summaryrefslogtreecommitdiff
diff options
context:
space:
mode:
authorRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 01:45:23 -0700
committerRoger Frank <rfrank@pglaf.org>2025-10-15 01:45:23 -0700
commit899cc24070f7a31620e17ef91ca8b794a3a549d3 (patch)
treebed29e4d023d2dce46a412fca2be40e78f87cbd3
initial commit of ebook 21658HEADmain
-rw-r--r--.gitattributes3
-rw-r--r--21658-8.txt9612
-rw-r--r--21658-8.zipbin0 -> 229666 bytes
-rw-r--r--21658-h.zipbin0 -> 247532 bytes
-rw-r--r--21658-h/21658-h.htm9884
-rw-r--r--21658-page-images.zipbin0 -> 21387923 bytes
-rw-r--r--LICENSE.txt11
-rw-r--r--README.md2
8 files changed, 19512 insertions, 0 deletions
diff --git a/.gitattributes b/.gitattributes
new file mode 100644
index 0000000..6833f05
--- /dev/null
+++ b/.gitattributes
@@ -0,0 +1,3 @@
+* text=auto
+*.txt text
+*.md text
diff --git a/21658-8.txt b/21658-8.txt
new file mode 100644
index 0000000..e33f072
--- /dev/null
+++ b/21658-8.txt
@@ -0,0 +1,9612 @@
+The Project Gutenberg EBook of Ehstnische Märchen, by Friedrich
+Kreutzwald
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Ehstnische Märchen
+
+Author: Friedrich Kreutzwald
+
+Commentator: Anton Schiefner
+ Reinhold Köhler
+
+Translator: Ferdinand Löwe
+
+Release Date: June 1, 2007 [EBook #21658]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EHSTNISCHE MÄRCHEN ***
+
+
+
+
+Produced by Taavi Kalju and the Online Distributed
+Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was
+produced from scanned images of public domain material
+from the Google Print project.)
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+Ehstnische Märchen.
+
+
+Aufgezeichnet
+
+von
+
+Friedrich Kreutzwald.
+
+
+Aus dem Ehstnischen übersetzt
+
+von
+
+F. Löwe,
+ehem. Bibliothekar a. d. Petersb. Akad. d. Wissenschaften.
+
+
+Nebst einem Vorwort von _Anton Schiefner_ und Anmerkungen
+von _Reinhold Köhler_ und _Anton Schiefner_.
+
+Halle,
+Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses.
+1869.
+
+
+
+
+Vorwort.
+
+
+Im dritten Bande der Kinder- und Hausmärchen hat _Wilhelm Grimm_ auf S.
+353 der Ausgabe von 1856 auf die ihm bis zu der Zeit bekannt gewordenen
+ehstnischen Märchen hingewiesen, und auf S. 385 namentlich die zuerst
+von _Fählmann_ im Jahre 1842 in dem ersten Bande der Verhandlungen der
+gelehrten ehstnischen Gesellschaft zu Dorpat veröffentlichte anmuthige
+Dichtung Koit und Ämmarik hervorgehoben. In ausführlicherer Fassung ist
+die letztere später (1854) von =Dr.= _Friedrich Kreutzwald_ mir mitgetheilt
+und von mir im Bulletin der St. Petersburger Akademie =T. XII.= Nr. 3, 4
+(auch in den =Mélanges russes= =T. II.= S. 409) in dem Aufsatz »zur
+ehstnischen Mythologie« abgedruckt worden. Ebendaselbst habe ich auch
+auf die Möglichkeit einer Entlehnung dieser Dichtung von einem
+Nachbarvolke aufmerksam gemacht. An solchen Entlehnungen sind die Ehsten
+nicht ärmer als andere Völker, und es gewährt ein eigenthümliches
+Interesse, mehr oder minder anderswoher bekannte Stoffe in ihrer
+ehstnischen Einkleidung zu betrachten. Allein nicht bloß die Freude an
+der poetischen Behandlung der einzelnen Märchen ist es, was uns
+auffordert, denselben unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es knüpfen sich
+eine ganze Anzahl rein ethnographischer und historischer Fragen an die
+Betrachtung ihres Inhalts.
+
+Der Uebersetzer hat es für angemessen erachtet, auf so manche Züge
+hinzuweisen, welche die einzelnen Märchen mit der von =Dr.= _Kreutzwald_ ins
+Leben gerufenen Dichtung »Kalewipoëg« gemein haben. Manches ist
+allerdings aus den nicht bloß bei den Ehsten in Umlauf befindlichen
+Märchen erst in die Sage und daraus in die epischen Lieder gewandert,
+anderes bietet uns aber treulichst erhaltene Spuren altscandinavischer
+Mythen dar. Habe ich bereits im Jahre 1860 bei Gelegenheit der
+Besprechung des Kalewipoëg (Bulletin B. =II.= S. 273-297 = =Mélanges russes=
+B. =II.= S. 126-161) darauf aufmerksam gemacht, wie im Kalewipoëg vielfach
+Nachklänge des alten Thor-Cultus vorliegen, so kann man das mit gleichem
+Recht von den in vorliegender Sammlung dargebotenen Märchen behaupten.
+Man berücksichtige außer dem von Herrn Löwe S. 2 angeführten z. B. S.
+113 die dem Donnerer gehörige Gerte aus Ebereschenholz, sowie auch S.
+137 das Ruder aus demselben Holze. Vgl. über die auch S. 18 vorkommende
+Eberesche als dem Donnerer heilig Mannhardt Germanische Mythen S. 13 f.
+
+Als ich im Jahre 1855 über den Mythengehalt der finnischen Märchen
+(=Bullet. hist. philol. T. XII.= Nr. 24) kurz berichtete, waren von den
+ehstnischen Märchen nur sehr wenige bekannt, und die ganze reiche
+Märchenliteratur der Russen, von der uns die von _Afanasjew_ in den Jahren
+1855-1863 erschienene Sammlung in acht Bänden eine Ahnung giebt, war
+nur in wenigen Proben zugänglich. Bei einem eingehenden Studium der
+ebengenannten Sammlung dürften nicht allein die finnischen Märchen in
+einem andern Lichte erscheinen, sondern auch die ehstnischen richtiger
+gewürdigt werden können. Sicher ist es wenigstens, daß, wenn wir die
+ehstnischen Märchen betrachten, wir es mit den Einflüssen der
+verschiedensten Zeiten und Völker zu thun haben.
+
+Manche Züge weisen unverkennbar auf litauische Berührungen hin, andere
+zahlreichere und wohl auch jüngere auf russische Elemente; da die
+Küstenstriche Ehstlands und namentlich die zunächst liegenden Inseln
+schwedische Bevölkerung gehabt und zum Theil auch noch gegenwärtig
+haben, ist der letzteren nebst manchem Märchen auch mancher aus der
+ältesten Zeit stammende Mythus entnommen. Aber auch die neueste Zeit hat
+aus der Kinderstube der deutschen Familien sowohl in der Stadt als auf
+dem Lande so manches Märchen in die Bauerhütten verpflanzt. Nicht minder
+haben die aus dem Kriegsdienste heimkehrenden Ehsten so manche
+Erzählung, die sie früher im schwedischen oder später im russischen
+Heere vernommen hatten, den hörlustigen Leuten in der Heimath
+zugetragen.
+
+Außer den von _W. Grimm_ a. a. O. namhaft gemachten Sammlungen sind
+verschiedene ehstnische Märchen veröffentlicht worden, namentlich in den
+Jahrgängen 1846, 1848, 1849, 1852 und 1858 des »Inlands«, im
+illustrirten revalschen Almanach 1855 und 1856 und anderswo; eine
+ziemlich genaue Aufzählung derselben wird man in =Dr.= _Winkelmanns_ nun im
+Druck befindlicher =Bibliotheca Livoniae historica= S. 39 f. finden. Am
+beachtenswertesten sind die von den auch sonst um die Literatur der
+Ehsten hochverdienten beiden Männern Heinrich _Neus_ in Reval und
+Friedrich _Kreutzwald_ in Werro mitgetheilten Märchen. Der letztere der
+beiden genannten Herren erhielt auch von der finnischen
+Literaturgesellschaft in Helsingfors den ehrenvollen Auftrag, eine
+umfassende Sammlung von ehstnischen Märchen herauszugeben. Diese
+Sammlung, welche auf 368 Seiten 43 größere und 18 kleinere Stücke
+umfaßt, erschien im Jahre 1866 zu Helsingfors im Verlage der
+Literaturgesellschaft mit Bewilligung der letzteren und des Herrn
+_Kreutzwald_ hat Herr _Löwe_, welcher sich während seines Aufenthalts in
+Ehstland anerkennenswerthe Kenntnisse der ehstnischen Sprache erworben
+hat, vorliegende Uebersetzung unternommen, die sich durch sich selbst so
+sehr empfiehlt, daß eine Empfehlung von meiner Seite überflüssig sein
+dürfte. Die Leser dieser freundlichen Schöpfungen der Volkspoesie werden
+es nicht minder als ich wünschen, daß baldigst eine Fortsetzung der
+Uebersetzung erscheine.
+
+Schließlich kann ich die erfreuliche Nachricht mittheilen, daß in kurzer
+Zeit die Veröffentlichung mehrerer durch die Herren _Hurt_ und _Jakobson_
+aus dem Volksmunde aufgezeichneter ehstnischer Märchen in den Schriften
+der gelehrten ehstnischen Gesellschaft in Dorpat zu erwarten ist.
+
+St. Petersburg, den 8. (20.) Februar 1869.
+
+A. Schiefner.
+
+
+
+
+_Inhalt._
+
+
+ Seite
+
+1. Die Goldspinnerinnen 1-24
+
+2. Die im Mondschein badenden Jungfrauen 25-31
+
+3. Schnellfuß, Flinkhand und Scharfauge 32-58
+
+4. Der Tontlawald 59-76
+
+5. Der Waise Handmühle 77-81
+
+6. Die zwölf Töchter 82-91
+
+7. Wie eine Waise unverhofft ihr Glück fand 92-101
+
+8. Schlaukopf 102-121
+
+9. Der Donnersohn 122-132
+
+10. Pikne's Dudelsack 133-140
+
+11. Der Zwerge Streit 141-147
+
+12. Die Galgenmännlein 148-159
+
+13. Wie eine Königstochter sieben Jahre geschlafen 160-173
+
+14. Der dankbare Königssohn 174-202
+
+15. Rõugatajas Tochter 203-211
+
+16. Die Meermaid 212-229
+
+17. Die Unterirdischen 230-240
+
+18. Der Nordlands-Drache 241-261
+
+19. Das Glücksei 262-272
+
+20. Der Frauenmörder 273-284
+
+21. Der herzhafte Riegenaufseher 285-297
+
+22. Wie ein Königssohn als Hüterknabe aufwuchs 298-317
+
+23. Dudelsack-Tiidu 318-340
+
+24. Die aus dem Ei entsprossene Königstochter 341-355
+
+ Anmerkungen 356-365
+
+Berichtigungen und Zusätze 366
+
+
+
+
+1. Die Goldspinnerinnen.[1]
+
+
+Ich will euch eine schöne Geschichte aus dem Erbe der Vorzeit erzählen,
+welche sich zutrug, als noch die Anger nach alter Weise von der
+Weisheit-Sprache der Vierfüßer und der Befiederten wiederhallten.
+
+Es lebte einmal vor Zeiten in einem tiefen Walde eine lahme Alte mit
+drei frischen Töchtern: ihre Hütte lag im Dickicht versteckt. Die
+Töchter blühten schönen Blumen gleich um der Mutter verdorrten Stumpf;
+besonders war die jüngste Schwester schön und zierlich wie ein
+Bohnenschötchen. Aber in dieser Einsamkeit gab es keine andern Beschauer
+als am Tage die Sonne, und bei Nacht den Mond und die Augen der Sterne.
+
+ »Brennend heiß mit Jünglingsaugen
+ Schien die Sonn' auf ihren Kopfputz,
+ Glänzte auf den bunten Bändern,
+ Röthete die bunten Säume.«
+
+Die alte Mutter ließ die Mädchen nicht müßig gehen, noch säumig sein,
+sondern hielt sie vom Morgen bis zum Abend zur Arbeit an; sie saßen Tag
+für Tag am Spinnrocken und spannen Goldflachs zu Garn. Den armen
+Dingern wurde weder Donnerstag noch Sonnabend[2] Abend Muße gegönnt, den
+Gabenkasten zu bereichern,[3] und wenn nicht in der Dämmerung oder im
+Mondenschein verstohlener Weise die Stricknadel zur Hand genommen wurde,
+so blieb der Kasten ohne Zuwachs. War die Kunkel abgesponnen, so wurde
+sofort eine neue aufgesetzt, und überdies mußte das Garn eben, drall und
+fein sein. Das fertige Garn verwahrte die Alte hinter Schloß und Riegel
+in einer geheimen Kammer, wohin die Töchter ihren Fuß nicht setzen
+durften. Von wo der Goldflachs in's Haus gebracht wurde, oder zu was
+für einem Gewebe die Garne gesponnen wurden, das war den Spinnerinnen
+nicht bekannt geworden; die Mutter gab auf solche Fragen niemals
+Antwort. Zwei oder drei Mal in jedem Sommer machte die Alte eine Reise,
+man wußte nicht wohin, blieb zuweilen über eine Woche aus und kam immer
+bei nächtlicher Weile zurück, so daß die Töchter niemals erfuhren, was
+sie mitgebracht hatte. Ehe sie abreiste, theilte sie jedesmal den
+Töchtern auf so viel Tage Arbeit aus, als sie auszubleiben gedachte.
+
+Jetzt war wieder die Zeit gekommen, wo die Alte ihre Wanderung
+unternehmen wollte. Gespinnst auf sechs Tage wurde den Mädchen
+ausgetheilt, und dabei abermals die alte Ermahnung eingeschärft:»Kinder
+laßt die Augen nicht schweifen und haltet die Finger geschickt, damit
+der Faden in der Spule nicht reißt, sonst würde der Glanz des Goldgarns
+verschwinden und mit eurem Glücke würde es auch aus sein!« Die Mädchen
+verlachten diese mit Nachdruck gegebene Ermahnung; ehe noch die Mutter
+auf ihrer Krücke zehn Schritte weit vom Hause gekommen war, fingen sie
+alle drei an zu höhnen. »Dieses alberne Verbot, das immer wiederholt
+wird, hätten wir nicht nöthig gehabt,« sagte die jüngste Schwester. »Der
+Goldgarnfaden reißt nicht beim Zupfen, geschweige denn beim Spinnen.«
+Die andere Schwester setzte hinzu: »Eben so wenig ist es möglich, daß
+der Goldglanz sich verliere.« Oft schon hat Mädchen-Vorwitz Manches
+voreilig verspottet, woraus doch endlich nach vielem Jubel Thränenjammer
+erwuchs.
+
+Am dritten Tage nach der Mutter Abreise ereignete sich ein unerwarteter
+Vorfall, der den Töchtern anfangs Schrecken, dann Freude und Glück, auf
+lange Zeit aber Kummer bereiten sollte. Ein Kalew-Sproß,[4] eines Königs
+Sohn, war beim Verfolgen des Wildes von seinen Gefährten abgekommen, und
+hatte sich im Walde so weit verirrt, daß weder das Gebell der Hunde noch
+das Blasen der Hörner ihm einen Wegweiser herbeischaffte. Alles Rufen
+fand nur sein eigenes Echo,[5] oder fing sich im dichten Gestrüpp.
+Ermüdet und verdrießlich stieg der königliche Jüngling endlich vom
+Pferde und warf sich nieder, um im Schatten eines Gebüsches auszuruhen,
+während das Pferd sich nach Gefallen auf dem Rasen sein Futter suchen
+durfte. Als der Königssohn aus dem Schlaf erwachte, stand die Sonne
+schon niedrig. Als er jetzt von neuem in die Kreuz und in die Quer nach
+dem Wege suchte, entdeckte er endlich einen kleinen Fußsteig, der ihn
+zur Hütte der lahmen Alten brachte. Wohl erschracken die Töchter, als
+sie plötzlich den fremden Mann sahen, dessen Gleichen ihr Auge nie zuvor
+erblickt hatte. Indeß hatten sie sich nach Vollendung ihres Tagewerks in
+der Abendkühle mit dem Fremden befreundet, so daß sie gar nicht einmal
+zur Ruhe gehen mochten. Und als endlich die älteren Schwestern sich
+schlafen gelegt hatten, saß die jüngste noch mit dem Gaste auf der
+Thürschwelle, und es kam ihnen diese Nacht kein Schlaf in die Augen.
+
+Während die Beiden im Angesicht des Mondes und der Sterne sich ihr Herz
+öffnen und süße Gespräche führen, wollen wir uns nach den Jägern
+umsehen, die ihren Anführer im Walde verloren hatten. Unermüdlich war
+der ganze Wald nach allen Seiten hin von ihnen durchsucht worden, bis
+das Dunkel der Nacht dem Suchen ein Ziel setzte. Dann wurden zwei Männer
+in die Stadt zurückgeschickt, um die traurige Botschaft zu überbringen,
+während die Uebrigen unter einer breiten ästigen Fichte ihr Nachtlager
+aufschlugen, um am nächsten Morgen wieder weiter zu suchen. Der König
+hatte gleich Befehl gegeben, am andern Morgen ein Regiment zu Pferde und
+eins zu Fuß ausrücken zu lassen, um seinen verlorenen Sohn aufzusuchen.
+Der lange weite Wald dehnte die Nachforschungen bis zum dritten Tage
+aus; dann erst wurden in der Frühe Fußstapfen gefunden, die man
+verfolgte und dadurch den Fußsteig entdeckte, der zur Hütte führte. Dem
+Königssohne war in Gesellschaft der Mädchen die Zeit nicht lang
+geworden, noch weniger hatte er Sehnsucht nach Hause gehabt. Ehe er
+schied, gelobte er der Jüngsten heimlich, daß er in kurzer Zeit
+wiederkommen und dann, sei es im Guten oder mit Gewalt, sie mit sich
+nehmen und zu seiner Gemahlin machen wolle. Wenn gleich die ältern
+Schwestern von dieser Verabredung nichts gehört hatten, so kam die Sache
+doch heraus und zwar in einer Weise, die Niemand vermuthet hätte.
+
+Nicht gering war nämlich der jüngsten Tochter Bestürzung, als sie,
+nachdem der Königssohn fortgegangen war, sich an den Rocken setzte und
+fand, daß der Faden in der Spule gerissen war. Zwar wurden die Enden des
+Fadens im Kreuzknoten wieder zusammengeknüpft und das Rad in rascheren
+Gang gebracht, damit emsige Arbeit die im Kosen mit dem Bräutigam
+verlorene Zeit wieder einbrächte. Allein ein unerhörter und
+unerklärlicher Umstand machte das Herz des Mädchens beben: das Goldgarn
+hatte nicht mehr seinen vorigen Glanz. -- Da half kein Scheuern, kein
+Seufzen und kein Benetzen mit Thränen; die Sache war nicht wieder gut zu
+machen. Das Unglück springt zur Thür in's Haus, kommt durch's Fenster
+herein und kriecht durch jede Ritze, die es unverstopft findet, sagt ein
+altes weises Wort; so geschah es auch jetzt.
+
+Die Alte war in der Nacht nach Hause gekommen. Als sie am Morgen in die
+Stube trat, erkannte sie augenblicklich, daß hier etwas Unrechtes
+vorgegangen sei. Ihr Herz entbrannte in Zorn; sie ließ die Töchter eine
+nach der andern vor sich kommen und verlangte Rechenschaft. Mit Leugnen
+und Ausreden kamen die Mädchen nicht weit, Lügen haben kurze Beine; die
+schlaue Alte brachte bald heraus, was der Dorfhahn hinter ihrem Rücken
+der jüngsten Tochter in's Ohr gekräht hatte. Das alte Weib fing nun an
+so gräulich zu fluchen, als wollte sie Himmel und Erde mit ihren
+Verwünschungen verfinstern. Zuletzt drohte sie, dem Jüngling den Hals zu
+brechen und sein Fleisch den wilden Thieren zur Speise vorzuwerfen, wenn
+er sich gelüsten ließe, noch einmal wieder zu kommen. --Die jüngste
+Tochter wurde roth wie ein gesottener Krebs, fand den ganzen Tag keine
+Ruhe und konnte auch die Nacht kein Auge zuthun; immer lag es ihr schwer
+auf der Seele, daß der Jüngling, wenn er zurück käme, seinen Tod finden
+könnte. Früh am Morgen, als die Mutter und die Töchter noch im
+Morgenschlummer lagen, verließ sie heimlich das Haus, um in der
+Thaueskühle aufzuathmen. Zum Glück hatte sie als Kind von der Alten die
+Vogelsprache gelernt, und das kam ihr jetzt zu Statten. In der Nähe saß
+auf einem Fichtenwipfel ein Rabe, der mit dem Schnabel sein Gefieder
+zurechtzupfte. Das Mädchen rief. »_Lieber Lichtvogel, klügster_ des
+Vogelgeschlechts! willst du mir zu Hülfe kommen?« »Was für Hülfe
+begehrst du?« fragte der Rabe. Das Mädchen erwiederte: »Flieg' aus dem
+Walde heraus über Land, bis dir eine prächtige Stadt mit einem
+Köuigssitz aufstößt. Suche mit dem Königssohn zusammenzukommen und melde
+ihm, was für ein Unglück mir widerfahren ist.« Darauf erzählte sie dem
+Raben die Geschichte ausführlich, vom Reißen des Fadens an bis zu der
+gräßlichen Drohung der Mutter, und sprach die Bitte aus, daß der
+Jüngling nicht mehr zurückkommen möchte. Der Rabe versprach, den Auftrag
+auszurichten, wenn er Jemand fände, der seiner Sprache kundig wäre und
+flog sogleich davon.
+
+Die Mutter ließ die jüngste Tochter nicht mehr am Spinnrocken Platz
+nehmen, sondern hielt sie an, das gesponnene Garn abzuwickeln. Diese
+Arbeit wäre dem Mädchen leichter gewesen als die frühere, aber das ewige
+Fluchen und Zanken der Mutter ließ ihr vom Morgen bis zum Abend keine
+Ruhe. Versuchte die Jungfrau, sich zu entschuldigen, so wurde die Sache
+noch ärger. Wenn einem Weibe einmal die Galle überläuft, und der Zorn
+ihre Kinnladen geöffnet hat, so vermag keine Gewalt sie wieder zu
+schließen.
+
+Gegen Abend rief der Rabe vom Fichtenwipfel her kraa, kraa! und das
+gequälte Mädchen eilte hinaus, um den Bescheid zu hören. Der Rabe hatte
+glücklicherweise in des Königs Garten eines Windzauberers[6] Sohn
+gefunden, der die Vogelsprache vollkommen verstand. Ihm meldete der
+schwarze Vogel die von der Jungfrau ihm anvertraute Botschaft, und bat
+ihn, die Sache dem Königssohn mitzutheilen. Als der Gärtnerbursche dem
+Königssohn alles erzählt hatte, wurde diesem das Herz schwer, doch pflog
+er mit seinen Freunden heimlich Rath über die Befreiung der Jungfrau.
+»Sage dem Raben,« so unterwies er dann des Windzauberer's Sohn -- »daß
+er eilig zurückfliege und der Jungfrau melde: sei wach in der neunten
+Nacht, dann erscheint ein Retter, der das Küchlein den Klauen des
+Habichts entreißen wird.« Zum Lohn für die Bestellung erhielt der Rabe
+ein Stück Fleisch, um seine Flügel zu kräftigen, und dann wurde er
+wieder zurück geschickt. Die Jungfrau dankte dem schwarzen Vogel für
+seine Besorgung, verbarg aber das Gehörte in ihrem Herzen, damit die
+andern nichts davon erführen. Aber je näher der neunte Tag kam, desto
+schwerer wurde ihr das Herz, wenn sie bedachte, daß ein
+unvorhergesehenes Unglück alles zu Schanden machen könnte.
+
+In der neunten Nacht, als die alte Mutter und die Schwestern sich zur
+Ruhe gelegt hatten, schlich die jüngste Schwester auf den Zehen aus dem
+Hause, und setzte sich unter einen Baum auf den Rasen, um des Bräutigams
+zu harren. Hoffnung und Furcht erfüllten zugleich ihr Herz. Schon krähte
+der Hahn zum zweiten Mal, aber vom Walde her war weder ein Geräusch von
+Tritten noch ein Rufen zu hören. Zwischen dem zweiten und dritten
+Hahnenschrei drang von weitem ein Geräusch wie leises Pferdegetrappel an
+ihr Ohr. Sie ließ sich durch dies Geräusch leiten und ging den Kommenden
+entgegen, damit deren Annäherung die im Hause Schlafenden nicht wecken
+möchte. Bald erblickte sie die Kriegerschaar, an deren Spitze der
+Königssohn selbst als Führer ritt, denn er hatte, als er von hier
+fortgegangen war, an den Bäumen heimliche Zeichen gemacht, durch die er
+den rechten Weg erkannte. Als er die Jungfrau gewahr wurde, sprang er
+vom Pferde, half ihr in den Sattel, setzte sich selbst vor sie hin,
+damit sie sich an ihn lehne und dann ging es schleunig heimwärts. Der
+Mond gab zwischen den Bäumen so viel Licht, daß der bezeichnete Pfad
+ihnen nicht verloren ging. Das Frühroth hatte überall der Vögel Zungen
+gelöst und ihr Gezwitscher geweckt. Hätte die Jungfrau auf sie zu achten
+und aus ihrer Zwiesprach Belehrung zu schöpfen gewußt, es hätte den
+Beiden mehr genügt als die honigsüße Schmeichelrede, welche aus des
+Königssohnes Munde floß und das Einzige war, was in ihr Ohr drang. Sie
+hörte und sah nichts Anderes als den Bräutigam, der sie bat, alle eitle
+Furcht aufzugeben und dreist auf den Schutz der Krieger zu bauen. Als
+sie in's Freie kamen, stand die Sonne schon ziemlich hoch.
+
+Zum Glück hatte die alte Mutter am Morgen früh der Tochter Flucht nicht
+gleich bemerkt; erst etwas später, als sie die Garnwinde nicht
+abgewickelt fand, fragte sie, wohin die jüngste Schwester gegangen sei.
+Darauf wußte Niemand Antwort zu geben. Aus mancherlei Zeichen ersah
+jetzt die Mutter, daß die Tochter entflohen war; sofort faßte sie den
+tückischen Vorsatz, der flüchtigen die Strafe auf dem Fuße nachzusenden.
+Sie holte vom Boden herunter eine Handvoll aus neunerlei Arten
+gemischter Hexenkräuter, schüttete Salz, das besprochen war, dazu und
+band Alles in ein Läppchen, daß es ein Quast wurde; dann hauchte sie
+Flüche und Verwünschungen darauf und ließ nun das Hexenknäuel mit dem
+Winde davon ziehen, während sie sang:
+
+ »Wirbelwind! verleihe Flügel!
+ Windesmutter! deinen Fittig!
+ Treibet dieses Knäulchen vorwärts,
+ Daß es windesschnell dahin saust,
+ Daß es todverbreitend hinfährt,
+ Seuchenbringend weiter fliege!«
+
+Zwischen Mittmorgen und Mittag gelangte der Königssohn mit der
+Kriegerschaar an das Ufer eines breiten Flusses, über welchen eine
+schmale Brücke geschlagen war, so daß die Männer nur einzeln herüber
+konnten. Der Königssohn ritt eben mitten auf der Brücke, als mit dem
+Winde das Hexenknäuel daher fuhr und wie eine Bremse auf das Pferd traf.
+Das Pferd schnaubte vor Schreck, stellte sich plötzlich hoch auf die
+Hinterbeine, und eh' noch jemand zu Hülfe kommen konnte, glitt die
+Jungfrau vom Sattel herab jählings in den Fluß. Der Königssohn wollte
+ihr nachspringen, aber die Krieger verhinderten ihn daran, indem sie ihn
+festhielten; denn der Fluß war grundlos tief und menschliche Hülfe
+konnte dem Unglück, das einmal geschehen war, doch nicht mehr abhelfen.
+
+Schrecken und tiefe Betrübnis hatten den Königssohn ganz betäubt; die
+Krieger führten ihn gegen seinen Willen nach Hause zurück, wo er Wochen
+lang in stiller Kammer über das Unglück trauerte, so daß er anfangs
+nicht einmal Speise noch Trank zu sich nahm. Der König ließ aus allen
+Orten von nah und fern Zauberer zusammenrufen, aber keiner konnte die
+Krankheit erklären, noch wußte einer ein Mittel dagegen anzugeben. Da
+sagte eines Tages des Windzauberers Sohn, der in des Königs Garten
+Gärtnerbursch war: »Sendet nur nach Finnland, daß der uralte Zauberer
+komme, der versteht mehr als die Zauberer eures Landes.«
+
+Alsbald sandte der König eine Botschaft an den alten Zauberer Finnlands,
+und dieser traf schon nach einer Woche auf Windesflügeln ein. Er sagte
+zum König: »Geehrter König! die Krankheit ist vom Winde angeweht. Ein
+böses Hexen-Knäuel hat des Jünglings bessere Herzenshälfte hingerafft,
+und darüber grämt er sich beständig. Schicket ihn oft in den Wind, damit
+der Wind die Sorgen in den Wald treibt.«[7]
+
+So kam es auch wirklich; der Königssohn fing an sich zu erholen, Nahrung
+zu nehmen und Nachts zu schlafen. Zuletzt gestand er seinen Eltern
+seinen Herzenskummer; der Vater wünschte, daß der Sohn wieder auf die
+Freite gehen und ein junges Weib nach seinem Sinne heim führen möchte,
+aber der Sohn wollte nichts davon wissen.
+
+Schon über ein Jahr war dem Jüngling in Trauer verstrichen, als er eines
+Tages zufällig an die Brücke kam, wo seine Liebste ihr Ende gefunden
+hatte. Als er sich das Unglück in's Gedächtniß zurückrief, traten ihm
+bittere Thränen in die Augen. Mit einem Male hörte er einen schönen
+Gesang anstimmen, obwohl nirgends ein menschliches Wesen zu sehen war.
+Die Stimme sang:
+
+ »Durch der Mutter Fluch beschworen
+ Nahm das Wasser die Unsel'ge,
+ Barg das Wellengrab die Kleine,
+ Deckte Ahti's[8] Fluth das Liebchen.«
+
+Der Königssohn stieg vom Pferde und spähte nach allen Seiten, ob nicht
+Jemand unter der Brücke versteckt sei, aber soweit sein Auge reichte,
+war nirgends ein Sänger zu sehen. Auf der Wasserfläche schaukelte
+zwischen breiten Blättern ein Teichröschen, das war der einzige
+Gegenstand, den er erblickte. Aber ein schaukelndes Blümchen konnte doch
+nicht singen, dahinter mußte irgend ein wunderbares Geheimniß stecken.
+Er band sein Pferd am Ufer an einen Baumstumpf, setzte sich auf die
+Brücke und lauschte, ob Auge oder Ohr nähere Auskunft geben würden. Eine
+Zeitlang blieb Alles still, dann sang wieder der unsichtbare Sänger:
+
+ »Durch der Mutter Fluch beschworen
+ Nahm das Wasser die Unsel'ge,
+ Barg das Wellengrab die Kleine,
+ Deckte Ahti's Fluth das Liebchen.«
+
+Wie dem Menschen nicht selten ein guter Gedanke unerwartet vom Winde
+zugeweht wird, so geschah es auch hier. Der Königssohn dachte: wenn ich
+ungesäumt zur Waldhütte reite, wer weiß, ob mir nicht die
+Goldspinnerinnen diesen wunderbaren Fall deuten können. So stieg er zu
+Pferde und schlug den Weg zum Walde ein. An den früheren Zeichen hoffte
+er sich leicht zurecht zu finden, allein der Wald war gewachsen und er
+hatte über einen Tag lang zu suchen, ehe er auf den Fußsteig gelangte.
+In der Nähe der Hütte hielt er an, um zu warten, ob eine der Jungfrauen
+herauskommen würde. Früh Morgens kam die älteste Schwester zur Quelle,
+um sich das Gesicht zu waschen. Der Jüngling trat näher, erzählte das
+Unglück, welches sich voriges Jahr auf der Brücke zugetragen, und was
+für einen Gesang er vor einigen Tagen dort gehört habe. Die alte Mutter
+war glücklicher Weise gerade nicht daheim, deßwegen lud die Jungfrau den
+Königssohn in's Haus. Als die Mädchen die ausführliche Erzählung
+angehört hatten, begriffen sie ohne Weiteres, daß das Unglück des
+vorigen Jahres durch ein Hexenknäuel der Mutter entstanden war, und daß
+die Schwester jetzt noch nicht gestorben sei, sondern in Zauberbanden
+liege. Die älteste Schwester fragte: »Ist euren Blicken auf dem
+Wasserspiegel nichts begegnet, was einen Gesang hätte können ertönen
+lassen?« »Nichts,« erwiederte der Königssohn. »So weit mein Auge
+reichte, war auf dem Wasserspiegel nichts weiter zu sehen, als ein
+gelbes Teichröschen zwischen breiten Blättern, aber Blümchen und Blätter
+können doch nicht singen.« Die Töchter muthmaßten sogleich, daß das
+Teichröschen nichts Anderes sein könne, als ihre in den Wellen
+versunkene und durch Hexenkunst in ein Blümchen verwandelte Schwester.
+Sie wußten, wie die alte Mutter das fluchbehaftete Hexenknäuel hatte
+fliegen lassen, welches die Schwester, wenn es sie nicht tödtete, in
+jeglicher Weise verwandeln konnte. Von dieser Vermuthung sagten sie
+indeß dem Königssohne nichts, denn so lange sie noch nicht Rath wußten
+zu ihrer Befreiung, wollten sie keine eitle Hoffnung erwecken. Da die
+Rückkehr der Mutter erst in einigen Tagen erwartet wurde, hatten sie
+Zeit sich zu berathen.
+
+Die älteste Schwester holte nun am Abend eine Handvoll gehörig
+gemischter Zauberkräuter vom Boden herunter, zerrieb sie, machte daraus
+mit Mehl einen Teig, buck einen Kuchen und gab ihn dem Jüngling zu
+essen, ehe er sich am Abend zur Ruhe legte. Der Königssohn hatte in der
+Nacht einen wunderbaren Traum, als ob er im Walde unter den Vögeln lebte
+und die einem jeden derselben eigene Sprache verstünde. Als er am Morgen
+seinen Traum den Jungfrauen erzähle, sagte die älteste Schwester: »Zur
+guten Stunde habt ihr euch zu uns aufgemacht, zur guten Stunde habt ihr
+den Traum gehabt, der euch auf eurem Heimwege zur Wirklichkeit werden
+wird. Mein Schweinefleischkuchen von gestern, den ich euch zum Frommen
+buck und zu essen gab, war mit Zauberkräutern gefüllt, welche euch in
+den Stand setzen, Alles zu verstehen, was die klugen Vögel unter
+einander reden. In diesen Männlein im Federkleide steckt viel verborgene
+Weisheit, die den Menschen unbekannt ist, deßhalb gebt scharf Acht, was
+die Vögelschnäbel verkünden. Und wenn dann eure Leidenszeit vorüber ist,
+so denkt auch an uns arme Kinder, die wir hier wie in einem ewigen
+Kerker am Rocken sitzen.«
+
+Der Königssohn dankte den Mädchen für ihre gute Gesinnung und versprach,
+sie später aus ihrer Knechtschaft zu befreien, sei es für ein Lösegeld
+oder mit Gewalt; nahm Abschied und trat eilig die Rückreise an. Die
+Mädchen freuten sich, als sie sahen, daß ihnen der Faden nicht gerissen
+und der Goldglanz nicht verblichen sei; die alte Mutter konnte, wenn sie
+heim kam, ihnen nichts vorwerfen.
+
+Um so spaßhafter ging die Sache mit dem Königssohne, der im Walde wie
+mitten in zahlreicher Gesellschaft dahin ritt, weil der Gesang und das
+Gezwitscher der Vögel ganz verständlich wie Worte an sein Ohr schlugen.
+Hier sah er voll Verwunderung, wie viel Weisheit dem Menschen dadurch
+unbekannt bleibt, daß er die Vogelsprache nicht versteht. Von dem, was
+das Federvolk anfangs redete, konnte der Wanderer das Meiste nicht recht
+fassen; es wurde über vielerlei Menschen dies und jenes ausgeplaudert,
+aber diese Menschen und ihr Treiben waren ihm fremd. Da sah er plötzlich
+auf einem hohen Föhrenwipfel eine Elster und eine Drossel, deren
+Unterhaltung auf ihn gemünzt war.
