwei +Külimit<a name="FNanchor_70_70" id="FNanchor_70_70"></a><a href="#Footnote_70_70" class="fnanchor">[70]</a>-Theil Land zu eigener Nutznießung.« »Damit bin ich +zufrieden,« sagte der schlaue Königssohn. »Die Tante können auch Andere +in die Erde bringen, ich gehe mit euch.«</p> + +<p>Der alte Bursche schien mit diesem vorteilhaften Handel sehr zufrieden +zu sein, er drehte sich wie ein Kreisel auf einem Fuße herum, und +trällerte so laut, daß der Wald davon wiederhallte. Alsdann machte er +sich mit seinem neuen Knechte auf den Weg, wobei er bemüht war, die Zeit +durch angenehme Plaudereien zu verkürzen, ohne zu bemerken, daß sein +Gefährte je nach zehn und funfzehn Schritten immer eine Erbse aus dem +Sack fallen ließ. Ihr Nachtlager hielten die Wanderer im Walde unter +einer breiten Fichte, und setzten am andern Morgen ihre Reise fort. Als +die Sonne schon hoch stand, gelangten sie an einen großen Stein. Hier +machte der Alte Halt, spähte überall scharf umher, pfiff in den Wald +hinein und stampfte dann mit dem Hacken des linken Fußes dreimal gegen +den Boden. Plötzlich that sich unter dem Stein eine geheime Pforte auf, +und es wurde ein Eingang sicht<span class='pagenum'><a name="Page_179" id="Page_179">[S 179]</a></span>bar, welcher der Mündung einer Höhle +glich. Jetzt faßte der alte Bursche den Königssohn beim Arm und befahl +in strengem Tone: »Folge mir!«</p> + +<p>Dicke Finsterniß umgab sie hier, doch kam es dem Königssohne vor, als ob +ihr Weg immer weiter in die Tiefe führe. Nach einer guten Weile zeigte +sich wieder ein Schimmer, aber das Licht war weder dem der Sonne, noch +dem des Mondes zu vergleichen. Scheu erhob der Königssohn den Blick, +aber er sah weder einen Himmel noch eine Sonne; nur eine leuchtende +Nebelwolke schwebte über ihnen und schien diese neue Welt zu bedecken, +in der Alles ein fremdartiges Gepräge trug. Erde und Wasser, Bäume und +Kräuter, Thiere und Vögel, Alles erschien anders, als er es früher +gesehen hatte. Was ihn aber am meisten befremdete, war die wunderbare +Stille ringsum; nirgends war eine Stimme oder ein Geräusch zu vernehmen. +Alles war still wie im Grabe; nicht einmal seine eigenen Schritte +verursachten ein Geräusch. Man sah wohl hie und da einen Vogel auf dem +Aste sitzen mit lang gerecktem Halse und aufgeblähter Kehle, als ob ein +Laut heraus komme, aber das Ohr vernahm ihn nicht. Die Hunde sperrten +die Mäuler auf, wie zum Bellen, die Ochsen hoben, wie sie pflegen, den +Kopf in die Höhe, als ob sie brüllten, aber weder Gebell noch Gebrüll +wurde hörbar. Das Wasser floß ohne zu rauschen über die Kiesel des +flachen Grundes, der Wind bog die Wipfel des Waldes, ohne daß man ein +Säuseln hörte, Fliege und Käfer flogen ohne zu summen. Der alte Bursche +sprach kein Wort, und wenn sein Gefährte zuweilen zu sprechen<span class='pagenum'><a name="Page_180" id="Page_180">[S 180]</a></span> +versuchte, so fühlte er gleich, daß ihm die Stimme im Munde erstarb.<a name="FNanchor_71_71" id="FNanchor_71_71"></a><a href="#Footnote_71_71" class="fnanchor">[71]</a></p> + +<p>So waren sie, wer weiß wie lange, in dieser unheimlichen stillen Welt +dahin gezogen, die Angst schnürte dem Königssohne das Herz zu und +sträubte sein Haar wie Borsten empor, Schauerfrost schüttelte seine +Glieder — als endlich, o Wonne! das erste Geräusch sein lauschendes Ohr +traf, und dieses Schattenleben zu einem wirklichen zu machen schien. Es +kam ihm vor, als ob eine große Roßherde sich durch Moorgruud +durcharbeitete. Nun that auch der alte Bursche seinen Mund auf und +sagte, indem er sich die Lippen leckte: »Der Breikessel siedet, man +erwartet uns zu Hause!« Wieder waren sie eine Weile weiter gegangen, als +der Königssohn das Dröhnen einer Sägemühle zu hören glaubte, in der +mindestens ein Paar Dutzend Sägen zu arbeiten schienen, der Wirth aber +sagte: »Die alte Großmutter schläft schon, sie schnarcht.«</p> + +<p>Sie erreichten dann den Gipfel eines Hügels, und der Königssohn +entdeckte in einiger Entfernung den Hof seines Wirthes; der Gebäude +waren so viele, daß man das Ganze eher für ein Dorf oder eine kleine +Vorstadt hätte halten können, als für die Wohnung <em class="gesperrt">eines</em> Besitzers. +Endlich kamen sie an, und fanden an der Pforte ein leeres<span class='pagenum'><a name="Page_181" id="Page_181">[S 181]</a></span> +Hundehäuschen. »Krieche hinein,« herrschte der Wirth, »und verhalte dich +ruhig, bis ich mit der Großmutter deinetwegen gesprochen habe. Sie ist, +wie die alten Leute fast alle, sehr eigensinnig, und duldet keinen +Fremden im Hause.« Der Königssohn kroch zitternd in's Hundehäuschen und +begann schon seine Ueberkühnheit, die ihn in diese Klemme gebracht +hatte, zu bereuen.</p> + +<p>Erst nach einer Weile kam der Wirth wieder, rief ihn aus seinem +Schlupfwinkel heraus und sagte mit verdrießlichem Gesicht: »Merke dir +jetzt genau unsere Hausordnung und hüte dich, dagegen zu verstoßen, +sonst könnte es dir hier recht schlecht gehen:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Augen, Ohren halte offen,<br /></span> +<span class="i0">Mundes Pforte stets verriegelt!<br /></span> +<span class="i0">Ohne Weigerung gehorche,<br /></span> +<span class="i0">Hege, wie du willst, Gedanken,<br /></span> +<span class="i0">Rede nimmer, wenn gefragt nicht.«<br /></span> +</div></div> + +<p>Als der Königssohn über die Schwelle trat, erblickte er ein junges +Mädchen von großer Schönheit, mit braunen Augen und lockigem Haar. Er +dachte in seinem Sinne: Wenn der Alte solcher Töchter viele hätte, so +möchte ich gern sein Eidam werden! Das Mädchen ist ganz nach meinem +Geschmack.« Die schöne Maid ordnete nun, ohne ein Wort zu sprechen, den +Tisch, trug die Speisen auf und nahm dann bescheiden ihren Sitz am Herde +ein, als ob sie den fremden Mann gar nicht bemerkt hätte. Sie nahm Garn +und Nadeln und fing an, ihren Strumpf zu stricken. Der Wirth setzte sich +allein zu Tisch, und lud weder Knecht noch Magd dazu, auch die alte +Großmutter war nirgends zu sehen. Des alten Burschen Appetit war<span class='pagenum'><a name="Page_182" id="Page_182">[S 182]</a></span> +grenzenlos; binnen Kurzem machte er reine Bahn mit Allem, was er auf dem +Tische fand, und davon hätten doch wenigstens ein Dutzend Menschen satt +werden können. Nachdem er endlich seinen Kinnladen Ruhe gegönnt hatte, +sagte er zur Jungfrau: »Kehre jetzt aus, was auf dem Boden der Kessel +und Grapen ist, und sättiget euch mit den Resten, die Knochen aber +werfet dem Hunde vor.«<a name="FNanchor_72_72" id="FNanchor_72_72"></a><a href="#Footnote_72_72" class="fnanchor">[72]</a></p> + +<p>Der Königssohn verzog wohl den Mund über das angekündigte +Kesselbodenkehrichtsmahl, welches er mit dem hübschen Mädchen und dem +Hunde zusammen verzehren sollte. Aber bald erheiterte sich sein Gesicht +wieder, als er fand, daß die Reste ein ganz leckeres Mahl auf den Tisch +lieferten. Während des Essens sah er unverwandt das Mädchen verstohlener +Weise an, und hätte wer weiß wie viel darum gegeben, wenn er einige +Worte mit ihr hätte sprechen dürfen. Aber sobald er nur den Mund zum +Sprechen öffnen wollte, begegnete ihm der flehende Blick des Mädchens, +der zu sagen schien: »Schweige!« So ließ denn der Jüngling seine Augen +reden, und gab dieser stummen Sprache durch seinen guten Appetit +Nachdruck, denn die Jungfrau hatte ja doch die Speisen bereitet, und es +mußte ihr angenehm sein, wenn der Gast brav zulangte und ihre Küche +nicht verschmähte. Der Alte hatte sich auf der Ofenbank ausgestreckt und +machte<span class='pagenum'><a name="Page_183" id="Page_183">[S 183]</a></span> seinem vollen Magen dermaßen Luft, daß die Wände davon dröhnten.</p> + +<p>Nach der Abend-Mahlzeit sagte der Alte zum Königssohn: »Zwei Tage kannst +du von der langen Reise ausruhen, und dich im Hause umsehen. Uebermorgen +Abend aber mußt du zu mir kommen, damit ich dir die Arbeit für den +folgenden Tag anweisen kann; denn mein Gesinde muß immer früher bei der +Arbeit sein, als ich selber aufstehe. Das Mädchen wird dir deine +Schlafstätte zeigen.« Der Königssohn nahm einen Ansatz zum Sprechen, +aber o weh! der alte Bursche fuhr wie ein Donnerwetter auf ihn los und +schrie: »Du Hund von einem Knecht! Wenn du die Hausordnung übertrittst, +so kannst du ohne Weiteres um einen Kopf kürzer gemacht werden. Halt das +Maul und jetzt scher' dich zur Ruhe!«</p> + +<p>Das Mädchen winkte ihm, mitzukommen, schloß dann eine Thür auf und +bedeutete ihn, hineinzutreten. Der Königssohn glaubte eine Thräne in dem +Auge des Mädchens quillen zu sehen und wäre gar zu gern noch auf der +Schwelle stehen geblieben, aber er fürchtete den Alten und wagte nicht +länger zu zögern. »Das schöne Mädchen kann doch unmöglich seine Tochter +sein,« dachte der Königssohn, denn sie hat ein gutes Herz. Sie ist am +Ende gar dasselbe arme Mädchen, welches statt meiner hierhergethan +wurde, und um dessen willen ich das tolle Wagstück unternahm.« Es +dauerte lange, ehe er den Schlaf auf seinem Lager fand, und dann ließen +ihm bange Träume keine Ruhe; er träumte von allerlei Gefahr, die ihn +umstrickte, und überall war es die Gestalt der schönen Jungfrau, die ihm +zu Hülfe eilte.<span class='pagenum'><a name="Page_184" id="Page_184">[S 184]</a></span></p> + +<p>Als er am andern Morgen erwachte, war sein erster Gedanke, daß er Alles +thun wolle, was er der Schönen an den Augen absehen könnte. Er fand das +fleißige Mädchen schon bei der Arbeit, half ihr Wasser aus dem Brunnen +heraufwinden und in's Haus tragen, Holz spalten, das Feuer unter den +Grapen schüren, und ging ihr bei allen andern Arbeiten zur Hand. +Nachmittags trat er hinaus, um seine neue Wohnstätte näher in +Augenschein zu nehmen, und wunderte sich sehr, daß er die alte +Großmutter nirgends zu Gesicht bekam. Im Stalle fand er ein weißes +Pferd,<a name="FNanchor_73_73" id="FNanchor_73_73"></a><a href="#Footnote_73_73" class="fnanchor">[73]</a> im Pfahlland eine schwarze Kuh mit einem weißköpfigen Kalbe, +in andern verschlossenen Ställen glaubte er Gänse, Enten, Hühner und +anderes Fasel zu hören. Frühstück und Mittagsessen waren eben so +schmackhaft gewesen, als Abends zuvor, und er hätte mit seiner Lage ganz +zufrieden sein können, wenn es ihm nicht so sehr schwer geworden wäre, +dem Mädchen gegenüber seine Zunge im Zaume zu halten. Am Abend des +zweiten Tages ging er zum Wirth, um die Arbeit für den kommenden Tag zu +erfahren.</p> + +<p>Der Alte sagte: »Für morgen will ich dir eine leichte Arbeit geben. Nimm +die Sense zur Hand, mähe so viel Gras, als das weiße Pferd zu seinem +Tagesfutter braucht,<span class='pagenum'><a name="Page_185" id="Page_185">[S 185]</a></span> und miste den Stall aus. Wenn ich hin käme und die +Krippe leer oder auf der Diele Mist fände, so könnte es dir bitterbös +bekommen. Hüte dich davor!«</p> + +<p>Der Königssohn war ganz vergnügt, denn er dachte in seinem Sinn: »Mit +dem Bischen Arbeit komme ich schon zu Gange; wenn ich auch bis jetzt +weder Pflug noch Sense geführt habe, so sah ich doch oft, wie leicht die +Landleute mit diesen Werkzeugen umgehen, und Kraft genug habe ich.« Als +er sich eben auf's Lager hinstrecken wollte, kam das Mädchen leise +hereingeschlichen, und fragte ihn mit gedämpfter Stimme: »Was für eine +Arbeit hast du bekommen?« »Morgen« — erwiederte der Königssohn — »habe +ich eine leichte Arbeit; ich soll für das weiße Pferd Futtergras mähen +und den Stall säubern, das ist Alles.« »Ach du unglückseliges Geschöpf!« +seufzte das Mädchen: »wie könntest du die Arbeit vollbringen? Das weiße +Pferd, des Wirthes Großmutter, ist ein unersättliches Geschöpf, welchem +zwanzig Mäher kaum das tägliche Futter liefern könnten, und andere +zwanzig hätten vom Morgen bis Abend zu thun, den Mist aus dem Stalle zu +führen. Wie würdest du denn allein mit Beidem zu Stande kommen? Merke +auf meinen Rath und befolge ihn genau. Wenn du dem Pferde einige Schooß +voll Gras in die Krippe geschüttet hast, so mußt du aus Weidenreisern +einen starken Reif flechten, und aus festem Holze einen Keil schnitzen, +und zwar so, daß das Pferd sieht, was du thust. Es wird dich sogleich +fragen, wozu die Dinge dienen sollen, und dann mußt du ihm also +antworten: Mit diesem Reifen binde ich dir das Maul fest, wenn du mehr +fressen wolltest, als ich dir hinschütte,<span class='pagenum'><a name="Page_186" id="Page_186">[S 186]</a></span> und mit diesem Pflock werde +ich dir den After verkeilen, wenn du mehr solltest fallen lassen, als +ich Lust hätte fortzuschaffen.« Nachdem das Mädchen dies gesprochen, +schlich es auf den Zehen eben so leise wieder hinaus, wie es gekommen +war, ohne dem Jüngling Zeit zum Dank zu lassen. Er prägte sich des +Mädchens Worte ein, wiederholte sich Alles noch einmal, um nichts zu +vergessen, und legte sich dann schlafen.</p> + +<p>Früh am andern Morgen machte er sich an die Arbeit. Er ließ die Sense +wacker im Grase tanzen und hatte zu seiner Freude nach kurzer Zeit so +viel gemäht, daß er einige Schooß voll zusammenharken konnte. Als er dem +Pferde den ersten Schooß voll hingeworfen hatte, und gleich darauf mit +dem zweiten Schooß voll in den Stall trat, fand er zu seinem Schrecken +die Krippe schon leer, und über ein halbes Fuder Mist auf der Diele. +Jetzt sah er ein, daß er ohne des Mädchens klugen Rath verloren gewesen +wäre, und beschloß, denselben sogleich zu benutzen. Er begann den Reifen +zu flechten: das Pferd wandte den Kopf nach ihm hin und fragte +verwundert: »Söhnchen, was willst du mit diesem Reifen machen?« »Gar +nichts,« entgegnete der Königssohn,»ich flechte ihn nur, um dir die +Kinnladen damit fest zu klemmen, falls es dir in den Sinn käme, mehr zu +fressen, als ich Lust habe dir aufzuschütten.« Das weiße Pferd seufzte +tief auf und hielt augenblicklich mit Kauen inne.</p> + +<p>Der Jüngling reinigte jetzt den Stall, und dann machte er sich daran, +den Keil zu schnitzen. »Was willst du mit diesem Keil machen?« fragte +das Pferd wieder. »Gar nichts,« war die Antwort. »Ich mache ihn nur<span class='pagenum'><a name="Page_187" id="Page_187">[S 187]</a></span> +fertig, um ihn im Nothfalle als Spunt für die Ausleerungspforte zu +gebrauchen, damit dir das Futter nicht zu rasch durch die Knochen +schießt.« Das Pferd sah ihn wieder seufzend an, und hatte ihn sicher +verstanden, denn als Mittag längst vorüber war, hatte das weiße Pferd +noch Futter in der Krippe, und die Diele war rein geblieben. Da kam der +Wirth, um nachzusehen, und als er Alles in bester Ordnung fand, fragte +er etwas erstaunt: »Bist du selber so klug, oder hast du kluge +Rathgeber?« Der schlaue Königssohn erwiederte schnell: »Ich habe +Niemand, als meinen schwachen Kopf und einen mächtigen Gott im Himmel.« +Der Alte warf unwillig die Lippen auf und verließ brummend den Stall; +der Königssohn aber freute sich, daß Alles gelungen war.</p> + +<p>Am Abend sagte der Wirth: »Morgen hast du keine eigentliche Arbeit, da +aber die Magd manches Andere im Hause zu besorgen hat, so mußt du unsere +schwarze Kuh melken. Hüte dich aber, daß keine Milch im Euter +zurückbleibt. Fände ich das, so könnte es dir das Leben kosten.« Der +Königssohn dachte, als er hinausging: »wenn dahinter nicht etwa wieder +eine Tücke steckt, so kann mir die Arbeit nicht schwer werden; ich habe, +Gottlob, starke Finger, und will die Zitzen schon so pressen, daß kein +Tropfen Milch darin bleiben soll.« Als er sich eben zur Ruhe legen +wollte, kam das Mädchen wieder zu ihm und fragte: »Was für eine Arbeit +hast du morgen?« »Morgen habe ich Gesellentag« — antwortete der +Königssohn. »Ich bin morgen den ganzen Tag frei, und habe nichts weiter +zu thun, als die schwarze Kuh zu melken, so daß kein Tropfen Milch im +Euter zurückbleibt.« »O du unglückseliges<span class='pagenum'><a name="Page_188" id="Page_188">[S 188]</a></span> Geschöpf! wie wolltest du das +zu Stande bringen,« sagte das Mädchen seufzend. »Du mußt wissen, lieber +unbekannter Jüngling, daß, wenn du auch vom Morgen bis zum Abend +ununterbrochen melken würdest, du doch nimmer das Euter der schwarzen +Kuh leeren könntest; die Milch strömt gleich einer Wasserader +ununterbrochen. Ich sehe wohl, daß der Alte dich verderben will. Aber +sei unbesorgt, so lange ich am Leben bin, soll dir kein Haar gekrümmt +werden. Achte auf meinen Rath und befolge ihn pünktlich, so wirst du der +Gefahr entgehen. Wenn du zum Melken gehst, so nimm einen Topf voll +glühender Kohlen und eine Schmiedezange mit. Im Stalle lege die Zange in +die Kohlen und blase diese zu heller Flamme an. Wenn die schwarze Kuh +dich dann fragt, weßhalb du das thust, so antworte ihr, was im dir jetzt +in's Ohr sagen werde.« Das Mädchen flüsterte ihm einige Worte in's Ohr, +und schlich dann auf den Zehen, wie sie gekommen war, aus dem Zimmer. +Der Königssohn legte sich schlafen.</p> + +<p>Kaum strahlte die Morgenröthe am Himmel, als er sich schon von seinem +Lager erhob, den Melkkübel in die eine und den Kohlentopf in die andere +Hand nahm und in den Stall ging. Er machte Alles so, wie das Mädchen am +Abend zuvor angegeben hatte. Befremdet sah die schwarze Kuh seinem +Treiben eine Weile zu, dann fragte sie: »Was machst du da, Söhnchen?« +»Gar nichts,« war die Antwort. »Ich will die Zange nur rothglühend +machen, weil manche Kuh die niederträchtige Gewohnheit hat, nach dem +Melken noch Milch im Euter zu behalten, und da ist kein besserer Rath, +als ihr die Zitzen mit einer<span class='pagenum'><a name="Page_189" id="Page_189">[S 189]</a></span> glühenden Zange zusammenzukneifen, damit +sich die Milch nicht unnütz in's Euter ergieße.« Die schwarz Kuh seufzte +tief auf und sah den Melkenden scheu an. Der Königssohn nahm den Kübel, +melkte das Euter aus, und als er es nach einer Weile wieder anzog, fand +er nicht einen Tropfen Milch. Später kam der Wirth in den Stall, zog und +drückte wiederholt an den Zitzen, fand aber keine Milch, und fragte mit +böser Miene: »Bist du selbst so klug, oder hast du kluge Rathgeber?« Der +Königssohn antwortete: »Ich habe Niemand, als meinen schwachen Kopf und +einen mächtigen Gott im Himmel.« Der Alte ging aufgebracht fort.</p> + +<p>Als der Königssohn sich am Abend beim Wirth nach seiner Arbeit +erkundigte, sagte dieser: »Ich habe noch ein Schoberchen Heu auf der +Wiese stehen, das ich bei trockener Witterung unter Dach bringen möchte. +Führe mir morgen das Heu ein, aber hüte dich, daß nicht das Mindeste +zurückbleibt, sonst könntest du dein Leben einbüßen.« Der Königssohn +verließ vergnügt das Zimmer und dachte: »Heu führen ist keine große +Arbeit, ich habe weiter keine Mühe, als aufzuladen, das Pferd muß +ziehen. Ich werde die Großmutter dieses Wirths nicht schonen.« Abends +kam das Mädchen wieder zu ihm geschlichen, und fragte ihn nach seiner +Arbeit für morgen. Der Königssohn sagte lachend: »Hier lerne ich alle +Arten von Bauernarbeit, morgen soll ich ein Schoberchen Heu einführen, +und nur darauf achten, daß nicht das Mindeste zurückbleibt; das ist mein +ganzes Tagewerk.« »Ach du unglückseliges Geschöpf,« seufzte das Mädchen: +»wie könntest du das vollbringen? Wolltest du auch mit allen Leuten +eines noch<span class='pagenum'><a name="Page_190" id="Page_190">[S 190]</a></span> so großen Gebiets eine ganze Woche lang Heu führen, so +würdest du doch dieses Schoberchen nicht fortschaffen. Was von oben her +weggenommen wird, das wächst vom Grunde auf wieder nach. Merke wohl, was +ich dir sage: du mußt morgen vor Tagesanbruch aufstehen, das weiße Pferd +aus dem Stalle ziehen, und einige starke Stricke mitnehmen. Dann geh an +den Heuschober, lege die Stricke herum, und schirre das Pferd an die +Stricke. Wenn du damit fertig bist, so klettere auf den Schober hinauf, +und fang' an zu zählen: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs und so +weiter. Das Pferd wird dich sogleich fragen, was du da zählst, dann mußt +du antworten, was ich dir in's Ohr sage.« Das Mädchen flüsterte ihm das +Geheimniß zu, und verließ das Zimmer; der Königssohn wußte nichts +Besseres zu thun, als zu Bette zu gehen.</p> + +<p>Als er den andern Morgen erwachte, fiel ihm sogleich des Mädchens guter +Rath von gestern ein; er nahm starke Stricke, eilte in den Stall, führte +das weiße Pferd heraus, schwang sich darauf und ritt zum Heuschober, der +aber mindestens an funfzig Fuder hielt, also kein »Schoberchen« zu +nennen war. Der Königssohn that Alles, was ihm das Mädchen geheißen +hatte, und als er endlich, oben auf dem Heuschober sitzend, bis zwanzig +gezählt hatte, fragte das weiße Pferd verwundert: »Was zählst du da, +Söhnchen?« »Gar nichts,« war die Antwort. »Ich machte mir nur den Spaß, +die Wolfsherde dort am Walde zu zählen, aber es sind ihrer so viel, daß +ich nicht damit fertig werde.« Kaum hatte er das Wort »Wolfsherde« +heraus, als auch das weiße Pferd wie der Wind davon schoß, so daß es in +einigen Augenblicken mit<span class='pagenum'><a name="Page_191" id="Page_191">[S 191]</a></span> dem Schober zu Hause war. Des Wirths Erstaunen +war nicht gering, als er nach dem Frühstück hinauskam, und das Tagewerk +des Knechts schon gethan fand. »Bist du selber so klug, oder hast du +kluge Rathgeber?« fragte der Alte, worauf der Königssohn erwiederte: +»Ich habe Niemand, als meinen schwachen Kopf und einen mächtigen Gott im +Himmel.« Der Alte ging kopfschüttelnd und fluchend von dannen.</p> + +<p>In der Abenddämmerung ging der Königssohn wieder zu ihm, nach seiner +Arbeit zu fragen. Der Wirth sagte: »Morgen mußt du mir das weißköpfige +Kalb auf die Weide führen, doch hüte dich, daß es sich nicht verläuft, +sonst könntest du leicht dein Leben einbüßen.« Der Königssohn dachte bei +sich: »mancher zehnjährige Bauerbursch muß eine ganze Herde hüten, da +kann mir doch die Hut eines einzigen Kalbes nicht schwer werden.« Als er +sich eben schlafen legen wollte, kam das Mädchen wieder in seine Kammer +geschlichen und fragte, was für eine Arbeit er morgen habe. »Morgen habe +ich Faullenzerarbeit,« sagte der Königssohn, »ich soll mit dem +weißköpfigen Kalbe auf die Weide gehen.« »O du unglückseliges Geschöpf,« +seufzte das Mädchen: »damit wirst du wohl nimmer durchkommen. Du mußt +wissen, daß dieses Kalb eine solche Rennwuth hat, daß es an einem Tage +dreimal um die Welt laufen könnte. Merke dir genau, was ich dir jetzt +sagen will. Nimm diesen Seidenfaden, binde das eine Ende an das linke +Vorderbein des Kalbes, und das andere Ende an den kleinen Zeh deines +linken Fußes, dann wird das Kalb keinen Schritt von deiner Seite +weichen, gleichviel ob du gehst, stehst oder liegst.«<span class='pagenum'><a name="Page_192" id="Page_192">[S 192]</a></span> Darauf ging das +Mädchen fort, und der Königssohn legte sich schlafen, aber es ärgerte +ihn, daß er wieder vergessen hatte, für den guten Rath zu danken.</p> + +<p>Den andern Morgen that er pünktlich, was ihm das gute Mädchen +vorgeschrieben hatte, und führte das Kalb an dem seidenen Faden auf die +Weide, wo es, wie ein treues Hündlein, keinen Schritt von seiner Seite +wich. Bei Sonnenuntergang führte er es wieder in den Stall, als ihm der +Wirth auch schon entgegenkam und mit zornfunkelndem Blick fragte: »Bist +du selber so klug, oder hast du kluge Rathgeber?« Der Königssohn +erwiderte: »Ich habe Niemand, als meinen schwachen Kopf und einen +mächtigen Gott im Himmel.« Wieder ging der Alte wüthend davon, und der +Königssohn glaubte nun darüber im Reinen zu sein, daß die Nennung des +göttlichen Namens den alten Burschen jedesmal in Harnisch brachte.</p> + +<p>Spät Abends ging er wieder zum Wirth, um dessen Befehle für den +folgenden Tag einzuholen. Der Wirth gab ihm ein Säckchen mit Gerste und +sagte: »Morgen hast du einen Feiertag und kannst ausschlafen, aber dafür +mußt du dich heute Nacht brav rühren. Säe mir sogleich diese Gerste aus, +sie wird rasch wachsen und reifen; dann schneidest du sie, drischst sie +und windigest sie, so daß du sie mälzen und mahlen kannst. Aus dem +erhaltenen Malzmehl mußt du mir Bier brauen, und morgen früh, wenn ich +erwache, mir eine Kanne frischen Biers zum Morgentrunk bringen. Hab' +Acht, daß meine Befehle genau befolgt werden, sonst könntest du leicht +das Leben einbüßen.«</p> + +<p>Niedergeschlagen, mit sorgenschwerem Herzen verließ der Königssohn das +Gemach, blieb draußen stehen und<span class='pagenum'><a name="Page_193" id="Page_193">[S 193]</a></span> weinte bitterlich. Er sprach zu sich +selbst: »Die heutige Nacht ist meine letzte, solch' eine Arbeit kann +kein Sterblicher vollbringen, und ebensowenig kann mir des klugen +Mädchens Rath hier helfen. O ich unglückseliges Geschöpf! warum habe ich +leichtsinnig das Königsschloß verlassen und mich in Gefahren verstrickt. +Nicht einmal den Sternen des Himmels kann ich mein bitteres Leid klagen, +denn hier sieht man weder Himmel noch Sterne, doch haben wir einen Gott, +der überall ist.« Als er mit seinem Gerstensäcklein dastand, öffnete +sich die Hausthür und das liebe Mädchen trat zu ihm heraus. Sie fragte, +was ihn so betrübe, und der Jüngling antwortete mit Thränen in den +Augen: »Ach, meine letzte Stunde ist gekommen, wir müssen auf immer +scheiden. Vernimm denn noch Alles, ehe ich scheide: ich bin eines +mächtigen Königs einziger Sohn, dem der Vater einst ein großes Reich +hinterlassen sollte; aber nun ist Alles hin, Glück und Hoffnung.« Dann +erzählte er ihr unter häufigen Thränen, was für eine Arbeit der Wirth +ihm für die Nacht aufgegeben habe, aber es verdroß ihn, zu sehen, daß +das Mädchen sich aus seiner Betrübniß nicht viel machte. Als er endlich +seinen langen Bericht geschlossen hatte, sagte die Jungfrau lachend: +»Heute Nacht kannst du denn, mein lieber Königssohn, ganz ruhig +schlafen, und morgen den ganzen Tag feiern. Merke genau auf meinen Rath +und verschmähe ihn nicht, weil er aus dem Munde einer niedrig geborenen +Magd kommt. Nimm diesen kleinen Schlüssel, er schließt den dritten +Faselstall auf, worin des Alten dienende Geister wohnen. Wirf den +Gerstensack in den Stall und schärfe ihnen Wort für Wort den Befehl ein, +den dir der Wirth<span class='pagenum'><a name="Page_194" id="Page_194">[S 194]</a></span> für die Nacht gegeben hat; füge aber hinzu: Wenn ihr +ein Haar breit von meiner Vorschrift abweicht, so müßt ihr allesammt +sterben; solltet ihr aber Hülfe brauchen, so wird heut' Nacht die Thür +des siebenten Stalles offen stehen, in welchem des Wirths mächtigste +Geister wohnen.«</p> + +<p>Der Königssohn richtete Alles nach Vorschrift aus, und legte sich +schlafen. Als er am folgenden Morgen aufwachte und in der Brauküche +nachsah, fand er die Bierkufen in voller Gährung, so daß der Schaum über +den Rand floß. Er kostete das Bier, füllte dann eine große Kanne mit dem +schäumenden Trank an, und brachte sie dem Wirthe, der sich eben auf +seinem Lager aufrichtete. Aber statt des erwarteten Dankes sagte der +Wirth ungehalten: »Das kommt nicht aus deinem Kopfe! Ich merke, du hast +gute Freunde und Rathgeber gefunden. Schon gut, heut' Abend wollen wir +weiter sprechen.«</p> + +<p>Am Abend sagte der Alte: »Morgen habe ich dir keine Arbeit aufzutragen, +du mußt nur, wenn ich erwache, vor mein Bett treten, und mir zum Gruße +die Hand reichen.« Der Königssohn spottete innerlich über des Alten +wunderliche Grille, und lachend setzte er das Mädchen davon in Kenntniß. +Dieses aber wurde sehr ernst und sagte: »Wahre deine Haut! Der Alte will +dich morgen früh auffressen. Nur Eins kann dich retten. Du mußt eine +eiserne Schaufel im Ofen rothglühend machen, und ihm statt deiner Hand +das glühende Eisen zum Morgengruß darbieten.«<a name="FNanchor_74_74" id="FNanchor_74_74"></a><a href="#Footnote_74_74" class="fnanchor">[74]</a> Damit eilte sie davon, +und der Königs<span class='pagenum'><a name="Page_195" id="Page_195">[S 195]</a></span>sohn ging zu Bette. Am Morgen hatte er die Schaufel schon +rothglühend gemacht, ehe noch der alte Bursche aufwachte. Endlich hörte +er ihn rufen: »Fauler Knecht, wo bleibst du? komm' und grüße!« Als +darauf der Königssohn mit der glühenden Schaufel eintrat, rief der Alte +ihm mit kläglicher Stimme zu: »Ich bin heute sehr krank und kann deine +Hand nicht fassen. Aber komm' heute Abend wieder, damit ich dir meine +Befehle geben kann.«</p> + +<p>Der Königssohn schlenderte nun den ganzen Tag umher, und ging dann am +Abend zum Wirth, um sich von ihm die Arbeit für den folgenden Tag +auftragen zu lassen. Der Wirth war sehr freundlich und sagte +schmunzelnd: Ich bin mit dir sehr zufrieden! komm Morgen früh mit dem +Mädchen zu mir, ich weiß, daß ihr euch schon längst lieb habt, und will +euch als Mann und Frau zusammengeben!«</p> + +<p>Der Königssohn hätte vor Freude jauchzen und in die Höhe springen mögen, +aber glücklicher Weise fiel ihm noch zu rechter Zeit die strenge +Hausordnung ein, deßhalb blieb er ruhig. Als er vor Schlafengehen der +Geliebten von seinem Glücke erzählte und von ihr eine gleiche Freude +erwartete, sah er zu seinem großen Erstaunen, daß das Mädchen vor +Schrecken bleich wurde wie eine getünchte Wand, und ihr die Zunge wie +gelähmt war. Als sie sich wieder erholt hatte, sagte sie. »Der alte +Bursche ist dahinter gekommen, daß ich deine Rathgeberin gewesen bin, +und will uns Beide verderben. Wir müssen noch diese Nacht die Flucht +ergreifen, sonst sind wir verloren. Nimm ein Beil, geh' in den Stall und +schlage dem weißköpfigen Kalbe mit einem kräftigen Hiebe den Kopf ab,<span class='pagenum'><a name="Page_196" id="Page_196">[S 196]</a></span> +mit einem zweiten Hiebe spalte den Schädel entzwei. Im Hirn des Kalbes +findest du ein glänzend rothes Knäulchen, das bringe mir, Alles was +sonst nöthig ist, werde ich selbst besorgen. Der Königssohn dachte: +»lieber tödte ich ein unschuldiges Kalb, als daß ich mich selbst und das +liebe Mädchen umbringen lasse; gelingt uns die Flucht, so sehe ich meine +Heimath wieder. Die Erbsen, welche ich ausstreute, müssen jetzt +aufgegangen sein, so daß wir den Weg nicht verfehlen werden.«</p> + +<p>Darauf ging er in den Stall. Die Kuh lag neben dem Kalbe hingestreckt, +und beide schliefen so fest, daß sie ihn nicht kommen hörten. Als er +aber dem Kalbe den Kopf abhieb, stöhnte die Kuh so schauerlich, als +hätte sie einen schweren Traum. Rasch führte er den zweiten Hieb, der +den Schädel spaltete. Siehe! da wurde der Stall plötzlich hell, wie am +Tage. Das rothe Knäulchen fiel aus dem Gehirn heraus und leuchtete wie +eine kleine Sonne. Der Königssohn wickelte das Knäulchen behutsam in ein +Tuch und steckte es in seinen Busen. Es war ein Glück, daß die Kuh nicht +aufwachte, sonst hätte sie angefangen zu brüllen, und dadurch hätte auch +der Wirth geweckt werden können.</p> + +<p>An der Pforte fand der Königssohn das Mädchen schon reisefertig, ein +Bündelchen am Arme. »Wo ist dein Knäulchen?« fragte sie. »Hier!« +antwortete der Jüngling, und gab es ihr. »Wir müssen schnell fliehen!« +sagte sie, und wickelte einen kleinen Theil des Knäulchens aus dem Tuche +heraus, damit der leuchtende Schein gleich einer Laterne das nächtliche +Dunkel ihres Pfades erhelle. Die Erbsen waren, wie der Königssohn +vermuthet hatte, alle<span class='pagenum'><a name="Page_197" id="Page_197">[S 197]</a></span> aufgegangen, so daß sie sicher waren, den Weg +nicht zu verfehlen. Unterwegs erzählte ihm die Jungfrau, daß sie einmal +ein Gespräch zwischen dem Alten und seiner Großmutter belauscht und +daraus erfahren habe, daß sie eine Königstochter sei, welche der alte +Bursche ihren Eltern mit List abgenommen habe. Der Königssohn wußte +freilich die Sache besser, schwieg aber und war nur von Herzen froh, daß +es ihm gelungen war, das arme Mädchen zu befreien. So mochten die +Wanderer eine gute Strecke zurückgelegt haben, als es begann zu tagen.</p> + +<p>Der alte Bursche erwachte erst spät am Morgen und rieb sich lange die +Augen, bis der Schlaf abfiel, dann weidete er sich im Voraus an dem +Gedanken, daß er die Beiden bald verzehren würde. Nachdem er ziemlich +lange auf sie gewartet hatte, sagte er für sich: »Sie sind wohl noch +nicht mit ihrem Hochzeitsstaat fertig!« Als ihm aber das Warten doch zu +lange dauerte, rief er: »Knecht und Magd, he! wo bleibt ihr?« Fluchend +und schreiend wiederholte er den Ruf noch einige Mal, aber weder Knecht +noch Magd ließen sich sehen. Endlich kletterte er zornig aus dem Bette +und ging die Säumigen zu suchen. Aber er fand das Haus menschenleer, und +bemerkte auch, daß diese Nacht die Lagerstätten unberührt geblieben +waren. Jetzt stürzte er in den Stall ... als er hier das Kalb getödtet +und das Zauberknäulchen entwendet fand, begriff er Alles. Er fluchte, +daß Alles schwarz wurde, öffnete rasch den dritten Geisterstall und +schickte seine Gehülfen aus, die Entflohenen zu suchen. »Bringt sie mir, +wie ihr sie findet, ich muß ihrer habhaft werden!« So sprach der alte +Bursche und seine Geister stoben wie der Wind davon.<span class='pagenum'><a name="Page_198" id="Page_198">[S 198]</a></span></p> + +<p>Die Flüchtlinge befanden sich gerade auf einer großen Fläche, als das +Mädchen den Schritt anhielt und sagte: »Es ist nicht Alles, wie es sein +sollte. Das Knäulchen bewegt sich in meiner Hand, gewiß werden wir +verfolgt!« Als sie hinter sich sahen, erblickten sie eine schwarze +Wolke, welche mit großer Geschwindigkeit näher kam. Das Mädchen drehte +das Knäulchen dreimal in der Hand um und sprach:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Höre Knäulchen, höre Knäulchen!<br /></span> +<span class="i0">Würde gern alsbald zum Bächlein,<br /></span> +<span class="i0">Mein Gefährte auch zum Fischlein!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Augenblicklich waren beide verwandelt. Das Mädchen floß als Bächlein +dahin, und der Königssohn schwamm als Fischlein im Wasser. Die Geister +sausten vorüber, kehrten nach einer Weile um, und flogen wieder heim, +aber Bächlein und Fischlein ließen sie unangetastet. Sobald die +Verfolger fort waren, verwandelte sich das Bächlein wieder in ein +Mädchen und machte das Fischlein zum Jüngling, und dann setzten sie in +menschlicher Gestalt ihre Reise fort.</p> + +<p>Als die Geister müde und mit leeren Händen zurückkehrten, fragte sie der +alte Bursche, ob ihnen denn beim Suchen nichts Besonderes aufgefallen +wäre? »Gar nichts!« war die Antwort: »nur ein Bächlein floß in der +Ebene, und ein einziges Fischlein schwamm darin.« Wüthend brüllte der +Alte: »Schafsköpfe. Das waren sie ja, das waren sie ja!« Schnell riß er +die Thüren des fünften Stalles auf, ließ die Geister heraus und befahl +ihnen, des Bächleins Wasser auszutrinken und das Fischlein zu fangen. +Die Geister stoben wie der Wind von dannen.<span class='pagenum'><a name="Page_199" id="Page_199">[S 199]</a></span></p> + +<p>Unsere Wanderer näherten sich eben dem Saum eines Waldes, da blieb das +Mädchen stehen und sagte: »Es ist nicht Alles, wie es sein soll. Das +Knäulchen bewegt sich wieder in meiner Hand.« Als sie sich umsahen, +erblicken sie abermals eine Wolke am Himmel, dunkler als die erste und +mit rothen Rändern. »Das sind unsere Verfolger!« rief die Jungfrau und +drehte das Knäulchen dreimal in der Hand um, indem sie sprach:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Höre Knäulchen, höre Knäulchen!<br /></span> +<span class="i0">Wandele uns alle Beide:<br /></span> +<span class="i0">Mich zum wilden Rosenstrauche,<br /></span> +<span class="i0">Ihn zur Blüthe an dem Strauche.«<br /></span> +</div></div> + +<p>Augenblicklich waren sie verwandelt. Aus dem Mädchen ward ein wilder +Rosenstrauch, und der Jüngling hing als Rose am Stock. Sausend zogen die +Geister über ihnen hin und kehrten erst nach einer guten Weile wieder +um; da sie weder Bächlein noch Fischlein gefunden hatten, kümmerten sie +sich nicht um den Rosenstrauch. Sobald die Verfolger vorüber waren, +verwandelten sich Strauch und Blume wieder in Mädchen und Jüngling, +welche nach der kurzen Ruhe rasch weiter eilten.</p> + +<p>»Habt ihr sie gefunden?« fragte der Alte, als er seine Gesellen keuchend +wiederkehren sah. »Nein,« antwortete der Anführer der Geister. »Wir +fanden weder Bächlein noch Fischlein in der Ebene.« »Habt ihr denn sonst +nichts Besonderes unterwegs gesehen?« fuhr der Alte auf. Der Anführer +antwortete: »Dicht am Saume des Waldes stand ein wilder Rosenstrauch an +dem eine Rose hing.« Schafsköpfe!« schrie der Alte, »das waren sie ja, +das waren sie ja!« Er schloß darauf den siebenten Stall auf<span class='pagenum'><a name="Page_200" id="Page_200">[S 200]</a></span> und +schickte seine mächtigsten Geister aus, sie zu suchen. »Bringt sie mir, +wie ihr sie findet, todt oder lebendig! ich muß ihrer habhaft werden. +Reißt den verfluchten Rosenstrauch mit den Wurzeln heraus, und nehmt +Alles mit, was euch Befremdliches aufstößt.« Wie der Sturmwind flogen +die Geister davon.</p> + +<p>Die Flüchtlinge ruhten eben im Schatten eines Waldes aus, und stärkten +die ermüdeten Glieder durch Speise und Trank. Plötzlich rief das +Mädchen. »Alles ist nicht, wie es sein soll; das Knäulchen will mit +Gewalt aus meinem Busen. Gewiß verfolgt man uns wieder, und die Gefahr +ist nahe, aber der Wald verbirgt uns unsere Feinde noch.« Dann nahm sie +das Knäulchen aus dem Busen, drehte es dreimal in der Hand herum und +sprach:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Höre Knäulchen, höre Knäulchen!<br /></span> +<span class="i0">Mache mich alsbald zum Lüftchen,<br /></span> +<span class="i0">Den Gefährten mein zum Mücklein!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Augenblicklich waren beide verwandelt. Das Mädchen löste sich in Luft +aus, der Königssohn aber schwebte darin als Mücklein. Die mächtige +Geisterschaar brauste wie ein Sturm über sie hin, und kehrte nach +einiger Zeit wieder um, weil sie weder einen Rosenstrauch noch sonst +etwas Befremdliches gefunden hatten. Aber kaum waren die Geister +vorüber, so verwandelte der Lufthauch sich wieder in das Mädchen, und +machte aus der Mücke den Jüngling. »Jetzt müssen wir eilen,« rief das +Holdchen, »bevor der Alte selber kommt zu suchen — der wird uns in +jeder Verwandlung erkennen.«</p> + +<p>Sie liefen nun eine gute Strecke vorwärts, bis sie den dunklen Gang +erreichten, in welchem sie bei dem hellen<span class='pagenum'><a name="Page_201" id="Page_201">[S 201]</a></span> Schein des Knäulchens +ungehindert emporstiegen. Erschöpft und athemlos kamen sie endlich an +den großen Stein. Hier wurde das Knäulchen wiederum dreimal gedreht, +wobei die kluge Jungfrau sprach:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Höre Knäulchen, höre Knäulchen!<br /></span> +<span class="i0">Laß den Stein empor sich heben,<br /></span> +<span class="i0">Eine Pforte sich bereiten!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Augenblicklich hob sich der Stein weg, und sie waren glücklich wieder +auf der Erde. »Gott sei Dank!« rief das Mädchen aus: »wir sind gerettet. +Hier hat der alte Bursche keine Macht mehr über uns, und vor seiner List +wollen wir uns hüten. Aber jetzt, Freund, müssen wir uns trennen. Du +gehst zu deinen Eltern, und ich will die meinigen aufsuchen.« — »Mit +nichten,« erwiederte der Königssohn: »ich kann mich nicht mehr von dir +trennen, du mußt mit mir kommen und mein Weib werden. Du hast +Leidenstage mit mir ertragen, darum ist es billig, daß du nun auch +Freudentage mit mir theilst.« Zwar sträubte sich das Mädchen Anfangs, +aber endlich ging sie doch mit dem Jüngling.</p> + +<p>Im Walde trafen sie einen Holzhacker, von dem sie erfuhren, daß im +Schlosse, wie im ganzen Lande, große Trauer herrsche über das +unbegreifliche Verschwinden des Königssohnes, von dem seit Jahren jede +Spur verloren sei. Mit Hülfe des Zauberknäulchens schaffte das Mädchen +dem heimkehrenden Sohne seine früheren Kleider wieder, damit er vor +seinem Vater erscheinen könne. Sie selbst aber blieb einstweilen in +einer Bauernhütte zurück, bis der Königssohn Alles mit seinem Vater +besprochen hätte.<span class='pagenum'><a name="Page_202" id="Page_202">[S 202]</a></span></p> + +<p>Aber der alte König war noch vor dem Eintreffen seines Sohnes dahin +geschieden: der Kummer über den Verlust des einzigen Sohnes hatte sein +Ende beschleunigt. Noch auf seinem Todbette hatte er sein leichtsinniges +Versprechen und seinen Betrug bereut, daß er dem alten Burschen ein +armes unschuldiges Mädchen überlieferte, wofür Gott ihn durch den +Verlust des Sohnes gezüchtigt habe. Der Königssohn beweinte, wie es +einem guten Sohne geziemt, den Tod seines Vaters und ließ ihn mit großen +Ehren bestatten. Dann trauerte er drei Tage, ohne Speise und Trank zu +sich zu nehmen. Am vierten Morgen aber zeigte er sich dem Volke als +neuer Herrscher, versammelte seine Räthe und theilte ihnen mit, was für +wunderbare Dinge er in des alten Burschen Behausung gesehen und ertragen +habe, vergaß auch nicht zu erzählen, wie die kluge Jungfrau seine +Lebensretterin geworden.</p> + +<p>Da riefen die Räthe wie aus einem Munde: »Sie muß eure Gemahlin und +unsere Herrscherin werden.«</p> + +<p>Als der junge König sich nun aufmachte, um seine Braut einzuholen, +erstaunte er sehr, als ihm die Jungfrau in königlicher Pracht +entgegenkam. Mit Hülfe des Zauberknäulchens hatte sie sich alles Nöthige +verschafft, weßhalb auch das ganze Land glaubte, daß sie die Tochter +eines unermeßlich reichen Königs und aus fernen Landen gekommen sei. +Darauf wurde die Hochzeit ausgerichtet, welche vier Wochen dauerte, und +sie lebten darnach glücklich und zufrieden noch manches liebe Jahr.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_203" id="Page_203">[S 203]</a></span></p> +<h2>15. Rõugatajas Tochter.</h2> + + +<p>Es lebte einmal vor Zeiten in einer breiten Waldlichtung der alte +Rõugataja<a name="FNanchor_75_75" id="FNanchor_75_75"></a><a href="#Footnote_75_75" class="fnanchor">[75]</a> mit seinem Weibe. Sie hatten auch<span class='pagenum'><a name="Page_204" id="Page_204">[S 204]</a></span> eine Tochter, die nicht +in natürlicher Beschaffenheit zur Welt gekommen war, dennoch bemühte +sich die Mutter, sie nach Art der Menschenkinder aufzuziehen, um +späterhin einen Schwiegersohn zu bekommen. Es ging die Rede, daß das +Mägdlein, so viel davon sichtbar wurde, wohl menschliche Haut hatte, daß +aber unter dem Gewande Tannenrinde statt der Haut den Körper deckte. +Nichtsdestoweniger hoffte die Mutter, sie mit der Zeit an den Mann zu +bringen, und schickte deßhalb das Mädchen überall hin unter die Leute, +wo nur in den Dörfern eine Gasterei oder Festlichkeit vorkam. Der +Tochter schöne Kleider, vielfach gewundene Perlenschnüre, Halsgeschmeide +von vergoldeten Münzen, große Brustspange und Seidenbänder stachen den +jungen Burschen wohl in die Augen, aber Freier zogen sie doch nicht in's +Haus. Die Burschen lachten und spotteten: oben hübsch und glatt, +unterhalb rauh wie Krötenhaut.</p> + +<p>Damit nun das Töchterchen nicht zuletzt daheim als alte Jungfer +verschimmele, suchte die Mutter bei einer Hexenmutter Hülfe und ließ von +ihr einen geheimnißvollen Trank bereiten, der, sobald ein Junggeselle +unversehens<span class='pagenum'><a name="Page_205" id="Page_205">[S 205]</a></span> davon kostete, ihn unfehlbar trieb, dem Mädchen +nachzugehen, er mochte nun wollen oder nicht. Die Mutter gab der alten +Hexe ein Bündelchen mit Achselhaaren nebst andern Heimlichkeiten von +ihrer Tochter, womit die Hexe das Reizmittel für die Burschen bereiten +sollte. Als der Wundertrank gekocht war, sagte die Hexe: »Von diesem Naß +sieben Tropfen, in Speise oder Trank geträufelt, bethören jeden +Burschen, der davon kostet.«</p> + +<p>Darnach wurde auf dem Hofe des Rõugataja ein großer Gastschmaus +angerichtet, zu welchem von allen Seiten Mengen zusammengebeten wurden, +besonders zahlreich aber Junggesellen, damit die Jungfer aus der Schaar +derselben einen wählen könnte, der vor allen andern nach ihrem Geschmack +wäre. Als das Gelage nun schon zwei Tage im Gange war, zeigte die +Tochter ihrer Mutter einen jungen Mann, den sie sich gar sehr zum +Ehgemahl ersehnte. Die schlaue Mutter that heimlich sieben Tropfen vom +Zaubertrank in einen Kuchen und gab ihn dem Burschen zu essen, worauf +der arme Schelm nirgends mehr seines Bleibens fand, sondern, wie das +Kätzchen nach dem Strohhalm, der Tochter Rõugataja's nachlaufen mußte, +da er sonst weder Tag noch Nacht Ruhe hatte. Bald darauf erschien er als +Freier, und sein Branntwein wurde freundlich angenommen. Einige Wochen +später wurde ein prächtiges Hochzeitsmahl angerichtet, so daß noch +Kinder und Kindeskinder der Pracht und Herrlichkeit gedachten. Aber was +half das Alles? Als das junge Paar Abends in die Kammer geführt wurde, +um zu Bette zu gehen, fand der Bräutigam unter der Decke so viel +Unheimliches, daß ihm das Blut im Herzen gerann; noch in derselben<span class='pagenum'><a name="Page_206" id="Page_206">[S 206]</a></span> +Nacht nahm er die Flucht und ließ die junge Frau als Wittwe zurück. +Mutter und Tochter warteten wohl noch eine Zeitlang, daß der Liebestrank +der Hexenmutter den jungen Mann wieder herlocken würde; aber wer nicht +kam, war der entwichene Bräutigam. Als noch eine Woche verstrichen war, +und der Mann gleichwohl ausblieb, regten sich allerdings Zweifel in +ihnen. Endlich kam die Nachricht, daß der entwichene Mann eine andere +Frau gefreit hatte, und damit nahm denn ihr Harren und Hoffen ein Ende.