+
+»Die Dummheit der Menschen ist groß,« sagte die Drossel. »Sie wissen
+auch die geringfügigsten Dinge nicht recht anzufassen. Dort sitzt neben
+der Brücke in Gestalt einer Teichrose des alten lahmen Weibes Pflegekind
+schon ein ganzes Jahr, klagt singend den Vorübergehenden ihre Noth, aber
+Niemand kommt sie zu erlösen. Vor einigen Tagen erst ritt ihr ehemaliger
+Bräutigam über die Brücke, und hörte den sehnsüchtigen Gesang der
+Jungfrau, war aber auch nicht klüger als die Andern.« Die Elster
+erwiederte: »Und gleichwohl muß das Mädchen um seinetwillen von der
+Mutter die Strafe erdulden. Wenn ihm keine größere Weisheit zu Theil
+wird, als die, welche er aus dem Munde der Menschen vernimmt, so bleibt
+das Mädchen ewig ein Blümlein.« »Des Mädchens Befreiung würde eine
+Kleinigkeit sein,« sagte die Drossel, »wenn die Sache dem alten Zauberer
+von Finnland gründlich dargelegt würde. Er könnte die Jungfrau leicht
+aus ihrem nassen Kerker und ihrem Blumenzwang befreien.«
+
+Dieses Gespräch machte den Jüngling nachdenklich; indem er weiter ritt,
+ging er mit sich zu Rathe, wo er wohl einen Boten hernähme, den er nach
+Finnland schicken könnte. Da hörte er über seinem Haupte, wie eine
+Schwalbe zur andern sagte: »Komm, laß uns nach Finnland ziehen, dort ist
+besser nisten als hier!«
+
+»Haltet, Freunde!« rief der Königssohn in der Vogelsprache. »Bringt dem
+alten Zauberer in Finnland tausend Grüße von mir und bittet ihn um
+Bescheid, wie es wohl möglich wäre, eine in eine Teichrose verwandelte
+Jungfrau wieder zu einem Menschenbilde zu machen.« Die Schwalben
+versprachen den Auftrag auszurichten und flogen davon.
+
+Als er an's Ufer des Flusses kam, ließ er sein Pferd verschnaufen und
+blieb auf der Brücke stehen, um zu horchen, ob nicht der Gesang sich
+wieder hören lasse. Aber Schweigen herrschte ringsum und es war nichts
+zu hören, als das Rauschen der Wellen und das Sausen des Windes.
+Unmuthig setzte sich der Jüngling wieder zu Pferde, und ritt heim, sagte
+aber Niemanden ein Wort von dieser Wanderung und ihrem Abenteuer.
+
+Eine Woche später saß er eines Tages im Garten, und dachte, die
+Schwalben müßten seine Botschaft wohl vergessen haben, als ein großer
+Adler hoch in den Lüften über seinem Haupte kreiste. Allmählich stieg
+der Vogel immer tiefer herunter, bis er sich endlich auf einem Lindenast
+in der Nähe des Königssohnes niederließ. »Der alte Zauberer in
+Finnland,« so ließ der Adler sich vernehmen, »sendet euch viele Grüße,
+und bittet es ihm nicht zu verübeln, daß er nicht früher Antwort
+ertheilt hat. Es war gerade Niemand zu finden, der hierher wollte. Um
+die Jungfrau aus ihrem Blumenzustande zu erlösen, ist nur dies nöthig:
+Gehet an das Ufer des Flusses, werfet eure Kleider ab und schmiert euch
+den Körper über und über mit Schlamm ein, so daß kein weißer Fleck
+bleibt; dann nehmt die Nasenspitze zwischen die Finger und rufet: »»Aus
+dem Mann ein Krebs!«« Augenblicklich werdet ihr zum Krebs, dann geht in
+die Tiefe des Flusses; Ertrinken habt ihr nicht zu befürchten. Drängt
+euch dreist unter die Wurzeln des Teichröschens, und löset sie von
+Schlamm und Schilf, so daß sie nirgends mehr fest sitzen. Hängt euch
+dann mit euren Scheeren an ein Zweiglein der Wurzel an, so wird euch das
+Wasser sammt dem Blümchen auf die Oberfläche heben. Dann treibet mit dem
+Strom so lange fort, bis euch links am Ufer eine Eberesche mit
+beblätterten Zweigen zu Gesicht kommt. Nicht weit von der Eberesche
+steht ein Stein von der Höhe einer kleinen Badstube. Beim Steine müßt
+ihr die Worte ausstoßen: »»Aus der Teichrose die Jungfrau, aus dem Krebs
+der Mann!«« In demselben Augenblick wird es so geschehen.« Als der Adler
+geendigt hatte, hob er die Fittige und flog davon. Der Jüngling sah ihm
+eine Weile nach und wußte nicht, was er davon halten sollte.
+
+Unter zweifelnden Gedanken verstrich ihm über eine Woche; er hatte weder
+Muth noch Vertrauen genug, die Befreiung in dieser Weise zu versuchen.
+Da hörte er eines Tages aus dem Munde einer Krähe: »Was zögerst du, der
+Weisung des Alten nachzukommen? Der alte Zauberer hat noch nie falschen
+Bescheid geschickt, und auch die Vogelsprache hat noch nie getrogen.
+Eile an das Ufer des Flusses und trockne die Sehnsuchtsthränen der
+Jungfrau.« Die Rede der Krähe machte dem Jünglinge Muth; er dachte:
+Größeres Unglück kann mir nicht widerfahren als der Tod, aber leichter
+ist der Tod als unaufhörliches Trauern. Er setzte sich zu Pferde und
+ritt den bekannten Weg zum Ufer des Flusses. Als er an die Brücke kam,
+hörte er den Gesang:
+
+ »Durch der Mutter Fluch beschworen
+ Muß ich hier im Schlummer liegen,
+ Muß das junge Kind verwelken,
+ In der Wellen Schoos hinsiechen.
+ Feucht und kalt das tiefe Bette
+ Decket jetzt die zarte Jungfrau.«
+
+Der Königssohn legte seinem Pferde die Fußfessel an, damit es sich nicht
+zu weit von der Brücke entfernen könnte, warf die Kleider ab, schmierte
+den Körper über und über mit Schlamm, so daß nirgends ein weißer Fleck
+blieb, faßte sich dann an die Nasenspitze und sprang in's Wasser mit dem
+Rufe: »Aus dem Mann ein Krebs!« Einen Augenblick zischte das Wasser auf,
+dann war Alles wieder still wie zuvor.
+
+Das in einen Krebs verwandelte Männlein begann die Wurzeln der Teichrose
+aus dem Flußbette loszumachen, brauchte aber viel Zeit dazu. Die
+Würzelchen saßen im Schlamm und Schilf fest, so daß der Krebs sieben
+Tage schwere Arbeit hatte, bis die Sache von Statten ging. Als die
+Arbeit beendigt war, hakte das Krebsmännlein seine Scheeren in ein
+Zweiglein der Wurzel ein, und das Wasser hob ihn sammt dem Blümchen auf
+die Oberfläche des Flusses. Die schaukelnden Wellen trieben Krebs und
+Teichrose nur allmählich vorwärts, und wiewohl Bäume und Sträuche genug
+am Ufer sichtbar wurden, so kam doch immer die Eberesche mit dem großen
+Stein nicht zum Vorschein. Endlich sah er links am Ufer den Baum mit
+seinem Laube und den rothen Beerenbüscheln, und etwas weiterhin stand
+auch der Fels, der die Höhe einer kleinen Badstube hatte. Jetzt stieß
+das Krebsmännlein die Worte aus: »Aus der Teichrose die Jungfrau, aus
+dem Krebse der Mann!« -- Augenblicklich schwammen auf dem Wasser zwei
+Menschenhäupter, ein männliches und ein weibliches, das Wasser trieb sie
+an's Ufer, aber Beide waren splitternackt, wie Gott sie geschaffen.
+
+Die verschämte Jungfrau bat nun: »Lieber Jüngling, ich habe keine
+Kleider anzuziehen, darum mag ich nicht aus dem Wasser steigen.« -- Der
+Jüngling bat dagegen: »Tretet an's Ufer unter die Eberesche, ich mache
+so lange die Augen zu, bis ihr hinauf klettert und euch unter dem Baume
+berget. Dann eile ich zur Brücke, wo ich mein Pferd und meine Kleider
+ließ, als ich in den Fluß sprang.« Die Jungfrau hatte sich unter der
+Eberesche verborgen, und der Jüngling eilte zur Brücke, wo er Kleider
+und Pferd gelassen hatte; aber er fand dort weder das Eine noch das
+Andere. Daß sein Krebszustand so viele Tage gedauert hatte, wußte er
+nicht, vielmehr glaubte er nur einige Stunden auf dem Grunde des Wassers
+gewesen zu sein. Siehe, da kommt ihm am Ufer eine prächtige mit sechs
+Pferden bespannte Kutsche langsam entgegen. In der Kutsche fand er alles
+Nöthige, sowohl für sich, wie für die aus dem Wasserkerker erlöste
+Jungfrau; sogar ein Diener und eine Zofe waren mit der Kutsche
+angekommen. Den Diener behielt der Königssohn für sich, das Mädchen
+schickte er mit der Kutsche und den Kleidern dahin, wo sein nacktes
+Liebchen unter der Eberesche harrte. Es verging über eine Stunde, da kam
+die hochzeitlich geschmückte Jungfrau in der Kutsche an die Stelle, wo
+der Königssohn ihrer wartete. Er war gleichfalls prächtig als Bräutigam
+gekleidet und setzte sich zu ihr in die Kutsche. Sie fuhren gradeswegs
+zur Stadt und vor die Kirchenthür. Der König und die Königin saßen in
+Trauerkleidern in der Kirche, denn sie trauerten über den theuren
+verlorenen Sohn, den man im Flusse ertrunken glaubte, da man Pferd und
+Kleider am Ufer gefunden hatte. Groß war der Eltern Freude, als der für
+todt beweinte Sohn lebend an der Seite einer schönen Jungfrau vor sie
+trat, beide in Prunkgewändern. Der König führte sie selbst zum Altar und
+sie wurden getraut. Dann wurde ein Hochzeitsfest veranstaltet, das in
+Saus und Braus sechs Wochen lang dauerte.
+
+Im Gange der Zeit ist zwar kein Stillstand und keine Ruhe, dennoch
+scheinen die Tage der Freude rascher dahin zu fließen als die Stunden
+der Trübsal. Nach dem Hochzeitsfeste war der Herbst eingetreten, dann
+kam Frost und Schnee, so daß das junge Paar nicht viel Lust hatte, den
+Fuß aus dem Hause zu setzen. Als aber der Frühling wiederkehrte und neue
+Freuden brachte, ging der Königssohn mit seiner jungen Gattin im Garten
+spazieren. Da hörten sie, wie eine Elster vom Wipfel eines Baumes herab
+rief: »O du undankbares Geschöpf, das in den Tagen des Glücks seine
+hülfreichen Freunde vergessen hat. Sollen die beiden armen Jungfrauen
+ihr Lebelang Goldgarn spinnen? Die lahme Alte ist nicht die Mutter der
+Mädchen, sondern eine Zauberhexe, welche die Jungfrauen als Kinder aus
+fernen Landen gestohlen hat. Der Alten Sünden sind groß, sie verdient
+keine Barmherzigkeit. Gekochter Schierling wäre für sie das beste
+Gericht; sonst würde sie wohl das gerettete Kind abermals mit einem
+Hexenknäuel verfolgen.«
+
+Jetzt fiel es dem Königssohne wieder ein und er bekannte seiner Gattin,
+wie er zur Waldhütte gegangen sei, die Schwestern um Rath zu fragen,
+dort die Vogelsprache gelernt und den Jungfrauen versprochen habe, sie
+aus ihrer Gefangenschaft zu erlösen. Die Gattin bat mit Thränen in den
+Augen, den Schwestern zu Hülfe zu eilen. Als sie den andern Morgen
+erwachte, sagte sie: »Ich hatte einen bedeutungsvollen Traum. Die alte
+Mutter war von Hause gegangen und hatte die Töchter allein gelassen;
+jetzt wäre gewiß die rechte Zeit ihnen zu Hülfe zu kommen.«
+
+Der Königssohn ließ sofort eine Kriegerschaar sich rüsten und zog mit
+ihnen zur Waldhütte. Am andern Tage langten sie dort an. Die Mädchen
+waren, wie der Traum geweissagt hatte, allein zu Hause und kamen mit
+Freudengeschrei den Errettern entgegen. Einem Kriegsmanne wurde Befehl
+gegeben, Schierlingswurzeln zu sammeln und daraus für die Alte ein
+Gericht zu kochen, so daß, wenn sie nach Hause käme und sich daran satt
+äße, ihr die Lust am Essen für immer verginge. Sie blieben zur Nacht in
+der Waldhütte und machten sich am andern Morgen in der Frühe mit den
+Mädchen auf den Weg, so daß sie Abends die Stadt erreichten. Der
+Schwestern Freude war groß, als sie sich hier nach zwei Jahren wieder
+vereinigt fanden.
+
+Die Alte war in derselben Nacht nach Hause gekommen; sie verzehrte mit
+großer Gier die Speise, welche sie auf dem Tische fand und kroch dann
+in's Bett um zu ruhen, wachte aber nicht wieder auf: der Schierling
+hatte dem Leben des Unholds ein Ende gemacht. Als der Königssohn eine
+Woche später einen zuverlässigen Hauptmann hinschickte, sich die Sache
+anzusehen, fand man die Alte todt. In der heimlichen Kammer wurden
+funfzig Fuder Goldgarn aufgehäuft gefunden, welche unter die Schwestern
+vertheilt wurden. Als der Schatz weggeführt war, ließ der Hauptmann den
+Feuerhahn auf's Dach setzen. Schon streckte der Hahn seinen rothen Kamm
+zum Rauchloch[9] heraus, als eine große Katze mit glühenden Augen vom
+Dache her an der Wand herunterkletterte. Die Kriegsleute jagten der
+Katze nach und wurden ihrer bald habhaft. Ein Vögelchen gab von einem
+Baumwipfel herab die Weisung: »Heftet der Katze eine Falle an den
+Schwanz, dann wird Alles an den Tag kommen!« Die Männer thaten es.
+
+»Peinigt mich nicht, ihr Männer!« bat nun die Katze. »Ich bin ein Mensch
+wie ihr, wenn ich auch jetzt durch Hexenzauber in Katzengestalt gebannt
+bin. Es war der Lohn für meine Schlechtigkeit, daß ich in eine Katze
+verwandelt wurde. Ich war weit von hier in einem reichen Königsschlosse
+Haushälterin, und die Alte war der Königin erste Kammerjungfer. Von
+Habgier getrieben machten wir mit einander den heimlichen Anschlag, des
+Königs drei Töchter und außerdem einen großen Schatz zu stehlen und dann
+zu entfliehen. Nachdem wir allmählich alle goldenen Geräthe bei Seite
+geschafft hatten, welche die Alte in goldenen Flachs verwandelte, nahmen
+wir die Kinder, deren ältestes drei Jahre, das jüngste sechs Monate alt
+war. Die Alte fürchtete dann, daß ich bereuen und anderen Sinnes werden
+möchte, und verwandelte mich deshalb in eine Katze; zwar wurde mir in
+ihrer Todesstunde die Zunge gelöst, aber die frühere Gestalt habe ich
+nicht wieder erhalten.« Der Kriegshauptmann sagte, als die Katze
+ausgesprochen hatte: »Du brauchst kein besseres Ende zu nehmen, als die
+Alte!« und ließ sie in's Feuer werfen.
+
+Die beiden Königstöchter aber bekamen bald, wie ihre jüngste Schwester,
+Königssöhne zu Männern, und das von ihnen in der Waldhütte gesponnene
+Goldgarn war ihnen reiche Mitgift. Ihr Geburtsort und ihre Eltern
+blieben unbekannt. Man erzählt sich, daß das alte Weib noch manches
+Fuder Goldgarn unter der Erde vergraben hatte, aber Niemand konnte die
+Stelle angeben.
+
+[Fußnote 1: Die Goldspinnerinnen erinnern an die Pflegetöchter der
+Hölle, die dort gefangen gehalten werden, arbeiten und auch spinnen
+müssen, s. _Kalewipoëg_ (myth. Heldensagen vom Kalew-Sohn) =XIII.= 521 ff.
+=XIV.= 470 ff. L.]
+
+[Fußnote 2: Donnerstag und Sonnabend galten den Ehsten in
+vorchristlicher Zeit für heilig. Im _Kalewipoëg_, Gesang =XIII=, V. 423
+kocht der Höllenkessel am Donnerstag stärkende Zauberspeise. Nach
+_Rußwurm_, Sagen aus Hapsal und der Umgegend, Reval 1856, S. 20, erhalten
+die Unterirdischen (vgl. Märchen 17), was am Sonnabend oder am
+Donnerstag Abend ohne Licht gearbeitet wird. Vgl. _Kreutzwald_ zu _Boecler_,
+der Ehsten abergläubische Gebräuche &c. (St. Petersburg 1854) S. 97-104.
+Wenn der oberste Gott der Ehsten, Taara, sich sachlich und lautlich an
+den germanischen Thor anschließt, so ist aus der jetzigen ehstnischen
+Bezeichnung des Thortags, Donnerstags, jede Erinnerung an Taara-Thor
+getilgt; der Donnerstag heißt ehstnisch einfach =nelja-päew=, d. i. der
+vierte Tag. (Montag der erste, Dienstag der zweite, Mittwoch der dritte
+oder auch Mittwoch, Freitag = Reede, corrumpirt aus plattd. Frêdag,
+Sonnabend = Badetag, Sonntag = heiliger Tag, Feiertag.) L.]
+
+[Fußnote 3: Der Sinn ist: Sie durften nicht für sich arbeiten, um den
+Kasten zu füllen, aus welchem die Braut am Hochzeitstage Geschenke
+vertheilt. Vgl. _Boecler_, der Ehsten abergl. Gebräuche, ed. _Kreutzwald_,
+=p.= 37. _Neus_, Ehstn. Volkslieder, S. 284. L.]
+
+[Fußnote 4: Nicht zu verwechseln mit dem Kalew-_Sohn_ (=Kalewipoëg=), dem
+Herkules des ehstnischen Festlandes. Auf der Insel Oesel heißt dieser
+Töll od. Töllus. Vgl. _Rußwurm_, Eibofolke oder die Schweden an den Küsten
+Ehstland's und auf Runö. Reval 1855. Th. 2, S. 273. _Neus_ in den
+Beiträgen zur Kunde Ehst-, Liv- und Kurlands, ed. Ed. Pabst. Reval 1866.
+Bd. =I=, Heft =I=, =p.= 111. L.]
+
+[Fußnote 5: wörtlich: fiel in das Ohr das Echo. Das Echo wird bildlich
+»Schielauge« genannt. S. Kreutzwald zu Boecler, S. 146.]
+
+[Fußnote 6: Vgl. die folgende Anm. und die Nota S. 25 zu 2. »die im
+Mondschein badenden Jungfrauen.« L.]
+
+[Fußnote 7: Die alte Anschauung der Ehsten unterscheidet feindliche und
+günstige Winde und schreibt beiden den weitgreifendsten Einfluß zu. Die
+unaufhörlichen Windströmungen, welche an dem ehstnischen Küstenstrich
+ihr Spiel treiben und von der größten Bedeutung für das Naturleben sind,
+erklären dies vollkommen. In unserer Stelle ist die Krankheit nicht »von
+Gott, sondern vom Winde gekommen« und soll auch wieder (homöopathisch)
+durch den Wind vertrieben werden. Vergl. _Kreutzwald_ zu _Boecler_, ehstn.
+Aberglaube, S. 105 ff. u. _Kreutzwald_ u. _Neus_, Myth. u. mag. Lieder der
+Ehsten, S. 13. L.]
+
+[Fußnote 8: Ahti oder Ahto (sprich Achti, Achto) ist in der finnischen
+Mythologie der über alles Wasser herrschende Gott: ein alter ehrwürdiger
+Mann mit einem Grasbart und einem Schaumgewand. Er wird,
+characteristisch genug, als begehrlich nach fremdem Gut geschildert. Im
+ehstnischen Epos vom _Kalewi-Poëg_ Ges. =XVI.=, V. 72 ist von Ahti's Sohn
+und seinen (Wasser) Gruben die Rede. L.]
+
+[Fußnote 9: Loch am Giebel des Hauses (zum Hinauslassen des Rauches).
+L.]
+
+
+
+
+2. Die im Mondschein badenden Jungfrauen.
+
+
+Es lebte einmal ein Jüngling, der nirgends Ruhe hatte, sondern sich
+abmühte, alle verborgenen Dinge zu erforschen, die andern Leuten
+unbekannt geblieben waren. Als er die Vogelsprache und andere geheime
+Weisheit genugsam erlernt hatte, hörte er zufällig, daß unter der Decke
+der Nacht sich Manches zutragen solle, was den Augen Sterblicher zu
+schauen verwehrt sei. Jetzt sehnte er sich darnach, solche
+Heimlichkeiten der Nacht zu ergründen, und mochte sich nicht eher
+zufrieden geben, als bis ihm diese verborgene Kunde geworden wäre. Wohl
+ging er eine Zeit lang von einem Zauberer zum andern, und lag ihnen an,
+ihm zu seinem Zwecke die Augen zu schärfen, aber keiner konnte helfen.
+Da kam er durch einen glücklichen Zufall endlich mit einem
+Mana-Zauberer[10] aus Finnland zusammen, der über diese verborgenen
+Dinge Auskunft zu geben wußte. Als er diesem seinen Wunsch kund gethan
+hatte, sagte der Zauberer warnend: »Söhnlein! jage nicht allerlei leerer
+Weisheit nach, welche dir kein Glück bringen kann, wohl aber Unglück.
+Manches ist den Augen der Menschen verhüllt, weil es dem Frieden des
+Herzens ein Ende machen müßte, wenn es erkannt würde. Wer alle geheimen
+Dinge schauen lernt, der findet keine Freude mehr an dem, was ihm die
+Alltagswelt vor Augen bringt. Dies bedenke, ehe du später bereuest.
+--Dennoch will ich, falls du meiner Abmahnung nicht achtest und dein
+Unglück wünschest, dich unterweisen, wie du die unter der Decke der
+Nacht geschehenden Dinge gewahr werden kannst. Aber du mußt mehr als
+Mannesmuth haben, sonst kannst du nie geheimer Weisheit inne werden.«
+Darauf gab ihm der Zauberer aus Finnland einen Ort an und nannte ihm
+die, zum Glück nahe bevorstehende Nacht,[11] wo der Schlangenkönig immer
+nach sieben Jahren mit seinem Hofstaat zusammenkommt, um ein großes
+Festgelage zu halten. »Der Schlangenkönig hat ein Goldschüsselchen mit
+Himmelsziegenmilch vor sich; wenn es dir nur gelingt, ein Stückchen Brot
+in diese Milch zu tunken und den eingetunkten Bissen in den Mund zu
+stecken, ehe du dich wieder auf die Flucht begiebst, so kannst du alles
+Geheime schauen, was unter der Decke der Nacht geschieht, ohne daß die
+Menschen Kunde davon haben. Als einen glücklichen Zufall kannst du es
+ansehen, daß des Schlangenkönigs Fest gerade in dieses Jahr fällt, sonst
+hättest du sieben Jahre auf die Wiederkehr desselben warten müssen. Sei
+aber dreist, beherzt und rasch, sonst geht die Sache schief.« -- Der
+Jüngling dankte für diese Belehrung und ging mit dem festen Vorsatz,
+derselben nachzukommen, und müßte er auch dabei sein Leben einbüßen. Als
+nun die bezeichnete Nacht herangekommen war, ging er Abends auf ein
+großes Moor, wo der Schlangenkönig mit seinen Unterthanen zusammenkommen
+sollte, um das Fest zu feiern. Obwohl aber der Jüngling seine Augen nach
+allen Seiten scharf umhergehen ließ, so sah er doch im Mondenschein
+nichts weiter, als eine Anzahl Rasenhügel, die unbeweglich da lagen.
+Schon wurde ihm die Zeit lang, Mitternacht konnte nicht mehr fern sein,
+als plötzlich mitten auf dem Moor ein heller Feuerschein aufstieg, etwa
+wie wenn ein Stern des Himmels auf einem der Rasenhügel schimmerte. In
+demselben Augenblicke, wo der Feuerschein aufglänzte, fingen sämmtliche
+Rasenhügelchen an zu krimmeln und zu wimmeln, und von jedem derselben
+kamen Hunderte von Schlangen herunter und krochen alle auf den
+Feuerschein zu -- und jetzt war nur noch flaches Moor vorhanden. Die
+vermeintlichen Hügelchen waren nichts weiter als Haufen lebendiger
+Schlangen gewesen, die hier ihren König erwartet hatten. Als nun
+sämmtliche Schlangen sich an der Stelle, wo der Feuerschein glänzte,
+versammelt und sich dort zu _einem_ Haufen zusammengeknäult hatten, war
+dieser so hoch und breit wie ein kleiner Heuschober geworden, und auf
+der Spitze desselben hielt sich der helle Feuerschein. Das Gewirre und
+Geschwirre in dem Schlangenhaufen war so groß, daß der Jüngling vor
+Furcht keinen Schritt näher zu treten wagte, sondern lange von weitem
+stehen blieb, und das Wunder betrachtete. Allmählich aber faßte er sich
+ein Herz, und ging fein sachte Schritt vor Schritt auf den Zehen
+vorwärts. Was er da sah, war gräulicher als gräulich, und ging über alle
+Begriffe. Tausende von Schlangen, groß und klein, von allen Farben,
+waren hier wie in einem Traubenbündel um eine große Schlange gelagert,
+deren Körper die Dicke eines tüchtigen Balkens zu haben schien, und die
+auf dem Kopfe eine prächtige goldene Krone[12] trug, von welcher jener
+Glanz ausstrahlte. Hunderte und Tausende von Schlangenhäuptern, die aus
+dem Haufen hervorragten, züngelten und zischten wie böse Gänse und
+machten ein so arges Geräusch, daß es zum Taubwerden war. Der Jüngling
+hatte lange nicht das Herz, an den Schlangenhaufen heranzugehen, wo
+jeder Augenblick ihm Tod drohte; als er aber plötzlich das
+Goldschüsselchen, von dem er gehört hatte, vor dem Schlangenkönig
+erblickte und an den daran geknüpften Gewinn dachte, durfte er nicht
+länger zaudern. Obwohl ihm die Haare zu Berge standen und das Blut im
+Herzen erstarrte, so stachelte ihn doch sein Verlangen und trieb ihn
+vorwärts. -- O was für ein Gewirr und Geschwirr sich jetzt in dem
+Schlangenhaufen erhob! Alle die Tausend Köpfe sperrten die Mäuler weit
+auf und suchten den Mann zu stechen, aber zum Glück konnten sie ihre
+Leiber nicht so schnell aus dem Knäuel los wickeln. Der Jüngling hatte
+mit Blitzesschnelle einen Bissen Brot in das Goldschüsselchen getunkt,
+ihn in den Mund gesteckt und dann Fersengeld gegeben, als ob Feuer
+hinter ihm drein jagte. Aber der Verfolger war schlimmer als Feuer,
+darum ließ er sich nicht Zeit, hinter sich zu blicken, obgleich ihm war,
+als ob Tausende von Feinden ihm auf der Ferse wären und er stets das
+Geräusch derselben zu hören glaubte. Endlich stockte ihm der Athem und
+seine Kraft erlahmte; er fiel ohne Bewußtsein auf den Rasen und blieb
+starr wie ein Todter liegen. Wohl war er in Schlaf gefallen, aber
+schreckliche Traumbilder ließen die Gefahr noch viel größer erscheinen.
+So träumte ihm, als wäre der Schlangenkönig mit der funkelnden Goldkrone
+auf ihn gefallen und wollte ihn verschlingen. Mit lautem Geschrei sprang
+er auf und zur Seite, um dem Feinde zu entkommen und sah, daß der Strahl
+der aufgehenden Sonne ihn geweckt hatte. Er riß die Augen weit auf, sah
+aber nirgends die nächtlichen Feinde, und das Moor, wo er in so großer
+Gefahr gewesen, mußte zum mindesten eine Meile weit entfernt sein.
+Sicherlich hatte die Himmelsziegenmilch seine Kraft gestählt, daß er so
+weit hatte laufen können. Als er dann seine Gliedmaßen prüfte, fand er
+sie unversehrt; und nun war seine Freude groß, daß er mit heiler Haut
+davon gekommen war.
+
+Nach Mittag ruhte er mehrere Stunden vom Schrecken und der Ermüdung der
+vergangenen Nacht aus, dann beschloß er, noch in dieser Nacht in den
+Wald zu gehen, um den Nutzen der Himmelsziegenmilch zu erproben, ob ihm
+nun wirklich verborgene Dinge offenbar werden würden. Im Walde sah er
+alsbald, was noch kein sterbliches Auge gesehen hatte und auch gewiß
+nicht wieder sehen wird. Unter den Baumwipfeln zeigten sich goldene,
+röthlich schimmernde Badebänke, silberne Quäste und silberne Eimer
+fehlten nicht, aber nirgends waren lebende Wesen sichtbar, welche hätten
+baden wollen. Der Vollmond glänzte und gab so viel Licht, daß der Mann
+Alles deutlich sehen konnte. Nach einiger Zeit hörte er ein Geräusch im
+Laube, als ob ein Wind sich erhoben hätte, dann kamen von allen Seiten
+nackte Jungfrauen, viel schöner und stattlicher anzuschauen, als sie
+irgendwo in unsern Dörfern aufwachsen. Sie waren alle des Waldelfen und
+der Rasenmutter[13] Töchter und kamen, um zu baden. Der hinter dem
+Gebüsch spähende Jüngling hätte sich diese Nacht hundert Augen
+gewünscht, denn seine zwei konnten all' die Schönheit nicht erschauen.
+Endlich, als es schon gegen Morgen ging, verlor der Schauende
+Badegerüste und badende Jungfrauen aus dem Gesichte, als wären sie in
+Nebel verschwommen. Er blieb noch, bis die Sonne aufging; dann erst
+ging er wieder heim. Wohl dehnte sich seinem Sehnen der Tag länger als
+ein Jahr, bis wieder Abend und Nacht hereinbrachen, wo er hoffte, der im
+Mondschein badenden Jungfrauen abermals ansichtig zu werden; doch
+endlich war auch diese Zeit des Sehnens verstrichen. Aber im Walde fand
+er nichts mehr, weder Badegerüst noch Jungfrauen. Dennoch wurde er nicht
+müde, Nacht für Nacht hinzugehen, aber jeder Gang war vergeblich. Jetzt
+nagte der Kummer an ihm, es gab nichts mehr auf der Welt, was ihm hätte
+Freude machen können; er nahm weder Speise noch Trank zu sich, sondern
+verzehrte sich vor Sehnsucht. Gewiß ist es für den Menschen ein Glück,
+wenn er dergleichen Geheimnisse nimmer schaut.
+
+[Fußnote 10: Mana ist in der finnischen Mythologie gleich Hades-Pluto;
+er wird als ein alter Mann mit drei Fingern und einem auf die Schulter
+herabhängenden Hute geschildert. In einer ehstnischen Gebetsformel aus
+dem Heidenthum ist von »Manas wahrem Bekenntnisse« die Rede. S.
+_Kreutzwald_ u. _Neus_, Myth. u. mag. Lieder der Ehsten. S. 8. Die
+Mana-Zauberer kommen auch im _Kalewipoëg_ vor: =XVI=, 284. Der Kalewsohn
+nimmt sie mit, als er auf seinem Schiffe Lennok das Weltende aufsuchen
+will. -- Der Mana-Zauberer ist der stärkste, und stärker als Spruch- und
+Wind-Zauberer -- nur durch den Manazauber gelingt es dem Entführer der
+Linda, das Schwert von der Seite des Kalewsohnes hinwegzulocken.
+_Kalewipoëg_, =XI=, 334. Mana's Hand hält den nach dem Tode zum
+Höllenwächter bestellten, auf weißem Roß sitzenden Kalewsohn fest, so
+daß dieser seine im Felsen steckende Rechte nicht losreißen und davon
+reiten kann. S. den Schluß des Kalewipoëg. -- Die Mana-Zauberer heißen
+ehstnisch =Mana targad=; das Wort =tark=, pl. =targad=, bedeutet eigentlich
+den Klugen, Weisen und zugleich den Heil-und Zauberkundigen. L.]
+
+[Fußnote 11: Nach dem estnischen Volksglauben findet immer in der Nacht
+des 25. April (des St. Markustages) ein allgemeiner Schlangenconvent
+statt: als die Localität wird der =sirtsosoo= (Heimchenmoor) westlich vom
+Peipussee genannt. S. _Kreutzwald_ u. _Neus_, Mythische u. mag. Lieder der
+Ehsten, S. 77. L.]
+
+[Fußnote 12: Diese Krone ist von den unterirdischen Zwergen
+geschmiedet. S. die Anm. zu Märchen 17. L.]
+
+[Fußnote 13: S. die betreffende Nota zu dem Märchen 8 vom Schlaukopf.
+L.]
+
+
+
+
+3. Schnellfuß, Flinkhand und Scharfauge.
+
+
+Es lebte einmal ein wohlhabender Bauerwirth mit seinem Weibe; es
+mangelte ihnen an Nichts, vielmehr hatte Gott sie mit Allem reichlich
+gesegnet, so daß sie in den Augen der Menschen als glücklich galten.
+Aber eins fehlte ihnen doch, was kein Reichthum geben konnte, sie waren
+kinderlos, wiewohl ihre Ehe schon über zehn Jahre dauerte.
+
+Da geschah es eines Abends, als der Mann von Hause gegangen war und die
+Frau allein im Zimmer saß, daß ihr die Zeit lang wurde und Unmuth sie
+überfiel. »Da sind doch die Nachbarweiber viel glücklicher als ich,«
+dachte die Frau. »Sie haben das Zimmer voll Kinder, um sich die Zeit zu
+vertreiben; ist auch der Mann einmal von Hause, so brauchen sie doch
+nicht allein zu sitzen. Ich aber habe Niemand weiter, den ich mein
+nenne, wie ein verdorrter Baumstamm muß ich allein im leeren Gemache
+hausen.« Während sie so dachte, traten ihr die Thränen in die Augen, und
+ich weiß nicht, wie lange die Frau schon so kummervoll da gesessen
+hatte, ohne zu bemerken, daß ein unerwarteter Gast in's Zimmer getreten
+war. Plötzlich fühlte sie, daß etwas ihre Fußknöchel kitzele und meinte,
+es sei die Katze, als sie aber die Augen an den Boden heftete, sah sie
+einen zierlichen Zwerg zu ihren Füßen. »Ach!« rief sie erschreckt und
+wollte aufspringen und fliehen, aber des Zwergleins Hände hielten sie
+fest wie mit eisernen Zangen, so daß sie nicht von der Stelle konnte.
+»Erschrick nicht, liebes junges Weib!« sagte der Zwerg freundlich --
+»daß ich ungerufen kam deinen Sinn zu erheitern und deinen Gram zu
+stillen; du bist allein, der lange Abend schleicht dem Menschen so träge
+hin, dein Mann ist verreist und kommt erst nach einigen Tagen zurück.
+Liebes junges Weib.« -- Die Frau unterbrach ihn unwillig: »Spotte nur
+nicht, die Haube, welche ich bei der Hochzeit trug, schimmelt schon über
+zehn Jahre in der Truhe und beweint, verwaist, die frühere bessere
+Zeit.«[14] »Was thut's,« erwiederte der Zwerg, »Wenn die Frau noch
+keinen Schweif hinter sich hat, und noch jugendlich und frisch ist wie
+du, dann ist sie immer noch »junges Weib«, und du hast ja bis jetzt
+keine Kinder gehabt, darfst dich also auch so nennen lassen.« »Ja,«
+sagte die Frau, »das ist es eben, was mich oft so bekümmert, daß mein
+Mann mich schon längst gering achtet, da er mich fruchtlos umarmt wie
+einen dürren Stamm, der keine Zweige mehr treibt.« Der Zwerg aber sagte
+tröstend: »Sorge nicht, du stehst noch nicht am Abend deiner Tage, und
+ehe du ein Jahr älter geworden bist, werden deinem Stamm, den du für
+vertrocknet hältst, drei Zweige entsprießen und den Eltern zur Freude
+aufwachsen. Du mußt nun aber Alles so machen, wie ich dir jetzt anzeigen
+werde. Wenn dein Mann wieder nach Hause kommt, so mußt du ihm drei Eier
+von einer schwarzen Henne sieden und Abends zu essen geben. Wenn er dann
+schlafen geht, so mache dir etwas auf dem Hofe zu schaffen und verweile
+dort einige Zeit, bevor du an die Seite deines Mannes ins Bette
+schlüpfst. Wenn die Zeit da ist, daß meine Worte in Erfüllung gehen, so
+komme ich wieder. Bis dahin bleibe mein heutiger Besuch Allen ein
+Geheimniß. Leb' wohl, liebes junges Weib, bis ich wiederkehre und:
+Mutter! sage.« Darauf entschwand der Zwerg den Blicken der Frau, als
+wäre er in die Erde gesunken. Das junge Weib -- ihr war der Name
+kränkend -- rieb sich lange die Augen, als ob sie hinter die Wahrheit
+kommen und sehen wollte, ob es Wirklichkeit oder Traum gewesen sei.
+Wonach der Mensch sich sehnt, das hält er meist für wahr, und so war es
+auch mit der Frau. Der seltsame Vorfall mit dem Zwerge kam ihr nicht
+mehr aus dem Sinn, und als der Mann nach einigen Tagen heimkehrte, sott
+die Frau drei Eier von einer schwarzen Henne gab sie ihm am Abend zu
+essen und that sonst, wie ihr vorgeschrieben war.
+
+Nach einigen Wochen traf ein, was der Zwerg vorausgesagt hatte. Mann und
+Frau waren froh und konnten zuletzt kaum die lange Frist abwarten,
+binnen welcher sich ihr Verlangen erfüllen sollte. Zur rechten Zeit kam
+die Frau in die Wochen und brachte Drillinge zur Welt, lauter Knaben,
+schön und gesund. Als die Wöchnerin schon wieder in der Genesung und der
+Mann eines Tages von Hause gegangen war, um Taufgäste und Gevattern
+zusammen zu bitten, kam der glückbringende Zwerg, die Wöchnerin zu
+besuchen. »Guten Tag, Goldmutter!« rief der Zwerg in's Zimmer tretend.
+»Siehst du jetzt, wie Gott deinen Herzenswunsch mit einem Male erfüllt
+hat? Du bist Mutter dreier Knaben geworden. Da siehst du, daß meine
+Prophezeiung keine leere war, und du kannst jetzt um so leichter
+glauben, was ich dir heute sagen werde. Deine Söhne werden weltberühmte
+Männer werden und werden dir noch viele Freude machen vor deinem Tode.
+Zeige mir doch deine Bübchen!« Mit diesen Worten war er wie eine Katze
+auf den Rand der Wiege geklettert, nahm ein Knäulchen rothen Garns aus
+der Tasche und band dem einen Knaben einen Faden um beide Fußknöchel,
+dem andern wieder um die Handgelenke und dem dritten über die
+Augenlieder um die Schläfen herum. »Diese Fäden,« so lautete des Zwerges
+Vorschrift, mußt du so lange an ihrer Stelle belassen, bis die Kinder
+zur Taufe geführt werden; dann verbrenne die Fäden, sammle die Asche in
+einem kleinen Löffel und netze sie, wenn die Kinder nach Hause gebracht
+werden, mit etwas Milch aus deiner Brust. Von dieser stärkenden
+Aschenmilch mußt du jedem Knaben ein Paar Tropfen auf die Zunge gießen,
+ehe du ihm die Brust reichst. Dadurch wird jeder von ihnen da stark
+werden, wo der Faden haftete, der eine an den Füßen, der andere an den
+Händen und der dritte an den Augen, so daß ihres Gleichen nicht sein
+wird auf der Welt. Jeder wird schon mit seiner eigenen Glücksgabe Ehre
+und Reichthum finden, wenn sie aber selbdritt etwas unternehmen, so
+können sie Dinge ausrichten, die man nicht für möglich halten würde,
+wenn man sie nicht vor Augen sähe. Mich wirst du nicht mehr wiedersehen,
+aber du wirst dich wohl noch manches Mal dankbar meiner erinnern, wenn
+deine Knäblein zu Männern herangewachsen sind und dir Freude machen
+werden. Und jetzt sage ich dir zum letzten Male Lebewohl, liebe junge
+Mutter! -- Mit diesen Worten war der Zwerg wieder, wie das erste Mal,
+plötzlich verschwunden.
+
+Die Wöchnerin that sorgfältig Alles, was ihr in Betreff der Kinder
+vorgeschrieben war. Sie verbrannte am Tauftage die rothen Fäden zu
+Asche, ließ, als die Kinder aus der Kirche nach Hause gebracht wurden,
+Milch aus ihrer Brust auf die Asche fließen und goß von dieser
+Kraftmilch jedem Kinde ein Paar Tropfen auf die Zunge, ehe sie ihm die
+Brust reichte. Doch sagte sie Anfangs weder ihrem Manne noch sonst
+jemanden ein Wort von den wunderbaren Dingen, die ihr mit dem Zwerge
+begegnet waren.
+
+Die Kinder wuchsen alle drei blühend heran und gaben, als sie fest auf
+ihren Füßen standen, Proben großer Klugheit. Doch zeigte sich schon von
+früh auf, daß bei jedem die durch den Wunderfaden gekräftigten Glieder
+am tüchtigsten waren: bei dem einen die Augen, bei dem andern die Hände
+und bei'm dritten die Füße. Deßhalb nannten die Eltern sie später je
+nach ihrer Hauptstärke, den ersten _Scharfauge_, den zweiten _Flinkhand_ und
+den dritten _Schnellfuß_. Als nach einigen Jahren die Brüder in's
+Jünglingsalter getreten waren, beschlossen sie, im Einvernehmen mit
+ihren Eltern, in die Fremde zu ziehen, wo jeder durch seine Stärke und
+Geschicklichkeit Dienste und Lohn zu finden hoffte. Und zwar wollte
+jeder der Brüder für sich allein den Weg zum Glücke antreten, der eine
+gen Morgen, der andere gen Mittag und der dritte gen Abend; nach drei
+Jahren aber wollten sie alle drei wieder zu den Eltern zurückkommen und
+melden, wie es ihnen in fremden Landen ergangen sei.
+
+_Schnellfuß_ nahm den Weg gen Morgen, von ihm müssen wir nun zuerst
+erzählen. Daß er mit seinen mächtigen Schritten viel rascher vorwärts
+kam als seine Brüder, das kann Jeder leicht ermessen, denn wo die Meilen
+einem Manne unter den Füßen schwinden, ohne daß diese ermüden, da wird
+ihm das Wandern nicht beschwerlich. Gleichwohl sollte er die Erfahrung
+machen, daß flinke Beine wohl überall einen Menschen aus einer Gefahr
+befreien können, aber nicht so leicht zu Amt und Brod verhelfen: denn
+Hände sind aller Orten nöthiger als Füße. _Schnellfuß_ fand erst nach
+geraumer Zeit bei einem Könige in Ostland einen festen Dienst. Der König
+besaß große Roßherden, unter denen viele stätische Renner waren, die
+kein Mensch fangen konnte, auch nicht einmal zu Roß. Aber mit _Schnellfuß_
+konnte kein Pferd Schritt halten, der Mann war immer schneller als das
+Roß. Was früher funfzig Pferdehirten zusammen nicht ausrichten konnten,
+das besorgte er ganz allein und ließ nie ein Pferd von der Herde
+wegkommen. Darum zahlte ihm der König unweigerlich den Lohn von funfzig
+Hirten, und machte ihm außerdem noch Geschenke. Die flüchtigen Schritte
+des neuen Roßhirten hatten Windesschnelle, und wenn er vom Abend bis zum
+Morgen die ganze Nacht durch oder vom Morgen bis zum Abend den Tag über
+gelaufen war, ohne auszuruhen, so war er doch nicht müde, sondern konnte
+am andern und am dritten Tage wieder eben so viel laufen. Es geschah
+oft, daß die Rosse, bei heißem Wetter von Bremsen gestochen, nach allen
+Seiten hin auseinander fuhren und viele Meilen weit rannten: aber
+dennoch war am Abend die ganze Herde wieder beisammen. Da gab einst der
+König ein großes Gastmahl, zu welchem viele vornehme Herren und Fürsten
+geladen waren. Während des Festes hatte der König seinen Gästen viel von
+seinem schnellfüßigen Roßhirten erzählt, so daß alle den Wundermann zu
+sehen begehrten. Manche meinten, es dürfe wohl nicht Wunder nehmen, wenn
+die in der Herde aufgezogenen und an den Hirten gewöhnten Rosse sich
+einfangen ließen; das allerstörrigste Pferd höre auf des Herrn Wort und
+komme auf dessen Ruf. Aber gebt ihm einmal ein Pferd aus einem fremden
+Stalle, das ihn nicht kennt, dann werden wir sehen, wie weit die
+Schnelligkeit des Mannes gegen die des Rosses kommt. Da ließen einige
+fremde Herren die bestgefütterten und feurigsten Rosse aus ihren Ställen
+herführen und dann ins Freie treiben, auf daß _Schnellfuß_ sie einfange.
+Das war dem Hirten mit den beflügelten Füßen eine Kleinigkeit, denn auch
+ein gestandennes, wohlgenährtes Pferd kann doch nicht mit Einem um die
+Wette laufen, der wie ein Vogel des Waldes gewohnt ist, Nacht und Tag
+sich zu rühren. Die fremden Herrschaften priesen die Schnellfüßigkeit
+des Mannes und schenkten ihm viel goldene und silberne Münzen,
+versprachen auch daheim von ihm zu reden, damit man erfahre, wo solch'
+ein Mann zu finden sei. Bald darauf war im ganzen Ostlande der Name
+_Schnellfuß_ berühmt geworden, und wenn irgend ein König einmal einen
+schnellen Boten brauchte, so wurde _Schnellfuß_ gemiethet, der dann
+reichen Lohn und außerdem noch Geschenke erhielt, damit er sich ein
+anderes Mal wieder willig finden ließe. Als er nach drei Jahren sich
+aufmachte um in die Heimath zurückzukehren, hatte er soviel Geld und
+Schätze gesammelt, daß er zwanzig Pferde damit beladen konnte, welche
+ihm der König geschenkt hatte.
+
+Der zweite Bruder, _Flinkhand_, der gen Mittag gezogen war, fand aller
+Orten lohnenden Dienst; alle Meister brauchten seine Arbeit, weil kein
+anderer Gesell so geschickt war und so viel fertig machte wie er. Obwohl
+er nicht in einer Zunft ein bestimmtes Handwerk erlernt hatte, so
+gerieth in seiner geschickten Hand doch jegliche Arbeit; er war
+Schneider, Schuster, Tischler, Drechsler, Gold- und Grobschmied, oder
+was sonst dergleichen, und es war auf der Welt kein Meister zu finden,
+dem er nicht zum Gesellen getaugt hätte. Einmal war er bei einem
+Schneidermeister auf Stücklohn in Arbeit und nähte in einem Tage zwanzig
+Paar Hosen, ein anderes Mal machte er für einen Schuster in eben der
+Zeit ebensoviel Paar Stiefel fertig. Dabei war Alles, was er machte, so
+vollkommen, daß, wer einmal seine Arbeit kennen gelernt hatte, von
+derjenigen anderer Meister und Gesellen nichts mehr wissen wollte.
+_Flinkhand_ hätte bei jedem Handwerk ein reicher Mann werden können, wenn
+er irgendwo längere Zeit hätte aushalten können, allein er sehnte sich
+darnach, die weite Welt zu sehen und streifte deßhalb gewöhnlich von
+einem Ort zum andern. So kam er auch einmal in eine Königsstadt, wo er
+Alles in großer Bewegung fand. Es sollten Truppen gegen den Feind
+ausgesandt werden, aber es mangelte an Kleidern, an Fuß- und
+Kopfbedeckung und auch an Waffen. Und obgleich überall Meister und
+Gesellen von früh Morgens bis Mitternacht eifrig arbeiteten und sogar
+Sonntags und Montags nicht feierten, so konnten sie doch in der kurzen
+Zeit nicht soviel anfertigen, wie der König wollte. Zwar wurde nah und
+fern nach Gesellen gesucht, die helfen sollten, aber des Fehlenden war
+so viel, daß all' die Arbeit nicht hinreichend schien, es herzustellen.
+
+Eines Tages nun trat _Flinkhand_ in des Königs Schloß und wünschte den
+König zu sprechen. Dann sagte er: »Geehrter König! ich höre von den
+Leuten, daß ihr sehr eilige Arbeiten braucht. Ich bin ein weitgereister
+Meister und kann vielleicht die Arbeiten übernehmen, wenn wir Handels
+einig werden und ihr mir die Frist nennt, binnen welcher sie fertig sein
+müssen.« Als der König die Frist genannt hatte, sagte _Flinkhand_: »Lasset
+alle Meister der Stadt zusammenrufen und befragt sie, ob sie bis zu dem
+genannten Tage mit den Arbeiten fertig werden können, wenn das nicht der
+Fall ist, so übernehme ich Alles, aber den Arbeitslohn habt ihr dann mir
+allein zu zahlen.« -- »Das wäre schon recht,« erwiederte der König,
+»wenn ihr so viele Gesellen bekommen könntet, aber das ist ja eben, was
+unsern städtischen Meistern fehlt, sie finden nicht genug Arbeiter.« --
+»Das sei meine Sorge,« erwiederte _Flinkhand_. Den andern Tag wurden alle
+Meister der Stadt in das Schloß gerufen und gefragt, wann Jeder mit
+seiner Arbeit fertig zu werden glaube, worauf einige vier und fünf
+Monate, andere noch mehr Zeit verlangten. »Nun,« sagte _Flinkhand_ zum
+Könige, »wenn ihr mir für drei Monate den doppelten Lohn versprecht, so
+will ich allein all' die Arbeit übernehmen, mit der die Andern wohl erst
+in einem halben Jahre zu Stande kämen.« Das schien indeß dem Könige so
+wunderbar und so unglaublich, daß er besorgte, man wolle ihm einen
+Possen spielen und deßhalb fragte: »Was für eine Bürgschaft kannst du
+mir geben, daß du deine Versprechungen erfüllen wirst?« _Flinkhand_
+erwiederte: »Geld und Kostbarkeiten, die ich als Schadenersatz bieten
+könnte, habe ich freilich nicht, aber wenn ihr mein Leben zum Pfande
+wollt, so ist unser Handel bald geschlossen. Damit ihr aber auch nicht
+die Katze im Sack zu kaufen braucht, will ich euch morgen eine
+Probearbeit bringen.« Das war der König zufrieden. Die Gesellen aber
+meinten untereinander, wenn er doppelte Zahlung erhält, so muß er uns
+auch doppelten Arbeitslohn geben, sonst werden wir ihm nicht helfen. Als
+der König am folgenden Tage die Probearbeit gesehen hatte, war er sehr
+zufrieden damit, und obwohl alle übrigen Meister vor Neid bersten
+wollten, konnte doch keiner die Arbeit tadeln. Jetzt machte sich
+_Flinkhand_ wie ein Mann an's Werk. War ihm auch früher schon alle Arbeit
+von der Hand geflogen, so war doch die Hurtigkeit, die er jetzt von früh
+bis spät entfaltete, mehr als wunderbar; kaum nahm er sich soviel Zeit,
+um zu essen und in der Nacht ein wenig, wie ein Vogel auf dem Ast, zu
+ruhen. Zwei Wochen vor der bedungenen Frist war aller Bedarf für die
+Soldaten fertig und dem Könige abgeliefert. Der König zahlte den für
+drei Monate bedungenen Preis doppelt, und fügte fast eben soviel noch
+als Geschenk hinzu. Dann sagte er: »Lieber kluger Meister! ich möchte
+mich von dir nicht so schnell trennen. Hast du nicht Lust mit dem Heere
+gegen die Feinde zu ziehen? Wer so geschickt alle Arbeiten anzufertigen
+weiß, aus dem kann sicher auch der allerbeste Kriegsmann werden.«
+_Flinkhand_ erwiederte: »Vielleicht verhält sich die Sache so, wie ihr,
+geehrter König, meint, aber aufrichtig gesagt: ich habe, so lang ich
+lebe, das Kriegshandwerk noch nicht versucht, sondern bis jetzt nur
+unblutige Arbeit gethan. Ueberdieß rückt auch die Zeit heran, wo die
+Eltern mich zu Hause erwarten; nehmt es darum nicht übel, wenn ich eurem
+Verlangen diesmal nicht entsprechen kann.« So schied er von der
+Königsstadt, wo er in kurzer Zeit zum reichen Manne geworden war. Er
+hatte noch über ein halbes Jahr bis zur Heimreise, darum streifte er von
+einem Orte zum andern und wenn er sich irgendwo länger aufhielt, so
+arbeitete er, um das Reisegeld zusammenzubringen, denn er wollte sein
+angesammeltes Vermögen nicht angreifen.
+
+Der dritte Bruder, _Scharfauge_, der seinen Weg gen Abend genommen hatte,
+schweifte lange von einem Orte zum andern, ohne einen passenden und
+lohnenden Dienst zu finden. Als geschickter Schütze konnte er zwar
+allenthalben soviel erwerben, um seinen täglichen Unterhalt zu
+bestreiten, aber was hatte er dann bei der Heimkehr mit nach Hause zu
+bringen? Mit der Zeit war er auf seiner Wanderung in eine große Stadt
+gerathen, wo man nur von dem Unglück sprach, das den König schon drei
+Mal getroffen hatte, und das Niemand zu begreifen, geschweige zu
+verhüten vermochte. Die Sache verhielt sich so. Der König hatte in
+seinem Garten einen kostbaren Baum, der wie ein Apfelbaum aussah, aber
+goldene Aepfel trug, von denen manche so groß waren wie ein großes
+Knäuel Garn, und viele tausend Rubel werth sein mochten. Es läßt sich
+denken, daß ein solches Obst nicht ungezählt blieb, und daß Nacht und
+Tag Wachen rings umher standen, um jeden Diebstahl zu verhüten. Trotzdem
+war schon drei Nächte hintereinander immer einer der größeren Aepfel
+gestohlen worden; man schätzte den Werth eines solchen auf sechstausend
+Rubel. Die Wachen hatten weder den Dieb gesehen noch seine Spur
+gefunden. _Scharfauge_ dachte sich gleich, daß hier eine ganz besondere
+List obwalte, die er mit seinem durchdringenden Blick wohl herausbringen
+könnte. Er meinte, wenn der Dieb nicht körperlos und unsichtbar zum
+Baume kommt, so wird er meinem scharfen Auge nicht entgehen. Er bat
+deßhalb den König um die Erlaubniß, sich in den Garten begeben zu
+dürfen, um ohne Vorwissen der Wächter seine Beobachtungen anzustellen.
+Als er die Erlaubniß erhalten hatte, machte er sich im Wipfel eines
+hohen Baumes, der nicht weit von dem Goldapfelbaume stand, ein Versteck
+zurecht, wo Niemand ihn gewahr werden konnte, während sein scharfes Auge
+überall hin reichte und Alles, was vorging, sehen konnte. -- Brotsack
+und Milchfäßchen nahm er mit sich, damit er nicht genöthigt wäre seinen
+Schlupfwinkel zu verlassen, falls das Wachen sich in die Länge zöge. Den
+Goldapfelbaum und was rings um denselben vorging, behielt er nun
+unausgesetzt im Auge. Die Wachtsoldaten hatten um den Baum herum drei so
+dichte Kreise geschlossen, daß kein Mäuslein unbemerkt hätte
+durchschlüpfen können. Wenn der Dieb nicht etwa Flügel hatte, auf dem
+Boden konnte er nicht an den Baum gelangen. Den ganzen Tag über bemerkte
+Scharfauge nichts, was einem Diebe ähnlich gesehen hätte. Bei
+Sonnenuntergang flatterte ein kleiner gelber Schmetterling um den
+Apfelbaum herum, bis er sich endlich auf einen seiner Zweige niederließ,
+an welchem gerade ein sehr schöner Apfel hing. Daß ein kleiner
+Schmetterling keinen goldenen Apfel vom Baume fortbringen konnte,
+begreift Jeder so gut wie _Scharfauge_, allein da dieser nichts Größeres
+gewahr wurde, so verwandte er kein Auge von dem gelben Schmetterling.
+Die Sonne war längst untergegangen und auch die Abendröthe verschwand
+allmählich vom Horizont, aber die um den Baum herum aufgestellten
+Laternen gaben so viel Licht, daß man Alles sehen konnte. Der gelbe
+Schmetterling saß immer noch unbeweglich auf seinem Zweige. Es mochte um
+Mitternacht sein, als dem Wächter auf dem Baume die Augen ein wenig
+zufielen. Wie lange er geschlummert hatte, wußte er nicht, als aber
+seine Augen wieder auf den Apfelbaum fielen, sah er, daß der gelbe
+Schmetterling nicht mehr auf dem Zweige saß, -- noch mehr erschrak er,
+als er entdeckte, daß auch der herrliche Goldapfel von diesem Zweige
+verschwunden war. Ein Diebstahl war geschehen, daran war nicht zu
+zweifeln, allein wenn der geheime Wächter die Sache erzählt hätte, so
+würden die Leute ihn für verrückt gehalten haben, denn soviel konnte ein
+Kind einsehen, daß ein Schmetterling nicht im Stande war, den Goldapfel
+weg zu tragen. Am Morgen gab es wieder großen Lärm, als man fand, daß
+ein Apfel fehle, ohne daß einer der Wächter eine Spur vom Diebe gesehen
+hätte. Da trat _Scharfauge_ abermals vor den König und sagte: »Ich habe
+zwar den Apfeldieb ebensowenig gesehen wie eure Wachen, aber wenn ihr in
+der Stadt oder in der Nähe derselben einen zauberkundigen Mann habt, so
+weiset mich zu ihm, mit seiner Hülfe hoffe ich künftige Nacht des Diebes
+habhaft zu werden.« Als er erfahren hatte, wo der Zauberer zu finden
+sei, ging er unverzüglich zu ihm. Die Männer rathschlagten dann, wie sie
+die Sache wohl am besten anfangen könnten. Nach einiger Zeit rief
+_Scharfauge_ »Ich habe einen Plan! kannst du durch Zauber einem
+Spinngewebe solche Festigkeit geben, daß die Fäden auch das stärkste
+Geschöpf festhalten, dann legen wir den Dieb in Fesseln, so daß er uns
+nicht wieder entrinnt.« Der Zauberer sagte, das sei möglich; nahm drei
+große Kreuzspinnen, machte sie durch Hexenkraft so stark, daß kein
+Geschöpf sich aus ihrem Gewebe losmachen konnte, that sie in ein
+Schächtelchen und gab sie dem _Scharfauge_. »Setze diese Spinnen, wohin du
+willst, und zeige ihnen mit dem Finger an, wie sie ihr Netz ziehen
+sollen, so spinnen sie alsbald einen Käfig um den Gefangenen, aus
+welchem nur Mana's[15] Weisheit erlösen kann; übrigens eile ich dir zu
+Hülfe, wenn es dessen bedarf.«
+
+_Scharfauge_ schlüpfte mit dem Schächtelchen im Busen wieder auf seinen
+Baum, um den Verlauf der Sache zu überwachen. Zu derselben Zeit wie
+gestern sah er den gelben Falter wieder um den Apfelbaum her schweben,
+aber es dauerte heute viel länger als gestern, ehe sich der
+Schmetterling auf einen Zweig setzte, an welchem ein großer Goldapfel
+hing. Sofort ließ sich Scharfauge von seinem Baume herunter, näherte
+sich dem Goldapfelbaum, ließ eine Leiter anlegen, kletterte sachte
+hinauf, um den Schmetterling nicht zu scheuchen, und setzte seine
+kleinen Weber je auf drei Zweige. Eine Spinne kam so einige Spannen über
+dem Schmetterling, die andere zu seiner Rechten, die dritte zu seiner
+Linken zu sitzen; dann beschrieb Scharfauge mit dem Finger eine Linie in
+die Kreuz und die Quer um den Schmetterling herum. Dieser saß mit
+aufgerichteten Flügeln unbeweglich da. Mit Sonnenuntergang war der
+Wächter wieder in seinem Baumversteck. Von da aus sah er zu seiner
+Freude, wie die drei Gesellen um den Schmetterling her von allen Seiten
+ein Gehege machten, aus welchem das Männlein nicht hoffen durfte zu
+entkommen, wenn anders die Kraft, deren der Zauberer sich gerühmt hatte,
+sich bewähren würde. Wohl suchte unser Mann auf seinem Baume sich vor
+dem Einschlummern zu hüten, aber dennoch waren ihm mit einem Male die
+Augen zugefallen. Wie lange er geschlummert hatte, wußte er nicht, aber
+ein großer Lärm hatte ihn plötzlich aufgeweckt. Als er hinsah, nahm er
+wahr, daß die Wachtsoldaten wie die Ameisen um den Goldapfelbaum herum
+liefen und tobten; auf dem Baume aber saß ein alter graubärtiger Mann,
+einen Goldapfel in der Faust, in einem eisernen Netze. Hurtig stieg
+_Scharfauge_ von seinem Wipfel herunter, aber ehe er den Goldapfelbaum
+erreicht hatte, war auch schon der König da, der bei dem Lärm der Wachen
+aus dem Bette gesprungen und herbeigeeilt war, um zu sehen, was sich
+Unerwartetes in seinem Garten zutrug. Da saß nun der Dieb im Eisenkäfig
+und konnte nirgends hin »Geehrter König,« sagte dann _Scharfauge_: »jetzt
+könnt ihr euch ruhig niederlegen und bis zum hellen Morgen schlafen,
+der Dieb entkommt uns nicht mehr. Wäre er auch noch so stark, so kann er
+doch die durch Hexenkraft entstandenen Maschen seines Käfigs nicht
+zerreißen.« Der König dankte und befahl dem Haupthaufen der
+Wachtsoldaten ebenfalls schlafen zu gehen, so daß nur noch einige unter
+dem Baume auf Wache blieben; _Scharfauge_, der zwei Nächte und zwei Tage
+gewacht hatte, ging ebenfalls um auszuschlafen.
+
+Am andern Morgen ging er mit dem Zauberer in des Königs Schloß. Der
+Zauberer war froh, als er den Dieb im Käfig fand und wollte ihn auch
+nicht eher herauslassen, als bis das Männlein seine wahre Gestalt
+gezeigt haben würde. Zu dem Ende schnitt er ihm den halben Bart unter
+dem Kinne ab, ließ Feuer bringen und fing an die Barthaare zu sengen. O
+der Pein und Qual, welche der Vogel im Eisenkäfig jetzt auszustehen
+hatte![16] Er schrie jämmerlich und überschlug sich vor Schmerz, aber
+der Zauberer ließ nicht ab, sondern sengte immer mehr Haare, um den Dieb
+mürber zu machen. Dann rief er: »Bekenne, wer du bist?« Das Männlein
+antwortete: »Ich bin des Hexenmeisters _Piirisilla_ Knecht, den sein Herr
+ausgeschickt hat zu stehlen.« Der Zauberer begann wieder die Barthaare
+zu sengen. »Au, au!« schrie der Hexenmeister, »laßt mir Zeit, ich will
+bekennen! Ich bin nicht der Knecht, ich bin des Hexenmeisters Sohn.«
+Abermals wurden Haare gesengt, da rief der Gefangene heulend: »Ich bin
+der Hexenmeister Piirisilla selbst.« »Zeige uns deine natürliche
+Gestalt -- oder ich senge wiederum,« befahl der mächtige Zauberer. Da
+begann das Männlein im Käfig sich zu strecken und auszudehnen, und war
+in wenig Augenblicken zu einem gewöhnlichen Manne angewachsen, der die
+Entwendung der Goldäpfel ohne Umschweife eingestand. Jetzt wurde er
+sammt dem Käfige vom Baume heruntergenommen und gefragt, wo das
+Gestohlene versteckt sei? Er versprach die Stelle selbst zu zeigen, aber
+_Scharfauge_ bat den König, den Dieb ja nicht aus dem Käfig zu lassen,
+denn sonst könnte er sich wieder in einen Schmetterling verwandeln und
+ihnen entkommen. Ehe er aber alle Diebslöcher angab, mußte er noch
+manches Mal gesengt werden, und als endlich alle Goldäpfel
+herbeigeschafft waren, wurde der böse Dieb im Käfig verbrannt und seine
+Asche in die Luft gestreut.
+
+Als der König seinen Schatz wieder hatte, zahlte er dem _Scharfauge_ einen
+sehr großen Lohn, so daß er auf ein Mal wohl noch reicher ward als seine
+beiden Brüder. Der König hätte ihn gern in seine Dienste genommen, aber
+_Scharfauge_ sagte: »Ich kann jetzt keinen Dienst mehr annehmen, sondern
+muß nach Hause, um meine Eltern zu sehen.« Darauf schenkte ihm der König
+Pferde, Wagen und Diener, welche ihm seine Reichthümer nach Hause
+brachten.
+
+Als nun die Brüder im elterlichen Hause wieder beisammen waren, fanden
+sie sich so reich, daß sie mehr als ein halbes Königreich hätten kaufen
+können. Die Mutter erinnerte sich jetzt, wie der glückbringende Zwerg
+das Alles zu Wege gebracht hatte, aber sie verschwieg den wunderbaren
+Vorfall. Reichthum war jetzt in solchem Maße vorhanden, daß die Söhne
+gewiß nicht nöthig gehabt hätten sich einen neuen Dienst zu suchen; aber
+wo fände man wohl auf der Welt den Reichen, der mit seiner Habe
+zufrieden wäre und dieselbe nicht immer noch zu mehren suchte? Als die
+Brüder später erfuhren, daß eines überaus reichen Königs Tochter im
+Nordlande demjenigen zu Theil werden sollte, der drei besonders
+schwierige Dinge ausführen könnte, die bis dahin noch keinem möglich
+gewesen waren -- beschlossen sie einmüthig, die Sache zu versuchen. Es
+waren schon Leute genug von weit und breit erschienen, um sich daran zu
+versuchen, aber Keiner war im Stande gewesen die Aufgaben zu lösen,
+denen ihre Kräfte nicht gewachsen waren. Einem Einzelnen zumal war es
+ganz unmöglich das Verlangte zu vollbringen. Als die Brüder den
+Entschluß gefaßt hatten, machten sie sich selbdritt auf den Weg, und
+damit sie rascher vorwärts kämen, trug _Schnellfuß_ die beiden Andern von
+Zeit zu Zeit auf seinem Rücken weiter. Weil nun aber die Arbeit von
+_einem_ Manne gethan werden sollte, so konnten sie nicht alle drei
+zugleich vor den König treten. _Schnellfuß_ wurde ausgesandt,
+Erkundigungen einzuziehen. Die drei Probestücke, welche der künftige
+Schwiegersohn des Königs ausführen sollte, waren folgende: Erstens
+sollte er einen Tag mit einer großen Rennthierkuh auf die Weide gehen
+und Sorge tragen, daß ihm das windschnelle Thier nicht davon laufe;
+Abends mit Sonnenuntergang sollte er es wieder in den Stall bringen.
+Zweitens sollte er Abends das Schloßthor verschließen. Das dritte
+Probestück erschien als das schwerste. Er sollte nämlich mit seinem
+Bogen einen Apfel wegschießen, dessen Stiel ein Mann auf einem hohen
+Berge im Munde hielt, ohne daß der Mann Schaden nähme, und so, daß der
+Pfeil mitten durch den Apfel ginge. Die beiden ersten Arbeiten schienen
+wohl nicht so schwer, doch hatte Niemand sie bisher ausführen können,
+und zwar deßhalb, weil es nicht mit rechten Dingen zuging. Die
+Rennthierkuh besaß nämlich eine so wunderbare Schnelligkeit, daß sie in
+einem Tage von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang durch die ganze Welt
+hätte laufen können. Wie konnte ein Mensch mit ihr aushalten? Bei dem
+zweiten Probestück war Hexerei im Spiel. Eine Hexe hatte sich in den
+eisernen Pfortenriegel verwandelt, und wenn der Mann die Leiter
+hinanstieg, um den Riegel anzufassen, so packte sie mit höllischer Kraft
+die Hand des Unglücklichen, und keine Gewalt konnte sie befreien, bis
+die Hexe selber los ließ. Das war aber noch nicht Alles -- in demselben
+Augenblicke, wo die Hand festgeklemmt war, fing der Pfortenflügel an,
+wie vom Winde geschüttelt hin und her zu tanzen. So mußte der an der
+Hand festgehaltene Mann bis zum Morgen wie ein Glockenschwengel hin und
+her baumeln, und wenn er endlich losgelassen wurde, war er mehr todt als
+lebendig. Obendrein lachten der König und die Leute über sein Unglück
+und er mußte mit Schande abziehen; auch hatten sich Viele die Schultern
+so verrenkt, daß sie zeitlebens nicht mehr arbeiten konnten. Die dritte
+Aufgabe konnte nur einem geschickten Schützen gelingen, dessen Hand und
+Auge gleich fest und sicher waren. Als Schnellfuß dies Alles erfahren
+hatte, ging er nicht gleich zum Könige, sondern suchte erst seine Brüder
+wieder auf, die ihn vor der Stadt erwarteten. Nachdem sich die Männer
+berathen hatten, fanden sie, daß sie zu Dreien diese Dinge wohl zu
+Stande bringen könnten, das Verdrießliche war nur, daß sie in den Augen
+des Königs als Einer erscheinen mußten, wenn sie den versprochenen
+Kampflohn erringen wollten. Die schlauen[17] Brüder beschnitten also
+ihre Bärte auf gleiche Weise, so daß keinem weder auf der Oberlippe noch
+unter dem Kinn die Haare dichter standen als dem andern; und da sie als
+Söhne einer Mutter und als Drillinge an Körperbildnug und Geberde wenig
+verschieden waren, so konnte ein fremdes Auge den Betrug nicht
+herausfinden. Sie ließen sich dann einen gar prächtigen fürstlichen
+Anzug machen, der aus Seide und dem kostbarsten Sammet bestand und mit
+Gold und blitzenden Edelsteinen verziert war, so daß Alles glänzte und
+schimmerte, wie der Sternenhimmel in einer klaren Winternacht. Ehe sie
+sich anschickten, die Probearbeiten zu unternehmen, gelobten sich die
+Brüder mit einem Eide, daß nur das Loos entscheiden solle, wer von ihnen
+des Königs Schwiegersohn werden sollte. Da nun die starken Brüder auf
+diese Weise allen künftigen Mißhelligkeiten vorgebeugt hatten,
+schmückten sie eines Tages _Schnellfuß_ mit den prächtigen Kleidern und
+schickten ihn zum Könige, damit er die Rennthierkuh auf die Weide führe.
+Ging die Sache nach Wunsch, so war der erste große Stein hinweggewälzt,
+der bis jetzt alle dreier verhindert hatte, die Brautkammer zu betreten.
+
+_Schnellfuß_ trat so stolz vor den König hin, als wäre er ein geborener
+Königssohn, grüßte mit Anstand und bat um Erlaubniß, das Probestück am
+andern Morgen zu versuchen. Der König gab sie, fügte aber hinzu: »Gut
+wäre es, wenn ihr schlechtere Kleider anzöget, denn unsere Rennthierkuh
+läuft unbekümmert durch Sumpf und Moor, immer gerade aus, da könntet ihr
+die theuren Kleider verderben.« _Schnellfuß_ erwiederte: »Wer eure Tochter
+freien will, was macht sich der aus Kleidern?« und ging dann zur Ruhe,
+um den andern Tag desto munterer zu sein. Des Königs Tochter, die
+heimlich durch eine Thürspalte nach dem stattlichen Manne gespäht hatte,
+sagte seufzend: »Wenn ich doch dem Rennthier Fußfesseln anlegen könnte,
+ich thäte es, um diesen Mann zum Gemahle zu erhalten.«
+
+Als den andern Morgen die Sonne aufgegangen war, band _Schnellfuß_ der
+Rennthierkuh einen Halfterstrang[18] um den Hals und nahm das andere
+Ende in die Faust, damit die Kuh sich nicht zu weit entfernen könnte.
+Als die Stallthür geöffnet wurde, schoß die Kuh wie der Wind davon, der
+Hirte aber lief den Halfter festhaltend neben ihr her, und blieb keinen
+Schritt zurück. Der König und die Zuschauer aus der Stadt erstaunten
+über die wunderbare Schnelligkeit des Mannes, denn bis hierzu hatte noch
+Keiner auch nur ein paar hundert Schritt weit neben der Kuh herlaufen
+können. Wiewohl _Schnellfuß_ sobald keine Ermüdung zu fürchten hatte, so
+hielt er es doch für gerathen, die Kuh zu besteigen, sobald er den
+Leuten aus den Augen war. Er sprang auf den Rücken des Thieres, hielt
+sich am Halfter fest und ließ sich weiter tragen. Es war noch früh am
+Morgen, als die Rennthierkuh schon merkte, daß von diesem Hirten nicht
+loszukommen sei; sie hielt den Schritt an und rupfte das Gras vom Boden.
+_Schnellfuß_ sprang ab und warf sich unter einen Busch, um auszuruhen,
+hielt aber den Halfter fest, damit die Kuh nicht davon liefe. Als die
+Sonne um Mittag brannte, legte sich auch die Kuh neben ihn in den
+Schatten und fing an wiederzukäuen. Nach Mittag versuchte das Thier noch
+einige Mal die Schnelligkeit seiner Beine, um dem Hirten zu entkommen,
+aber dieser war wie der Wind wieder auf dem Rücken der Kuh, so daß er
+seine Beine nicht anzustrengen brauchte. Sehr groß war das Erstaunen des
+Königs und der Leute, als sie bei Sonnenuntergang sahen, wie die
+störrige Rennthierkuh gleich dem frömmsten Lamme mit ihrem Hirten heim
+kehrte. _Schnellfuß_ führte sie in den Stall, verschloß die Thür und
+speiste dann auf Einladung des Königs an dessen Tafel. Nach dem
+Abendessen verabschiedete er sich, indem er sagte, er wollte zeitig zur
+Ruhe gehen, um die Ermüdung des Tages los zu werden.