</p> + +<p>Ein Jahr später hörte die alte Frau des Rõugataja, daß ihres vormaligen +Schwiegersohnes Frau einen Knaben geboren hatte. Da reizte ein böser +Anschlag ihr Herz, daß sie nirgends mehr Ruhe fand, bis mit Hülfe der +Hexe des Kindes Mutter in einen Wärwolf verwandelt war. Sodann schaffte +sie heimlich ihre Tochter an Stelle der Wöchnerin in's Bett. Da aber die +Tochter keine Brust hatte, wie Frauen sie sonst haben, so konnte sie +auch das Kind nicht säugen. Wohl goß sie Kuhmilch in die künstlich aus +Bork geformte Brust, allein das Kind nahm sie nicht in den Mund, sondern +schrie Tag und Nacht vor Hunger, daß der Zeter kein Ende nahm. Es wurden +zwar Kindesbaderinnen und Thränenstillerinnen von nah und fern +zusammengeholt, allein was konnte es helfen? Das Kind ließ nicht ab zu +schreien. Eines Tages rief der Vater in zornigem Muthe: »Tragt den +Schreihals aus der Stube, sonst sprengt er mir die Ohren: ich kann sein +Geschrei nicht länger aushalten.« Die Wärterin ging mit dem Kinde +hinaus, da kam auf dessen Geschrei aus einem Erlenbusch eine Wölfin +hervor,<span class='pagenum'><a name="Page_207" id="Page_207">[S 207]</a></span> entriß der Wärterin das Kind mit Gewalt, that aber weder ihr +noch dem Kinde ein Leides, sondern legte fein säuberlich das Kleine sich +an die Brust und säugte es. Als das Kind darauf süß eingeschlummert war, +brachte die Wärterin es nach Haus und legte es in die Wiege, wo es bis +zum andern Tage ganz ruhig lag. Die Wärterin ließ nichts verlauten von +dem Vorfall mit der Wölfin, ging aber den folgenden Tag wieder auf's +Feld, wo sich Alles ganz so begab, wie Tags zuvor. Dabei war die +Wärterin guter Laune, denn sie hatte es jetzt leicht, und auch der Vater +des Kindes war seines Lebens wieder froher geworden, weil kein Geschrei +mehr im Hause war, wiewohl die Wöchnerin noch immer schwer krank zu +Bette lag und vorgab, weder Hand noch Fuß rühren zu können. Als nun am +dritten Tage die Wärterin wieder ging, dem Kinde seine Amme zu suchen, +sagte die Wölfin. »Ich darf nicht jeden Tag so öffentlich in's Freie +kommen, das Kind zu säugen. Wenn du es aber alle Morgen an den +Erlenbusch am Ukkofelsen bringst, so will ich es säugen; doch mußt du, +so lang' ich es säuge, am Rande des Busches Wache halten, damit nicht +Jemand plötzlich dazu komme und sehe, wie ich das Kind säuge. Und auch +du selbst darfst nicht eher nach dem Kinde kommen, als bis ich dich +rufe.« Die Wärterin that, wie geboten war, und die Sache ging über eine +Woche lang vortrefflich; das Kind gedieh zusehends, schlief ruhig ohne +Geschrei, und erwachte aus dem Schlafe mit freundlich lächelndem +Antlitz.</p> + +<p>Eines Tages dünkte der Wärterin das Säugen der Wölfin allzulange zu +dauern, und das Verbot übertretend ging sie heimlich zu spähen, was wohl +die Amme mit<span class='pagenum'><a name="Page_208" id="Page_208">[S 208]</a></span> dem Kinde machen möchte. Ein wunderbares Ding war es denn +freilich, was sie da erblickte. Am Ukkofels saß eine junge nackte Frau, +das Kind auf ihrem Schooße, welches sie zärtlich liebkoste und auf den +Armen schaukelte. Endlich nahm sie eine Wolfshaut vom Felsen, schlüpfte +hinein und rief dann die Wärterin, daß sie käme, das Kind zu nehmen. Als +die Wärterin drei Tage nach der Reihe diese wunderbare Säugung des +Kindes beobachtet hatte, konnte sie zu Hause nicht mehr reinen Mund +halten, sondern that dem Vater Alles kund, was bisher täglich mit dem +Kinde geschehen war, sowohl das Säugen durch die Wölfin, als auch die +Gestalt der Frau, die aus der Wolfshaut herausgeschlüpft war. Der Mann +schloß sofort, daß es hier nicht mit rechten Dingen zugehen könne; er +verbot der Wärterin das Geheimniß irgend Jemand weiter zu sagen, und +eilte selbst zu einem berühmten weisen Manne, um Rath und Hülfe zu +suchen.</p> + +<p>Der weise Mann sagte, als er die Erzählung gehört hatte: »Hier scheint +einer bösen Hexe Werk dahinter zu stecken, was ich sofort ganz +aufzuklären nicht im Stande bin; aber wir müssen versuchen, durch List +die Wolfshaut zu erlangen und zu vernichten, dann werden wir schon +sehen, was für ein Betrug hier verübt ist.« Dann befahl er dem Manne, in +der Nacht den Ukkofels glühend heiß zu machen, damit, wenn die Wölfin +die Haut wieder auf den Fels werfen würde, diese versengt und zum +Anziehen untauglich gemacht würde. Der Mann führte den andern Tag, als +des Kindes Säugerin sich in den Wald zurückgezogen hatte, ein Paar Fuder +Holz um den Fels her und auf denselben, und zündete dann in der Nacht +das<span class='pagenum'><a name="Page_209" id="Page_209">[S 209]</a></span> Holz an, wodurch der Ukkofels gluthroth wurde, wie die Glühsteine +eines Badstubenofens. Als dann die Zeit herannahte, wo des Kindes +Säugerin zu kommen pflegte, räumte er Brände und Asche bei Seite und +schlüpfte selbst hinter das Gebüsch in ein Versteck, wo er Alles sehen +konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Auf des Kindes Geschrei kam die +Wölfin aus dem Walde gerufen, nahm der Wärterin das Kind ab, und legte +es dann so lange in's Gras, bis sie die Wolfshaut abgezogen und auf den +Felsrand geworfen hatte. Dann nahm sie das Kind auf den Schooß und +begann es zu säugen. Je schärfer der Mann die Säugende ansah, desto +bekannter wurden ihm Gesicht und Gestalt der Frau. Ja — er erkannte in +der Säugerin des Kindes sein Weib und begriff jetzt, weßhalb die +Wöchnerin noch immer zu Hause im dunkeln Zimmer saß. Er sprang nun aus +dem Gebüsch hervor und eilte auf die Frau zu. Diese schrie vor Schrecken +auf, legte das Kind in's Gras und wollte ihre Wolfshaut wieder vom +Felsen nehmen und anziehen, aber das Fell war ganz verbrannt, und nur +ein zusammengeschrumpftes Ende davon nachgeblieben. Auch dieses warf +jetzt der Mann auf die allerheißeste Stelle, wo nun die letzten Fetzen +zu Asche verbrannten. Dann zog er seinen Rock aus, gab ihn der Frau, +sich damit zu bedecken, und bat sie, so lange mit dem Kinde da zu +bleiben, bis er nach Hause ginge, die Badstube zu heizen. Zu Hause ging +er mit freundlicher Ansprache zur Wöchnerin und sagte: »Du mußt heute in +die Badstube gehn, Liebchen, dann wirst du schneller gesund werden.« Die +Frau sträubte sich zwar mit aller Macht dagegen; sie könne den Luftzug +nicht<span class='pagenum'><a name="Page_210" id="Page_210">[S 210]</a></span> vertragen; wie könne sie so über den Hof in die Badstube gehn. +»Wenn ich so über den Hof ginge, so würde ich draußen ohnmächtig werden +und mir den Tod holen.« Der Mann erwiederte: »Das hat gar nichts zu +sagen, wir wickeln dir Mund und Augen in eine wollene Decke, so daß der +Luftzug deinem zarten Körper nicht schaden kann.« Damit war die Frau +ganz zufrieden, denn sie fürchtete nicht den Luftzug, sondern des Mannes +Auge, der den Betrug gleich erkannt haben würde.</p> + +<p>Als die in die Decke gewickelte Wöchnerin mit Hülfe des Mannes in die +Badstube gebracht worden war, machte der Mann die Thür so fest zu, daß +keine lebende Seele herein noch heraus kommen konnte, setzte sich dann +zu Pferde und jagte im Galopp nach Rõugataja's Hof. In die Stube tretend +rief er mit freundlicher Stimme: »Guten Tag, liebe Schwiegermutter. Ich +komme euch zu danken, daß ihr mir ein gutes Weib erzogen und mich von +der Ofengabel von Frau losgemacht habt, die ich in meinem einfältigen +Sinn gefreit hatte. Wir leben glücklich mit einander, und deßhalb +wünscht die Tochter euch zu sehen, damit ihr euch selbst von unserer +Zufriedenheit überzeugen könnt.« Rõugatajas Frau merkte den Betrug +nicht, sondern freute sich, daß die Sache so gut gegangen war. Der +Schwiegersohn spannte an, setzte sich mit der Schwiegermutter auf den +Wagen und fuhr nach Haus. Hier sagte er: »Die junge Frau ist in die +Badstube gegangen, sich zu baden, habt ihr nicht auch Lust +hineinzugehen, um den Staub der Fahrt abzuwaschen?« »Warum nicht!« +erwiederte die Mutter. Der Mann ließ sie in die Badstube treten, +verschloß die Thür und warf dann den rothen<span class='pagenum'><a name="Page_211" id="Page_211">[S 211]</a></span> Hahn auf's Dach. Da +verbrannte denn die Badstube sammt Rõugataja's Frau und ihrer Tochter. +— Da jetzt das Haus von der bösen Sippschaft gereinigt war, nahm der +Mann Weib und Kind zu sich, und sie lebten ungestört bis an ihr Ende.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_212" id="Page_212">[S 212]</a></span></p> +<h2>16. Die Meermaid</h2> + + +<p>In der alten glücklichen Zeit gab es auf Erden viel bessere Menschen als +jetzt, darum ließ ihnen der himmlische Vater auch manche Wunder offenbar +werden, welche heut' zu Tage entweder ganz verborgen bleiben, oder nur +selten einmal einem Glückskinde erscheinen. Zwar die Vögel singen nach +alter Weise, und die Thiere tauschen ihre Laute aus, aber leider +verstehen wir ihre Sprache nicht, und was sie sagen, bringt uns weder +Lehre noch Nutzen.</p> + +<p>In der <em class="gesperrt">Wiek</em> wohnte vor Zeiten am Strande eine schöne Meermaid, die sich +den Leuten oftmals zeigte; noch meines Großvaters Vetter, der in dieser +Gegend aufwuchs, hatte sie zuweilen auf einem Steine sitzen sehen, aber +das Bürschlein hatte nicht gewagt näher zu treten. Die Jungfrau erschien +in mancherlei Gestalten, bald als Füllen oder Färse, bald wieder als ein +anderes Thier; manchen Abend mischte sie sich unter die Kinder, und ließ +es sich gefallen, daß sie mit ihr spielten, daß sich die Knäblein ihr +auf den Rücken setzten — dann war sie plötzlich wie unter die Erde +gesunken!</p> + +<p>Wie die alten Leute jener Zeit erzählten, konnte man die Jungfrau in +früheren Tagen fast jeden schönen Som<span class='pagenum'><a name="Page_213" id="Page_213">[S 213]</a></span>merabend am Meeresufer sehen, wo +sie auf einem Steine sitzend ihr langes blondes Haar mit goldenem Kamme +glättete, und so schöne Lieder sang, daß den Hörern das Herz hinschmolz. +Die Annäherung der Menschen aber duldete sie nicht, sondern entschwand +ihren Blicken, oder entwich in's Meer, wo sie als Schwan sich auf den +Wellen schaukelte. Warum sie vor den Menschen floh, und nicht mehr das +frühere Zutrauen zu ihnen hatte, darüber wollen wir jetzt das nähere +melden.</p> + +<p>In alten Tagen, lange vor der Schwedenzeit, lebte am Strande der Wiek +ein wohlhabender Bauer mit seiner Frau und vier Söhnen; ihren täglichen +Unterhalt gewannen sie mehr der See als dem Acker ab, weil der Fischfang +zu ihrer Zeit gar reich gesegnet war. Ihr jüngster Sohn zeigte sich von +klein auf in allen Stücken anders als seine Brüder, er mied die +Gesellschaft der Menschen, schlenderte am Meeresufer und im Walde umher, +sprach mit sich selbst, mit den Vögeln oder mit Wind und Wellen, aber +wenn er unter die Leute kam, öffnete er den Mund nicht viel, sondern +stand wie träumend. Wenn im Herbst die Stürme aus dem Meere tobten, die +Wellen sich haushoch thürmten und sich schäumend am Ufer brachen, dann +ließ es dem Knaben zu Hause keine Ruhe mehr, er lief wie besessen, oft +halb nackend, an den Strand. Wind und Wetter scheute sein abgehärteter +Körper nicht. Er sprang in den Kahn, ergriff die Ruder und fuhr, gleich +einer wilden Gans, auf dem Kamme der tobenden Wellen weit in die See +hinaus, ohne daß seine Verwegenheit ihm jemals Gefahr gebracht hätte. Am +Morgen, wenn der Sturm ausgetobt hatte, fand man ihn am Meeresufer in<span class='pagenum'><a name="Page_214" id="Page_214">[S 214]</a></span> +süßem Schlafe. Schickte man ihn irgend wohin, um ein Geschäft zu +besorgen, z. B. im Sommer das Vieh zu hüten, oder sonst kleine Arbeiten +zu übernehmen, so machte er seinen Eltern nur Verdruß. Er warf sich +irgendwo in den Schatten eines Busches, ohne der Thiere zu achten, die +sich zerstreuten, Wiesen oder Kornfelder betraten, und sich auch +theilweise verliefen, so daß die Brüder Stunden lang zu thun hatten, bis +sie der verlorenen Thiere wieder habhaft wurden. Wohl hatte der Vater +den Knaben die Ruthe bitter genug fühlen lassen, aber das wirkte nicht +mehr, als Wasser auf eine Gans gegossen. Als der Knabe zum Jüngling +herangewachsen war, ging es auch nicht besser, keine Arbeit gedieh unter +seinen lässigen Händen; er zerschlug und zerbrach das Arbeitsgerät, +mattete die Arbeitsthiere ab, und schaffte doch nichts Rechtes.</p> + +<p>Der Vater gab ihn nun auf fremde Bauerhöfe in Dienst, weil er hoffte, +daß vielleicht die fremde Peitsche den Lotterer bessern und zum +ordentlichen Menschen machen möchte; aber wer den Burschen eine Woche +lang auf Probe gehabt hatte, schickte ihn auch in der nächsten Woche +wieder zurück. Die Eltern schalten ihn einen Tagedieb, und die Brüder +hießen ihn »<em class="gesperrt">Schlaf-Tönnis</em>;« binnen kurzem war dieser Spitzname in aller +Munde, wiewohl er auf den Namen <em class="gesperrt">Jürgen</em> getauft war. Weil nun der +Schlaf-Tönnis keinem Menschen Nutzen brachte, vielmehr Eltern und +Geschwistern nur zur Last fiel und im Wege war, so hätten sie gern ein +Stück Geld hingegeben, wenn jemand sie von dem Faullenzer befreit hätte. +Als der Schlaf-Tönnis nirgends mehr aushielt, und auch Niemand ihn +behalten wollte, verdingte ihn endlich der<span class='pagenum'><a name="Page_215" id="Page_215">[S 215]</a></span> Vater bei einem fremden +Schiffer als Knecht, weil er doch auf der See nicht davon laufen konnte, +und weil der Bursche auch das Meer von klein auf geliebt hatte. Trotzdem +war er nach einigen Wochen, ich weiß nicht wie? von dem Schiffe +entkommen, und hatte seine trägen Füße wieder auf den heimischen Boden +gesetzt. Nur schämte er sich, das Haus seiner Eltern zu betreten, wo er +auf keinen freundlichen Empfang hoffen durfte, er trieb sich von einem +Orte zum andern herum, und suchte sein Leben zu fristen, wie es ging, +ohne zu arbeiten. Er war ein hübscher starker Bursche, und konnte ganz +angenehm sprechen, wenn er wollte, obschon er im elterlichen Hause +seinen Mund nie viel zum Reden gebraucht hatte. Jetzt mußten ihn sein +schmuckes Aussehen und seine glatte Rede erhalten, denn er wußte sich +damit bei Frauen und Mädchen einzuschmeicheln.</p> + +<p>Da geschah es, als er an einem schönen Sommerabend nach Sonnenuntergang +allein am Strande sich erging, daß der Meermaid holder Gesang an sein +Ohr drang. Schlaf-Tönnis dachte alsbald: »Sie ist auch ein Weib, und +wird mir nichts zu Leide thun!« Er zögerte also nicht, dem Gesange +nachzugehen, um den schönen Vogel in Augenschein zu nehmen. Er bestieg +den höchsten Hügel, und gewahrte von da über einige Felder weg die +Meermaid, die auf einem Steine saß, wo sie mit goldenem Kamme ihr Haar +glättete und ein herrliches Lied sang. Der Jüngling hätte sich mehr +Ohren gewünscht, um den Gesang zu hören, der ihm in's Herz schlug wie +eine Flamme; als er aber näher kam, sah er, daß hier eben so viele Augen +Noth thäten, die Schönheit der Jung<span class='pagenum'><a name="Page_216" id="Page_216">[S 216]</a></span>frau zu fassen. Gewiß hatte die +Meermaid den Kommenden bemerkt, aber sie floh nicht vor ihm, was sie +doch sonst immer that, wenn sich Menschen ihr näherten. Schlaf-Tönnis +mochte etwa noch zehn Schritte von ihr sein, als er plötzlich still +stand, unentschlossen, ob er warten oder näher treten solle. Und +wunderbar! Die Meermaid erhob sich vom Steine und kam ihm mit +freundlicher Miene entgegen. Grüßend bot sie dem Jüngling die Hand und +sagte: »Ich habe dich hier schon manchen Tag erwartet, weil ein +bedeutsamer Traum mir deine Ankunft kündete. Du hast unter den Menschen +nirgends Haus noch Heim, wohin du gehen könntest, oder wo Leute deines +Schlages taugten. Warum solltest du auch von Fremden abhängig sein, wenn +die Eltern dir in ihrem Hause keine Stätte bieten? Ich kenne dich von +klein auf und besser, als die Menschen dich kennen, weil ich ungesehen +oft um dich war und dich schützte, wenn dein verwegener Uebermuth dich +hätte verderben können. Ja, meine Hände haben oft dein schwankes Boot +gehütet, daß es nicht in die Tiefe sank! Komm mit mir, du sollst +Herrentage haben, und es soll dir an nichts mangeln, was dein Herz nur +begehrt, sollst du kosten. Ich will dich warten und hüten wie meinen +Augapfel, daß weder Wind noch Regen noch Frost dir etwas anhaben +sollen.« Schlaf-Tönnis stand noch immer im Zweifel, er kratzte sich +hinter den Ohren und überlegte, was er antworten solle; obgleich jedes +Wort der Jungfrau ihm wie ein Feuerpfeil in's Herz gedrungen war. +Endlich fragte er schüchtern, ob ihre Behausung weit von hier sei. »Wir +können mit Windesschnelle dahin kommen, wenn du festes Vertrauen zu mir<span class='pagenum'><a name="Page_217" id="Page_217">[S 217]</a></span> +hast,« erwiederte die Meermaid. Da fielen dem Schlaf-Tönnis plötzlich +mancherlei Reden ein, die er früher von den Leuten über die Meermaid +gehört hatte, das Herz bangte ihm, und er bat sich drei Tage Bedenkzeit +aus. »Ich will deinen Wunsch erfüllen,« sagte die Meermaid, »aber damit +du nicht wieder unsicher werdest, will ich dir, bevor wir scheiden, +meinen goldenen Ring an deinen Finger stecken, auf daß du das +Wiederkommen nicht vergessest. Wenn wir dann näher mit einander bekannt +werden, so kann vielleicht aus diesem Pfande ein Verlobungsring werden.« +Mit diesen Worten zog sie den Ring ab, steckte ihn dem Jüngling an den +kleinen Finger und verschwand dann, als wäre sie in Luft zerflossen. +Schlaf-Tönnis blieb mit offenen Augen stehen, und hätte das Vorgefallene +für einen Traum gehalten, wenn nicht der glänzende Ring an seinem Finger +das Gegentheil dargethan hätte. — Aber mit diesem Ringe schien wie ein +fremder Geist in ihn gefahren zu sein, der ihm nirgends mehr Rast noch +Ruhe ließ. Er streifte die ganze Nacht unstet am Strande umher und kam +immer wieder zu dem Steine zurück, auf welchem die Jungfrau gesessen +hatte — aber der Stein war kalt und leer. Am Morgen legte er sich ein +wenig nieder, aber unruhige Träume störten seinen Schlaf. Als er +erwachte, fühlte er weder Hunger noch Durst, all sein Sinnen stand nur +auf den Abend, da hoffte er die Meermaid wieder zu sehen. Der Tag neigte +sich endlich, es wurde Abend, der Wind legte sich, die Vögel im +Erlenbusch hörten auf zu singen, und steckten die müden Schnäbel unter +die Flügel — aber die Meermaid sah er an dem Abend nirgends.<span class='pagenum'><a name="Page_218" id="Page_218">[S 218]</a></span></p> + +<p>Sorge und Leid preßten ihm schwere Thränen aus, in seinem Unmuth hätte +er sich die bitterste Qual anthun mögen — warum hatte er am gestrigen +Abend das dargebotene Glück verschmäht und sich eine Bedenkzeit +ausbedungen, wo ein klügerer als er das Glück mit beiden Händen bei den +Hörnern gepackt haben würde. Nun half keine Reue noch Klage. Nicht +minder trübselig verstrich ihm die Nacht und der folgende Tag; unter der +Last des Kummers fühlte er nicht einmal den Hunger. Gegen +Sonnenuntergang setzte er sich zerknirschten Herzens auf eben den Stein, +auf welchem die Meermaid vorgestern gesessen hatte, fing an bitterlich +zu weinen und sagte ächzend: »Wenn sie heute nicht kommt, so will ich +nicht länger mehr leben, sondern entweder hier auf dem Steine Hungers +sterben, oder mich jählings in die Wellen stürzen und in der Tiefe des +Meeres mein elendes Leben enden!« — Ich weiß nicht, wie lange er so in +Gram versunken gesessen hatte, als er eine weiche warme Hand auf seiner +Stirne fühlte. Als er die Augen aufschlug, sah er die Jungfrau vor sich, +die ihn liebreich anredete: »Ich sah deine herbe Qual, hörte dein +sehnsüchtiges Seufzen und mochte nicht länger zögern, obgleich deine +Bedenkzeit erst morgen Abend abläuft.«</p> + +<p>»Vergebt mir, vergebt mir, theure Jungfrau!« bat Schlaf-Tönnis +schluchzend. »Vergebt mir! ich war ein sinnloser Thor, daß ich das +unverhoffte Glück nicht festzuhalten wußte. Der Teufel weiß, was für +eine Tollheit mir vorgestern in den Kopf kam. Bringt mich, wohin ihr +wollt, ich widerstrebe nicht, ja ich würde mit Freuden mein Leben für +euch hingeben.«<span class='pagenum'><a name="Page_219" id="Page_219">[S 219]</a></span></p> + +<p>Die Meermaid erwiederte lachend: »Mich verlangt nicht nach deinem Tode, +sondern ich will dich lebend als lieben Genossen zu mir nehmen.« Dann +nahm sie den Jüngling bei der Hand, führte ihn einige Schritte näher +an's Meer, verband ihm mit einem seidenen Tuche die Augen, und in +demselben Augenblicke fühlte sich Schlaf-Tönnis von zwei starken Armen +umfaßt, welche ihn wie im Fluge emporhoben und dann jählings in die Flut +stürzten. Als die kalte Flut seinen Leib berührte, verlor er das +Bewußtsein, so daß er nicht mehr wußte, was mit ihm und um ihn vorging. +Er konnte also späterhin auch nicht sagen, wie lange seine Ohnmacht +gedauert hatte.</p> + +<p>Als er erwachte, sollte er noch Seltsameres erfahren.</p> + +<p>Er fand sich auf weichem Kissen in seidenem Bette, das in einem +prächtigen Gemache stand, dessen Wände von Glas und von innen mit rothen +Sammetdecken verhüllt waren, damit das grelle Licht den Schläfer nicht +wecke. Eine Zeit lang wußte er selbst nicht recht, ob er noch lebe oder +sich nach dem Tode an einem unbekannten Orte befinde. Er reckte seine +Glieder hin und her, nahm seine Nasenspitze zwischen die Finger, und +siehe! — es war Alles, wie es sein mußte. Angethan war er mit einem +feinen weißen Hemde, und schöne Kleider lagen auf einem Stuhl vor seinem +Bette. Nachdem er sich eine Zeit lang im Bette gedehnt und sich +handgreiflich überzeugt hatte, daß er wirklich am Leben sei, stand er +endlich auf und zog sich an. — Zufällig hustete er, und augenblicklich +traten zwei Mädchen ein, grüßten ehrerbietig und baten, der »<em class="gesperrt">gnädige +Herr</em>« möge ihnen sagen, was er frühstücken wolle. Während die eine den +Tisch deckte, ging<span class='pagenum'><a name="Page_220" id="Page_220">[S 220]</a></span> die andere die Speisen zu bereiten. Es dauerte nicht +lange, so standen Schüsseln mit Schweinefleisch, Wurst, Blutklößen und +Scheibenhonig, nebst Bier- und Methkannen auf dem Tische — gerade als +ob eine prächtige Hochzeit gefeiert würde. Schlaf-Tönnis, der mehrere +Tage ohne Nahrung geblieben war, setzte seine Kinnladen in Bewegung und +aß, was der Magen fassen wollte, dann streckte er sich aufs Bett, um zu +verdauen. Als er wieder aufstand, kamen die Dienerinnen zurück und baten +den »gnädigen Herrn«, im Garten spazieren zu gehen, während die gnädige +Frau sich ankleiden lasse. Es wurden ihm von allen Seiten so viel +»gnädige Herren« an den Hals geworfen, daß er schon anfing, sich für +einen solchen zu halten, und seines früheren Standes vergaß.</p> + +<p>Ich Garten fand er auf Schritt und Tritt Schönheit und Zierde; im grünen +Laube glänzten goldene und silberne Aepfel, sogar die Fichten- und +Tannenzapfen waren golden und goldgefiederte Vögel hüpften in den +Wipfeln und auf den Zweigen. Zwei Mädchen traten hinter einem Gebüsche +hervor, sie hatten Auftrag, den »gnädigen Herrn« im Garten herum zu +führen und ihm alle Schönheiten desselben zu zeigen. Weiter gehend +gelangten sie an den Rand eines Teiches, auf welchem silbergefiederte +Gänse und Schwäne schwammen. Ueberall schimmerte Morgenroth, doch +nirgends sah man die Sonne. Die mit Blüthen bedeckten Gebüsche hauchten +süßen Duft aus, und Bienen, groß wie Bremsen, flogen um die Blüthen +herum. Alles, was unser Freund hier von Bäumen und Gewächsen erblickte, +war viel herrlicher, als wir es jemals schauen. Sodann erschienen zwei +prächtig gekleidete Mädchen, um<span class='pagenum'><a name="Page_221" id="Page_221">[S 221]</a></span> den »gnädigen Herrn« zur gnädigen Frau +einzuladen, welche ihn erwarte. Ehe man ihn zu ihr führte, wurde ihm +noch ein blauseidener Shawl<a name="FNanchor_76_76" id="FNanchor_76_76"></a><a href="#Footnote_76_76" class="fnanchor">[76]</a> um die Schultern gelegt. Wer hätte in +diesem Aufzuge den früheren Schlaf-Tönnis wieder erkannt?</p> + +<p>In einer prächtigen Halle, die so groß wie eine Kirche und auch, wie das +Schlafgemach, aus Glas gegossen war, saßen zwölf scheue Jungfrauen auf +silbernen Stühlen. Hinter ihnen auf einer Erhöhung unweit der Wand +standen zwei goldene Stühle, auf deren einem die hehre Königin saß, +während der andere noch leer war. Als Schlaf-Tönnis über die Schwelle +trat, erhoben sich alle Jungfrauen von ihren Sitzen und grüßten den +Ankömmling ehrerbietig, setzen sich auch nicht eher wieder, als bis es +ihnen geheißen worden. Die Herrin selber blieb auf ihrem Stuhle sitzen, +nickte dem Jünglinge ihren Gruß zu und winkte befehlend mit dem Finger, +worauf die Führerinnen den Schlaf-Tönnis in die Mitte nahmen und zur +Herrin geleiteten. Der Jüngling ging schüchternen Schrittes vorwärts, +und wagte nicht die Augen aufzuschlagen, denn all' die unerwartete +Pracht und Herrlichkeit blendete ihn. Man wies ihm seinen Platz auf dem +goldenen Stuhle neben der Herrin an, und diese sagte: »Dieser Jüngling +ist mein lieber Bräutigam, dem ich mich verlobt und den ich mir zu +meinem Gemahl erkoren<span class='pagenum'><a name="Page_222" id="Page_222">[S 222]</a></span> habe. Ihr müßt ihm jegliche Ehre erweisen und ihm +eben so gehorchen wie mir. Jedes Mal, daß ich das Haus verlasse, müßt +ihr ihm die Zeit vertreiben und ihn pflegen und hüten wie meinen +Augapfel. Schwere Strafe würde den treffen, der meinen Willen nicht +pünktlich erfüllt.«</p> + +<p>Schlaf-Tönnis sah wie verbrüht drein, weil er gar nicht wußte, was er +von der Sache halten solle; die Erlebnisse dieser Nacht schienen +wunderbarer als Wunder. Er mußte sich in Gedanken immer wieder fragen, +ob er wache oder träume. Die Herrin errieth, was in ihm vorging, erhob +sich von ihrem Stuhle, nahm ihn bei der Hand und führte ihn aus einem +Zimmer in's andere; alle waren menschenleer. So waren sie in das zwölfte +Gemach gelangt, das etwas kleiner aber noch prächtiger war, als die +andern. Hier nahm die Herrin ihre Krone vom Haupte, warf den +goldverbrämten seidenen Mantel ab, und als Schlaf-Tönnis jetzt die Augen +aufzuschlagen wagte, sah er keine fremde Herrin, sondern die Meermaid an +seiner Seite. O du liebe Zeit! jetzt wuchs ihm plötzlich der Muth und +seine Hoffnung erblühte. Freudig rief er: »O theure Meermaid!« — aber +in demselben Augenblick schloß die Hand der Jungfrau ihm den Mund; sie +sprach in ernstem Tone: »Wenn dir mein und dein eigenes Glück lieb ist, +so nenne nie mehr diesen Namen, den man mir zum Schimpf beigelegt hat. +Ich bin der Wasser-Mutter<a name="FNanchor_77_77" id="FNanchor_77_77"></a><a href="#Footnote_77_77" class="fnanchor">[77]</a> Tochter, und unserer sind viele +Schwestern, wenn wir auch alle einsam,<span class='pagenum'><a name="Page_223" id="Page_223">[S 223]</a></span> jede an ihrem Ort, im Meere, in +Seeen und Flüssen wohnen, und uns nur selten einmal durch einen +glücklichen Zufall zu sehen bekommen.« Dann erklärte sie ihm, sie habe +bis jetzt jungfräulich gelebt, müsse aber als verordnete Herrscherin +Namen und Würde einer königlichen Frau aufrecht erhalten. Schlaf-Tönnis +war durch sein unverhofftes Glück wie von Sinnen gekommen, er wußte +nicht, was er in seiner Freude beginnen sollte, aber die Zunge war ihm +wie gebunden, und er brachte nicht viel mehr heraus als <em class="gesperrt">Ja</em> oder <em class="gesperrt">Nein</em>. +Als er sich aber beim Mittagsmahl die leckeren Speisen schmecken ließ, +und als die köstlichen Getränke ihm warm machten, da löste sich auch +seine Zunge, und er wußte sich nicht bloß wie sonst gut zu unterhalten, +sondern auch manchen artigen Scherz anzubringen.</p> + +<p>Am folgenden und am dritten Tage ging dieses glückliche Leben eben so +fröhlich weiter; Schlaf-Tönnis glaubte sich bei lebendigem Leibe in den +Himmel versetzt. Vor Schlafengehen sagte die Meermaid zu ihm: »Morgen +haben wir Donnerstag,<a name="FNanchor_78_78" id="FNanchor_78_78"></a><a href="#Footnote_78_78" class="fnanchor">[78]</a> und allwöchentlich muß ich, einem Gelübde +gemäß an diesem Tage fasten und einsam von allen Andern getrennt leben. +Donnerstags kannst du mich nicht früher sehen, als bis der Hahn Abends +drei Mal gekräht hat. Meine Dienerinnen werden inzwischen für dich +sorgen, daß dir die Zeit nicht lang werde, und es dir an Nichts fehle.«</p> + +<p>Am andern Morgen fand Schlaf-Tönnis seine Genossin nirgends — er +gedachte dessen, was sie ihm<span class='pagenum'><a name="Page_224" id="Page_224">[S 224]</a></span> am Abend zuvor angekündigt hatte, nämlich, +daß er heute und jeden künftigen Donnerstag ohne seine Gemahlin +zubringen müsse. Die Dienerinnen bemühten sich, ihm auf alle Weise die +Zeit zu vertreiben, sie sangen, spielten und führten heitere Tänze auf; +dann setzten sie ihm wieder Speise und Trank vor, wie ein geborener +Königssohn sie nicht besser haben konnte, und der Tag verging ihm +schneller als er geglaubt hatte. Nach dem Abendessen begab er sich zur +Ruhe, und als der Hahn das dritte Mal gekräht hatte, kam die Schöne +wieder zu ihm. Ebenso ging es an jedem folgenden Donnerstage. Oft zwar +hatte er die Geliebte gebeten, am Donnerstage mit ihr zusammen fasten zu +dürfen, aber vergebens. Als er nun einst wieder an einem Mittwoch seine +Gemahlin mit dieser Bitte quälte und ihr keine Ruhe ließ, sagte die +Meermaid mit thränenden Augen: »Nimm mein Leben, wenn du willst, ich +gebe es gerne hin, aber deinen Wunsch, dich zu meinem Fasttage +mitzunehmen, kann und darf ich nicht erfüllen.«</p> + +<p>Ein Jahr oder darüber mochte ihnen so verflossen sein, als sich Zweifel +im Herzen des Schlaf-Tönnis regten, die immer quälender wurden, so daß +er keine Ruhe mehr fand. Das Essen wollte ihm nicht munden, und der +Schlaf erquickte ihn nicht. Er fürchtete nämlich, daß die Meermaid außer +ihm noch einen heimlichen Geliebten habe, in dessen Armen sie jeden +Donnerstag ruhe, während er die Zeit mit ihren Dienerinnen hinbringen +müsse. Die Kammer, in welcher die Meermaid sich Donnerstags verborgen +hielt, kannte er längst, aber was half es? Die Thür war immer +verschlossen und die Fenster waren von<span class='pagenum'><a name="Page_225" id="Page_225">[S 225]</a></span> innen durch doppelte Vorhänge so +dicht verhüllt, daß nirgends eine Oeffnung wenn auch nur von der Breite +eines Nadelöhrs blieb, durch welche ein Sonnenstrahl, geschweige denn +ein menschliches Auge, hätte eindringen können. Aber je unmöglicher die +Aufhellung dieses Geheimnisses schien, desto heftiger wurde sein +Verlangen, der Sache auf den Grund zu kommen. Wenngleich er von dem, was +ihm auf dem Herzen lastete, der Meermaid kein Wörtchen verrieth, so +merkte sie doch an seinem unsteten Wesen, daß die Sachen nicht mehr +standen wie sie sollten. Wiederholt bat sie ihn mit Thränen in den +Augen, er möge sie und sich selbst doch nicht mit verkehrten Gedanken +plagen. »Ich bin,« sagte sie, »frei von aller Schuld gegen dich, ich +habe keine heimliche Liebe noch irgend eine andere Sünde gegen dich auf +dem Gewissen. Aber dein falscher Argwohn macht uns Beide unglücklich, +und wird unsern Herzensfrieden zerstören. Mit Freuden würde ich jeden +Augenblick mein Leben für dich hingeben, wenn du es wünschen würdest, +aber an meinem Fasttage kann ich dich nicht in meine Nähe lassen. Es +darf nicht sein, und würde unserer Liebe und unserem Glücke für immer +den Untergang bringen. Wir leben ja sechs Tage in der Woche in ruhigem +Glücke mit einander, wie kann uns die Trennung <em class="gesperrt">eines</em> Tages so schwer +fallen, daß du sie nicht ertragen solltest.«</p> + +<p>Sechs Tage hielt solch' ein verständiger Zuspruch immer wieder vor, aber +wenn der nächste Donnerstag kam, und die Meermaid nicht erschien, dann +verlor er den Kopf und geberdete sich wie ein halb Verrückter. Er hatte +keine Ruhe mehr, zuletzt wollte er am Donnerstage<span class='pagenum'><a name="Page_226" id="Page_226">[S 226]</a></span> Niemand um sich +haben, die Dienerinnen durften nur die Speisen und Getränke auftragen +und mußten sich dann gleich entfernen, damit er allein hausen könne wie +ein Gespenst.</p> + +<p>Diese gänzliche Verwandlung nahm Alle Wunder, und als die Meermaid die +Sache erfuhr, wollte sie sich die Augen aus dem Kopfe weinen; doch +überließ sie sich ihrem Schmerze nur, wenn Niemand dabei war. +Schlaf-Tönnis hoffte, wenn er allein gelassen würde, bessere Gelegenheit +zur Untersuchung der geheimnißvollen Fastenkammer zu finden — +vielleicht entdeckte er doch irgendwo ein Spältchen, durch welches er +spähen und beobachten könnte, was dort vorginge. Je mehr er sich aber +abquälte, desto unmuthiger wurde auch die Meermaid, und wenn sie noch +ein freundliches Antlitz zeigte, so kam ihr doch die Freundlichkeit +nicht mehr von Herzen wie sonst.</p> + +<p>So vergingen einige Wochen, und die Sache wurde nicht besser und nicht +schlechter; da fand Schlaf-Tönnis eines Donnerstags neben dem Fenster +eine kleine Stelle, wo die Vorhänge sich zufällig verschoben hatten, so +daß der Blick in die Kammer dringen konnte. Was er da sah, machte sein +Herz ärger als Februarkälte gerinnen. Das geheimnißvolle Gemach hatte +keinen Fußboden, sondern sah aus wie ein großer viereckiger Kübel, der +viele Fuß hoch mit Wasser gefüllt war. Darin schwamm seine geliebte +Meermaid. Vom Kopf bis zum Bauch hatte sie noch die Schönheit des +weiblichen Körpers, aber die untere Hälfte vom Nabel abwärts war ganz +Fisch, mit Schuppen bedeckt und mit Flossen versehen. Mit dem breiten +Fischschwanz plätscherte sie zuweilen im Wasser, daß es<span class='pagenum'><a name="Page_227" id="Page_227">[S 227]</a></span> hoch +aufspritzte. — Der Späher wich wie betäubt zurück, und ging betrübt +hinweg. Wie viel hätte er darum gegeben, wenn er diesen Anblick aus +seinem Gedächtnisse hätte auslöschen können! Er dachte hin und her, +wußte aber nicht, was er anfangen sollte.</p> + +<p>Der Hahn hatte am Abend wie gewöhnlich drei Mal gekräht, aber die +Meermaid kam nicht zu ihm zurück. Er durchwachte die ganze Nacht, aber +die Schöne erschien immer noch nicht. Erst am Margen kam sie in +schwarzen Trauerkleidern, das Gesicht mit einem dünnen Seidentuch +verhüllt, und sprach mit weinender Stimme: »O, du Unseliger, der du +durch deine Torheit unserem glücklichen Leben ein Ende gemacht hast! Du +siehst mich heute zum letzten Male und mußt nun wieder in deinen +früheren Zustand zurückkehren, was du dir selber zuzuschreiben hast. +Leb' wohl zum letzten Male!«</p> + +<p>Ein plötzlicher Krach und ein starkes Getöse, als ob der Boden unter den +Füßen weg rollte, warf den Schlaf-Tönnis nieder, und in seiner Betäubung +hörte und sah er nicht mehr, was mit ihm und um ihn her vorging.</p> + +<p>Als er endlich, wer weiß wie lange nachher, aus seiner Ohnmacht +erwachte, fand er sich am Meeresstrande, dicht bei demselben Steine, auf +welchem die schöne Meermaid gesessen hatte, als sie den +Freundschaftsbund mit ihm schloß. Statt der prächtigen Kleider, die er +in der Behausung der Meermaid täglich getragen hatte, fand er seinen +alten Anzug, der aber viel älter und zerlumpter aussah, als es nach +seiner Annahme der Fall sein konnte. Die Glückstage unseres guten +Freundes waren vorüber, und keine noch so bittere Reue konnte sie +zurückbringen.<span class='pagenum'><a name="Page_228" id="Page_228">[S 228]</a></span></p> + +<p>Als er weiter ging, stieß er auf die ersten Gehöfte seines Dorfs. Sie +standen wohl an der alten Stelle, aber sahen doch anders aus. Was ihm +aber, als er sich umsah, noch viel wunderbarer dünkte, war, daß die +Menschen ihm ganz fremd waren, und nicht ein einziges bekanntes Gesicht +ihm begegnete.</p> + +<p>Auch ihn sahen Alle befremdet an, als ob sie ein Wunderthier vor sich +hätten. Schlaf-Tönnis ging nun zum Hofe seiner Eltern; auch hier kamen +ihm fremde Menschen entgegen, die ihn nicht kannten, und die er nicht +kannte. Erstaunt fragte er nach seinem Vater und seinen Brüdern, aber +Niemand konnte ihm Bescheid geben. Endlich kam ein gebrechlicher Alter +auf einen Stock gestützt aus dem Hause und sagte: »Bauer, der Wirth, +nach welchem du dich erkundigst, schläft schon über dreißig Jahre in der +Erde; auch seine Söhne müssen todt sein. Wo kommst du denn her, +Alterchen, um solchen vergessenen Dingen nachzuforschen?« Das Wort +»Alterchen« hatte den Schlaf-Tönnis dermaßen erschreckt, daß er nichts +weiter fragen konnte. Er fühlte seine Glieder zittern, wandte den +fremden Menschen den Rücken, und eilte zur Pforte hinaus. Die Anrede +»Alterchen« ließ ihm keine Ruhe; dies Wort war ihm centnerschwer auf die +Seele gefallen — die Füße versagten ihm den Dienst.</p> + +<p>An der nächsten Quelle besah er seine Gestalt im Wasserspiegel: die +bleichen zusammengeschrumpften Wangen, die eingefallenen Augen, der +lange graue Bart und die grauen Haare bestätigten, was er vernommen +hatte. Diese vergilbte, verwelkte Gestalt hatte keine Aehnlichkeit mehr +mit dem Jüngling, den die Meermaid sich zum Bräutigam<span class='pagenum'><a name="Page_229" id="Page_229">[S 229]</a></span> erkoren hatte. +Jetzt erst ward der Unglückliche inne, daß die vermeintlichen paar Jahre +ihm den größten Theil seines Lebens hinweggenommen hatten, denn als +blühender Jüngling war er in das Haus der Meermaid eingezogen, und als +gespenstischer Alter war er zurückgekommen. Dort hatte er weder den Fluß +der Zeit noch das Hinschwinden des Körpers gespürt, und er konnte es +sich nicht erklären, wie die Bürde des Alters ihm so plötzlich, gleich +einer Vogelschlinge, über den Hals gekommen war. Was sollte er jetzt +beginnen, da er als Fremder unter Fremde verschneit war? — Einige Tage +lang streifte er am Strande von einem Bauerhofe zum andern umher, und +gute Menschen gaben ihm aus Barmherzigkeit ein Stück Brot. Da traf er +einst mit einem munteren Burschen zusammen, dem er seinen Lebenslauf +ausführlich erzählte, aber in derselben Nacht war er auch verschwunden. +Nach einigen Tagen wälzten die Wellen seinen Leichnam an's Ufer. Ob er +vorsätzlich oder zufällig im Meere ertrunken war, ist nicht bekannt +geworden.</p> + +<p>Von dieser Zeit an hat sich das Wesen der Meermaid den Menschen +gegenüber gänzlich verändert; nur Kindern erscheint sie zuweilen, fast +immer in anderer Gestalt, erwachsene Menschen aber läßt sie nicht an +sich heran kommen, sondern scheut sie wie das Feuer.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_230" id="Page_230">[S 230]</a></span></p> +<h2>17. Die Unterirdischen.<a name="FNanchor_79_79" id="FNanchor_79_79"></a><a href="#Footnote_79_79" class="fnanchor">[79]</a></h2> + + +<p>In einer stürmigen Nacht zwischen Weihnacht und Neujahr war ein Mann vom +Wege abgekommen; während er sich durch die tiefen Schneetriften +durchzuarbeiten suchte,<span class='pagenum'><a name="Page_231" id="Page_231">[S 231]</a></span> erlahmte seine Kraft, so daß er von Glück sagen +konnte, als er unter einem dichten Wachholderbusch Schutz vor dem Winde +fand. Hier wollte er übernachten, in der Hoffnung, am hellen Morgen den +Weg leichter zu finden. Er zog seine Glieder zusammen wie ein Igel, +wickelte sich in seinen warmen Pelz und schlief bald ein. Ich weiß +nicht, wie lange er so gelegen hatte, als er fühlte, daß Jemand ihn +rüttele. Als er aus dem Schlafe auffuhr, schlug eine fremde Stimme an +sein Ohr: »Bauer, ohe! steh auf! sonst begräbt dich der Schnee, und du +kommst nicht wieder heraus.« Der Schläfer steckte den Kopf aus dem Pelze +hervor und sperrte die noch schlaftrunkenen Augen weit auf. Da sah er +einen Mann von langem schlanken Wuchse vor sich; der Mann trug als Stock +einen jungen Tannenbaum, der doppelt so hoch war wie sein Träger. »Komm +mit mir,« sagte der Mann mit dem Tannenstock — »für uns ist im Walde +unter Bäumen ein Feuer gemacht, wo sich's<span class='pagenum'><a name="Page_232" id="Page_232">[S 232]</a></span> besser ruht, als hier auf +freiem Felde.« Ein so freundliches Anerbieten mochte der Mann nicht +ausschlagen, vielmehr stand er sogleich auf, und schritt rüstig mit dem +fremden Manne vorwärts. Der Schneesturm tobte so heftig, daß man auf +drei Schritt nicht sehen konnte, aber wenn der fremde Mann seinen +Tannenstock aufhob und mit strenger Stimme rief: »Hoho! +Stümesmutter!<a name="FNanchor_80_80" id="FNanchor_80_80"></a><a href="#Footnote_80_80" class="fnanchor">[80]</a> mach' Platz!« so bildete sich vor ihnen ein breiter +Pfad, wohin auch kein Schneeflöckchen drang. Zu beiden Seiten und im +Rücken tobte wildes Schneegestöber, aber die Wanderer focht es nicht an. +Es war, als ob auf beiden Seiten eine unsichtbare Wand das Gestüm +abwehrte. Bald kamen die Männer an den Wald, aus dem schon von fern der +Schein eines Feuers ihnen entgegen leuchtete. »Wie heißt du?« fragte der +Mann mit dem Tannenstock, und der Bauer erwiederte: »Des langen Hans +Sohn Hans.«</p> + +<p>Am Feuer saßen drei Männer mit weißen leinenen Kleidern angethan, als +wäre es mitten im Sommer. Auch sah man in einem Umkreise von dreißig +oder mehr Schritten nur Sommerschöne: das Moos war trocken, die Pflanzen +grün, und der Rasen wimmelte von Ameisen und Käferchen. Von fern aber +hörte des langen Hans Sohn den Wind sausen und den Schnee brausen. Noch +verwunderlicher war das brennende Feuer, welches hellen Glanz +verbreitete, ohne daß ein Rauchwölkchen aufstieg. »Was meinst du, Sohn +des langen Hans, ist dies nicht ein besserer Ruheplatz für die Nacht, +als da auf freiem Felde unter dem Wachholderbusch?« Hans mußte dies +zugeben,<span class='pagenum'><a name="Page_233" id="Page_233">[S 233]</a></span> und dem fremden Manne dafür danken, daß er ihn so gut geführt +hatte. Dann warf er seinen Pelz ab, wickelte ihn zu einem Kopfkissen +zusammen, und legte sich im Scheine des Feuers nieder. Der Mann mit dem +Tannenstock nahm sein Fäßchen aus einem Busche und bot Hansen einen +Labetrunk, der schmeckte vortrefflich und erfreute ihm das Herz. Der +Mann mit dem Tannenstock streckte sich nun auch auf den Boden hin und +redete mit seinen Genossen in einer fremden Sprache, von der unser Hans +kein Wörtchen verstand; er schlief darum bald ein.</p> + +<p>Als er aufwachte, fand er sich allein an einem fremden Orte, wo weder +Wald noch Feuer mehr war. Er rieb sich die Augen und rief sich das +Erlebniß der Nacht zurück, meinte aber geträumt zu haben; doch konnte er +nicht begreifen, wie er denn hierher an einen ganz fremden Ort gerathen +war. Aus der Ferne drang ein starkes Geräusch an sein Ohr, und er fühlte +den Boden unter seinen Füßen zittern. Hans horchte eine Zeit lang, von +wo der Lärm komme, und beschloß dann, dem Schalle nachzugehen, weil er +hoffte, auf Menschen zu treffen. So kam er an die Mündung einer +Felsengrotte, aus welcher der Lärm erscholl, und ein Feuer hervorschien. +Als er in die Grotte trat, sah er eine ungeheure Schmiede vor sich mit +einer Menge von Blasebälgen und Ambosen; an jedem Ambos standen sieben +Arbeiter. Närrischere Schmiede konnten auf der Welt nicht zu finden +sein. Die einem Manne bis zum Knie reichenden Männlein hatten Köpfe, die +größer waren als ihre winzigen Leiber, und führten Hämmer, die mehr als +doppelt so groß waren, als ihre Träger. Aber sie hämmerten mit ihren +schweren Eisen<span class='pagenum'><a name="Page_234" id="Page_234">[S 234]</a></span>keulen so wacker auf den Ambos los, daß die kräftigsten +Männer keine wuchtigeren Schläge hätten führen können. Bekleidet waren +die kleinen Schmiede nur mit Lederschürzen, die vom Halse bis zu den +Füßen reichten; auf der Rückseite waren die Körper nackend, wie Gott sie +geschaffen hatte. Im Hintergrund an der Wand saß der Hansen wohlbekannte +Mann mit dem Tannenstocke auf einem hohen Block, und gab scharf Acht auf +die Arbeit der kleinen Gesellen. Zu seinen Füßen stand eine große Kanne, +aus welcher die Arbeiter ab und zu einen Trunk thaten. Der Herr der +Schmiede hatte nicht mehr die weißen Kleider von gestern an, sondern +trug einen schwarzen rußigen Rock und um die Hüften einen Ledergürtel +mit großer Schnalle; mit seinem Tannenstocke gab er den Gesellen von +Zeit zu Zeit einen Wink, denn das Menschenwort wäre bei dem Getöse +unvernehmlich gewesen. Ob Jemand den Hans bemerkt hatte, blieb diesem +unklar, sintemal Meister und Gesellen ihre Arbeit hurtig förderten, ohne +den fremden Mann zu beachten. Nach einigen Stunden wurde den kleinen +Schmieden eine Rast gegönnt; die Bälge wurden angehalten, und die +schweren Hämmer zu Boden geworfen. Jetzt, da die Arbeiter die Grotte +verließen, erhob sich der Wirth vom Blocke und rief den Hans zu sich: +»Ich habe deine Ankunft wohl bemerkt,« sagte er, »aber da die Arbeit +drängte, konnte ich nicht früher mit dir reden. Heute mußt du mein Gast +sein, um meine Lebensweise und Haushaltung kennen zu lernen. Verweile +hier so lange, bis ich die schwarzen Kleider ablege.« Mit diesen Worten +zog er einen Schlüssel aus der Tasche, schloß eine Thür in der +Grottenwand auf, und ließ Hans hineintreten.<span class='pagenum'><a name="Page_235" id="Page_235">[S 235]</a></span></p> + +<p>O was für Schätze und Reichthümer Hans hier erblickte! Ringsum lagen +Gold- und Silberbarren aufgestapelt und schimmerten und flimmerten ihm +vor den Augen. Hans wollte zum Spaße die Goldbarren eines Haufens +überzählen und war gerade bis fünfhundert und siebzig gekommen, als der +Wirth zurückkehrte und lachend rief: »Laß nur das Zählen, es würde dir +zu viel Zeit kosten. Nimm dir lieber einige Barren vom Haufen, ich will +sie dir zum Andenken verehren.