+
+Allein er ging nicht zur Ruhe, sondern begab sich zu seinen Brüdern, die
+seiner im Walde harrten. Den anderen Tag sollte _Flinkhand_ die prächtigen
+Kleider anziehen und zum Könige gehen, um das zweite Probestück
+auszuführen. Der König, welcher ihn für den Mann von gestern hielt,
+lobte seine Hirtenarbeit und wünschte ihm Glück zu seiner heutigen
+Aufgabe, nämlich am Abend die Pforte zu verschließen. Des Königs Tochter
+hatte wieder durch die Thürspalte nach dem stattlichen Manne gespäht
+und sagte seufzend: »Wenn ich könnte, ich schaffte die böse Hexe von der
+Pforte fort, damit diesem theuren Jünglinge kein Leid geschähe, den ich
+mir zum Gemahl wünsche.«
+
+_Flinkhand_, der genau wußte, wie es sich mit dem Pfortenriegel verhielt,
+ging vom Könige gerades Wegs zum Schmied und ließ sich eine starke
+eiserne Hand machen. Als am Abend alle Welt im Schlosse zur Ruhe
+gegangen war, machte er Feuer an und ließ darin die Eisenhand
+rothglühend werden. Darauf stellte er eine Leiter gegen die Pforte, denn
+seine Körperlänge reichte nicht hinan. Von der Leiter aus legte er die
+glühende Eisenhand an den Riegel, und in demselben Augenblick hatte die
+Hexe, die darin steckte, zugepackt und die Hand ergriffen, welche sie
+für eine natürliche hielt. Als sie aber den brennenden Schmerz fühlte,
+fing sie so an zu brüllen, daß alle Wände bebten und viele Schläfer im
+Schloß durch den Lärm aufgeweckt wurden. Aber _Flinkhand_ hatte in
+demselben Augenblick, wo die Eisenhand ihn selbst vor dem Griffe der
+Hexe geschützt hatte, den Riegel vorgeschoben, so daß die Pforte
+verschlossen war. Gleichwohl blieb er wach, bis der König am Morgen
+aufstand und die Sache selbst in Augenschein nahm. Die Pforte war noch
+verriegelt. Der König lobte die Geschicklichkeit des Jünglings, der
+schon zwei schwierige Arbeiten ausgeführt hatte und lud ihn zu Mittag zu
+Gaste. _Flinkhand_ aß sich an des Königs Tafel satt und wußte sich auch
+angenehm zu unterhalten, bis er endlich um Erlaubniß bat, nach Hause zu
+gehen, und auszuruhen, da er die ganze vorige Nacht kein Auge zugethan,
+auch noch mancherlei Vorbereitungen für den kommenden Tag zu treffen
+habe. Er ging dann in den Wald, wo die Brüder ihn längst erwarteten und
+wissen wollten, wie das Probestück abgelaufen wäre. Da nun die starken
+Brüder sich einander nicht beneideten und keiner voraus wissen konnte,
+wen endlich das Glück treffen würde, Schwiegersohn des Königs zu werden,
+so freuten sie sich gemeinschaftlich des gelungenen Werkes.
+
+Am folgenden Morgen wurde _Scharfauge_ mit dem prächtigen königlichen
+Anzuge bekleidet und ausgeschickt, um das dritte Probestück auszuführen.
+Nicht minder stolz und anmuthig wie die beiden andern Brüder trat er vor
+den König, und bat um die Erlaubniß, das letzte Probestück zu
+unternehmen. Der König sagte: »Ich freue mich sehr, daß es euch möglich
+gewesen ist zwei Arbeiten zu vollbringen, welche bis auf den heutigen
+Tag noch Keiner ausführen konnte, so viel ihrer auch von allen Seiten
+zusammenströmten, um den Versuch zu machen. Dennoch fürchte ich, daß ihr
+die dritte Arbeit nicht zu Stande bringen werdet, denn das Ziel, welches
+ihr treffen müßt, steht sehr hoch und ist ein kleiner Körper.«
+_Scharfauge_ erwiederte: »Wer euer Schwiegersohn werden will, der darf
+nichts für schwer achten, denn so großes Glück fällt Niemanden im
+Schlafe zu.« Darauf gab der König die Erlaubniß, am folgenden Morgen das
+Probestück zu unternehmen. Aber des Königs Tochter, welche wiederum
+durch die Thürspalte nach dem Jüngling gespäht hatte, seufzte mit
+Thränen in den Augen: »Könnte ich etwas für diesen Jüngling thun, daß er
+morgen zum dritten Male Sieger bliebe, ich gäbe Hab' und Gut dafür --um
+ihn zum Gemahl zu erhalten.«
+
+War schon das erste und zweite Mal eine große Menge Volks von allen
+Seiten herbei gekommen, um die Wunderwerke zu sehen, so waren heute die
+Tausende gar nicht mehr zu zählen. Auf dem Gipfel eines Berges stand der
+Apfelträger, der in solcher Höhe nicht viel größer aussah als eine
+Krähe, und ihm sollte _Scharfauge_ den Apfel vom Munde weg schießen, so
+daß der Pfeil ihn in der Mitte spaltete. Niemand hielt die Sache für
+möglich. Gleichwohl fürchtete der Mann oben, der den Apfel am Stiele im
+Munde zu halten hatte, der Schütze könnte doch vielleicht in's Ziel
+treffen, darum beschloß er in seinem mißgünstigen Sinne, dem Schützen
+die an sich schwere Aufgabe noch schwerer zu machen. Er faßte nicht, wie
+vorgeschrieben war, den Apfel mit den Zähnen am Stiele, sondern steckte
+den halben Apfel in den Mund und dachte: je kleiner ich den Gegenstand
+mache, auf den er zielen muß, desto weniger kann er sehen und treffen.
+Aber für _Scharfauge_ war der halbe Apfel nicht minder deutlich als der
+ganze. Er zielte einige Augenblicke mit seinem durchdringenden Blicke,
+schnellte den Pfeil vom Bogen und o Wunder! der Apfel war mitten
+durchgespalten, so daß beide Hälften genau gleiche Größe hatten. Der
+neidische Apfelhüter hatte zugleich den verdienten Lohn für seine
+Bosheit erhalten, denn da _Scharfauge_ gerade auf die Mitte des Apfels
+gezielt hatte, der Mann aber dessen größere Hälfte im Munde hielt, so
+hatte der Pfeil von beiden Seiten des Mundes ein Stück Fleisch mit
+weggerissen. Als der entzwei geschossene Apfel dem Könige zum Beweise
+überreicht wurde, brach die Menge in ein Freudengeschrei aus. Ein
+solches Wunder hatte sich noch nicht begeben. Des Königs Tochter vergoß
+Freudenthränen, da ihres Herzens Wunsch in Erfüllung gegangen war; der
+König aber lud _Scharfauge_ ein, zu ihm zu kommen, damit er ihn sofort
+seiner Tochter verloben könne. Scharfauge lehnte es ehrfurchtsvoll ab
+mit den Worten: »Vergönnt mir, den heutigen Tag mich nach der Arbeit zu
+erholen! morgen wollen wir uns der Freude ergeben!« Er wollte sich
+nämlich keines Fehls gegen seine Brüder schuldig machen, welche gleich
+ihm ihren Theil der Arbeit gethan hätten: das Loos mußte entscheiden,
+welchem von ihnen der Lohn zufallen sollte.
+
+Als Scharfauge zu seinen Brüdern kam, erzählte er ihnen den Hergang, und
+sie freuten sich erst noch mit einander wie die Kinder, ehe sie das Loos
+warfen. Nach Gottes Fügung brachte das Loos dem _Scharfauge_ Glück; er
+sollte nun des Königs Schwiegersohn werden. Noch einmal schliefen die
+Brüder beisammen, dann schlug die bittere Trennungsstuude, _Scharfauge_
+begab sich in die Königsstadt, _Schnellfuß_ und _Flinkhand_ machten sich in
+die Heimath zu ihren Eltern auf.
+
+Nach ihrer Rückkehr kauften die beiden reichen Brüder sich viele Güter
+und Ländereien, so daß ihr Gebiet bald einem kleinen Königreiche glich.
+_Scharfauge_ hatte Alles seinen Eltern und Brüdern geschenkt, da er, als
+Schwiegersohn des Königs, seines eigenen Vermögens nicht mehr bedurfte.
+Die Eltern freuten sich über das Glück ihrer Kinder, nur war der Mutter
+das Herz oft schwer, weil ihr dritter Sohn so weit von ihnen in der
+Fremde lebte, daß sie nicht hoffen durfte ihn wieder zu sehen. Als aber
+die Eltern später gestorben waren, da hatten _Schnellfuß_ und _Flinkhand_
+keine Ruhe mehr in der Heimath, sie verpachteten ihre Besitzungen und
+streiften wieder in fremden Landen umher, um neue Reichthümer und
+Schätze durch ihre Gaben zu erwerben. Wie weit ihre Wanderung reichte,
+was für Thaten sie auf derselben verrichteten und ob sie später wieder
+in die Heimath zurückkehrten, darüber kann ich euch nichts weiter
+melden. Aber _Scharfauge's_ Geschlecht muß noch heutiges Tages in dem
+Lande wohnen, wo der Stammvater einst das Glück hatte, Schwiegersohn des
+Königs zu werden.
+
+[Fußnote 14: Die »Haube« steht für die Trägerin derselben verwaist, wie
+das lat. =orba=, ohne Kinder gehabt zu haben. Vgl. auch _Neus_, ehstn.
+Volkslieder, S. 276. F. Z. 4. L.]
+
+[Fußnote 15: Ueber Mana s. d. Anm. zu S. 25 in dem Märchen von den im
+Mondschein badenden Jungfrauen. L.]
+
+[Fußnote 16: Vgl. _Boecler_, der Ehsten Gebräuche ed. Kreutzwald, S. 139.
+L.]
+
+[Fußnote 17: Der Text sagt =Rootsi wennaksed= d. h. schwedische Brüder.
+Das Colorit des Märchens ist aber ganz ehstnisch; Belege für meine
+Uebersetzung finde ich nicht. L.]
+
+[Fußnote 18: Dieser wird gebildet durch Klötzchen, die an einer Schnur
+hängen und mit Ringen wechseln. L.]
+
+
+
+
+4. Der Tontlawald.
+
+
+Zu alten Zeiten stand in Allentacken[19] ein schöner Hain, der
+Tontlawald hieß, den aber kein Mensch zu betreten wagte. Dreistere, die
+zufällig einmal näher gekommen waren und gespäht hatten, erzählten, sie
+hätten unter dichten Bäumen ein verfallenes Haus gesehen und um dasselbe
+herum menschenähnliche Wesen, von denen der Rasen wie von einem
+Ameisenhaufen wimmelte. Die Geschöpfe hätten rußig und zerlumpt
+ausgesehen wie die Zigeuner, und es wären namentlich viel alte Weiber
+und halbnackte Kinder darunter gewesen. Als einst ein Bauer, der in
+finsterer Nacht von einem Schmause nach Hause ging, etwas tiefer in den
+Tontlawald hineingerathen war, hatte er seltsame Dinge gesehen. Um ein
+helles Feuer war eine Unzahl Weiber und Kinder versammelt, einige saßen
+am Boden, die andern tanzten auf dem Plan. Ein altes Weib hatte einen
+breiten eisernen Schöpflöffel in der Hand, mit welchem sie von Zeit zu
+Zeit die glühende Asche über den Rasen hinstreute, worauf die Kinder mit
+Geschrei in die Luft hinauf fuhren und wie Nachteulen um den
+aufsteigenden Rauch flatterten, bis sie zuletzt wieder herabkamen. Dann
+trat aus dem Walde ein kleiner alter langbärtiger Mann, der auf dem
+Rücken einen Sack trug, der länger war als er selbst. Weiber und Kinder
+liefen dem Männlein lärmend entgegen, tanzten um ihn herum und suchten
+ihm den Sack vom Rücken zu reißen, aber der Alte machte sich von ihnen
+los. Jetzt sprang eine schwarze Katze, so groß wie ein Fohlen, die mit
+glühenden Augen auf der Thürschwelle gesessen, auf des Alten Sack und
+verschwand dann in der Hütte. Weil aber dem Zuschauer schon der Kopf
+brannte und es ihm vor den Augen flimmerte, so blieb auch seine
+Erzählung unsicher, und man konnte nicht recht dahinter kommen, was
+daran wahr und was falsch sei. Auffallend war es, daß von Geschlecht zu
+Geschlecht solche Dinge vom Tontlawalde erzählt wurden; aber Niemand
+wußte genauere Auskunft zu geben. Der Schwedenkönig hatte mehr als
+einmal befohlen, den gefürchteten Wald zu fällen, aber die Leute wagten
+es nicht den Befehl zu vollziehen. Einmal hieb ein dreister Mann mit
+einer Axt in einige Bäume, da floß sogleich Blut und man hörte
+Jammergeschrei wie von gequälten Menschen.[20] Der erschreckte
+Holzfäller nahm zitternd und bebend die Flucht; seitdem war kein noch so
+strenger Befehl, kein noch so reichlicher Lohn im Stande, wieder einen
+Holzfäller in den Tontlawald zu locken. --Sehr wunderbar erschien es
+auch, daß weder ein Weg aus dem Walde heraus noch einer hinein führte;
+auch sah man das ganze Jahr durch keinen Rauch aufsteigen, der das
+Dasein menschlicher Wohnstätten verrathen hätte. Groß war der Wald
+nicht, und rings um ihn her war flaches Feld, so daß man freien Ausblick
+auf den Wald hatte. Hausten wirklich hier von Alters her lebende Wesen,
+so konnten sie doch nicht anders in dem Walde ein- und ausgehen als auf
+unterirdischen Schlupfwegen, oder sie mußten auch wie die Hexen bei
+nächtlicher Weile, wo Alles ringsum schlief, durch die Luft fahren. Das
+Letztere ist, dem Erzählten zufolge, das Wahrscheinlichere. Vielleicht
+erhalten wir über diese Wundervögel mehr Auskunft, wenn wir den Wagen
+der Erzählung etwas weiterlenken und im nächsten Dorfe ausruhen.
+
+Einige Werst vom Tontlawalde lag ein großes Dorf. Ein verwittweter Bauer
+hatte unlängst wieder ein junges Weib genommen und, wie das wohl oft
+vorkommt, ein rechtes Schüreisen in's Haus gebracht, so daß Verdruß und
+Zank kein Ende nahmen. Das von der ersten Frau nachgebliebene
+siebenjährige Mädchen, mit Namen Else, war ein kluges sinniges Geschöpf.
+Dieser Armen machte aber die böse Stiefmutter das Leben ärger als die
+Hölle, sie puffte und knuffte das Kind vom Morgen bis zum Abend und gab
+ihm schlechteres Essen als den Hunden. Da die Frau die Hosen anhatte, so
+konnte die Tochter sich auf ihren Vater nicht stützen: der Hansdampf
+mußte ja selbst nach des Weibes Pfeife tanzen. Länger als zwei Jahre
+hatte Else dieses schwere Leben ertragen und hatte viele Thränen
+vergossen. Da ging sie eines Sonntags mit andern Dorfkindern aus, um
+Beeren zu pflücken. Schlendernd, nach Kinderart, waren sie unvermerkt an
+den Rand des Tontlawaldes gekommen, wo sehr schöne Erdbeeren wuchsen, so
+daß der Rasen ganz roth davon war. Die Kinder aßen von den süßen Beeren
+und pflückten noch soviel in ihre Körbchen, als jedes konnte. Plötzlich
+rief ein älterer Knabe, der die gefürchtete Stelle erkannt hatte:
+»Fliehet, fliehet! wir sind im Tontlawalde!« Dies Wort war schlimmer als
+Donner und Blitz, alle Kinder nahmen Reißaus, als wären ihnen die
+Tontla-Unholde schon auf den Fersen. Else, welche etwas weiter gegangen
+war als die Andern, und unter den Bäumen sehr schöne Beeren gefunden
+hatte, hörte wohl das Rufen des Knaben, mochte sich aber nicht von dem
+Beerenfleck trennen. Sie dachte wohl: Die Tontla-Bewohner können doch
+nicht schlimmer sein als meine Stiefmutter daheim. Da kam ein kleiner
+schwarzer Hund mit einem silbernen Glöcklein um den Hals bellend auf sie
+zu. Auf dies Gebell eilte ein kleines Mädchen in prächtigen seidenen
+Kleidern herbei, verwies den Hund zur Ruhe und sagte dann zur Else:
+»Sehr gut, daß du nicht mit den andern Kindern davongelaufen bist.
+Bleibe mir zur Gesellschaft hier, dann wollen wir gar schöne Spiele
+spielen und alle Tage miteinander gehen Beeren zu pflücken; die Mutter
+wird es mir gewiß nicht abschlagen, wenn ich sie darum bitte. Komm, laß
+uns sogleich zu ihr gehen!« Damit faßte das prächtige fremde Kind Else
+bei der Hand und führte sie tiefer in den Wald hinein. Der kleine
+schwarze Hund bellte jetzt vor Vergnügen, sprang an Elsen herauf und
+leckte ihr die Hand, als wären sie alte Bekannte.
+
+Ach du liebe Zeit, was für Wunder und Herrlichkeit tauchten jetzt vor
+Else's Augen auf. Sie glaubte sich im Himmel zu befinden. Ein prächtiger
+Garten, mit Obstbäumen und Beerensträuchern angefüllt, stand vor ihnen;
+auf den Zweigen der Bäume saßen Vögel, bunter als die schönsten
+Schmetterlinge, manche mit Gold- und Silberfedern bedeckt. Und die Vögel
+waren nicht scheu, die Kinder konnten sie nach Belieben in die Hand
+nehmen. Mitten im Garten stand das Wohnhaus, aus Glas und Edelsteinen
+aufgeführt, so daß Wände und Dach glänzten wie die Sonne. Eine Frau in
+prächtigen Kleidern saß vor der Thür auf einer Bank und fragte die
+Tochter: »Was bringst du da für einen Gast?« Die Tochter antwortete:
+»Ich fand sie allein im Walde und nahm sie mir zur Gesellschaft mit.
+Erlaubst du, daß sie hier bleibt?« Die Mutter lächelte, sagte aber kein
+Wort, sondern musterte Else mit scharfem Blick vom Kopf bis zu den
+Füßen. Dann hieß sie Else näher treten, streichelte ihre Wangen und
+fragte freundlich, wo sie zu Hause sei, ob ihre Eltern noch lebten, und
+ob sie den Wunsch habe, hier zu bleiben? Else küßte der Frau die Hand,
+fiel vor ihr nieder, umfaßte ihre Kniee und erwiederte dann unter
+Thränen: »Die Mutter ruht schon lange unter dem Rasen.
+
+ Mutter ward hinweg getragen
+ Liebe zog mit ihr von dannen![21]
+
+Der Vater lebt wohl noch, aber was hilft mir das, die Stiefmutter haßt
+mich und schlägt mich unbarmherzig alle Tage. Nichts kann ich ihr recht
+machen. Bitte, Goldfrauchen, laßt mich hier bleiben! Laßt mich die
+Herde hüten, oder gebt mir andere Arbeit, ich will Alles thun und euch
+gehorchen, aber schickt mich nur nicht zur Stiefmutter zurück! Sie
+schlüge mich halb todt, weil ich nicht mit den anderen Dorfkindern
+gekommen bin.« Die Frau lächelte und sagte: »Wir wollen sehen, was mit
+dir zu machen ist.« Dann erhob sie sich von der Bank und trat in's Haus.
+Die Tochter aber sagte zur Else: »Sei getrost, meine Mutter ist
+freundlich! Ich sah an ihrem Blicke, daß sie unsere Bitte gewähren wird,
+wenn sie die Sache näher überlegt hat.« Sie ging dann ihrer Mutter nach
+und hieß Else warten. Diese bebte zwischen Furcht und Hoffnung, und
+ungeduldig harrte sie des Bescheides, den die Tochter bringe würde.
+
+Nach einer Weile kam die Tochter mit einem Schächtelchen in der Hand
+zurück und sagte: »Die Mutter will, daß wir heute mit einander spielen,
+derweil sie deinetwegen Weiteres beschließen wird. Ich hoffe, du bleibst
+uns, ich möchte dich nicht mehr von mir lassen. Bist du schon zur See
+gefahren?« Else machte große Augen und fragte dann: »Zur See? was ist
+das? davon habe ich noch nie etwas gehört.« »Du sollst es sogleich
+sehen,« erwiederte das Fräulein und nahm den Deckel vom Schächtelchen.
+Da lagen ein Blatt von Frauenmantel, eine Muschelschale und zwei
+Fischgräten; auf dem Blatte schimmerten ein Paar Tropfen, diese
+schüttete das Kind auf den Rasen. Augenblicklich waren Garten, Rasen und
+was sonst noch da gestanden hatte, verschwunden, als hätte die Erde es
+verschlungen: und soweit das Auge reichte, war nur Wasser sichtbar, das
+in der Ferne mit dem Himmel zusammenzustoßen schien. Nur unter ihren
+Füßen war ein kleiner Fleck trocken geblieben. Jetzt setzte das Fräulein
+die Muschelschale auf's Wasser und nahm die Fischgräten zur Hand. Die
+Muschelschale schwoll an, und dehnte sich zu einem hübschen Nachen aus,
+worin ein Duzend Kinder und wohl noch mehr Platz gehabt hätten. Die
+Kinder setzten sich nun selbander in den Nachen, Else mit Zagen, das
+Fräulein aber lachte; die Gräten, welche sie hielt, wurden zu Rudern.
+Von den Wellen wurden die Mädchen fortgeschaukelt, wie in einer Wiege;
+nach und nach kamen andere Kähne in ihre Nähe, in jedem saßen Menschen,
+welche sangen und fröhlich waren. »Wir müssen ihren Gesang beantworten,«
+sagte das Fräulein, aber Else verstand nicht zu singen. Um so schöner
+sang das Fräulein. Von dem, was die andern sangen, konnte Else nicht
+viel verstehen, nur ein Wort kehrte immer wieder, nämlich »Kiisike.«
+Else fragte, was es bedeute, und das Fräulein antwortete: »Das ist mein
+Name.« Ich weiß nicht, wie lange sie so spazieren gefahren waren, da
+hörten sie rufen: »Kinder, kommt nach Hause, es wird Abend.« Kiisike
+nahm ihr Körbchen aus der Tasche, in welchem das Blatt lag, und tauchte
+es in's Wasser, so daß einige Tropfen daran hängen blieben, --
+augenblicklich waren sie in der Nähe des prächtigen Hauses, mitten im
+Garten; Alles ringsum erschien trocken und fest wie zuvor, Wasser war
+nirgends. Die Muschelschale und die Fischgräten wurden sammt dem Blatte
+in's Körbchen gelegt, und die Kinder gingen in's Haus.
+
+In einem großen Gemache saßen um einen Eßtisch vier und zwanzig Frauen,
+alle in prächtigen Kleidern, als wären sie auf einer Hochzeit. Oben am
+Tische saß die Herrin auf einem goldenen Stuhle.
+
+Else wußte nicht, woher die Augen nehmen, um all die Herrlichkeit zu
+betrachten, die ihr hier entgegenschimmerte. Auf dem Tische standen
+dreizehn Gerichte, alle in goldenen und silbernen Schüsseln; ein Gericht
+aber blieb unberührt und wurde abgetragen, wie es aufgetragen war, ohne
+daß man den Deckel gelüftet hätte. Else aß von den köstlichen Speisen,
+die noch besser schmeckten als Kuchen, und es kam ihr wieder vor, als
+müßte sie im Himmel sein; auf Erden konnte sie sich dergleichen nicht
+denken. Bei Tische wurde leise gesprochen, aber in einer fremden
+Sprache, von der Else kein Wort verstand. Die Frau sagte jetzt einige
+Worte zu einer Magd, die hinter ihrem Stuhle stand; die Magd eilte
+hinaus und kam bald mit einem kleinen alten Manne wieder, dessen Bart
+länger war als er selber. Der Alte machte einen Bückling und blieb am
+Thürpfosten stehen. Die Frau deutete mit dem Finger auf Else und sagte:
+»Betrachte dir dieses Bauermädchen, ich will es als Pflegekind annehmen.
+Forme mir ein Abbild von ihr, welches wir morgen statt ihrer in's Dorf
+schicken können.« Der Alte sah Else scharf an, als wolle er das Maaß
+nehmen, verbeugte sich dann wieder vor der Frau und verließ das Gemach.
+Nach Tische sagte die Frau freundlich zu Else: »Kiisike hat mich
+gebeten, ich möchte dich ihr zur Gesellschaft hier behalten und du
+selbst sagtest, du hättest Lust hier zu bleiben. Ist dem nun wirklich
+so?« Else fiel auf die Kniee, und küßte der Frau Hände und Füße zum Dank
+für die barmherzige Rettung aus den Klauen der bösen Stiefmutter. Die
+Frau aber hob sie vom Boden auf, streichelte ihr den Kopf und die
+thränenfeuchten Wangen und sagte: »Wenn du immer ein folgsames gutes
+Kind bleibst, so wird es dir gut gehen, ich will für dich sorgen und dir
+allen nöthigen Unterricht geben lassen, bis du erwachsen bist und dich
+selbst fortbringen kannst. Meine Fräulein, welche Kiisike unterrichten,
+werden auch dir behilflich sein, alle feinen Handarbeiten zu erlernen
+und dir andere Kenntnisse zu erwerben.«
+
+Nach einem Weilchen kam der Alte zurück mit einer langen mit Lehm
+gefüllten Mulde auf der Schulter, und einem kleinen Deckelkörbchen in
+der linken Hand. Er setzte Mulde und Körbchen an die Erde, nahm ein
+Stück Lehm und machte daraus eine Puppe, welche Menschengestalt hatte.
+In den Leib, der hohl geblieben war, legte der Alte drei gesalzene
+Strömlinge und ein Stückchen Brot. Dann machte er in der Brust der Puppe
+ein Loch, nahm aus dem Korbe einen ellenlangen schwarzen Wurm und ließ
+ihn durch das Loch hineinkriechen. Die Schlange zischte und wand sich
+mit dem Schwanze, als sträubte sie sich, aber sie mußte doch hinein.
+Nachdem die Frau die Puppe von allen Seiten betrachtet hatte, sagte der
+Alte: »Jetzt brauchen wir nichts weiter als ein Tröpflein von dem Blute
+des Bauermädchens.« Else wurde blaß vor Schrecken, als sie das hörte;
+sie meinte ihre Seele damit dem Bösen zu verkaufen.[22] Aber die Frau
+tröstete sie: »Fürchte nichts! Wir wollen dein Blut nicht zu etwas
+Bösem sondern lediglich zu etwas Gutem und zu deinem künftigen Glücke.«
+Dann nahm sie eine kleine goldene Nadel, stach damit der Else in den Arm
+und gab die Nadel dem Alten, der sie in das Herz der Puppe bohrte.
+Darauf legte er diese in den Korb, damit sie darin wachse und versprach,
+am nächsten Morgen der Frau zu zeigen, was für ein Werk aus seinen
+Händen hervorgegangen sei. Man ging hernach zur Ruhe, und auch Else
+wurde von einer Stubenmagd in ihre Schlafkammer gebracht, wo ihr ein
+weiches Bett bereitet wurde.
+
+Als sie am andern Morgen in dem seidenen Bette auf weichem Pfühl
+erwachte und ihre Augen weit auf machte, fand sie sich mit einem feinen
+Hemde bekleidet und sah reiche Gewänder auf einem Stuhle vor dem Bette
+liegen. Dann trat ein Mädchen in's Zimmer und hieß Else sich waschen und
+kämmen, worauf es sie vom Kopf bis zum Fuß mit den schönen Kleidern
+schmückte, als wäre sie das stolzeste deutsche Kind. Nichts machte Elsen
+so viel Freude als die Schuhe. Sie war ja bis jetzt fast immer barfuß
+gegangen. Nach Else's Meinung konnten auch des Königs Töchter keine
+schöneren Schuhe haben. In ihrer Freude über die Schuhe hatte sie nicht
+Zeit die übrigen Stücke des Anzugs zu beachten, obschon Alles prachtvoll
+war. Die Bauernkleider, welche sie mitgebracht hatte, waren in der Nacht
+fortgenommen worden, weshalb? das sollte sie später erfahren. Ihre
+Kleider waren nämlich der Lehmpuppe angelegt worden, welche an ihrer
+Statt in's Dorf gehen sollte. Die Puppe war in der Nacht in ihrem
+Behälter angeschwollen und am Morgen ein vollständiges Ebenbild der Else
+geworden, und ging einher wie ein von Gott geschaffenes Wesen. Else
+erschrack, als sie die Puppe erblickte, die ganz so aussah, wie sie
+selbst gestern ausgesehen hatte. Als die Frau Else's Erschrecken
+bemerkte, sagte sie: »Fürchte dich nicht, Kind! Das Lehmbild kann dir
+keinen Schaden zufügen, wir jagen es zu deiner Stiefmutter, damit es ihr
+als Prügelklotz diene! Mag sie es schlagen, so viel sie will, das
+steinharte Lehmbild fühlt keinen Schmerz. Aber wenn das böse Weib nicht
+andern Sinnes wird, so kann dein Ebenbild einmal die verdiente Strafe an
+ihr vollziehen.«
+
+Von diesem Tage an lebte Else so glücklich wie ein verwöhntes deutsches
+Kind, das in goldener Wiege geschaukelt worden; sie hatte weder Sorge
+noch Mühe; das Lernen wurde ihr von Tag zu Tage leichter und das vorige
+harte Leben im Dorfe erschien ihr nur noch wie ein böser Traum. Aber je
+tiefer sie das Glück dieses Lebens empfand, desto wunderbarer erschien
+ihr auch Alles. Auf natürliche Weise konnte es nicht zugehen -- es mußte
+eine unbekannte unerklärliche Macht hier walten. Auf dem Hofe stand ein
+Granitblock etwa zwanzig Schritt vom Hause. Wenn die Essenszeit
+heranrückte, ging der Alte mit dem langen Barte an den Block, zog ein
+silbernes Stäbchen aus dem Busen und klopfte damit dreimal an, so daß es
+hell wiederklang. Dann sprang ein großer goldener Hahn heraus und setzte
+sich auf den Block. So oft er in dieser Stellung mit den Flügeln schlug
+und krähte, kam aus dem Block etwas hervor, zuerst ein langer gedeckter
+Tisch, auf dem so viel Teller standen als essende Personen waren; der
+Tisch ging von selbst in's Haus, als trügen ihn des Windes Flügel. Wenn
+der Hahn zum zweiten Male krähte, kamen Stühle dem Tische nachgegangen;
+darauf eine Schüssel mit Speise nach der andern -- Alles sprang aus dem
+Block heraus und flog wie der Wind zum Eßtisch. Desgleichen
+Methflaschen, Aepfel und Beeren; Alles schien beseelt, so daß Niemand zu
+heben noch zu tragen brauchte. Wenn Alle sich satt gegessen hatten,
+klopfte der Alte zum zweiten Male mit dem Silberstäbchen an den Block,
+und dann krähte der goldene Hahn Flaschen, Schüsseln, Teller, Stühle und
+Tisch wieder in den Block hinein. Wenn aber die dreizehnte Schüssel kam,
+aus welcher niemals gegessen wurde, so lief eine große schwarze Katze
+der Schüssel nach, und beide blieben auf dem Block neben dem Hahn, bis
+der Alte sie forttrug. Er nahm die Schüssel in die Hand, die Katze in
+den Arm und den goldenen Hahn auf die Schulter, und verschwand mit ihnen
+unter dem Block. Nicht nur Speisen und Getränke, sondern auch alle
+übrigen Bedürfnisse des Haushalts, selbst Kleider kamen auf das Krähen
+des Hahns aus dem Block hervor. -- Obwohl bei Tische wenig und immer in
+einer fremden Sprache gesprochen wurde, welche Else nicht verstand, so
+wurde dafür desto mehr geredet und gesungen, wenn die Frau mit ihren
+Fräulein in Zimmer und Garten weilte. Allmählich lernte Else auch die
+Sprache ihrer Gefährtinnen auffassen; sie verstand fast Alles, was
+gesagt wurde, aber Jahre verstrichen, ehe ihre eigne Zunge sich den
+fremden Lauten gewöhnte. Einst hatte Else die Kiisike gefragt, warum
+die dreizehnte Schüssel täglich auf den Tisch komme, da doch Niemand
+daraus esse, aber Kiisike konnte es ihr nicht erklären. Sie mußte es
+aber ihrer Mutter gesagt haben, denn nach einigen Tagen ließ diese Elsen
+zu sich rufen und sprach zu ihr mit ernstem Ausdruck: »Beschwere dein
+Herz nicht mit unnützen Grübeleien. Du möchtest wissen, warum wir
+niemals aus der dreizehnten Schüssel essen. Sieh, liebes Kind, das ist
+die Schüssel _verborgenen_ Segens; wir dürfen sie nicht anrühren, sonst
+würde es mit unserem glücklichen Leben zu Ende sein. Auch mit den
+Menschen würde es auf dieser Welt viel besser stehn, wenn sie nicht in
+ihrer Habsucht alle Gaben an sich rissen, ohne dem himmlischen
+Segenspender irgend etwas zum Danke zu lassen.[23] Habsucht ist der
+Menschen größter Fehler!«
+
+Die Jahre verstrichen Elsen in ihrem Glücke pfeilgeschwind, sie war zur
+blühenden Jungfrau herangewachsen und hatte Vieles gelernt, womit sie in
+ihrem Dorfe ihr Leben lang nicht bekannt geworden wäre. Kiisike aber war
+immer noch dasselbe kleine Kind wie an dem Tage, wo sie das erste Mal
+mit Elsen im Walde zusammen getroffen war. Die Fräulein, welche bei der
+Frau vom Hause lebten, mußten Kiisike und Else täglich einige Stunden
+im Lesen und Schreiben und in allerlei feinen Handarbeiten unterweisen.
+Else begriff Alles gut, aber Kiisike hatte mehr Sinn für kindliche
+Spiele als für nützliche Beschäftigung. Wenn ihr die Laune kam, so warf
+sie die Arbeit weg, nahm ihr Schächtelchen und lief in's Freie, um See
+zu spielen, was ihr Niemand übel nahm. Manchmal sagte sie zu Elsen:
+»Schade, daß du so groß geworden bist, du kannst nun nicht mehr mit mir
+spielen.«
+
+Als jetzt neun Jahre in dieser Weise verflossen waren, ließ die Frau
+eines Abends Else in ihr Schlafzimmer rufen. Else wunderte sich darüber,
+denn um diese Zeit hatte die Frau sie noch niemals zu sich kommen
+lassen. Das Herz schlug ihr so heftig, daß es zu springen drohte. Als
+sie über die Schwelle trat, sah sie, daß die Wangen der Frau geröthet
+waren, ihre Augen voll Thränen standen, welche sie rasch trocknete, als
+wollte sie dieselben vor Elsen verbergen. »Liebes Pflegkind,« begann die
+Frau, »die Zeit ist gekommen, wo wir scheiden müssen.« »_Scheiden_?« rief
+Else und warf sich schluchzend der Frau zu Füßen. »Nein, theure Frau,
+das kann nimmermehr geschehen, bis uns einst der Tod trennt. Ihr habt
+mich einmal huldreich aufgenommen, darum verstoßt mich nicht wieder!«
+Die Frau sagte beschwichtigend: »Kind, sei ruhig! Du weißt ja noch gar
+nicht, was ich für dein Glück thun will. Du bist herangewachsen und ich
+darf dich hier nicht länger in Haft halten. Du mußt wieder unter
+Menschen gehen, wo Glückspfade deiner warten.« Else aber bat
+flehentlich: »Theure Frau, verstoßet mich nicht. Ich sehne mich nach
+keinem anderen Glücke, als bei euch zu leben und zu sterben. Macht mich
+zur Stubenmagd oder gebt mir andere Arbeit, nach eurem Belieben, aber
+schickt mich nicht fort in die weite Welt. Da wäre es besser gewesen,
+ihr hättet mich bei der Stiefmutter im Dorfe gelassen, als daß ihr mich
+auf so viele Jahre in den Himmel brachtet, um mich jetzt wieder in die
+Hölle zu stoßen.« »Still, liebes Kind!« sagte die Frau -- »du begreifst
+nicht, was ich zu deinem Glücke zu thun verpflichtet bin, wie sehr es
+mich auch schmerzt. Aber Alles muß so sein, wie ich es mache. Du bist
+ein sterbliches Menschenkind, deine Jahre nehmen zu ihrer Zeit ein Ende
+und deshalb darfst du nicht länger hier bleiben. Ich und die mich
+umgeben haben wohl Menschengestalt, aber wir sind nicht Menschen, wie
+ihr, sondern Geschöpfe höherer Art und euch unbegreiflich. Du wirst in
+der Ferne einen lieben Gemahl finden, der für dich geschaffen ist, und
+wirst glücklich mit ihm sein, bis eure Tage sich zu Ende neigen. Die
+Trennung von dir wird mir nicht leicht, aber es muß sein, und deßhalb
+mußt du dich ruhig darein fügen.« Dann strich sie mit ihrem goldenen
+Kamme durch Elsens Haar und hieß sie zu Bette gehen; aber wo sollte die
+arme Else in dieser Nacht den Schlaf hernehmen? Das Leben kam ihr vor
+wie ein dunkler sternenloser Nachthimmel.