« Natürlich ließ sich Hans so etwas nicht +zweimal sagen; mit beiden Händen erfaßte er einen Goldbarren, konnte ihn +aber nicht einmal von der Stelle rühren, geschweige denn aufheben. Der +Wirth lachte und sagte: »Du winziger Floh vermagst nicht das kleinste +meiner Geschenke fortzubringen, begnüge dich denn mit der Augenweide.« +Mit diesen Worten führte er Hans in eine andere Kammer, von da in eine +dritte, vierte und so fort, bis sie endlich in die siebente +Grottenkammer kamen, die von der Größe einer großen Kirche und gleich +den anderen vom Fußboden bis zur Decke mit Gold- und Silberhaufen +angefüllt war. Hans wunderte sich über die unermeßlichen Schätze, womit +man sämmtliche Königreiche der Welt hätte zu erb und eigen kaufen +können, und die hier nutzlos unter der Erde lagen. Er fragte den Wirth: +»Weßwegen häuft ihr hier einen so ungeheuren Schatz an, wenn doch kein +lebendes Wesen von dem Gold und Silber Vortheil zieht? Käme dieser +Schatz in die Hände der Menschen, so würden sie alle reich werden, und +Niemand brauchte zu arbeiten oder Noth zu leiden.« »Gerade deßhalb,« +erwiederte der Wirth — »darf ich den Schatz nicht an die Menschen +überliefern; die ganze Welt würde<span class='pagenum'><a name="Page_236" id="Page_236">[S 236]</a></span> vor Faulheit zu Grunde gehen, wenn +Niemand mehr für das tägliche Brot zu sorgen brauchte. Der Mensch ist +dazu geschaffen, daß er sich durch Arbeit und Sorgfalt erhalten soll.« +Hans wollte das durchaus nicht wahr haben und bestritt nachdrücklich die +Ansicht des Wirths. Endlich bat er, ihm doch zu erklären was es fromme, +daß hier all' das Gold und Silber als Besitzthum eines Mannes lagere und +schimmele, und daß der Herr des Goldes unablässig bemüht sei, seinen +Schatz zu vergrößern, da er schon einen so überschwenglichen Ueberfluß +habe? Der Wirth gab zur Antwort: »Ich bin kein Mensch, wenn ich gleich +Gestalt und Gesicht eines solchen habe, sondern eines jener höheren +Geschöpfe, welche nach der Anordnung des Allvaters geschaffen sind, der +Welt zu walten. Nach seinem Gebot muß ich mit meinen kleinen Gesellen +ohne Unterlaß hier unter der Erde Gold und Silber bereiten, von welchem +alljährlich ein kleiner Theil zum Bedarf der Menschen herausgegeben +wird, nur knapp soviel als sie brauchen, um ihre Angelegenheiten zu +betreiben. Aber Niemand soll sich die Gabe ohne Mühe zueignen. Wir +müssen deßhalb das Gold erst fein stampfen, und dann die Körnlein mit +Erde, Lehm und Sand vermischen; später werden sie, wo das Glück will, in +diesem Grant gefunden, und müssen mühsam herausgesucht werden. Aber, +Freund, wir müssen unsere Unterhaltung abbrechen, denn die Mittagsstunde +naht heran. Hast du Lust, meinen Schatz noch länger zu betrachten, so +bleib hier, erfreue dein Herz an dem Glanze des Goldes, bis ich komme +dich zum Essen zu rufen.« Damit trennte er sich von Hans.<span class='pagenum'><a name="Page_237" id="Page_237">[S 237]</a></span></p> + +<p>Hans schlenderte nun wieder aus einer Schatzkammer in die andere, und +versuchte hie und da ein kleineres Stück Gold aufzuheben, aber es war +ihm ganz unmöglich. Er hatte zwar schon früher von klugen Leuten sagen +hören, wie schwer Gold sei, aber er hatte es niemals glauben wollen — +jetzt lehrten es ihn seine eigenen Versuche. Nach einer Weile kam der +Wirth zurück, aber so verwandelt, daß Hans ihn im ersten Augenblick +nicht erkannte. Er trug rothe feuerfarbene Seidengewänder, reich +verziert mit goldenen Tressen und goldenen Franzen, ein breiter goldener +Gürtel umschloß seine Hüften und auf seinem Kopfe schimmerte eine +goldene Krone, aus welcher Edelsteine funkelten, wie Sterne in einer +klaren Winternacht. Statt des Tannenstockes hielt er ein kleines aus +feinem Golde gearbeitetes Stäbchen in der Hand, an welchem sich +Verästelungen befanden, so daß das Stäbchen aussah wie ein Sproß des +großen Tannenstockes.</p> + +<p>Nachdem der königliche Besitzer des Schatzes die Thüren der +Schatzkammern verschlossen und die Schlüssel in die Tasche gesteckt +hatte, nahm er Hans bei der Hand und führte ihn aus der +Schmiedewerkstatt in ein anderes Gemach, wo für sie das Mittagsmahl +angerichtet war. Tische und Sitze waren von Silber; in der Mitte der +Stube stand ein prächtiger Eßtisch, zu beiden Seiten desselben ein +silberner Stuhl. Eß- und Trinkgeschirr, als da sind Schalen, Schüsseln, +Teller, Kannen und Becher, waren von Gold. Nachdem sich der Wirth mit +seinem Gaste am Tische niedergelassen hatte, wurden zwölf Gerichte nach +einander aufgetragen; die Diener waren ganz wie die Männlein in der +Schmiede, nur daß sie nicht nackt gingen<span class='pagenum'><a name="Page_238" id="Page_238">[S 238]</a></span> sondern helle reine Kleider +trugen. Sehr wunderbar kam Hansen ihre Behendigkeit und Geschicklichkeit +vor; denn obgleich man keine Flügel an ihnen wahrnahm, so bewegten sie +sich doch so leicht, als wären sie gefedert. Da sie nämlich nicht bis +zur Höhe des Tisches hinanreichten, so mußten sie wie die Flöhe immer +vom Boden auf den Tisch hüpfen. Dabei hielten sie die großen mit Speisen +angefüllten Schalen und Schüsseln in der Hand, und wußten sich doch so +in Acht zu nehmen, daß nicht ein Tropfen verschüttet ward. Während des +Essens gossen die kleinen Diener Meth und köstlichen Wein aus den Kannen +in die Becher und reichten diese den Speisenden. Der Wirth unterhielt +sich freundlich und erläuterte Hansen mancherlei Geheimnisse. So sagte +er, als auf sein nächtliches Zusammentreffen mit Hans die Rede kam: +»Zwischen Weihnacht und Neujahr streife ich oft zum Vergnügen auf der +Erde umher, um das Treiben der Menschen zu beobachten und einige von +ihnen kennen zu lernen. Von dem, was ich bis jetzt gesehen und erfahren +habe, kann ich nicht viel Rühmens machen. Die Mehrzahl der Menschen lebt +einander zum Schaden und zum Verdruß. Jeder klagt mehr oder weniger über +den Andern, Niemand sieht seine eigene Schuld und Verfehlung, sondern +wälzt auf Andere, was er sich selbst zugezogen hat.« Hans suchte nach +Möglichkeit die Wahrheit dieser Worte abzuleugnen, aber der freundliche +Wirth ließ ihm reichlich einschenken, so daß ihm endlich die Zunge so +schwer wurde, daß er kein Wort mehr entgegnen, und auch nicht verstehen +konnte, was der Hausherr sagte. Binnen kurzem schlief er auf seinem +Stuhle ein, und wußte nicht mehr, was mit ihm vorging.<span class='pagenum'><a name="Page_239" id="Page_239">[S 239]</a></span></p> + +<p>In seinem schlaftrunkenen Zustande hatte er wunderbare bunte Träume, in +welchen ihm unaufhörlich die Goldbarren vorschwebten. Da er sich im +Traume viel stärker fühlte, nahm er ein paar Goldbarren auf den Rücken +und trug sie mit Leichtigkeit davon. Endlich ging ihm aber doch unter +der schweren Last die Kraft aus, er mußte sich niedersetzen und Athem +schöpfen. Da hörte er schäkernde Stimmen, er hielt es für den Gesang der +kleinen Schmiede; auch das helle Feuer von ihren Blasebälgen traf sein +Auge. Als er blinzelnd aufschaute, sah er um sich her grünen Wald, er +lag auf blumigem Rasen und kein Feuer von Blasebälgen, sondern der +Sonnenstrahl war es, was ihm freundlich in's Gesicht schien. Er riß sich +nun vollends aus den Banden des Schlafes los, aber es dauerte eine Zeit +lang, ehe er sich auf das besinnen konnte, was ihm in der Zwischenzeit +begegnet war.</p> + +<p>Als endlich seine Erinnerungen wieder wach wurden, schien ihm Alles so +seltsam und so wunderbar, daß er es mit dem natürlichen Lauf der Dinge +nicht zu reimen wußte. Hans besann sich, wie er im Winter einige Tage +nach Weihnacht in einer stürmigen Nacht vom Wege abgekommen war, und +auch was sich später zugetragen hatte, tauchte wieder in seiner +Erinnerung auf. Er hatte die Nacht mit einem fremden Manne an einem +Feuer geschlafen, war am andern Tage zu diesem Manne, der einen +Tannenstock führte, zu Gast gegangen, hatte dort zu Mittag gegessen und +sehr viel getrunken — kurz er hatte ein paar Tage in Saus und Braus +verlebt. Aber jetzt war doch rings um ihn her vollständiger Sommer, es +konnte also nur Zauberei im Spiele sein. Als er sich erhob,<span class='pagenum'><a name="Page_240" id="Page_240">[S 240]</a></span> fand er +ganz in der Nähe eine alte Feuerstelle, welche in der Sonne wunderbar +glänzte. Als er die Stätte schärfer in's Auge faßte, sah er, daß der +vermeintliche Aschenhaufe feiner Silberstaub und die übrig gebliebenen +Brände lichtes Gold waren. O dieses Glück. Woher nun einen Sack nehmen, +um den Schatz nach Hause zu tragen? Die Noth macht erfinderisch. Hans +zog seinen Winterpelz aus, fegte die Silberasche zusammen, daß auch kein +Stäubchen übrig blieb, that die Goldbrände und das Zusammengefegte in +den Pelz und band dann die Zipfel desselben mit seinem Gürtel zusammen, +so daß nichts herausfallen konnte. Obwohl die Bürde nicht groß war, so +wurde sie ihm doch gehörig schwer, so daß er wie ein Mann zu schleppen +hatte, ehe er einen passenden Platz fand, um seinen Schatz zu +verstecken.</p> + +<p>Auf diese Weise war Hans durch ein unverhofftes Glück plötzlich zum +reichen Manne geworden, der sich wohl ein Landgut hätte kaufen können. +Als er aber mit sich zu Rathe ging, hielt er es zuletzt für das Beste, +seinen alten Wohnort zu verlassen, und sich weiter weg einen neuen +auszusuchen, wo die Leute ihn nicht kannten. Dort kaufte er sich denn +ein hübsches Grundstück, und es blieb ihm noch ein gut Stück Geld übrig. +Dann nahm er eine Frau und lebte als reicher Mann glücklich bis an sein +Ende. Vor seinem Tode hatte er seinen Kindern das Geheimniß entdeckt, +wie es der Unterirdischen Wirth gewesen, der ihn reich gemacht. Aus dem +Munde der Kinder und Kindeskinder verbreitete sich dann die Geschichte +weiter.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_241" id="Page_241">[S 241]</a></span></p> +<h2>18. Der Nordlands-Drache</h2> + + +<p>Vormals lebte, der Erzählung alter Leute zufolge, ein gräuliches +Unthier, das aus Nordland gekommen war, schon große Landstriche von +Menschen und Thieren entblößt hatte, und allmählich, wenn Niemand +Abhülfe gebracht hätte, alles Lebendige vom Erdboden vertilgt haben +würde.</p> + +<p>Es hatte einen Leib wie ein Ochs und Beine wie ein Frosch, nämlich zwei +kurze vorn und zwei lange hinten, ferner einen schlangenartigen zehn +Klafter langen Schweif; es bewegte sich wie ein Frosch, legte aber mit +jedem Sprunge eine halbe Meile zurück. Zum Glücke blieb es an dem Orte, +wo es sich einmal niedergelassen hatte, mehrere Jahre, und zog nicht +eher weiter, als bis die ganze Umgegend kahl gefressen war. Der Leib war +über und über mit Schuppen bedeckt, welche fester waren als Stein und +Erz, so daß Nichts ihn beschädigen konnte. Die beiden großen Augen +funkelten bei Nacht und bei Tage wie die hellsten Kerzen, und wer einmal +das Unglück hatte, in ihren Glanz hinein zu blicken, der war wie +bezaubert, und mußte von selbst dem Ungeheuer in den<span class='pagenum'><a name="Page_242" id="Page_242">[S 242]</a></span> Rachen laufen. So +kam es, daß sich ihm Thiere und Menschen selber zum Fraße lieferten, +ohne daß es sich von der Stelle zu rühren brauchte. Die Könige der +Umgegend hatten demjenigen überaus reichen Lohn verheißen, der durch +Zauber oder durch andere Gewalt das Ungeheuer vertilgen könnte, und +Viele hatten schon ihr Heil versucht, aber ihre Unternehmungen waren +alle gescheitert. So wurde einst ein großer Wald, in welchem das +Ungeheuer hauste, in Brand gesteckt; der Wald brannte nieder, aber dem +schädlichen Thiere konnte das Feuer nicht das Mindeste anhaben. +Allerdings sagten Ueberlieferungen, die im Munde alter Leute waren, daß +Niemand auf andere Weise des Ungeheuers Herr werden könne, als durch des +Königs Salomo Siegelring; auf diesem sei eine Geheimschrift eingegraben, +aus welcher man erfahre, wie das Unthier umgebracht werden könne. Allein +Niemand wisse zu melden, wo jetzt der Ring verborgen sei, und eben so +wenig sei ein Zauberer zu finden, der die Schrift deuten könne.</p> + +<p>Endlich entschloß sich ein junger Mann, der Herz und Kopf auf dem +rechten Flecke hatte, auf gut Glück den Spuren des Ringes +nachzuforschen. Er schlug den Weg gen Morgen ein, allwo vornehmlich die +Weisheit der Vorzeit zu finden ist. Erst nach einigen Jahren traf er mit +einem berühmten Zauberer des Ostens zusammen und fragte ihn um Rath. Der +Zauberer erwiederte: »Das Bischen Klugheit der Menschen kann dir hier +nichts helfen, aber Gottes Vögel unter dem Himmel werden dir die besten +Führer sein, wenn du ihre Sprache erlernen willst. Ich kann dir dazu +verhelfen, wenn du<span class='pagenum'><a name="Page_243" id="Page_243">[S 243]</a></span> einige Tage bei mir bleiben willst.« Der Jüngling +nahm das freundliche Anerbieten mit Dank an und sagte: »Für jetzt bin +ich freilich nicht im Stande, dich für deine Wohlthat zu beschenken, +fällt aber mein Unternehmen glücklich aus, so werde ich dir deine Mühe +reichlich vergelten.« Nun kochte der Zauberer aus neunerlei Kräutern, +die er heimlich bei Mondenschein gesammelt hatte, einen kräftigen Trank +und gab davon dem Jünglinge drei Tage hintereinander neun Löffel täglich +zu trinken, was zur Folge hatte, daß ihm die Vogelsprache verständlich +wurde. Beim Abschiede sagte der Zauberer: »Solltest du das Glück haben, +Salomonis Ring zu entdecken und desselben habhaft zu werden, so komm zu +mir zurück, damit ich dir die Schrift auf dem Ringe deute, denn es lebt +jetzt außer mir Keiner, der das vermöchte.«</p> + +<p>Schon am nächsten Tage fand der Jüngling die Welt wie verwandelt, er +ging nirgends mehr allein, sondern hatte überall Gesellschaft, weil er +die Vogelsprache verstand, durch welche ihm Vieles offenbar wurde, was +menschliche Einsicht ihn nicht hätte lehren können. Aber geraume Zeit +verfloß, ohne daß er von dem Ringe etwas gehört hätte. Da geschah es +eines Abends, als er vom Gang und der Hitze ermüdet, sich zeitig im +Walde unter einem Baume niedergelassen hatte, um sein Abendbrot zu +verzehren, daß auf hohem Wipfel zwei buntgefiederte fremde Vögel ein +Gespräch mit einander führten, welches ihn betraf. Der erste Vogel +sagte: »Ich kenne den windigen Herumtreiber unter dem Baume da, der +schon so lange wandert, ohne die Spur zu finden. Er sucht den verlorenen +Ring des Königs Salomo.« Der andere Vogel<span class='pagenum'><a name="Page_244" id="Page_244">[S 244]</a></span> erwiederte: »Ich glaube, er +müßte bei der Höllenjungfrau Hülfe suchen, die wäre gewiß im Stande ihm +auf die Spur zu helfen. Wenn sie den Ring auch nicht selbst hat, so weiß +sie doch ganz genau, wer das Kleinod jetzt besitzt.« Der erste Vogel +versetzte: »Das wäre schon recht, aber wo soll er die Höllenjungfrau +auffinden, die nirgends eine bleibende Stätte hat, sondern heute hier +und morgen dort wohnt: eben so gut könnte er die Luft fest halten!« Der +andere Vogel erwiederte: »Ihren gegenwärtigen Aufenthalt weiß ich zwar +nicht anzugeben, aber heute binnen drei Tagen kommt sie zur Quelle, ihr +Gesicht zu waschen, wie sie jeden Monat in der Nacht des Vollmonds thut, +damit die Jugendschöne nie von ihren Wangen schwinde und die Runzeln des +Alters ihr Antlitz nicht zusammenziehen.« Der erste Vogel sagte: »Nun, +die Quelle ist nicht weit von hier; wollen wir des Spaßes halber ihr +Treiben mit ansehen?« »Meinethalben, wenn du willst,« gab der andere +Vogel zur Antwort. — Der Jüngling war gleich entschlossen, den Vögeln +zu folgen und die Quelle aufzusuchen, doch machte ihn zweierlei besorgt, +erstens, daß er die Zeit verschlafen könne, wo die Vögel aufbrächen, und +zweitens, daß er keine Flügel hatte, um dicht hinter ihnen zu bleiben. +Er war zu sehr ermüdet, um die ganze Nacht wach zu bleiben, die Augen +fielen ihm zu. Aber die Sorge ließ ihn doch nicht ruhig schlafen, er +wachte öfters auf, um den Aufbruch der Vögel nicht zu verpassen. Darum +freute er sich sehr, als er bei Sonnenaufgang zum Wipfel hinauf blickte +und die buntgefiederten Gesellen noch sah, wie sie unbeweglich saßen, +mit den Schnäbeln unter den Federn. Er verzehrte sein Frühstück und +war<span class='pagenum'><a name="Page_245" id="Page_245">[S 245]</a></span>tete dann, daß die Vögel aufbrechen sollten. Aber sie schienen +diesen Morgen nirgends hin zu wollen, sie flatterten, wie zur Kurzweil +oder um Nahrung zu suchen, von einem Wipfel zum andern und trieben das +so fort bis zum Abend, wo sie sich an der alten Stelle zur Ruhe begaben. +Eben so ging es noch den folgenden Tag. Erst am Mitmorgen des dritten +Tages sagte der eine Vogel zum andern. »Heute müssen wir zur Quelle, um +zu sehen, wie sich die Höllenjungfrau ihr Antlitz wäscht.« Bis Mittag +blieben sie noch, dann flogen sie davon und nahmen ihren Weg gerade gen +Süden. Dem Jüngling klopfte das Herz vor Furcht, seine Führer aus dem +Gesicht zu verlieren. Aber die Vögel waren nicht weiter geflogen, als +sein Gesichtskreis reichte, und hatten sich dann auf einem Baumwipfel +niedergelassen. Der Jüngling rannte ihnen nach, daß seine Haut dampfte +und ihm der Athem zu stocken drohte. Nach dreimaligem Ausruhen kamen die +Vögel auf eine kleine Fläche, an deren Rande sie sich auf einem hohen +Baumwipfel niederließen. Als der Jüngling nach ihnen dort anlangte, +gewahrte er mitten in der Fläche eine Quelle; er setzte sich nun unter +denselben Baum, auf dessen Wipfel die Vögel sich aufhielten. Dann +spitzte er seine Ohren, um zu vernehmen, was die gefiederten Geschöpfe +miteinander redeten.</p> + +<p>»Die Sonne ist noch nicht unter« — sagte der eine Vogel — »wir müssen +noch eine Weile warten, bis der Mond aufgeht, und die Jungfrau zur +Quelle kommt. Wollen doch sehen, ob sie den Jüngling unter dem Baume +bemerkt?« Der andere Vogel erwiderte: »Ihrem Auge entgeht wohl Nichts, +was nach einem jungen Manne riecht,<span class='pagenum'><a name="Page_246" id="Page_246">[S 246]</a></span> Sollte der Jüngling verschlagen +genug sein, um nicht in ihr Garn zu gehen?« Worauf der erste Vogel +sagte: »Wir werden ja sehen, wie sie miteinander fertig werden.«</p> + +<p>Der Abend war schon vorgerückt, der Vollmond stand schon hoch über dem +Walde, da hörte der Jüngling ein leises Geräusch: nach einigen +Augenblicken trat aus dem Walde eine Maid hervor, und schritt flüchtigen +Fußes, so daß ihre Sohlen den Boden nicht zu berühren schienen, über den +Rasen zur Quelle. Der Jüngling mußte sich gestehen, daß er in seinem +Leben noch kein schöneres Weib gesehen habe, und mochte kein Auge mehr +von der Jungfrau verwenden.</p> + +<p>Diese ging, ohne seiner zu achten, zur Quelle, hob die Augen zum Monde +empor, fiel auf die Knie, tauchte neun Mal ihr Antlitz in die Quelle, +blickte nach jedem Male den Mond an und rief: »Vollwangig und hell, wie +du jetzt bist, möge auch meine Schönheit blühen unvergänglich!« Dann +ging sie neun Mal um die Quelle und sang nach jedem Gange:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Nicht der Jungfrau Antlitz welke,<br /></span> +<span class="i0">Nie der Wangen Roth erbleiche,<br /></span> +<span class="i0">Ob der Mond auch wieder schwinde,<br /></span> +<span class="i0">Möge ich doch immer wachsen,<br /></span> +<span class="i0">Mir das Glück stets neu erblühen!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Darauf trocknete sie sich mit ihren langen Haaren das Gesicht ab, und +wollte von dannen gehen, als ihre Augen plötzlich auf die Stelle fielen, +wo der Jüngling unter dem Baume saß. Sogleich wandte sie ihre Schritte +dahin. Der junge Mann erhob sich und blieb in Erwartung stehen. Die +schöne Maid kam näher und sagte:<span class='pagenum'><a name="Page_247" id="Page_247">[S 247]</a></span> »Eigentlich müßtest du einer schweren +Strafe verfallen, daß du der Jungfrau heimliches Thun im Mondschein +belauscht hast; aber da du fremd bist und zufällig herkamst, so will ich +dir verzeihen. Doch mußt du mir wahrheitsgetreu bekennen, woher du bist +und wie du hierher kamst, wohin bisher noch kein Sterblicher seinen Fuß +gesetzt hat?« Der Jüngling antwortete mit vielem Anstande: »Vergebet, +theure Jungfrau, wenn ich ohne Wissen und Willen gegen euch gefehlt +habe. Da ich nach langer Wanderung hierher gerieth, fand ich den schönen +Platz unter dem Baume, und wollte da mein Nachtlager nehmen. Eure +Ankunft ließ mich zögern, so blieb ich sitzen, weil ich glaubte, daß +stilles Schauen euch nicht nachtheilig werden könne.« Die Jungfrau +versetzte liebreich: »Komm zur Nacht zu uns! Auf Kissen ruht es sich +besser als hier auf kühlem Moose.« Der Jüngling stand ein Weilchen +zweifelnd, und wußte nicht, was er thun solle, ob das freundliche +Anerbieten annehmen oder zurückweisen. Da sprach auf dem Baumwipfel ein +Vogel zum andern. »Er wäre ein Thor, wenn er sich das Anerbieten nicht +gefallen ließe.« Die Jungfrau, die der Vogelsprache wohl nicht kundig +war, sagte mit freundlicher Mahnung: »Fürchte nichts, mein Freund! ich +lade dich nicht in böser Absicht ein, ich wünsche dir von ganzem Herzen +Gutes.« Die Vögel sagten hinterdrein: »geh', wohin man dich ruft, aber +hüte dich, Blut zu geben, um deine Seele nicht zu verkaufen.«</p> + +<p>Nun ging der Jüngling mit ihr. Nicht weit von der Quelle kamen sie in +einen schönen Garten, in welchem ein prächtiges Wohnhaus stand, das im +Mondschein<span class='pagenum'><a name="Page_248" id="Page_248">[S 248]</a></span> schimmerte, als wären Dach und Wände aus Gold und Silber +gegossen. Als der Jüngling hineintrat, fand er viele prachtvolle +Gemächer, eins immer schöner als das andere; viele hundert Kerzen +brannten auf goldenen Leuchtern und verbreiteten überall eine Helligkeit +wie die des Tages. Darauf gelangten sie in ein Gemach, wo eine mit +köstlichen Speisen besetzte Tafel sich befand; an der Tafel standen zwei +Stühle, der eine von Silber, der andere von Gold; die Jungfrau ließ sich +auf den goldenen Stuhl nieder, und bat den Jüngling, sich auf den +silbernen zu setzen. Weißgekleidete Mädchen trugen die Speisen auf und +räumten sie wieder ab, wobei aber kein Wort gesprochen wurde, auch +traten die Mädchen so leise auf, als gingen sie auf Katzenpfoten. Nach +Tisch, als der Jüngling mit der königlichen Jungfrau allein geblieben +war, wurde ein anmuthiges Gespräch geführt, bis endlich ein Frauenzimmer +in rother Kleidung erschien, um zu erinnern, daß es Zeit sei, sich +schlafen zu legen.</p> + +<p>Da führte die Jungfrau den Jüngling in eine andere Kammer, wo ein +seidenes Bett mit Daunenkissen stand; sie wies es ihm und entfernte +sich. Der Jüngling meinte bei lebendigem Leibe im Himmel zu sein, auf +Erden sei solch' ein Leben nicht zu finden. Nur darüber wußte er später +keine Rechenschaft zu geben, ob ihn Träume getäuscht, oder ob er +wirklich Stimmen an seinem Bette vernommen hätte, welche ihm ein Wort +zuriefen, das sein Herz erschreckte: »Gieb kein Blut!«</p> + +<p>Am andern Morgen fragte ihn die Jungfrau, ob er nicht Lust habe hier zu +bleiben, wo die ganze Woche aus lauter Feiertagen bestehe. Und als der +Jüngling auf<span class='pagenum'><a name="Page_249" id="Page_249">[S 249]</a></span> die Frage nicht gleich Antwort gab, setzte sie hinzu: »Ich +bin, wie du selbst siehst, jung und blühend, und ich stehe unter +Niemandes Botmäßigkeit, sondern kann thun, was mir beliebt. Bisher ist +es mir noch nie in den Sinn gekommen zu heiraten, aber von dem +Augenblicke an, wo ich dich erblickte, stiegen mir plötzlich andere +Gedanken auf, denn du gefällst mir. Sollten nun unsere Gedanken +übereinstimmen, so könnte ein Paar aus uns werden. Hab' und Gut besitze +ich unendlich viel, wie du dich selber auf Schritt und Tritt überzeugen +kannst, und so kann ich Tag für Tag königlich leben. Was dein Herz nur +begehrt, kann ich dir gewähren.« Wohl drohte die Schmeichelrede der +schönen Maid des Jünglings Sinn zu verwirren, aber zu seinem Glücke fiel +ihm ein, daß die Vögel sie die Höllenjungfrau genannt und ihn gewarnt +hatten, daß er ihr Blut gebe, und daß er auch in der Nacht, sei es +träumend oder wachend, dieselbe Warnung vernommen habe. Darum erwiederte +er: »Theure Jungfrau, verargt es mir nicht, wenn ich euch ganz +aufrichtig gestehe, daß man das Freien nicht abmachen kann wie einen +Roßkauf, sondern daß es dazu längerer Ueberlegung bedarf. Vergönnt mir +deshalb einige Tage Bedenkzeit, dann wollen wir uns darüber +verständigen.« »Warum nicht,« erwiederte die schöne Maid — meinethalben +kannst du dich einige Wochen bedenken und mit deinem Herzen zu Rathe +gehen.«</p> + +<p>Damit nun dem Jünglinge inzwischen die Zeit nicht lang würde, führte ihn +die Jungfrau von einer Stelle ihres prächtigen Hauses zur andern, und +zeigte ihm all' die reichen Schatzkammern und Truhen, welche sein Herz +erweichen<span class='pagenum'><a name="Page_250" id="Page_250">[S 250]</a></span> sollten. All' diese Schätze waren aber durch Zauberei +entstanden, denn die Jungfrau konnte mit Hülfe des Salomonischen +Siegelringes alle Tage und an jedem Orte eine solche Wohnung nebst allem +Zubehör hervorbringen, aber das Alles hatte keine Dauer, es war vom +Winde hergeweht, und ging auch wieder in den Wind, ohne eine Spur +zurückzulassen.<a name="FNanchor_81_81" id="FNanchor_81_81"></a><a href="#Footnote_81_81" class="fnanchor">[81]</a> Da der Jüngling das aber nicht wußte, so hielt er +das Blendwerk für Wirklichkeit. Eines Tages führte ihn die Jungfrau in +eine verborgene Kammer, wo auf einem silbernen Tische ein goldenes +Schächtelchen stand. Auf das Schächtelchen zeigend sagte sie: »Hier +steht mein theuerster Schatz, dessen Gleichen auf der ganzen Welt nicht +zu finden ist, es ist ein kostbarer goldener Ring. Wenn du mich freien +solltest, so würde ich dir diesen Ring zum Mahlschatz geben, und er +würde dich zum glücklichsten aller Menschen machen. Damit aber das Band +unserer Liebe ewige Dauer erhalte, mußt du mir dann für den Ring drei +Tropfen Blut von dem kleinen Finger deiner linken Hand geben.«</p> + +<p>Als der Jüngling diese Rede hörte, überlief es ihn kalt; daß sie sich +Blut ausbedang, erinnerte ihn daran, daß er seine Seele aufs Spiel +setze. Er war aber schlau genug, sich nichts merken zu lassen, und auch +keine Einwendung zu machen, vielmehr fragte er, wie beiläufig, was es +für eine Bewandniß mit dem Ringe habe. Die Jungfrau erwiederte: »Kein +Lebendiger ist bis jetzt im Stande gewesen, die Kraft dieses Ringes ganz +zu ergründen, weil keiner die geheimen Zeichen desselben vollständig<span class='pagenum'><a name="Page_251" id="Page_251">[S 251]</a></span> zu +deuten wußte. Aber schon mit dem halben Verständniß vermag ich Wunder zu +verrichten, welche mir kein anderes Wesen nachmachen kann. Stecke ich +den Ring auf den kleinen Finger meiner linken Hand, so kann ich mich wie +ein Vogel in die Luft schwingen, und hinfliegen wohin ich will. Stecke +ich den Ring auf den Ringfinger meiner linken Hand, so bin ich sogleich +für Alle unsichtbar, mich selbst und Alles, was mich umgiebt, sehe ich, +aber die Andern sehen mich nicht. Stecke ich den Ring an den +Mittelfinger meiner linken Hand, dann kann mir kein scharfes Werkzeug, +noch Wasser und Feuer etwas anhaben. Stecke ich den Ring an den +Zeigefinger meiner linken Hand, dann kann ich mir mit seiner Hülfe alle +Dinge schaffen, die ich begehre; ich kann in einem Augenblicke Häuser +aufbauen und sonstige Gegenstände hervorbringen. So lange endlich der +Ring am Daumen der linken Hand sitzt, ist die Hand so stark, daß sie +Felsen und Mauern brechen kann.<a name="FNanchor_82_82" id="FNanchor_82_82"></a><a href="#Footnote_82_82" class="fnanchor">[82]</a> Außerdem trägt der Ring noch andere +geheime Zeichen, welche, wie gesagt, bis heute noch Niemand zu deuten +wußte; doch läßt sich denken, daß sie noch viele wichtige Geheimnisse +enthalten. Der Ring war vor Alters Eigenthum des Königs Salomo, des +weisesten der Könige, unter dessen Regierung die weisesten Männer +lebten. Doch ist es bis auf den heutigen Tag nicht kund geworden, ob der +Ring durch göttliche Kraft oder durch Menschenhände entstanden ist; es +wird behauptet, daß ein Engel dem weisen Könige den Ring geschenkt +habe.« Als der Jüngling die Schöne so reden hörte, war sein erster<span class='pagenum'><a name="Page_252" id="Page_252">[S 252]</a></span> +Gedanke, sich des Ringes durch List zu bemächtigen, er that deshalb, als +ob er das Gehörte durchaus nicht für wahr halten könne. So hoffte er die +Jungfrau zu bewegen, daß sie den Ring aus dem Schächtelchen nehme und +ihm zeige — wobei er dann vielleicht Gelegenheit fände, sich des +Wunderringes zu bemächtigen. Er wagte aber nicht, die Jungfrau geradezu +darum zu bitten, daß sie ihm den Ring zeige. Er umschmeichelte sie und +geberdete sich zärtlich, aber sein Herz sann nur darauf, in den Besitz +des Ringes zu gelangen. Schon nahm die Jungfrau den Schlüssel zum +Kästchen aus dem Busen, um es aufzuschließen, aber sie steckte ihn +wieder zu sich und sagte: »Dazu haben wir künftig noch Zeit genug.« Ein +Paar Tage darauf kam die Rede wieder auf den Wunderring, und der +Jüngling sagte: »Nach meinem Dafürhalten sind solche Dinge, wie ihr sie +mir von der Kraft eures Ringes erzählt, schlechterdings nicht möglich.« +Da öffnete die Jungfrau das Schächtelchen und nahm den Ring heraus, der +zwischen ihren Fingern blitzte wie der hellste Sonnenstrahl. Dann +steckte sie ihn zum Spaße an den Mittelfinger ihrer linken Hand und +sagte dem Jüngling, er solle ein Messer nehmen und damit auf sie +losstechen wohin er wolle, denn es könne ihr doch nicht schaden. Der +Jüngling sträubte sich gegen dies bedenkliche Beginnen, als aber die +Jungfrau nicht abließ, mußte er sich fügen. Obwohl er nun, anfangs mehr +spielend, dann aber ernsthaft, auf alle Weise die Jungfrau mit dem +Messer zu treffen suchte, so war es doch, als ob eine unsichtbare Wand +von Eisen zwischen Beiden stünde; die Schneide konnte nicht eindringen, +und die Jungfrau<span class='pagenum'><a name="Page_253" id="Page_253">[S 253]</a></span> stand lachend und unbewegt vor ihm. Darauf steckte sie +den Ring an ihren Ringfinger, und war im Nu den Blicken des Jünglings +entschwunden, so daß dieser durchaus nicht begreifen konnte, wohin sie +gekommen war. Bald stand sie wieder lachend vor ihm auf der alten +Stelle, den Ring zwischen den Fingern haltend. »Laßt doch sehen« — bat +der Jüngling — »ob es mir auch möglich ist, so seltsame Dinge mit dem +Ringe zu machen?« Die Jungfrau, welche keinen Betrug ahndete, gab ihm +den Wunderring.</p> + +<p>Der Jüngling that, als wisse er noch nicht recht Bescheid, und fragte: +»An welchen Finger muß ich den Ring stecken, damit mir ein scharfes +Werkzeug nicht schaden könne?« — Worauf die Jungfrau lachend +erwiederte: »An den Mittelfinger der linken Hand!« Sie nahm dann selbst +das Messer und suchte damit zu stoßen, konnte aber dem Jüngling keinen +Schaden thun. Darauf nahm dieser das Messer und versuchte sich selber zu +beschädigen, aber es war auch ihm unmöglich. Darauf bat er die Jungfrau, +ihm zu zeigen, wie er mit dem Ringe Steine und Felsen spalten könne. Sie +führte ihn in den Hof, wo ein klafterhoher Kiesel lag. »Jetzt stecke den +Ring« — so unterwies ihn die Jungfrau — »an den Daumen deiner linken +Hand, und schlage dann mit der Faust auf den Stein, und du wirst sehen, +welche Kraft in deiner Hand liegt.« Der Jüngling that es und sah zu +seinem Erstaunen, wie der Stein unter dem Schlage seiner Hand in tausend +Trümmer barst. Da dachte der Jüngling, wer das Glück nicht bei den +Hörnern zu fassen weiß, der ist ein Thor, denn einmal entflohen, kehrt +es nicht zurück.<span class='pagenum'><a name="Page_254" id="Page_254">[S 254]</a></span> Während er noch über die Zertrümmerung des Steines +scherzte, steckte er wie spielend den Ring an den Ringfinger seiner +linken Hand. Da rief die Jungfrau: »Jetzt bist du für mich so lange +unsichtbar, bis du den Ring abziehst.« Aber das zu thun war der Jüngling +nicht gesonnen, vielmehr ging er rasch einige Schritte weiter, steckte +dann den Ring an den kleinen Finger der linken Hand, und schwang sich in +die Höhe wie ein Vogel. Als die Jungfrau ihn davon fliegen sah, hielt +sie Anfangs auch diesen Versuch für bloßen Scherz, und rief: »Komm +zurück, mein Freund! Jetzt hast du gesehen, daß ich dir die Wahrheit +gesagt habe!« Aber wer nicht zurückkam, war der Jüngling; da merkte die +Jungfrau den Betrug, und brach in bittere Klagen aus über ihr Unglück.</p> + +<p>Der Jüngling hielt seinen Flug nicht eher an, als bis er nach einigen +Tagen wieder zu dem berühmten Zauberer gekommen war, bei welchem er die +Vogelsprache gelernt hatte. Der Zauberer war außerordentlich froh, daß +des Mannes Wanderung so guten Erfolg gehabt hatte. Er machte sich +sogleich daran, die geheime Schrift auf dem Ringe zu deuten, er brauchte +aber sieben Wochen ehe er damit zu Stande kam. Darauf gab er dem +Jünglinge folgende Auskunft, wie der Nordlands-Drache zu vertilgen sei: +»Du mußt dir ein eisernes Pferd gießen lassen, das unter jedem Fuße +kleine Räder hat, so daß man es vorwärts und rückwärts schieben kann. +Dann mußt du aufsitzen und dich mit einem eisernen zwei Klafter langen +Speere bewaffnen, den du freilich nur führen kannst, wenn der Wunderring +am Daumen deiner linken Hand steckt. Der Speer muß in der Mitte die +Dicke einer mäßigen<span class='pagenum'><a name="Page_255" id="Page_255">[S 255]</a></span> Birke haben und seine beiden Enden müssen gleich +scharf sein. In der Mitte des Speeres mußt du zwei starke zehn Klafter +lange Ketten befestigen, die stark genug sind, den Drachen zu halten. +Sobald der Drache sich in den Speer fest gebissen hat, so daß dieser ihm +die Kinnlade durchbohrt, mußt du wie der Wind vom Eisenroß herunter +springen, um dem Unthier nicht in den Rachen zu fallen, und mußt die +Enden der Ketten mit eisernen Pflöcken dergestalt in die Erde rammen, +daß keine Gewalt sie herausziehen kann. Nach drei oder vier Tagen ist +die Kraft des Unthiers so weit erschöpft, daß du dich ihm nähern kannst, +dann stecke Salomos Kraftring an den Daumen deiner linken Hand, und +schlage es vollends todt. Bis du aber herangekommen bist, muß der Ring +am Ringfinger deiner linken Hand stecken, damit das Unthier dich nicht +sehen kann, sonst würde es dich mit seinem langen Schwanze todt +schlagen. Wenn du Alles vollbracht hast, trage Sorge, daß du den Ring +nicht verlierst, und daß dir auch Niemand mit List das Kleinod +entwende.«</p> + +<p>Unser Freund dankte dem Zauberer für die Belehrung und versprach, ihn +später für seine Mühe zu belohnen. Aber der Zauberer erwiederte: »Ich +habe aus der Entzifferung der Geheimschrift des Ringes so viel +Zauberweisheit geschöpft, daß ich keines anderen Gutes weiter bedarf.« +So trennten sie sich, und der Jüngling eilte nach Hause, was ihm nicht +mehr schwer wurde, da er wie ein Vogel fliegen konnte wohin er wollte.</p> + +<p>Als er nach einigen Wochen in der Heimath anlangte, hörte er von den +Leuten, daß der gräuliche Nordlands-Drache schon in der Nähe sei, so daß +er jeden Tag über<span class='pagenum'><a name="Page_256" id="Page_256">[S 256]</a></span> die Grenze kommen könne. Der König ließ überall +bekannt machen, daß er demjenigen, der dem Unthier das Garaus machen +würde, nicht nur einen Theil seines Königreiches schenken, sondern auch +seine Tochter zur Frau geben wolle. Nach einigen Tagen trat unser +Jüngling vor den König und erklärte, er hoffe das Unthier zu vernichten, +wenn der König Alles wolle anfertigen lassen, was dazu erforderlich sei. +Der König ging mit Freuden darauf ein. Es wurden nun sämmtliche +geschickte Meister aus der Umgegend zusammenberufen, die mußten erst das +Eisenpferd gießen, dann den großen Speer schmieden, und endlich auch die +eisernen Ketten, deren Ringe zwei Zoll Dicke hatten. Als aber Alles +fertig war, fand es sich, daß das eiserne Pferd so schwer war, daß +hundert Männer es nicht von der Stelle bringen konnten. Da blieb dem +Jüngling nichts übrig, als mit Hülfe seines Kraftringes das Pferd allein +fort zu bewegen.</p> + +<p>Der Drache war keine Meile mehr entfernt, so daß er mit ein Paar +Sprüngen über die Grenze setzen konnte. Der Jüngling überlegte nun, wie +er allein mit dem Unthier fertig werden solle, denn da er das schwere +Eisenpferd von hinten her schieben mußte, so konnte er sich nicht +aufsetzen, wie es der Zauberer vorgeschrieben hatte. Da belehrte ihn +unerwartet eines Raben Schnabel: »Setze dich auf das Eisenpferd, und +stemme den Speer gegen den Boden, als wolltest du einen Kahn vom Ufer +abstoßen.« Der Jüngling machte es so und fand, daß er auf diese Weise +vorwärts kommen könne. Das Ungeheuer sperrte schon von Weitem den Rachen +auf, um die erwartete Beute zu vertilgen. Noch einige Klafter, so wären<span class='pagenum'><a name="Page_257" id="Page_257">[S 257]</a></span> +Mann und Eisenroß im Rachen des Unthiers gewesen. Der Jüngling bebte vor +Entsetzen und das Herz erstarrte ihm zu Eis, allein er ließ sich nicht +verwirren, sondern stieß mit aller Kraft zu, so daß der eiserne Speer, +den er aufrecht in der Hand hielt, den Rachen des Unthiers durchbohrte. +Dann sprang er vom Eisenroß und wandte sich schnell wie der Blitz, als +das Unthier die Kinnladen zusammenklappte. Ein gräßliches Gebrüll, das +viele Meilen weit erscholl, gab den Beweis, daß der Nordlands-Drache +sich festgebissen hatte. Als der Jüngling sich umwandte, sah er eine +Spitze des Speers Fuß lang aus der oberen Kinnlade hervorragen, und +schloß daraus, daß die andere im Boden fest steckte. Das Eisenroß aber +hatte der Drache mit seinen Zähnen zermalmt. Jetzt eilte der Jüngling, +die Ketten am Boden zu befestigen, wozu starke Eisenpflöcke von mehreren +Klaftern Länge in Bereitschaft gesetzt waren.</p> + +<p>Der Todeskampf des Ungeheuers dauerte drei Tage und drei Nächte: wenn es +sich bäumte, schlug es so gewaltig mit dem Schwanze gegen den Boden, daß +die Erde auf zehn Meilen weit bebte. Als es endlich den Schwanz nicht +mehr rühren konnte, hob der Jüngling mit Hülfe des Ringes einen Stein +auf, den zwanzig Männer nicht hätten bewegen können, und schlug damit +dem Thiere so lange auf den Kopf, bis es kein Lebenszeichen mehr von +sich gab.</p> + +<p>Grenzenlos war überall der Jubel, als die Botschaft kam, daß der +schlimme Feind sein Ende gefunden. —Der Sieger wurde in der Königsstadt +mit großen Ehrenbezeugungen empfangen, als wäre er der mächtigste +König.<span class='pagenum'><a name="Page_258" id="Page_258">[S 258]</a></span> Der alte König brauchte auch seine Tochter nicht zur Heirath zu +zwingen, sondern diese verlangte selber, sich dem starken Manne zu +vermählen, der allein ausgerichtet hatte, was die Andern auch mit einer +ganzen Armee nicht vermochten. Nach einigen Tagen wurde eine prachtvolle +Hochzeit gefeiert, welche vier Wochen lang dauerte, und zu welcher alle +Könige der Nachbarländer sich versammelt hatten, um dem Manne zu danken, +der die Welt von ihrem schlimmsten Feinde befreit hatte. Allein über dem +Hochzeitsjubel und der allgemeinen Freude hatte man vergessen, daß des +Ungeheuers Leichnam unbegraben liegen geblieben war, und da er jetzt in +Verwesung überging, so verbreitete er einen solchen Gestank, daß Niemand +sich in die Nähe wagte. Es entstanden Seuchen, welche viele Menschen +hinrafften. Deshalb beschloß der Schwiegersohn des Königs, Hülfe bei dem +Zauberer im Osten zu suchen, was ihm mit seinem Ringe nicht schwer fiel, +weil er auf Vogelschwingen hin fliegen konnte.</p> + +<p>Aber das Sprichwort sagt, unrecht Gut gedeiht nicht, und wie gewonnen, +so zerronnen. Diese Erfahrung sollte auch des Königs Schwiegersohn mit +dem entwendeten Ringe machen. Der Höllenjungfrau ließ es weder Tag noch +Nacht Ruhe, ihrem Ringe wieder auf die Spur zu kommen. Als sie mit Hülfe +von Zauberkünsten erfahren hatte, daß des Königs Schwiegersohn sich in +Vogelgestalt zu dem Zauberer aufmache, verwandelte sie sich in einen +Adler, und kreiste so lange in den Lüften, bis ihr der Vogel, auf den +sie wartete, zu Gesicht kam — sie erkannte ihn sogleich an dem Ringe, +der ihm an einem Bande um den Hals hing. Da schoß der Adler auf den +Vogel nieder und in dem<span class='pagenum'><a name="Page_259" id="Page_259">[S 259]</a></span>selben Augenblick, wo seine Klauen ihn packten, +hatte er ihm auch mit dem Schnabel den Ring vom Halse gerissen, ehe noch +der Mann in Vogelgestalt etwas dagegen thun konnte. Jetzt ließ der Adler +sich mit seiner Beute zur Erde nieder, und beide standen in ihrer +früheren Menschengestalt neben einander. »Jetzt bist du in meiner Hand, +Frevler!« rief die Höllenjungfrau. — »Ich nahm dich als meinen +Geliebten auf, und du übtest Betrug und Diebstahl: ist das mein Lohn? Du +nahmst mir mein kostbarstes Kleinod durch List, und hofftest, als +Schwiegersohn des Königs ein glückliches Leben zu führen, aber jetzt hat +sich das Blatt gewandt. Du bist in meiner Gewalt und sollst mir für +allen Frevel büßen.« »Vergebt, vergebt,« bat des Königs Schwiegersohn, +ich weiß wohl, daß ich mich schwer gegen euch vergangen habe, und bereue +meine Schuld von ganzem Herren.« Die Jungfrau erwiederte: »Deine Bitten +und deine Reue kommen zu spät, und Nichts kann dir mehr helfen. Ich darf +dich nicht schonen, das brächte mir Schande und machte mich zum Gespött +der Leute. Zwiefach hast du dich an mir versündigt, erst hast du meine +Liebe verschmäht, und dann meinen Ring entwendet, dafür mußt du Strafe +leiden.« Mit diesen Worten steckte sie den Ring an den Daumen ihrer +linken Hand, nahm den Mann wie eine Hedekunkel auf den Arm und ging mit +ihm von dannen. Diesmal führte ihr Weg nicht in jene prächtige +Behausung, sondern in eine Felsenhöhle, wo Ketten von der Wand herunter +hingen. Die Jungfrau ergriff die Enden der Ketten, und fesselte damit +dem Manne Hände und Füße, so daß Entkommen unmöglich<span class='pagenum'><a name="Page_260" id="Page_260">[S 260]</a></span> war; dann sagte +sie mit Zorn: »Hier sollst du bis an dein Ende gefangen bleiben. Ich +werde dir täglich so viel Nahrung bringen lassen, daß du nicht Hungers +sterben kannst, aber auf Befreiung darfst du nimmer hoffen.« Damit +verließ sie ihn.</p> + +<p>Der König und seine Tochter verlebten eine schwere Zeit des Kummers, als +Woche auf Woche verging, und der Schwiegersohn weder zurück kam, noch +auch Nachricht von sich gab. Oftmals träumte der Königstochter, daß ihr +Gemahl schwere Pein leiden müsse, sie bat deßhalb ihren Vater, von allen +Seiten her Zauberer zusammenrufen zu lassen, damit sie vielleicht +Auskunft darüber gäben, wo der Verschwundene lebe, und wie er zu +befreien sei. Aber sämmtliche Zauberer konnten nichts weiter berichten, +als daß er noch lebe und schwere Pein leide, keiner wußte den Ort zu +nennen, wo er sich befinde, noch anzugeben, wie man ihn auffinden könne. +Endlich wurde ein berühmter Zauberer aus Finnland vor den König geführt, +der den weiteren Bescheid ertheilen konnte, daß des Königs Schwiegersohn +im Ostlande gefangen gehalten werde, und zwar nicht durch Menschen, +sondern durch ein mächtigeres Wesen. Also schickte der König seine Boten +in der genannten Richtung aus, um den verlorenen Schwiegersohn +aufzusuchen. Glücklicherweise kamen sie zu dem alten Zauberer, der die +Schrift auf Salomonis Siegelring gedeutet und daraus eine Weisheit +geschöpft hatte, die allen Uebrigen verborgen blieb. Dieser Zauberer +fand bald heraus, was er wissen wollte, und sagte: »Den Mann hält man +durch Zaubermacht da und da gefangen, aber ohne meine Hülfe könnt ihr +ihn nicht befreien, ich muß selbst mit euch gehen.«<span class='pagenum'><a name="Page_261" id="Page_261">[S 261]</a></span></p> + +<p>Sie machten sich also auf und kamen, von Vögeln geführt, nach einigen +Tagen in die Felsenhöhle, wo des Königs Schwiegersohn jetzt schon beinah +sieben Jahre die schwere Kerkerhaft erduldet hatte. Er erkannte den +Zauberer augenblicklich, dieser aber erkannte ihn nicht, weil er sehr +abgemagert war. Der Zauberer löste durch seine Kunst die Ketten, nahm +den Befreiten zu sich, und pflegte und heilte ihn, bis er wieder kräftig +genug war, um die Reise anzutreten. Er langte an demselben Tage an, wo +der alte König gestorben war, und wurde nun zum Könige erhoben. Jetzt +kamen nach langen Leidenstagen die Freudentage, welche bis an sein Ende +währten; den Wunderring aber erhielt er nicht wieder, — auch hat ihn +nachmals keines Menschen Auge mehr gesehen.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_262" id="Page_262">[S 262]</a></span></p> +<h2>19. Das Glücksei.