+
+Während wir Else ihrem Kummer überlassen, wollen wir uns ins Dorf
+begeben, um zu sehen, wie die Sachen auf dem väterlichen Hofe gehen, wo
+das _Lehmbild_ an ihrer Statt der Prügelklotz ihrer Stiefmutter war. Daß
+ein böses Weib im Alter nicht besser wird, ist eine bekannte Sache; man
+erfährt wohl, daß aus einem hitzigen Jünglinge im Alter ein frommes Lamm
+wird, aber kommt ein Mädchen, das kein gutes Herz hat, unter die Haube,
+so wird sie auf die alten Tage wie ein reißender Wolf. Wie ein
+Höllenbrand quälte die Stiefmutter das Lehmbild Tag und Nacht, aber dem
+starren Geschöpfe, dessen Körper keinen Schmerz empfand, schadete es
+nicht. Wollte der Mann einmal dem Kinde zu Hülfe kommen, so setzte es
+für ihn gleichfalls Prügel, zum Lohn für seinen Versuch Frieden zu
+stiften. Eines Tages hatte die Stiefmutter ihre Lehmtochter wieder
+fürchterlich geschlagen und drohte ihr dann, sie umzubringen. Wüthend
+packte sie das Lehmbild mit beiden Händen an der Gurgel, um es zu
+erwürgen, siehe, da fuhr eine schwarze Schlange zischend aus des Kindes
+Munde, und stach der Stiefmutter in die Zunge, so daß sie todt
+niederfiel, ohne einen Laut von sich zu geben. Als der Mann Abends nach
+Hause kam, fand er die todte Frau dick aufgeschwollen am Boden liegen;
+die Tochter war nirgends zu finden. Auf sein Geschrei kamen die
+Dorfbewohner herbei. Die Nachbarn hatten wohl um Mittag einen großen
+Lärm im Hause gehört, aber da so etwas fast täglich dort vorfiel, war
+Niemand hingegangen. Nachmittags war Alles still geblieben, aber Niemand
+hatte die Tochter erblickt. Der Körper der todten Frau wurde nun
+gewaschen und gekleidet, und es wurden für die Todtenwächter zur Nacht
+Erbsen in Salz gekocht. Der müde Mann ging in seine Kammer, um zu ruhen,
+und dankte sicherlich seinem Glücke, daß er diesen Höllenbrand los war.
+Auf dem Tische fand er drei gesalzene Strömlinge und einen Bissen Brot,
+verzehrte Beides und legte sich zu Bette. Am andern Morgen wurde er todt
+auf dem Platze gefunden, und zwar ebenso aufgeschwollen wie die Frau.
+Nach einigen Tagen wurden beide in ein Grab gelegt, wo sie einander
+kein Leid mehr anthun konnten. Von der verschwundenen Tochter erfuhren
+die Bauern seitdem nichts weiter.
+
+Else hatte die ganze Nacht kein Auge zugethan, sie weinte und beklagte
+die harte Notwendigkeit, so schnell und unerwartet von ihrem Glücke
+scheiden zu müssen. Am Morgen steckte ihr die Frau einen goldenen
+Siegelring an den Finger und hing ihr eine kleine goldene Schachtel an
+einem seidenen Bande um den Hals, rief dann den Alten, zeigte mit der
+Hand auf Else, und nahm darauf mit betrübter Miene von ihr Abschied.
+Eben wollte Else danken, als der Alte dreimal mit seinem Silberstäbchen
+sanft ihren Kopf berührte. Else fühlte alsbald, daß sie zum Vogel
+geworden war; aus den Armen wurden Flügel und aus den Beinen Adlerfüße
+mit langen Klauen, aus der Nase ein krummer Schnabel, Federn bedeckten
+den ganzen Leib. Dann hob sie sich plötzlich in die Luft und schwebte
+ganz wie ein aus dem Ei gebrüteter Adler unter den Wolken dahin. So war
+sie schon mehrere Tage gen Süden geflogen und hatte wohl zuweilen
+gerastet, wenn die Flügel ermatteten, aber Hunger hatte sie nicht
+gefühlt. Da geschah es, daß sie eines Tages über einem niedrigen Walde
+schwebte, wo Jagdhunde sie anbellten, die freilich dem Vogel nichts
+anhaben konnten, weil ihnen Flügel fehlten. Mit einem Male fühlte sie
+ihr Gefieder von einem scharfen Pfeile durchbohrt und fiel zu Boden. Vor
+Schrecken war sie ohnmächtig geworden.
+
+Als Else aus ihrer Ohnmacht erwachte und die Augen weit öffnete, fand
+sie sich in menschlicher Gestalt unter einem Gebüsche. Wie sie dahin
+gekommen und was ihr sonst Seltsames begegnet war, lag wie ein Traum
+hinter ihr. Da kam ein stolzer junger Königssohn daher geritten, sprang
+vom Pferde und bot Elsen freundlich die Hand, indem er sagte: »Zur
+glücklichen Stunde bin ich heute Morgen ausgeritten! Von euch, theures
+Fräulein, träumte mir ein halbes Jahr lang jede Nacht, daß ich euch hier
+im Walde finden würde. Obschon ich den Weg wohl hundert Mal umsonst
+gemacht hatte, ließ doch meine Sehnsucht und meine Hoffnung nicht nach.
+Heute schoß ich einen großen Adler, der hierher gefallen sein mußte; ich
+ging der erlegten Beute nach und fand statt des Adlers -- euch.« Dann
+half er Elsen auf's Pferd und ritt mit ihr zur Stadt, wo der alte König
+sie freudig empfing. Einige Tage später ward eine prachtvolle Hochzeit
+gefeiert; am Morgen des Hochzeitstages waren funfzig Fuder mit
+Kostbarkeiten angekommen, welche die liebe Pflegemutter Elsen geschickt
+hatte. Nach des alten Königs Tode wurde Else Königin und hat dann im
+Alter die Ereignisse ihrer Jugend selbst erzählt. Aber vom Tontlawald
+hat man seitdem Nichts mehr gesehen noch gehört.
+
+[Fußnote 19: Ein Landstrich nördlich vom Peipus-See. L.]
+
+[Fußnote 20: Es haben sich also auch die Ehsten, gleich den Finnen,
+ganze Naturgebiete unter dem Schutze bestimmter Gottheiten, und dann
+wieder einzelne Naturindividuen von Schutzgeistern oder Elfen (ehstnisch
+=hallijas=, finnisch =haltia=) beseelt gedacht. Was hier blutet und jammert,
+ist die Dryas, die sich der Ehste jedoch männlich denkt. L.]
+
+[Fußnote 21: Aus der Klage des verwaisten Hirtenknaben im _Kalewipoëg_
+(=XII.= 876). Auch bei _Neus_, Volkslieder, =passim.= L.]
+
+[Fußnote 22: Vgl. über den Abscheu der Ehsten vor dem Hingeben ihres
+Blutes zu zauberischen Zwecken _Boecler_ u. _Kreutzwald_, der Ehsten
+abergläubische Gebräuche =p.= 145 und _Kreutzwald_ und _Neus_, mythische und
+magische Lieder der Ehsten =p.= 111. In unserm 9. Märchen betrügt der
+Donnersohn den Teufel (den »alten Burschen«), indem er statt des eigenen
+Blutes Hahnenblut zur Besiegelung des Vertrages nimmt. L.]
+
+[Fußnote 23: »Heidnische Altäre haben sich unter den Ehsten einzeln bis
+in unsere Zeiten erhalten. Von einem solchen bei dem Landgut Kawershof
+im Felliner Kreise berichtet _Hupel_, »er stehe unter einem heiligen
+Baume, in dessen Höhlung noch oft kleine Opfer gefunden würden; sei aus
+einem Granitblock kunstlos gehauen.« _Kreutzwald_ u. _Neus_, mythische u.
+magische Lieder der Ehsten S. 17. L.]
+
+
+
+
+5. Der Waise Handmühle.
+
+
+Ein armes elternloses Mädchen war allein nachgeblieben wie ein Lamm, und
+dann als Pflegekind in eine böse Wirthschaft gekommen, wo es keinen
+andern Freund hatte als den Hofhund, dem es zuweilen eine Brotrinde gab.
+Das Mädchen mußte vom Morgen bis zum Abend für die Wirthin auf der
+Handmühle mahlen, und stand einmal die Mühle stille, weil die müde Hand
+ausruhen wollte, so war gleich der Stock da, um das arme Kind
+anzutreiben. Des Abends waren die Hande der Waise so starr wie die
+Klötze. Das Gnadenbrot, welches die Waisen essen, muß fast immer mit
+Schweiß und Blut bezahlt werden. Gott im Himmel allein hört die Seufzer
+der Waisen und zählt die Thränen, die von ihren Wangen rollen! -- Eines
+Tages, als das schwache Mädchen wieder die schwere Mühle drehte und
+voller Unmuth war, weil die Wirthin sie den Morgen nüchtern gelassen
+hatte, kam ein hinkender einäugiger Bettler in zerlumpten Kleidern
+heran. Es war aber kein wirklicher Bettler, sondern ein berühmter
+Zauberer aus Finnland, der sich, um nicht erkannt zu werden, in einen
+Bettler verwandelt hatte. Der Bettler setzte sich auf die Schwelle, sah
+sich die schwere Arbeit des Kindes an, nahm ein Stück Brot aus seinem
+Schultersack, steckte es dem Kinde in den Mund und sagte: »Mittag ist
+noch weit, iß etwas Brot zur Stärkung.« Die Waise nahm den trockenen
+Bissen und er schmeckte ihr besser als Weißbrot, auch fühlte sie gleich
+ihre Kräfte wieder zunehmen. Der Bettler sagte dann: »Dir Armen müssen
+wohl von dem ewigen Umdrehen der schweren Mühle die Hände recht müde
+sein?« Das Mädchen sah den Alten ungewiß an, wie um zu forschen, ob
+seine Frage ernsthaft oder spöttisch gemeint sei. Da sie aber fand, daß
+sein Antlitz einen liebreichen und ernsthaften Ausdruck hatte, so
+erwiederte sie: »Wer kümmert sich um die Hände einer Waise? Das Blut
+dringt mir immer unter die Nägel, und der Stock fährt mir über den
+Rücken, wenn ich nicht so viel arbeiten kann, als die Wirthin verlangt.«
+Der Bettler ließ sich nun ausführlich erzählen, was für ein Leben das
+Kind führe. Als die Waise geendigt hatte, nahm der Alte aus seinem Sacke
+ein altes Tuch, gab es ihr und sagte: »Wenn du dich heut Abend schlafen
+legst, so binde dies Tuch um deinen Kopf und seufze aus der Tiefe des
+Herzens: »Süßer Traum, trage mich dahin, wo ich eine Handmühle finde,
+welche von selbst mahlt, so daß ich mich nicht mehr abmühen darf!« Die
+Waise steckte das Tuch in ihren Busen und dankte dem Alten, der sich
+sogleich entfernte. Als sich das Waisenkind Abends schlafen legte, that
+es nach Vorschrift des Bettlers, band das Tuch um den Kopf und stieß
+unter Seufzern und Thränen seinen Wunsch aus, obgleich es selber nicht
+viel Hoffnung darauf setzte. Dennoch schlief es leichteren Herzens ein,
+als sonst. Ein wunderbarer Traum führte das Mädchen in weite Fernen und
+ließ es auf seiner Wanderung viel seltsame Dinge erleben. Zuletzt kam
+es tief unter die Erde, und da mochte wohl die Hölle sein, denn alles
+sah schauerlich und fremd aus. Die Hofthore standen weit offen und kein
+lebendes Wesen rührte sich. Als das Mädchen weiter ging, ließ sich ein
+Geräusch vernehmen, wie wenn eine Handmühle gemahlen würde. Dem Geräusch
+folgend ging das Waisenkind schüchternen Schrittes vorwärts, bis es
+unter dem Abschauer einer Klete[24] einen großen Kasten fand, aus
+welchem das Geräusch einer Mühle an sein Ohr drang. Das Kind war nicht
+stark genug den Kasten zu rühren, geschweige denn von der Stelle zu
+bringen. Da sah es im Stalle ein weißes Pferd an der Krippe und kam auf
+den guten Einfall, das Pferd aus dem Stalle zu ziehen, es mit Stricken
+vor den Kasten zu spannen, und ihn so fortzuführen. Gedacht, gethan: die
+Waise schirrte das Pferd an, setzte sich auf den Deckel des Kastens,
+ergriff eine lange Ruthe und jagte in vollem Galop nach Hause.
+
+Als sie am andern Morgen erwachte, fiel ihr der bedeutsame Traum wieder
+ein, und zwar stand er so lebendig vor ihr, als wäre sie wirklich eine
+Strecke weit auf dem Deckel gefahren. Als sie die Augen aufriß,
+erblickte sie den Kasten an ihrem Lager. Sie sprang auf, nahm ein halbes
+Loof (Scheffel) Gerste, das vom Abend nachgeblieben war, schüttete es in
+die Oeffnung, die sie im Deckel des Kastens fand und siehe das freudige
+Wunder: die Steine fingen augenblicklich an zu lärmen. Es dauerte nicht
+lange, so war das fertige Mehl im Sacke.[25] Jetzt hatte die Waise einen
+leichten Stand; die Mühle im Kasten mahlte Alles, was man ihr bot, und
+das Mädchen hatte weiter keine Mühe, als das Getraide oben
+hineinzuschütten und das Mehl unten herauszunehmen. Den Deckel des
+Kastens durfte sie aber nicht öffnen, der Bettler hatte es ihr streng
+verboten, indem er hinzufügte: das würde dein Tod sein!
+
+Die Wirthin kam bald dahinter, daß der Kasten dem Waisenkinde beim
+Mahlen half, sie beschloß daher das Mädchen aus dem Hause zu jagen und
+dafür den Mahlkasten zu behalten, der kein Futter verlangen würde.
+Zuerst wollte sie sich aber mit dem Dinge näher bekannt machen, um zu
+sehen, wo denn der Wundermüller eigentlich stecke. Die Begierde, das
+Geheimniß herauszubringen, stachelte das Weib Tag und Nacht. An einem
+Sonntag Morgen schickte sie das Waisenkind zur Kirche, und sagte, sie
+selbst wolle da bleiben, um das Haus zu hüten. Ein so freundliches
+Anerbieten hatte die Waise noch niemals vernommen; vergnügt zog sie ein
+reines Hemd und etwas bessere Kleider an, und machte sich eilig auf den
+Weg. Die Wirthin lauerte so lange hinter der Thür, bis ihr das Mädchen
+aus dem Gesichte war, dann nahm sie aus der Klete ein halb Loof
+Getraide und schüttete es auf den Deckel, damit der Kasten es mahle,
+aber der Kasten that es nicht. Erst als eine Hand voll in das Loch des
+Deckels kam, machten sich die Steine an's Werk; aber nun kostete es dem
+Weibe noch viel Mühe und Arbeit, den schweren Kastendeckel los zu
+machen. Endlich ging er so weit auf, daß die Alte den Kopf
+hineinzustecken wagte, -- aber o weh! eine lichte Lohe schlug aus dem
+Kasten heraus und verbrannte die Wirthin, als wär's eine Hedekunkel; es
+blieb nichts weiter von ihr übrig als eine Handvoll Asche.
+
+Als der Wittwer späterhin eine andere Frau nehmen wollte, fiel ihm ein,
+daß sein Pflegekind, die Waise, vollständig erwachsen war, so daß er
+nicht erst anderswo auf die Freite zu gehen brauche. Die Hochzeit wurde
+still gefeiert, und als sich die Nachbaren am Abend entfernt hatten,
+ging der Mann mit seiner jungen Frau zu Bette. Als diese den andern
+Morgen in die Klete ging, war der Kasten mit der Handmühle verschwunden,
+ohne daß man die Spuren eines Diebes fand. Obgleich nun überall gesucht
+und nah und fern angefragt wurde, ob der vermißte Gegenstand irgend
+Jemanden zu Gesicht gekommen sei, so hat man doch bis auf den heutigen
+Tag nichts entdeckt. Der wunderbare Handmühlen-Kasten, den einst ein
+Traum aus der Tiefe der Erde herausgeholt hatte, mußte wohl in eben so
+wunderbarer Weise dahin zurückgekehrt sein.
+
+[Fußnote 24: Baltischer Provinzialismus für Vorratskammer oder
+Speicher. L.]
+
+[Fußnote 25: Hier möchte wohl ein schwacher Nachhall von der
+Sampo-Mythe anklingen, die in der Kalewala, dem finnischen Epos, eine so
+große Rolle spielt. Auch der Wunder wirkende Talisman Sampo wird unter
+dem Bilde einer selbstmahlenden Mühle gedacht. Vgl. _Castrén's_
+Vorlesungen über finn. Mythol. S. 264 ff. u. _Schiefner_ im =Bulletin hist.
+phil.= der Petersb. Akad. d. Wiss. =t. VIII.= Nr. 5. L.]
+
+
+
+
+6. Die zwölf Töchter.
+
+
+Es war einmal ein armer Käthner, der zwölf Töchter hatte, unter ihnen
+zwei Paar Zwillinge. Die hübschen Mädchen waren alle gesund und frisch
+und von zierlichem Wesen. Da die Eltern es so knapp hatten, mochte es
+manchem unbegreiflich sein, wie sie den vielen Kindern Nahrung und
+Kleidung schaffen konnten; die Kinder waren täglich gewaschen und
+gekämmt und trugen immer reine Hemden, wie deutsche Kinder. Einige
+meinten, der Käthner habe einen heimlichen Schatzträger,[26] Andere
+hielten ihn für einen Hexenmeister, wieder Andere für einen
+Windzauberer,[27] der im Wirbelwinde einen verborgenen Schatz zusammen
+zu raffen wußte. In Wahrheit aber verhielt sich die Sache ganz anders.
+Die Frau des Käthners hatte eine heimliche Gegenspenderin, welche die
+Kinder nährte, säuberte und kämmte. Als sie nämlich noch als Mädchen
+aus einem fremden Bauerhofe diente, sah sie drei Nächte hinter einander
+im Traume eine stattliche Frau, welche zu ihr trat und ihr befahl,[28]
+in der Johannisnacht zur Quelle des Dorfes zu gehen. Sie hätte nun wohl
+auf diesen Traum nicht weiter geachtet, wenn nicht am Johannisabend ein
+Stimmchen ihr immerwährend wie eine Mücke in's Ohr gesummt hätte: »Geh
+zur Quelle, geh zur Quelle, wo deines Glückes Wasseradern rieseln!«
+Obgleich sie den heimlichen Rathschlag nicht ohne Schrecken vernahm,
+faßte sie sich doch endlich ein Herz, verließ die andern Mädchen, die
+bei der Fiedel um das Feuer herum lärmten und schritt auf die Quelle zu.
+Aber je näher sie kam, desto bänger wurde ihr um's Herz; sie wäre
+umgekehrt, wenn ihr das Mückenstimmchen Ruhe gelassen hätte;
+unwillkürlich ging sie weiter. Als sie hinkam, sah sie eine Frau in
+weißen Kleidern, die auf einem Steine an der Quelle saß. Als die Frau
+des Mädchens Furcht gewahrte, ging sie demselben einige Schritte
+entgegen, bot ihm die Hand zum Gruß und sagte: »Fürchte dich nicht,
+liebes Kind, ich thue dir ja nichts zu Leide! Merke auf und behalte
+genau, was ich dir sage. Auf den Herbst wird man um dich freien; der
+Mann ist so arm wie du, aber mach' dir deshalb keine Sorge, sondern nimm
+seinen Branntwein an.[29] Da ihr beide gut seid, will ich euch Glück
+bringen und euch forthelfen; aber lasset darum Sorgsamkeit und Arbeit
+nicht dahinten, sonst kann kein Glück Dauer haben. Nimm dieses Säckchen
+und stecke es in die Tasche, es sind nur einige Steinchen darin.[30]
+Nachdem du das erste Kind zur Welt gebracht hast, wirf ein Steinchen in
+den Brunnen, damit ich komme dich zu sehen. Wenn das Kind zur Taufe
+geführt wird, will ich zu Gevatter stehen. Von unserer nächtlichen
+Zusammenkunft laß gegen Niemanden etwas verlauten -- für dieses Mal sage
+ich dir Lebe wohl!« Mit diesen Worten war die wunderbare Fremde dem
+Mädchen entschwunden, als wäre sie unter die Erde gesunken. Vielleicht
+hätte das Mädchen auch diesen Vorfall für einen Traum gehalten, wenn
+nicht das Säckchen in ihrer Hand das Gegentheil bezeugt hätte; sie fand
+darin zwölf Steinchen.
+
+Die Prophezeiung traf ein, das Mädchen wurde im Herbst verheirathet und
+der Mann war ein armer Knecht. Im folgenden Jahre brachte die junge Frau
+die erste Tochter zur Welt, besann sich auf das, was ihr in der
+Johannisnacht begegnet war, stand heimlich aus dem Bette auf, ging an
+den Brunnen und warf ein Steinchen hinein. Plumps fiel es in's Wasser!
+Sofort stand die freundliche Frau weiß gekleidet vor ihr und sagte: »Ich
+danke dir, daß du mich nicht vergessen hast. Sonntag über vierzehn Tage
+laß das Kind zur Taufe bringen, dann komme ich auch in die Kirche und
+will beim Kinde Gevatter stehen.« Als an dem bezeichneten Tage das Kind
+in die Kirche gebracht wurde, trat eine fremde Dame hinzu, nahm es auf
+den Schoos und ließ es taufen. Als dies geschehen war, band sie einen
+silbernen Rubel in die Windel des Kindes und sandte es der Mutter
+zurück. Ganz ebenso geschah es später bei jeder neuen Taufe, bis das
+Dutzend voll war. Bei der Geburt des letzten Kindes hatte die Frau zur
+Mutter gesagt: »Von heute an wird dein Auge mich nicht mehr schauen,
+obwohl ich ungesehen täglich um dich und deine Kinder sein werde. Das
+Wasser des Brunnens wird den Kindern mehr Gedeihen bringen als die beste
+Kost. Wenn die Zeit herankommt, daß deine Töchter heirathen, so mußt du
+einer Jeden den Rubel mitgeben, den ich zum Pathengeschenk brachte. So
+lange sie ledig sind, sollen sie keinen größeren Staat machen, als daß
+sie Alltags und Sonntags saubere Hemden und Tücher tragen.«
+
+Die Kinder wuchsen und gediehen, daß es eine Lust war anzusehen; Brot
+gab es im Hause zur Genüge, auch zuweilen dünne Zukost, doch am meisten
+wurden Eltern und Kinder offenbar durch das Brunnenwasser gestärkt. Die
+älteste Tochter wurde dann an einen wohlhabenden Wirthssohn
+verheirathet. Wiewohl sie ihm außer der nothdürftigsten Kleidung nichts
+zubrachte, so wurde doch ein Brautkasten gemacht und Kleider und
+Pathen-Rubel hineingelegt. Als die Männer den Kasten auf den Wagen
+hoben, fanden sie ihn so schwer, daß sie glaubten es seien Steine darin,
+denn der arme Käthner hatte doch seiner Tochter sonst nichts Werthvolles
+mitzugeben. Weit mehr aber war die junge Frau erstaunt, als sie im
+Hause des Bräutigam's den Kasten öffnete, und ihn mit Stücken Leinewand
+angefüllt und auf dem Grunde einen ledernen Beutel mit hundert
+Silberrubeln fand. Dasselbe wiederholte sich nachher bei jeder neuen
+Verheirathung; und die Töchter wurden bald alle weggeholt, als es
+bekannt geworden war, welch' einen Brautschatz eine jede mitbekam.
+
+Einer der Schwiegersöhne war aber sehr habsüchtig und mochte sich mit
+der Mitgift seiner Frau nicht zufrieden geben. Er dachte nämlich: die
+Eltern müssen wohl selbst noch vielen Reichthum besitzen, wenn sie schon
+jeder Tochter so viel mitgeben konnten. Er ging daher eines Tages zu
+seinem Schwiegervater und suchte ihm den Schatz abzuzwacken. Der Käthner
+sagte ganz der Wahrheit gemäß: »Ich habe Nichts hinter Leib und Seele,
+und auch meinen Töchtern konnte ich nichts weiter mitgeben als den
+Kasten. Was jede in ihrem Kasten gefunden hat, das rührt nicht von mir
+her, sondern war die Pathengabe der Taufmutter, welche jedem Kinde an
+seinem Tauftage einen Rubel schenkte. Diese Liebesgabe hat sich im
+Kasten vervielfältigt.« Der habsüchtige Schwiegersohn glaubte indessen
+den Worten des Schwiegervaters nicht, sondern drohte vor Gericht die
+Anklage zu erheben, daß der Alte ein Hexenmeister und ein Windbeschwörer
+sei, der mit Hülfe des Bösen einen großen Schatz zusammengebracht habe.
+Da der Käthner ein reines Gewissen hatte, so flößte ihm die Drohung
+seines Schwiegersohnes keine Furcht ein. Dieser aber klagte wirklich.
+Das Gericht ließ darauf die andern Schwiegersöhne des Käthners
+vorfordern und befragte sie, ob jeder von ihnen dieselbe Mitgift
+erhalten habe. Die Männer sagten aus, daß Jeder einen Kasten voll
+Leinewand und hundert Silberrubel erhalten habe. Das erregte große
+Verwunderung, denn die ganze Nachbarschaft wußte recht gut, daß der
+Käthner arm war und keinen andern Schatz hatte als zwölf hübsche
+Töchter. Daß diese Töchter von klein auf stets reine weiße Hemden
+getragen hatten, wußten die Leute wohl, aber Niemand hatte sonst einen
+Prunk an ihnen bemerkt, weder Brustspangen noch bunte Halstücher. Die
+Richter beschlossen jetzt, die wunderliche Sache näher zu untersuchen,
+um herauszubringen, ob der Alte wirklich ein Hexenmeister sei.
+
+Eines Tages verließen die Richter, von einer Häscherschaar begleitet,
+die Stadt. Sie wollten das Haus des Käthners mit Wachen umstellen, damit
+Niemand heraus und kein Schatz auf die Seite gebracht werden könne. Der
+habsüchtige Schwiegersohn machte den Führer. Als sie an den Wald
+gekommen waren, in welchem die Hütte des Käthners stand, wurden von
+allen Seiten Wachen aufgestellt, die keinen Menschen durchlasse sollten,
+bis die Sache aufgeklärt sei. Man ließ hier die Pferde zurück und schlug
+den Fußsteig zur Hütte ein. Der Schwiegersohn mahnte zu leisem Auftreten
+und zum Schweigen, damit der Hexenmeister nicht aufmerksam werde und
+sich auf Windesflügeln davon mache. Schon waren sie nahe bei der Hütte,
+als plötzlich ein wunderbarer Glanz sie blendete, der durch die Bäume
+drang. Als sie weiter gingen, wurde ein großes schönes Haus sichtbar; es
+war ganz von Glas und viele hundert Kerzen brannten darin, obgleich die
+Sonne schien und Helligkeit genug gab. Vor der Thür standen zwei Krieger
+Wache, die ganz in Erz gehüllt waren und lange bloße Schwerter in der
+Hand hielten. Die Gerichtsherrn wußten nicht, was sie denken sollten,
+Alles schien ihnen mehr Traum als Wirklichkeit zu sein. Da öffnete sich
+die Thür: ein schmucker Jüngling in seidenen Kleidern trat heraus und
+sagte: »Unsere Königin hat befohlen, daß der oberste Gerichtsherr vor
+ihr erscheine.« Obgleich dieser einige Furcht empfand, folgte er doch
+dem Jüngling in's Haus.
+
+Wer beschriebe die Pracht und Herrlichkeit, die sich vor seinen Augen
+aufthat. In der prächtigen Halle, welche die Größe einer Kirche hatte,
+saß auf einem Throne eine mit Seide, Sammet und Gold geschmückte Frau.
+Einige Fuß tiefer saßen auf kleineren goldenen Sesseln zwölf schöne
+Fräulein, ebenso prächtig geschmückt wie die Königin, nur daß sie keine
+goldene Krone trugen. Zu beiden Seiten standen zahlreiche Diener, alle
+in hellen seidenen Kleidern, mit goldenen Ketten um den Hals. Als der
+oberste Gerichtsherr unter Verbeugungen näher trat, fragte die Königin:
+»Weßhalb seid ihr heute mit einer Schaar von Häschern gekommen, als
+hättet ihr Uebelthäter einzufangen?« Der Gerichtsherr wollte antworten,
+aber der Schrecken band ihm die Zunge, so daß er kein Wörtchen
+vorbringen konnte. »Ich kenne die boshafte und lügnerische Anklage,«
+fuhr die Frau fort, »denn meinen Augen bleibt nichts verborgen. Lasset
+den falschen Kläger hereinkommen, aber legt ihm zuvor Hände und Füße in
+Ketten, dann will ich ihm Recht sprechen. Auch die übrigen Richter und
+die Diener sollen eintreten, damit die Sache offenkundig wird und sie
+bezeugen können, daß hier Niemanden Unrecht geschieht.« Einer ihrer
+Diener eilte hinaus, um den Befehl zu vollziehen. Nach einiger Zeit
+wurde der Kläger vorgeführt, an Händen und Füßen gefesselt und von sechs
+Geharnischten bewacht. Die anderen Gerichtsherren und deren Diener
+folgten. Dann begann die Königin also:
+
+»Bevor ich über das Unrecht die verdiente Strafe verhänge, muß ich euch
+kurz erklären, wie die Sache zusammenhängt. Ich bin die oberste
+Wasserbeherrscherin,[31] alle Wasseradern, welche aus der Erde quillen,
+stehen unter meiner Botmäßigkeit. Des Windkönigs ältester Sohn war mein
+Liebster, aber da sein Vater ihm nicht erlaubte eine Frau zu nehmen, so
+mußten wir unsere Ehe geheim halten, so lange der Vater lebte. Da ich
+nun meine Kinder nicht zu Hause aufziehen konnte, so vertauschte ich
+jedesmal, wenn des Käthners Frau niederkam, sein Kind gegen das meinige.
+Des Käthners Kinder aber wuchsen als Pfleglinge auf dem Hofe meiner
+Tante auf. Kam die Zeit, daß eine von den Töchtern des Käthners
+heirathen wollte, so wurde ein abermaliger Tausch vorgenommen. Jedesmal
+ließ ich die Nacht vor der Hochzeit meine Tochter wegholen und dafür
+des Käthners Kind hinbringen. Der alte Windkönig lag schon lange krank
+darnieder, so daß er von unserem Betruge nichts merkte. Am Tauftage
+schenkte ich jedem Kinde ein Rubelstück, welches die Mitgift im Kasten
+hecken sollte. Die Schwiegersöhne waren denn auch alle mit ihren jungen
+Frauen und dem, was sie mitbrachten, zufrieden, nur dieser habgierige
+Frevler, den ihr hier in Ketten seht, unterfing sich, falsche Klage
+gegen seinen Schwiegervater zu führen, in der Hoffnung sich dadurch zu
+bereichern. Vor zwei Wochen ist nun der alte Windkönig gestorben und
+mein Gemahl zur Herrschaft gelangt. Jetzt brauchen wir unsere Ehe und
+unsere Kinder nicht länger zu verheimlichen. Hier vor euch sitzen meine
+zwölf Töchter, deren Pflegeeltern, der Käthner und sein Weib, bis an
+ihren Tod bei mir das Gnadenbrot essen werden. Aber du verworfener
+Bösewicht, den ich habe fesseln lassen, sollst sogleich den verdienten
+Lohn erhalten. In deinen Ketten sollst du in einem Goldberge gefangen
+sitzen, damit deine gierigen Augen das Gold beständig sehen, ohne daß
+dir ein Körnchen davon zu Theil wird. Siebenhundert Jahre sollst du
+diese Qual erdulden, ehe der Tod Macht erhält dich zur Ruhe zu bringen.
+Das ist mein Richterspruch.«
+
+Als die Königin bis dahin gesprochen hatte, entstand ein Gekrach wie ein
+starker Donnerschlag, so daß die Erde bebte und die Richter sammt ihren
+Dienern betäubt niederfielen. Als sie wieder zu sich kamen, fanden sie
+sich zwar in dem Walde, zu welchem der Führer sie geleitet hatte, aber
+da, wo eben noch das gläserne Haus in aller Pracht gestanden hatte,
+sprudelte jetzt aus einer kleinen Quelle klares kaltes Wasser hervor.
+-- »Von dem Käthner, seiner Frau und dem habsüchtigen Schwiegersohne ist
+später nie mehr etwas vernommen worden; des letzteren Wittwe hatte im
+Herbst einen anderen Mann geheirathet, mit dem sie glücklich lebte bis
+an ihr Ende.
+
+[Fußnote 26: Hausgeister, welche ihren Herren Schätze zutragen. Sie
+werden als feurige Lufterscheinungen, als Drachen gedacht. S. _Kreutzwald_
+u. _Neus_, myth. u. mag. Lieder der Ehsten. S. 81.]
+
+[Fußnote 27: Vgl. _Kreutzwald_ zu _Boecler_ =p.= 105. _Kreutzwald_ u. _Neus_,
+Lieder, S. 84. 86. Nach ehstnischer Anschauung fahren im Wirbelwinde die
+Hexen umher. L.]
+
+[Fußnote 28: Auf die Nacht vom 23. zum 24. Juni fällt der ehstnische
+Hexen-Sabbat. L.]
+
+[Fußnote 29: Diesen bietet nach ehstn. Sitte der den Freier begleitende
+Brautwerber an. L.]
+
+[Fußnote 30: Ehstnisch =lähkre-kiwid= d. i. Steinchen, die man zur
+Reinigung des Milchgefäßes (Milchfäßchens), Legel, schwed. =tynnåla=,
+ehstn. =lähker= (sprich lächker) braucht. Man führt ein solches
+Milchfäßchen auf Reisen nebst dem Brotsack mit sich. L.]
+
+[Fußnote 31: Identisch mit der Wassermutter, =wete ema=. Weibliche
+Personificationen scheinen in der ehstnischen Mythologie, soweit sie
+erhalten und bekannt ist, vorzuherrschen. Es giebt eine Erdmutter, die
+aber auch Gemahlin des Donnergottes ist, eine Feuermutter, Windesmutter,
+Rasenmutter (s. die betr. Anm. zu Märchen 8 vom Schlaukopf) und in
+unserem Märchen 17 die Unterirdischen, tritt sogar eine Mutter des
+»Stüms,« des Schneegestöbers, auf. -- Eine Wetterjungfrau kennt der
+Kalewipoëg =X=, 889 als Tochter des Donnergottes (=Kõu=). Die Finnen haben
+eine »Windtochter.« L.]
+
+
+
+
+7. Wie eine Waise unverhofft ihr Glück fand.
+
+
+Einmal lebte ein armer Tagelöhner, der sich mit seiner Frau kümmerlich
+von einem Tage zum andern durchbrachte. Von drei Kindern war ihnen das
+jüngste, ein Sohn, geblieben, der neun Jahr alt war, als man erst den
+Vater und dann die Mutter begrub. Dem Knaben blieb nichts übrig, als vor
+den Thüren guter Menschen sein Brot zu suchen. Nach Jahresfrist gerieth
+er auf den Hof eines wohlhabenden Bauerwirths, wo man gerade einen
+Hüterknaben brauchte. Der Wirth war nicht eben böse, aber das Weib hatte
+die Hosen an und regierte im Hause wie ein böser Drache (»Schüreisen«).
+Wie es dem armen Waisenknaben da erging, läßt sich denken. Die Prügel,
+die er alle Tage bekam, wären dreimal mehr als genug gewesen, Brot aber
+wurde nie soviel gereicht, daß er satt geworden wäre. Da aber das
+Waisenkind nichts Besseres zu hoffen hatte, mußte es sein Elend
+ertragen. Zum Unglück verlor sich eines Tages eine Kuh von der Herde;
+wohl lief der Knabe bis Sonnenuntergang den Wald entlang, von einer
+Stelle zur andern, aber er fand die verlorene Kuh nicht wieder. Obwohl
+er wußte, was seinem Rücken zu Hause bevorstand, mußte er doch jetzt
+nach Sonnenuntergang die Herde zusammentreiben. Die Sonne war noch
+nicht lange unter dem Horizont, da hörte er schon der Wirthin Stimme:
+»Fauler Hund! wo bleibst du mit der Herde?« Da half kein Zaudern, nur
+rasch nach Hause unter den Stock. Zwar dämmerte es schon, als die Herde
+zur Pforte hereinkam, aber das scharfe Auge der Wirthin hatte sogleich
+entdeckt, daß eine Kuh fehle. Ohne ein Wort zu sagen, riß sie den
+nächsten Staken aus dem Zaun und begann damit den Rücken des Knaben zu
+bearbeiten, als wollte sie ihn zu Brei stampfen. In der Wuth hätte sie
+ihn auch zu Tode geprügelt oder ihn auf Zeit Lebens zum Krüppel gemacht,
+wenn der Wirth, der das Schreien und Schluchzen hörte, dem Armen nicht
+mitleidig zu Hülfe gekommen wäre. Da er die Gemüthsart des tückischen
+Weibes genau kannte, so wollte er sich nicht geradezu dazwischen legen,
+sondern suchte zu vermitteln. Er sagte halb in bittendem Tone: »Brich
+ihm lieber die Beine nicht entzwei, damit er doch die verlorene Kuh
+suchen kann. Davon werden wir mehr Nutzen haben, als wenn er umkommt.«
+»Wahr,« sagte die Wirthin, »das Aas kann auch die theure Kuh nicht
+ersetzen,« -- zählte ihm noch ein Paar tüchtige Hiebe auf und schickte
+ihn dann fort, die Kuh zu suchen. »Wenn du ohne die Kuh zurückkommst,«
+-- setzte sie drohend hinzu, --»so schlage ich dich todt.« Weinend und
+stöhnend ging der Knabe zur Pforte hinaus und geradeswegs in den Wald,
+wo er Tages mit der Herde gewesen war, suchte die ganze Nacht, fand aber
+nirgends eine Spur von der Kuh. Als am andern Morgen die Sonne sich aus
+dem Schoße der Morgenröthe erhoben hatte, war des Knaben Entschluß
+gefaßt. »Werde aus mir, was da wolle, nach Hause gehe ich nicht
+wieder.« Mit diesen Worten nahm er Reißaus und lief in einem Athem
+vorwärts, so daß er das Haus bald weit hinter sich hatte. Wie lange und
+wie weit er so gelaufen war, wußte er selber nicht, als ihm aber zulegt
+die Kraft ausging und er wie todt niederfiel, stand die Sonne fast schon
+in Mittagshöhe. Als er aus einem langen schweren Schlafe erwachte, kam
+es ihm vor, als ob er etwas Flüssiges im Munde gehabt habe, und er sah
+einen kleinen alten Mann mit langem grauen Barte vor sich stehen, der
+eben im Begriffe war, den Spund wieder auf den Lägel (Milchfäßchen) zu
+setzen. »Gieb mir noch zu trinken!« bat der Knabe. »Für heute hast du
+genug,« erwiederte der alte Vater, »wenn mein Weg mich nicht zufällig
+hierher geführt hätte, so wäre es sicher dein letzter Schlaf gewesen,
+denn als ich dich fand, warst du schon halb todt.« Dann befragte der
+Alte den Knaben, wer er wäre und wohin er wollte. Der Knabe erzählte
+Alles, was er erlebt hatte so lange er sich erinnern konnte, bis zu den
+Schlägen von gestern Abend. Schweigend und nachdenklich hatte der Alte
+die Erzählung angehört, und nachdem der Knabe schon eine Weile verstummt
+war, sagte jener ernsthaft: »Mein liebes Kind! dir ist es nicht besser
+noch schlimmer ergangen als so Manchen, deren liebe Pfleger und Tröster
+im Sarge unter der Erde ruhen. Zurückkehren kannst du nicht mehr. Da du
+einmal fortgegangen bist, so mußt du dir ein neues Glück in der Welt
+suchen. Da ich weder Haus noch Hof, weder Weib noch Kind habe, so kann
+ich auch nicht weiter für dich sorgen, aber einen guten Rath will ich
+dir umsonst geben. Schlafe diese Nacht hier ruhig aus; wenn morgen die
+Sonne aufgeht, so merke dir genau die Stelle, wo sie emporstieg. In
+dieser Richtung mußt du wandern, so daß dir die Sonne jeden Morgen in's
+Gesicht und jeden Abend in den Nacken scheint. Deine Kraft wird von Tage
+zu Tage wachsen. Nach sieben Jahren wird ein mächtiger Berg vor dir
+stehen, der so hoch ist, daß sein Gipfel bis an die Wolken reicht. Dort
+wird dein künftiges Glück blühen. Nimm meinen Brotsack und mein Fäßchen,
+du wirst darin täglich soviel Speise und Trank finden, als du bedarfst.
+Aber hüte dich davor, jemals ein Krümchen Brot oder ein Tröpfchen vom
+Trank unnütz zu vergeuden, sonst könnte deine Nahrungsquelle leicht
+versiegen. Einem hungrigen Vogel und einem durstigen Thiere darfst du
+reichlich geben: Gott sieht es gern, wenn ein Geschöpf dem andern Gutes
+thut. Auf dem Grunde des Brotsacks wirst du ein zusammengerolltes
+Klettenblatt finden; das mußt du sehr sorgfältig in Acht nehmen. Wenn du
+auf deinem Wege an einen Fluß oder einen See kommst, so breite das
+Klettenblatt auf dem Wasser aus, es wird sich sofort in einen Nachen
+verwandeln und dich über die Flut tragen. Dann wickele das Blatt wieder
+zusammen und stecke es in deinen Brotsack.« Nach dieser Unterweisung gab
+er dem Knaben Sack und Fäßchen und rief: »Gott befohlen!« Im nächsten
+Augenblick war er den Augen des Knaben entschwunden.
+
+Der Knabe hätte Alles für einen Traum gehalten, wenn nicht Sack und
+Fäßchen in seiner Hand die Wirklichkeit des Geschehenen bezeugt hätten.
+Er ging jetzt daran, den Brotsack zu prüfen und fand darin: ein halbes
+Brot, ein Schächtelchen voll gesalzener Strömlinge, ein anderes mit
+Butter und dazu noch ein hübsches Stückchen Speckschwarte. Als der Knabe
+sich satt gegessen hatte, legte er sich schlafen, Sack und Fäßchen unter
+dem Kopfe, damit kein Dieb sie wegnehmen könne. Den andern Morgen wachte
+er mit der Sonne auf, stärkte seinen Körper durch Speise und Trank und
+machte sich dann auf die Wanderung. Wunderbarer Weise fühlte er gar
+keine Müdigkeit in seinen Beinen; erst der leere Magen mahnte ihn daran,
+daß die Mittagszeit gekommen war. Er sättigte sich mit der guten Kost,
+that ein Schläfchen und wanderte weiter. Daß er den rechten Weg
+eingeschlagen hatte, sagte ihm die untergehende Sonne, die ihm gerade im
+Nacken stand. So war er viele Tage in derselben Richtung vorwärts
+gegangen, als er einen kleinen See vor sich erblickte. Hier konnte er
+die Kraft seines Klettenblattes prüfen. Wie es der alte Mann
+vorausgesagt hatte, so geschah es: ein kleines Boot mit Rudern lag vor
+ihm auf dem Wasser. Er stieg ein, und einige tüchtige Ruderschläge
+führten ihn an's andere Ufer. Dort verwandelte sich das Boot wieder in
+ein Klettenblatt, und dieses ward in den Sack gesteckt.[32]
+
+So war der Knabe schon manches Jahr gewandert, ohne daß die Nahrung im
+Brotsack und im Fäßchen abgenommen hätte. Sieben Jahre konnten recht gut
+verstrichen sein, denn er war zu einem kräftigen Jüngling
+herangewachsen; da sah er eines Tages von weitem einen hohen Berg, der
+bis in die Wolken hinein zu ragen schien. Es verging aber noch eine
+Woche, ehe er den Berg erreichte. Dann setzte er sich am Fuße des
+Berges nieder, um auszuruhen und zu sehen, ob die Prophezeiungen des
+alten Mannes in Erfüllung gehen würden. Er hatte noch nicht lange
+gesessen, als ein eigentümliches Zischen sein Ohr berührte: gleich
+darauf wurde eine große Schlange sichtbar, welche mindestens zwölf
+Klafter lang war und sich dicht bei dem jungen Manne vorbeiwand.
+Schrecken lähmte seine Glieder, so daß er nicht fliehen konnte; aber im
+Nu war auch die Schlange vorüber. Dann blieb ein Weilchen Alles still.
+Darauf schien es ihm, als käme aus der Ferne ein schwerer Körper in
+einzelnen Sätzen herangehüpft. Es war eine große Kröte, so groß wie ein
+zweijähriges Füllen. Auch dieses häßliche Geschöpf zog an dem Jüngling
+vorüber, ohne ihn gewahr zu werden. Sodann vernahm er in der Höhe ein
+starkes Rauschen, als wenn ein schweres Gewitter sich erhebe. Als er
+hinauf sah, flog hoch über seinem Haupte ein großer Adler in derselben
+Richtung, welche vorher die Schlange und die Kröte genommen hatten. »Das
+sind wunderbare Dinge, die mir Glück bringen sollen!« dachte der
+Jüngling. Da sieht er plötzlich einen Mann auf einem schwarzen Pferde
+auf sich zu kommen. Das Pferd schien Flügel an den Füßen zu haben, denn
+es flog mit Windesschnelle. Als der Mann den Jüngling am Berge sitzen
+sah, hielt er sein Pferd an und fragte, »Wer ist hier vorübergekommen?«
+Der Jüngling erwiederte: »Erstens eine große Schlange, wohl zwölf
+Klafter lang, dann eine große Kröte von der Größe eines zweijährigen
+Füllens und endlich ein großer Adler hoch über meinem Kopfe. Wie groß er
+war, konnte ich nicht abschätzen, aber sein Flügelschlag rauschte wie
+ein Gewitter daher.« -- »Du hast recht gesehen,« sagte der Fremde, »es
+sind meine schlimmsten Feinde, und ich jage ihnen jetzt eben nach. Dich
+könnte ich in meinem Dienste brauchen, wenn du nichts Besseres vor hast.
+Klettere über den Berg, so kommst du gerade in mein Haus. Ich werde dort
+mit dir zugleich anlangen, wenn nicht noch früher.« -- Der junge Mann
+versprach zu kommen, worauf der Fremde wie der Wind davon ritt.
+
+Es war nicht leicht, den Berg zu erklimmen. Unser Wanderer brauchte drei
+Tage, ehe er den Gipfel erreichte, und dann wieder drei Tage, ehe er auf
+der andern Seite an den Fuß des Berges gelangte. Der Wirth stand schon
+vor seinem Hause und erzählte, daß er Schlange und Kröte glücklich
+erschlagen habe, des Adlers aber nicht habhaft geworden sei. Dann fragte
+er den jungen Mann, ob er Lust habe, als Knecht bei ihm einzutreten.
+»Gutes Essen bekommst du täglich, soviel du willst, und auch mit dem
+Lohne will ich nicht geizen, wenn du dein Amt getreulich verwaltest.«
+Der Vertrag wurde abgeschlossen und der Wirth führte den neuen Knecht im
+Hause umher, und zeigte ihm, was er zu thun habe. Es war dort ein Keller
+im Felsen angebracht und durch dreifache Eisenthüren verschlossen. »In
+diesem Keller sind meine bösen Hunde angekettet,« sagte der Wirth, »du
+mußt dafür sorgen, daß sie sich nicht unterhalb der Thür mit den Pfoten
+herausgraben. Denn wisse: wenn auch nur einer dieser Hunde frei würde,
+so wäre es nicht mehr möglich, die beiden anderen fest zu halten,
+sondern sie würden nacheinander dem Führer folgen und alles Lebendige
+auf Erden vertilgen. Wenn endlich der letzte Hund ausbräche, so wäre
+das Ende der Welt da, und die Sonne hätte zum letzten Male geschienen.«
+Darauf führte er den Knecht an einen Berg, den Gott nicht geschaffen
+hatte, sondern der von Menschenhänden aus mächtigen Felsblöcken
+aufgethürmt war. »Diese Steine« -- sagte der Wirth -- »sind deßwegen
+zusammengetragen, damit immer wieder ein neuer Stein hingewälzt werden
+kann, so oft die Hunde ein Loch ausgraben. Die Ochsen, welche den Stein
+führen sollen, will ich dir im Stalle zeigen, und dir auch alles Uebrige
+mittheilen, was du dabei zu beobachten hast.«
+
+Im Stalle fanden sie an hundert schwarze Ochsen, deren jeder sieben
+Hörner hatte; sie waren reichlich zwei Mal so groß wie die größesten
+Ukrainer Ochsen. »Sechs Paar Ochsen vor die Steinfuhre gespannt, führen
+einen Stein mit Leichtigkeit weg. Ich werde dir eine Brechstange geben,
+wenn du den Stein damit berührst, rollt er von selbst auf den Wagen. Du
+siehst, deine Arbeit ist so mühsam nicht, desto größer muß deine
+Wachsamkeit sein. Drei Mal bei Tage und ein Mal bei Nacht mußt du nach
+der Thür sehen, damit kein Unglück geschieht, der Schade könnte sonst
+größer sein, als du vor mir verantworten könntest.«
+
+Bald hatte unser Freund Alles begriffen und sein neues Amt war ganz nach
+seinem Sinne: alle Tage das beste Essen und Trinken, wie es ein Mensch
+nur begehren konnte. Nach zwei bis drei Monaten hatten die Hunde ein
+Loch unter der Thür gekratzt, groß genug, um die Schnauze
+durchzustecken, aber sogleich wurde ein Stein davor gestemmt, und die
+Hunde mußten ihre Arbeit von neuem beginnen.
+
+So waren viele Jahre verstrichen und unser Knecht hatte sich ein
+hübsches Stück Geld gesammelt. Da erwachte in ihm das Verlangen, ein Mal
+wieder unter andere Menschen zu kommen; er hatte so lange in kein
+anderes Menschenantlitz gesehen, als in das seines Herrn. War der Herr
+auch gut, so wurde dem Knecht doch die Zeit entsetzlich lang, zumal wenn
+den Herrn die Lust anwandelte, einen langen Schlaf zu halten. Dann
+schlief er immer sieben Wochen lang ohne Unterbrechung und ohne sich
+sehen zu lassen.
+
+Wieder war einmal eine solche Schlaflaune über den Wirth gekommen, als
+eines Tages ein großer Adler sich auf dem Berge niederließ und so zu
+sprechen anhub: »Bist du nicht ein großer Thor, daß du dein schönes
+Leben für gute Kost hinopferst? Dein zusammengespartes Geld nützt dir
+nichts, denn es sind ja keine Menschen hier, die es brauchen. Nimm des
+Wirthes windschnelles Roß aus dem Stalle, binde ihm deinen Geldsack um
+den Hals, setze dich auf und reite in der Richtung fort, wo die Sonne
+untergeht, so kommst du nach wenig Wochen wieder unter Menschen. Du mußt
+aber das Pferd an einer eisernen Kette fest binden, damit es nicht davon
+laufen kann, sonst kehrt es zu seiner gewohnten Stätte zurück und der
+Wirth kann kommen, um dich anzufechten. Wenn er aber das Pferd nicht
+hat, so kann er nicht von der Stelle.« »Wer soll denn hier die Hunde
+bewachen, wenn ich weggehe, während der Wirth schläft?« fragte der
+Knecht. »Ein Thor bist du, und ein Thor bleibst du!« erwiederte der
+Adler. »Hast du denn noch nicht begriffen, daß der liebe Gott ihn dazu
+geschaffen hat, daß er die Höllenhunde bewache? Es ist reine Faulheit,
+daß er sieben Wochen schläft. Wenn er keinen fremden Knecht mehr hat, so
+wird er sich aufraffen und seines Amtes selber warten.«
+
+Der Rath gefiel dem Knechte sehr. Er that, wie der Adler gesagt hatte,
+nahm das Pferd, band ihm den Geldsack um, setzte sich auf und ritt
+davon. Noch war er nicht gar weit vom Berge, als er schon hinter sich
+den Wirth rufen hörte: »Halt an! Halt an! Geh' in Gottes Namen mit
+deinem Gelde, aber laß mir mein Pferd.« Der Knecht hörte nicht darauf,
+sondern ritt immer weiter, bis er nach einigen Wochen wieder zu
+sterblichen Menschen kam. Dort baute er sich ein hübsches Haus, freite
+ein junges Weib, und lebte glücklich als reicher Mann. Wenn er nicht
+gestorben ist, so muß er noch heute leben; aber das windschnelle Roß ist
+schon längst verschieden.
+
+[Fußnote 32: Vergleiche das »See spielen« im Märchen 4 vom Tontlawald,
+und das Märchen 11, Der Zwerge Streit. L.]
+
+
+
+
+8. Schlaukopf.[33]
+
+
+In den Tagen des Kalew-Sohnes lebte im Kungla-Lande[34] ein sehr reicher
+König, der seinen Unterthanen alle sieben Jahre in der Mitte des Sommers
+ein großes Gelage gab, das jedesmal zwei, auch drei Wochen
+hintereinander dauerte. Das Jahr eines solchen Festes war wieder
+herangekommen und man erwartete den Beginn desselben binnen einigen
+Monaten; aber die Leute schienen dies Mal noch unsicher in ihren
+Hoffnungen, weil ihnen nämlich schon zwei Mal, vor vierzehn und vor
+sieben Jahren, die erwartete Freude zu Wasser geworden war. Von Seiten
+des Königs war beide Male hinlänglich für die nöthigen Vorräthe gesorgt
+worden, aber keines Menschen Zunge war dazu gekommen, sie zu kosten.
+Wohl schien die Sache wunderbar und unglaublich, aber es fanden sich
+aller Orten viele Menschen, welche die Wahrheit derselben als
+Augenzeugen bekräftigten. Beide Male, -- so wurde erzählt -- als die
+Gäste der hergerichteten Speisen und Getränke warteten, war ein
+unbekannter fremder Mann zum Oberkoch gekommen und hatte ihn gebeten,
+von Speise und Trank ein paar Mundvoll kosten zu dürfen; aber das bloße
+Eintunken des Löffels in den Suppenkessel und das Heben der Bierkanne
+zum Munde hatte hingereicht, um mit wunderbarer Gewalt alle
+Vorrathskammern, Schaffereien und Keller leer zu machen, so daß auch
+kein Körnchen und kein Tröpfchen übrig blieb.[35] Köche und Küchenjungen
+hatten alle den Vorfall gesehen und beschworen; gleichwohl war des
+Volkes Zorn über die zerstörte Festfreude so groß, daß der König, um die
+Leute zu besänftigen, vor sieben Jahren den Oberkoch hatte aufhängen
+lassen, weil er dem Fremden die verlangte Erlaubnis gegeben hatte. Damit
+nun jetzt nicht abermals ein solches Aergerniß entstünde, war von Seiten
+des Königs demjenigen, der die Herstellung des Festes übernähme, eine
+reiche Belohnung zugesichert worden: und als gleichwohl Niemand die
+Verantwortlichkeit auf sich nehmen wollte, versprach der König endlich
+dem Uebernehmer seine jüngste Tochter zur Gemahlin; wenn aber die Sache
+unglücklich ausfiele, sollte er mit seinem Leben für den Schaden büßen.
+
+An der Grenze des Reichs, weit von der Königsstadt, wohnte ein
+wohlhabender Bauer mit drei Söhnen, von denen der jüngste schon von
+klein auf einen scharfen Verstand zeigte, weil die Rasenmutter[36] ihn
+aufgezogen und ihn gar oft heimlich an ihrer Brust gesäugt hatte. Der
+Vater nannte diesen Sohn deshalb _Schlaukopf_. Er pflegte zu seinen Söhnen
+zu sagen: »Ihr, die beiden älteren Brüder, müsset durch Körperkraft und
+Händearbeit euch das tägliche Brod verdienen; du, kleiner Schlaukopf,
+kannst durch deinen Verstand in der Welt fortkommen und dich einmal über
+deine Brüder emporschwingen.« -- Vor seinem Tode teilte er Aecker und
+Wiesen zu gleichen Theilen unter seine beiden älteren Söhne. Dem
+jüngsten gab er so viel Reisegeld, daß er in die weite Welt gehen
+konnte, um sein Glück zu versuchen. Noch war des Vaters Leiche auf dem
+Tische nicht kalt geworden, als auch die älteren Brüder ihrem jüngsten
+Alles bis auf den letzten Kopeken wegnahmen, dann warfen sie ihn zur
+Thür hinaus und riefen ihm höhnisch nach: »Du schlauer Kopf sollst dich
+über uns erheben und blos durch deinen Verstand in der Welt fortkommen,
+drum könnte das Geld dir lästig sein!«
+
+Der jüngste Bruder schlug sich die Mißgunst seiner beiden Brüder aus dem
+Sinne und machte sich sorglos auf den Weg. »Gott giebt wohl schon
+Glück!« den Spruch hatte er sich zum Trost und Begleiter aus dem
+Vaterhause mitgenommen; er pfiff die trüben Gedanken fort und ging
+leichten Schrittes weiter. Als er anfing Hunger zu verspüren, traf er
+zufällig mit zwei reisenden Handwerksgesellen zusammen. Sein angenehmes
+Wesen und seine Scherzreden gefielen den Gesellen, sie gaben ihm, als
+Rast gehalten wurde, von ihrer Kost ab, und so brachte Schlaukopf den
+ersten Tag glücklich zu Ende. Er trennte sich vor Abend von den Gesellen
+und ging vergnügt fürbaß, denn das Gefühl der Sättigung ließ keine Sorge
+für den nächsten Tag aufkommen. Ein Nachtlager bot sich ihm überall, wo
+der grüne Rasen die Diele unter ihm und der blaue Himmel das Dach über
+ihm bildete; ein Stein unter dem Haupte diente als weiches Schlafkissen.
+Am folgenden Tage kam er Vormittags an ein einsames Gehöft. Vor der Thür
+saß eine junge Frau und weinte kläglich. Schlaukopf fragte, was sie so
+sehr bekümmere, und erfuhr Folgendes: »Ich habe einen schlimmen Mann,
+der mich alle Tage schlägt, wenn ich seine tollen Launen nicht
+befriedigen kann. Heute befahl er mir, ihm zur Nacht einen Fisch zu
+kochen, der kein Fisch sein dürfe, und der wohl Augen, aber nicht am
+Kopfe habe. Wo auf der Welt soll ich ein solches Thier finden?« --
+»Weine nicht, junges Weibchen« -- tröstete sie Schlaukopf: »dein Mann
+will einen Krebs, der zwar im Wasser lebt, aber kein Fisch ist, und der
+auch Augen hat, aber nicht im Kopfe.«[37] Die Frau dankte für die gute
+Belehrung, gab ihm zu essen und noch einen Brotsack mit auf die Reise,
+von dem er manchen Tag leben konnte. Da ihm nun diese unvermuthete Hülfe
+geworden war, beschloß er sogleich in die Königsstadt zu gehen, wo
+Klugheit am Meisten werth sein müsse, und wo er sicher sein Glück zu
+finden hoffte.
+
+Ueberall, wohin er kam, hörte er von nichts Anderem sprechen, als von
+dem Sommerfeste des Königs. Als er erfuhr, was für ein Lohn demjenigen
+verheißen war, der das Fest herstellen werde, ging er mit sich zu Rathe,
+ob es nicht möglich sei, die Sache zu übernehmen. Gelingt es -- so
+sprach er zu sich selbst -- so bin ich mit einem Male auf dem Wege zum
+Glücke. Was sollte ich wohl fürchten? Im allerschlimmsten Falle würde
+ich mein Leben verlieren, allein sterben müssen wir doch einmal, sei es
+früher oder später. Wenn ich's beim rechten Ende anfange, warum sollte
+es nicht gehen? Vielleicht habe ich mehr Glück als die Andern. Und gäbe
+mir dann auch der König seine Tochter nicht, so muß er mir doch den
+versprochenen Lohn an Gelde auszahlen, der mich zum reichen Manne macht.
+Unter diesen Gedanken schritt er vorwärts, sang und pfiff wie eine
+Lerche, ruhte zuweilen im Schatten eines Busches von des Tages Hitze
+aus, schlief die Nacht unter einem Baume oder im Freien, und langte
+glücklich an einem Abend in der Königsstadt an, nachdem er am Morgen
+seinen Brotsack bis auf den Grund geleert hatte. Am folgenden Tage erbat
+er sich Zutritt zum Könige. Dieser sah, daß er es mit einem gescheuten
+und unternehmenden Menschen zu thun hatte und so wurde man leicht
+Handels einig. Dann fragte der König: »Wie heißt du?« Der Mann von Kopf
+erwiederte: »Mein Taufname ist Nikodemus, aber zu Hause wurde ich immer
+_Schlaukopf_ genannt, um anzudeuten, daß ich nicht auf den Kopf gefallen
+bin.« »Ich will dir diesen Namen lassen,« -- sagte der König, -- »denn
+dein Kopf muß mir für allen Schaden einstehen, wenn die Sache schief
+geht!«
+
+_Schlaukopf_ bat sich vom Könige siebenhundert Arbeiter aus und machte
+sich ungesäumt an die Vorbereitungen zum Feste. Er ließ zwanzig große
+Riegen[38] aufführen, die nach Art gutsherrlicher Viehställe im Viereck
+zu stehen kamen, so daß ein weiter Hofraum in der Mitte blieb, zu
+welchem eine einzige große Pforte hineinführte. In den heizbaren Räumen
+ließ er große Kochgrapen und Kessel einmauern, und die Oefen mit
+Eisenrosten versehen, um darauf Fleisch, Blutklöße und Würste zu braten.
+Andere Riegen wurden mit Kesseln und großen Kufen zum Bierbrauen
+versehen, so daß oben die Kessel, unten die Kufen standen. Noch andere
+Häuser ohne Feuerstellen wurden aufgeführt, um zu Schaffereien für kalte
+Speisen zu dienen, die eine um Schwarzbrot, die andere um Hefenbrot[39],
+die dritte um Weißbrot u. s. w. aufzubewahren. Alle nöthigen Vorräthe,
+wie Mehl, Grütze, Fleisch, Salz, Fett. Butter u. dgl. wurden auf dem
+Hofraum aufgestapelt, und dann wurden funfzig Soldaten als Wache vor die
+Pforte gestellt, damit kein Diebesfinger etwas antasten könnte. Der
+König besichtigte alle Tage die Zurüstungen und rühmte _Schlaukopfs_
+Geschick und Klugheit. Außer dem wurden noch einige Dutzend Backöfen im
+Freien erbaut, und vor jedem Ofen eine eigene Abtheilung Wachtsoldaten
+aufgestellt. Für das Fest wurden geschlachtet tausend Mastochsen,
+zweihundert Kälber, fünfhundert Schweine und Ferkel, zehntausend Schafe
+und noch viel anderes Kleinvieh, das herdenweise von allen Seiten
+zusammengetrieben wurde. Auf den Flüssen sah man Kähne und Böte, auf den
+Landstraßen Frachtwagen unaufhörlich Proviant zuführen, und zwar waren
+die Fuhren nun schon seit Wochen in Bewegung. An Bier allein wurden
+siebentausend Ahm gebraut. Wiewohl die siebenhundert Gehülfen von früh
+bis spät arbeiteten, und ab und zu auch noch Tagelöhner angenommen
+wurden, so lastete doch die meiste Sorge und Mühe auf _Schlaukopf_, weil
+seine Einsicht die Andern in allen Stücken leiten mußte. Den Köchen,
+Bäckern und Brauern hatte er aufs strengste eingeschärft, nicht
+zuzulassen, daß ein fremder Mund von den Speisen und Getränken koste;
+wer gegen diesen Befehl handle, dem war der Galgen angedroht. Sollte
+sich aber irgendwo so ein naschhafter Fremder zeigen, so müsse derselbe
+augenblicklich vor den obersten Anordner des Festes gebracht werden.
+
+Am Morgen des ersten Festtages erhielt _Schlaukopf_ Nachricht, daß ein
+unbekannter alter Mann in eine Küche gekommen sei und den Koch um
+Erlaubniß gebeten habe, aus dem Suppengrapen mit dem Schöpflöffel ein
+wenig zu kosten, was ihm der Koch nun also auf eigene Hand nicht
+gestatten durfte. _Schlaukopf_ befahl, den Fremden vorzuführen, und bald
+erschien ein kleiner alter Mann mit grauen Haaren, welcher demüthig um
+Erlaubniß bat, die Festspeisen und das Getränk schmecken zu dürfen.
+_Schlaukopf_ hieß ihn in eine der Küchen mitkommen, dort wolle er, wenn es
+möglich sei, den ausgesprochenen Wunsch erfüllen. Während sie gingen,
+sah er scharf hin, ob an dem Alten nicht irgend etwas Absonderliches zu
+entdecken sei. Da erblickte er einen glänzenden goldenen Ring an dem
+Ringfinger der linken Hand des Alten. Als sie in die Küche getreten
+waren, fragte _Schlaukopf_: »Was für ein Pfand kannst du mir geben, daß
+kein Schaden entsteht, wenn ich dich die Speise kosten lasse?« »Gnädiger
+Herr,« -- erwiederte der Fremde -- »ich habe dir nichts zum Pfande zu
+geben.« _Schlaukopf_ zeigte auf den schönen goldenen Ring und verlangte
+ihn zum Pfande.[40] Dagegen sträubte sich der alte Schelm, indem er
+versicherte, der Ring sei ein Andenken seiner verstorbenen Frau und er
+dürfe ihn einem Gelübde zufolge niemals aus der Hand geben, weil sonst
+Unglück kommen könnte. »Dann ist es mir auch nicht möglich, dein
+Verlangen zu erfüllen,« sagte _Schlaukopf_ -- »ohne Pfand kann ich
+Niemanden weder Festes noch Flüssiges schmecken lassen.« Den Alten
+stachelte die Lüsternheit so sehr, daß er endlich seinen Ring zum Pfande
+gab. Als er jetzt den Löffel in den Kessel tunken wollte, versetzte ihm
+_Schlaukopf_ von hinten mit dem Rücken eines Beiles einen so gewaltigen
+Schlag auf den Kopf, daß der stärkste Mastochse davon umgefallen wäre,
+aber der alte Schelm sank nicht, sondern taumelte nur ein Bischen.
+_Schlaukopf_ packte ihn jetzt mit beiden Händen am Barte und ließ starke
+Stricke bringen, mit denen dem Alten Hände und Füße festgebunden wurden,
+worauf er bei den Beinen an einem Balken in die Höhe gezogen wurde.
+_Schlaukopf_ rief ihm spottend zu: »Da warte nun, bis die Festtage
+vorüber sind, dann wollen wir weiter miteinander abrechnen. Der Ring, in
+welchem deine Kraft steckt, bleibt mir inzwischen als Pfand.« Der Alte
+mußte sich wohl oder übel zufrieden geben; er konnte, gefesselt wie er
+war, nicht Hand noch Fuß bewegen.
+
+Jetzt begann das Gelage, zu welchem die Leute zu Tausenden von allen
+Seiten herbeigeströmt waren. Obwohl die Gasterei volle drei Wochen
+dauerte, so mangelte es doch weder an Speise noch an Trank, vielmehr
+blieb von Allem noch ein gut Theil übrig.
+
+Das Volk war voll Dank und Preis für den König und den Hersteller des
+Festes. Als der König diesem den bedungenen Lohn ausbezahlen wollte,
+sagte _Schlaukopf_: »Ich habe noch mit dem Fremden ein kleines Geschäft
+abzumachen, ehe ich meinen Lohn in Empfang nehme.« Dann nahm er sieben
+starke Männer mit sich, die er mit tüchtigen Knütteln versorgen ließ,
+und führte sie dahin, wo er den Alten vor drei Wochen an einen Balken
+aufgehängt hatte. »Ihr Männer! Fasset die Knüttel fest in die Faust und
+verarbeitet mir den Alten, daß er dieses Bad und unser Gastgebot in
+seinem Leben nicht vergesse!« -- Die Männer begannen nun alle sieben den
+Alten greulich durchzugerben, so daß sie ihm fast das Leben genommen
+hätten; aber von ihren harten Schlägen riß endlich der Strick. Das
+Männlein fiel herunter und verschwand im Nu unter der Erde, hinterließ
+aber eine breite Oeffnung. Schlaukopf sagte: »Ich habe ein Pfand, mit
+welchem ich ihm folgen muß. Bringet dem Könige viele tausend Grüße und
+saget ihm, er möge, wenn ich nicht zurück kommen sollte, meinen Lohn
+unter die Armen vertheilen.«
+
+Er kroch nun durch dasselbe Schlupfloch, durch welches der Alte
+verschwunden war, in die Tiefe. Anfangs fand er den Weg sehr eng, aber
+einige Klafter tiefer wurde er viel breiter, so daß man leicht vorwärts
+kommen konnte. Eingehauene Stufen bewahrten den Fuß davor, daß er trotz
+der Finsterniß nicht glitt. _Schlaukopf_ war eine Weile gegangen, als er
+an eine Thür kam. Er lugte durch eine kleine Oeffnung und sah drei junge
+Mädchen sitzen und den ihm wohlbekannten Alten, dessen Kopf dem einen
+der Mädchen im Schooße lag. Das Mädchen sagte: »Wenn ich noch ein Paar
+Mal die Beule mit der Klinge presse, so vergeht Geschwulst und Schmerz.«
+_Schlaukopf_ dachte, das ist gewiß die Stelle, die ich vor drei Wochen mit
+dem Rücken des Beils gezeichnet habe. Er nahm sich vor, so lange hinter
+der Thür zu warten, bis der Hausherr sich schlafen gelegt habe und das
+Feuer ausgelöscht sei. Der Alte bat: »Helft mir in die Kammer, daß ich
+mich zu Bette lege, mein Körper ist ganz aus den Gelenken, ich kann
+nicht Hand noch Fuß regen.« Darauf wurde er in die Schlafkammer geführt.
+Während der Dämmerung, als die Mädchen das Gemach verlassen hatten,
+schlich _Schlaukopf_ herein und fand ein Versteck hinter dem
+Biertönnchen.[41]
+
+Die Mädchen kamen bald zurück und sprachen leise miteinander, um den
+alten Papa nicht aufzuwecken. »Die Kopfbeule hätte nichts zu sagen,«
+meinte die eine, -- »und der verrenkte Körper würde sich auch schon
+wieder herstellen, aber der verlorene Kraftring ist ein unersetzlicher
+Schade, und der quält den Alten wohl mehr als sein körperlicher
+Schmerz.« Als man später den Alten schnarchen hörte, trat _Schlaukopf_ aus
+seinem Versteck hervor und befreundete sich mit den Mädchen. Anfangs
+sahen diese wohl erschrocken drein, aber der verschlagene Jüngling wußte
+ihre Furcht zu beschwichtigen, so daß sie ihn zur Nacht da bleiben
+ließen. Er hatte von den Mädchen herausgebracht, daß der Alte zwei ganz
+besondere Dinge besitze, ein berühmtes Schwert und eine Gerte vom
+Ebereschenbaum,[42] und er gedachte beides mit zu nehmen. Die Gerte
+schuf auf dem Meere eine Brücke vor ihrem Besitzer her, und mit dem
+Schwerte ließ sich das zahlreichste Heer vernichten. Den folgenden Abend
+hatte sich _Schlaukopf_ richtig des Schwertes und der Gerte bemächtigt,
+und war vor Tagesanbruch mit Hülfe des jüngsten Mädchens entkommen. Aber
+vor der Thür fand er das alte Schlupfloch nicht mehr, sondern einen
+großen Hofplatz und weiterhin wogte das Meer hinter der Koppel.
+
+Unter den Mädchen hatte sich nach seinem Scheiden ein Wortwechsel
+erhoben, der so heftig wurde, daß der Alte von dem Lärm erwachte. Aus
+ihrem Zanke wurde ihm klar, daß ein Fremder hier verkehrt hatte, er
+stand zornig auf und fand Schwert und Gerte entwendet. »Mein bester
+Schatz ist mir geraubt!« brüllte er, vergaß allen Körperschmerz und
+stürmte hinaus. _Schlaukopf_ saß noch immer am Meeresufer und sann
+darüber, ob er die Kraft der Gerte erproben oder sich einen trockenen
+Weg suchen solle. Plötzlich hört er hinter sich ein Sausen wie von einer
+Windsbraut. Als er sich umsieht, erblickt er den Alten, der wie toll
+gerade auf ihn los rennt. Er springt auf und hat eben noch Zeit, mit der
+Gerte auf die Wellen zu schlagen und zu rufen: »Brücke vorn, Wasser
+hinten!«[43] Kaum hat er das Wort gesprochen, so befindet er sich auf
+einer Brücke im Meere, schon eine Strecke vom Ufer entfernt.
+
+Der Alte kommt ächzend und keuchend an's Ufer und bleibt stehen, als er
+den Dieb auf der Brücke über dem Meere sieht. Schnaufend ruft er:[44]
+»Nikodemus, Söhnchen! wo willst du hin?« -- »Nach Hause, Papachen!« war
+die Antwort. »Nikodemus, Söhnchen! du hast mir mit dem Beil auf den Kopf
+geschlagen und mich bei den Beinen am Balken ausgehängt?« -- »Ja,
+Papachen.« »Nikodemus, Söhnchen! hast du mich von sieben Mann
+durchprügeln lassen und meinen goldenen Ring geraubt?« -- »Ja,
+Papachen!« »Nikodemus, Söhnchen! hast du dich mit meinen Töchtern
+befreundet?« -- »Ja, Papachen.« »Nikodemus, Söhnchen! hast du das
+Schwert und die Gerte gestohlen?« -- »Ja, Papachen.« »Nikodemus,
+Söhnchen! willst du zurück kommen?« -- »Ja, Papachen!« gab _Schlaukopf_
+wieder zur Antwort. Inzwischen war er auf der Brücke so weit gekommen,
+daß er des Alten Rede nicht mehr hören konnte. Als er über das Meer
+hinübergelangt war, erfragte er den nächsten Weg zur Stadt des Königs
+und eilte dahin, um seinen Lohn zu fordern.
+
+Aber siehe da! er fand hier Alles ganz anders als er gehofft hatte.