</h2> + + +<p>Einmal lebte in einem großen Walde ein armer Mann mit seinem Weibe; Gott +hatte ihnen acht Kinder gegeben, von denen die ältesten schon ihr Brod +bei fremden Leuten verdienten, und so machte es den Eltern gerade nicht +viel Freude, als ihnen im späten Alter noch ein neuntes Söhnlein geboren +wurde. Aber Gott hatte es ihnen einmal geschenkt, und so mußten sie es +nehmen, und ihm nach Christenbrauch die Taufe geben lassen. Nun wollte +aber Niemand zu dem Kinde Gevatter stehen, weil Jeder besorgte: wenn die +Eltern sterben, so fällt mir das Kind zur Last. Da dachte der Vater: ich +nehme das Kind, und trage es am Sonntag in die Kirche, und sage, daß ich +nirgends Gevattern habe finden können, mag dann der Prediger thun, was +er will, mag er das Kind taufen oder nicht, auf meine Seele kann keine +Sünde fallen. Als er sich am Sonntag aufmachte, fand er nicht weit von +seinem Hause einen Bettler am Wege sitzen, der ihn um ein Almosen bat. +Der Mann sagte: »Ich habe dir nichts zu geben, Brüderchen, die wenigen +Kopeken, die ich in der Tasche habe, muß ich für die Kindtaufe<span class='pagenum'><a name="Page_263" id="Page_263">[S 263]</a></span> +ausgeben; willst du mir aber einen Gefallen thun, so komm und steh bei +meinem Kinde Gevatter, nachher gehen wir nach Hause und nehmen vorlieb +mit dem, was uns die Hausfrau zum Taufschmaus beschert hat.« Der +Bettler, den bis dahin noch niemand zu Gevatter gebeten hatte, erfüllte +mit Freuden die Bitte des Mannes, und ging mit ihm zur Kirche. Als sie +eben dort angekommen waren, fuhr eine prächtige Kutsche mit vier Pferden +vor, und eine junge vornehme Dame stieg aus. Der arme Mann dachte, hier +will ich zum letzten Male mein Glück versuchen, trat mit demüthigem +Gruße vor die Frau oder das Fräulein, was sie nun sein mochte, und +sagte: »Geehrtes Fräulein, oder was ihr sonst sein mögt! würdet ihr euch +nicht der Mühe unterziehen, bei meinem Kinde Gevatter zu stehen?« Das +Fräulein sagte zu.</p> + +<p>Als nun nach der Predigt das Kind zur Taufe gebracht wurde, verwunderten +sich Prediger und Gemeinde sehr darüber, daß ein armseliger Bettelmann +und eine stolze vornehme Dame zusammen bei dem Kinde Gevatter standen. +Das Kind erhielt in der Taufe den Namen Pärtel. Die reiche Pathe +bezahlte das Taufgeld und machte noch ein Pathengeschenk von drei +Rubeln, worüber der Vater des Kindes höchlich erfreut war. Der Bettler +ging dann mit zum Taufschmause. Ehe er am Abend fortging, nahm er ein in +einen kleinen Lappen gewickeltes Schächtelchen aus der Tasche, gab es +der Mutter des Kindes, und sagte: »Mein Pathengeschenk ist zwar +unbedeutend, aber verschmähet es dennoch nicht, vielleicht erwächst +eurem Söhnlein einmal Glück daraus. Ich hatte eine sehr kluge Tante, die +sich auf vielerlei Zauberkünste<span class='pagenum'><a name="Page_264" id="Page_264">[S 264]</a></span> verstand, die gab mir vor ihrem Tode +das Vogelei in diesem Schächtelchen, indem sie sagte: »Wenn dir einmal +etwas ganz Unerwartetes begegnet, was du niemals ahnden konntest, dann +entäußere dich dieses Eies; wenn es demjenigen zu Theil wird, für den es +bestimmt ist, so kann es ihm großes Glück bringen. Aber hüte das Ei wie +deinen Augapfel, damit es nicht zerbricht, denn die Glücksschale ist +zart.« Nun ist mir bis auf den heutigen Tag, obwohl ich nahe an sechzig +Jahre alt bin, noch nichts so Unerwartetes begegnet, als daß ich heute +morgen zu Gevatter gebeten wurde, und es war gleich mein erster Gedanke: +Du mußt dem Kinde das Ei zum Pathengeschenk geben.«</p> + +<p>Der kleine Pärtel gedieh vortrefflich, und wuchs seinen Eltern zur +Freude auf, bis er im Alter von zehn Jahren in ein anderes Dorf zu einem +wohlhabenden Wirthe als Hüterknabe kam. Alle im Hause waren mit dem +Hüterknaben sehr zufrieden, da er ein frommer stiller Bursche war, der +seiner Brotherrschaft niemals Verdruß machte. Die Mutter hatte ihm beim +Abschied das Pathengeschenk in die Tasche gesteckt, und ihm empfohlen, +es sorgsamlich zu hüten, wie seinen Augapfel, was Pärtel auch befolgte. +Auf dem Weideplatz stand ein alter Lindenbaum, und unter diesem lag ein +großer Kieselstein; diesen Ort hatte der Knabe sehr lieb, so daß den +Sommer über kein Tag verging, an dem er nicht unter der Linde auf dem +Steine gesessen hätte. Auf diesem Steine verzehrte er auch gewöhnlich +das Brot, welches ihm alle Morgen mitgegeben wurde, und seinen Durst +stillte eine kleine Quelle in der Nähe des Steines. Mit den anderen<span class='pagenum'><a name="Page_265" id="Page_265">[S 265]</a></span> +Hirtenknaben, die viel Muthwillen trieben, hielt Pärtel keine +Freundschaft. Wunderbar war es, daß ringsum nirgends so schönes Gras +anzutreffen war, als zwischen dem Stein und der Quelle; obwohl die Herde +jeden Tag hier weidete, so hatte doch am andern Morgen der Rasen mehr +das Ansehen einer geschonten Wiese als das einer Weide.</p> + +<p>Wenn Pärtel zuweilen an einem heißen Tage auf dem Steine ein wenig +einschlummerte, so erfreuten ihn jedesmal wunderbare Träume, und noch +beim Erwachen klangen ihm Spiel und Gesang in den Ohren, so daß er mit +offenen Augen weiter träumte. Der Stein war ihm wie ein theurer Freund, +von dem er täglich mit schwerem Herzen schied, und zu dem er den andern +Morgen voll Sehnsucht zurückeilte. So war Pärtel funfzehn Jahre alt +geworden, und sollte nun nicht länger mehr Hüterknabe bleiben. Der Wirth +nahm ihn zum Knecht, ohne ihm jedoch schwerere Arbeit aufzulegen, als er +zu leisten vermochte. Am Sonntage oder an Sommerabenden, wenn die +anderen Bursche mit den Dirnen schäkerten, gesellte sich Pärtel nicht zu +ihnen, sondern ging still sinnend auf den Weideplatz an seinen lieben +Lindenbaum, unter welchem er nicht selten die halbe Nacht zubrachte. So +saß er einmal wieder an einem Sonntag Abend auf dem Steine und schlug +die Maultrommel, da kroch eine milchweiße Schlange unter dem Steine +hervor, hob den Kopf, als wollte sie zuhören, und blickte den Pärtel mit +ihren klaren Augen an, die wie feurige Funken glänzten. Dies wiederholte +sich in der Folge, weßhalb Pärtel, sobald er nur freie Zeit hatte, immer +nach seinem Steine eilte, um<span class='pagenum'><a name="Page_266" id="Page_266">[S 266]</a></span> die schöne weiße Schlange zu sehen, die +sich zuletzt so an ihn gewöhnt hatte, daß sie sich oftmals um seine +Beine wand.</p> + +<p>Pärtel war nun in das Jünglingsalter getreten, seine beide Eltern waren +gestorben, und seine Brüder und Schwestern lebten alle weit entfernt, so +daß sie nicht viel von einander hörten, geschweige denn einander sahen. +Aber lieber als Brüder und Schwestern war ihm die weiße Schlange +geworden; bei Tage waren seine Gedanken auf sie gerichtet, und fast jede +Nacht träumte er von ihr. Deßhalb wurde ihm die Winterzeit sehr lange, +wo tiefer Schnee lag und der Boden gefroren war. Als im Frühling die +Sonnenstrahlen den Schnee geschmolzen und den Boden aufgethaut hatten, +war Pärtels erster Gang wieder zum Steine unter der Linde, obwohl noch +kein Blättchen am Baume zu sehen war. O die Freude! Sobald er seine +Sehnsucht in den Tönen der Maultrommel ausgehaucht hatte, kroch die +weiße Schlange unter dem Stein hervor und spielte zu seinen Füßen, aber +dem Pärtel schien es heute, als wenn die Schlange Thränen vergossen +hätte, und das that seinem Herzen weh. Er ließ nun keinen Abend mehr +hingehen, ohne zum Steine zu kommen, und die Schlange wurde immer +dreister, so daß sie sich schon streicheln ließ, aber wenn Pärtel sie +festhalten wollte, schlüpfte sie ihm durch die Finger und kroch wieder +unter den Stein.</p> + +<p>Am Abend des Johannistages, da alle Dorfbewohner, alt und jung, mit +einander zum Johannisfeuer gingen, durfte doch auch Pärtel nicht +zurückbleiben, obwohl sein Herz ihn auf einen andern Weg lockte. Aber +mitten in<span class='pagenum'><a name="Page_267" id="Page_267">[S 267]</a></span> der Lustbarkeit, als die andern sangen, tanzten und andere +Kurzweil trieben, schlich er sich von ihnen fort zum Lindenbaum, denn +das war der einzige Ort, wo sein Herz Ruhe fand. Als er näher kam, +glänzte ihm vom Steine her ein helles kleines Feuer entgegen, was ihn +sehr in Verwunderung setzte, da, so viel er wußte, Menschen sich um +diese Zeit dort nicht aufhielten. Als er ankam, war das Feuer erloschen, +und hatte weder Asche noch Funken zurückgelassen. Er setzte sich auf den +Stein und fing an, wie gewöhnlich, die Maultrommel zu rühren. Mit einem +Male tauchte das Feuer wieder auf, und es war nichts anderes als das +funkelnde Augenpaar der weißen Schlange. Diese spielte wieder zu seinen +Füßen, ließ sich streicheln, und sah ihn so durchdringend an, als wollte +sie sprechen. Mitternacht konnte nicht weit sein, als die Schlange unter +den Stein in ihr Nest schlüpfte, und auch auf Bartels Spiel nicht wieder +zum Vorschein kam. Als er sein Instrument vom Munde nahm, in die Tasche +steckte, und sich anschickte, nach Hause zu gehen, da säuselte das Laub +der Linde im Hauch des Windes so wunderbar, daß es wie eine +Menschenstimme an sein Ohr schlug, und er mehrmals die Worte zu hören +glaubte:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Zarte Schale hat das Glücksei,<br /></span> +<span class="i0">Zähen Kernes ist die Trübsal;<a name="FNanchor_83_83" id="FNanchor_83_83"></a><a href="#Footnote_83_83" class="fnanchor">[83]</a><br /></span> +<span class="i0">Zaudre nicht das Glück zu haschen.«<br /></span> +</div></div> + +<p>Da fühlte er ein so schmerzliches Verlangen, daß ihm das Herz zu brechen +drohte, und doch wußte er selber<span class='pagenum'><a name="Page_268" id="Page_268">[S 268]</a></span> nicht, wonach er sich sehnte. Bittre +Thränen rannen ihm von den Wangen, und er klagte: »Was hilft mir +Unglücklichem das Glücksei, da mir auf dieser Welt doch kein Glück +beschieden ist! Von klein auf fühle ich, daß ich für die Menschen nicht +passe, sie verstehen mich nicht, und ich sie nicht: was ihnen Freude +macht, das schafft mir Qual, was mich aber glücklich machen könnte, das +weiß ich selbst nicht, wie sollten es Andere wissen. Der Reichthum und +die Armuth haben beide bei mir zu Gevatter gestanden, darum habe ich +auch zu nichts Rechtem kommen können.« Da wurde es plötzlich so hell um +ihn her, als ob Linde und Stein von der vollen Sonne beschienen würden, +so daß er eine Weile die Augen nicht öffnen konnte, sondern sich erst an +die Helligkeit gewöhnen mußte. Da sah er neben sich auf dem Steine ein +schönes Frauenbild stehen, in schneeweißen Kleidern, wie wenn ein Engel +vom Himmel herunter gestiegen wäre. Aus dem Munde der Jungfrau aber +tönte eine Stimme, die ihm süßer klang, als der Gesang der Nachtigall, +und die Stimme sprach: »Lieber Jüngling, fürchte dich nicht, sondern +erhöre die Bitte eines unglücklichen Mädchens! Ich Arme lebe in einem +trübseligen Kerker, und wenn du dich meiner nicht erbarmst, so habe ich +nimmer Hoffnung auf Erlösung. O, lieber Jüngling, habe Mitleid mit mir, +und weise mich nicht ab. Ich bin eines mächtigen Königs Tochter aus dem +Ostlande, unendlich reich an Gold und Schätzen, aber das kann mir nichts +helfen, weil ein Zauber mich zwang, in Gestalt einer Schlange hier unter +dem Felsen zu leben, wo ich schon viele hundert Jahre weile, ohne je +älter zu werden. Obwohl ich noch<span class='pagenum'><a name="Page_269" id="Page_269">[S 269]</a></span> nie einem Menschenkinde Böses zugefügt +habe, so fliehen doch Alle vor meiner Gestalt, so wie sie mich +erblicken. Du bist das einzige lebende Wesen, das meine Annäherung nicht +scheute; ja, ich durfte zu deinen Füßen spielen, und deine Hand hat mich +oftmals freundlich gestreichelt. Darum erwachte in meinem Herzen die +Hoffnung, daß du mein Retter werden könntest. Dein Herz ist rein, wie +das eines Kindes, in welchem Lug und Trug noch nicht wohnen. Auch trifft +bei dir Alles zu, was zu meiner Rettung erforderlich ist: eine vornehme +Dame und ein Bettler standen zusammen Gevatter bei dir, und das Glücksei +wurde dein Pathengeschenk. Nur einmal nach je fünf und zwanzig Jahren in +der Johannisnacht ist es mir vergönnt, in Menschengestalt eine Stunde +lang auf der Erde zu wandeln, und wenn dann ein Jüngling reinen Herzens, +der diese besonderen Gaben besitzt, kommen und meine Bitte erhören +würde, so könnte ich aus meiner langen Gefangenschaft erlöst werden. +Rette, o rette mich aus der endlosen Kerkerhaft, ich bitte dich in aller +Engel Namen.« So sprechend fiel sie dem Pärtel zu Füßen, umfaßte seine +Knie und weinte bitterlich.</p> + +<p>Dem Pärtel schmolz das Herz bei diesem Anblick und bei dieser Rede, er +bat die Jungfrau aufzustehen und ihm zu sagen, wie die Rettung möglich +sei. »Ich würde ja ohne Zögern durch Feuer und Wasser gehen,« sagte er, +»wenn dadurch deine Rettung möglich würde, und hätte ich zehn Leben zu +verlieren, ich würde sie alle für deine Rettung hingeben! Eine nie +gekannte Sehnsucht läßt mir keine Ruhe mehr, aber wonach ich mich sehne, +weiß ich selbst nicht.«<span class='pagenum'><a name="Page_270" id="Page_270">[S 270]</a></span></p> + +<p>Die Jungfrau sagte: »Komm morgen Abend gegen Sonnenuntergang wieder +hierher, und wenn ich dir dann als Schlange entgegen komme, und mich wie +einen Gürtel um deinen Leib winde, und dich dreimal küsse, so erschrick +nicht, und bebe nicht zurück, sonst muß ich wieder weiter seufzen unter +dem Fluche der Verzauberung, und wer weiß auf wie viel hundert Jahre.« +Mit diesen Worten war die Jungfrau den Blicken des Jünglings +entschwunden, und wieder säuselte es aus dem Laube der Linde:</p> + +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Zarte Schale hat das Glücksei,<br /></span> +<span class="i0">Zähen Kernes ist die Trübsal;<br /></span> +<span class="i0">Zaudre nicht das Glück zu haschen!«<br /></span> +</div></div> + +<p>Pärtel war nach Hause gekommen und hatte sich vor Tages Anbruch schlafen +gelegt, aber wunderbar bunte Träume, theils freundliche, theils +häßliche, scheuchten die Ruhe von seinem Lager. Mit einem Schrei sprang +er auf, weil ein Traum ihm vorgespiegelt hatte, daß die weiße Schlange +sich um seine Brust schlang und ihn erstickte. Zwar achtete er nicht +weiter auf dieses Schreckbild, vielmehr war er fest entschlossen, die +Königstochter aus den Banden der Verzauberung zu erlösen, und wenn er +selber darüber zu Grunde gehen sollte — aber dennoch wurde ihm das Herz +immer schwerer, je näher die Sonne dem Horizonte kam. Zur festgesetzten +Zeit stand er am Steine unter der Linde, und blickte seufzend zum Himmel +empor, den er um Muth und Kraft anflehte, damit er nicht vor Schwäche +zittere, wenn sich die Schlange um seinen Leib winden und ihn küssen +werde. Da fiel ihm plötzlich das Glücksei ein; er zog das Schächtelchen +aus<span class='pagenum'><a name="Page_271" id="Page_271">[S 271]</a></span> der Tasche, wickelte es los, und nahm das kleine Ei, das nicht +größer war, als das Ei einer Grasmücke, zwischen die Finger.</p> + +<p>In demselben Augenblicke war die schneeweiße Schlange unter dem Steine +hervorgeschlüpft, hatte sich um seinen Leib gewunden, und richtete eben +ihren Kopf empor, um ihn zu küssen, da — der Mann wußte selbst nicht +wie es geschah — hatte er der Schlange das Glücksei in den Mund +gesteckt. Er stand, ob auch mit frierendem Herzen, ohne zu beben, bis +die Schlange ihn dreimal geküßt hatte. Jetzt erfolgte ein Krachen und +Leuchten, als hätte der Blitz in den Stein geschlagen, und schwerer +Donner machte die Erde erzittern, so daß Pärtel wie todt zu Boden fiel, +und nicht mehr wußte, was mit ihm oder um ihn her geschah.</p> + +<p>Aber in diesem furchtbaren Augenblicke waren die Bande des Zaubers +gebrochen, und die königliche Jungfrau war aus ihrer langen Haft erlöst. +Als Pärtel aus seiner schweren Ohnmacht erwachte, fand er sich auf +weichen Seidenkissen, in einem prächtigen Glasgemach von himmelblauer +Farbe. Das schöne Mädchen kniete vor seinem Bette, streichelte seine +Wangen, und rief, als er die Augen aufschlug: »Dank dem himmlischen +Vater, der mein Gebet erhört hat! und tausend, tausend Dank auch dir, +theurer Jüngling, der du mich aus der langen Verzauberung erlöst hast. +Nimm jetzt zum Lohne mein Reich, dieses prachtvolle Königsschloß mit +allen seinen Schätzen, und wenn du willst, auch mich als Gemahlin mit in +den Kauf. Du sollst fortan hier glücklich leben, wie es dem Herrn des +Glücksei's gebührt. Bis heute war dein Loos<span class='pagenum'><a name="Page_272" id="Page_272">[S 272]</a></span> wie das deines <em class="gesperrt">Taufvaters</em>, +jetzt harrt deiner ein besseres Loos, ein solches, wie es deiner +<em class="gesperrt">Taufmutter</em> zugefallen war.«</p> + +<p>Pärtel's Glück und Freude vermöchte wohl Niemand zu schildern; alle +unbegriffene Sehnsucht seines Herzens, die ihn ruhelos immer wieder +unter die Linde trieb, war jetzt gestillt. Von der Welt geschieden lebte +er mit seiner theuren Gemahlin im Schooße des Glückes bis an sein Ende. +— In dem Dorfe aber und auf dem Bauerhofe, wo er gedient hatte, und wo +man ihn um seines frommen Wesens willen lieb hatte, erregte sein +Verschwinden große Betrübniß. Darum machten sich Alle auf, ihn zu +suchen, und ihr erster Gang war zur Linde, welche Pärtel so häufig zu +besuchen pflegte, und wohin man ihn auch Abends zuvor noch hatte gehen +sehn. Groß war das Erstaunen der Leute, als sie dort weder den Pärtel, +noch die Linde, noch den Stein mehr vorfanden; auch die kleine Quelle in +der Nähe war vertrocknet, und keines Menschen Auge hat selbige Dinge +jemals wieder erblickt.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_273" id="Page_273">[S 273]</a></span></p> +<h2>20. Der Frauenmörder.</h2> + + +<p>Es lebte einmal ein reicher hochadliger Gutsherr, unter dessen +Botmäßigkeit ausgedehnte Gebiete, Landgüter und eine Unzahl von Leuten +standen. Seinen Wohnsitz hatte er auf einem einsamen festen Schlosse, +das hinter Wäldern und Sümpfen versteckt lag wie eine Bärenhöhle, und +rings mit Mauern und Gräben umgeben war, so daß Feinde nicht leicht +eindringen konnten. Man meinte, der große Herr habe den einsamen Ort +deßwegen zu seinem Wohnsitz gewählt, damit seine unermeßliche Habe den +Leuten nicht in die Augen steche und ihre Habsucht reize. Es sollten da +nämlich große Felsenkeller mit Gold und Silber angefüllt sein, womit der +Besitzer, wenn er gewollt hätte, ganze Königreiche hätte kaufen können. +An Geld und Schätzen hatte er also Ueberfluß, aber mit seinen Frauen +hatte er kein Glück. Sie starben ihm alle binnen kurzer Frist, eine nach +der andern; doch hielt sich der Wittwer nie mit langem Trauern auf, +sondern ritt jedesmal ohne Zeitverlust von neuem auf die Freite. Obschon +er noch im mittleren Mannesalter stand, sollte er doch schon eilf Frauen +auf der Bahre gesehen haben, als<span class='pagenum'><a name="Page_274" id="Page_274">[S 274]</a></span> er auszog, um die zwölfte zu freien. +Man weiß, daß es einem reichen Manne nie schwer wird, zu einer Frau zu +kommen, denn mit dem Goldnetze kann man die Mädchen zu Dutzenden fangen. +Trotzdem stellten sich unserem reichen Freier, als er jetzt die zwölfte +Frau nehmen wollte, Hindernisse in den Weg, so daß er wie ein geringer +Mann an mancher Thüre anklopfen mußte, ehe er eine Braut unter die Haube +bringen konnte. Das rasche Wegsterben seiner vielen Frauen hatte den +jungen Damen der Umgegend Schrecken eingeflößt; es konnte doch wohl +nicht mit rechten Dingen zugehen, daß die jungen blühenden Frauen so +rasch dahin welkten. Ein Geheimniß mußte hier obwalten — aber es blieb +Allen ein Räthsel.</p> + +<p>Als nun der stolze reiche Freier lange Zeit vergebliche Wege gemacht +hatte, beschloß er endlich, sein Glück auf einem Edelhofe zu versuchen, +wo ein armer Edelmann mit seinen drei blühenden Töchtern lebte. Sie +waren alle drei schön und glichen köstlichen Aepfeln, aber die jüngste +überstrahlte die beiden andern, so daß sie recht gut auch die Gemahlin +eines Königs hätte werden können. Der vornehme Freier hatte sein Auge +alsbald auf das jüngste Fräulein geworfen; zwar schien des Fräuleins +Herz anfangs kalt gegen ihn zu sein, aber seine reichen Geschenke, +seidene Kleider, goldene Ketten und sonstiger Schmuck, übten eine so +erwärmende Wirkung, daß es dem Vater und den beiden Schwestern gelang, +das Mädchen zu überreden. Der Vater hoffte an dem reichen Schwiegersohne +eine Stütze zu finden, und auch die Töchter erwarteten, daß ihnen der +Schwager nützlich sein werde, der schon versprochen hatte, ihnen auf +seine Kosten prächtige<span class='pagenum'><a name="Page_275" id="Page_275">[S 275]</a></span> Hochzeitskleider machen zu lassen. Da die +Schwestern sich sehr lieb hatten, so waren die älteren nicht im +mindesten neidisch darüber, daß die jüngste zuerst heirathen sollte. Der +Bräutigam hatte seinen künftigen Schwiegervater darum gebeten, die +Hochzeit nicht auszurichten, da er sie auf seinem Schlosse zu feiern und +alle Kosten selbst zu tragen wünsche.</p> + +<p>So weit war es mit der Werbung gut gegangen, und der Bräutigam war schon +wieder abgereist, um sein Haus für die Hochzeit herzurichten, und hatte +auch schon den Tag für die Hochzeit angesetzt. Da ereignete sich ein +Vorfall, der dem alten Herrn Verdruß bereitete, und das Herz der Braut +mit Betrübniß erfüllte. Auf dem Edelhofe lebte ein armer Knabe, den die +Herrschaft nach dem Tode seiner Eltern, als er erst zwei Jahr alt war, +zu sich genommen hatte; man hatte ihn später zum Gänsejungen gebraucht, +seit länger als einem Jahre aber war er Aufwärter. Die Gutsleute nannten +ihn immer noch den Gänse-Tönnis. Er war ein halbes Jahr jünger als das +jüngste Fräulein, und hatte als Kind mit ihr gespielt; dadurch war eine +Freundschaft zwischen ihnen entstanden, und das Fräulein war immer sehr +liebreich gegen den Tönnis gewesen. Tönnis verehrte auf der ganzen Welt +kein lebendes Wesen so sehr, wie sein theures Fräulein. Was er dem +Fräulein nur an den Augen absehen konnte, das that er ungeheißen, und er +wäre ohne Zagen durch Feuer und Wasser gegangen, wenn das Fräulein es +befohlen hätte. Als er hörte, daß das Fräulein sich mit einem Wittwer +vermählen würde, erschrack er so heftig, daß er verzweifeln wollte; +mehrere Tage nahm er keine<span class='pagenum'><a name="Page_276" id="Page_276">[S 276]</a></span> Nahrung zu sich, noch kam Nachts Schlaf in +sein Auge. Er ging umher wie eine wandelnde Leiche, und Alle glaubten, +daß er schwer krank sei. Als Tönnis den Bräutigam zum erstenmal gesehen +hatte, war ihm dieser Anblick wie ein schneidendes Schwert durchs Herz +gegangen. »Mein theures Fräulein rennt in ihr Verderben,« dachte er. Er +wartete jetzt immer nur auf einen Augenblick, wo er mit dem Fräulein +sprechen könnte. Als sie nun eines Tages in den Gemüsegarten gegangen +war, trat ihr Tönnis demüthig entgegen: »Gnädiges theures Fräulein, +höret auf meine Bitte! Werdet nicht die Gattin eines Mörders, der euch +ebenso umbringen würde, wie die eilf, die ihn vor euch geheirathet +haben.« Das Fräulein erschrack, als sie diese Rede hörte, und fragte, +woher er denn wissen könne, daß die früheren Frauen dieses Herrn einen +gewaltsamen Tod gefunden. Tönnis antwortete: »Mein Herz sagte es mir, +als ich den Bräutigam zum erstenmale erblickte, und mein Herz hat mich +noch niemals betrogen.« Als das Fräulein ihren Schwestern und ihrem +Vater erzählte, was sie vernommen, gerieth der alte Herr in so heftigen +Zorn, daß er drohte, den Tönnis halb todt zu schlagen, und dann mit den +Hunden vom Hofe jagen zu lassen. Wer weiß, ob er die Drohung nicht +ausgeführt hätte, wenn die Fräulein sich nicht mit Bitten dazwischen +gelegt und sich bemüht hätten, seinen Zorn zu besänftigen. Die Fräulein +sagten: »Der Bursche hat es ja doch nicht böse gemeint, vielmehr wünscht +er uns nur Gutes.« Nach einigen Tagen ließ der alte Herr den Tönnis +rufen, schalt ihn wegen seines thörichten Geschwätzes und sagte endlich: +»Wenn du dem Fräulein noch einmal<span class='pagenum'><a name="Page_277" id="Page_277">[S 277]</a></span> mit solchem leeren Gerede in den +Ohren liegst, so lasse ich dich wie einen tollen Hund niederschießen.« +Um seine Töchter zu beruhigen, sagte ihnen der alte Herr, daß der Tönnis +durch eine Krankheit schwachsinnig geworden sei. Gleichwohl waren im +Herzen des jüngsten Fräuleins Zweifel aufgestiegen, und sie hätte sich +gern von ihrem Bräutigam losgemacht, wenn sich nur irgend eine +Möglichkeit gezeigt hätte. Aber Vater und Schwestern widersetzten sich +diesem Vorhaben einmüthig, indem sie sagten: »Stoße dein Glück nicht +leichtsinnig von dir. Du wirst eines reichen Mannes Frau, wirst dort ein +Leben haben wie im Himmel, und auch uns helfen können.« Je näher der +Hochzeitstag heranrückte, desto schwerer wurde dem Fräulein das Herz, +ihr schmeckte kein Essen mehr und kein Schlaf kam Nachts in ihr Auge. +Endlich ließ sie eines Tages heimlich den Tönnis rufen, und fragte ihn, +was sie thun solle, da der alte Herr von einem Zurücktreten durchaus +nichts wissen wolle. Darauf antwortete Tönnis mit der Bitte, ihn +mitzunehmen: »So lange ich euch nahe bin,« — sagte er, — »soll Niemand +es wagen, Hand an euch zu legen.« Darauf bat das Fräulein ihren Vater um +Erlaubniß, den Tönnis mitzunehmen. »Meinethalben,« — sagte der alte +Herr, — »wenn dein Bräutigam nichts dagegen einzuwenden hat.« Der +Bräutigam verzog zwar ein wenig das Gesicht, als er den Wunsch seiner +Braut vernahm, aber da er die Braut nicht fahren lassen wollte, so mußte +er ihrem Begehren willfahren.</p> + +<p>Der Hochzeitstag wurde im Hause des Bräutigams mit Jubel und großer +Pracht begangen, über eine Woche<span class='pagenum'><a name="Page_278" id="Page_278">[S 278]</a></span> blieben sämmtliche Hochzeitsgäste, und +jeder mußte, als er heimkehrte, bekennen, daß er in seinem Leben noch +keine schönere Hochzeit gesehen habe. Der Schwiegervater und die +Schwägerinnen blieben noch einige Wochen länger, und führten ein Leben +wie im Himmel. Beim Abschiede hatte ihnen der Schwiegersohn noch viele +kostbare Geschenke mitgegeben, und das junge Paar war allein auf dem +stolzen Edelhofe zurückgeblieben.</p> + +<p>Einige Wochen später sagte der Herr zu seiner Gemahlin: »Ich muß nun, +mein Herzchen, auf drei Wochen verreisen, um meine entlegeneren Güter +und Besitzungen zu besichtigen, deßhalb habe ich eine Botschaft nach dem +Hause deines Vaters abgefertigt, um eine deiner Schwestern +herzubescheiden, die dir Gesellschaft leisten soll, bis ich wiederkomme. +Die Schwester kann heute Abend oder morgen Mittag hier eintreffen. +Während meiner Abwesenheit wird hier das Ganze unter deiner Leitung +stehen, sorge dafür, daß Alles so fortgeht, wie ich es angeordnet habe. +Hier sind meine Schlüssel, vertraue sie Niemanden an; du selbst hast +überall Zutritt. Nur in diesem Kästchen hier liegt ein einzelner +goldener Schlüssel; in dasjenige Zimmer, welches er aufschließt, darfst +du deinen Fuß nicht setzen, noch auch die Thür öffnen, um hineinzusehen. +Ich bitte dich, Liebchen, hüte dich vor solchem Vorwitz, denn dein und +mein Glück würde zerstört, sobald du mein Verbot übertrittst. Solltest +du absichtlich oder von ungefähr die verbotene Kammer betreten — und +mir würde das nicht unbekannt bleiben —, so müßte ich dir mit eigener +Hand das Haupt vom Rumpfe abschlagen.« Die Frau weigerte sich, den +unheimlichen Schlüssel in<span class='pagenum'><a name="Page_279" id="Page_279">[S 279]</a></span> Verwahrung zu nehmen, aber der Herr ließ +nicht ab, sondern drang so lange in sie, bis sie den goldenen Schlüssel +empfing. Beim Abschiede sprach sie noch zum Schloßherrn: »Meinetwegen +kannst du unbesorgt sein, ich will deine Geheimnisse nicht sehen, wenn +du sie mir nicht selbst zeigen magst.«</p> + +<p>Am Tage nach der Abreise des Herrn traf die mittlere Schwester ein, um +der jungen Frau die Zeit zu vertreiben. Die Schwestern unterhielten +sich, und scherzten mit einander, und manches Mal kam auch die Rede +darauf, daß des Tönnis böse Ahnung ihnen ganz unnütze Angst eingeflößt +habe. Dennoch wurde die junge Frau wieder unruhiger, als ihr eines +Morgens gemeldet wurde, daß Tönnis in der Nacht verschwunden sei, und +Niemand wisse, wo er hingekommen. Den Abend zuvor hatte er zur Frau +gesagt: »Ich weiß nicht, wie es kommt, daß ich euretwegen in schwerer +Sorge bin, es könne euch irgend ein Unglück zustoßen. Jede Nacht träume +ich von euch, wie wenn ein böser Mensch hinter euch steht, der euch das +Garaus machen will. Und des Morgens weckt mich gewöhnlich ein häßlicher +Traum, wo ihr mit blutigem Kopfe vor meinem Bette steht.« Die Frau hatte +sich jeder Besorgniß vor diesen Träumen als einer leeren Furcht zu +erwehren gesucht, aber als sie des Burschen Verschwinden erfuhr, fiel +ihr dessen Rede von gestern Abend doch schwer auf's Herz. Sie schickte +Leute nach allen Richtungen aus, um ihn aufzusuchen; die Leute kehrten +am Abend zurück, aber keiner von ihnen hatte eine Spur des +Verschwundenen gefunden. Der Frau kam es vor, als wäre mit Tönnis ihr +bester Beschützer und ihr treuester Freund<span class='pagenum'><a name="Page_280" id="Page_280">[S 280]</a></span> von ihr geschieden. Wiewohl +das Fräulein sich auf alle Weise bemühte, den Kummer der Schwester zu +mildern, so fand die arme Frau doch keinen Trost.</p> + +<p>Eines Tages wollte sie ihrer Schwester alle Räume und Schatzkammern des +Schlosses zeigen, sie gingen von einem Gemach zum andern, musterten +Alles, und befriedigten ihre Schaulust. Zuletzt kamen sie auch vor die +Thür, welche der goldene Schlüssel öffnete, allein das war die Kammer, +welche die Frau nicht betreten durfte —sollte sie doch nicht einmal an +der Schwelle nach den Geheimnissen dieser Kammer spähen. Das Fräulein +hatte große Lust, sich diese geheimnißvolle Kammer anzusehen, und bat +ihre Schwester, die Thür aufzuschließen. Die Frau mochte wohl kein +geringeres Verlangen danach empfinden, allein sie rief sich das Verbot +ihres Gemahls in's Gedächtniß zurück, und sagte, es sei ihr nicht +erlaubt, diese Kammer zu betreten. Die Schwester spottete ihrer Furcht: +»Schlüssel und Schloß« — meinte sie — »haben keine Zunge, mit der sie +dem Herrn verrathen könnten, daß sich Jemand ihrer bedient hat. Was kann +hier auch weiter versteckt sein, als allerlei Kostbarkeiten, die er dir, +wer weiß aus welcher Laune, nicht zeigen will. Wenn die Männer aus Laune +vor ihren Frauen etwas verbergen, so dürfen auch die Frauen aus Laune +dem Verbote der Männer zuwider handeln. Wenn du dich fürchtest zu +öffnen, so gieb mir den Schlüssel, ich werde dir die Thür aufschließen.« +Obwohl die Frau sich mit dem Munde noch gegen das Verlangen der +Schwester sträubte, so war sie doch im Herzen schon längst eines Sinnes +mit ihr. Sie nahm den Schlüssel aus dem Kästchen und steckte ihn<span class='pagenum'><a name="Page_281" id="Page_281">[S 281]</a></span> in's +Schloß. Noch ehe sie Zeit gehabt hatte, den Schlüssel im Schlosse +umzudrehen, sprang die Thür mit großem Geräusch auf, wobei Zauberkünste +im Spiele gewesen sein mußten. Aber wer vermöchte das Entsetzen zu +beschreiben, welches jetzt die Beiden überfiel, als ihr Blick über die +Schwelle in das Innere der geheimnißvollen Kammer drang. In der Mitte +derselben stand ein Eichenblock, und auf diesem lag ein breites Beil; +der ganze Fußboden war mit geronnenem Blute bedeckt! Was aber das +Gräßlichste war, und den letzten Blutstropfen in ihren Herzen erstarren +machte: hinten an der Wand standen in einer Reihe auf einem langen +Tische die blutigen Köpfe der früheren eilf Frauen! Diese unglücklichen +Geschöpfe hatten alle in dieser Mordkammer den Tod gefunden +—wahrscheinlich weil auch sie in ihrem Vorwitze des Mannes Verbot +übertreten hatten.</p> + +<p>Derselbe gräßliche Tod drohte auch jetzt der zwölften Frau, denn sie +sagte sich sogleich, daß der teuflische Mann, der die andern umgebracht +habe, ihr auch keine Barmherzigkeit schenken werde. Schon sah sie ihren +Hals auf dem blutigen Blocke, fühlte die Schneide des Beils in ihrem +Nacken, als sie voll Entsetzen über die Schwelle zurückschwankte. Den +Schlüssel hatte sie beim Einstecken auf den Boden fallen lassen; als sie +ihn jetzt aufhob, fand sie blutige Rostflecken daran, die kein Wischen +und kein Scheuern vertilgen konnte. Als sie dann versuchten, die Thür +zuzuschließen, fanden sie es unmöglich; die Thür klaffte eine Hand breit +auseinander, als ob zwischen Thür und Pfosten ein unsichtbarer Keil sich +befände. Jetzt fehlte es nicht an Jammer und Reue, aber was konnte es<span class='pagenum'><a name="Page_282" id="Page_282">[S 282]</a></span> +fruchten? Zum Glück hatten sie noch eine Woche bis zur Rückkehr des +Herrn, während dieser Frist wollten sie auf Mittel sinnen, die Sache wo +möglich wieder gut zu machen.</p> + +<p>Schlaflos verging den Schwestern die Nacht; so oft ihnen die Augen +zufielen, stand gleich der blutige Block mit dem Beile wieder vor ihnen, +und scheuchte allen Schlummer. Am Morgen trat die Kammerjungfer bei der +Frau ein und meldete, der Herr halte schon vor der Pforte. Die Frau +erbebte am ganzen Leibe, und war unfähig, sich von ihrem Sitze zu +erheben. Kaum war der Herr vom Pferde gestiegen, so fragte er nach der +Frau, und ging rasch die Treppe hinauf. Als er in's Zimmer trat, +brannten seine Augen wie zwei Feuer; die vor Angst erbleichende Frau +wollte aufstehen, sank aber wieder auf ihren Stuhl zurück. Der Herr sah +augenblicklich, was hier vorgegangen war, und fragte, wo der goldene +Schlüssel sei. Mit zitternder Hand zog die Frau das Kästchen aus ihrer +Tasche, und überreichte es dem Herrn, der beim Oeffnen sogleich die +Rostflecke am Schlüssel fand. Da schwoll sein Gesicht blauroth an, und +seine Augen rollten wie Feuerräder, so daß die Frau ihn nicht ansehen +konnte. »Ruchloses Geschöpf!« — schrie er mit fürchterlicher Stimme — +»du mußt ohne Gnade von meiner Hand sterben, weil du mein Gebot +übertreten hast. Gott im Himmel mag dir vergeben, ich kann deinen +Vorwitz nicht ungestraft lassen. Hatte ich dir doch das Regiment und +alle meine Habe anvertraut, und du hast mich betrogen! Mit den +Reichthümern, die ich dir gegeben, konntest du wie eine Königin in Glück +und Freude<span class='pagenum'><a name="Page_283" id="Page_283">[S 283]</a></span> leben! Warum hast du mein Gebot übertreten?! Bereite dich +zum Tode, denn deine Tage sind zu Ende!«</p> + +<p>Die Frau versuchte einige Worte zu ihrer Entschuldigung vorzubringen, +aber der Herr tobte noch ärger: »Bereite dich zum Tode, denn deine +Augenblicke sind gezählt!« Die Schwester der Frau hatte sich gleich, als +der Lärm begann, geflüchtet, und wagte nicht mehr sich zu zeigen, denn +sie war bange, sich ebenfalls den Tod zuzuziehen. Die Frau fiel vor dem +Herrn auf die Knie, betete zu Gott, und versuchte dazwischen wieder +ihres Gatten Herz zu erweichen.</p> + +<p>»Des Geschwätzes ist genug!« schrie der Herr. »Lege deinen Kopf auf den +Block!« Als die Frau diesem Befehle nicht gleich Folge leistete, +schleppte er sie bei den Haaren an den Block, drückte mit der linken +Hand den Kopf nieder und ergriff mit der rechten das Beil, um sie zu +tödten.</p> + +<p>Aber in demselben Augenblicke, wo er das Beil emporhob, fiel von hinten +ein schwerer Knüttel auf seinen Kopf, so daß ihm das Beil aus der Hand +fiel, und er selbst hinstürzte. In seiner Wuth hatte der Mörder nicht +bemerkt, daß ein Mann mit einem Knüttel hinter ihm her schritt, als er +die Frau in die Mordkammer schleppte. Dieser Mann war Tönnis. Die Frau +war vor Angst und Schrecken in Ohnmacht gefallen, so daß sie nichts mehr +von dem wußte, was um sie her vorging. Tönnis band dem Herrn Hände und +Füße mit starken Stricken, und als derselbe sich wieder von seiner +Betäubung erholte, konnte er sich nicht mehr los machen, und Niemanden +Böses zufügen. Dann eilte Tönnis der ohnmächtigen Frau zu Hülfe, die +erst nach einigen Stunden aus ihrer Ohnmacht erwachte.<span class='pagenum'><a name="Page_284" id="Page_284">[S 284]</a></span></p> + +<p>Jetzt setzte man das Gericht in Kenntniß, und schickte sogleich eine +Botschaft an den Vater der Frau, daß er her käme. Die Untersuchung +brachte an den Tag, daß der Mörder eilf Frauen umgebracht hatte, und +auch die letzte gemordet haben würde, wenn Tönnis nicht zu Hülfe +gekommen wäre; der Mörder wurde deshalb vor das peinliche Gericht +gestellt, und zum Tode verurtheilt. Da er keine näheren Verwandten +hatte, denen ein Erbrecht zustand, so wurden alle Edelhöfe und +Besitzungen der Wittwe zugesprochen; nur ein Theil des Vermögens wurde +unter die Armen vertheilt.</p> + +<p>Bei der reichen Wittwe meldeten sich Freier von allen Seiten, aber sie +heirathete keinen derselben, sondern nahm nach einem Jahre den Tönnis +zum Gemahl, und Beide führten ein glückliches Leben bis an ihr Ende.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_285" id="Page_285">[S 285]</a></span></p> +<h2>21. Der herzhafte Riegenaufseher.<a name="FNanchor_84_84" id="FNanchor_84_84"></a><a href="#Footnote_84_84" class="fnanchor">[84]</a></h2> + + +<p>Einmal lebte ein Riegenaufseher, der an Herzhaftigkeit nicht viele +seines Gleichen hatte. Von ihm hatte der »alte Bursche« selber gerühmt, +ein herzhafterer Mann sei ihm auf der ganzen Welt noch nicht +vorgekommen. Der Alte ging deßhalb häufig an den Abenden, wo die +Drescher nicht in der Scheune waren, zum Aufseher zu Gast, und unter +angenehmen Gesprächen wurde ihnen die Zeit niemals lang. Der alte +Bursche meinte zwar, der Aufseher kenne ihn nicht, sondern halte ihn für +einen einfachen Bauer, allein der Aufseher kannte ihn recht gut, wenn er +sich auch nichts merken ließ, und hatte sich vorgenommen, den (alten +Hörnerträger) Teufel wo möglich einmal über's Ohr zu hauen. Als der alte +Bursche eines Abends über sein Junggesellen-Leben klagte, und daß er +Niemanden habe, der ihm einen Strumpf stricke oder einen Handschuh nähe, +fragte der Aufseher: »Warum gehst du denn nicht auf<span class='pagenum'><a name="Page_286" id="Page_286">[S 286]</a></span> die Freite, +Brüderchen?« Der alte Bursche erwiederte: »Ich habe schon manchmal mein +Heil versucht, aber die Mädchen wollen mich nicht. Je jünger und +blühender sie waren, desto ärger spotteten sie meiner.« Der Aufseher +rieth ihm, um ältere Mädchen oder Wittwen zu freien, die viel eher kirre +zu machen seien, und nicht leicht einen Freier verschmähen würden. Nach +einigen Wochen heirathete denn auch der alte Bursche ein bejahrtes +Mädchen; es dauerte aber nicht gar lange, so kam er wieder zum +Riegenaufseher, ihm seine Noth zu klagen, daß die junge Frau voller +Tücke sei; sie lasse ihm weder bei Nacht noch bei Tage Ruhe, sondern +quäle ihn ohne Unterlaß. »Was bist du denn für ein Mann,« lachte der +Aufseher, »daß dein Weib die Hosen hat anziehen dürfen! Nahmst du einmal +ein Weib, so mußtest du auch deines Weibes Herr werden!« Der alte +Bursche erwiederte: »Ich werde mit ihr nicht fertig. Hole sie der und +jener, ich setze meinen Fuß nicht mehr in's Haus.« Der Riegenaufseher +suchte ihm Trost einzusprechen, und sagte, er solle sein Heil noch +einmal versuchen, aber der alte Bursche meinte, es sei an der ersten +Probe genug, und hatte nicht Lust, seinen Nacken zum zweiten Male in das +Joch eines Weibes zu legen.</p> + +<p>Im Herbste des nächsten Jahres, als das Dreschen wieder begonnen hatte, +machte der alte Bekannte dem Aufseher einen neuen Besuch. Der Aufseher +merkte gleich, daß dem Bauer etwas auf dem Herzen brannte, er fragte +aber nicht, sondern wollte abwarten, daß der Andere selber mit der Sache +herauskäme. Er erfuhr denn auch bald des alten Burschen Mißgeschick. Im +Sommer hatte<span class='pagenum'><a name="Page_287" id="Page_287">[S 287]</a></span> derselbe die Bekanntschaft einer jungen Wittwe gemacht, +die wie ein Täubchen girrte, so daß dem Männlein abermals +Freiersgedanken aufstiegen. Er heirathete sie auch, fand aber später, +daß sie der ärgste Hausdrache war, den es geben konnte, und daß sie ihm +gern die Augen aus dem Kopfe gerissen hätte, so daß er endlich seinem +Glücke dankte, als er sich von der bösen Sieben losgemacht hatte. Der +Riegenaufseher sagte: »Ich sehe wohl, daß du zum Ehemann nicht taugst, +denn du bist ein Hasenfuß, und verstehst nicht, ein Weib zu regieren.« +Darin mußte ihm denn der alte Bursche Recht geben. Nachdem sie dann noch +eine Weile über Weiber und Heirathen geplaudert hatten, sagte der alte +Bursche: »Wenn du denn wirklich ein so herzhafter Mann bist, daß du dir +getraust, den schlimmsten Höllendrachen unter dem Weibervolk zahm zu +machen, so will ich dir eine Bahn zeigen, auf welcher deine +Herzhaftigkeit bessern Lohn finden wird, als bei der Zähmung eines bösen +Weibes. Du kennst doch die Ruinen des alten Schlosses auf dem Berge? +dort liegt ein großer Schatz aus alten Zeiten, der noch Niemandem zu +Theil geworden ist, weil eben noch keiner Muth genug hatte, ihn zu +heben.« Der Riegenaufseher gab lachend zur Antwort: »Wenn hier nichts +weiter nöthig ist, als Muth, so habe ich den Schatz schon so gut wie in +der Tasche!« Darauf theilte der alte Bursche dem Aufseher mit, daß er in +künftiger Donnerstags-Nacht, wo der Mond voll werde, hingehen müsse, um +den vergrabenen Schatz zu heben, und fügte hinzu: »Hüte dich aber, daß +nicht die geringste Furcht dich anwandle, denn wenn dir das Herz bangen, +oder auch nur eine Faser an deinem Leibe zittern<span class='pagenum'><a name="Page_288" id="Page_288">[S 288]</a></span> sollte, so verlierst +du nicht nur den gehofften Schatz, sondern kannst auch dein Leben +einbüßen, wie viele Andere, die vor dir ihr Glück versuchten. Wenn du +mir nicht glaubst, so gehe nur in irgend einen Bauerhof und laß die +Leute erzählen, was sie über das Gemäuer des alten Schlosses gehört — +Manche auch wohl mit eigenen Augen gesehen haben. Noch einmal: wenn dir +dein Leben lieb ist, und du des Schatzes habhaft werden willst, so hüte +dich vor aller Furcht.«</p> + +<p>Am Morgen des bezeichneten Donnerstags machte sich der Riegenaufseher +auf den Weg, und obgleich er nicht die geringste Furcht empfand, so +kehrte er doch in der Dorfschenke ein, in der Hoffnung, dort auf +Menschen zu stoßen, die ihm Eins oder das Andere über die alten +Schloßmauern berichten könnten. Er fragte den Wirth, was das für alte +Mauern wären auf dem Berge, und ob die Leute noch etwas darüber wüßten, +wer sie aufgeführt, und wer sie dann wieder zerstört habe. Ein alter +Bauer, der die Frage des Riegenaufsehers gehört hatte, gab folgenden +Bescheid: »Der Sage nach hat vor vielen hundert Jahren ein steinreicher +Gutsherr dort gewohnt, der über weite Ländereien und zahlreiches Volk +gebot. Dieser Herr führte ein eisernes Regiment, und behandelte seine +Unterthanen grausam, aber mit dem Schweiß und Blut derselben hatte er +unermeßlichen Reichthum zusammengescharrt, so daß Gold und Silber +fuderweise von allen Seiten her auf's Schloß kam, wo es in tiefen +Kellern vor Dieben und Räubern verwahrt wurde. Auf welche Weise der +reiche Bösewicht zuletzt seinen Tod fand, hat Niemand erfahren. Die +Diener fanden eines<span class='pagenum'><a name="Page_289" id="Page_289">[S 289]</a></span> Morgens sein Bett leer, drei Blutstropfen auf dem +Boden, und eine große schwarze Katze zu Häupten des Bettes, die man +vorher nie gesehen hatte und nachher nie wieder sah. Man meinte daher, +die Katze sei der böse Geist selber gewesen, der in dieser Gestalt den +Herrn in seinem Bette erwürgt, und dann zur Hölle gebracht habe, wo er +für seine Frevel büßen müsse. — Als später auf die Nachricht von dem +Todesfall die Verwandten des Schloßherrn sich einfanden, um dessen +Schatz in Besitz zu nehmen, fand sich nirgends ein Kopek Geld vor. +Anfangs hielt man die Diener für die Diebe, und stellte sie vor Gericht; +allein da sie sich ihrer Unschuld bewußt waren, so bekannten sie auch +auf der Folter Nichts. Inzwischen hatten viele Menschen Nachts ein +Geklapper, wie mit Geld, tief unter der Erde, vernommen, und machten dem +Gericht davon Anzeige, und als dieses eine Untersuchung anstellte und +die Aussage bestätigt fand, wurden die Diener freigelassen. Das seltsame +nächtliche Geldgeklapper wurde später noch oft gehört, auch fanden sich +Manche, die dem Schatze nachgruben, aber es kam nichts zu Tage, und von +den Schatzgräbern kehrte keiner zurück; sicher hatte eben Der sie +geholt, der dem Herrn des Geldes ein so gräßliches Ende bereitet hatte. +Soviel sah Jeder, daß hier Etwas nicht geheuer war, — darum getraute +sich auch Niemand in dem alten Schlosse zu wohnen, bis endlich das Dach +und die Wände durch Wind und Regen verfielen, und nichts weiter übrig +blieb, als die alten Ruinen. Kein Mensch wagt sich bei nächtlicher Weile +in die Nähe, noch weniger erkühnt sich Einer, dort nach alten Schätzen +zu suchen.« —So sprach der alte Bauer.<span class='pagenum'><a name="Page_290" id="Page_290">[S 290]</a></span></p> + +<p>Als der Riegenaufseher seine Erzählung vernommen hatte, äußerte er wie +halb im Scherze: »Ich hätte Lust, mein Heil zu versuchen! Wer geht +künftige Nacht mit mir?« Die Männer schlugen ein Kreuz und betheuerten +einhellig, daß ihnen ihr Leben viel lieber sei, als alle Schätze der +Welt, die doch Niemand erlangen könne, ohne seine Seele zu verderben. +Dann baten sie den Fremden, er möge den eitlen Gedanken fahren lassen, +und sein Leben nicht dem Teufel überantworten. Allein der kühne +Riegenaufseher achtete weder Bitten noch Einschüchterungen, sondern war +entschlossen, sein Heil auf eigene Hand zu versuchen. Er bat sich am +Abend von dem Schenkwirth ein Bund Kienspan aus, um nicht im Dunkeln zu +bleiben, und erkundigte sich dann nach dem kürzesten Wege zu den alten +Schloßruinen.