+Seine Brüder standen beide im Dienste des Königs, der eine als Kutscher,
+der andere als Kammerdiener. Beide lebten gar lustig: sie waren reiche
+Leute. Als Schlaukopf sich vom Könige seinen Lohn ausbat, sagte dieser:
+»Ich hatte dich ein ganzes Jahr lang erwartet, da aber nichts von dir zu
+hören noch zu sehen war, so hielt ich dich für todt, und wollte deinen
+Lohn unter die Armen vertheilen lassen nach deinem Geheiß. Da kamen aber
+eines Tages deine älteren Brüder, um diesen Lohn zu erben. Ich übergab
+die Sache dem Gericht, welches ihnen den Lohn zuerkannte, wie sich's
+auch gebührte, weil man glaubte, du seiest nicht mehr am Leben. Später
+traten deine Brüder in meinen Dienst, und stehen noch darin.« Als
+_Schlaukopf_ diese Rede des Königs hörte, glaubte er zu träumen, denn
+seines Bedünkens war er nicht länger als zwei Nächte in der
+unterirdischen Behausung des Alten gewesen, und hatte dann einige Tage
+gebraucht, um heimzukehren; jetzt zeigte sich's aber, daß jede Nacht
+Jahreslänge gehabt hatte. Er wollte seine Brüder nicht verklagen, ließ
+ihnen das Geld, dankte Gott, daß er mit dem Leben davon gekommen war und
+sah sich nach einem neuen Dienste um. Der königliche Koch nahm ihn als
+Küchenjungen an, und er mußte jetzt alle Tage den Braten am Spieße
+drehen. Seine Brüder verachteten ihn wegen dieser geringen Handthierung
+und mochten nicht mit ihm umgehen, er aber hatte sie doch lieb. So hatte
+er ihnen auch eines Abends Manches von dem erzählt, was er in der
+Unterwelt gesehen hatte, wo die Gänse und Enten goldenes und silbernes
+Gefieder trugen. Die Brüder hinterbrachten das Gehörte dem Könige und
+baten ihn, er möge ihren jüngsten Bruder doch hinschicken, damit er die
+seltenen Vögel herbringe. Der König ließ den Küchenjungen rufen und
+befahl ihm, sich am nächsten Morgen aufzumachen, um die Vögel mit dem
+kostbaren Gefieder zu holen.
+
+Mit schwerem Herzen machte sich _Schlaukopf_ auf den Weg, nahm aber Ring,
+Gerte und Schwert, die er heimlich bewahrt hatte, mit sich. Nach einigen
+Tagen kam er an den Meeresstrand und sah an der Stelle, wo er auf seiner
+Flucht an's Land gestiegen war, einen alten Mann an einem Steine sitzen.
+Als er näher trat, fragte ihn der Mann, der einen langen grauen Bart
+hatte: »Weßhalb bist du so verdrießlich, Freundchen?« _Schlaukopf_
+erzählte ihm den schlimmen Handel. Der Alte hieß ihn gutes Muths und
+ohne Sorge sein und sagte: »So lange der Kraftring in deiner Hand ist,
+kann dir nichts Böses geschehen.« Dann erhielt _Schlaukopf_ eine Muschel
+von ihm und wurde bedeutet, mit der Zaubergerte die Brücke bis in die
+Mitte des Meeres zu schlagen; alsdann solle er mit dem linken Fuße auf
+die Muschel treten, so werde er dadurch in die Unterwelt gelangen, wo
+das Gesinde gerade schlafen werde. Weiter hieß er ihn aus
+Spinnegewebe[45] einen Sack nähen, um die silber- und goldgefiederten
+Schwimmvögel hineinzuthun; dann solle er unverzüglich zurück kommen.
+_Schlaukopf_ dankte für die erwünschte Anleitung und eilte fort. Die Sache
+ging so, wie vorhergesagt war; aber kaum war er mit seiner Beute bis
+an's Meeresufer gelangt, so hörte er den alten Burschen hinterdrein
+keuchen und vernahm auch, wie er auf die Brücke trat, wieder dieselben
+Fragen als das erste Mal: »Nikodemus, Söhnchen! Du hast mir mit dem
+Rücken des Beils auf den Kopf geschlagen und hast mich bei den Beinen am
+Balken aufgehängt?« u. s. w. bis zuletzt noch die Frage hinzukam, welche
+den an den Schwimmvögeln verübten Diebstahl betraf. _Schlaukopf_
+antwortete auf jede Frage »ja« und eilte weiter.
+
+So wie ihm der Freund mit dem grauen Barte vorausgesagt hatte, kam er am
+Abend mit seiner kostbaren Vogellast in der Stadt des Königs an; der
+Sack aus Spinnegewebe hielt die Thiere so fest, daß keines heraus
+konnte. Der König schenkte ihm ein Trinkgeld und befahl ihm, am
+folgenden Tage wieder hinzugehen, denn er hatte von den älteren Brüdern
+gehört, der Herr der Unterwelt besitze sehr viele goldene und silberne
+Hausgeräthe, und diese begehrte der König für sich. _Schlaukopf_ wagte
+nicht sich dem Befehle zu widersetzen, aber er ging unmuthig von
+dannen, weil er nicht vorher wissen konnte, wie die Sache ablaufen
+würde. Am Meeresufer aber kam ihm der Mann mit dem grauen Barte
+freundlich entgegen und fragte ihn nach der Ursache seiner Betrübniß.
+Alsdann erhielt _Schlaukopf_ wiederum eine Muschel und noch eine Handvoll
+kleiner Steinchen nebst folgender Anweisung: »Wenn du nach Mittag hin
+kommst, so liegt der Wirth im Bette, um zu verdauen, die Töchter spinnen
+in der Stube, und die Großmutter scheuert in der Küche die goldenen und
+silbernen Gefäße blank. Klettere dann behend auf den Schornstein, wirf
+die in ein Läppchen eingebundenen Steinchen der Alten an den Hals, folge
+selbst schleunigst nach, stecke die kostbaren Geräthe in den Sack von
+Spinnegewebe und dann lauf', was die Beine halten wollen.« _Schlaukopf_
+dankte und machte es ganz, wie vorgeschrieben war. Als er aber das
+Läppchen mit den Steinchen fahren ließ, dehnte es sich zu einem
+sechslöfigen mit Kieselsteinen gefüllten Sacke aus, der die Alte zu
+Boden schmetterte. Flugs hatte _Schlaukopf_ alle goldenen und silbernen
+Gefäße in den Sack von Spinnegewebe gepackt und war davon gejagt.[46]
+Der »alte Bursche« meinte, als er das Gepolter des Sackes hörte, der
+Schornstein sei eingestürzt und getraute sich nicht gleich nachzusehen.
+Als er aber die Großmutter lange vergeblich gerufen hatte, mußte er
+endlich selbst gehen. Als er das Unglück entdeckte, eilte er, dem Diebe
+nachzusetzen, der noch nicht weit sein konnte. _Schlaukopf_ war schon auf
+dem Meere, als der Verfolger ächzend und keuchend an's Ufer kam.
+»Nikodemus, Söhnchen!« u. s. w. wiederholte der alte Bursche alle
+früheren fragen der Reihe nach. Die letzte Frage war: »Nikodemus,
+Söhnchen! hast du mir mein Gold- und Silbergeräth gestohlen?« »Freilich,
+Papachen!« war die Antwort. »Nikodemus, Söhnchen! versprichst du noch
+wiederzukommen?« -- »Nein, Papachen!« antwortete _Schlaukopf_ und lief auf
+der Brücke vorwärts. Obwohl der alte Bursche hinter dem Diebe her
+schimpfte und fluchte, so konnte er seiner doch nicht habhaft werden,
+weil alle Zauberwerkzeuge in den Händen des Diebes waren.
+
+_Schlaukopf_ fand den Alten mit dem grauen Barte wieder am Strande, warf
+den schweren Sack mit den Gold- und Silbersachen, den er nur mit Hülfe
+des Kraftringes hatte fortbringen können, ab, und setzte sich dann, um
+die müden Glieder auszuruhen. Im Gespräch erfuhr er nun von dem alten
+Manne Manches, was ihn erschreckte. Der Alte sagte: »Die Brüder hassen
+dich und trachten, dir auf alle Weise das Garaus zu machen, -- wenn du
+ihrem bösen Anschlag nicht zuvorkommst. Sie werden den König hetzen, dir
+solche Arbeit aufzutragen bei der du leicht den Tod finden kannst. Wenn
+du nun heute Abend mit der reichen Last vor den König trittst, so wird
+er freundlich gegen dich sein, dann erbitte dir als einzigen Gnadenlohn,
+daß die Tochter des Königs Abends heimlich hinter die Thür gebracht
+werde, um zu hören, was deine Brüder untereinander sprechen.«
+
+Als _Schlaukopf_ darnach mit der reichen Habe, die man wenigstens auf zehn
+Pferdelasten schätzen konnte, vor den König trat, fand er diesen sehr
+freundlich und gütig. _Schlaukopf_ bat nun um den von dem Alten
+angegebenen Gnadenlohn. Der König war froh, daß der Schatzbringer keinen
+größeren Lohn verlangte und befahl seiner Tochter, sich Abends heimlich
+hinter die Thür zu begeben, um zu hören, was der Kutscher und der
+Kammerdiener miteinander sprächen. Durch das Wohlleben übermüthig
+geworden, prahlten die Brüder mit ihrem Glücke, und was noch einfältiger
+war, sie beschimpften dabei lügenhafter Weise des Königs Tochter. Der
+Kutscher sagte: »Sie ist viele Mal des Nachts zu mir gekommen, um bei
+mir zu schlafen.« Der Kammerdiener erwiederte lachend: »Das kam daher,
+weil ich sie nicht mehr wollte und meine Thür vor ihr zuschloß, sonst
+würde sie jede Nacht in meinem Bette sein.« Roth vor Scham und Zorn kam
+die Tochter zu ihrem Vater, erzählte weinend, welche eine schamlose Lüge
+sie mit ihren eigenen Ohren von den Dienern hatte aussprechen hören, und
+bat, die Frevler zu bestrafen. Der König ließ die Beiden alsbald in's
+Gefängniß werfen und am andern Tage, nachdem sie vor Gericht ihre Schuld
+eingestanden hatten, hinrichten. _Schlaukopf_ wurde zum Rathgeber des
+Königs erhoben.
+
+Nach einiger Zeit fiel ein fremder König mit einem großen Heere in's
+Land, und _Schlaukopf_ ward gegen den Feind in's Feld geschickt. Da zog er
+sein aus der Unterwelt geholtes Schwert[47] zum ersten Mal aus der
+Scheide und begann das feindliche Heer niederzumähen, bis nach kurzer
+Zeit Alle auf der blutigen Wahlstatt den Tod gefunden hatten. Der König
+freute sich über diesen Sieg so sehr, daß er _Schlaukopf_ zum
+Schwiegersohn nahm.
+
+[Fußnote 33: Dieses Märchen lehnt sich an die beiden Höllenfahrten des
+Kalewsohnes, die im Kalewipoëg Ges. =XIII-XV=. =XVII-XIX= erzählt sind. Die
+Züge der Sage sind im Märchen wunderlich gebrochen und verschoben, und
+andre Märchenstoffe hineingewoben. L.]
+
+[Fußnote 34: Ein mythisches Wunderland. Im Kalewipoëg bewirbt sich des
+Kunglakönigs Sohn um Linda, nachmalige Gattin des Kalew, die ihn
+abweist, weil »der Kunglakönig böse Töchter hat, welche die Fremde
+hassen würden.« Doch lassen sich dieselben Töchter des Kunglakönigs
+durch den Gesang des ältesten Kalewsohnes zu Thränen rühren, Kalewipoëg
+=III=, 477. Ebendaselbst =XIX=, 400 werden vier Kunglamädchen genannt,
+welche goldene und silberne Gewebe wirken. Vgl. auch über den Reichthum
+des Landes Kungla das Märchen 23 vom Dudelsack-Tiidu. L.]
+
+[Fußnote 35: Dieser Streich wird im Kalewipoëg nacheinander dem
+Alewsohn, dem Olewsohn und dem Sulewsohn gespielt, welche die Warnung
+der am Kessel beschäftigten Alten verachteten, weil sie nicht glaubten,
+daß der winzige Knirps, der um Erlaubniß bat zu schmecken, solchen
+Schaden anrichten könne. Aber dieser reckt sich auf dem Rande des
+Suppenkessels über 70 Klafter hoch und verschwindet im Nebel, während
+der Kessel leer geworden. Als aber die Reihe, bei dem Kessel zu wachen,
+an den Kalewsohn kommt, verlangt dieser erst von dem als Zwerg
+erscheinenden Teufel das Glöcklein zum Pfande, welches er um den Hals
+hat und worin seine Kraft steckt. S. Kalewipoëg =XVII=, 327 ff. Da unser
+Märchen ein großes Festgelage für alles Volk fingirt, so läßt es auch
+übertreibend sämmtliche Vorräthe, Speisen und Getränke verschwinden. L.]
+
+[Fußnote 36: Die Rasenmutter ist es auch, welche im Kalewipoëg (=I.= 340)
+aus dem Küchlein die reine (oder Thau-?) Jungfrau Salme umgebildet hat.
+Nach _Kreutzwald_ zu der =cit.= Stelle ist die Rasenmutter eine Schutzgöttin
+des Hauses, deren Obhut besonders der Hofraum und Garten anvertraut war.
+Der ehstnische Mythus hat von ihr die liebliche Vorstellung, daß sie es
+ist, die aus dem geschmolzenen Schnee des Winters die weiße Anemone
+(=Anemone nemorosa=, ehstnisch Frostblume) bildet. S. _Kreutzwald_ zu
+_Boecler_ S. 188. Vgl. unser Märchen 2 von den im Mondschein badenden
+Jungfrauen; diese heißen dort des Waldelfen und der Rasenmutter Töchter.
+Die Töchter der Rasenmutter sind es auch, welche im Kalewipoëg =XVII=, 777
+ff. den nach der großen Schlacht bei Assamalla ruhenden Helden
+Traumgesichte weben. L.]
+
+[Fußnote 37: Es ist also von denjenigen Krebsthieren die Rede, deren
+Augen auf beweglichen Stielen stehen, nicht unmittelbar auf dem Kopfe.
+L.]
+
+[Fußnote 38: Vgl. Anm. zu Märchen 21, der beherzte Riegenaufseher. L.]
+
+[Fußnote 39: =Sepik=, mit Hefen gebackenes nicht gesäuertes Brot, das im
+südlichen Ehstland nur aus Weizenmehl gemacht wird. S. _Wiedemann_,
+Ehstnisch-Deutsches Wörterb. =s. v.= L.]
+
+[Fußnote 40: Aus dem Glöckchen der Sage, _Kalewipoëg_ =XVII=, 633 ist im
+Märchen ein Ring geworden. Im Glöckchen dort, im Ringe hier steckt des
+Höllenfürsten Kraft. Vgl. das Märchen 18, vom Nordlands-Drachen, wo der
+Ring Salomonis, der im Besitz der Höllenjungfrau ist, Felsen
+zertrümmert, wenn er am Daumen der linken Hand steckt. L.]
+
+[Fußnote 41: Ein mit einem Deckel und unten mit einem Zapfen versehenes
+Tönnchen Dünnbier (Kofent), das in den Bauerstuben steht und woraus sich
+Bier abzapft, wer Durst hat. L.]
+
+[Fußnote 42: Hier fehlt also das Dritte, der Wünschelhut aus
+Nägelschnitzeln, den Kalewipoëg bei seinem ersten Höllenabenteuer
+benutzt und dann verbrennt. S. darüber die Anm. zum 11ten Märchen, von
+der Zwerge Streit. L.]
+
+[Fußnote 43: Kalewipoëg =XV=, 70 ff. Vers 217 heißt die Hexen- oder
+Wünschelruthe geradezu der Brückenfertiger (=sillawalmistaja=). L.]
+
+[Fußnote 44: Kalewipoëg =XV=, 108 ff. vgl. mit =XVIII=, 815 ff. In diesen
+Stellen thut »der Leere« (=Tühi=) oder wie er im 18. Gesang heißt, der
+Gehörnte (=Sarwik=) alle Fragen hintereinander, während unser Märchen sie
+auseinander legt und auf die verschiedenen Gänge Schlaukopfs vertheilt.
+Die Sage berichtet von einem Zweikampf des Kalewsohnes mit dem
+Höllenfürsten; bei dem zweiten Höllengang des Kalewipoëg endet dieser
+Zweikampf mit der Ueberwältigung und Fesselung des Gehörnten. Kalewipoëg
+=XIX=, 87 ff. L.]
+
+[Fußnote 45: Vgl. oben S. 45, 46. L.]
+
+[Fußnote 46: Auch der Kalewsohn raubt die Schätze der Unterwelt. L.]
+
+[Fußnote 47: Erinnert an »das in verborgener Schmiede von
+unterirdischen Meistern« (=Ma-alused=, vgl. Märchen 17) gefertigte
+Schwert, welches der Kalewsohn zum Ersatz für sein von dem Finnenschmied
+geschmiedetes und von dem Zauberer des Peipus-Strandes entwendetes
+Schwert aus der Hölle nimmt. L.]
+
+
+
+
+9. Der Donnersohn.[48]
+
+
+Der Donnersohn schloß mit dem Teufel einen Vertrag auf sieben Jahre,
+laut dessen der Teufel ihm als Knecht dienen und unweigerlich in allen
+Stücken des Herrn Willen erfüllen sollte; zum Lohn für treue Dienste
+versprach ihm der Donnersohn seine Seele zu geben. Der Teufel that
+seine Schuldigkeit gegen seinen Herrn, er scheute nicht die schwerste
+Arbeit und murrte nimmer über das Essen, denn er wußte ja, was für einen
+Lohn er nach sieben Jahren von Rechtswegen erhalten sollte. Sechs Jahre
+waren vorüber, und das siebente hatte begonnen, aber der Donnersohn
+hatte durchaus keine Lust, dem bösen Geist seine Seele so wohlfeilen
+Kaufes zu überlassen, und hoffte deshalb durch irgend eine List den
+Klauen des Feindes zu entrinnen. Schon beim Abschluß des Vertrages hatte
+er dem alten Burschen den Streich gespielt, daß er ihm statt des eigenen
+Blutes Hahnenblut[49] zur Besiegelung gab, und der kurzsichtige hatte
+den Betrug nicht gemerkt. Und doch war eben dadurch das Band, welches
+die Seele des Donnersohns unauflöslich verstricken sollte ganz locker
+geworden. Obgleich indeß das Ende der Dienstzeit immer näher rückte,
+hatte der Donnersohn sich immer noch keinen Kunstgriff ersonnen, der ihn
+frei machen konnte. Da traf es sich, daß an einem heißen Tage von Mittag
+her eine schwarze Wetterwolke aufstieg, die den Ausbruch eines schweren
+Gewitters drohte. Der alte Bursche verkroch sich sogleich in der Tiefe
+der Erde, zu welchem Behuf er immer ein Schlupfloch unter einem Steine
+bereit hatte. »Komm Brüderchen, und leiste mir Gesellschaft, bis das
+Ungewitter vorüber ist!« bat der Teufel seinen Herrn mit honigsüßer
+Zunge. »Was versprichst du mir, wenn ich deine Bitte erfülle?« fragte
+der Donnersohn. Der Teufel meinte, darüber könne man sich unten einigen,
+denn hier oben mochte er die Bedingungen nicht mehr besprechen, da die
+Wolke ihm jeden Augenblick über den Hals zu kommen drohte. Der
+Donnersohn dachte: heute hat die Furcht den alten Burschen ganz mürbe
+gemacht; wer weiß, ob es mir nicht glückt, mich von ihm los zu machen.
+So ging er denn mit ihm in die Höhle. Das Gewitter dauerte sehr lange,
+Krach folgte auf Krach, daß die Erde zitterte und die Felsen erbebten.
+Bei jeder Erschütterung drückte sich der alte Bursche die Fäuste gegen
+die Ohren und kniff die Augen fest zu; kalter Schweiß bedeckte seine
+zitternden Glieder, und er konnte kein Wort hervorbringen. Gegen Abend,
+als das Gewitter vorüber war, sagte er zum Donnersohn: »Wenn der alte
+Vater nicht dann und wann so viel Lärm und Getöse[50] machte, so könnte
+ich mit ihm schon durchkommen und könnte ruhig leben, da mir seine
+Pfeile unter der Erde nicht schaden können. Aber sein gräßliches Getöse
+greift mich so an, daß ich gleich die Besinnung verliere und nicht mehr
+weiß, was ich thue. Denjenigen, der mich von diesem Drangsal befreite,
+würde ich reichlich belohnen.« Der Donnersohn erwiederte: »Da ist kein
+besserer Rath, als dem alten Papa das Donnergeräth heimlich
+wegzunehmen.« »Ich würde es schon entwenden,« antwortete der Teufel,
+»wenn die Sache möglich wäre, aber der alte =Kõu=[51] ist stets wachsam,
+er läßt weder Tag noch Nacht das Donnerwerkzeug aus den Augen, wie wäre
+da ein Entwenden möglich?« Der Donnersohn blieb aber dabei, daß sich die
+Sache wohl machen ließe. »Ja, wenn du mir helfen würdest,« rief der
+Teufel, »dann könnte der Anschlag vielleicht gelingen, ich allein komme
+damit nicht zu Gange.« Der Donnersohn versprach nun sein Helfershelfer
+zu werden, verlangte aber dafür keinen geringeren Lohn, als daß der
+Teufel den Seelenkauf rückgängig mache. »Meinethalben nimm drei Seelen,
+wenn du mich von dieser gräßlichen Noth und Angst befreist!« rief der
+Teufel vergnügt. Nun setzte ihm der Donnersohn auseinander, in welcher
+Weise er die Entwendung für möglich halte, wenn sie sich Beide einmüthig
+und mit vereinten Kräften an's Werk machten. »Aber,« so schloß er, »wir
+müssen so lange warten, bis der alte Papa sich wieder einmal so sehr
+ermüdet, daß er in tiefen Schlaf fällt, denn gewöhnlich schläft er ja
+wie der Hase mit offenen Augen.«
+
+Einige Zeit nach dieser Berathung brach ein schweres Gewitter aus, das
+lange anhielt. Der Teufel saß wieder mit dem Donnersohn in seinem
+Schlupfwinkel unter dem Steine. Die Furcht hatte den alten Burschen so
+betäubt, daß er kein Wort von dem hörte, was sein Gefährte sprach. Am
+Abend aber erstiegen Beide einen hohen Berg, wo der alte Bursche den
+Donnersohn auf seine Schultern hob und sich dann selber durch Zauber
+immer weiter in die Höhe reckte,[52] wobei er sang:
+
+ »Recke, Brüderchen, dich aufwärts,
+ Wachse, Freundchen, in die Höhe!«
+
+bis er zur Wolkengrenze hinaufgewachsen war. Als der Donnersohn über den
+Wolkenrand[53] hinüber spähte, sah er den Papa =Kõu= ruhig schlafen, den
+Kopf auf zusammengeballte Wolken gestützt, aber die rechte Hand lag
+quer über das Donnergeräth ausgestreckt. Man konnte das Instrument nicht
+fortnehmen, weil das Berühren der Hand den Schlafenden geweckt haben
+würde. Der Donnersohn kroch nun von der Schulter des alten Burschen in
+die Wolken hinein, schlich leise wie eine Katze näher und suchte sich
+durch List zu helfen. Er holte hinter seinem Ohre eine Laus hervor und
+setzte sie dem Papa =Kõu= zum Kitzeln auf die Nase. Der Alte nahm alsbald
+die Hand, um seine Nase zu kratzen, in demselben Augenblick aber packte
+der Donnersohn das frei gewordene Donnerwerkzeug und sprang vom
+Wolkenrand auf den Nacken des Teufels zurück, der mit ihm den Berg
+hinunter rannte, als hätte er Feuer hinter sich. Der alte Bursche hielt
+auch nicht eher an, als bis er die Hölle erreicht hatte. Hier verschloß
+er seinen Raub in eiserner Kammer hinter sieben Schlössern, dankte dem
+Donnersohn für die treffliche Hülfe und leistete auf dessen Seele völlig
+Verzicht.
+
+Jetzt aber brach über die Welt und die Menschen ein Unglück herein,
+welches der Donnersohn nicht hatte vorhersehen können: die Wolken
+spendeten keinen Tropfen Feuchtigkeit mehr, und Alles welkte in der
+Dürre hin. -- Habe ich leichtsinniger Weise dieses unerwartete Elend
+über die Leute gebracht, so muß ich suchen, die Sache, soweit möglich,
+wieder gut zu machen, -- dachte der Donnersohn und überlegte, wie der
+Noth abzuhelfen sei. Er zog gen Norden an die finnische Grenze, wo ein
+berühmter Zauberer wohnte, entdeckte ihm den Raub und gab auch an, wo
+das Donnerwerkzeug gegenwärtig versteckt sei. Da sagte der Zauberer:
+»Zunächst muß dem alten Vater =Kõu= Kunde werde, wo sein Donnergeräth
+festgehalten wird, er findet dann selbst wohl Mittel und Wege, wieder zu
+seinem Eigenthume zu gelangen.« Und er schickte dem alten Wolkenvater
+Botschaft durch den Adler des Nordens. Gleich am folgenden Morgen kam
+=Kõu= zum Zauberer, um ihm dafür zu danken, daß er die Spur des Diebstahls
+nachgewiesen hatte. Sodann verwandelte sich der Donnerer in einen
+Knaben, suchte einen Fischer auf und verdingte sich bei demselben als
+Sommerarbeiter. Er wußte nämlich, daß der Teufel häufig an den See kam,
+um Fische zu raffen, und hoffte ihn dort einmal zu treffen. Wiewohl nun
+der Knabe =Pikker=[54] Tag und Nacht kein Auge von seinen Netzen
+verwandte, so verging doch eine Weile, ehe er des Feindes ansichtig
+wurde. Dem Fischer war es längst aufgefallen, daß oftmals die bei Nacht
+in den See gelassenen Netze am Morgen leer heraufgezogen wurden, aber er
+konnte die Ursache nicht erklären. Sein Knabe wußte freilich recht gut,
+wer der Fischdieb sei, aber er wollte nicht früher sprechen, als bis er
+seinem Herrn den Dieb auch zeigen könnte.
+
+In einer mondhellen Nacht, als er mit seinem Herrn an den See kam, um
+nach den Netzen zu sehen, traf es sich, daß der Dieb gerade bei der
+Arbeit war. Als sie über den Rand ihres Kahnes in's Wasser blickten,
+sahen sie Beide, wie der alte Bursche aus den Maschen des Netzes Fische
+heraus holte und in seinen Schultersack stopfte. Am folgenden Tage ging
+der Fischer einen berühmten Zauberer um Hülfe an und bat ihn, den Dieb
+durch seine Kunst dermaßen an das Netz zu bannen, daß er ohne Willen
+des Besitzers sich nicht los machen könne. Das geschah denn auch ganz
+nach des Fischers Wunsch. Als man am folgenden Tage das Netz aus dem See
+herauf wand, kam auch der alte Bursche mit an die Oberfläche und wurde
+an's Ufer gebracht. Hei! was er da vom Fischer und Fischerknaben
+durchgegerbt wurde! Da er ohne Willen des Zauberers vom Netze nicht
+loskommen konnte, so mußte er alle Hiebe ruhig hinnehmen. Die Fischer
+zerschlugen ihm wohl ein Fuder Prügelstecken auf dem Leibe, ohne
+hinzusehen auf welchen Körpertheil die Schläge fielen. Des alten
+Burschen Kopf blutete und war dick aufgeschwollen, die Augäpfel traten
+aus ihren Höhlen, -- es war ein gräßlicher Anblick -- aber der Fischer
+und sein Knabe hatten kein Erbarmen mit dem gemarterten Teufel, sondern
+ruhten nur von Zeit zu Zeit aus, um von neuem darauf los zu dreschen.
+Als klägliches Bitten nicht half, bot der alte Bursche endlich ein hohes
+Lösegeld, ja er versprach dem Fischer die Hälfte seiner Habe und noch
+mehr, wenn der Bann gelöst würde. Der erzürnte Fischer ließ sich aber
+nicht eher auf den Handel ein, als bis ihm die letzte Kraft ausging, so
+daß er keinen Stock mehr rühren konnte. Endlich kam, nachdem ein Vertrag
+geschlossen worden, der alte Bursche mit Hülfe des Zauberers vom Netze
+los, worauf er den Fischer bat, er möge nebst seinem Knaben mit ihm
+kommen, um das Lösegeld abzuholen. Wer weiß, ob er nicht hoffte, sie
+noch durch irgend eine List zu betrügen.
+
+Im Höllenhofe wurde den Gästen ein prächtiges Fest bereitet, das über
+eine Woche dauerte und bei welchem es an nichts fehlte. Der alte Wirth
+zeigte den Gästen seine Schatzkammern und geheimnisvollen Geräthe, und
+ließ von seinen Spielleuten dem Fischer zur Erheiterung die schönsten
+Weisen aufspielen. Eines Morgens sprach der Knabe =Pikker= heimlich zum
+Fischer: »Wenn du heute wieder bewirthet und geehrt wirst, so bitte dir
+aus, daß man das Instrument bringe, welche in der Eisenkammer hinter
+sieben Schlössern liegt.« Bei Tische, als die Männer schon einen halben
+Rausch hatten, bat der Fischer, man möge ihm das Instrument aus der
+geheimen Kammer zeigen. Der Teufel zeigte sich willig, holte das
+Instrument herbei und fing selbst an darauf zu spielen. Allein obgleich
+er aus Leibeskräften hineinblies und die Finger an der Röhre auf und ab
+bewegte, so war der Ton, den er herausbrachte, doch nicht besser als das
+Geschrei einer Katze, die in den Schwanz gekniffen wird, oder das
+Gequieke eines Ferkels, das man auf die Wolfsjagd nimmt.[55] Lachend
+sagte der Fischer: »Quälet euch nicht umsonst ab! ich sehe wohl, daß aus
+euch doch kein Dudelsackbläser mehr wird. Mein Hüterknabe wurde es
+besser machen.« »Oho!« rief der Teufel. -- »Ihr meint vielleicht, das
+Blasen auf dem Dudelsack sei ungefähr wie das Flöten auf einem
+Weidenrohr, und haltet es für ein Kinderspiel? Komm, Freundchen,
+versuch' es erst, und wenn du oder dein Hüterknabe etwas wie einen Ton
+auf dem Instrumente hervorbringen könnt, so will ich nicht länger der
+Höllenwirth heißen.« »Da versuch's!« rief er und reichte das Instrument
+dem Knaben hin. Der Knabe =Pikker= nahm es, als er aber den Mund an die
+Röhre setzte und hineinblies, da erbebten die Wände der Hölle, der
+Teufel und sein Gesinde fielen ohnmächtig hin und lagen wie todt da.
+Plötzlich stand an Stelle des Knaben der alte Vater Donnerer selbst
+neben dem Fischer, dankte für geleistete Hülfe und sagte: »Künftig, wenn
+mein Instrument wieder aus den Wolken ertönt, soll deinen Netzen reiche
+Gabe beschieden sein.« Dann trat er eilig die Heimkehr an.
+
+Unterwegs kam ihm der Donnersohn entgegen, fiel auf die Knie, bereute
+seine Schuld und bat demüthig um Verzeihung. Der Vater =Kõu= sagte: »Oft
+genug vergeht sich des Menschen Leichtsinn gegen die Weisheit des
+Himmels; danke drum deinem Glücke, Söhnchen, daß ich wieder Macht habe,
+die Spuren des Elends zu vertilgen, welches deine Thorheit über die
+Leute gebracht hat.« Mit diesen Worten setzte er sich auf einen Stein
+und blies das Donnerinstrument, bis die Regenpforten sich aufthaten und
+die Erde tränkten. Den Donnersohn nahm der alte =Kõu= als Knecht zu sich,
+und da muß er noch sein.
+
+[Fußnote 48: Nota zu 9 u. 10. Beide Märchen behandeln einen und
+denselben Stoff: die Entwendung des Donnerwerkzeugs durch den dasselbe
+über Alles fürchtenden Teufel, welchem es der in einen Fischerknaben
+verwandelte Donnergott wieder abnimmt.
+
+Was zunächst den Namen des Donnerwerkzeugs betrifft, so heißt es in
+beiden Märchen »=pil=«, womit zwar im Ehstnischen jedes Instrument
+bezeichnet wird, hier aber nur ein Blaseinstrument gemeint sein kann.
+Und zwar kein anderes als der bei den Ehsten seit uralter Zeit sehr
+beliebt gewesene Dudelsack, schwedisch =dromm-pîp=, =drumm-pîpa=. =Drumm= ist
+das Trompeten-Ende dieses Instruments, es brummt stets denselben Baßton
+und erweckt den Ehsten die Vorstellung des Donners. Im Inlande Jahrg.
+1858, Nr. 6 ist eine Version unseres Märchens 10 abgedruckt, welche die
+Ueberschrift führt =Müristaja mäng=, was mit Donnertrommel übersetzt ist.
+Aber =mäng= bedeutet nicht Trommel, sondern Spiel, Spielzeug, und da es im
+»Inland« gegen den Schluß heißt: »er holt den »Himmelsbrummer« hervor
+und setzt die fünf Finger an denselben,« so deutet dies offenbar keine
+Trommel, sondern ein Blaseinstrument an, den Dudelsack, der speciell
+=toru-pil=, Röhreninstrument, heißt, aber auch =pil= schlechtweg, wie in
+unserm Märchen 23, =Pilli-Tiidu=, Dudelsack-Tiidu. Von Trommel und Pauke
+heißt es im Ehstnischen =trummi löma=, die Trommel oder Pauke schlagen,
+und weder an Schamanentrommel noch an ein Tambourin ist bei dem
+Ausdrucke =pil= oder =müristaja mäng= zu denken. Nach _Neus_, myth. u. mag.
+Lieder der Ehsten S. 12. 13. vgl. mit 41. hängt das ehstnische
+=müristamine=, das Donnern, mit einem finnischen Verbum zusammen, welches
+vom Brummen des Bären gebraucht wird, und weist auch der ehstnische Name
+des Donnergotts, =Kõu=, auf ein finnisches =Nomen= für Bär zurück. Auch der
+nordische Donnergott, Thunar-Thor, führte den Beinamen des Bären. Also
+nicht der Schall einer Trommel, sondern das Gebrüll eines Thieres oder
+eines daran erinnernden Instruments wird dem Donner verglichen. Der
+ehstnische Donnergott entlockt dem Dudelsack furchtbare, aber auch
+liebliche Töne -- schrecklichen Donner, aber auch sanft rieselnden
+Regen. Wenn die Vorstellung von dem Erregen des Gewitters durch ein
+Instrument wie die Sackpfeife eigentümlich ehstnisch ist (nach _Rußwurm_,
+Sagen, Reval 1861. S. 134, ist der Dudelsack Erfindung =Tara's=, und steht
+mit den altheidnischen Volkssitten und Götterdiensten in Zusammenhang,
+weßhalb christlicher Eifer das Instrument auf den Teufel zurückführte),
+so kennt die ehstnische Sage doch auch den =Äike= oder =Pikker=, der Donner
+und Blitz hervorbringt, indem er auf einem Wagen mit erzbeschlagenen
+Rädern über Eisenbrücken dahin rasselt, Kalewipoëg =III=, 12 ff. vgl. mit
+=XX=. 728 ff. Hier wird man sogleich an Thunar-Thor erinnert.
+
+Was den »Donnersohn« betrifft, so theilt _Kreutzwald_ zu _Boecler_ auf S. 11
+mit, er (Kreutzwald) habe in Wierland (dem nordöstlichen Uferdistrict
+Ehstlands) den Namen =Pikse-käsepois=, d. h. des Gewitters Befehlsknabe,
+gehört, aber nicht erfahren, wer damit gemeint sei. Nach ehstnischer
+Tradition ist der Lijonsengel, der in unserm Märchen 9 zum Fischer, und
+in 10 zum Fischer Lijon umgestaltet ist, Vermittler zwischen den
+Sterblichen und dem =Tara= oder Altvater, und »_der Gott auf der Erde, der
+mit dem Gewitter zusammengeht_.« So liegt die Vermuthung nahe, daß der
+Lijons-Engel (stamme er nun von dem biblischen »=Legion=« oder von dem
+ebenfalls biblischen »Elias«, russisch »=Iljá=«), der oben angeführte
+Befehlsknabe des Gewitters, und unser Donnersohn -- eine und dieselbe
+Hypostase des Donnergottes selber sind. Nach _Rußwurm_ Sagen, 1861. S. 131
+hat auch der ehstnische Teufel einen kleinen Sohn, Thomas, der dem
+eigenen Vater zuweilen Possen spielt. Wie in unseren Märchen, so
+entweichen auch im Kalewipoëg, vgl. die oben citirten Stellen und =X=,
+198, die bösen Geister vor ihrem »Züchtiger« und seinen Pfeilen in die
+Flut -- das Wasser macht den Blitzstrahl unschädlich. Daß der Donnergott
+sich in einen Fischerknaben verwandelt, erinnert einigermaßen an Thors
+Fischfang mit Hymir. _Mannhardt_, Götterwelt, =I=, 218. L.]
+
+[Fußnote 49: S. die Anm. S. 67 zum Märchen vom Tontlawald. L.]
+
+[Fußnote 50: =Castrén= bemerkt in seinen Vorlesungen über finnische
+Mythologie, daß man den Donner viel mehr fürchtete als den Blitz, und
+daß man noch jetzt hie und da in Finnland beim Donnerwetter nicht wagt
+den Namen =Ukko= (Beherrscher des Himmels) zu nennen, oder irgend etwas
+Ungebührliches zu reden oder zu thun. L.]