</p> + +<p>Einer der Bauern, der etwas mehr Muth zu haben schien als die Andern, +ging ihm eine Strecke weit mit einer brennenden Laterne als Führer +voran, kehrte aber um, als sie noch über eine halbe Werst weit von dem +Gemäuer entfernt waren. Da der bewölkte Nachthimmel Nichts erkennen +ließ, so mußte der Riegenaufseher seinen Weg tastend verfolgen. Das +Pfeifen des Windes und das Geschrei der Nachteulen schlug schauerlich an +sein Ohr, konnte aber sein tapferes Herz nicht schrecken. Sobald er im +Stande war, unter dem Schutze des Mauerwerks Feuer zu machen, zündete er +einen Span an, und spähte nach einer Thür oder einer Oeffnung umher, +durch die er unter die Erde hinabsteigen könnte. Nachdem er eine Weile +vergebens gesucht hatte, sah er endlich am Fuße der Mauer ein Loch, +welches abwärts führte. Er steckte<span class='pagenum'><a name="Page_291" id="Page_291">[S 291]</a></span> den brennenden Span in eine +Mauerspalte, und räumte mit den Händen soviel Geröll und Schutt fort, +daß er hineinkriechen konnte. Nachdem er eine Strecke weit gekommen war, +fand er eine steinerne Treppe, und der Raum wurde weit genug, daß er +aufrecht gehen konnte. Das Kienspan-Bund auf der Schulter und einen +brennenden Span in der Hand, stieg er die Stufen hinunter, und kam +endlich an eine eiserne Thür, die nicht verschlossen war. Er stieß die +schwere Thür auf und wollte eben eintreten, als eine große schwarze +Katze mit feurigen Augen windschnell durch die Thür und zur Treppe +hinauf schoß. Der Riegenaufseher dachte: die hat gewiß den Herrn des +Geldes erwürgt, stieß die Thür zu, warf das Kienspan-Bund zu Boden, und +sah sich dann den Ort näher an. Es war ein großer breiter Saal, an +dessen Wänden überall Thüren angebracht waren; er zählte deren zwölf, +und überlegte, welche von ihnen er zuerst versuchen sollte. »Sieben ist +doch eine Glückszahl!« sagte er, und zählte dann von der Eingangsthür +bis zur siebenten; aber diese war verschlossen und wollte nicht +aufgehen. Als er sich indeß mit aller Leibeskraft gegen die Thür +stemmte, gab das verrostete Schloß nach, und die Thür sprang auf. Als +der Riegenaufseher hineintrat, fand er ein Gemach von mittlerer Größe, +welches an einer Wand einen langen Tisch nebst einer Bank, an der andern +Wand einen Ofen und vor demselben einen Herd enthielt; neben dem Herde +lagen auch Scheite Holz am Boden. Der Mann machte nun Feuer an, und sah +beim Scheine desselben, daß ein kleiner Grapen und eine Schale mit Mehl +auf dem Ofen standen, auch fand er etwas Salz im Salzfaß. »Sieh'<span class='pagenum'><a name="Page_292" id="Page_292">[S 292]</a></span> doch!« +rief der Aufseher. »Hier finde ich ja unerwartet Mundvorrath, Wasser +habe ich mir im Fäßchen mitgebracht, jetzt kann ich mir eine warme Suppe +kochen.« Damit stellte er den Grapen auf's Feuer, that Mehl und Wasser +hinein, streute Salz darauf, rührte mit einem Splitter um, und kochte +die Suppe gar; dann goß er sie in die Schale, und setzte sie auf den +Tisch. Das helle Feuer des Herdes erleuchtete die Stube, so daß er +keinen Span anzuzünden brauchte. Der muthige Riegenaufseher setzte sich +nun an den Tisch, nahm den Löffel und fing an, sich mit der warmen Suppe +den leeren Magen zu füllen. Plötzlich sah er, als er aufblickte, die +schwarze Katze mit den feurigen Augen auf dem Ofen sitzen; er konnte +nicht begreifen, wie das Thier dahin gekommen sei, da er doch mit +eigenen Augen gesehen hatte, wie die Katze die Treppe hinauf gerannt +war. Darauf wurden draußen drei laute Schläge an die Thür gethan, so daß +Wände und Fußboden schütterten, aber der Riegenaufseher verlor den Muth +nicht, sondern rief mit strenger Stimme: »Wer einen Kopf auf dem Rumpfe +hat, soll eintreten!« Augenblicklich prallte die Thür weit auf, die +schwarze Katze sprang vom Ofen herunter und schoß durch die Thür, wobei +ihr aus Maul und Augen Feuerfunken sprühten. Als die Katze davon +gelaufen war, traten vier lange Männer ein in langen weißen Röcken und +mit feuerrothen Mützen, welche dermaßen funkelten, daß sich Tageshelle +im Gemach verbreitete. Die Männer trugen eine Bahre auf den Schultern, +und auf der Bahre stand ein Sarg; das flößte aber dem beherzten +Riegenaufseher keine Furcht ein. Ohne ein Wort zu sagen, stellten die +Männer den Sarg auf den<span class='pagenum'><a name="Page_293" id="Page_293">[S 293]</a></span> Boden, gingen dann einer nach dem andern zur +Thür hinaus und zogen sie hinter sich zu. Die Katze miaute und kratzte +an der Thür, als ob sie herein wollte, aber der Riegenaufseher kümmerte +sich nicht darum, sondern verzehrte ruhig seine warme Suppe. Als er satt +war, stand er auf und besah sich den Sarg; er brach den Deckel auf und +erblickte einen kleinen Mann mit langem weißen Barte. Der Riegenaufseher +hob ihn heraus, und brachte ihn zum Herde an's Feuer, um ihn zu +erwärmen. Es dauerte auch nicht lange, so fing das alte Männchen an, +sich zu erholen und Hände und Füße zu regen. Der muthige Riegenaufseher +hatte nicht die geringste Furcht; er nahm die Suppenschüssel und den +Löffel vom Tische, und fing an, den Alten zu füttern. Diesem aber +dauerte das zu lange, drum faßte er die Schüssel mit beiden Händen und +schlürfte hastig alle Suppe hinunter. Dann sagte er: »Dank dir, +Söhnchen! daß du dich über mich Armen erbarmt, und meinen von Hunger und +Kälte erstarrten Leib wieder aufgerichtet hast. Für diese Wohlthat will +ich dir so fürstlichen Lohn spenden, daß du mich Zeit Lebens nicht +vergessen sollst. — Da hinter dem Ofen findest du Pechfackeln, zünde +eine derselben an, und komm mit mir. Vorher aber mach die Thür fest zu, +damit die wüthige Katze nicht herein kann, die dir den Hals brechen +würde. Später wollen wir sie so kirre machen, daß sie Niemanden mehr +Schaden zufügen kann.«</p> + +<p>Mit diesen Worten hob der Alte eine viereckige Fliese von der Breite +einer halben Klafter aus dem Boden, und es zeigte sich, daß der Stein +den Eingang zu einem Keller bedeckt hatte. Der Alte stieg zuerst die +Stufen<span class='pagenum'><a name="Page_294" id="Page_294">[S 294]</a></span> hinunter, und furchtlos folgte ihm der Riegenaufseher mit der +brennenden Pechfackel auf dem Fuße, bis sie in eine schauerliche tiefe +Höhle gelangten.</p> + +<p>In dieser großen kellerartig gewölbten Höhle lag ein gewaltiger +Geldhaufe, so hoch wie der größte Heuschober, halb Silber, halb Gold. +Das alte Männchen nahm jetzt aus einem Wandschranke eine Handvoll +Wachslichter, drei Flaschen Wein, einen geräucherten Schinken und ein +Brotlaib heraus, und sagte dann zum Riegenaufseher: »Ich gebe dir drei +Tage Zeit, diesen Geldklumpen zu zählen und zu sondern. Du mußt den +Haufen in zwei Theile theilen, so daß beide ganz gleich werden und kein +Rest bleibt. Während du mit dieser Theilung dich beschäftigst, will ich +mich an der Wand schlafen legen, aber hüte dich, daß du dabei nicht das +geringste Versehen machst, sonst erwürge ich dich.« Der Riegenaufseher +machte sich sogleich an die Arbeit, und der Alte streckte sich nieder. +Damit kein Versehen vorkommen könne, theilte der Riegenaufseher so, daß +er immer zwei gleichartige Geldstücke nahm, es mochten Thaler oder +Rubel, Gold- oder Silbermünzen sein; das eine Geldstück legte er dann +links und das andere rechts, so daß zwei Haufen entstanden. Wenn ihm die +Kraft auszugehen drohte, so erquickte er sich durch einen Schluck aus +der Flasche, genoß etwas Brot und Fleisch, und setzte dann neugestärkt +seine Arbeit fort. Weil er sich die Nacht nur einen kurzen Schlaf +gönnte, um die Arbeit rasch zu fördern, wurde er schon am Abend des +zweiten Tages mit der Theilung fertig, aber ein kleines Silberstück war +übrig geblieben. Was jetzt thun? Das machte dem<span class='pagenum'><a name="Page_295" id="Page_295">[S 295]</a></span> braven Riegenaufseher +keine Noth, er zog sein Messer aus der Tasche, legte die Schneide auf +die Mitte des Geldstücks, und schlug dann mit einem Steine so kräftig +auf des Messers Rücken, daß das Geldstück in zwei Hälften gespalten +wurde. Die eine Hälfte legte er dann zu dem Haufen rechts, und die +andere zu dem Haufen links; darauf weckte er den Alten auf und lud ihn +ein, die Arbeit in Augenschein zu nehmen. Als der Alte die beiden +Hälften des übrig gebliebenen Geldstücks je rechts und links erblickte, +fiel er mit einem Freudengeschrei dem Riegenaufseher um den Hals, +streichelte lange seine Wangen und sagte endlich: »Tausend und aber +tausend Dank dir, kühner Jüngling, der du mich aus meiner langen, langen +Gefangenschaft erlöst hast. Ich habe schon viele hundert Jahre meinen +Schatz hier bewachen müssen, weil sich kein Mensch fand, der Muth oder +Verstand genug hatte, das Geld so zu theilen, daß Nichts übrig blieb. +Ich mußte deshalb, einem eidlichen Gelöbnisse zufolge, Einen nach dem +Andern erwürgen, und da Keiner wiederkehrte, so wagte in den letzten +zweihundert Jahren Niemand mehr her zu kommen, obgleich ich keine Nacht +verstreichen ließ, ohne mit dem Gelde zu klappern. Dir, du Glückskind! +war es beschieden, mein Retter zu werden, als mir schon alle Hoffnung +schwinden wollte, und ich ewige Gefangenschaft fürchten mußte. Dank, +tausend Dank dir für deine Wohlthat! Den einen Geldhaufen bekommst du +jetzt zum Lohn für deine Mühe, den andern aber mußt du unter die Armen +vertheilen, zur Sühne für meine schweren Sünden; denn ich war, als ich +auf Erden lebte und diesen Schatz anhäufte, ein großer Frevler und +Bösewicht. Noch<span class='pagenum'><a name="Page_296" id="Page_296">[S 296]</a></span> eine Arbeit hast du zu meinem und deinem Nutzen zu +vollbringen. Wenn du wieder hinaufgehst, und die große schwarze Katze +dir auf der Treppe entgegenkommt, dann packe sie und hänge sie auf. Hier +ist eine Schlinge, aus der sie sich nicht wieder herausziehen soll.« +Damit zog er eine aus feinem Golddraht geflochtene Schnur von der Dicke +eines Schuhbandes aus dem Busen, gab sie dem Riegenaufseher und +verschwand, als wäre er in den Boden gesunken. Aber in demselben +Augenblicke entstand ein Gekrach, als ob die Erde unter den Füßen des +Riegenaufsehers bersten wollte. Das Licht erlosch, und um ihn her +herrschte tiefe Finsterniß, allein auch dieses unerwartete Ereigniß +machte ihn nicht muthlos. Er suchte tappend seinen Weg, bis er an die +Treppe kam, kletterte die Stufen hinan, und kam in die erste Stube, wo +er sich die Suppe gekocht hatte. Das Feuer auf dem Herde war längst +ausgegangen, aber er fand in der Asche noch Funken, die er zur Flamme +anblasen konnte. Der Sarg stand noch auf der Bahre, aber statt des Alten +schlief die große schwarze Katze darin. Der Riegenaufseher packte sie am +Kopfe, schlang die Goldschnur um ihren Hals, hing sie an einem starken +eisernen Nagel in der Wand auf, und legte sich auf den Boden zur Ruhe.</p> + +<p>Erst am andern Morgen kam er aus dem Gemäuer heraus, und nahm den +nächsten Weg zur Schenke, in der er vorher eingekehrt war. Als der Wirth +sah, daß der Fremde unversehrt entronnen sei, kannten seine Freude und +sein Erstaunen keine Grenzen. Der Riegenaufseher aber sagte: »Besorge +mir für gute Bezahlung ein paar Dutzend Säcke von Tonnengehalt und +miethe Pferde, damit ich<span class='pagenum'><a name="Page_297" id="Page_297">[S 297]</a></span> meinen Schatz wegführen kann.« Daran merkte +der Schenkwirth, daß des Fremden Gang kein fruchtloser gewesen war, und +erfüllte sogleich des reichen Mannes Verlangen. Als darauf der +Riegenaufseher von den Leuten erkundet hatte, was für Gebiete vor Alters +unter der Herrschaft des damaligen Schloßbesitzers gestanden hatten, +wies er den dritten Theil des den Armen bestimmten Geldes jenen Gebieten +zu, übergab die beiden andern Drittel dem Gericht zur Vertheilung und +siedelte sich mit seinem eigenen Gelde in einem fernen Lande an, wo ihn +Niemand kannte. Dort müssen noch heutigen Tags seine Verwandten als +reiche Leute leben, und die Kühnheit ihres Ahnherrn preisen, der diesen +Schatz errungen hatte.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_298" id="Page_298">[S 298]</a></span></p> +<h2>22. Wie ein Königssohn als Hüterknabe aufwuchs.</h2> + + +<p>Es war einmal ein König, der seine Unterthanen milde und liebreich +regierte, so daß Niemand im Königreiche war, der ihn nicht gesegnet, und +den himmlischen Vater um die Verlängerung seiner Lebenstage angefleht +hätte.</p> + +<p>Der König lebte schon manches Jahr in glücklicher Ehe, aber kein Kind +war den Ehegatten geschenkt worden. Groß war daher seine und sämmtlicher +Unterthanen Freude, als die Königin ein Söhnlein zur Welt brachte, aber +die Mutter sollte dieses Glück nicht lange genießen. Drei Tage nach des +Sohnes Geburt schlossen sich ihre Augen für immer — der Sohn war Waise, +und der König Wittwer. Schweren Kummer empfand der König über den Tod +seiner theuren Gemahlin, und mit ihm trauerten die Unterthanen; man sah +nirgends mehr ein fröhliches Antlitz. Zwar nahm der König, auf Andringen +seiner Unterthanen, drei Jahre später eine andere Gemahlin, aber bei der +neuen Wahl war ihm das Glück nicht wieder günstig: ein Täubchen hatte er +begraben, und einen<span class='pagenum'><a name="Page_299" id="Page_299">[S 299]</a></span> Habicht dafür bekommen; es geht leider vielen +Wittwern so. Die junge Frau war ein böses, hartherziges Weib, das weder +dem Könige noch den Unterthanen Gutes erwies. Den Sohn der vorigen +Königin konnte sie nicht vor Augen leiden, da sie besorgen mußte, die +Regierung werde an diesen Stiefsohn fallen, den die Unterthanen um +seiner hingeschiedenen Mutter willen liebten. Die tückische Königin +faßte darum den bösen Vorsatz, das Knäblein heimlich an einen Ort zu +schaffen, wo der König es nicht wiederfinden könne; es umzubringen, dazu +hatte sie nicht den Muth. Ein nichtswürdiges altes Weib half für gute +Bezahlung der Königin die böse That auszuführen. Bei nächtlicher Weile +wurde das Kind dem gottlosen Weibe überliefert, und von diesem auf +Schleichwegen weit weg gebracht, und armen Leuten als Pflegkind +übergeben. Unterwegs zog die Alte dem Kinde seine guten Kleider aus, und +hüllte es in Lumpen, damit Niemand den Betrug merke. Der Königin hatte +sie mit einem schweren Eide gelobt, keinem Menschen den Ort zu nennen, +wohin der Königssohn geschafft worden. Am Tage wagte die Kindesdiebin +nicht zu wandern, weil sie Verfolgung fürchtete; darum dauerte es lange, +bis sie einen verborgenen Ort fand, der sich zum Aufenthalte für das +königliche Kind eignete. In ein einsames Waldgehöft, das fremder +Menschen Fuß selten betreten hatte, wurde der gestohlene Königssohn als +Pflegling gethan, und der Wirth erhielt für das Aufziehen des Kindes die +Summe von hundert Rubeln. Es war ein Glück für den Königssohn, daß er zu +guten Menschen gekommen war, die für ihn sorgten, als wäre er ihr +leibliches Kind. Der muntere Knabe<span class='pagenum'><a name="Page_300" id="Page_300">[S 300]</a></span> machte ihnen oft Spaß, besonders +wenn er sich einen Königssohn nannte. Sie sahen wohl aus der reichlichen +Bezahlung, die sie erhalten hatten, daß das Knäblein kein rechtmäßiger +Sprößling sei, und vom Vater oder von der Mutter her vornehmer Abkunft +sein mochte, allein so hoch verstiegen sich ihre Gedanken nicht, daß sie +für wahr gehalten hätten, wessen das Kind in seinem einfältigen Sinne +sich rühmte.</p> + +<p>Man kann sich leicht vorstellen, wie groß der Schrecken im Hause des +Königs war an dem Morgen, wo man entdeckte, daß das Söhnchen in der +Nacht gestohlen war, und zwar auf so wunderbare Weise, daß Niemand es +gehört hatte, und daß nicht die leiseste Spur des Diebes zurückgeblieben +war. Der König weinte Tage lang bitterlich um den Sohn, den er im +Andenken an dessen Mutter um so zärtlicher liebte, je weniger er mit +seiner neuen Gemahlin glücklich war. Zwar wurden lange Zeit hindurch +aller Orten Nachforschungen angestellt, um dem verschwundenen Kinde auf +die Spur zu kommen, auch wurde Jedem eine große Belohnung verheißen, der +irgend eine Auskunft darüber geben könnte, aber Alles blieb vergeblich, +das Knäblein schien wie weggeblasen. Kein Mensch konnte das Geheimniß +aufklären, und Manche glaubten, das Kind sei durch einen bösen Geist +oder durch Hexerei entführt. In das einsame Waldgehöft, wo der +Königssohn lebte, hatte keiner der Suchenden seine Schritte gelenkt, und +ebensowenig konnten die Bekanntmachungen dahin dringen. — Während nun +der Königssohn daheim als Todter beweint wurde, wuchs er im stillen +Walde auf und gedieh fröhlich, bis er in das Alter trat, daß er<span class='pagenum'><a name="Page_301" id="Page_301">[S 301]</a></span> schon +Geschäfte besorgen konnte. Da legte er denn eine wunderbare Klugheit an +den Tag, so daß seine Pflegeeltern sich oft genug gestehen mußten, daß +hier das Ei viel klüger sei als die Henne.</p> + +<p>Der Königssohn hatte schon über zehn Jahre in dem Waldgehöfte gelebt, +als er ein Verlangen empfand, unter die Leute zu kommen. Er bat seine +Pflegeeltern um Erlaubniß, sich auf eigene Hand sein Brot zu verdienen, +indem er sagte: »Ich habe Verstand und Kraft genug, um mich ohne eure +Hülfe zu ernähren. Bei dem einsamen Leben hier wird mir die Zeit sehr +lang.« Die Pflegeeltern sträubten sich anfangs sehr dagegen, mußten aber +endlich nachgeben, und den Wunsch des jungen Burschen erfüllen. Der +Wirth ging selbst mit, um ihn zu begleiten, und eine passende Stelle für +ihn ausfindig zu machen. In einem Dorfe fand er einen wohlhabenden +Bauerwirth, der einen Hüterknaben brauchte, und da sich der Pflegesohn +gerade einen solchen Dienst wünschte, so wurde man bald einig. Der +Vertrag lautete auf ein Jahr, allein es wurde ausdrücklich bedungen, daß +es dem Knaben zu jeder Zeit gestattet sein solle, den Dienst zu +verlassen und zu seinen Pflegeeltern zurückzukehren. Ebenso konnte der +Wirth, wenn er mit dem Knaben nicht zufrieden war, ihn noch vor Ablauf +des Jahres entlassen, jedoch nicht ohne Vorwissen der Pflegeeltern. Das +Dorf, wo der Königssohn diesen Dienst gefunden hatte, lag unweit einer +großen Landstraße, auf welcher täglich viele Menschen vorbeikamen, Hohe +wie Niedere. Der königliche Hüterknabe saß häufig dicht an der +Landstraße, und unterhielt sich mit den Vorübergehenden, von denen er +Manches erfuhr, was<span class='pagenum'><a name="Page_302" id="Page_302">[S 302]</a></span> ihm bis dahin unbekannt geblieben war. Da geschah +es eines Tages, daß ein alter Mann mit grauen Haaren und langem weißen +Barte des Weges kam, als der Königssohn auf einem Steine sitzend die +Maultrommel schlug; die Thiere grasten indeß, und wenn eines derselben +sich zu weit von den übrigen entfernen wollte, so trieb des Knaben Hund +es zurück. Der Alte betrachtete ein Weilchen den Knaben und seine Herde, +trat dann einige Schritte näher und sagte: »Du scheinst mir nicht zum +Hüterknaben geboren zu sein.« Der Knabe erwiederte: »Mag sein, ich weiß +nur soviel, daß ich zum Herrscher geboren bin, und hier vorerst das +Geschäft des Herrschens erlerne. Geht es mit den Vierfüßlern gut, so +versuche ich weiterhin mein Glück auch wohl mit den Zweifüßlern.« Der +Alte schüttelte wie verwundert den Kopf und ging seiner Wege. Ein +anderes Mal fuhr eine prächtige Kutsche vorbei, in der ein Frauenzimmer +mit zwei Kindern saß: auf dem Bocke der Kutscher und hinten auf ein +Lakai. Der Königssohn hatte gerade ein Körbchen mit frischgepflückten +Erdbeeren in der Hand, welches der stolzen deutschen Frau in die Augen +fiel, und ihren Appetit reizte. Sie befahl dem Kutscher zu halten, und +rief gebieterisch zum Kutschenfenster hinaus: »Du Rotzlöffel! bring die +Beeren her, ich will dir ein paar Kopeken zu Weißbrot dafür geben!« Der +königliche Hüterknabe that, als ob er nichts hörte, und auch nicht +glaubte, daß ihm der Befehl gelte, so daß die Frau ein zweites und ein +drittes Mal rufen mußte, was aber auch nur in den Wind gesprochen war. +Da rief sie dem Lakaien hinter der Kutsche zu: »Geh und ohrfeige diesen +Rotzlöffel, damit er gehorcht.« Der Lakai<span class='pagenum'><a name="Page_303" id="Page_303">[S 303]</a></span> stürzte hin, um den +erhaltenen Befehl auszuführen. Noch ehe er ankam, war der Hüterknabe +aufgesprungen, hatte einen tüchtigen Knüppel ergriffen, und schrie dem +Lakai zu: »Wenn dich nicht nach einem blutigen Kopf gelüstet, so thue +keinen Schritt weiter, oder ich zerschlage dir das Gesicht!« Der Lakai +ging zurück, und meldete, was ihm begegnet war. Da rief die Dame zornig: +»Schlingel! willst du dich vor dem Rotzlöffel von Jungen fürchten? Geh +und nimm ihm den Korb mit Gewalt weg, ich will ihm zeigen, wer ich bin, +und werde auch noch seine Eltern bestrafen lassen, die ihn nicht besser +zu erziehen verstanden.« — »Hoho!« rief der Hüterknabe, der den Befehl +gehört hatte, »so lange noch Leben in meinen Gliedern sich regt, soll +Niemand mir mit Gewalt nehmen, was mein rechtmäßiges Eigenthum ist. Ich +stampfe Jeden zu Brei, der mir meine Erdbeeren rauben will!« So +sprechend spuckte er in die Hand, und schwang den Knüppel um den Kopf, +daß es sauste. Als der Lakai das sah, hatte er nicht die geringste Lust, +die Sache zu probiren; die Frau aber fuhr unter schweren Drohungen +davon, versichernd, daß sie diesen Schimpf nicht ungeahndet lassen +werde. Andere Hüterknaben, welche den Vorfall von Weitem mit angesehen +und angehört hatten, erzählten ihn am Abend ihren Hausgenossen. Da +geriethen Alle in Furcht, daß man auch ihnen zu nahe thun könnte, wenn +die vornehme Frau sich vor Gericht über die thörichte Widerspenstigkeit +des Burschen beklagte, und es zur Untersuchung käme. Den Königssohn +schalt sein Wirth und sagte: »Ich werde nicht für dich sprechen; was du +dir eingebrockt hast, kannst du auch ausessen.« Der Königssohn +erwiederte: »Damit will ich<span class='pagenum'><a name="Page_304" id="Page_304">[S 304]</a></span> schon zurecht kommen, das ist meine Sache. +Gott hat mir selber einen Mund in den Kopf, und eine Zunge in den Mund +gesetzt, ich kann selber für mich sprechen, wenn es noth thut, und werde +euch nicht bitten, mein Fürsprecher zu sein. Hätte die Frau auf +geziemende Weise die Erdbeeren verlangt, ich hätte sie ihr gegeben, aber +wie durfte sie mich Rotzlöffel schimpfen? Meine Nase ist noch immer eben +so rein von Rotz gewesen wie die ihrige.«</p> + +<p>Die Frau war in die Stadt des Königs gefahren, wo sie nichts Eiligeres +zu thun hatte, als sich bei Gericht über das unverschämte Benehmen des +Hüterknaben zu beschweren. Man schritt auch ungesäumt zur Untersuchung, +und es wurde Befehl gegeben, das Bürschlein sammt seinem Wirthe vor's +Gericht zu bringen. Als die Gerichtsdiener in's Dorf kamen, um den +Befehl auszuführen, sagte der Königssohn: »Mein Wirth hat mit dieser +Sache nichts zu schaffen; was ich gethan habe, das muß ich auch +verantworten.« Jetzt wollte man ihm die Hände auf den Rücken binden, und +ihn als Gefangenen vor Gericht führen, aber er zog ein scharfes Messer +aus der Tasche, trat rasch einige Schritte zurück, richtete die Spitze +des Messers auf sein Herz, und rief aus: »Lebend soll mich Niemand +binden! Ehe eure Hand mich bindet, stoße ich mir das Messer in's Herz! +Meinen Leichnam mögt ihr dann binden, und damit machen, was ihr wollt; +so lange ich noch Athem habe, soll kein Mensch mir einen Strick oder +eine Fessel anlegen! Vor Gericht will ich gern erscheinen, und Auskunft +geben, als Gefangenen lasse ich mich nicht fortführen.« Seine Kühnheit +setzte die Gerichtsdiener dermaßen in Schrecken, daß sie nicht wagten, +ihm<span class='pagenum'><a name="Page_305" id="Page_305">[S 305]</a></span> nahe zu kommen; sie fürchteten, es möchte ihnen zur Last fallen, +wenn der Knabe in seinem Trotze sich umbrächte. Und da er ihnen +gutwillig folgen wollte, so mußten sie sich zufrieden geben. Unterwegs +wunderten sich die Gerichtsdiener täglich mehr über den Verstand und die +Klugheit ihres Gefangenen, denn dieser wußte in allen Dingen besser +Bescheid als sie selber. Noch viel größer war die Verwunderung der +Richter, als sie den Hergang der Sache aus dem Munde des Knaben +vernahmen; er sprach so klar und bündig, daß man ihm Recht geben und ihn +von aller Schuld frei sprechen mußte. Auch der König, an den sich die +vornehme Frau jetzt wandte, und der sich auf ihre Bitten die ganze Sache +auseinander setzen ließ, mußte den Richtern beistimmen, und den Burschen +straflos lassen. Jetzt wollte die vornehme Frau bersten vor Zorn, sie +geberdete sich wie eine Katze, die wüthend auf einen Hund schnaubt, so +ein Rotzlöffel von Bauerjungen sollte ihr gegenüber Recht behalten! Sie +klagte ihre Noth der Königin, von der sie wußte, daß sie ungleich härter +war als der König. »Mein Gemahl,« sagte die Königin, »ist eine alte +Nachtmütze, und seine Richter sind all' zusammen Schafsköpfe! Schade, +daß ihr eure Sache vor Gericht brachtet, und nicht lieber gleich zu mir +kamt; ich hätte euren Handel anders geschlichtet und euch Recht gegeben. +Jetzt, da die Sache durchs Gericht entschieden und vom Könige bestätigt +ist, bin ich nicht mehr im Stande, der Sache öffentlich eine bessere +Wendung zu geben, aber wir müssen sehen, wie wir ohne Aufsehen über den +Burschen eine Züchtigung verhängen können.« Da fiel es der Frau zur +rechten Zeit ein, daß auf ihrem Gebiete eine sehr böse<span class='pagenum'><a name="Page_306" id="Page_306">[S 306]</a></span> Bauerwirthin +angesessen war, bei der kein Knecht mehr bleiben wollte; auch gab der +Wirth selber zu, daß es bei ihnen ärger hergehe als in der Hölle. Wenn +man das naseweise Bürschlein auf diesen Hof als Hüterknaben geben +könnte, so würde ihm das gewiß eine schwerere Züchtigung sein, als +irgend ein Richterspruch ihm zuerkennen könnte. »Ich will die Sache +gleich so einrichten, wie ihr wünscht,« sagte die Königin, ließ einen +zuverlässigen Diener rufen, und gab ihm an, was er zu thun habe. Hätte +ihre Seele geahndet, daß der Hüterknabe der von ihr verstoßene +Königssohn sei, so hätte sie ihn ohne weiteres tödten lassen, ohne sich +um König oder Richterspruch zu kümmern.</p> + +<p>Der Bauerwirth hatte kaum den Befehl der Königin erhalten, als er auch +den Hüterknaben seines Dienstes entließ. Er dankte seinem Glücke, daß er +noch so leichten Kaufes davon gekommen war. Der Königin Diener führte +nun den Burschen selber auf den Bauerhof, auf welchen sie ihn wider +seinen Willen verdungen hatte. Die tückische Wirthin jauchzte auf vor +Freude, daß die Königin ihr einen Hüterknaben geschafft, und ihr +zugleich frei gestellt hatte, mit ihm zu machen was sie wollte, weil das +Bürschlein sehr halsstarrig und in Gutem nicht zu lenken sei. Sie kannte +des neuen Mühlsteins Härte noch nicht, und hoffte, in ihrer alten Weise +mit ihm zu mahlen. Bald aber sollte das höllische Weib inne werden, daß +ihr dieser Zaun denn doch zu hoch war, um hinüber zu kommen, sintemal +das Bürschlein einen gar zähen Sinn hatte, und kein Haar breit von +seinem Rechte vergab. Wenn ihm die Wirthin ohne Grund ein böses Wort +gab, so erhielt sie deren gleich ein Dutzend zurück; wenn sie<span class='pagenum'><a name="Page_307" id="Page_307">[S 307]</a></span> die Hand +gegen den Knaben aufhob, so raffte dieser einen Stein oder ein +Holzscheit, oder was ihm gerade zur Hand war, auf und rief: »Wage es +nicht, einen Schritt näher zu kommen, oder ich schlage dir das Gesicht +entzwei, und stampfe deinen Leib zu Brei!« Solche Reden hatte die +Hausfrau in ihrem Leben noch von Niemanden, am wenigsten aber von ihren +Knechten gehört; der Wirth aber freute sich im Stillen, wenn er ihren +Hader mit anhörte, und stand auch seiner Frau nicht bei, da der Knabe +seine Pflicht nicht versäumte. Die Wirthin suchte nun den Hüterknaben +durch Hunger zu zähmen, und weigerte ihm die Nahrung, aber der Knabe +nahm das Laib mit Gewalt, wo er es fand, und melkte sich dazu Milch von +der Kuh, so daß sein Magen kein Nagen des Hungers verspürte. Je weniger +die Wirthin mit dem Hüterknaben fertig werden konnte, desto mehr suchte +sie ihr Müthchen am Manne und dem Gesinde zu kühlen. Als der Königssohn +sich dieses heillose Leben, das einen Tag wie den andern war, einige +Wochen lang mit angesehen hatte, beschloß er, der Wirthin alle ihre +Schlechtigkeit heimzuzahlen, und zwar in der Weise, daß die Welt den +Drachen gänzlich los würde. Um seinen Vorsatz auszuführen, fing er ein +Dutzend Wölfe ein, und sperrte sie in eine Höhle, wo er ihnen alle Tage +ein Thier von seiner Herde vorwarf, damit sie nicht verhungerten. Wer +vermöchte der Wirthin Wuth zu beschreiben, als sie ihr Eigenthum dahin +schwinden sah, denn der Knabe brachte alle Abende ein Stück Vieh weniger +nach Hause, als er am Morgen auf die Weide getrieben hatte, und +antwortete auf alle Fragen nichts weiter als: »Die Wölfe haben's +zerrissen!« Die<span class='pagenum'><a name="Page_308" id="Page_308">[S 308]</a></span> Wirthin schrie wie eine Rasende, und drohte, das +Bürschlein den wilden Thieren zum Fraß vorzuwerfen, aber der Knabe +entgegnete lachend: »Da wird ihnen dein wüthiges Fleisch besser munden!« +Darauf ließ er seine Wölfe in der Höhle drei Tage lang ohne Futter, +trieb dann in der Nacht, als Alles schlief, die Herde aus dem Stalle und +statt derselben die zwölf Wölfe hinein, worauf er die Thür fest +verschloß, so daß die wilden Bestien nicht heraus konnten. Als die Sache +soweit in Ordnung war, machte er sich auf die Socken, da ihm der +Hirtendienst schon längst zuwider geworden war, und er jetzt auch Kraft +genug in sich fühlte, um größere Arbeiten zu unternehmen.</p> + +<p>O du liebe Zeit! was begab sich da am Morgen, als die Wirthin in den +Stall ging, um die Thiere herauszulassen und die Kühe zu melken. Die vom +Hunger wüthend gewordenen Wölfe sprangen auf sie los, rissen sie nieder +und verschlangen sie sammt ihren Kleidern mit Haut und Haar, so daß +nichts weiter von ihr übrig blieb, als Zunge und Herz, diese beiden +taugten nicht einmal den wilden Bestien, weil sie zu giftig waren. Weder +Wirth noch Gesinde betrübten sich über dieses Unglück, vielmehr war +Jeder dem Geschicke dankbar, das ihn von dem Höllenweibe befreit hatte.</p> + +<p>Der Königssohn hatte einige Jahre die Welt durchstreift, und bald dies +bald jenes Gewerbe versucht, er hielt aber an keinem Orte lange aus, +weil ihn die Erinnerungen seiner Kindheit, die ihm wie lebhafte Träume +vorschwebten, stets daran mahnten, daß er durch seine Geburt einem +höheren Stande angehöre. Von Zeit zu<span class='pagenum'><a name="Page_309" id="Page_309">[S 309]</a></span> Zeit traf er wieder mit dem alten +Manne zusammen, der ihn schon damals in's Auge gefaßt hatte, als er noch +Hüterknabe war. Als der Königssohn achtzehn Jahr alt war, trat er bei +einem Gärtner in Dienst, um die Gärtnerei zu erlernen. Gerade zu der +Zeit ereignete sich etwas, was seinem Leben eine andere Wendung geben +sollte. Die ruchlose Alte, welche ihn auf Befehl der Königin geraubt und +als Pflegkind in das Waldgehöft gebracht hatte, beichtete auf ihrem +Todbette dem Geistlichen den von ihr verübten Frevel, denn ihre unter +der Last der Sünde seufzende Seele fand nicht eher Ruhe, als bis sie die +böse That aufgedeckt hatte. Sie nannte auch den Bauerhof, auf welchen +sie das Kind gebracht hatte, konnte aber nichts weiter darüber sagen, ob +das Kind am Leben geblieben oder gestorben sei. Der Geistliche machte +sich eilig auf, dem Könige die Freudenbotschaft zu bringen, daß eine +Spur seines verschwundenen Sohnes gefunden sei. Der König verrieth +Niemanden, was er erfahren, ließ augenblicklich ein Pferd satteln und +machte sich mit drei treuen Dienern auf den Weg. Nach einigen Tagen +erreichten sie das Waldgehöft; Wirth und Wirthin bekannten der Wahrheit +gemäß, daß ihnen vor so und so langer Zeit ein Kind männlichen +Geschlechts als Pflegling übergeben worden, und daß sie gleichzeitig +hundert Rubel für das Aufziehen desselben erhalten hatten. Daraus hatten +sie freilich gleich geschlossen, daß das Kind von vornehmer Geburt sein +könne, aber das sei ihnen niemals in den Sinn gekommen, daß das Kind von +königlichem Geblüte sei, vielmehr hätten sie immer nur ihren Spaß daran +gehabt, wenn das Kind sich selbst einen Königssohn genannt hätte. Darauf +führte der Wirth selbst den König<span class='pagenum'><a name="Page_310" id="Page_310">[S 310]</a></span> in das Dorf, wohin er den Knaben als +Hirtenjungen gebracht hatte, wiewohl nicht aus eigenem Antriebe, sondern +auf Verlangen des Knaben, der an dem einsamen Orte nicht länger hatte +leben mögen. Wie erschrack der Wirth, und noch mehr der König, als sich +in dem Dorfe der Knabe, der zum Jüngling herangewachsen sein mußte, +nicht fand, und man auch keine nähere Auskunft über ihn erhalten konnte. +Die Leute wußten nur soviel zu sagen, daß der Knabe auf die Klage einer +vornehmen Dame vor Gericht gestellt, von diesem aber freigesprochen und +losgelassen worden sei. Später aber sei ein Diener der Königin +erschienen, der den Knaben fortgeführt und in einem andern Gebiete in +Dienst gegeben habe. Der König eilte dahin, und fand auch das Gesinde, +in welchem sein Sohn eine kurze Zeit gewesen war, darnach aber war er +entflohen, und man hatte nichts weiter von ihm gehört. Wie sollte man +jetzt aufs Geratewohl weiter suchen, und wer war im Stande, den rechten +Weg zu weisen?</p> + +<p>Während der König noch voller Kümmerniß war, daß sich hier alle Spuren +verloren, trat ein alter Mann vor ihn hin — derselbe, der schon mehrere +Mal mit dem Königssohne zusammen getroffen war — und sagte, er sei +einem jungen Manne, wie man ihn suche, dann und wann begegnet, und habe +ihn anfangs als Hirten und später in mancherlei anderen Handthierungen +gesehen; und er hoffe, die Spur des Verschwundenen zu finden. Der König +sicherte dem Alten reiche Belohnung, wenn er ihn auf die Spur des Sohnes +bringen könne, befahl einem der Diener, vom Pferde zu steigen, und hieß +den Alten aufsitzen, damit sie rascher vorwärts kamen. Dieser aber<span class='pagenum'><a name="Page_311" id="Page_311">[S 311]</a></span> +sagte lächelnd: »So viel wie eure Pferde laufen können, leisten meine +Beine auch noch; sie haben ein größeres Stück Welt durchwandert, als +irgend ein Pferd.« Nach einer Woche kamen sie wirklich dem Königssohne +auf die Spur, und fanden ihn auf einem stattlichen Herrenhofe, wo er, +wie oben erzählt, die Gärtnerei erlernte. Grenzenlos war des Königs +Freude, als er seinen Sohn wieder fand, den er schon so manches Jahr als +todt beweint hatte. Freudenthränen rannen von seinen Wangen, als er den +Sohn umarmte, ihn an seine Brust drückte und küßte. Doch sollte er aus +des Sohnes Munde eine Nachricht vernehmen, welche ihm die Freude des +Wiederfindens schmälerte und ihn in neue Betrübniß versetzte. Der +Gärtner hatte eine junge blühende Tochter, welche scheuer war als alle +Blumen in dem prachtvollen Garten, und so fromm und schuldlos wie ein +Engel. Diesem Mädchen hatte der Königssohn sein Herz geschenkt, und er +gestand seinem Vater ganz offen, daß er nie eine Dame von edlerer +Herkunft freien, sondern die Gärtnerstochter zu seiner Gemahlin machen +wolle, sollte er auch sein Königreich aufgeben müssen. »Komm nur erst +nach Hause,« sagte der König, »dann wollen wir die Sache schon in +Ordnung bringen.« Da bat sich der Sohn von seinem Vater einen kostbaren +goldenen Ring aus, steckte ihn vor Aller Augen der Jungfrau an den +Finger und sagte: »Mit diesem Ringe verlobe ich mich dir, und über kurz +oder lang komme ich wieder, um als Bräutigam dich heim zu führen.« Der +König aber sagte: »Nein, nicht so —auf andere Weise soll die Sache vor +sich gehen!« — zog den Ring wieder vom Finger des Mädchens und hieb +ihn<span class='pagenum'><a name="Page_312" id="Page_312">[S 312]</a></span> mit seinem Schwerte in zwei Stücke. Die eine Hälfte gab er seinem +Sohne, die andere der Gärtnerstochter, und sagte: »Hat Gott euch für +einander geschaffen, so werden die beiden Hälften des Ringes zu rechter +Zeit von selbst ineinander schmelzen, so daß kein Auge die Stellen wird +entdecken können, wo der Ring durchgehauen war. Jetzt bewahre Jeder von +euch seine Hälfte, bis die Zeit erfüllt sein wird.«</p> + +<p>Die Königin wollte vor Wuth bersten, als ihr Stiefsohn, den sie für +immer verschollen glaubte, plötzlich zurück kehrte, und zwar als +rechtmäßiger Thronerbe, da dem Könige aus seiner zweiten Ehe nur zwei +Töchter geboren waren. Als nach einigen Jahren des Königs Augen sich +geschlossen hatten, wurde sein Sohn zum König erhoben. Wiewohl ihm die +Stiefmutter schweres Unrecht zugefügt hatte, wollte er doch nicht Böses +mit Bösem vergelten, sondern überließ die Strafe dem Gerichte Gottes. Da +nun die Stiefmutter keine Hoffnung mehr hatte, eine ihrer Töchter +vermittelst eines Schwiegersohnes auf den Thron zu bringen, so wollte +sie wenigstens eine fürstliche Jungfrau aus ihrer eigenen Sippschaft dem +Könige vermählen, aber dieser entgegnete kurz: »Ich will nicht! ich habe +meine Braut längst gewählt.« Als die verwittwete Königin dann erfuhr, +daß der junge König ein Mädchen von niederer Herkunft zu freien gedenke, +stachelte sie die höchsten Räthe des Reichs auf, sich einmüthig dagegen +zu stemmen. Aber der König blieb fest und gab nicht nach. Nachdem man +lange hin und her gestritten hatte, gab der König schließlich den +Bescheid: »Wir wollen ein großes Fest geben und dazu alle<span class='pagenum'><a name="Page_313" id="Page_313">[S 313]</a></span> Königstöchter +und die andern vornehmen Jungfrauen einladen, so viel ihrer sind, und +wenn ich eine unter ihnen finde, welche meine erwählte Braut an +Schönheit und Züchten übertrifft, so will ich sie freien. Ist das aber +nicht der Fall, so wird meine erwählte auch meine Gemahlin.«</p> + +<p>Jetzt wurde im Königsschloß ein prächtiges Freudenfest hergerichtet, +welches zwei Wochen dauern sollte, damit der König Zeit hätte, die +Jungfrauen zu mustern, ob eine derselben den Vorzug vor der +Gärtnerstochter verdiene. Alle fürstlichen Frauen der Umgegend waren mit +ihren Töchtern zum Feste gebeten, und da der Zweck der Einladung +allgemein bekannt war, hoffte jedes Mädchen, daß ihr das Glücksloos +zufallen werde. Schon näherte sich das Fest seinem Ende, aber noch immer +hatte der junge König Keine gefunden, die nach seinem Sinne war. Am +letzten Tage des Festes erschienen in der Frühe die höchsten Räthe des +Reichs wieder vor dem Könige und sagten —auf Eingebung der +Königin-Wittwe — wenn der König nicht bis zum Abend eine Wahl getroffen +habe, so könne ein Aufstand ausbrechen, weil alle Unterthanen wünschten, +daß der König sich vermähle. Der König erwiederte: »Ich werde dem +Wunsche meiner Unterthanen nachkommen und mich heute Abend erklären.« +Dann schickte er ohne Vorwissen der Andern einen zuverlässigen Diener +zur Gärtnerstochter, mit dem Auftrage, sie heimlich herzubringen, und +hier bis zum Abend versteckt zu halten. Als nun am Abend des Königs +Schloß von Lichtern strahlte, und alle fürstlichen Jungfrauen in ihrem +Feststaat den Augenblick erwarteten, der ihnen Glück oder<span class='pagenum'><a name="Page_314" id="Page_314">[S 314]</a></span> Unglück +bringen sollte, trat der König mit einer jungen Dame in den Saal, deren +Antlitz so verhüllt war, daß kaum die Nasenspitze heraus sah. Was Allen +aber gleich auffiel, war der schlichte Anzug der Fremden: sie war in +weißes feines Leinen gekleidet, und weder Seide, noch Sammet, noch Gold +war an ihr zu finden, während alle Andern von Kopf bis zu Fuß in Sammet +und Seide gehüllt waren. Einige verzogen spöttisch den Mund, andere +rümpften unwillig die Nase, der König aber that, als bemerkte er es +nicht, löste die Kopfhülle der Jungfrau, trat dann mit ihr vor die +verwittwete Königin und sagte: »Hier ist meine erwählte Braut, die ich +zur Gemahlin nehmen will, und ich lade euch und Alle, die hier +versammelt sind, zu meiner Hochzeit ein.« Die verwittwete Königin rief +zornig aus: »Was kann man auch Besseres erwarten von einem Manne, der +bei der Herde aufgewachsen ist! Wenn ihr da wieder hin wollt, dann nehmt +die Magd nur mit, die wohl verstehen mag, Schweine zu füttern, sich aber +nicht zur Gemahlin eines Königs eignet — eine solche Bauerdirne kann +den Thron eines Königs nur verunehren!« Diese Worte weckten des Königs +Zorn, und streng entgegnete er: »Ich bin König und kann thun, was ich +will; aber wehe euch, daß ihr mir jetzt meinen früheren Hirtenstand in's +Gedächtniß zurückriefet; damit habt ihr mich zugleich daran erinnert, +wer mich in diesen Stand verstoßen. Indeß, da kein vernünftiger Mensch +die Katze im Sacke kauft, will ich noch vor meiner Trauung Allen +deutlich machen, daß ich nirgends eine bessere Gemahlin hätte finden +können, als gerade dieses Mädchen, das fromm und rein ist wie ein<span class='pagenum'><a name="Page_315" id="Page_315">[S 315]</a></span> Engel +vom Himmel.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und kam bald +darauf mit eben dem Alten zurück, den er von seinem Hirtenstande her +kannte, und der den König später auf die Spur seines Sohnes gebracht +hatte. Dieser Alte war ein berühmter Zauberer Finnlands, der sich auf +viele geheime Künste verstand. Der König sprach zu ihm: »Liebster +Zauberer! offenbaret uns durch eure Kunst das innere Wesen der hier +anwesenden Jungfrauen, damit wir erkennen, welche unter ihnen die +würdigste ist, meine Gemahlin zu werden.« Der Zauberer nahm eine Flasche +mit Wein, besprach ihn, bat die Jungfrauen, in der Mitte des Saales +zusammenzutreten, und besprengte dann den Kopf einer Jeden mit ein paar +Tropfen des Zauberweins, worauf sie Alle stehenden Fußes einschliefen. O +über das Wunder, welches sich jetzt aufthat! Nach kurzer Zeit sah man +sie sämmtlich verwandelt, so daß keine mehr ihre menschliche Gestalt +hatte, sondern statt ihrer allerlei wilde und gezähmte Thiere +erschienen, einige waren in Schlangen, Wölfe, Baren, Kröten, Schweine, +Katzen, andere wieder in Habichte und sonstige Raubvögel verwandelt. +Mitten unter allen diesen Thiergestalten aber war ein herrlicher +Rosenstock gewachsen, der mit Blüthen bedeckt war, und auf dessen +Zweigen zwei Tauben saßen. Das war die vom Könige zur Gemahlin erwählte +Gärtnerstochter. Darauf sagte der König: »Jetzt haben wir einer +Jeglichen Kern gesehen, und ich lasse mich nicht durch die glänzende +Schale blenden!« Die Königin-Wittwe wollte vor Zorn bersten, aber was +konnte es ihr helfen, da die Sache so klar da lag. Darauf räucherte der +Zauberer mit Zauberkräutern, bis alle Jungfrauen<span class='pagenum'><a name="Page_316" id="Page_316">[S 316]</a></span> aus dem Schlafe +erwachten, und wieder Menschengestalt erhielten. Der König erfaßte die +aus dem Rosenstrauche hervorgegangene Geliebte, und fragte nach ihrem +halben Ringe, und als die Jungfrau ihn aus dem Busen nahm, zog auch er +seinen halben Ring hervor, und legte beide Hälften auf seine Handfläche; +augenblicklich verschmolzen sie mit einander, so daß kein Auge einen Riß +oder irgend ein Merkmal der Stellen entdeckte, wo die Schneide des +Schwertes den Ring einst getrennt hatte. »Jetzt ist auch meines +heimgegangenen Vaters Wille in Erfüllung gegangen!« sagte der junge +König, und ließ sich noch an demselben Abend mit der Gärtnerstochter +trauen. Dann lud er alle Anwesende zum Hochzeitsschmaus, aber die +fürstlichen Jungfrauen hatten erfahren, welches Wunder sich während +ihres Schlafes mit ihnen begeben, und gingen voller Scham nach Hause. Um +so größer war der Unterthanen Freude, daß ihre Königin von Innen und von +Außen ein untadelhaftes Menschenbild war.</p> + +<p>Als das Hochzeitsfest zu Ende war, ließ der junge König eines Tages +sämmtliche Oberrichter des Reiches versammeln und fragte sie, welche +Strafe ein Frevler verdiene, der einen Königssohn heimlich habe +wegstehlen, und in einem Bauerhofe als Hüterknaben aufziehen lassen, und +der außerdem noch den Jüngling schnöde gelästert habe, nachdem ihn das +Glück seinem früheren Stande zurückgegeben. Sämmtliche Richter +erwiederten wie aus einem Munde: »Ein solcher Frevler muß den Tod am +Galgen erleiden.« Darauf sagte der König: »Nun wohl! Rufet die +verwittwete Königin vor Gericht!« Die<span class='pagenum'><a name="Page_317" id="Page_317">[S 317]</a></span> Königin-Wittwe wurde gerufen und +das gefällte Urtheil ihr verkündet. Als sie es hörte, wurde sie bleich +wie eine getünchte Wand, warf sich vor dem jungen Könige auf die Knie +und bat um Gnade. Der König sagte: »Ich schenke euch das Leben, und +hätte euch niemals vor Gericht gestellt, wenn es euch nicht eingefallen +wäre, mich noch hinterher mit eben dem Leiden zu schmähen, welches ich +durch euren Frevel habe erdulden müssen; in meinem Königreiche aber ist +eures Bleibens nicht mehr. Packet noch heute eure Sachen zusammen, um +vor Sonnenuntergang meine Stadt zu verlassen. Diener werden euch bis +über die Grenze begleiten. Hütet euch, jemals wieder den Fuß auf mein +Gebiet zu setzen, da es Jedermann, auch dem Geringsten, frei steht, euch +wie einen tollen Hund todt zu schlagen. Eure Töchter, die auch meines +heimgegangenen Vaters Töchter sind, dürfen hier bleiben, weil ihre Seele +rein ist von dem Frevel, den ihr an mir verübt habt.«</p> + +<p>Als die verwittwete Königin fortgebracht war, ließ der junge König in +der Nähe seiner Stadt zwei hübsche Wohnhäuser aufbauen, von denen das +eine den Eltern seiner Frau, und das andere dem Wirthe des Bauerhofs +geschenkt wurde, der den hülflosen Königssohn liebevoll aufgezogen +hatte. Der als Hüterknabe aufgewachsene Königssohn und seine aus +niederem Geschlecht entsprossene Gemahlin lebten dann glücklich bis an +ihr Ende, und regierten ihre Unterthanen so liebevoll wie Eltern ihre +Kinder.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_318" id="Page_318">[S 318]</a></span></p> +<h2>23. Dudelsack-Tiidu.</h2> + + +<p>Es lebte einmal ein armer Käthner, den Gott mit Kindern reichlicher +gesegnet hatte, als mit Brot. Töchter und Söhne wuchsen den Eltern zur +Freude auf, und verdienten sich meist schon ihr Stück Brot bei Fremden +—nur aus einem Sohne wollte nichts Rechtes werden. Ob der Bursche von +Natur einfältig war, oder ob sonst ein Gebreste ihn drückte, oder ob er +träges Blut unter den Nägeln hatte, das konnte Niemand mit Sicherheit +sagen. Aber daß er faul und lotterig war und zu keinerlei Geschäft +taugte, das mußten seine Eltern sowohl wie das ganze Dorf eingestehen. +Es halfen auch weder gute Worte noch Ruthenstreiche, vielmehr wuchs die +Faulheit des Burschen, je älter er wurde. Im Winter hinter dem Ofen +liegen und im Sommer unter einem Busche schlafen, war sein +Haupt-Tagewerk, dazwischen pfiff er oder blies die Weidenflöte, daß es +eine Lust war anzuhören. So saß er eines Tages wieder hinter einem +Busche und blies mit den Vögeln um die Wette, als ein fremder alter Mann +des Weges daher kam. Er fragte mit freundlicher Stimme: »Sage mir, +Söhnchen! was für ein Gewerbe möchtest du denn einst treiben?«<span class='pagenum'><a name="Page_319" id="Page_319">[S 319]</a></span> Der +Bursche erwiderte: »Das Gewerbe wäre meine geringste Sorge, könnte ich +nur ein reicher Mann werden, daß ich nicht nöthig hätte zu arbeiten, und +unter anderer Leute Zuchtruthe zu stehen.« Der alte Mann lachte und +sagte: »Der Plan wäre gar nicht übel, aber ich sehe nicht ein, woher dir +Reichthum kommen soll, wenn du gar nicht arbeiten willst? Läuft doch die +Maus einer schlafenden Katze nicht in den Rachen. Wer Geld und Gut +erwerben will, der muß seine Glieder rühren, arbeiten und sich Mühe +geben, sonst« — Der Bursche fiel ihm in die Rede und bat: »Lassen wir +diese Reden! das habe ich schon viele hundert Mal gehört, und es kommt +mir vor, wie wenn man Wasser auf die Gans gießen wollte, denn aus mir +kann doch nimmer ein Arbeiter werden.« Der alte Mann erwiederte milde: +»Der Schöpfer hat dir eine Gabe verliehen, mit welcher du leicht das +tägliche Brot und noch ein Stück Geld dazu verdienen könntest, wenn du +dich auf's Dudelsackpfeifen legen würdest. Verschaffe dir einen guten +Dudelsack, blase ihn eben so geschickt wie jetzt die Weidenflöte, und du +findest Brot und Geld überall, wo fröhliche Menschen wohnen.« »Aber +woher soll ich den Dudelsack nehmen?« fragte der junge Bursche. Der Alte +erwiederte: »Verdiene dir Geld und kaufe dir dann einen Dudelsack. Für +den Anfang kannst du die Weidenflöte blasen und auf dem Blatte pfeifen, +auf beiden bist du schon ein kleiner Meister! Ich hoffe auch künftig +noch mit dir zusammen zu treffen, dann wollen wir sehen, ob du meinen +Rath benutzt hast, und welcher Gewinn dir aus meiner Belehrung erwachsen +ist.« Damit trennte er sich von dem Burschen und ging seines Weges.<span class='pagenum'><a name="Page_320" id="Page_320">[S 320]</a></span> +<em class="gesperrt">Tiidu</em> — so hieß der Bursche — begann über des alten Mannes Rede +nachzudenken, und je länger er sann, desto mehr mußte er dem Alten Recht +geben. Er entschloß sich, den von dem Alten angegebenen Weg zum Glücke +einzuschlagen; allein er verrieth Niemanden ein Wort von seinem +Vorhaben, sondern ging eines Morgens vom Hause und — kam nicht wieder. +Den Eltern machte sein Scheiden keinen Kummer, der Vater dankte noch +seinem Geschicke, daß er den faulen Sohn los geworden war, und hoffte, +daß die Welt mit der Zeit dem Tiidu die faule Haut abstreifen und die +Noth ihn zum ordentlichen Menschen erziehen würde.</p> + +<p>Tiidu strich einige Wochen von Dorf zu Dorf und von Gut zu Gut umher; +überall nahmen die Leute ihn freundlich auf, und hörten gern zu, wenn er +seine Weidenflöte blies, gaben ihm zu essen, und schenkten ihm auch +manchmal einige Kopeken. Diese Kopeken sammelte der Bursche sorgfältig, +bis er endlich soviel beisammen hatte, um sich einen guten Dudelsack +kaufen zu können. Jetzt fing sein Glück an zu blühen, denn weit und +breit war kein Dudelsackpfeifer zu finden, der so kunstgerecht und so +taktmäßig zu blasen verstand. Tiidu's Dudelsack setzte alle Beine in +Bewegung. Wo nur eine Hochzeit, ein Ernteschmaus, oder eine andere +Lustbarkeit begangen wurde, da durfte der <em class="gesperrt">Dudelsack-Tiidu</em> nicht mehr +fehlen. Nach einigen Jahren war er ein so berühmter Dudelsackpfeifer +geworden, daß man ihn wie einen Zauberkundigen von einem Orte zum +andern, oft viele Meilen weit, kommen ließ. So blies er einst auf einem +Gute beim Ernteschmaus, wozu auch viele Gutsherren aus der Umgegend +gekommen<span class='pagenum'><a name="Page_321" id="Page_321">[S 321]</a></span> waren, um die Belustigung des Volkes mit anzusehen. Alle +mußten einmüthig bekennen, daß ihnen in ihrem Leben noch kein +geschickterer Dudelsackpfeifer vorgekommen war. Ein Gutsherr nach dem +andern lud den Dudelsack-Tiidu zu sich, dann mußte er die Herrschaft +durch sein Spiel ergötzen und erhielt dafür gute Kost und gutes Getränk, +dazu noch Geld und mancherlei Geschenke. Einer der reichen Herren ließ +ihn von Kopf zu Fuß neu kleiden, ein anderer schenkte ihm einen schönen +Dudelsack mit messingener Röhre. Die Fräulein banden ihm seidene Bänder +an den Hut, und die Frauen strickten ihm bunte Handschuhe. Jeder Andere +wäre an Tiidu's Stelle mit diesem Glücke sehr zufrieden gewesen, aber +seine Sehnsucht nach Reichthum ließ ihm keine Ruhe, sondern trieb ihn +wie mit einer Feuergeißel immer weiter. Je mehr er einsah, daß der +Dudelsack allein ihn nicht zum reichen Manne machen könne, desto stärker +wurde seine Geldgier. Erzählungen, die im Munde des Volkes lebten, +wußten viel zu berichten von dem Reichthume des Landes Kungla,<a name="FNanchor_85_85" id="FNanchor_85_85"></a><a href="#Footnote_85_85" class="fnanchor">[85]</a> und +Tiidu konnte das Tag und Nacht nicht aus dem Kopfe bringen. Wenn ich nur +hinkommen könnte, dachte er, so würde ich schon den Weg zum Reichthum +finden. Er wanderte nun am Strande hin, um vielleicht durch einen +glücklichen Zufall ein Schiff oder ein Segelboot zu finden, das ihn über +die See brächte. Endlich kam er in die Stadt Narwa, wo gerade viele +fremde Kauffahrer im Hafen lagen. Einer derselben sollte nach einigen +Tagen nach Land Kungla absegeln, und Tiidu suchte den Schiffer<span class='pagenum'><a name="Page_322" id="Page_322">[S 322]</a></span> auf. +Dieser wollte ihn mitnehmen, aber der geforderte Preis war dem kargen +Dudelsackpfeifer zu hoch. Er suchte sich nun durch seinen Dudelsack bei +dem Schiffsvolke einzuschmeicheln, und hoffte dadurch die Kosten der +Fahrt zu verringern. Das Glück wollte, daß er einen jungen Matrosen +fand, der ihm versprach, ihn heimlich hinter dem Rücken des Schiffers +auf's Schiff zu bringen. In der letzten Nacht vor dem Abgange des +Schiffes brachte der Matrose wirklich den Tiidu auf's Schiff und +versteckte ihn in einem dunkeln Winkel zwischen Fässern, brachte ihm +auch, ohne daß die Andern es merkten, Speise und Trank dahin, damit er +in seinem Schlupfwinkel nicht Hunger leide. In der folgenden Nacht, als +das Schiff schon auf hoher See war, und Tiidu's Freund auf dem Verdeck +allein Wache hielt, holte er ihn aus seinem Schlupfwinkel hervor, band +ihm ein Tau um den Leib, befestigte das andere Ende des Taues am Schiffe +und sagte: »Ich werde dich jetzt an dem Taue in's Meer lassen, und wenn +man dir zu Hülfe eilt, so mußt du das Tau von deinem Leibe losschneiden +und ihnen weiß machen, du seiest vom Hafen her dem Schiffe +nachgeschwommen.« Obwohl dem Tiidu ein wenig bange wurde, hoffte er doch +mit Hülfe des Taues sich eine Zeit lang über Wasser zu halten, da er ein +guter Schwimmer war. Sobald er in's Wasser gelassen worden, weckte sein +Freund die anderen Matrosen und zeigte ihnen die menschliche Gestalt, +die schwimmend dem Schiffe folgte. Die Leute sperrten Mund und Augen +auf, als sie das seltsame Abenteuer erblickten, und weckten auch den +Schiffer, damit er sich die Sache ansehe. Dieser schlug dreimal das +Kreuz<span class='pagenum'><a name="Page_323" id="Page_323">[S 323]</a></span> und fragte dann den Schwimmer: »Bekenne wahrhaft, wer du bist, +ein Geist oder ein sterblicher Mensch?« Der Schwimmer antwortete: »Ein +armer sterblicher Mensch, dessen Kraft bald erschöpft sein wird, wenn +ihr euch seiner nicht erbarmt.« Der Schiffer ließ nun ein Tau in's Meer +werfen, um den Schwimmenden daran heraufzuziehen. Als Tiidu das Ende des +Taues gefaßt hatte, schnitt er erst mit einem Messer das um seinen Leib +geschlungene Tau entzwei und bat sodann, man möge ihn heraufziehen. Als +es geschehen war, fragte ihn der Schiffer: »Sage, woher du kommst und +wie du bis hierher gelangtest.« Dudelsack-Tiidu erwiederte: »Ich schwamm +eurem Schiffe nach, als ihr aus dem Hafen abfuhrt, und hielt mich von +Zeit zu Zeit, wenn die Kraft mir auszugehen drohte, am Steuer fest. So +hoffte ich nach Land Kungla zu kommen, weil ich nicht so viel Geld +hatte, als ihr für die Ueberfahrt verlangtet.« Des Jünglings wunderbare +Kühnheit rührte des Schiffer's Herz, und freundlich sagte er: »Danke dem +himmlischen Vater, der dein Leben so wunderbar beschützt hat! Ich will +dich unentgeltlich nach Kungla bringen.« Dann befahl er, dem Tiidu +trockene Kleider anzuziehen, und ihn in der Schiffskajüte zu betten, +damit er sich von der Anstrengung der langen Schwimmfahrt erhole. Tiidu +aber und sein Freund waren froh, daß ihre List so glücklich abgelaufen +war.</p> + +<p>Am andern Morgen sah das Schiffsvolk auf den Tiidu wie auf ein Wunder, +da er eine Strecke geschwommen war, wie es Keiner für möglich gehalten. +Weiterhin machte ihnen sein schönes Dudelsackspiel große Freude,<span class='pagenum'><a name="Page_324" id="Page_324">[S 324]</a></span> und +der Schiffer gestand mehr als einmal, daß er noch nie einen so +herrlichen Dudelsack gehört habe. Als das Schiff nach einigen Tagen in +Land Kungla vor Anker gegangen war, verbreitete sich durch der +Schiffsleute Mund mit Windesschnelle die Kunde von dem melodischen +Fisch, den sie im Meere gefangen, und der Nacht und Tag dem Schiffe +nachgeschwommen wäre. Natürlich durften Tiidu und sein Freund dieser +Erzählung nicht widersprechen, da sie sich sonst selber in Gefahr +gebracht hätten. Die wunderbare Mär verschaffte dem Tiidu an der fremden +Küste viele Freunde, weil Jeder die wunderbare Schwimmfahrt aus seinem +eigenen Munde hören wollte. Da mußte denn der Bursche aus der Noth eine +Tugend machen, und den Leuten vorlügen, daß es puffte. Es wurde ihm mehr +als ein Dienst angeboten, allein er lehnte alle ab, weil er fürchtete, +als Lügner dazustehen, sobald sein Herr eine Probe seiner Schwimmkunst +zu sehen wünschte. Lieber wollte er gerades Wegs in die Königsstadt +gehen, wo weder er noch seine Schwimmkraft bekannt war, dort hoffte er +am leichtesten einen Dienst zu finden, der ihn zum reichen Manne machte. +Als er nach einigen Tagen ankam, schwindelte ihm der Kopf bei dem +Anblicke der Pracht und Herrlichkeit, die überall verbreitet waren. Für +zwei Augen war es schlechterdings unmöglich, das Alles ordentlich zu +betrachten, dazu hätte er einiger Dutzend Augen bedurft. Je mehr er sich +in die Anschauung dieses Glanzes und Reichthums vertiefte, desto +kläglicher kam ihm seine eigene Armuth vor. Noch unerträglicher war es +ihm, daß keiner von den stolzen Leuten seiner achtete, sondern daß man +ihn wie einen Lump aus dem Wege stieß, als hätte er<span class='pagenum'><a name="Page_325" id="Page_325">[S 325]</a></span> gar nicht das +Recht, sich in den Strahlen von Gottes Sonne zu wärmen. — Seinen +Dudelsack wagte er gar nicht sehen zu lassen, denn er dachte mit Zagen: +wer von diesen stolzen Leuten wird auf meinen armen Dudelsack hören! — +So irrte er viele Tage in den Straßen der Stadt umher und trachtete nach +einem Dienste, fand aber keinen, bei dem er hoffen konnte, in kurzer +Zeit reich zu werden. Endlich, als er schon die Flügel hängen ließ, fand +er einen Dienst im Hause eines reichen Kaufmannes, dessen Koch gerade +einen Küchenjungen brauchte. Hier konnte nun Tiidu den Reichthum von +Land Kungla gründlich kennen lernen, der in der That größer war, als man +sich vorstellen konnte. Alle Geräthe für's tägliche Leben, die bei uns +zu Lande aus Eisen, Kupfer, Zinn, Holz oder Lehm verfertigt werden, +waren hier von reinem Silber oder Gold; in silbernen Grapen wurden die +Speisen gekocht, in silbernen Pfannen wurden die Kuchen gebacken, und in +goldenen Schalen und goldenen Schüsseln wurde aufgetragen. Selbst die +Schweine fraßen nicht aus Trögen, sondern aus silbernen Kübeln. Man kann +sich hiernach leicht denken, daß es dem Tiidu an nichts gebrach, er +führte als Küchenjunge ein Herrenleben; aber sein habsüchtiges Gemüth +hatte doch keine Ruhe. Unaufhörlich quälte ihn der eine Gedanke: was +hilft mir all' der Reichthum, den ich vor Augen habe, wenn die Schätze +nicht mein sind; mein Dienst als Küchenjunge kann mich doch niemals zum +reichen Manne machen. Und doch betrug sein Monatslohn mehr als bei uns +ein Jahreslohn, so daß er durch Ansammlung desselben nach Jahren, wenn +nicht reich, doch wohlhabend geworden wäre.<span class='pagenum'><a name="Page_326" id="Page_326">[S 326]</a></span></p> + +<p>Er hatte schon ein Paar Jahre als Küchenjunge im Dienst gestanden, und +ein gut Stück Geld zurückgelegt, aber das hatte seine Geldgier nur noch +erhöht. Er war zugleich ein solcher Filz geworden, daß er sich keinen +neuen Anzug besorgen mochte, doch mußte er es thun auf Geheiß des Herrn, +der schlechte Kleider in seinem Hause nicht duldete. Als der Kaufherr +dann einen großen Kindtaufschmaus gab, ließ er allen seinen Dienern auf +seine Kosten schöne Anzüge machen. Den ersten Sonntag nach dieser +Kindtaufe legte Tiidu seinen neuen stattlichen Anzug an, und ging zur +Stadt hinaus in einen Lustgarten, in welchem sich an Sonntagen die +Einwohner der Stadt zu ergehen pflegten. Als er eine Zeit lang unter den +fremden Leuten gewandelt war, von denen er Niemand kannte, und Niemand +ihn, traf sein Blick zufällig auf eine Gestalt, die ihm wie bekannt +vorkam, obwohl er sich nicht darauf besinnen konnte, wo er den Mann +früher gesehen habe. Während er sein Gedächtniß noch anstrengte, verlor +sich der vermeintliche Bekannte in dem Gewühl. Tiidu strich hin und her, +und spähte nach ihm aus, aber alles Suchen war umsonst. Erst gegen Abend +sah er seinen Mann unter einer mächtigen Linde allein auf einer +Rasenbank sitzen. Tiidu war im Zweifel, ob er hinzu treten oder warten +sollte, bis der fremde Mann ihn erblicken und sich merken lassen würde, +ob er ihn, den Tiidu, kenne oder nicht? Ein paar Mal hustete Tiidu, aber +der fremde Mann beachtete es nicht, sondern heftete wie in tiefen +Gedanken die Augen auf den Boden. Ich trete näher —dachte Tiidu — und +wecke ihn aus seinen Gedanken, dann wird es sich schon zeigen, ob wir +einander kennen<span class='pagenum'><a name="Page_327" id="Page_327">[S 327]</a></span> oder nicht. Sachte vorwärts gehend, hielt er den Blick +scharf auf den fremden Mann gerichtet. Jetzt schlug dieser die Augen auf +und es war klar, daß er ihn sogleich erkannte, denn er stand auf, ging +auf Tiidu zu und reichte ihm zum Gruße die Hand, dann fragte er: »Wo +hast du deinen Dudelsack gelassen?« Da erst überzeugte sich Tiidu, daß +der Fragende derselbe alte Mann war, der ihm früher empfohlen hatte, +Dudelsackpfeifer zu werden. Er ging nun mit dem Alten aus der Volksmenge +heraus an einen abgelegenen Ort, und erzählte ihm seine bisherigen +Erlebnisse. Der Alte runzelte die Stirn, schüttelte wiederholt den Kopf +und sagte, als Tiidu seinen Bericht beendigt hatte: »Ein Thor bist du +und ein Thor bleibst du! Was war das für ein verrückter Einfall, daß du +den Dudelsack aufgabst und Küchenjunge wurdest? Mit dem Dudelsack +hättest du hier in einem Tage mehr verdienen können, als durch deinen +Dienst in einem halben Jahre. Eile nach Hause, hole deinen Dudelsack her +und blase, so wirst du mit eigenen Augen sehen, daß ich die Wahrheit +gesagt habe.« Tiidu sträubte sich freilich, weil er das Gespötte der +stolzen Leute fürchtete, auch meinte er, er habe in der langen Zeit das +Spielen verlernt. Aber der Alte ließ nicht ab, sondern setzte dem Tiidu +so lange zu, bis er nach Hause ging und seinen Dudelsack herbrachte. Der +Alte hatte so lange unter der Linde gesessen und gewartet; als Tiidu mit +dem Dudelsack wieder kam, sagte er: »Setze dich neben mich auf die +Rasenbank und fang' an zu blasen, dann wirst du schon sehen, wie sich +die Leute um uns her versammeln werden.« Tiidu that es, wenn auch mit +Widerstreben — aber als<span class='pagenum'><a name="Page_328" id="Page_328">[S 328]</a></span> er anfing zu spielen, kam es ihm vor, als wäre +heute ein neuer Geist in den Dudelsack gefahren, denn noch niemals hatte +er dem Instrumente einen so schönen Ton entlocken können. Bald sammelte +sich eine dichte Menge um die Linde, angezogen von dem schönen Spiele. +Je zahlreicher die Menge wurde, desto lieblicher ertönten die Weisen des +Dudelsacks. Als die Leute eine Zeitlang zugehört hatten, nahm der Alte +seinen Hut ab und trat unter sie, um die Gaben für den Spieler +einzusammeln. Da wurden von allen Seiten Thaler, halbe Thaler und kleine +Silbermünzen hineingeworfen, dann und wann fiel auch ein blinkendes +Goldstück in den Hut. Tiidu spielte dann noch zum Danke manche schöne +Weise auf, ehe er sich anschickte, nach Hause zu gehen. Als er durch den +dichten Haufen schritt, hörte er vielfach sagen: »Kunstreicher Meister! +komm nächsten Sonntag wieder, uns zu erfreuen!« —Als sie an's Thor +gekommen waren, sagte der Alte: »Nun, was meinst du, ist die heutige +Arbeit von ein paar Stunden nicht angenehmer, als die Handthierung eines +Küchenjungen? — Zum zweitenmale habe ich dir den Weg gezeigt, packe +nun, wie ein vernünftiger Mann, den Ochsen bei beiden Hörnern, damit das +Glück dir nicht wieder entschlüpfe! Meine Zeit erlaubt mir nicht, hier +länger dein Führer zu sein, drum merke dir, was ich sage, und handle +darnach. Jeden Sonntag Nachmittag setze dich mit deinem Dudelsack unter +die Linde und blase, daß die Leute sich ergötzen. Kaufe dir aber einen +Filzhut mit tiefem Boden, und stelle ihn zu deinen Füßen hin, damit die +Hörer ihre Spenden hineinlegen können. Ruft man dich zu einem Feste, um +den Dudelsack zu spielen,<span class='pagenum'><a name="Page_329" id="Page_329">[S 329]</a></span> so bedinge niemals einen Preis, sondern +versprich mit dem zufrieden zu sein, was man dir freiwillig geben werde. +Du wirst so von den reichen Bürgern mehr erhalten, als du selbst gewagt +hättest zu verlangen, und kommt es auch zuweilen vor, daß irgend ein +Filz dir zu wenig giebt, so wird es dir durch die reichere Gabe der +Uebrigen zehnfach ersetzt, und du hast noch den Vortheil, daß Niemand +dich geldgierig nennen darf. Vor allen Dingen hüte dich vor dem Geiz! — +Vielleicht treffen wir künftig noch einmal wieder zusammen, dann werde +ich ja hören, wie du meiner Weisung nachgekommen bist. Für dies Mal Gott +befohlen!« So schieden sie von einander.</p> + +<p>Dudelsack-Tiidu war sehr erfreut, als er zu Hause sein Geld zählte und +fand, daß ihm das Spiel von einigen Stunden mehr eingebracht hatte, als +sein Dienst in einem halben Jahre. Da dauerte ihn die falsch angewandte +Zeit; doch konnte er seinen Dienst nicht sogleich verlassen, weil er +erst einen Stellvertreter schaffen mußte. Nach einigen Tagen fand er +einen solchen und wurde entlassen. Dann ließ er sich schöne farbige +Kleider machen, band einen Gürtel mit silberner Schnalle um die Hüften, +und ging den nächsten Sonntag Nachmittag unter die Linde, um den +Dudelsack zu blasen. Es hatten sich noch viel mehr Leute eingefunden, +als das erste Mal, denn das Gerücht von dem geschickten Dudelsackpfeifer +hatte sich in der Stadt verbreitet, und Jedermann wünschte ihn zu hören. +Als er am Abend sein Geld zählte, fand er fast doppelt so viel als am +ersten Sonntage. Ebenso günstig war ihm das Glück fast jeden Sonntag, so +daß er sich im Herbst eine Wohnung in einem stattlichen Gasthof<span class='pagenum'><a name="Page_330" id="Page_330">[S 330]</a></span> miethen +konnte. An den Abenden, wo die Bürger den Gasthof besuchten, wurde der +geschickte Meister oft gebeten, die Gäste durch seinen Dudelsack zu +ergötzen, wofür er dann doppelte Bezahlung erhielt, einmal vom Wirth, +und sodann noch von den Gästen. Als der Wirth später sah, wie der +Künstler jeden Abend immer mehr Gäste in's Haus zog, gab er ihm Kost und +Wohnung frei. Gegen den Frühling ließ Tiidu an seinen Dudelsack silberne +Röhren machen, die von innen und von außen vergoldet waren, so daß sie +in der Sonne und am Feuer funkelten. Als es wieder Sommer wurde, kamen +auch die Städter wieder zu ihrer Erholung in's Freie, und Sonntag für +Sonntag spielte Tiidu und sah seinen Reichthum anwachsen. Da kam +einstmals auch der König, um die Lustbarkeit des Volkes mit anzusehen, +und hörte schon von fern das schöne Dudelsackspiel. Der König ließ den +Spielenden zu sich rufen, und schenkte ihm einen Beutel voll Gold. Als +die andern Großen das sahen, ließen sie einer nach dem andern den +Dudelsackpfeifer in ihre Häuser kommen, wo er ihnen vorspielen mußte. +Tiidu beobachtete pünktlich die Vorschrift des Alten, indem er sich nie +einen Lohn ausbedang, sondern Jedem überließ, nach Gutbefinden zu geben, +und es fand sich, daß er fast immer viel mehr erhielt, als er selber zu +fordern gewagt hätte.</p> + +<p>Nach einigen Jahren war Dudelsack-Tiidu im Lande Kungla zum reichen +Manne geworden, und beschloß nun, in seine Heimath zurückzukehren, um +sich dort ein Gut zu kaufen, und das Blasen aufzugeben. Die Geschenke +des Königs und der anderen hohen Herren hatten sein Vermögen +beträchtlich vergrößert, und des alten Mannes<span class='pagenum'><a name="Page_331" id="Page_331">[S 331]</a></span> Prophezeiung wahr +gemacht. Er brauchte jetzt nicht mehr heimlich in einen Schiffswinkel zu +kriechen, sondern war reich genug, um für sich allein ein Schiff zu +miethen, das ihn mit allen seinen Schätzen in's Vaterland führen sollte. +Er hatte sich, wie das im Lande Kungla üblich war, viele goldene und +silberne Geräthe gekauft, welche jetzt in Kisten gepackt und an Bord +gebracht wurden; wieder andere Kisten waren mit baarem Gelde angefüllt. +Zuletzt bestieg der Herr dieser Schätze selbst das Schiff, und dieses +segelte ab. Ein günstiger frischer Wind trieb sie bald auf die hohe See, +wo nur Himmel und Wasser zu sehen waren. Zur Nacht aber drehte sich der +Wind und trieb das Schiff gegen Süden. Von Stunde zu Stunde wuchs die +Gewalt des Sturms, und der Schiffer konnte keinen festen Curs mehr +halten, weil Wind und Wellen jetzt die einzigen Herren des Schiffes +waren, nach deren Willen es sich bewegen mußte. Als das Schiff einen Tag +und zwei Nächte auf diese Weise hin und hergeschleudert worden, krachte +der Kiel gegen einen Felsen, und das Schiff begann zu sinken. Die Böte +wurden in's Meer gelassen, damit die Menschen dem Tode entrinnen möchten +— allein was konnte gegen die tobenden Wellen Stand halten? Bald warf +eine hohe Welle das kleine Boot um, in welchem Tiidu mit drei Matrosen +saß, und das feuchte Bett umschloß die Männer. Zum Glück schwamm nicht +weit von Tiidu eine Ruderbank; es gelang ihm, sie zu ergreifen und sich +mit Hülfe derselben auf der Oberfläche zu halten. Als darauf der Wind +sich legte und das Wetter sich aufklärte, sah er das Ufer, das gar nicht +weit zu sein schien. Er nahm seine letzte Kraft<span class='pagenum'><a name="Page_332" id="Page_332">[S 332]</a></span> zusammen und suchte das +Ufer zu erreichen, fand aber, daß es viel weiter entfernt war, als es +den Anschein gehabt hatte. Auch hätte ihn die eigene Kraft nicht mehr +an's Ziel gebracht, nur mit Hülfe der Brandung, die ihn vorwärts +schleuderte, erreichte er endlich die Küste. Ganz erschöpft, mehr todt +als lebendig, sank er auf das felsige Ufer und schlief ein. Wie lange +sein Schlaf gedauert hatte, darüber konnte er sich keine Rechenschaft +geben, er hatte aber die traumhafte Erinnerung, als habe jener alte Mann +ihn besucht und ihm aus seinem Schlauche zu trinken gegeben, was ihn +wunderbar gestärkt und ihm gleichsam neue Lebensgeister eingeflößt habe. +Als er nach dem langen Schlafe vollends munter wurde, fand er sich +allein auf dem bemoosten Felsen, und sah nun wohl, daß die Ankunft des +Alten nur ein Traum gewesen war. Doch hatte der Schlaf ihn wieder so +weit gestärkt, daß er sich ohne Mühe erheben und eine Wanderung antreten +konnte, auf welcher er Menschen zu finden hoffte. Er ging eine Weile am +Ufer entlang, und spähte nach einem Fußsteige oder sonst einer Spur, die +zu Menschen leiten könnte. Aber soweit sein Auge reichte, war von +Fußstapfen nichts zu entdecken. Moos, Sand und Rasen hatten ein so +friedliches Ansehen, als ob noch niemals die Füße von Menschen oder +Thieren darüber hin geschritten wären. Was jetzt beginnen? Er mochte +überlegen, soviel er wollte, er wußte nichts Besseres, als der Nase nach +weiter zu gehen, in der Hoffnung, daß ein glücklicher Zufall ihn einen +Weg finden lasse, der zu Menschen führe. Eine halbe Meile weiter fand er +schöne üppige Laubwälder, aber die Bäume hatten alle ein<span class='pagenum'><a name="Page_333" id="Page_333">[S 333]</a></span> fremdartiges +Ansehen, und nicht ein einziger war ihm bekannt. Im Walde fand er weder +Fußtritte von Herden noch von Menschen, sondern je weiter er vordrang, +desto dichter wurde der Wald, und das Weiterkommen wurde immer +schwieriger. Er setzte sich nieder, um seinen müden Beinen Ruhe zu +gönnen. Da wurde ihm plötzlich das Herz schwer, Wehmuth überfiel ihn und +bittre Reue; zum ersten Male kam ihm der Gedanke, er habe unrecht gethan +ohne Wissen und Willen der Eltern von zu Hause fortzulaufen, die +Seinigen zu verlassen, und wie ein Landstreicher umher zu schweifen. +»Wenn ich hier unter wilden Thieren umkomme,« — schluchzte er — »so +wird mir der gebührende Lohn für meinen Leichtsinn. Meinen Schatz, der +in's Meer sank, würde ich nicht bedauern — wie gewonnen, so zerronnen! +wenn mir nur der Dudelsack geblieben wäre, womit ich mein trauerndes +Herz beschwichtigen und meine Sorgenlast erleichtern könnte!« Als er +weiter schritt, erblickte er einen Apfelbaum mit seinem wohlbekannten +Laube, und durch das Laub schimmerten große rothe Aepfel, welche seine +Eßlust reizten. Er eilte hin und — welch' ein Glück! noch nie hatte er +schmackhafteres Obst gekostet. Er aß sich satt und legte sich dann unter +den Apfelbaum zur Ruhe, indem er dachte: wenn es hier viele solche +Apfelbäume giebt, so ist mir vor Hunger nicht bange. Als er erwachte, +verzehrte er noch einige Aepfel, stopfte sich dann Taschen und Rockbusen +voll und wanderte weiter. Das dunkle Waldesdickicht zwang ihn langsam zu +gehen, und machte an vielen Stellen das Durchkommen schwierig, so daß +die Nacht hereinbrach, ohne daß freies Feld oder Menschenspuren<span class='pagenum'><a name="Page_334" id="Page_334">[S 334]</a></span> +sichtbar wurden. Tiidu streckte sich auf das weiche Moos und schlief, +als ob er auf den schönsten Kissen läge. Am andern Morgen frühstückte er +einige Aepfel, und suchte dann mit frischer Kraft weiter vorzudringen, +bis er nach einiger Zeit an eine Lichtung kam, die wie eine kleine Insel +mitten im Walde lag. Ein kleiner Bach, der aus einer nahen Quelle +entsprang, ergoß sein klares frisches Wasser über die Lichtung. Als +Tiidu an den Rand des Baches kam, erblickte er zufällig im Wasser sein +Bild, was ihn dermaßen erschreckte, daß er einige Schritte zurücksprang +und an allen Gliedern zitterte wie Espenlaub. Aber auch Beherztere als +er wären hier wohl erschrocken. Sein Bild im Wasserspiegel zeigte ihm +nämlich, daß seine Nasenspitze wie der Fleischzapfen eines Puters aussah +und bis zum Nabel reichte. Die tastende Hand bestätigte, was das Auge +gesehen. Was jetzt beginnen? So konnte er schlechterdings nicht unter +die Leute gehen, die ihn wohl gar wie ein wildes Thier todt geschlagen +hätten. War es nun das Gefühl der Angst, was die Nase zusehends wachsen +ließ, oder reckte sie sich wirklich immer weiter aus — genug es war dem +Eigenthümer der Nase so gräulich zu Muthe, als ob sie immer länger und +länger würde, so daß er keinen Schritt thun konnte, ohne zu fürchten, +seine Nase würde an die Beine stoßen. Er setzte sich nieder und beklagte +sein Unglück bitterlich: »O wenn nur jetzt Niemand käme, und mich so +fände! Lieber will ich im Walde verhungern, als mich mit einer so +abscheulichen Nase zeigen.« Hätte er jetzt schon gewußt, was er später +erfuhr, daß diese Waldinsel unbewohnt war, so hätte er sich darüber +trösten<span class='pagenum'><a name="Page_335" id="Page_335">[S 335]</a></span> können. Je mehr ihn aber jetzt sein Unglück verdroß, desto +dicker schwoll seine Nase an, und desto bläulicher wurde sie, wie bei +einem zornigen Puterhahn. Da sieht er nahebei an einem Strauche sehr +schöne Nüsse, und es gelüstet ihn, sich damit zu laben; er pflückt eine +Handvoll, beißt eine Nuß auf und findet einen süßen Kern in der Schale. +Er verschluckt noch einige Kerne und bemerkt zu seinem Erstaunen, daß +die scheußliche Länge seiner Nase sichtlich abnimmt. Nach kurzer Zeit +erblickt er im Wasser seine Nasenspitze wieder an ihrer natürlichen +Stelle, ja noch etwas höher über dem Munde, als sie vorher stand. Jetzt +löste sich sein Kummer in Frohlocken auf, und er verfiel darauf, den +wunderbaren Vorfall näher zu ergründen, um zu erfahren, was denn +eigentlich seine Nase erst lang und dann wieder kurz gemacht habe. +Sollten es die schönen Aepfel gewesen sein — fragte er sich in +Gedanken, nahm einen Apfel aus der Tasche, und begann davon zu essen. +Sowie er ein Stück gekaut und verschluckt hat, nimmt er im Wasser +deutlich wahr, wie die Nasenspitze sich zusehends in die Länge dehnt. +Spaßes halber ißt er den Apfel ganz auf, und findet jetzt die Nase +spannenlang; dann nimmt er einige Nußkerne, zerkaut und verschluckt sie, +und sieh', o Wunder! die lange Nase schrumpft zusammen, bis sie auf ihr +natürliches Maaß zurückgegangen ist. Jetzt wußte der Mann, woran er war. +Er denkt: was ich für ein großes Unglück hielt, kann mir vielleicht noch +Glück bringen, wenn ich wieder unter Menschen kommen sollte; pflückt +eine Tasche voll Nüsse und eilt, in seine eigenen Fußstapfen tretend, +zurück, um den Baum mit den nasenvergrößernden Aepfeln aufzusuchen.<span class='pagenum'><a name="Page_336" id="Page_336">[S 336]</a></span> Da +hier nun keine anderen Spuren liefen, als die, welche er selbst +zurückgelassen hatte, fand er den Apfelbaum ohne Mühe wieder. Er schälte +nun erst einige junge Bäume ab und machte sich aus der Rinde einen Korb, +den er dann mit Aepfeln füllte. Da aber die Nacht schon hereinbrach, +wollte er heute nicht weiter gehen, sondern hier sein Nachtlager halten. +Wiederum hatte er das seltsame Traumgesicht, daß der wohlbekannte Alte +ihm aus seinem Fäßchen zu trinken gab und ihm den Rath ertheilte, auf +demselben Wege, den er gekommen, an den Strand zurückzugehen, wo er +gewiß Hülfe finden würde. Zuletzt hatte der Alte gesagt: »Weil du deinen +in's Meer gesunkenen Schatz nicht bedauert hast, sondern nur deinen +Dudelsack, so will ich dir einen neuen zum Andenken verehren.« Am Morgen +erinnerte er sich seines Traumes; aber wer vermöchte seine Freude und +sein Glück zu beschreiben, als er den im Traum ihm verheißenen Dudelsack +neben dem Korbe am Boden liegen sah. Tiidu nahm den Dudelsack und begann +nach Herzenslust zu blasen, daß der Wald davon wiederhallte. Nachdem er +sich satt gespielt hatte, nahm er den Weg unter die Füße und schlug die +Richtung nach der See ein.</p> + +<p>Es war schon etwas über Mittag, als er die Küste erreichte, in deren +Nähe er ein Schiff liegen sah, an welchem das Schiffsvolk eben +Ausbesserungen vornahm. Die Leute wunderten sich, auf dieser Insel, die +sie für unbewohnt gehalten, einen Menschen zu erblicken. Der Schiffer +ließ ein Boot herunter, und schickte mit demselben zwei Männer an's +Ufer. Tiidu erzählte ihnen sein Unglück, wie das Schiff untergegangen +sei, und<span class='pagenum'><a name="Page_337" id="Page_337">[S 337]</a></span> Gottes Gnade ihn wunderbarer Weise aus Todesgefahr errettet +habe. Der Schiffer versprach ihn unentgeltlich mitzunehmen und nach Land +Kungla zurückzubringen, wohin das Schiff bestimmt war. Unterwegs +erfreute Tiidu den Schiffer und das Schifssvolk durch sein schönes +Spiel; nach einigen Tagen hatten sie die Küste von Land Kungla erreicht. +Mit nassen Augen dankte Tiidu dem Schiffer, der ihn erlöst hatte, und +versprach, das Ueberfahrtsgeld redlich nachzuzahlen, sobald es ihm +wieder gut gehe. Als er nach einigen Tagen wieder in des Königs Stadt +angekommen war, spielte er gleich den ersten Abend öffentlich, und nahm +dafür so viel Geld ein, daß er sich neue Kleider nach ausländischem +Schnitt machen lassen konnte. Darauf that er einige rothe Aepfel in ein +Körbchen und ging mit seiner Waare an das Thor des Königshauses, wo er +sie am leichtesten los zu werden hoffte. Es dauerte auch nicht gar +lange, so kam ein königlicher Diener, kaufte die schönen Aepfel, +bezahlte mehr als gefordert war, und hieß den Verkäufer am nächsten Tage +wiederkommen. Tiidu aber machte sich eilig davon, als ob er Feuer in der +Tasche hätte, und dachte nicht daran, mit seiner Waare wiederzukommen, +denn er wußte ja recht gut, daß der Genuß der Aepfel ein Wachsen der +Nasen hervorbringen würde. Er ließ sich dann noch an demselben Tage +einen andern Anzug machen, und kaufte sich einen langen schwarzen Bart, +den er sich an's Kinn klebte; dadurch veränderte er sein Aussehen +dermaßen, daß selbst seine nächsten Bekannten ihn nicht wieder erkannt +hätten. Daraus nahm er in einem Wirthshause in einer entlegenen Vorstadt +seine Wohnung<span class='pagenum'><a name="Page_338" id="Page_338">[S 338]</a></span> und nannte sich einen ausländischen Zauberkünstler, der +alle Gebrechen zu heilen wisse.</p> + +<p>Am andern Tage war die ganze Stadt voll Bestürzung über das Unglück, +welches sich im Hause des Königs zugetragen hatte. Der König, seine +Gemahlin und seine Kinder hatten gestern Aepfel genossen, die man von +einem Fremden gekauft hatte, und waren darnach Alle erkrankt. Worin ihre +Krankheit bestand, das wurde nicht verrathen. Alle Doctoren, Aerzte und +Zauberkünstler der Stadt wurden zusammen gerufen, aber keiner konnte +helfen, weil sie eine solche Krankheit noch niemals bei Menschen gesehen +hatten. Später verlautete über die Krankheit, es sei ein Nasenübel. Als +eines Tages alle Aerzte und Zauberkünstler zur Berathung versammelt +waren, hielten einige es für nothwendig, die überflüssige Verlängerung +der Nasen wegzuschneiden; aber der König und seine Familie wollten sich +einer so schmerzhaften Kur nicht unterziehen. Da wurde gemeldet, daß bei +einem Gastwirth in der Vorstadt ein ausländischer Zauberkünstler sich +aufhalte, der alle Gebrechen heilen könne. Der König schickte sogleich +seine mit vier Pferden bespannte Kutsche hin, und ließ den +Zauberkünstler zu sich bescheiden. Tiidu hatte über die halbe Nacht +daran gearbeitet, sich ganz unkenntlich zu machen, und es war ihm so gut +gelungen, daß weder von dem Dudelsackpfeifer noch von dem +Aepfelverkäufer eine Spur nachgeblieben war. Auch seine Ausdrucksweise +war so gebrochen, daß er Manches erst mit den Fingern andeuten mußte, +ehe die Andern daraus klug wurden. Als er zum Könige kam, besah er das +seltsame Gebrechen, nannte es die Puterseuche, und versprach,<span class='pagenum'><a name="Page_339" id="Page_339">[S 339]</a></span> es ohne +Schneiden zu curiren. Dem Könige und seiner Gemahlin waren die Nasen +schon über eine Elle lang gewachsen, und dehnten sich noch immer weiter. +Dudelsack-Tiidu hatte feines Pulver von seinen Nüssen in eine kleine +Dose gethan, gab jedem Kranken eine Messerspitze voll ein, und ordnete +an, daß die Kranken sich in ein finsteres Gemach verfügten, wo sie sich +zu Bette legen und in Kissen hüllen mußten, damit starker Schweiß +erfolge, und den Krankheitsstoff zum Körper heraustreibe. Als sie nach +einigen Stunden wieder an's Licht traten, hatten alle ihre vorigen Nasen +wieder.</p> + +<p>Der König hätte in seiner Freude gern die Hälfte seines Königreiches für +diese Cur hingegeben, die ihn und die Seinigen von der greulichen +Nasenkrankheit befreit hatte. Allein durch die Noth, welche +Dudelsack-Tiidu beim Schiffbruch erlebt hatte, war seine Geldgier +schwächer geworden, und er verlangte nicht mehr, als hinreichte um sich +ein Gut zu kaufen, auf welchem er seine Lebenstage friedlich zu +beendigen wünschte. Der König ließ ihm jedoch eine dreimal größere Summe +auszahlen, mit welcher Tiidu zum Hafen eilte und ein Schiff bestieg, das +ihn in seine Heimath zurückbringen sollte. Vor seiner Abfahrt hatte er +seinen falschen Bart abgenommen, und die fremdartigen Kleider mit +anderen vertauscht. Dem Schiffer, der ihn von der wüsten Insel gerettet +hatte, erstattete er das Geld, welches er ihm für die Ueberfahrt +schuldete. Nachdem er an seiner heimischen Küste gelandet war, begab er +sich nach seinem Geburtsorte, und fand seinen Vater, zwei Brüder und +drei Schwestern noch am Leben; die Mutter und drei Brüder waren +gestorben.<span class='pagenum'><a name="Page_340" id="Page_340">[S 340]</a></span> Tiidu gab sich den Seinigen nicht eher zu erkennen, als bis +er das Gut gekauft hatte. Dann ließ er ein prächtiges Gastmahl +anrichten, und seine ganze Familie dazu einladen. Bei Tische gab er sich +zu erkennen und sagte: »Ich bin <em class="gesperrt">Tiidu</em>, euer fauler Sohn und Bruder, der +zu Nichts zu gebrauchen war, seinen Eltern Kummer machte, und endlich +heimlich davon lief. Mein Glück war mir holder als ich selbst, und darum +komme ich jetzt als reicher Mann zurück. Jetzt müsset ihr Alle kommen +und auf meiner Besitzung wohnen, und der Vater muß bis an seinen Tod in +meinem Hause bleiben.« — Später freite er ein tugendsames Mädchen, das +nichts weiter besaß, als ein hübsches Gesicht und ein gutes Herz. Als er +am Abend des Hochzeitstages mit seiner jungen Frau das Schlafgemach +betrat, fand er große Kisten und Kasten vor demselben, welche alle seine +in's Meer gesunkenen Schätze enthielten. In einem der Kasten lag ein +Blatt, worauf die Worte geschrieben waren: »Einem guten Sohne, der für +Eltern und Verwandte sorgt, giebt auch die Meerestiefe den geraubten +Schatz heraus.« Wer aber der zauberkräftige Alte gewesen, der ihn auf +den Weg des Glückes geführt, ihn aus der Seegefahr gerettet und Gier und +Geiz aus seinem Herzen getilgt hatte: das hat er niemals erfahren.</p> + +<p>Ob gegenwärtig noch von Dudelsack-Tiidu's Nachkommen Jemand lebt, ist +mir nicht bekannt, sollte man aber einige von ihnen ausfindig machen, +dann sind es gewiß so feine Herrschaften, daß bei ihnen weder +bäuerlicher Rauchgeruch noch Riegenstaub mehr anzutreffen ist.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_341" id="Page_341">[S 341]</a></span></p> +<h2>24. Die aus dem Ei entsprossene Königstochter.</h2> + + +<p>Einmal lebte ein König, dessen Gemahlin keine Kinder hatte, was Beide +sehr bekümmerte, besonders wenn sie sahen, wie niedriger stehende +Menschen in dieser Hinsicht viel reicher waren als sie selber. Trauriger +als gewöhnlich war die Königin immer, wenn der König einmal nicht zu +Hause war; dann saß sie fast immer im Garten unter einer breiten Linde, +senkte den Kopf und hatte die Augen voll Thränen. Da saß sie auch wieder +eines Tages, als der König auf einige Wochen verreist war, um die +Kriegsmacht zu besichtigen, welche an der Grenze des Reiches stand, +einen drohenden feindlichen Einbruch abzuwehren. Der Königin war das +Herz so beklommen, als stehe ihr ein unerwartetes Unglück bevor, und +ihre Augen füllten sich mit bitteren Thränen. Als sie das Antlitz +emporhob, sah sie ein altes Mütterchen, welches auf Krücken einher +hinkte, sich an der Quelle bückte, um zu trinken, und nachdem sie ihren +Durst gestillt hatte, gerade auf die Linde zu humpelte, wo die Königin +weilte. Das Mütterchen neigte ihr Haupt und sagte: »Nehmt es nicht übel, +geehrtes hohes Frauchen, daß ich es wage, vor euch zu<span class='pagenum'><a name="Page_342" id="Page_342">[S 342]</a></span> erscheinen, und +fürchtet euch nicht vor mir, denn es wäre leicht möglich, daß ich zur +guten Stunde gekommen bin und euch Glück bringe.« Die Königin +betrachtete sie zweifelhaft und antwortete: »Du selber scheinst mir an +Glück keinen Ueberfluß zu haben, was kannst du Andern davon gewähren?« +Die Alte ließ sich aber nicht irre machen, sondern sagte: »Unter rauher +Schale steckt oft glattes Holz und süßer Kern. Zeiget mir eure Hand, +damit ich erfahre, wie es mit euch werden wird.« Die Königin streckte +ihr die Hand hin, damit die Alte darin lesen könne. Als diese die Linien +und Striche eine Weile genau betrachtet hatte, ließ sie sich +folgendermaßen vernehmen: »Euer Herz ist jetzt mit zwei Sorgen beladen, +einer alten und einer neuen. Die neue Sorge, die euch quält, ist die um +euren Gemahl, der jetzt weit von euch ist; —aber glaubet meinem Worte, +er ist gesund und munter und wird binnen zwei Wochen zurück kommen und +euch frohe Zeitung bringen. Eure alte Sorge aber, welche eurer Hand +tiefere Striche eingedrückt hat, rührt daher, daß Gott euch keine +Leibesfrucht geschenkt hat!« Die Königin erröthete und wollte ihre Hand +aus der Hand der Alten losmachen, aber die Alte bat: »Habt noch ein +wenig Geduld, so bringen wir Alles auf einmal in's Reine.« Die Königin +fragte: »Sage mir, Mütterchen, wer du bist, daß du mir aus der +Handfläche meine Herzensgedanken kund thun kannst?« Die Alte erwiederte: +»Um meinen Namen ist es hier nicht zu thun, und ebenso wenig darum, +welche Kraft mir eures Herzens geheime Wünsche kund macht; ich freue +mich nur, daß es mir vergönnt ist, euch auf die rechte Bahn zu bringen, +und<span class='pagenum'><a name="Page_343" id="Page_343">[S 343]</a></span> eures Herzens Kummer zu mindern. Durch Zaubermacht ist euer Leib +verschlossen, so daß ihr nicht eher Kinder zur Welt bringen könnt, bis +die Bänder des Verschlusses gelöst sind, und die natürliche +Beschaffenheit wieder hergestellt ist. Ich kann dies bewirken, jedoch +nur dann, wenn ihr Alles befolgt, was ich euch sagen werde.« »Alles will +ich ja gern thun, und dich auch für deine Mühe königlich belohnen, wenn +du deine Versprechungen wahr machst,« sagte die Königin. — Die Alte +stand eine Zeitlang in Gedanken und fuhr dann fort: »Heute über's Jahr +sollt ihr sehen, daß meine Prophezeiungen eintreffen.« Mit diesen Worten +zog sie ein in viele Lappen gewickeltes Bündel aus dem Busen, und als +die Lappen abgenommen waren, kam ein kleines Körbchen von Birkenrinde +zum Vorschein; sie gab es der Königin und sagte: »In dem Körbchen findet +ihr ein Vogelei;<a name="FNanchor_86_86" id="FNanchor_86_86"></a><a href="#Footnote_86_86" class="fnanchor">[86]</a> dieses brütet drei Monate in eurem Schooße aus, bis +ein lebendiges Püppchen herauskommt, das einem menschlichen Kinde +gleicht. Das Püppchen legt in einen Wollkorb, und lasset es so lange +wachsen, bis es die Größe eines neugeborenen Kindes hat; Speise oder +Trank braucht es nicht, das Körbchen aber muß immer an einem warmen Orte +stehen. Neun Monate nach der Geburt des Püppchens werdet ihr einen Sohn +zur Welt bringen. An demselben Tage hat auch das Püppchen die Größe +eines neugeborenen Kindes erreicht, nehmet es dann heraus, leget es +neben den neugeborenen<span class='pagenum'><a name="Page_344" id="Page_344">[S 344]</a></span> Sohn in's Bette und lasset dem Könige melden, +daß Gott euch Zwillinge geschenkt habe, einen Sohn und eine Tochter. Den +Sohn säuget an eurer Brust, für die Tochter aber müßt ihr eine Amme +nehmen. An dem Tage, wo beide Kinder zur Taufe gebracht werden, bittet +mich, bei der Tochter Pathenstelle zu vertreten. Das macht ihr so: Auf +dem Boden des Körbchens findet ihr unter der Wolle einen Flederwisch, +den blaset zum Fenster hinaus, dann erhalte ich augenblicklich die +Botschaft und komme, bei eurem Töchterchen Gevatter zu stehen. Von dem, +was euch jetzt begegnet ist, dürft ihr Niemanden etwas sagen.« Ehe noch +die Königin ein Wort erwiedern konnte, eilte die hinkende Alte davon, +und nachdem sie zehn Schritte gemacht hatte, war von einer Alten keine +Spur mehr, sondern statt derselben schritt ein junges Weib in aufrechter +Haltung so rasch dahin, daß sie mehr zu fliegen als zu gehen schien. Die +Königin aber konnte sich von ihrer Verwunderung noch nicht erholen, und +würde Alles für einen Traum gehalten haben, wenn nicht das Körbchen in +ihrer Hand bezeugt hätte, daß die Sache wirklich vorgefallen war. Sie +fühlte ihr Herz mit einem Male wunderbar erleichtert. Sie trat in ihr +Gemach, wickelte das Körbchen, in welchem ein kleines Ei in feiner Wolle +lag, in seidene Tücher und steckte es in ihren Busen, wie das Mütterchen +vorgeschrieben hatte. Auch alles Uebrige gelobte sie sich zu erfüllen +und das Geheimniß zu bewahren.</p> + +<p>Gerade als der letzte Tag der zweiten Woche nach dem Besuche der Alten +zu Ende ging, kehrte der König zurück und rief schon von fern der Frau +die frohe Nachricht zu: »Mein Heer hat einen vollständigen Sieg davon<span class='pagenum'><a name="Page_345" id="Page_345">[S 345]</a></span> +getragen und den Feind mit blutigen Köpfen heimgeschickt, so daß unsere +Unterthanen für's erste Ruhe haben werden.« So war die erste +Prophezeiung der Alten vollständig eingetroffen, und dadurch befestigte +sich im Herzen der Königin die Hoffnung, daß auch die übrigen +Prophezeiungen in Erfüllung gehen würden. Sie hütete das Körbchen mit +dem Ei in ihrem Busen wie ein Kleinod, und ließ ein goldenes Kästchen +machen, in welches sie das Körbchen legte, damit das Eichen nicht etwa +beschädigt würde. Nach drei Monaten schlüpfte aus dem Ei ein lebendiges +Püppchen von halber Fingerlänge, welches der Vorschrift gemäß in den +Wollkorb gelegt wurde, um zu wachsen. So war auch die zweite +Prophezeiung wahr geworden, und die Königin harrte nun mit Spannung der +Zeit, wo ihr Herz zum ersten Male Mutterfreuden schmecken sollte. Und in +der That brachte sie nach Jahresfrist ein Söhnlein zur Welt, wie das +alte Mütterchen vorhergesagt hatte. Da nahm sie das Mägdlein aus dem +Wollkasten, legte es neben den Sohn in die Wiege, und ließ dem Könige +sagen, daß sie Zwillinge geboren habe, einen Sohn und eine Tochter. Die +Freude des Königs und seiner Unterthanen kannte keine Grenzen. — Alle +glaubten fest daran, daß die Königin mit Zwillingen niedergekommen sei. +An dem Tage, wo die Kinder getauft werden sollten, öffnete die Königin +ein wenig das Fenster und ließ den Flederwisch fliegen, um die +Taufmutter für die Tochter herbeizuschaffen, denn sie war überzeugt, die +Gevatterin würde zur rechten Zeit da sein. Als die eingeladenen +Taufgäste schon alle beisammen waren, fuhr eine prächtige Kutsche mit +sechs dotterfarbigen Rossen vor, und aus der Kutsche<span class='pagenum'><a name="Page_346" id="Page_346">[S 346]</a></span> stieg eine junge +Frau in rosenrothen goldgestickten seidenen Gewändern, die einen Glanz +verbreiteten, der mit dem Glanze der Sonne wetteiferte; das Antlitz +hatte sie mit einem feinen Schleier verhüllt. Als sie eintrat, nahm sie +den Schleier ab, und Alle mußten staunend bekennen, daß sie in ihrem +Leben noch keine schönere Jungfrau gesehen hätten. Die schöne Jungfrau +nahm nun das Töchterchen auf ihre Arme und trug es zur Taufe, in welcher +dem Kinde der Name <em class="gesperrt">Dotterine</em> beigelegt wurde, was freilich Niemanden +verständlich war, als der Königin, da ja das Kind wie ein Vogeljunges +aus einem Eidotter geboren war. Taufvater des Sohnes war ein vornehmer +Herr, und das Knäblein erhielt den Namen <em class="gesperrt">Willem</em>. Nach vollzogener Taufe +ließ sich die Taufmutter von der Königin das Körbchen mit den +Eierschalen geben, legte das Kind in die Wiege und sagte heimlich zur +Königin: »So lange die Kleine in der Wiege schläft, muß das Körbchen +neben ihr liegen, damit ihr nichts Uebles zustoßen kann, denn in dem +Körbchen ruht ihr Glück. Darum hütet diesen Schatz wie euren Augapfel, +und schärfet auch eurem Töchterchen, wenn es anfängt zu begreifen, ein, +daß es dieses unscheinbare Ding sorgfältig in Acht nehmen muß.« Sie +sprach dann noch Manches mit der Mutter über die Erziehung ihrer Pathe, +küßte diese drei Mal, nahm Abschied, stieg in die Kutsche und fuhr +davon. Niemand wußte, woher sie gekommen war und wohin sie ging; auch +die Königin gab auf Befragen keinen weiteren Bescheid als: es ist eine +mir bekannte Königstochter aus fernem Lande.<span class='pagenum'><a name="Page_347" id="Page_347">[S 347]</a></span></p> + +<p>Die Kinder gediehen fröhlich, Willem bei der Muttermilch und Dotterine +an der Brust der Amme. Diese liebte das Mägdlein so zärtlich, als wäre +es ihr leibliches Kind gewesen, und die Königin behielt sie deßhalb nach +der Entwöhnung als Kinderwärterin. Die kleine Dotterine wurde von Tage +zu Tage hübscher, so daß die älteren Leute meinten, sie würde einmal +ihrer Taufmutter ähnlich werden. Die Amme hatte zuweilen bemerkt, daß in +der Nacht, wenn Alles schlief, eine fremde schöne Frau erschien, um den +Säugling zu betrachten; als sie dies der Königin entdeckte, schärfte ihr +diese ein, gegen Niemanden von dem nächtlichen Gaste etwas verlauten zu +lassen. Als die Zwillinge zwei Jahr alt waren, wurde die Königin +plötzlich schwer krank; zwar wurden Aerzte von nah und fern +herbeigerufen, aber sie konnten nicht helfen, denn für den Tod ist kein +Kraut gewachsen. Die Königin fühlte selbst, daß sie von Stunde zu Stunde +dem Grabe immer näher kam, und ließ deßhalb die Wärterin und vormalige +Amme der Dotterine rufen. Ihr, als der treuesten ihrer Dienerinnen, +übergab sie das Glückskörbchen mit den Eierschalen und schärfte ihr ein, +das verwunderliche Ding sorgfältig in Acht zu nehmen. »Wenn mein +Töchterchen,« so sagte die Königin, »zehn Jahr alt ist, dann händige ihr +das Kleinod ein, und ermahne sie, es zu hüten, weil es das Glück ihrer +Zukunft birgt. Um meinen Sohn sorge ich nicht, ihn, als des Reiches +Erben, wird der König unter seine Obhut nehmen.« Die Wärterin mußte ihr +dann eidlich versprechen, das Geheimniß vor jedermann zu bewahren. +Darauf ließ sie den König an ihr Bett rufen und bat ihn, er möge die<span class='pagenum'><a name="Page_348" id="Page_348">[S 348]</a></span> +gewesene Amme Dotterinen's ihr als Wärterin und Dienerin lassen, so +lange als Dotterine es wünschen würde. Der König versprach es; noch +denselben Abend gab seine Gemahlin ihren Geist auf.</p> + +<p>Nach einigen Jahren freite der verwittwete König wieder, und brachte +eine junge Frau in's Haus, die sich aus dem gealterten Gemahl nichts +machte, sondern ihn nur aus Ehrgeiz genommen hatte. Die Kinder der +ersten Frau konnte sie nicht vor Augen sehen, weßhalb der König sie an +einem abgesonderten Orte aufziehen ließ, wo Dotterinen's frühere Amme +mütterlich für sie sorgte. Kamen die Kinder einmal zufällig der +Stiefmutter zu Gesicht, so stieß sie dieselben wie junge Hunde mit dem +Fuße fort, so daß die Kinder sie scheuten wie das Feuer. Als Dotterine +das Alter von zehn Jahren erreicht hatte, händigte ihr die Amme das +Pathengeschenk ein, und ermahnte sie, dasselbe wohl in Acht zu nehmen. +Da das Geschenk aber dem Kinde so gar unansehnlich vorkam, so gab es +nicht viel darauf, legte es zu den übrigen von der Mutter geerbten +Sachen in den Kasten, und dachte nicht weiter daran. Darüber waren +wieder ein Paar Jahre hingegangen, als eines Tages, da der König sich +entfernt hatte, die Stiefmutter Dotterine im Garten unter einer Linde +sitzen fand: wie ein Habicht fuhr sie auf das Kind los, riß es an den +Ohren und schlug es, daß Blut aus Mund und Nase floß. Weinend lief das +Mädchen in ihr Gemach, und als sie die Amme dort nicht fand, fiel ihr +mit einem Male das Pathengeschenk ein. Sie nahm es aus dem Kasten und +wollte nun zu ihrer Zerstreuung sehen, was denn wohl darin wäre. Aber +sie fand im Körbchen keinen<span class='pagenum'><a name="Page_349" id="Page_349">[S 349]</a></span> größeren Schatz als eine Handvoll feine +Schafwolle und ein paar leere Eierschalen. Unter der Wolle auf dem +Grunde des Körbchens lag ein Flederwisch. Als nun das Mädchen am +geöffneten Fenster die wertlosen Sachen betrachtete, verursachte es +einen Luftzug, der den Flederwisch fort blies. Augenblicklich stand eine +fremde schöne Frau neben Dotterinen, streichelte ihr Kopf und Wangen und +sagte freundlich: »Fürchte dich nicht, liebes Kind, ich bin deine +Taufmutter, und bin hergekommen, dich zu sehen. Deine vom Weinen +angeschwollenen Augen sagen mir, daß du traurig bist. Ich weiß, daß das +Leben, welches du unter dem Joche deiner Stiefmutter führst, nicht +leicht ist, allein halte aus und bleibe brav in allen Anfechtungen, dann +werden einst bessere Tage für dich anbrechen. Wenn du erwachsen bist, +hat deine Stiefmutter keine Gewalt mehr über dich, und eben so wenig +können andere böse Menschen dir schaden, wenn du dein Körbchen nicht +verloren gehen lässest; auch die Eierschalen darfst du nicht abhanden +kommen lassen, zu rechter Zeit werden sie sich wieder zu einem Eichen +zusammenfügen, und dann wird dein Glück erblühen. Nähe dir ein seidenes +Säckchen, stecke das Körbchen hinein und verwahre es Tag und Nacht im +Busen, so können dir weder deine Stiefmutter noch andere Menschen etwas +Böses anhaben. Sollte dir aber irgend etwas zustoßen, wobei du ohne +meinen Rath nicht durchkommen zu können glaubst, so nimm den Flederwisch +aus dem Körbchen und blase ihn in's Freie; dann werde ich augenblicklich +da sein, dir zu helfen. Komm jetzt in den Garten, da können wir uns +unter der Linde weiter unterhalten, ohne daß ein Anderer es hört.« Unter +der<span class='pagenum'><a name="Page_350" id="Page_350">[S 350]</a></span> Linde setzten sie sich auf eine Rasenbank und die Taufmutter wußte +der Kleinen durch anmuthiges Gespräch die Zeit so gut zu verkürzen, daß +sie nicht merkte, wie die Sonne schon längst untergegangen war und die +Nacht hereinbrach. Da sagte die Taufmutter: »Reiche mir das Körbchen, +ich will etwas Abendbrot besorgen, damit du nicht mit leerem Magen +schlafen zu gehen brauchst.« Sie sprach dann heimliche Worte über das +Körbchen, worauf ein Tisch mit wohlschmeckenden Speisen aus dem Boden +stieg. Beide aßen sich satt, dann begleitete die Taufmutter Dotterinen +wieder zum Hause des Königs, und lehrte ihr während dieses Ganges die +geheimen Worte, welche sie dem Körbchen zuflüstern müsse, wenn sie etwas +zu begehren hätte. Seltsam war es, daß von da an die Stiefmutter ihrer +Stieftochter kein böses Wort mehr gab, sondern fast immer freundlich +gegen sie war.</p> + +<p>Nach einigen Jahren war Dotterine zur reifen Jungfrau herangewachsen, +und ihre Schönheit und Wohlgestalt war so blendend, daß man glaubte, es +gebe ihres Gleichen nicht auf der Welt. Da brach ein schwerer Krieg aus, +der von Tag zu Tage schlimmer wurde, bis zuletzt der Feind vor die +Königsstadt zog und sie mit Heeresmacht einschloß, so daß keine Seele +heraus noch herein kommen konnte. Der Hunger begann die Einwohner zu +quälen, und auch in des Königs Hause drohte binnen wenigen Tagen der +Mundvorrath auszugehen. — Da ließ Dotterine eines Tages ihren +Flederwisch fliegen, und siehe da! augenblicklich war die Taufmutter bei +ihr. Als die Königstochter ihr die Noth und das Elend geklagt hatte, +sagte die Taufmutter: »Dich, liebes Kind, kann ich wohl aus<span class='pagenum'><a name="Page_351" id="Page_351">[S 351]</a></span> dieser +Gefahr erretten, für die andern aber reicht meine Hülfe nicht aus, sie +müssen selber sehen, wie sie durchkommen.« Darauf nahm sie Dotterinen +bei der Hand und führte sie aus der Stadt mitten durch das Heer der +Feinde, deren Augen sie so verblendet hatte, daß Niemand die Flüchtlinge +sehen konnte. Am folgenden Tage fiel die Stadt in die Hand der Feinde, +und der König mit seinem ganzen Hause wurde gefangen genommen, sein Sohn +Willem aber war glücklich entronnen. Die Königin hatte durch einen +feindlichen Speer den Tod gefunden. Für Dotterine hatte die Taufmutter +Bauernkleider besorgt, und ihr Antlitz so verändert, daß Niemand sie +erkennen konnte. »Wenn einst wieder eine bessere Zeit kommt,« sagte die +Taufmutter, »und du dich sehnst, in deiner früheren Gestalt vor die +Leute zu treten, dann flüstere dem Körbchen die geheimen Worte zu und +gebiete ihm, dich in deine eigene Gestalt zurück zu verwandeln; und es +wird so geschehen. Jetzt ertrage eine Zeitlang geduldig schwere Tage, +bis die Lage sich bessert.« Scheidend ermahnte sie noch das Mädchen, das +Körbchen gut in Acht zu nehmen, und entfernte sich dann. Dotterine +wanderte mehrere Tage von einem Orte zum andern umher, da aber der Feind +die ganze Umgegend verwüstet hatte, so fand sie anfangs weder Obdach +noch Dienst. Zwar bot ihr das Körbchen ihre tägliche Nahrung, aber sie +wollte doch nicht so auf eigene Hand weiter leben, und nahm deßhalb mit +Freuden einen Dienst als Magd in einem Bauerhofe an, wo sie so lange zu +bleiben gedachte, bis die Dinge sich wenden würden. Anfangs wurde die +ungewohnte grobe Arbeit Dotterinen sehr schwer, weil sie sich eben noch +niemals<span class='pagenum'><a name="Page_352" id="Page_352">[S 352]</a></span> damit abgegeben hatte. Aber war es nun, daß ihre Gliedmaßen +sich wirklich so schnell abhärteten, oder daß das Wunderkörbchen ihr +heimlich half — nach drei Tagen ging ihr Alles so gut von der Hand, als +wäre sie von Kindesbeinen an dabei aufgewachsen. An ihr wurde das alte +Wort zu Schanden, welches sagt: »Man kann wohl aus einem Bauern eine +Herrschaft, aber aus einer Herrschaft keinen Bauern machen.« Da traf es +sich, daß eines Tages eine Edelfrau durchs Dorf fuhr, als Dotterine +gerade auf dem Hofe Holzgefäße scheuerte. Des Mädchens flinkes Thun und +anmuthiges Wesen fesselte die Frau; sie ließ halten, rief das Mädchen +heran und fragte: »Hast du nicht Lust bei mir auf dem Gute in Dienst zu +treten?« »Gern,« antwortete die Königstochter, »wenn meine jetzige +Brotherrschaft mir Erlaubniß giebt.« Die Frau versprach die Sache mit +dem Wirthe in Ordnung zu bringen, ließ das Mädchen den Sitz hinter der +Kutsche einnehmen und fuhr mit ihr auf's Gut. Hier hatte es Dotterine +wieder leichter, denn ihre ganze Arbeit bestand darin, die Zimmer +aufzuräumen und der Frau und den Fräulein beim Ankleiden behülflich zu +sein. Nach einem halben Jahre kam die fröhliche Kunde, daß des alten +Königs Sohn, der den Feinden glücklich entkommen war, in der Fremde ein +Heer gesammelt, mit welchem er sein Königreich dem Feinde wieder +abgenommen habe, und daß er nun selber zum Könige erhoben worden sei. +Die Freudenbotschaft war aber zugleich von einer Todesbotschaft +begleitet: der alte König war im Gefängniß gestorben. Da nun Dotterine +Anderen ihren Kummer nicht zeigen durfte, so weinte sie heimlich bittere +Thränen über ihres<span class='pagenum'><a name="Page_353" id="Page_353">[S 353]</a></span> Vaters Tod, denn ein anderer als ihr Vater konnte ja +doch der verstorbene König nicht sein.</p> + +<p>Nach Ablauf des Trauerjahres ließ der junge König verkünden, daß er +entschlossen sei, sich zu vermählen. Es wurden deswegen von nah und fern +alle Jungfrauen vornehmer Herkunft zu einem Feste in das Haus des Königs +geladen, damit derselbe sich aus ihrer Mitte eine junge Frau wählen +könne, wie Auge und Herz sie begehrten. Auch die Töchter der Dame, bei +welcher Dotterine diente, und die alle drei jung und blühend waren, +rüsteten sich zum Feste. Dotterine hatte jetzt einige Wochen vom Morgen +bis zum Abend vollauf mit dem Putze der Fräulein zu thun. In dieser Zeit +träumte ihr jede Nacht, ihre Taufmutter käme an ihr Bett und sagte: +»Schmücke erst deine Fräulein zum Feste, und dann folge selber nach. +Keine kann dort so schmuck und so schön sein wie du!« Je näher der Tag +des Festes heranrückte, desto unruhiger wurde Dotterinen zu Muthe, und +als die Frau mit ihren Töchtern davon gefahren war, warf sie sich mit +dem Gesicht auf's Bett und vergoß bittere Thränen. Da war's, als ob ihr +eine Stimme zurief: »Nimm dein Körbchen zur Hand, dann wirst du Alles +finden, was du brauchst.« Dotterine sprang auf, nahm das Körbchen aus +dem Busen, sprach darüber die geheimen Worte, welche sie gelernt hatte, +und siehe das Wunder! augenblicklich lagen prachtvolle goldgewirkte +Gewänder auf dem Bette. Als sie sich dann das Gesicht wusch, erhielt sie +ihr früheres Ansehen wieder, und als sie die prächtigen Kleider angelegt +hatte, und dann vor den Spiegel trat, erschrack sie selber über ihre +Schönheit. Als sie die Treppe hinunter kam, fand sie<span class='pagenum'><a name="Page_354" id="Page_354">[S 354]</a></span> vor der Thür eine +stattliche Kutsche mit vier dotterfarbigen Pferden bespannt. Sie setzte +sich ein und fuhr mit Windesschnelle fort, so daß sie in weniger als +einer Stunde vor der Pforte des Königshauses angelangt war. Als sie eben +aussteigen wollte, fand sie zu ihrem Schrecken, daß sie beim raschen +Ankleiden das Glückskörbchen zu Hause vergessen hatte. Was jetzt +beginnen? Schon entschloß sie sich zurückzufahren, als eine kleine +Schwalbe mit dem Körbchen im Schnabel an's Kutschfenster geflogen kam. +Erfreut nahm ihr Dotterine das Körbchen aus dem Schnabel, steckte es in +den Busen und hüpfte leicht wie ein Eichhörnchen die Treppe hinauf.</p> + +<p>Im Festgemach funkelte Alles von Pracht und Schönheit, die vornehmen +Fräulein hatten ihren kostbarsten Schmuck angelegt, jede in der +Hoffnung, daß des jungen Königs Auge auf sie fallen würde. Als aber +plötzlich die Thür sich öffnete und Dotterine eintrat, da erbleichte der +Andern Glanz wie der der Sterne beim Aufgang der Sonne, so daß der +Königssohn nur noch diese Jungfrau sah. Einige ältere Personen, die sich +noch dessen erinnerten, was vorgefallen war, als der König mit seiner +später verschwundenen Schwester die Taufe erhielt, sprachen zu einander: +»Diese Jungfrau kann gar wohl die Tochter jener unbekannten Dame sein, +welche bei unseres alten Königs Tochter Gevatter stand.« Der König kam +Dotterinen nicht mehr von der Seite, und kümmerte sich nicht um die +übrigen Gäste. Um Mitternacht geschah etwas Wunderbares: das Gemach war +plötzlich wie in Wolken gehüllt, so daß man weder den Glanz der Lichter +noch die Menschen sah. Nach einer kleinen Weile entwickelte<span class='pagenum'><a name="Page_355" id="Page_355">[S 355]</a></span> sich aus +dem Nebel wieder Helligkeit und es erschien eine Frau, die keine andere +war, als Dotterinens Taufmutter. Sie sprach zum jungen Könige: »Das +Mädchen, welches neben dir steht, ist deine vermeintliche Schwester, +welche mit dir zusammen getauft wurde, und an dem Tage verschwand, wo +die Stadt in die Hände der Feinde fiel. Die Jungfrau ist aber nicht +deine Schwester, sondern eines weit entfernten Königs Tochter, welche +ich aus der Verzauberung erlöste, und deiner verstorbenen Mutter zur +Pflege übergab.« Dann krachte es, daß die Wände zitterten, und in +demselben Augenblick war die Taufmutter verschwunden, ohne daß jemand +sah, wo sie hingekommen war. Der junge König ließ sich am folgenden Tage +mit Dotterinen trauen, worauf eine prächtige Hochzeitsfeier folgte. Der +König lebte mit seiner Gemahlin sehr glücklich bis an sein Ende, aber +Niemand hat je gehört, wohin das Glückskörbchen gekommen ist. Man meint, +die Taufmutter habe es heimlich mitgenommen, als sie ihre Pathe das +letzte Mal gesehen.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_356" id="Page_356">[S 356]</a></span></p> +<h2>Anmerkungen</h2> + +<h4>von</h4> + +<h3>Reinhold Köhler und Anton Schiefner.</h3> + + +<h4>1. Die Goldspinnerinnen.</h4> + +<p>Wie S. <a href='#Page_10'>10</a> eine Handvoll aus <em class="gesperrt">neunerlei</em> Arten gemischter Hexenkräuter zur +Verfertigung des Hexenknäuels gebraucht wird, so kömmt S. <a href='#Page_243'>243</a> ein Trank +aus <em class="gesperrt">neunerlei</em> Kräutern vor, wovon ein Jüngling drei Tage hinter einander +<em class="gesperrt">neun</em> Löffel täglich erhält. S. <a href='#Page_246'>246</a> wäscht sich die Höllenjungfrau <em class="gesperrt">neun</em> +mal ihr Gesicht in der Quelle und umwandelt sie <em class="gesperrt">neun</em> mal. S. <a href='#Page_262'>262</a> <em class="gesperrt">neun</em> +Kinder. Die Heiligkeit und die häufige Anwendung der Neunzahl ist +bekanntlich uralt und weit verbreitet, namentlich auch bei den +finnisch-tatarischen Völkern. Vgl. Ph. J. v. Strahlenberg Das Nord- und +Ostliche Theil von Europa und Asia, Stockholm 1730, S. 75-82, und +Schiefner Die Heldensagen der Minussinschen Tataren S. <em class="antiqua">XXIX</em>. Auch in den +in neuster Zeit von W. Radloff gesammelten Proben der Volksliteratur der +türkischen Stämme Süd-Sibiriens begegnet die Neunzahl sehr oft. Was +insbesondere die <em class="gesperrt">neunerlei Kräuter</em> betrifft, so erwähnt Strahlenberg S. +<a href='#Page_78'>78</a>, daß die Bauern in Liefland »gemeiniglich neunerlei Kräuter zu ihren +Arzenei-Getränken gebrauchen.« Auch im deutschen Aberglauben spielen die +neunerlei Kräuter eine wichtige Rolle (A. Wuttke Der deutsche +Volksaberglaube der<span class='pagenum'><a name="Page_357" id="Page_357">[S 357]</a></span> Gegenwart, 2. völlig neue Bearbeitung, Berlin 1869, +§. 120, vgl. auch §§. 74, 85, 92, 253, 495, 528, 683). K.</p> + + +<h4>3. Schnellfuß, Flinkhand und Scharfauge.</h4> + +<p>Märchen von Menschen mit derartigen wunderbaren Eigenschaften sind +zahlreich. Viele derselben hat Benfey in seinem Aufsatz »Das Märchen von +den Menschen mit den wunderbaren Eigenschaften« im Ausland 1858, Nr. +41-45 zusammengestellt. Vgl. auch noch Jahrbuch für romanische und +englische Literatur <em class="antiqua">VII</em>, 32. Das ehstnische Märchen ist eine durchaus +eigenthümliche Gestaltung des Stoffes. K.</p> + +<p>S. <a href='#Page_34'>34</a>, Z. 1 und 18 lese man »<em class="gesperrt">drei Eier eines schwarzen Huhns</em>.« Wie hier +ein <em class="gesperrt">schwarzes</em> Huhn, so S. <a href='#Page_62'>62</a> ein <em class="gesperrt">schwarzer</em> Hund, S. <a href='#Page_70'>70</a> u. <a href='#Page_289'>289</a> eine +<em class="gesperrt">schwarze</em> Katze, S. <a href='#Page_97'>97</a> ein <em class="gesperrt">schwarzes</em> Pferd, S. <a href='#Page_99'>99</a> <em class="gesperrt">schwarze</em> Ochsen. Sch.</p> + +<p>Der S. <a href='#Page_42'>42</a> vorkommende <em class="gesperrt">Goldapfelbaum</em>, von dem Goldäpfel entwendet werden +und bei dem nachts gewacht wird, bis der Dieb entdeckt wird, ist einem +vielverbreiteten Märchen entnommen, welches man »das Märchen von dem +Goldapfelbaum und von den drei Königssöhnen« betiteln kann. Es findet +sich bei Grimm Nr. 57, v. Hahn Griechische und albanesische Märchen Nr. +70, Schott Walachische M. Nr. 26, J. W. Wolf Zeitschrift für deutsche +Mythologie <em class="antiqua">II</em>, 389 (aus der Bukowina), Wuk Serbische Volksmärchen Nr. 4, +Waldau Böhmisches Märchenbuch S. 131, Glinski <em class="antiqua">Bajarz polski I</em>, 1, Vogl +Die ältesten Volksmärchen der Russen Nr. 2 und nach Schiefners +Mittheilung bei Afanasjew <em class="antiqua">VII</em>, 121 und Salmelainen <em class="antiqua">IV</em>, 45. In allen +diesen Märchen sind es wunderbare Vögel, welche die Aepfel entwenden. +Das masurische Märchen bei Töppen Aberglauben aus Masuren, 2. Aufl., S. +139, gehört nur dem Anfang nach her, verläuft aber dann in ein ganz +andres Märchen. K.</p> + +<p>S. <a href='#Page_47'>47</a> wäre statt »der Hexenmeister <em class="gesperrt">Piirisilla</em>« genauer zu übersetzen +»der Hexenmeister von <em class="gesperrt">Piirisild</em>« d. h. Gränzbrücke (Genitiv <em class="gesperrt">Piirisilla</em>). +Vielleicht steckt in dem Piirisild eine Erinnerung an den Zauberer +Virgilius. Letzterer ist sogar noch<span class='pagenum'><a name="Page_358" id="Page_358">[S 358]</a></span> in einem polnischen Kinderspiel +bekannt, das dem englischen »Simon sagts« (s. Wagner Illustrirtes +Spielbuch für Knaben, Leipzig O. Spamer, 2. Aufl., Nr. 714) zunächst +kommt. Sch.</p> + +<p>S. <a href='#Page_51'>51</a>, Z. 4 ist mit dem ehstnischen Texte übereinstimmend zu lesen +»<em class="gesperrt">schwedische</em> Brüder«. Es zogen diese ja zu dem Könige im <em class="gesperrt">Nordlande</em>, wie +wir aus S. <a href='#Page_49'>49</a> Zeile 6 ersehen. Wir haben zugleich einen Fingerzeig über +die Quelle des Märchens. So finden wir auch S. <a href='#Page_60'>60</a> den <em class="gesperrt">Schwedenkönig</em> +genannt. Sch.</p> + + +<h4>4. Der Tontlawald.</h4> + +<p>In dem russischen Märchen »die schöne Wasilissa« (Afanasjew <em class="antiqua">IV</em>, 44) wird +die Stieftochter in den Wald geschickt, um von der dort wohnenden Hexe +(<em class="antiqua">Jagá babá</em>) Feuer zu holen. Auf den Rath der ihr von der Mutter auf dem +Sterbebett übergebenen Puppe, mit der sie ihre Nahrung theilt, begiebt +sie sich in den Wald und besteht dort alle Gefahren. Die Hexe giebt ihr +einen Todtenkopf mit funkelnden Augen mit, welcher ihre Stiefschwestern +zu Asche verbrennt.</p> + +<p>Gute Kenner der ehstnischen Gebräuche bestätigen mir die S. <a href='#Page_74'>74</a> und <a href='#Page_177'>177</a> +vorkommende Sitte, für die Todtenwächter zur Nacht Erbsen in Salz zu +kochen. Sch.</p> + + +<h4>5. Der Waise Handmühle.</h4> + +<p>Außer dem von Herrn Löwe in der <a href='#Footnote_25_25'>Anmerkung auf S. 80</a> Angeführten verweise +ich auf den Aufsatz »Ueber das Wort Sampo im finnischen Epos« im +Bulletin der Petersburger Akademie <em class="antiqua">III</em>, 497-506 = <em class="antiqua">Mélanges russes IV</em>, +195-209, in welchem ich verschiedene auf Wundermühlen bezügliche +russische Märchen vorführe. Sch.</p> + + +<h4>7. Wie eine Waise unverhofft ihr Glück fand.</h4> + +<p>Dieses Märchen ist früher von Herrn Kreutzwald mir mitgeteilt und von +mir im Bulletin <em class="antiqua">XVI</em>, 448-56 und 562-63<span class='pagenum'><a name="Page_359" id="Page_359">[S 359]</a></span> (= <em class="antiqua">Mélanges russes IV</em>, 7-18) in +dem Aufsatz »Zum Mythus vom Weltuntergange« veröffentlicht worden, wo +auch das in finnischen Märchen Vorkommende verwandten Inhalts berührt +ist. Sch.</p> + +<p>Wie sich in diesem Märchen (S. <a href='#Page_95'>95</a> f.) ein ins Wasser geworfenes +Klettenblatt in einen Nachen verwandelt, so verwandeln sich in Ariostos +Rasendem Roland (<em class="antiqua">XXXIX</em>, 26-28) die von Astolf ins Meer geworfenen +verschiedenen Blätter in Schiffe. K.</p> + + +<h4>8. Schlaukopf.</h4> + +<p>Dieses Märchen erinnert einigermaßen an die, welche ich im Jahrbuch für +roman. und engl. Literatur <em class="antiqua">VII</em>, 137 f. zusammengestellt habe. Nach +Schiefners Mittheilung gehört dazu noch ein finnisches (Salmelainen <em class="antiqua">IV</em>, +126), wo Helli dem Bergkobold (<em class="antiqua">Wuoren peikko</em>) Pferd, Geld und goldene +Decke stiehlt. K.</p> + + +<h4>11. Der Zwerge Streit.</h4> + +<p>Der Streit der Erben (Geister, Teufel, Riesen, Zwerge, Menschen) um +Wunschdinge, welche dann der von den Streitenden erwählte Schiedsrichter +sich aneignet, kömmt oft in den Märchen des Morgen- und Abendlandes vor. +Näher darauf einzugehen ist hier nicht der Ort, nur folgendes sei +bemerkt. Die Zahl der Wunschdinge ist häufig drei, und darunter befinden +sich sehr oft ein Paar Schuhe oder Stiefeln und ein Hut oder eine Mütze. +Erstere bringen den Besitzer entweder, wie hier, sofort an einen +gewünschten Ort, oder er kann wenigstens in ihnen mit jedem Schritt +Meilen (7-1000) zurücklegen. Der Hut oder die Mütze hat meistens die +Eigenschaft unsichtbar zu machen: daß der Träger des Hutes aber alles, +auch das fernste und den gewöhnlichen Menschen sonst unsichtbare, sehen +kann, ist dem ehstnischen Märchen eigen, ebenso wie der Alles +schmelzende Stock. Zwar kömmt unter den Wunschdingen in mehreren Märchen +ein Stock oder eine Keule vor, aber nicht mit dieser Eigenschaft.<span class='pagenum'><a name="Page_360" id="Page_360">[S 360]</a></span></p> + +<p>Was den Umstand betrifft, daß der Hut aus Nägelschnitzeln gemacht ist, +so ist außer dem <a href='#Footnote_59_59'>S. 143, Anm. 1</a> Bemerkten noch auf Schiefners +Mittheilung im Bulletin <em class="antiqua">II</em>, 293 zu verweisen, daß die Lithauer in +Samogitien ihre Nägelschnitzel nicht wegwerfen, sondern an ihrem Leibe +verwahren, aus Furcht, der Teufel könne dieselben auflesen und sich +einen Hut daraus machen. Schiefner erinnert auch an das aus +Nägelschnitzeln Todter gebildete Todtenschiff Naglfari in der Edda.</p> + +<p>Daß Zwerge bei Hochzeiten unsichtbar mitessen, kömmt öfters in deutschen +Sagen vor, z. B. in Büschings Wöchentlichen Nachrichten <em class="antiqua">I</em>, 73, +Müllenhoff Sagen, Märchen und Lieder aus Schleswig u. s. w. S. 280, Nr. +380, Kuhn und Schwartz Norddeutsche Sagen Nr. 189, 4; 270, 2; 291. K.</p> + + +<h4>13. Wie eine Königstochter sieben Jahre geschlafen.</h4> + +<p>Man vgl. das finnische Märchen aus Salmelainens Sammlung in Ermans +Archiv für wissenschaftliche Kunde von Rußland <em class="antiqua">XIII</em>, 483, das masurische +bei Töppen Aberglauben aus Masuren S. 148, das von Chavannes in der +Sammelschrift »Die Wissenschaften im 19. Jahrhundert« <em class="antiqua">IX</em>, 100 +mitgetheilte russische, das polnische bei Glinski <em class="antiqua">Bajarz polski I</em>, 38, +das tiroler bei Zingerle Tirols Volksdichtungen und Volksgebräuche <em class="antiqua">II</em>, +395. Alle diese Märchen gehen gleich dem ehstnischen davon aus, daß ein +sterbender Vater seine drei Söhne auffordert, nach seinem Tode der Reihe +nach je eine Nacht auf seinem Grabe zuzubringen, welcher Aufforderung +jedoch die beiden ältesten nicht nachkommen, während der jüngste, der +als Dümmling gilt, alle drei Nächte auf dem väterlichen Grabe wacht. Die +Hand der Königstochter soll im finnischen Märchen der erhalten, welcher +sein Pferd bis ans dritte Stockwerk der Hofburg springen lassen und der +da sitzenden Prinzessin einen Kuß geben kann; im masurischen, wer zu +Pferde zweimal in das vierte Stockwerk des Schlosses zur Prinzessin +gelangen kann; im russischen, wer zu Pferde der im dritten Stockwerk +sitzenden Prinzessin einen Kuß geben, oder nach Vari<span class='pagenum'><a name="Page_361" id="Page_361">[S 361]</a></span>anten: wer über +zwölf Glastafeln oder über so und so viel Balken zu ihr oder ihrem Bild +zu Pferd gelangen kann; im tiroler, wer einen steilen Felsen empor +reiten kann; im polnischen, wer in Ritterspielen siegt. In einigen der +zahlreichen, sonst ähnlichen Märchen, in denen jedoch die Nachtwachen +auf dem Grabe des Vaters fehlen, muß, wie im ehstnischen, der Bewerber +um die Hand der Königstochter einen Glasberg hinaufreiten (Sommer Sagen, +Märchen und Gebräuche aus Sachsen und Thüringen <em class="antiqua">I</em>, 96, Asbjörnsen und +Moë Norske Folkeeventyr Nr. 52, Grundtvig Gamle danske Minder i +Folkemunde <em class="antiqua">I</em>, 211, Müllenhoff Sagen, Märchen und Lieder aus Schleswig u. +s. w. S. 437, Anmerk. zu Nr. <em class="antiqua">XIII</em>). In fast allen hierher gehörigen +Märchen macht der Dümmling von seinem Siege zunächst keinen Gebrauch, +begibt sich vielmehr unerkannt nach Hause und wird erst nach einiger +Zeit, meist ohne sein Zuthun, als der gesuchte Sieger erkannt. In diesem +Punkte ist das ehstnische Märchen entstellt. Durchaus eigentümlich dem +ehstnischen Märchen sind der siebenjährige Schlaf der Königstochter und +der Umstand, daß der Bauernsohn ein vertauschter Prinz ist. K.</p> + +<p>Daß der Glaskasten, in dem die Königstochter ruht, und der Glasberg +Nachklänge der altnordischen Brynhildr-Mythe sind, bemerke ich, indem +ich kurz auf Mannhardt Germanische Mythen S. 333 verweise, woselbst man +auch das hierher gehörige dänische Volkslied citiert findet, demzufolge +Sigfrid den Glasberg hinaufreitet. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der +in der russischen Heldensage räthselhaft dastehende Swjatogor (ob nicht +entstellt aus Sigurd?), der sein Weib in einem Krystall-Schrein auf den +Schultern trägt (Rybnikow <em class="antiqua">I</em>, 37), hierher zu ziehen ist. Wie sehr +Verunstaltungen im Laufe der Zeit entstehen können, erkennt man leicht, +wenn man bedenkt, wie die dem Swjatogor vom Schicksal bestimmte Braut im +Land am Meeresstrand dreißig Jahre auf einem Misthaufen ruht und ihr +Leib wie Tannenrinde aussieht; vgl. meinen Aufsatz »Zur russischen +Heldensage« im Bulletin <em class="antiqua">IV</em>, 273-85 = <em class="antiqua">Mélanges russes IV</em>, 230-48. In dem +Märchen »der Krystallberg« bei Afanasjew <em class="antiqua">VII</em>, 209, kriecht der +Königssohn Iwan in Gestalt einer Ameise in den<span class='pagenum'><a name="Page_362" id="Page_362">[S 362]</a></span> Krystallberg, in welchen +der zwölfköpfige Drache die Königstochter entführt hatte; er tödtet den +Drachen und findet in dessen rechter Seite einen Kasten, in dem Kasten +einen Hasen, in dem Hasen eine Ente, in der Ente ein Ei, in dem Ei ein +Samenkorn; dieses zündet er an und bringt es zum Krystallberg, der +alsbald zerschmilzt. Sch.</p> + + +<h4>14. Der dankbare Königssohn.</h4> + +<p>Man vgl. die von mir in Benfeys Orient und Occident <em class="antiqua">II</em>, 103-114 +zusammengestellten Märchen, denen man noch Haltrich Volksmärchen aus dem +Sachsenlande in Siebenbürgen Nr. 26, v. Hahn Griechische und +albanesische Märchen Nr. 54, Glinski <em class="antiqua">Bajarz polski I</em>, 109, Kletke +Märchensaal <em class="antiqua">II</em>, 71, Schneller Märchen aus Wälschtirol Nr. 27 beifüge. In +allen diesen Märchen geräth ein Jüngling — meistens in Folge eines +erzwungenen oder erlisteten Versprechens seines Vaters — in die Gewalt +eines feindlichen Wesens (Teufel, Dämon, Geist, Riese, Meerfrau, +Zauberer, Hexe) und trifft da eine Jungfrau — in den meisten Märchen +die Tochter jenes Wesens —, durch deren Hilfe er die ihm aufgegebenen +schweren Arbeiten verrichtet und die dann mit ihm entflieht. Die meisten +Märchen schließen aber nicht hiermit, sondern sie erzählen noch, wie der +Jüngling seine Retterin in Folge der Uebertretung einer ihm von ihr +gegebenen Vorschrift eine Zeitlang vergißt. — Wie im ehstnischen +Märchen der verirrte König dem Teufel das versprechen muß, was ihm auf +seinem Hof zuerst entgegen kömmt, so müssen in dem entsprechenden +Märchen bei Müllenhoff Nr. 6 die verirrten Eltern dasselbe versprechen, +und in dem parallelen schwedischen Märchen bei Cavallius Nr. <em class="antiqua">XIV</em>, <em class="antiqua">A</em>, muß +der König in seinem Schiff dem Meerweib das versprechen, was ihm am +Strande zuerst begegne. In andern der hierher gehörigen Märchen wird das +verlangt und versprochen, was man zu Hause habe, ohne es zu wissen +(Glinski, Kletke), oder was die Königin unter dem Gürtel trägt +(Cavallius Nr. <em class="antiqua">XIV</em>, <em class="antiqua">B</em>), oder der Sohn wird geradezu verlangt (Campbell, +v. Hahn); bei<span class='pagenum'><a name="Page_363" id="Page_363">[S 363]</a></span> Haltrich endlich wird »en noa Sil« verlangt, was ein +neues Seil und eine neue Seele bedeutet.<a name="FNanchor_87_87" id="FNanchor_87_87"></a><a href="#Footnote_87_87" class="fnanchor">[87]</a> — Dem ehstnischen Märchen +ganz eigentümlich ist die Vertauschung des Königssohn mit der +Bauerntochter. Auch die Aufgaben, die im ehstnischen Märchen der Teufel +gibt, sind andere als in den übrigen Märchen. — Daß die Jungfrau sich +und ihren Schützling auf der Flucht verwandelt, kömmt in mehreren der +parallelen Märchen vor, insbesondere die Verwandlung in Rosenstrauch und +Rose bei Grimm Nr. 113 und Müllenhoff Nr. 6, auch in den theilweis +hierher gehörigen Märchen bei Wolf deutsche Hausmärchen S. 292 und +Waldau Böhmisches Märchenbuch S. 268, die in Wasser und Fisch bei Grimm +Nr. 113. K.</p> + +<p>Wie S. <a href='#Page_194'>194</a> der Königssohn statt seiner Hand eine glühende Schaufel +reicht, so in einem russischen Heldenlied Ilja von Murom dem blinden +Vater Swjatogors ein Stück erhitztes Eisen (Rybnikow <em class="antiqua">III</em>, 6). Sch.</p> + + +<h4>15. Rõugatajas Tochter.</h4> + +<p>In dem finnischen Märchen »die wunderliche Birke (Salmelainen <em class="antiqua">I</em>, 76) hat +die böse Syöjätär die vom Königssohne geheirathete Tuhkimus +(Aschenbrödel) in eine Rennthierkuh verwandelt; in dieser Gestalt stillt +sie ihr Kind; die Rennthierhaut wird vom Königssohn verbrannt; Syöjätär +und ihre Tochter kommen in der Badstube um. Sch.</p> + +<p>Insofern in beiden Märchen die abgelegte Thierhaut verbrannt wird, +berühren sie sich mit den zahlreichen, übrigens anders verlaufenden +Märchen von der verbrannten Thierhülle. Vgl. Benfey Pantschatantra <em class="antiqua">I</em>, +254 und meine Zusammenstellung im Jahrbuch für roman. und englische +Literatur <em class="antiqua">VII</em>, 254 ff., die sich noch vermehren läßt. K.<span class='pagenum'><a name="Page_364" id="Page_364">[S 364]</a></span></p> + + +<h4>16. Die Meermaid.</h4> + +<p>Die ehstnische Ueberschrift »<em class="gesperrt">Näkineitsi</em>« d. i. buchstäblich +»Näk-Mädchen« (Nixe) weist auf schwedischen Ursprung des Märchens hin. +Sch.</p> + +<p>Man vergleiche die bekannte französische, fast in ganz Europa, auch in +<em class="gesperrt">Schweden</em> zum Volksbuch gewordene Dichtung von der Melusine, die alle +Sonnabende<a name="FNanchor_88_88" id="FNanchor_88_88"></a><a href="#Footnote_88_88" class="fnanchor">[88]</a> vom Nabel abwärts zur Schlange wurde und welcher Graf +Raimund vor seiner Vermählung mit ihr versprechen mußte, sie nie +Sonnabends sehen zu wollen.</p> + +<p>Wenn Schlaf-Tönnis aus dem Reich der Meermaid als Greis auf die Erde +zurückkehrt, so beruht dies auf dem Glauben, daß Sterblichen im Elfen- +oder Feen-Lande die Zeit, ihnen unbewußt, mit reißender Geschwindigkeit +verfließt. So glaubt Thomas der Reimer bei der Elfenkönigin drei Tage +gewesen zu sein, während doch drei Jahre verflossen sind. (W. Scott +<em class="antiqua">Border Minstrelsy</em>, <em class="antiqua">Edinburgh 1861</em>, <em class="antiqua">IV</em>, 127). Ein schwedischer Ritter ist +40 Jahre im Elfenland gewesen und glaubt nur eine Stunde da verbracht zu +haben (Afzelius Volkssagen und Volkslieder aus Schwedens älterer und +neuerer Zeit, übersetzt von Ungewitter <em class="antiqua">II</em>, 297). Vgl. auch das Märchen +aus Wales bei Rodenberg Ein Herbst in Wales S. 128 und die +Kiffhäuser-Sagen bei A. Witzschel Sagen aus Thüringen Nr. 277 und 278. +Legenden erzählen Gleiches von Menschen, die im Paradies gewesen sind. +Vgl. Liebrechts Anmerkung zu Dunlop a. a. O. S. 543 und W. Menzel +Christliche Symbolik <em class="antiqua">II</em>, 194 ff. K.</p> + + +<h4>18. Der Nordlands-Drache.</h4> + +<p>Ueber den <em class="gesperrt">Ring Salomonis</em> vgl. Eisenmenger Entdecktes Judenthum S. 351 +ff., J. v. Hammer Rosenöl <em class="antiqua">I</em>, 171 ff., G. Weil Biblische Legenden der +Muselmänner S. 231 und 271 ff.,<span class='pagenum'><a name="Page_365" id="Page_365">[S 365]</a></span> F. Liebrecht Des Gervasius von Tilbury +<em class="antiqua">Otia imperialia</em> S. 77. In einem Märchen der 1001 Nacht (Der Tausend und +Einen Nacht noch nicht übersetzte Mährchen u. s. w. in's Französische +übersetzt von J. v. Hammer und aus dem Französischen in's Deutsche von +A. E. Zinserling, <em class="antiqua">I</em>, 311) wird, wie im ehstnischen Märchen, der Ring +Salomos, der mit diesem Ring am Finger in einer Insel der sieben Meere +begraben liegt, gesucht. K.</p> + + +<h4>19. Das Glücksei.</h4> + +<p>Daß in Schlangen, Kröten oder dergl. verwandelte Jungfrauen nur erlöst +werden können, wenn ein Jüngling sie dreimal küßt oder sich küssen läßt, +kömmt in deutschen Sagen öfters vor. S. Grimm Deutsche Mythologie S. +921, W. Menzel Die deutsche Dichtung I, 192, Curtze Volksüberlieferungen +aus Waldeck S. 198. K.</p> + + +<h4>20. Der Frauenmörder.</h4> + +<p>Eine Variante des bekannten Blaubart-Märchens. S. die Anmerkung zu Grimm +Nr. 46 und Jahrbuch für romanische und englische Literatur <em class="antiqua">VII</em>, 151 f. +K.</p> + + +<h4>23. Dudelsack-Tiidu.</h4> + +<p>In Bezug auf die Aepfel, welche ein Wachsen der Nasen verursachen, und +die Nüsse, durch welche die Nasen wieder klein werden, vergleiche man +die Geschichte des Fortunatus und seiner Söhne (s. Zachers Artikel +»Fortunatus« in der Encyklopädie von Ersch und Gruber) und Grimm Nr. +122, Zingerle Tirols Volksdichtungen <em class="antiqua">II</em>, 73, Curtze Volksüberlieferungen +aus Waldeck S. 34, Campbell <em class="antiqua">Popular tales of the West Highlands</em> Nr. 10, +das finnische Märchen aus Salmelainens Sammlung (<em class="antiqua">I</em>, 4.) bei Asbjörnsen +und Gräße Nord und Süd S. 145, das rumänische im Ausland 1856, S. 716, +Nr. 8. K.</p> + + + +<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_366" id="Page_366">[S 366]</a></span></p> +<h2>Berichtigungen und Zusätze.</h2> + + +<div class='center'> +<table border="0" cellpadding="4" cellspacing="0" summary=""> +<tr> + <td align='right' valign="top">S. <a href='#Page_34'>34</a></td> + <td align='left'>Z. 1 u. 18 v. o. l. drei Eier von einer schwarzen Henne<br /> +st. drei schwarze Hühnereier (die es ja nicht giebt!)</td> +</tr> +<tr> + <td align='left'>S. <a href='#Page_117'>117</a></td> + <td align='left'>Z. 2 v. o. l. alsdann st. aldann.</td> +</tr> +<tr> + <td align='left'>S. <a href='#Page_127'>127</a></td> + <td align='left'>Anm. 2 l. Oesel st. Desel.</td> +</tr> +<tr> + <td align='left' valign="top">S. <a href='#Page_174'>174</a></td> + <td align='left'>Die in den Verhandlungen der gelehrten ehstn. Gesellschaft<br /> +zu Dorpat abgedruckte Kreutzwaldsche Uebersetzung<br /> +des Märchens vom dankbaren Königssohn ist verglichen<br /> +worden; der ehstnische Text hat in der helsingforser<br /> +Sammlung verschiedene Zusätze erhalten. Uebersetzungen<br /> +anderer ehstnischer Märchen haben mir nicht vorgelegen.</td> +</tr> +<tr> + <td align='left'>S. <a href='#Page_174'>174</a></td> + <td align='left'>Z. 2 v. u. fehlt »zu« vor: ihm.</td> +</tr> +<tr> + <td align='left' valign="top">S. <a href='#Page_184'>184</a></td> + <td align='left'>Nota. In Beziehung auf das weiße Pferd bemerkt Neus<br /> +zu der Sage von <em class="antiqua">Issi teggi</em> (Selbst gethan) im illustrirten<br /> +Revalschen Almanach für 1856, daß das weiße<br /> +Pferd in heidnischer Zeit, wie bei andern Völkern, so<br /> +auch wohl bei den Ehsten, für besonders heilig galt und<br /> +daher seit Einführung des Christentums für besonders<br /> +teuflisch.</td> +</tr> +<tr> + <td align='left'>S. <a href='#Page_188'>188</a></td> + <td align='left'>Z. 15 v. o. l. Im st. Ich.</td> +</tr> +<tr> + <td align='left'>S. <a href='#Page_229'>229</a></td> + <td align='left'>Z. 3 v. u. l. fast immer st. meist.</td> +</tr> +<tr> + <td align='left'>S. <a href='#Page_354'>354</a></td> + <td align='left'>Z. 8 v. u. l. einander st. eiander.</td> +</tr> +</table></div> + +<hr style="width: 65%;" /> + +<div class="footnotes"><h3>Fußnoten:</h3> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_1_1" id="Footnote_1_1"></a><a href="#FNanchor_1_1"><span class="label">[1]</span></a> Die Goldspinnerinnen erinnern an die Pflegetöchter der +Hölle, die dort gefangen gehalten werden, arbeiten und auch spinnen +müssen, s. <em class="gesperrt">Kalewipoëg</em> (myth. Heldensagen vom Kalew-Sohn) <em class="antiqua">XIII.</em> 521 ff. +<em class="antiqua">XIV.</em> 470 ff. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_2_2" id="Footnote_2_2"></a><a href="#FNanchor_2_2"><span class="label">[2]</span></a> Donnerstag und Sonnabend galten den Ehsten in +vorchristlicher Zeit für heilig. Im <em class="gesperrt">Kalewipoëg</em>, Gesang <em class="antiqua">XIII</em>, V. 423 +kocht der Höllenkessel am Donnerstag stärkende Zauberspeise. Nach +<em class="gesperrt">Rußwurm</em>, Sagen aus Hapsal und der Umgegend, Reval 1856, S. 20, erhalten +die Unterirdischen (vgl. Märchen 17), was am Sonnabend oder am +Donnerstag Abend ohne Licht gearbeitet wird. Vgl. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu <em class="gesperrt">Boecler</em>, +der Ehsten abergläubische Gebräuche &c. (St. Petersburg 1854) S. 97-104. +Wenn der oberste Gott der Ehsten, Taara, sich sachlich und lautlich an +den germanischen Thor anschließt, so ist aus der jetzigen ehstnischen +Bezeichnung des Thortags, Donnerstags, jede Erinnerung an Taara-Thor +getilgt; der Donnerstag heißt ehstnisch einfach <em class="antiqua">nelja-päew</em>, d. i. der +vierte Tag. (Montag der erste, Dienstag der zweite, Mittwoch der dritte +oder auch Mittwoch, Freitag = Reede, corrumpirt aus plattd. Frêdag, +Sonnabend = Badetag, Sonntag = heiliger Tag, Feiertag.) L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_3_3" id="Footnote_3_3"></a><a href="#FNanchor_3_3"><span class="label">[3]</span></a> Der Sinn ist: Sie durften nicht für sich arbeiten, um den +Kasten zu füllen, aus welchem die Braut am Hochzeitstage Geschenke +vertheilt. Vgl. <em class="gesperrt">Boecler</em>, der Ehsten abergl. Gebräuche, ed. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em>, +<em class="antiqua">p.</em> 37. <em class="gesperrt">Neus</em>, Ehstn. Volkslieder, S. 284. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_4_4" id="Footnote_4_4"></a><a href="#FNanchor_4_4"><span class="label">[4]</span></a> Nicht zu verwechseln mit dem Kalew-<em class="gesperrt">Sohn</em> (<em class="antiqua">Kalewipoëg</em>), dem +Herkules des ehstnischen Festlandes. Auf der Insel Oesel heißt dieser +Töll od. Töllus. Vgl. <em class="gesperrt">Rußwurm</em>, Eibofolke oder die Schweden an den Küsten +Ehstland's und auf Runö. Reval 1855. Th. 2, S. 273. <em class="gesperrt">Neus</em> in den +Beiträgen zur Kunde Ehst-, Liv- und Kurlands, ed. Ed. Pabst. Reval 1866. +Bd. <em class="antiqua">I</em>, Heft <em class="antiqua">I</em>, <em class="antiqua">p.</em> 111. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_5_5" id="Footnote_5_5"></a><a href="#FNanchor_5_5"><span class="label">[5]</span></a> wörtlich: fiel in das Ohr das Echo. Das Echo wird bildlich +»Schielauge« genannt. S. Kreutzwald zu Boecler, S. 146.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_6_6" id="Footnote_6_6"></a><a href="#FNanchor_6_6"><span class="label">[6]</span></a> Vgl. die folgende <a href='#Footnote_10_10'>Anm. und die Nota S. 25</a> zu 2. »die im +Mondschein badenden Jungfrauen.« L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_7_7" id="Footnote_7_7"></a><a href="#FNanchor_7_7"><span class="label">[7]</span></a> Die alte Anschauung der Ehsten unterscheidet feindliche und +günstige Winde und schreibt beiden den weitgreifendsten Einfluß zu. Die +unaufhörlichen Windströmungen, welche an dem ehstnischen Küstenstrich +ihr Spiel treiben und von der größten Bedeutung für das Naturleben sind, +erklären dies vollkommen. In unserer Stelle ist die Krankheit nicht »von +Gott, sondern vom Winde gekommen« und soll auch wieder (homöopathisch) +durch den Wind vertrieben werden. Vergl. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu <em class="gesperrt">Boecler</em>, ehstn. +Aberglaube, S. 105 ff. u. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> u. <em class="gesperrt">Neus</em>, Myth. u. mag. Lieder der +Ehsten, S. 13. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_8_8" id="Footnote_8_8"></a><a href="#FNanchor_8_8"><span class="label">[8]</span></a> Ahti oder Ahto (sprich Achti, Achto) ist in der finnischen +Mythologie der über alles Wasser herrschende Gott: ein alter ehrwürdiger +Mann mit einem Grasbart und einem Schaumgewand. Er wird, +characteristisch genug, als begehrlich nach fremdem Gut geschildert. Im +ehstnischen Epos vom <em class="gesperrt">Kalewi-Poëg</em> Ges. <em class="antiqua">XVI.</em>, V. 72 ist von Ahti's Sohn +und seinen (Wasser) Gruben die Rede. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_9_9" id="Footnote_9_9"></a><a href="#FNanchor_9_9"><span class="label">[9]</span></a> Loch am Giebel des Hauses (zum Hinauslassen des Rauches). +L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_10_10" id="Footnote_10_10"></a><a href="#FNanchor_10_10"><span class="label">[10]</span></a> Mana ist in der finnischen Mythologie gleich Hades-Pluto; +er wird als ein alter Mann mit drei Fingern und einem auf die Schulter +herabhängenden Hute geschildert. In einer ehstnischen Gebetsformel aus +dem Heidenthum ist von »Manas wahrem Bekenntnisse« die Rede. S. +<em class="gesperrt">Kreutzwald</em> u. <em class="gesperrt">Neus</em>, Myth. u. mag. Lieder der Ehsten. S. 8. Die +Mana-Zauberer kommen auch im <em class="gesperrt">Kalewipoëg</em> vor: <em class="antiqua">XVI</em>, 284. Der Kalewsohn +nimmt sie mit, als er auf seinem Schiffe Lennok das Weltende aufsuchen +will. — Der Mana-Zauberer ist der stärkste, und stärker als Spruch- und +Wind-Zauberer — nur durch den Manazauber gelingt es dem Entführer der +Linda, das Schwert von der Seite des Kalewsohnes hinwegzulocken. +<em class="gesperrt">Kalewipoëg</em>, <em class="antiqua">XI</em>, 334. Mana's Hand hält den nach dem Tode zum +Höllenwächter bestellten, auf weißem Roß sitzenden Kalewsohn fest, so +daß dieser seine im Felsen steckende Rechte nicht losreißen und davon +reiten kann. S. den Schluß des Kalewipoëg. — Die Mana-Zauberer heißen +ehstnisch <em class="antiqua">Mana targad</em>; das Wort <em class="antiqua">tark</em>, pl. <em class="antiqua">targad</em>, bedeutet eigentlich +den Klugen, Weisen und zugleich den Heil-und Zauberkundigen. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_11_11" id="Footnote_11_11"></a><a href="#FNanchor_11_11"><span class="label">[11]</span></a> Nach dem estnischen Volksglauben findet immer in der Nacht +des 25. April (des St. Markustages) ein allgemeiner Schlangenconvent +statt: als die Localität wird der <em class="antiqua">sirtsosoo</em> (Heimchenmoor) westlich vom +Peipussee genannt. S. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> u. <em class="gesperrt">Neus</em>, Mythische u. mag. Lieder der +Ehsten, S. 77. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_12_12" id="Footnote_12_12"></a><a href="#FNanchor_12_12"><span class="label">[12]</span></a> Diese Krone ist von den unterirdischen Zwergen +geschmiedet. S. die <a href='#Footnote_79_79'>Anm. zu Märchen 17</a>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_13_13" id="Footnote_13_13"></a><a href="#FNanchor_13_13"><span class="label">[13]</span></a> S. die betreffende <a href='#Footnote_33_33'>Nota zu dem Märchen 8</a> vom Schlaukopf. +L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_14_14" id="Footnote_14_14"></a><a href="#FNanchor_14_14"><span class="label">[14]</span></a> Die »Haube« steht für die Trägerin derselben verwaist, wie +das lat. <em class="antiqua">orba</em>, ohne Kinder gehabt zu haben. Vgl. auch <em class="gesperrt">Neus</em>, ehstn. +Volkslieder, S. 276. F. Z. 4. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_15_15" id="Footnote_15_15"></a><a href="#FNanchor_15_15"><span class="label">[15]</span></a> Ueber Mana s. d. <a href='#Footnote_10_10'>Anm. zu S. 25</a> in dem Märchen von den im +Mondschein badenden Jungfrauen. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_16_16" id="Footnote_16_16"></a><a href="#FNanchor_16_16"><span class="label">[16]</span></a> Vgl. <em class="gesperrt">Boecler</em>, der Ehsten Gebräuche ed. Kreutzwald, S. 139. +L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_17_17" id="Footnote_17_17"></a><a href="#FNanchor_17_17"><span class="label">[17]</span></a> Der Text sagt <em class="antiqua">Rootsi wennaksed</em> d. h. schwedische Brüder. +Das Colorit des Märchens ist aber ganz ehstnisch; Belege für meine +Uebersetzung finde ich nicht. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_18_18" id="Footnote_18_18"></a><a href="#FNanchor_18_18"><span class="label">[18]</span></a> Dieser wird gebildet durch Klötzchen, die an einer Schnur +hängen und mit Ringen wechseln. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_19_19" id="Footnote_19_19"></a><a href="#FNanchor_19_19"><span class="label">[19]</span></a> Ein Landstrich nördlich vom Peipus-See. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_20_20" id="Footnote_20_20"></a><a href="#FNanchor_20_20"><span class="label">[20]</span></a> Es haben sich also auch die Ehsten, gleich den Finnen, +ganze Naturgebiete unter dem Schutze bestimmter Gottheiten, und dann +wieder einzelne Naturindividuen von Schutzgeistern oder Elfen (ehstnisch +<em class="antiqua">hallijas</em>, finnisch <em class="antiqua">haltia</em>) beseelt gedacht. Was hier blutet und jammert, +ist die Dryas, die sich der Ehste jedoch männlich denkt. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_21_21" id="Footnote_21_21"></a><a href="#FNanchor_21_21"><span class="label">[21]</span></a> Aus der Klage des verwaisten Hirtenknaben im <em class="gesperrt">Kalewipoëg</em> +(<em class="antiqua">XII.</em> 876). Auch bei <em class="gesperrt">Neus</em>, Volkslieder, <em class="antiqua">passim.</em> L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_22_22" id="Footnote_22_22"></a><a href="#FNanchor_22_22"><span class="label">[22]</span></a> Vgl. über den Abscheu der Ehsten vor dem Hingeben ihres +Blutes zu zauberischen Zwecken <em class="gesperrt">Boecler</em> u. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em>, der Ehsten +abergläubische Gebräuche <em class="antiqua">p.</em> 145 und <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> und <em class="gesperrt">Neus</em>, mythische und +magische Lieder der Ehsten <em class="antiqua">p.</em> 111. In unserm <a href='#Page_122'>9. Märchen</a> betrügt der +Donnersohn den Teufel (den »alten Burschen«), indem er statt des eigenen +Blutes Hahnenblut zur Besiegelung des Vertrages nimmt. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_23_23" id="Footnote_23_23"></a><a href="#FNanchor_23_23"><span class="label">[23]</span></a> »Heidnische Altäre haben sich unter den Ehsten einzeln bis +in unsere Zeiten erhalten. Von einem solchen bei dem Landgut Kawershof +im Felliner Kreise berichtet <em class="gesperrt">Hupel</em>, »er stehe unter einem heiligen +Baume, in dessen Höhlung noch oft kleine Opfer gefunden würden; sei aus +einem Granitblock kunstlos gehauen.« <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> u. <em class="gesperrt">Neus</em>, mythische u. +magische Lieder der Ehsten S. 17. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_24_24" id="Footnote_24_24"></a><a href="#FNanchor_24_24"><span class="label">[24]</span></a> Baltischer Provinzialismus für Vorratskammer oder +Speicher. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_25_25" id="Footnote_25_25"></a><a href="#FNanchor_25_25"><span class="label">[25]</span></a> Hier möchte wohl ein schwacher Nachhall von der +Sampo-Mythe anklingen, die in der Kalewala, dem finnischen Epos, eine so +große Rolle spielt. Auch der Wunder wirkende Talisman Sampo wird unter +dem Bilde einer selbstmahlenden Mühle gedacht. Vgl. <em class="gesperrt">Castrén's</em> +Vorlesungen über finn. Mythol. S. 264 ff. u. <em class="gesperrt">Schiefner</em> im <em class="antiqua">Bulletin hist. +phil.</em> der Petersb. Akad. d. Wiss. <em class="antiqua">t. VIII.</em> Nr. 5. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_26_26" id="Footnote_26_26"></a><a href="#FNanchor_26_26"><span class="label">[26]</span></a> Hausgeister, welche ihren Herren Schätze zutragen. Sie +werden als feurige Lufterscheinungen, als Drachen gedacht. S. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> +u. <em class="gesperrt">Neus</em>, myth. u. mag. Lieder der Ehsten. S. 81.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_27_27" id="Footnote_27_27"></a><a href="#FNanchor_27_27"><span class="label">[27]</span></a> Vgl. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu <em class="gesperrt">Boecler</em> <em class="antiqua">p.</em> 105. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> u. <em class="gesperrt">Neus</em>, +Lieder, S. 84. 86. Nach ehstnischer Anschauung fahren im Wirbelwinde die +Hexen umher. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_28_28" id="Footnote_28_28"></a><a href="#FNanchor_28_28"><span class="label">[28]</span></a> Auf die Nacht vom 23. zum 24. Juni fällt der ehstnische +Hexen-Sabbat. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_29_29" id="Footnote_29_29"></a><a href="#FNanchor_29_29"><span class="label">[29]</span></a> Diesen bietet nach ehstn. Sitte der den Freier begleitende +Brautwerber an. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_30_30" id="Footnote_30_30"></a><a href="#FNanchor_30_30"><span class="label">[30]</span></a> Ehstnisch <em class="antiqua">lähkre-kiwid</em> d. i. Steinchen, die man zur +Reinigung des Milchgefäßes (Milchfäßchens), Legel, schwed. <em class="antiqua">tynnåla</em>, +ehstn. <em class="antiqua">lähker</em> (sprich lächker) braucht. Man führt ein solches +Milchfäßchen auf Reisen nebst dem Brotsack mit sich. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_31_31" id="Footnote_31_31"></a><a href="#FNanchor_31_31"><span class="label">[31]</span></a> Identisch mit der Wassermutter, <em class="antiqua">wete ema</em>. Weibliche +Personificationen scheinen in der ehstnischen Mythologie, soweit sie +erhalten und bekannt ist, vorzuherrschen. Es giebt eine Erdmutter, die +aber auch Gemahlin des Donnergottes ist, eine Feuermutter, Windesmutter, +Rasenmutter (s. die betr. <a href='#Footnote_33_33'>Anm. zu Märchen 8</a> vom Schlaukopf) und in +unserem <a href='#Page_230'>Märchen 17</a> die Unterirdischen, tritt sogar eine Mutter des +»Stüms,« des Schneegestöbers, auf. — Eine Wetterjungfrau kennt der +Kalewipoëg <em class="antiqua">X</em>, 889 als Tochter des Donnergottes (<em class="antiqua">Kõu</em>). Die Finnen haben +eine »Windtochter.« L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_32_32" id="Footnote_32_32"></a><a href="#FNanchor_32_32"><span class="label">[32]</span></a> Vergleiche das »See spielen« im <a href='#Page_59'>Märchen 4</a> vom Tontlawald, +und das <a href='#Page_141'>Märchen 11</a>, Der Zwerge Streit. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_33_33" id="Footnote_33_33"></a><a href="#FNanchor_33_33"><span class="label">[33]</span></a> Dieses Märchen lehnt sich an die beiden Höllenfahrten des +Kalewsohnes, die im Kalewipoëg Ges. <em class="antiqua">XIII-XV</em>. <em class="antiqua">XVII-XIX</em> erzählt sind. Die +Züge der Sage sind im Märchen wunderlich gebrochen und verschoben, und +andre Märchenstoffe hineingewoben. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_34_34" id="Footnote_34_34"></a><a href="#FNanchor_34_34"><span class="label">[34]</span></a> Ein mythisches Wunderland. Im Kalewipoëg bewirbt sich des +Kunglakönigs Sohn um Linda, nachmalige Gattin des Kalew, die ihn +abweist, weil »der Kunglakönig böse Töchter hat, welche die Fremde +hassen würden.« Doch lassen sich dieselben Töchter des Kunglakönigs +durch den Gesang des ältesten Kalewsohnes zu Thränen rühren, Kalewipoëg +<em class="antiqua">III</em>, 477. Ebendaselbst <em class="antiqua">XIX</em>, 400 werden vier Kunglamädchen genannt, +welche goldene und silberne Gewebe wirken. Vgl. auch über den Reichthum +des Landes Kungla das Märchen 23 vom Dudelsack-Tiidu. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_35_35" id="Footnote_35_35"></a><a href="#FNanchor_35_35"><span class="label">[35]</span></a> Dieser Streich wird im Kalewipoëg nacheinander dem +Alewsohn, dem Olewsohn und dem Sulewsohn gespielt, welche die Warnung +der am Kessel beschäftigten Alten verachteten, weil sie nicht glaubten, +daß der winzige Knirps, der um Erlaubniß bat zu schmecken, solchen +Schaden anrichten könne. Aber dieser reckt sich auf dem Rande des +Suppenkessels über 70 Klafter hoch und verschwindet im Nebel, während +der Kessel leer geworden. Als aber die Reihe, bei dem Kessel zu wachen, +an den Kalewsohn kommt, verlangt dieser erst von dem als Zwerg +erscheinenden Teufel das Glöcklein zum Pfande, welches er um den Hals +hat und worin seine Kraft steckt. S. Kalewipoëg <em class="antiqua">XVII</em>, 327 ff. Da unser +Märchen ein großes Festgelage für alles Volk fingirt, so läßt es auch +übertreibend sämmtliche Vorräthe, Speisen und Getränke verschwinden. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_36_36" id="Footnote_36_36"></a><a href="#FNanchor_36_36"><span class="label">[36]</span></a> Die Rasenmutter ist es auch, welche im Kalewipoëg (<em class="antiqua">I.</em> 340) +aus dem Küchlein die reine (oder Thau-?) Jungfrau Salme umgebildet hat. +Nach <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu der <em class="antiqua">cit.</em> Stelle ist die Rasenmutter eine Schutzgöttin +des Hauses, deren Obhut besonders der Hofraum und Garten anvertraut war. +Der ehstnische Mythus hat von ihr die liebliche Vorstellung, daß sie es +ist, die aus dem geschmolzenen Schnee des Winters die weiße Anemone +(<em class="antiqua">Anemone nemorosa</em>, ehstnisch Frostblume) bildet. S. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu +<em class="gesperrt">Boecler</em> S. 188. Vgl. unser Märchen 2 von den im Mondschein badenden +Jungfrauen; diese heißen dort des Waldelfen und der Rasenmutter Töchter. +Die Töchter der Rasenmutter sind es auch, welche im Kalewipoëg <em class="antiqua">XVII</em>, 777 +ff. den nach der großen Schlacht bei Assamalla ruhenden Helden +Traumgesichte weben. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_37_37" id="Footnote_37_37"></a><a href="#FNanchor_37_37"><span class="label">[37]</span></a> Es ist also von denjenigen Krebsthieren die Rede, deren +Augen auf beweglichen Stielen stehen, nicht unmittelbar auf dem Kopfe. +L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_38_38" id="Footnote_38_38"></a><a href="#FNanchor_38_38"><span class="label">[38]</span></a> Vgl. <a href='#Footnote_84_84'>Anm. zu Märchen 21</a>, der beherzte Riegenaufseher. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_39_39" id="Footnote_39_39"></a><a href="#FNanchor_39_39"><span class="label">[39]</span></a> <em class="antiqua">Sepik</em>, mit Hefen gebackenes nicht gesäuertes Brot, das im +südlichen Ehstland nur aus Weizenmehl gemacht wird. S. <em class="gesperrt">Wiedemann</em>, +Ehstnisch-Deutsches Wörterb. <em class="antiqua">s. v.</em> L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_40_40" id="Footnote_40_40"></a><a href="#FNanchor_40_40"><span class="label">[40]</span></a> Aus dem Glöckchen der Sage, <em class="gesperrt">Kalewipoëg</em> <em class="antiqua">XVII</em>, 633 ist im +Märchen ein Ring geworden. Im Glöckchen dort, im Ringe hier steckt des +Höllenfürsten Kraft. Vgl. das <a href='#Page_241'>Märchen 18</a>, vom Nordlands-Drachen, wo der +Ring Salomonis, der im Besitz der Höllenjungfrau ist, Felsen +zertrümmert, wenn er am Daumen der linken Hand steckt. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_41_41" id="Footnote_41_41"></a><a href="#FNanchor_41_41"><span class="label">[41]</span></a> Ein mit einem Deckel und unten mit einem Zapfen versehenes +Tönnchen Dünnbier (Kofent), das in den Bauerstuben steht und woraus sich +Bier abzapft, wer Durst hat. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_42_42" id="Footnote_42_42"></a><a href="#FNanchor_42_42"><span class="label">[42]</span></a> Hier fehlt also das Dritte, der Wünschelhut aus +Nägelschnitzeln, den Kalewipoëg bei seinem ersten Höllenabenteuer +benutzt und dann verbrennt. S. darüber die <a href='#Footnote_57_57'>Anm. zum 11ten Märchen</a>, von +der Zwerge Streit. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_43_43" id="Footnote_43_43"></a><a href="#FNanchor_43_43"><span class="label">[43]</span></a> Kalewipoëg <em class="antiqua">XV</em>, 70 ff. Vers 217 heißt die Hexen- oder +Wünschelruthe geradezu der Brückenfertiger (<em class="antiqua">sillawalmistaja</em>). L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_44_44" id="Footnote_44_44"></a><a href="#FNanchor_44_44"><span class="label">[44]</span></a> Kalewipoëg <em class="antiqua">XV</em>, 108 ff. vgl. mit <em class="antiqua">XVIII</em>, 815 ff. In diesen +Stellen thut »der Leere« (<em class="antiqua">Tühi</em>) oder wie er im 18. Gesang heißt, der +Gehörnte (<em class="antiqua">Sarwik</em>) alle Fragen hintereinander, während unser Märchen sie +auseinander legt und auf die verschiedenen Gänge Schlaukopfs vertheilt. +Die Sage berichtet von einem Zweikampf des Kalewsohnes mit dem +Höllenfürsten; bei dem zweiten Höllengang des Kalewipoëg endet dieser +Zweikampf mit der Ueberwältigung und Fesselung des Gehörnten. Kalewipoëg +<em class="antiqua">XIX</em>, 87 ff. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_45_45" id="Footnote_45_45"></a><a href="#FNanchor_45_45"><span class="label">[45]</span></a> Vgl. oben S. <a href='#Page_45'>45</a>, <a href='#Page_46'>46</a>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_46_46" id="Footnote_46_46"></a><a href="#FNanchor_46_46"><span class="label">[46]</span></a> Auch der Kalewsohn raubt die Schätze der Unterwelt. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_47_47" id="Footnote_47_47"></a><a href="#FNanchor_47_47"><span class="label">[47]</span></a> Erinnert an »das in verborgener Schmiede von +unterirdischen Meistern« (<em class="antiqua">Mā-alused</em>, vgl. <a href='#Page_230'>Märchen 17</a>) gefertigte +Schwert, welches der Kalewsohn zum Ersatz für sein von dem Finnenschmied +geschmiedetes und von dem Zauberer des Peipus-Strandes entwendetes +Schwert aus der Hölle nimmt. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_48_48" id="Footnote_48_48"></a><a href="#FNanchor_48_48"><span class="label">[48]</span></a> Nota zu 9 u. 10. Beide Märchen behandeln einen und +denselben Stoff: die Entwendung des Donnerwerkzeugs durch den dasselbe +über Alles fürchtenden Teufel, welchem es der in einen Fischerknaben +verwandelte Donnergott wieder abnimmt. +</p><p> +Was zunächst den Namen des Donnerwerkzeugs betrifft, so heißt es in +beiden Märchen »<em class="antiqua">pil</em>«, womit zwar im Ehstnischen jedes Instrument +bezeichnet wird, hier aber nur ein Blaseinstrument gemeint sein kann. +Und zwar kein anderes als der bei den Ehsten seit uralter Zeit sehr +beliebt gewesene Dudelsack, schwedisch <em class="antiqua">dromm-pîp</em>, <em class="antiqua">drumm-pîpa</em>. <em class="antiqua">Drumm</em> ist +das Trompeten-Ende dieses Instruments, es brummt stets denselben Baßton +und erweckt den Ehsten die Vorstellung des Donners. Im Inlande Jahrg. +1858, Nr. 6 ist eine Version unseres <a href='#Page_133'>Märchens 10</a> abgedruckt, welche die +Ueberschrift führt <em class="antiqua">Müristaja mäng</em>, was mit Donnertrommel übersetzt ist. +Aber <em class="antiqua">mäng</em> bedeutet nicht Trommel, sondern Spiel, Spielzeug, und da es im +»Inland« gegen den Schluß heißt: »er holt den »Himmelsbrummer« hervor +und setzt die fünf Finger an denselben,« so deutet dies offenbar keine +Trommel, sondern ein Blaseinstrument an, den Dudelsack, der speciell +<em class="antiqua">toru-pil</em>, Röhreninstrument, heißt, aber auch <em class="antiqua">pil</em> schlechtweg, wie in +unserm <a href='#Page_318'>Märchen 23</a>, <em class="antiqua">Pilli-Tiidu</em>, Dudelsack-Tiidu. Von Trommel und Pauke +heißt es im Ehstnischen <em class="antiqua">trummi löma</em>, die Trommel oder Pauke schlagen, +und weder an Schamanentrommel noch an ein Tambourin ist bei dem +Ausdrucke <em class="antiqua">pil</em> oder <em class="antiqua">müristaja mäng</em> zu denken. Nach <em class="gesperrt">Neus</em>, myth. u. mag. +Lieder der Ehsten S. 12. 13. vgl. mit 41. hängt das ehstnische +<em class="antiqua">müristamine</em>, das Donnern, mit einem finnischen Verbum zusammen, welches +vom Brummen des Bären gebraucht wird, und weist auch der ehstnische Name +des Donnergotts, <em class="antiqua">Kõu</em>, auf ein finnisches <em class="antiqua">Nomen</em> für Bär zurück. Auch der +nordische Donnergott, Thunar-Thor, führte den Beinamen des Bären. Also +nicht der Schall einer Trommel, sondern das Gebrüll eines Thieres oder +eines daran erinnernden Instruments wird dem Donner verglichen. Der +ehstnische Donnergott entlockt dem Dudelsack furchtbare, aber auch +liebliche Töne — schrecklichen Donner, aber auch sanft rieselnden +Regen. Wenn die Vorstellung von dem Erregen des Gewitters durch ein +Instrument wie die Sackpfeife eigentümlich ehstnisch ist (nach <em class="gesperrt">Rußwurm</em>, +Sagen, Reval 1861. S. 134, ist der Dudelsack Erfindung <em class="antiqua">Tara's</em>, und steht +mit den altheidnischen Volkssitten und Götterdiensten in Zusammenhang, +weßhalb christlicher Eifer das Instrument auf den Teufel zurückführte), +so kennt die ehstnische Sage doch auch den <em class="antiqua">Äike</em> oder <em class="antiqua">Pikker</em>, der Donner +und Blitz hervorbringt, indem er auf einem Wagen mit erzbeschlagenen +Rädern über Eisenbrücken dahin rasselt, Kalewipoëg <em class="antiqua">III</em>, 12 ff. vgl. mit +<em class="antiqua">XX</em>. 728 ff. Hier wird man sogleich an Thunar-Thor erinnert. +</p><p> +Was den »Donnersohn« betrifft, so theilt <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu <em class="gesperrt">Boecler</em> auf S. 11 +mit, er (Kreutzwald) habe in Wierland (dem nordöstlichen Uferdistrict +Ehstlands) den Namen <em class="antiqua">Pikse-käsepois</em>, d. h. des Gewitters Befehlsknabe, +gehört, aber nicht erfahren, wer damit gemeint sei. Nach ehstnischer +Tradition ist der Lijonsengel, der in unserm Märchen 9 zum Fischer, und +in 10 zum Fischer Lijon umgestaltet ist, Vermittler zwischen den +Sterblichen und dem <em class="antiqua">Tara</em> oder Altvater, und »<em class="gesperrt">der Gott auf der Erde, der +mit dem Gewitter zusammengeht</em>.« So liegt die Vermuthung nahe, daß der +Lijons-Engel (stamme er nun von dem biblischen »<em class="antiqua">Legion</em>« oder von dem +ebenfalls biblischen »Elias«, russisch »<em class="antiqua">Iljá</em>«), der oben angeführte +Befehlsknabe des Gewitters, und unser Donnersohn — eine und dieselbe +Hypostase des Donnergottes selber sind. Nach <em class="gesperrt">Rußwurm</em> Sagen, 1861. S. 131 +hat auch der ehstnische Teufel einen kleinen Sohn, Thomas, der dem +eigenen Vater zuweilen Possen spielt. Wie in unseren Märchen, so +entweichen auch im Kalewipoëg, vgl. die oben citirten Stellen und <em class="antiqua">X</em>, +198, die bösen Geister vor ihrem »Züchtiger« und seinen Pfeilen in die +Flut — das Wasser macht den Blitzstrahl unschädlich. Daß der Donnergott +sich in einen Fischerknaben verwandelt, erinnert einigermaßen an Thors +Fischfang mit Hymir. <em class="gesperrt">Mannhardt</em>, Götterwelt, <em class="antiqua">I</em>, 218. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_49_49" id="Footnote_49_49"></a><a href="#FNanchor_49_49"><span class="label">[49]</span></a> S. die <a href='#Footnote_22_22'>Anm. S. 67</a> zum Märchen vom Tontlawald. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_50_50" id="Footnote_50_50"></a><a href="#FNanchor_50_50"><span class="label">[50]</span></a> <em class="antiqua">Castrén</em> bemerkt in seinen Vorlesungen über finnische +Mythologie, daß man den Donner viel mehr fürchtete als den Blitz, und +daß man noch jetzt hie und da in Finnland beim Donnerwetter nicht wagt +den Namen <em class="antiqua">Ukko</em> (Beherrscher des Himmels) zu nennen, oder irgend etwas +Ungebührliches zu reden oder zu thun. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_51_51" id="Footnote_51_51"></a><a href="#FNanchor_51_51"><span class="label">[51]</span></a> <em class="antiqua">Kõu</em> heißt der Donnergott; <em class="antiqua">Pikne</em>, Genitiv <em class="antiqua">Pikse</em>, war +eigentlich der Blitzstrahl, wird aber auch für den Donnergott gebraucht. +Auch die Formen <em class="antiqua">Pitkne</em> und <em class="antiqua">Pikker</em> kommen vor. Der Kalewipoëg <em class="antiqua">X</em>, 889 +kennt eine Wetterjungfrau als <em class="antiqua">Kõu's</em> Tochter. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_52_52" id="Footnote_52_52"></a><a href="#FNanchor_52_52"><span class="label">[52]</span></a> Im Kalewipoëg wird diese Kraft einem aus Nägelschnitzeln +gemachten Hute zugeschrieben, den der Kalewsohn dem Höllenfürsten +entwendet und nach gemachtem Gebrauche verbrennt. Vgl. die betr. <a href='#Footnote_57_57'>Nota zu +11</a>, der Zwerge Streit. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_53_53" id="Footnote_53_53"></a><a href="#FNanchor_53_53"><span class="label">[53]</span></a> Nach <em class="gesperrt">Rußwurm</em>, Sagen aus Hapfal, der Wiek, Oesel und Runö, +Reval 1861, <em class="antiqua">p.</em> <em class="antiqua">XVII</em>, denken sich die Ehsten die Wolken als Gallert, und +findet man nach Gewittern zuweilen Wolkenstücke auf der Erde, was +Rußwurm auf eine Flechtenart (<em class="antiqua">Tremella Nostoc</em>) beziehen möchte. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_54_54" id="Footnote_54_54"></a><a href="#FNanchor_54_54"><span class="label">[54]</span></a> Siehe die <a href='#Footnote_48_48'>Anm. S. 122</a> ff. u. <a href='#Footnote_50_50'>S. 126</a>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_55_55" id="Footnote_55_55"></a><a href="#FNanchor_55_55"><span class="label">[55]</span></a> Man bringt das Ferkel zum Quieken, um dadurch die Wölfe +anzulocken. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_56_56" id="Footnote_56_56"></a><a href="#FNanchor_56_56"><span class="label">[56]</span></a> Vgl. <a href='#Footnote_44_44'>S. 114, Anm. 2</a>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_57_57" id="Footnote_57_57"></a><a href="#FNanchor_57_57"><span class="label">[57]</span></a> Wörtlich: Ochsenknieleute. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_58_58" id="Footnote_58_58"></a><a href="#FNanchor_58_58"><span class="label">[58]</span></a> S. die <a href='#Footnote_59_59'>Nota auf der folgenden S</a>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_59_59" id="Footnote_59_59"></a><a href="#FNanchor_59_59"><span class="label">[59]</span></a> Dieser Hut stammt aus der Unterwelt. S. Kalewipoëg <em class="antiqua">XIII</em>, +831 ff. Er hat zehn Gewalten, unter andern die Kraft, den Körper +auszudehnen und zusammenzuziehen. Der Kalewsohn, der sich des Hutes +bemächtigt hatte, beginnt den Ringkampf mit dem Höllenfürsten +(Gehörnten, <em class="antiqua">sarwik</em>) in verschrumpfter gewöhnlicher Mannslänge, als aber +der Kampf ihn schwächt, läßt er sich durch den Hut wieder zum Riesen +machen, hebt den Gehörnten zehn Klafter hoch und stampft ihn in den +Boden. <em class="antiqua">XIV</em>, 811 ff. Darauf muß der Hut, der auch Wunschhut heißt, ihn +und die drei in der Hölle gefangen gehaltenen Schwestern sammt den +Höllenschätzen auf die Oberwelt versetzen; im Uebermuthe verbrennt der +Kalewsohn sodann den Schnitzel- oder Wünschelhut. Darüber klagen die +Schwestern: +</p> +<div class="poem"><div class="stanza"> +<span class="i0">»Warum, starker Sohn des Kalew,<br /></span> +<span class="i0">Hast den lieben Hut zerstört du?<br /></span> +<span class="i0">Auf der Erden, in der Hölle<br /></span> +<span class="i0">Flicht man nie mehr einen solchen.<br /></span> +<span class="i0">Todt sind fortan alle Wünsche<br /></span> +<span class="i0">Und vergeblich alles Sehnen« <em class="antiqua">ibid</em>. 909. ff.<br /></span> +</div></div> +<p> +Noch jetzt herrscht im Werroschen der Gebrauch, daß man nach dem +Beschneiden der Nägel an Fingern und Zehen mit dem Messer ein Kreuz über +die Abschnitzel zieht, ehe man sie wegwirft, sonst soll der Teufel sich +Mützenschirme daraus machen. S. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu <em class="gesperrt">Boecler</em> S. 139. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_60_60" id="Footnote_60_60"></a><a href="#FNanchor_60_60"><span class="label">[60]</span></a> Vgl. im Märchen 4. vom Tontlawald S. <a href='#Page_64'>64</a>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_61_61" id="Footnote_61_61"></a><a href="#FNanchor_61_61"><span class="label">[61]</span></a> Diese ruhen auf Querbalken, ziehen sich unter der +Zimmerdecke hin und haben in der Mitte eine Oeffnung, durch welche das +geschnittene Korn nach beiden Seiten hin zum Dörren geschoben wird. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_62_62" id="Footnote_62_62"></a><a href="#FNanchor_62_62"><span class="label">[62]</span></a> Vgl. das <a href='#Page_102'>Märchen 8.</a> vom Schlaukopf, wo der Teufel +sämmtliche Speisen und Getränke durch sein Kosten verschwinden läßt. +L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_63_63" id="Footnote_63_63"></a><a href="#FNanchor_63_63"><span class="label">[63]</span></a> Neun Uhr. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_64_64" id="Footnote_64_64"></a><a href="#FNanchor_64_64"><span class="label">[64]</span></a> Er denkt dabei an die ehstnische Redewendung: »die Tage +gehen in der Richtung (zum Besten) des Wirths« — d. h. sie nehmen zu. +Dagegen: »die Tage gehen in der Richtung des Knechts« — d. h. sie +nehmen ab.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_65_65" id="Footnote_65_65"></a><a href="#FNanchor_65_65"><span class="label">[65]</span></a> Die Situation und die Verse erinnern an den Besuch, den +Kalews Sohn dem Grabe seines Vaters macht in der Nacht vor dem Tage, der +darüber entscheiden sollte, welcher der drei Brüder einen Felsblock am +weitesten schleudern und dadurch die Herrschaft über das Land erhalten +werde. Kalewipoëg <em class="antiqua">VII</em>, 809 ff. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_66_66" id="Footnote_66_66"></a><a href="#FNanchor_66_66"><span class="label">[66]</span></a> Der Laut, den eine kleine Schnepfenart (Becassine) beim +Fliegen hervorbringt, klingt dem ehstnischen Ohr wie das Meckern einer +Ziege. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_67_67" id="Footnote_67_67"></a><a href="#FNanchor_67_67"><span class="label">[67]</span></a> S. <a href='#Footnote_39_39'>Anm. zum Märchen vom Schlaukopf S. 108</a>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_68_68" id="Footnote_68_68"></a><a href="#FNanchor_68_68"><span class="label">[68]</span></a> S. unten die <a href='#Footnote_75_75'>Anm. zu dem Märchen 15</a>: Rõugutaja's Tochter. +L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_69_69" id="Footnote_69_69"></a><a href="#FNanchor_69_69"><span class="label">[69]</span></a> Ist wohl identisch mit dem mythischen Kungla-Lande. S. d. +<a href='#Footnote_34_34'>Anm. 2, S. 102</a>, zum Märchen 8, vom Schlaukopf. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_70_70" id="Footnote_70_70"></a><a href="#FNanchor_70_70"><span class="label">[70]</span></a> Külimit ist ein Getreidemaß von verschiedener Größe. Das +Revalsche Loof von drei Külimit ist etwas weniger als ein viertel +Scheffel Preußisch. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_71_71" id="Footnote_71_71"></a><a href="#FNanchor_71_71"><span class="label">[71]</span></a> Die Grundzüge dieser phantasievollen Schilderung finden +sich im Kalewipoëg <em class="antiqua">X</em>, 378 ff. vgl. mit <em class="antiqua">XIII</em>, 491 ff. Auch dort scheinen +auf der Straße zur Wohnung des höllischen Geistes weder Sonne, noch Mond +und Sterne — nur von den Fackeln zu beiden Seiten des Höllenthors geht +ein trüber Schimmer aus, der die Ankommenden leitet. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_72_72" id="Footnote_72_72"></a><a href="#FNanchor_72_72"><span class="label">[72]</span></a> Reminiscenz aus dem Kalewipoëg <em class="antiqua">XIII</em>, 401 ff., wo dem +Kalewsohn über den in der Eingangshöhle zur Hölle kochenden Kessel +Auskunft ertheilt wird. Erst kostet der Gehörnte, dann die alte Mutter, +dann kommen Hund und Katze dran, in den Rest theilen sich Köche und +Knechte. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_73_73" id="Footnote_73_73"></a><a href="#FNanchor_73_73"><span class="label">[73]</span></a> Die eine der in der Unterwelt gefangen gehaltenen drei +Schwestern erzählt dem Kalewsohn, daß des Gehörnten Base die +Höllenhündin, seine Großmutter die weiße Mähre sei. Kalewipoëg <em class="antiqua">XIV</em>, 428. +— Auf einem weißen Rosse sitzt der Kalewsohn als Höllenwächter, <em class="antiqua">ibid.</em> +<em class="antiqua">XX</em>, 1005. Vgl. eine von <em class="gesperrt">Rußwurm</em> über Kalews Tod mitgetheilte Sage. +<em class="gesperrt">Rußwurm</em>, Sagen aus Hapsal u. s. w. Reval 1861. S. 9-10. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_74_74" id="Footnote_74_74"></a><a href="#FNanchor_74_74"><span class="label">[74]</span></a> Vgl. das Glühendmachen der künstlichen Hand und das +Darreichen derselben an die Hexe im Pfortenriegel, in dem Märchen von +Schnellfuß, Flinkhand und Scharfauge, S. <a href='#Page_54'>54</a>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_75_75" id="Footnote_75_75"></a><a href="#FNanchor_75_75"><span class="label">[75]</span></a> Rõugataja, dessen Frau hier (wie im Märchen 13 S. <a href='#Page_173'>173</a>) +eine so häßliche Rolle spielt, erscheint im Kalewipoëg <em class="antiqua">II</em>. 501 ff. als +geburtshelfender Gott. Er und der Gott <em class="antiqua">Ukko</em>, welcher gleichbedeutend ist +mit dem Fruchtbarkeit verleihenden Obergotte <em class="antiqua">Tāra</em> treten an das Lager +der kreißenden Wittwe Linda, welche ihre Hülfe angerufen hatte, und +nachdem beide Götter eine Stunde bei ihr geweilt, kommt der Kalewsohn +glücklich zur Welt. Nach <em class="gesperrt"><em class="antiqua">Castrén</em></em>. Vorl. S. 45, wurde der finnische <em class="antiqua">Ukko</em> +nur bei schweren Kindesnöthen in Anspruch genommen. Auch sonst kennt die +ehstnische Ueberlieferung den Rõugataja als Schützer der Wöchnerinnen +und Neugeborenen; auch bei Heirathen wurde ihm geopfert, damit der +mütterliche Schooß nicht unfruchtbar bleibe. S. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu <em class="gesperrt">Boecler</em> S. +18. 42. 43. Dann tritt Rõugataja mit abgeschwächter Bedeutung nur noch +als Schutzgott der Neugeborenen auf, den die Wärterinnen beim ersten +Bade eines Kindes, so wie beim Baden kranker Kinder anrufen. Ebend. S. +49. 53. 54. u. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> u. <em class="gesperrt">Neus</em>, myth. u. mag. Lieder S. 108. Zuletzt +ist der Gott Rõugataja (etwa wie Knecht Ruprecht) zum Popanz entstellt, +mit welchem man die Kinder erschreckt und beschwichtigt. — Der Name, +der auch in der Form <em class="antiqua">Raugutaja</em> vorkommt, scheint mit dem finnischen +Roggen- oder Saatengott <em class="antiqua">Ronkoteus</em> zusammenzuhängen. Daß ein Gott der +Saaten mit dem Gebären des Weibes in Verbindung gesetzt wird, kann nicht +auffallen, auch Thor ist Saatgott und zugleich Gott der Ehe, und der +Mythus von der Persephone weist auf dieselbe Combination. Die +griechische Braut betritt mit gerösteter Gerste das Haus des Bräutigams. +Auffallend ist es, daß die ehstnische Mythologie, die doch sonst an +weiblichen Personificationen reich ist, keine Gestalt wie die +griechische Eileithyia, oder die römische Lucina aufzuweisen hat. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_76_76" id="Footnote_76_76"></a><a href="#FNanchor_76_76"><span class="label">[76]</span></a> Sfoba, »ein Stück des festlichen Anzuges, ein weißes +wollenes Tuch mit bunt ausgenähten Kanten und mit Troddeln an den kurzen +Rändern, auf der Brust mit einer Spange zusammengehalten.« <em class="gesperrt">Wiedemann</em>, +Wörterb. s. v. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_77_77" id="Footnote_77_77"></a><a href="#FNanchor_77_77"><span class="label">[77]</span></a> Vgl. <a href='#Footnote_31_31'>Nota zu dem Märchen von den zwölf Töchtern S. 89</a>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_78_78" id="Footnote_78_78"></a><a href="#FNanchor_78_78"><span class="label">[78]</span></a> Vgl. <a href='#Footnote_2_2'>Anm. zum Märchen 1, die Goldspinnerinnen S. 2</a>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_79_79" id="Footnote_79_79"></a><a href="#FNanchor_79_79"><span class="label">[79]</span></a> Die Unterirdischen (<em class="antiqua">ma-alused</em>) »die geheimen Schmiede +Allvaters« schaffen bei nächtlicher Weile und ruhen am Tage. Legt man +zwischen Weihnacht und Neujahr um Mitternacht das Ohr an die Erde, so +hört man das Schmieden der als Zwerge gedachten Unterirdischen — ja man +unterscheidet, ob Eisen, Silber oder Gold bearbeitet wird. In der +Neujahrsnacht werden sie sichtbar und treiben mit dem nächtlichen +Wanderer Schabernack. Da die Unterirdischen in der Weihnachts- und +Neujahrsnacht auch in menschlicher Gestalt erscheinen, so ist man +gastfrei gegen jeden Unbekannten; läßt auch den Tisch mit Speisen +besetzt stehen und verschließt die Speisekammer nicht. Nach <em class="gesperrt">Rußwurm</em>, +Sagen aus Hapsal und der Umgegend, Reval 1846, S. 20, erhalten die +Unterirdischen, was am Sonnabend Abend oder Donnerstag Abend ohne Licht +gearbeitet wird. Die Unterirdischen verlieben sich zuweilen in schöne +Mädchen, woraus beiden Theilen Leid und Unheil erwächst. Die verlassenen +Bräute hören noch Wochenlang das nächtliche Wehklagen der Geister, und +werden von diesen geplagt, wenn sie später Verbindungen mit ihres +Gleichen eingehen. +</p><p> +Die Unterirdischen wollen nicht gestört sein; wer sich (erhitzt!) auf +den feuchten Boden setzt, unter welchem sie gerade hausen, wird mit +einem Hautausschlag bestraft, der Erdhauch (norweg. <em class="antiqua">alvgust</em>, Elb-, +Elf-Hauch) oder Erdzorn heißt, und den man heilt, indem man die Urheber +durch ein Opfer von geschabtem Silber besänftigt. (Nach <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> und +<em class="gesperrt">Neus</em>.) +</p><p> +Die finnischen <em class="antiqua">maahīset</em>, denen diese ehstnischen Unterirdischen +(<em class="antiqua">ma-alused</em>) entsprechen, bezeichnen nach <em class="antiqua">Castrén</em> (finn. Mythol. S. 169) +eine eigene Art von Naturgeistern, die sich in der Erde, unter Bäumen, +Steinen und Schwellen aufhalten; es sind unsichtbare aber +menschenähnliche Zwerge reizbarer Natur, die mit Hautkrankheit strafen. +Man ehrt und nährt sie. — Mit den Haus- und Schutzgeistern hängen die +finnischen und ehstnischen Unterirdischen nicht zusammen, wenn auch in +ehstnischen Beschwörungsformeln die Schlange als Unterirdische +bezeichnet wird, und wenn auch der Schlangencultus noch vor nicht gar +langer Zeit geübt wurde. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_80_80" id="Footnote_80_80"></a><a href="#FNanchor_80_80"><span class="label">[80]</span></a> S. d. <a href='#Footnote_31_31'>Anm. zum Märchen 6, die zwölf Töchter, S. 89</a>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_81_81" id="Footnote_81_81"></a><a href="#FNanchor_81_81"><span class="label">[81]</span></a> Vgl. <a href='#Footnote_7_7'>Anm. zu Märchen 1, die Goldspinnerinnen, S. 11</a>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_82_82" id="Footnote_82_82"></a><a href="#FNanchor_82_82"><span class="label">[82]</span></a> Vgl. <a href='#Footnote_40_40'>Anm. zu S. 110. im Märchen 8</a>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_83_83" id="Footnote_83_83"></a><a href="#FNanchor_83_83"><span class="label">[83]</span></a> Aus Kalewipoëg <em class="antiqua">XIX</em>, 140, 141, wo aber der Gehörnte mit +diesen Versen den Kalewsohn vor Uebermuth warnt. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_84_84" id="Footnote_84_84"></a><a href="#FNanchor_84_84"><span class="label">[84]</span></a> Riege ist baltischer Provinzialismus für Scheune, Dörr- +und Dresch-Scheune. Die (steinerne) Gutsriege enthält auch Kornkammern, +Flachsspeicher, Branntweinkeller. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_85_85" id="Footnote_85_85"></a><a href="#FNanchor_85_85"><span class="label">[85]</span></a> S. die <a href='#Footnote_34_34'>Anm. 2. zu 8, »Schlaukopf«, S. 102</a>. L</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_86_86" id="Footnote_86_86"></a><a href="#FNanchor_86_86"><span class="label">[86]</span></a> Aus dem von einem Hühnchen ausgebrüteten Ei eines +Birkhuhns ist Linda, die Gattin des Kalew und die Mutter des +Kalewsohnes, hervorgegangen. S. den Anfang des <em class="gesperrt">Kalewipoëg</em>. L.</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_87_87" id="Footnote_87_87"></a><a href="#FNanchor_87_87"><span class="label">[87]</span></a> Nicht diese letztere Form des Versprechens, aber die +übrigen kommen auch in anderen, sonst nicht unmittelbar in diesen Kreis +gehörigen Märchen vor, z. B. bei Grimm Nr. 92, Schott Walachische +Märchen Nr. 2 (das zuerst Begegnende); Asbjörnsen Nr. 9 (das unterm +Gürtel); Wolf S. 199, Waldau S. 26, v. Saal Märchen der Magyaren S. 129 +(das nicht Gewußte zu Hause).</p></div> + +<div class="footnote"><p><a name="Footnote_88_88" id="Footnote_88_88"></a><a href="#FNanchor_88_88"><span class="label">[88]</span></a> Die Fee Manto in Ariosts Rasendem Roland (<em class="antiqua">XLIII</em>, 98) und +die Sibylle im Roman »Guerino Meschino« (Dunlop Geschichte der +Prosadichtungen, übersetzt von F. Liebrecht, S. 315) werden ebenfalls +alle Sonnabende — aber nicht bloß vom Nabel an, sondern ganz — zu +Schlangen.</p></div> + +</div> + + + + + + + +<pre> + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Ehstnische Märchen, by Friedrich Kreutzwald + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EHSTNISCHE MÄRCHEN *** + +***** This file should be named 21658-h.htm or 21658-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/2/1/6/5/21658/ + +Produced by Taavi Kalju and the Online Distributed +Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was +produced from scanned images of public domain material +from the Google Print project.) + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. 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Donations are accepted in a number of other +ways including checks, online payments and credit card donations. +To donate, please visit: http://pglaf.org/donate + + +Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic +works. + +Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm +concept of a library of electronic works that could be freely shared +with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project +Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support. + + +Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed +editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S. +unless a copyright notice is included. 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