+
+[Fußnote 51: =Kõu= heißt der Donnergott; =Pikne=, Genitiv =Pikse=, war
+eigentlich der Blitzstrahl, wird aber auch für den Donnergott gebraucht.
+Auch die Formen =Pitkne= und =Pikker= kommen vor. Der Kalewipoëg =X=, 889
+kennt eine Wetterjungfrau als =Kõu's= Tochter. L.]
+
+[Fußnote 52: Im Kalewipoëg wird diese Kraft einem aus Nägelschnitzeln
+gemachten Hute zugeschrieben, den der Kalewsohn dem Höllenfürsten
+entwendet und nach gemachtem Gebrauche verbrennt. Vgl. die betr. Nota zu
+11, der Zwerge Streit. L.]
+
+[Fußnote 53: Nach _Rußwurm_, Sagen aus Hapfal, der Wiek, Oesel und Runö,
+Reval 1861, =p.= =XVII=, denken sich die Ehsten die Wolken als Gallert, und
+findet man nach Gewittern zuweilen Wolkenstücke auf der Erde, was
+Rußwurm auf eine Flechtenart (=Tremella Nostoc=) beziehen möchte. L.]
+
+[Fußnote 54: Siehe die Anm. S. 122 ff. u. S. 126. L.]
+
+[Fußnote 55: Man bringt das Ferkel zum Quieken, um dadurch die Wölfe
+anzulocken. L.]
+
+
+
+
+10. Pikne's Dudelsack.
+
+
+In der Urzeit hatte Altvater gar viel zu thun, die Welt in Ordnung zu
+bringen, und das nahm ihm vom Morgen bis zum Abend alle seine Zeit, so
+daß er Manches nicht beachtete, was hier und da hinter seinem Rücken
+vorging. Riesen standen schon von Anbeginn der Welt wider einander, was
+gar oft die Ruhe störte. So hatten Pikne und der alte Tühi[56] eine
+Zeitlang ihre Kraft aneinander versucht und darum gekämpft, wer von
+Beiden die Oberhand gewänne. Obwohl die Männer Tag und Nacht einander
+auflauerten und sich schier die Köpfe zerbrachen, ob sie einen
+Gewaltstreich verüben oder List anwenden sollten -- so hatten sie doch
+noch nicht den passenden Augenblick zur Ausführung ihrer Anschläge
+gefunden. Da traf es sich einmal, daß Pikne, von dem beständigen Wachen
+müde geworden, eingenickt war und bald wie ein Sack schlief;
+unglücklicherweise hatte er vergessen, sich seinen Dudelsack zu Häupten
+zu legen, wo das Instrument sonst immer seinen Platz fand. Der tiefe
+Schlaf verschloß ihm Augen und Ohren so fest, daß der Mann weder sah
+noch hörte, was in seiner Nähe vorging. Der alte Tühi, der dem Feinde
+fast immer auf Schritt und Tritt nachspürte, fand den Pikne schlafend,
+trat sachte auf den Zehen heran, nahm den Dudelsack von der Seite des
+Schlafenden und machte sich mit seinem Raube auf die Socken. Dadurch
+hoffte er jetzt des Donnerer's Vater am meisten zu ärgern und die Macht
+desselben zu schwächen, daß er das Werkzeug versteckte, welches bis
+dahin das schlimmste Züchtigungsmittel für die Bewohner der Hölle
+gewesen war. Als nun Pikne, aus dem Schlafe erwachend, die Augen weit
+aufsperrte, sah er alsbald, welch einen Verlust ihm, derweil er schlief,
+der Feind verursacht hatte. Daß kein Andrer als der alte Tühi den
+Dudelsack hatte stehlen können, das war ihm gleich klar; allein wie
+sollte er es anfangen, das ihm gestohlene Eigenthum den Klauen des
+Diebes wieder zu entreißen? Wohl hätte er Altvater die Sache mit den
+Diebstahl klagen und ihn um Hülfe bitten können, aber dadurch hätte er
+seine eigene Sorglosigkeit verrathen, und Altvater hätte ihn im Zorn
+noch obendrein gezüchtigt. Diese Gedanken machten dem Pikne eine
+Zeitlang viel Sorge, und er flüchtete sich meist an einsame Orte, wo
+Niemand ihn zu Gesicht bekam. Der alte Tühi nun, der sonst ungeschlacht
+wie ein Kalb und in allen Stücken einfältig war, hatte doch seine Haut
+immer vor Pikne zu wahren gewußt. Sonst fürchtete er Pikne's Dudelsack
+wie die Pest, so daß er schon von weitem davon lief; jetzt aber konnte
+er schon etwas mehr wagen. Er kannte manches heimliche Schlupfloch, wo
+Pikne's Pfeile ihm nichts anhaben konnten: auf dem Meeresgrunde konnte
+er vor Pikne ohne Sorge sein. Pikne dachte gleich, als er des alten
+Tühi Tagelang nicht ansichtig wurde, daß er irgendwo unter dem Wasser
+versteckt säße, doch fand er immer keinen zweckmäßigen Plan, wie er des
+Feindes habhaft werden und ihm den Dudelsack wieder abnehmen könnte. Da
+hatte er eines Tages plötzlich einen prächtigen Einfall, mit dessen
+Ausführung er auch nicht säumte. Er nahm die Gestalt eines kleinen
+Knaben an, ging früh Morgens in ein Dorf am Strande und forschte dort
+nach, ob es nicht möglich sei, irgendwo bei einem Fischer in Dienst zu
+treten.
+
+Ein wohlhabender Fischer, Namens Lijon, sagte, nachdem er des feinen
+Knaben Rede angehört: »Eine Viehherde habe ich nun zwar nicht, wo ich
+deinesgleichen brauchen könnte, aber ich will dich auf Probe nehmen, ob
+man aus dir nicht mit der Zeit einen Gehülfen beim Fischfang machen
+kann. Du siehst mir ganz aus wie ein Geschöpf von klugem Geiste, wenn du
+nun auch fleißig und folgsam sein wirst, so können wir leicht Handels
+einig werden.« Als er am folgenden Morgen an den See ging, nahm er den
+Knaben mit, und lehrte ihn mit Angel und Netzen umzugehen und alle
+übrigen Obliegenheiten eines Fischers zu besorgen. Schon nach einigen
+Tagen fand er, daß ihm der muntere Lehrling von Nutzen war, der alle
+Handgriffe leicht auffaßte und seinem Herrn auf jedem Schritt behülflich
+zu sein wußte. Allmälig wurde der Knabe gleichsam seine rechte Hand, so
+daß der Fischer gar nicht mehr allein auf den Fischfang ging. Die
+anderen Fischer nannten den Knaben spöttisch Lijon's Pudel. Der Knabe
+aber nahm den Spitznamen gar nicht übel, sondern freute sich des
+unverhofften Glückes, daß er jetzt täglich vom Morgen bis zum Abend auf
+dem Wasser fahren konnte, wo der Feind sich doch sicher irgendwo auf
+dem Grunde versteckt hielt.
+
+Jetzt traf es sich, daß der alte Tühi seinem Sohne Hochzeit machen und
+den Hochzeitsgästen prächtige Feste geben wollte, so daß die Leute noch
+lange von seinem Reichthum zu erzählen hätten; -- Eitelkeit ist für den
+Teufel der schlimmste Kitzel! Der alte Höllenvater streckte die Pfoten
+überall hin, wo er einen Fang zu thun hoffte, am meisten aber trachtete
+er, das Getreide von solchen Feldern zu schneiden, auf welchen Andere
+gesäet hatten, so daß er keine weitere Mühe hatte, als den Fleiß Anderer
+einzusacken. So gerieth er eines Tages auch an den See, dahin, wo der
+Fischer in der Nacht seine Netze ausgelegt hatte. Er holte sich eben
+gemächlich die Fische aus den Maschen heraus, als der Fischer mit dem
+Knaben kam, um die Netze herauszuziehen. Des Knaben Luchsauge hatte mit
+Blitzesschnelle schon von weitem den Feind unter dem Wasser erblickt. Er
+zog seinen Herrn bei Seite und flüsterte ihm in's Ohr, woran es läge,
+daß ihr Fang in den letzten Tagen so schlecht ausgefallen sei. »Eine
+Diebshand fuschelt jetzt eben am Netze herum« -- sagte er, indem er mit
+ausgestrecktem Finger des Wirths Auge auf den Dieb lenkte, der eben auf
+dem Grunde des See's bei der Arbeit war und die Kommenden nicht
+bemerkte. Aber Lijon war ein gewiegter Zauberkünstler, der eine
+Diebspfote auf frischer That zu bannen wußte, so daß der Dieb nicht
+hoffen konnte, ohne ihn wieder loszukommen. Als er alle geheimen Bräuche
+der Ordnung nach vollzogen hatte, ging er mit dem Knaben wieder heim und
+sagte scherzend: »Mag er bis morgen früh die Fische zahlen, wie viel
+ihrer in's Netz gegangen sind!« Als man am andern Morgen an den See kam,
+um die Netze herauszuziehen, wurde Altväterchen Tühi in der Schlinge
+festgemacht gefunden, und konnte sich nicht losmachen, sondern war
+genötigt, dem Fischer unter die Augen zu treten. Als nun sein Kopf mit
+dem Netze auf die Oberfläche des Wassers stieg, versetzte ihm der
+Fischer mit dem Ruder von Ebereschenholz gleich einige Hiebe zum Gruß,
+daß dem Männlein die Ohren sausten. Am Ufer nahmen dann Beide, der
+Fischer und sein Knabe, die Knüttel zur Hand und machten sich daran, dem
+Diebe seinen Lohn auszuzahlen. Obgleich der Knabe von schmächtigem
+Körperbau zu sein schien, so schmeckten doch seine Hiebe so bitter, daß
+sie dem alten Tühi durch Mark und Bein gingen und ihm den Athem zu
+benehmen drohten. Da begann Tühi zu schreien und zu flehen: »Vergieb mir
+diesmal, Brüderchen, und höre nur meine Entschuldigung an. Noth treibt
+den Ochsen an den Brunnen, und Noth trieb auch mich Armen jetzt an dein
+Netz. Mir steht zu Hause des Sohnes Hochzeit bevor, die, wie du wohl
+weißt, sich ohne Fische nicht ausrichten läßt. Und da ich selbst keine
+Netze hatte, mußte ich schon einige Fische aus deinen Netzen auf Borg
+nehmen. Dies war mein erstes Vergehen gegen dich und soll auch mein
+letztes bleiben. Ich will mein Lebtag das Bad nicht vergessen, das ihr
+mir heute eingeheizt habt. Dein Knabe hat mich so wacker gequästet, daß
+ich meine Knochen nicht fühle und nicht Hand noch Fuß regen kann.« Der
+Fischer erwiederte: »Mag denn unser Handel diesmal abgemacht sein. Du
+kennst jetzt meine Netze und wirst dich sicherlich ein ander Mal vor
+ihnen zu hüten wissen. Nimm den Fischsack auf den Rücken, und dann geh
+mir flink aus den Augen, daß ich deine Fersen nicht mehr sehe, oder aber
+--!« Bei diesen Worten zeigte er ihm den Stock. Der alte Tühi küßte dem
+Fischer die Füße zum Dank dafür, daß er so leichten Kaufes losgekommen
+war. Obwohl er aber schon über ein Fuder fremder Fische im Sacke hatte,
+so gelüstete es ihn doch, noch einen Fisch zu fangen, den er für das
+allerköstlichste Gericht hielt. Mit Honigworten begann er den Fischer zu
+bitten, auf seines Sohnes Hochzeit zu Gast zu kommen, denn er hoffte
+dort mit Gewalt oder mit List der Seele des Fischers habhaft zu werden.
+Der Fischer versprach zu kommen, wenn er auch den Knaben mitbringen
+könnte. Der alte Tühi dachte: »Vortrefflich, das Glück scheint mir
+günstiger zu sein, als ich mir vorstellte, hier werden mir zwei für
+einen geboten.« »Meinethalben bringe den Bengel mit, wenn du allein
+nicht kommen willst!« rief er Abschied nehmend und schleppte seine vor
+Schmerz steif gewordenen Glieder weiter.
+
+Obwohl der alte Tühi nun gewöhnlich durch und durch ein Filz ist, so
+richtete er doch seinem Sohne eine prächtige Hochzeit aus, wo es an
+Nichts fehlte, sondern Ueberfluß, Glanz und Jubel auf Schritt und Tritt
+sich vor den Augen der Gäste entfalteten. Tühi zeigte ihnen seinen
+unermeßlichen Reichthum an Geld und Schätzen, womit in seinen Speichern
+Kisten und Kasten bis zum Rande angefüllt waren. Er ließ auch mancherlei
+wundersame Instrumente spielen und noch wundersamere Tänze aufführen,
+wie es Niemand sonst verstand, als eben nur sein Hausgesinde. »Bitte ihn
+doch, daß er den Dudelsack herausnimmt, der hinter sieben Schlössern
+liegt, und uns darauf eine Weise vorspielen läßt!« sagte der Knabe
+heimlich zu seinem Herrn. Der Fischer kam seinem Wunsche nach und begann
+sofort dem Höllenvater anzuliegen, daß er ihnen seinen wunderbaren
+Dudelsack zeige und den Hochzeitsgästen zur Lust ein Stücklein darauf
+spielen lasse.
+
+Der alte Tühi ging, ohne etwas zu ahnen, zum zweitenmal in die Halle. Er
+holte des Himmelsdonnerers Dudelsack hinter sieben Schlössern hervor,
+legte seine fünf Finger an den Hals desselben und fing an aus
+Leibeskräften zu blasen. Aber sein Spiel gab einen gräulichen Klang.
+»Werdet nicht böse und nehmt es nicht übel, wenn ich euch geradeaus
+sage, daß aus euch kein Meister auf dem Dudelsack mehr wird; mein
+Hirtenknabe könnte es wohl besser machen. Ja ihr könntet bei ihm noch
+alle Tage in die Lehre gehen.« Tühi, der keinen Betrug witterte, gab dem
+Knaben den Dudelsack in die Hand. Ob man da ein Wunder sah! Statt des
+Knaben steht plötzlich der alte Pikne selber da und bläst den Dudelsack
+so gewaltig, daß der böse Geist mit sammt seinem Gesinde zu Boden
+stürzt. Pikne eilte darauf mit dem Fischer von dannen, sehr erfreut, daß
+ihnen die List so vortrefflich gelungen war.
+
+Als sie eine Strecke Weges zurückgelegt hatten, setzten sie sich Beide
+auf den Rand eines breiten Steines, um auszuruhen. Hier begann Pikne zur
+Lust den Dudelsack zu blasen, worauf er dann dem Fischer erzählte, was
+für Listen er angewandt, um seinen Dudelsack dem alten Tühi wieder
+abzunehmen. Während des Gespräches fiel plötzlich Regen, welcher die
+ausgetrocknete Erde nach sieben Monden wieder erfrischte. Pikne dankte,
+als er schied, seinem gewesenen Brotherrn und versprach, dessen Gebet
+immer zu erhören. Von der Zeit an ist Lijon der Mittelsmann zwischen
+Göttern und Menschen geworden und bis auf diesen Tag in diesem Ehrenamte
+geblieben.
+
+[Fußnote 56: Vgl. S. 114, Anm. 2. L.]
+
+
+
+
+11. Der Zwerge[57] Streit.
+
+
+Es ging einmal ein Mann durch einen Wald und stieß auf eine kleine
+Lichtung, wo drei Zwerge in argem Streite miteinander begriffen waren.
+Sie schlugen, stießen, bissen einander, traten sich mit Füßen und
+packten sich an den Haaren, daß es gräulich anzusehen war. Der Mann trat
+näher und fragte, worüber ihr Zank sich entsponnen. »Sehr gut, Bauer,
+daß du gekommen bist,« schrieen die Zwerge -- »du kannst Richter sein
+und unsern Zank schlichten!« Der Mann sagte: »Erst erzählt mir die
+Ursache eures Streites, damit ich Recht sprechen kann. Aber schreit
+nicht Alle zugleich, sondern Einer rede zur Zeit und deutlich, damit ich
+aus dem, was ihr vorbringt, klug werde.« -- »Sehr wohl,« erwiederte
+Einer der Zwerge. »Ich will dir den Ursprung unserer Streitigkeit
+erklären. Sieh! Gestern starb unser Vater und wir drei Brüder wollten
+jetzt seine Erbschaft untereinander theilen; und daraus entstand der
+Zank.« Der Mann fragte: »Was für eine Erbschaft hinterließ euch denn der
+Vater?« -- »Hier ist seine ganze Verlassenschaft,« erwiederte der
+wortführende Zwerg, und zeigte dem Manne einen alten Filzhut, ein Paar
+Bastschuhe und einen tüchtigen Knüttel.
+
+»Seid doch nicht unvernünftig,« sagte der Mann, »sind denn diese
+unnützen Dinge des Zankes werth? Ein Klügerer würde sie alle zusammen
+auf einen Misthaufen werfen. Da ihr das aber nicht wollt, so theilt
+denn. Ihr seid eurer drei und drei Dinge hat der Vater hinterlassen,
+also nehme Einer den Hut, der Andere die Bastschuhe und der Dritte den
+Stock, so ist die Sache in Ordnung.« »Das geht nicht!« schrieen die
+Zwerge. »Diese Dinge darf Niemand theilen, sonst schwindet die geheime
+Kraft daraus; die Dinge müssen ungetrennt bleiben.« Der Mann erkundigte
+sich nun weiter, warum man diese unnützen Dinge nicht trennen dürfe, und
+Einer der Zwerge gab ihm folgenden Bescheid:
+
+»Der alte unscheinbare verknitterte Hut, den ihr da sehet, ist für den,
+der ihn trägt, der größte Schatz.[58] Wenn er den Hut auf hat, so sieht
+er Alles, was auf der Welt vorgeht, es sei nah oder fern, sichtbar oder
+unsichtbar; -- ja der Besitzer des Hutes erkennt dann sogar die Gedanken
+der Menschen. Legt er dann noch die Bastschuhe an und sagt: Ich will
+nach Kurland oder Polen, so braucht er nichts weiter zu thun, als den
+Fuß aufzuheben: augenblicklich gelangt er an die gewünschte Stätte.
+Nimmt der Träger des Hutes und der Bastschuhe dann den Stock in die Hand
+und schlägt damit durch die Luft, so muß Alles vor ihm schmelzen, es sei
+Freund oder Feind. Ja starre Felsen, Berge und selbst böse Geister
+müssen vor diesem Stocke schwinden, denn er ist noch mächtiger als der
+Donnerkeil, Pikne's Pfeil. Ihr sehet nun selbst, daß man diese drei
+Dinge nicht trennen darf, sondern wir müssen uns ihrer der Reihe nach
+bedienen, der Eine heute, der Andere morgen und der Dritte übermorgen.«
+
+»Die Sache scheint spaßhaft genug,« sagte der Mann, dem beim Anhören
+dieser Erzählung ein guter Gedanke aufstieg. »Wenn ich aber euren
+Erbschaftsstreit schlichten soll, so muß ich erst probiren, ob auch
+Alles wahr ist, was ihr sagt.« -- »Das kannst du thun,« riefen die
+Zwerge wie aus einem Munde, »aber beeile dich. Heute wird in Kurland
+gerade eine prächtige Hochzeit gefeiert, und unsere ganze Freundschaft
+und Sippschaft hat sich dort versammelt. Wir möchten auch dahin.« Der
+Mann erwiederte: »Das könnt ihr ja leicht machen, wenn die gerühmte
+Zauberkraft wirklich in den Dingen steckt.« Darauf nahm er zuerst den
+alten verknitterten Hut zur Hand, und sah, daß derselbe nicht aus Filz
+gemacht war, sondern vielmehr aus menschlichen Nägelschnitzeln[59]
+bestand. Als er den Hut aufsetzte, ward er die prächtige Hochzeit in
+Kurland gewahr und Alles, was sonst noch in der weiten Welt geschah.
+Drauf sagte er zu den Zwergen: »Legt mir nun die Bastschuhe an und gebt
+mir den Stock, dann stellt euch alle drei in eine Reihe, den Rücken zu
+mir und das Gesicht gegen Morgen gewendet, aber seht euch nicht eher um,
+als bis ich euch den Bescheid ertheile, wie ihr eure Zauberdinge dem
+Willen des Vaters gemäß theilen müsset.« -- Die einfältigen Zwerge
+erfüllten ohne Widerrede des Richters Geheiß, kehrten das Gesicht nach
+Morgen und wandten ihm den Rücken zu. Als der Mann den Hut auf dem Kopfe
+und die Bastschuhe an den Füßen hatte, schwang er den Knüttel ein paar
+Mal in der Luft um und ließ ihn dann hart auf die Zwerge fallen.
+Augenblicklich waren diese wie weggefegt, und es war keine Spur weiter
+von ihnen geblieben, als drei Tropfen Wasser auf dem
+Frauenmantel-Blatt,[60] auf welchem die Männlein gestanden hatten.
+
+Da ihm das erste Probestück so gut gelungen war, beschloß der Mann sich
+nach Kurland zur Hochzeit zu begeben. Mit diesem Wunsche hob er den Fuß
+auf und rief: »Zur kurischen Hochzeit!« und war in demselben Augenblicke
+auf dem Feste angekommen. Da fand er eine große Menge Menschen
+versammelt, Hohe und Niedere, denn der Hochzeitgeber war ein
+vielgenannter reicher Wirth. Da der Mann mit dem Zauberhute Verborgenes
+eben so gut gewahrte, wie Offenbares, so sah er, als er die Augen zur
+Decke emporhob, daß sich an derselben und auf den Dörrstangen[61] ein
+Schwarm kleiner Gäste befand, deren Menge viel größer zu sein schien,
+als die der eingeladenen Gäste unten. Außer ihm aber konnte niemand das
+kleine Volk sehen. Die Kleinen flüsterten: »Seht doch! der alte Ohm ist
+auch zur Hochzeit gekommen.« -- »Nein!« riefen andere dagegen, -- »der
+fremde Mann hat wohl des Ohms Hut, Bastschuhe und Stock, aber der Ohm
+selbst ist nicht hier.« Inzwischen wurden die Schüsseln mit den Speisen
+aufgetragen, und zwar lagen Deckel darauf. Da sah der Allsichtige, was
+von den Uebrigen niemand bemerkte, daß mit einer wunderbaren
+Geschwindigkeit die guten Speisen aus den Schüsseln herausgenommen und
+schlechtere dafür hineingethan wurden.[62] Eben so ging es mit den
+Kannen und Flaschen. Jetzt fragte der Allsichtige nach dem Hausherrn,
+trat mit schicklichem Gruß zu ihm und sagte: »Nehmt es nicht übel, daß
+ich als unbekannter Fremder unerwartet zu eurem Feste gekommen bin.«
+»Seid willkommen,« entgegnete der Wirth --»Speise und Trank haben wir
+genug, so daß uns ein und der andere ungeladene Gast nicht lästig fallen
+kann.« Der Allsichtige versetzte: »Ich will es glauben, daß ein Gast
+mehr oder weniger hier nicht lästig fällt, wenn aber die Zahl der
+ungebetenen Gäste die der gebetenen übersteigt, da kann doch auch der
+reichste Wirth zu kurz kommen.« »Ich verstehe eure Rede nicht,« sagte
+der Wirth. Der Fremde gab ihm seinen Hut und sagte: »Setzet meinen Hut
+auf und hebt die Augen zur Decke hinauf, da werdet ihr schon sehen.« Der
+Wirth that es, und als er sah, was für Streiche die kleinen Gäste mit
+der Mahlzeit verübten, wurde er todtenbleich und rief mit zitternder
+Stimme: »Ei, Freundchen! von diesen Gästen hat meine Seele nichts
+gewußt; und da ich euren Hut wieder abnehme, sind sie verschwunden. Wie
+könnte ich sie wohl los werden?« Der Eigner des Hutes erwiederte: »Ich
+will euch die kleinen Gäste bald vom Halse schaffen, wenn ihr die
+geladenen Gäste auf kurze Zeit hinausführen, Thüren und Fenster
+sorgfältig verschließen und dafür sorgen wollt, daß nirgends ein Astloch
+oder ein Spalt in der Wand unverstopft bleibt.« Obwohl der Festgeber
+dem Dinge nicht recht traute, so that er doch was der Fremde gewünscht
+hatte, und bat ihn, die kleinen Windbeutel hinauszujagen.
+
+Nach einer kleinen Weile war das Gemach von den geladenen Gästen
+geräumt, Thüren, Fenster und andere Oeffnungen sorgfältig verschlossen,
+und der Allsichtige war mit den kleinen Gästen allein. Da begann er
+seinen Knüttel gegen die Decke und in den Zimmerecken zu schwingen, daß
+es eine Lust war zu sehen! In wenigen Augenblicken war die ganze Schaar
+der kleinen Gäste vernichtet, und an der Diele lagen so viele
+Wassertropfen, als wenn es stark geregnet hätte. Nur ein Bohrloch war
+zufällig unverstopft geblieben, dahinaus schlüpfte eins der Zwerglein,
+wiewohl der Knüttel den Flüchtling noch gestreift hatte. Dieser stöhnte
+auf dem Hofe: »Ai, ai, was für ein Schmerz! Schon manches Mal habe ich
+die Pfeile des alten Papa Pikne geschmeckt, aber das war nichts gegen
+diesen Knüttel.«
+
+Als der Wirth mit Hülfe des Wunderhutes sich überzeugt hatte, daß das
+Gemach von den Zwerglein gereinigt war, bat er die Gäste wieder
+einzutreten. Bei Tische durchschaute der Allsichtige die geheimen
+Gedanken der Hochzeitsgäste, und erfuhr Manches, wovon die Andern nichts
+ahndeten. Der Bräutigam trug mehr Verlangen nach der Habe seines
+Schwiegervaters, als nach seiner jungen Frau; diese, welche als Mädchen
+mit dem Junker des Gutes zu thun gehabt hatte, hoffte durch ihren Mann
+und ihre Haube ihre Schande zu bedecken. -- Jammerschade, daß in unsern
+Tagen solche Hüte nirgends mehr zu finden sind.
+
+[Fußnote 57: Wörtlich: Ochsenknieleute. L.]
+
+[Fußnote 58: S. die Nota auf der folgenden S. L.]
+
+[Fußnote 59: Dieser Hut stammt aus der Unterwelt. S. Kalewipoëg =XIII=,
+831 ff. Er hat zehn Gewalten, unter andern die Kraft, den Körper
+auszudehnen und zusammenzuziehen. Der Kalewsohn, der sich des Hutes
+bemächtigt hatte, beginnt den Ringkampf mit dem Höllenfürsten
+(Gehörnten, =sarwik=) in verschrumpfter gewöhnlicher Mannslänge, als aber
+der Kampf ihn schwächt, läßt er sich durch den Hut wieder zum Riesen
+machen, hebt den Gehörnten zehn Klafter hoch und stampft ihn in den
+Boden. =XIV=, 811 ff. Darauf muß der Hut, der auch Wunschhut heißt, ihn
+und die drei in der Hölle gefangen gehaltenen Schwestern sammt den
+Höllenschätzen auf die Oberwelt versetzen; im Uebermuthe verbrennt der
+Kalewsohn sodann den Schnitzel- oder Wünschelhut. Darüber klagen die
+Schwestern:
+
+ »Warum, starker Sohn des Kalew,
+ Hast den lieben Hut zerstört du?
+ Auf der Erden, in der Hölle
+ Flicht man nie mehr einen solchen.
+ Todt sind fortan alle Wünsche
+ Und vergeblich alles Sehnen« =ibid=. 909. ff.
+
+Noch jetzt herrscht im Werroschen der Gebrauch, daß man nach dem
+Beschneiden der Nägel an Fingern und Zehen mit dem Messer ein Kreuz über
+die Abschnitzel zieht, ehe man sie wegwirft, sonst soll der Teufel sich
+Mützenschirme daraus machen. S. _Kreutzwald_ zu _Boecler_ S. 139. L.]
+
+[Fußnote 60: Vgl. im Märchen 4. vom Tontlawald S. 64. L.]
+
+[Fußnote 61: Diese ruhen auf Querbalken, ziehen sich unter der
+Zimmerdecke hin und haben in der Mitte eine Oeffnung, durch welche das
+geschnittene Korn nach beiden Seiten hin zum Dörren geschoben wird. L.]
+
+[Fußnote 62: Vgl. das Märchen 8. vom Schlaukopf, wo der Teufel
+sämmtliche Speisen und Getränke durch sein Kosten verschwinden läßt.
+L.]
+
+
+
+
+12. Die Galgenmännlein.
+
+
+Ein Prediger suchte schon seit einiger Zeit einen Knecht, der neben
+seinen andern Geschäften auch die Verpflichtung übernehmen sollte,
+allmitternächtlich die Kirchenglocke zu läuten. Zwar hatten schon viele
+und zum Theil sehr brauchbare Männer den Dienst angenommen, allein
+sobald sie sich aufgemacht hatten, um das nächtliche Läuten zu besorgen,
+waren sie plötzlich wie in die Erde gesunken; kein Glockenschlag war zu
+hören, und kein Glöckner kam zurück. Der Prediger hielt die Sache sehr
+geheim, aber das plötzliche Verschwinden so vieler Menschen wurde doch
+allmählich ruchbar, und es wollte Niemand mehr bei ihm dienen.
+
+Je bekannter die Sache wurde, desto bedenklicher schüttelten die Leute
+den Kopf, und es fehlte auch nicht an bösen Zungen, welche aussprengten,
+daß der Prediger selber die Knechte umgebracht habe. Nothgedrungen hatte
+er jetzt verdoppelten Lohn nebst guter Kost angeboten. Monate lang hatte
+er jeden Sonntag nach der Predigt von der Kanzel herab verkündet: »Ich
+brauche einen tüchtigen Knecht, verspreche reichlichen Lohn, gute
+Nahrung u. s. w.« -- es war aber immer erfolglos geblieben. Da kommt
+eines Tages der schlaue Hans und bietet sich an; er hatte zuletzt bei
+einem geizigen Herrn gedient, darum zog ihn das Versprechen guter
+Nahrung zu dem Geistlichen, und er wollte den Dienst gleich antreten.
+»Ganz wohl, mein Sohn,« sagte der Prediger: »wenn es dir an Muth und
+Gottvertrauen nicht fehlt, so kannst du schon diese Nacht dein
+Probestück ablegen. Morgen wollen wir dann den Dienstvertrag
+abschließen.«
+
+Hans war damit zufrieden, ging in die Gesinde-Stube und machte sich um
+seinen neuen Dienst keine Sorge. Der Prediger war ein Geizhals und ward
+immer verdrießlich, wenn das Gesinde zu viel aß, deßhalb kam er meist
+während der Mahlzeit herein, weil er hoffte, die Leute würden in seiner
+Gegenwart weniger dreist zulangen. Er ermahnte das Gesinde, zwischen dem
+Essen recht oft zu trinken, denn er meinte, je mehr Flüssiges Einer im
+Magen habe, desto weniger Platz werde für Brot und Zukost übrig bleiben.
+Hans aber war schlauer als sein Herr, er leerte den Krug auf einen Zug
+und sagte: »Das macht noch einmal so viel Platz für die Speise.« Der
+Prediger wähnte, daß sich die Sache wirklich so verhalte, und forderte
+seitdem seine Leute nicht mehr zum Trinken auf. Hans aber lachte
+innerlich, daß ihm das Schelmstück gelungen war.
+
+Etwa eine Stunde vor Mitternacht ging Hans in die Kirche. Er fand sie
+inwendig erleuchtet und war ein wenig verwundert, als er beim Eintreten
+eine zahlreiche Gesellschaft vorfand, welche nicht die Andacht hier
+zusammengeführt hatte. Die Leute saßen um einen langen Tisch und
+spielten Karten. Hans empfand keine Furcht, oder, wenn er etwas davon
+verspürte, so war er doch klug genug, es sich nicht merken zu lassen. Er
+ging dreist an den Tisch und setzte sich zu den Spielern. Einer
+derselben bemerkte ihn und fragte: »Freundchen, was hast du hier zu
+suchen?« Hans sah ihn eine Weile groß an und sagte dann lachend: »Du
+Naseweis solltest dir lieber das Maul stopfen! Wenn Jemand hier ein
+Recht hat zu fragen, so meine ich es zu sein. Wenn ich mich meines
+Rechtes nicht bediene, so wäre es für euch gewiß das Gescheuteste, euer
+vorlautes Maul zu stopfen!«
+
+Darauf nahm Hans Karten zur Hand und spielte mit den unbekannten
+Männern, als wären es seine besten Freunde. Er hatte viel Glück, denn
+sein Einsatz verdoppelte sich ihm, und dadurch wurden manchem seiner
+Mitspieler die Taschen geleert. Da hörte man einen Hahnenschrei,
+Mitternacht mußte angebrochen sein, plötzlich erloschen die Lichter und
+im Nu waren die Spieler sammt Tisch und Bänken verschwunden. Hans mußte
+in der dunklen Kirche eine Zeitlang herumtappen, bis er endlich den
+Eingang zur Thurmtreppe fand.
+
+Als er den ersten Absatz hinauf geklettert war, sah er auf der obersten
+Stufe ein Männlein sitzen, dem der Kopf fehlte. »Hoho, mein Kleiner, was
+hast du hier zu suchen?« fragte Hans, und versetzte ihm, ohne die
+Antwort abzuwarten, einen so derben Fußtritt in den Nacken, daß das
+Männlein die lange Treppe hinunter rollte. Auf der zweiten, dritten und
+vierten Treppe fand er eben solche stumme Wächter, und ließ sie einen
+nach dem andern hinunterpurzeln, daß ihnen alle Knochen im Leibe
+knackten.
+
+Endlich war Hans ungehindert zur Glocke gelangt. Als er hinauf sah, um
+sich zu überzeugen, daß Alles in gehörigem Stande sei, erblickte er noch
+ein kopfloses Männlein, das zusammengekauert in der Glocke saß. Es hatte
+den Glockenklöppel losgemacht und schien darauf zu warten, daß Hans den
+Glockenstrang anzöge, um ihm dann den schweren Klöppel auf den Kopf zu
+schmeißen, was dem Glöckner sicher den Tod gebracht hätte.
+
+»Halt, Freundchen!« rief Hans -- »so haben wir nicht gewettet. Du hast
+wohl gesehen, wie ich deine kleinen Kameraden, ohne ihre eigenen
+Beinchen zu bemühen, die Treppe habe hinunter rollen lassen? Gleich
+sollst du hinter ihnen her fliegen. Aber weil du am höchsten sitzest,
+sollst du auch die stolzeste Fahrt machen, ich will dich zur Luke
+hinauswerfen, daß dir die Lust vergehen soll, wiederzukommen.«
+
+Mit diesen Worten setzte er die Leiter an, um den Kleinen aus der Glocke
+heraus zu holen und seine Drohung wahr zu machen. Das Männlein erkannte
+die Gefahr, in der es schwebte, und fing an zu bitten: »Brüderchen!
+schone mein armes Leben! Dafür will ich dir fest versprechen, daß weder
+ich noch meine Kameraden dich je wieder beim nächtlichen Läuten stören
+sollen. Wohl bin ich klein und unansehnlich, allein wer weiß, ob es sich
+nicht einmal fügt, daß ich dir für deine Wohlthat mehr erstatten kann,
+als einen Bettlerdank.«
+
+»Du winziger Knirps!« lachte Hans. »Deine Dankesgabe wird eine Mücke auf
+ihrem Schwanze fortbringen können! Aber da ich heute gerade bei guter
+Laune bin, so magst du am Leben bleiben. Doch hüte dich, mir wieder in
+die Quere zu kommen, ich möchte sonst ein zweites Mal nicht mit dir
+spaßen.« Das kopflose Männlein dankte demüthig, kletterte wie ein
+Eichhörnchen an dem Glockenstrang herab und lief die Thurmtreppe
+herunter, als hätte es Feuer in der Tasche. Hans läutete jetzt nach
+Herzenslust.
+
+Als der Pfarrer um Mitternacht die Kirchenglocke hörte, verwunderte er
+sich und war froh, daß er doch endlich einen Knecht gefunden, der das
+Probestück glücklich zu Stande gebracht hatte. Hans ging nach gethaner
+Arbeit auf den Heuboden und legte sich schlafen.
+
+Der Pfarrer pflegte früh am Morgen aufzustehen, um nachzusehen, ob die
+Leute bei ihrer Arbeit seien. Alle waren an ihrem Platze, nur der neue
+Knecht fehlte, und keiner wollte ihn gesehen haben. Als nun
+Mittmorgen[63] vorüber war, und es eilf Uhr wurde und Hans noch immer
+nicht erschien, da ward dem Pfarrer bange und er glaubte nicht anders,
+als daß der Glöckner sein Ende gefunden habe, wie seine Vorgänger. Als
+aber das Gesinde durch das Klopfbrett zum Mittagessen zusammengerufen
+wurde, kam auch Hans zum Vorschein. »Wo bist du den ganzen Vormittag
+gewesen?« fragte der Pfarrer. »Ich habe geschlafen,« antwortete Hans
+gähnend.
+
+»Geschlafen!« rief der Pfarrer erstaunt. »Du wirst doch nicht meinen,
+daß du alle Tage bis Mittag schlafen kannst?«
+
+»Ich meine,« erwiederte Hans, »das ist so klar wie Quellwasser. Niemand
+kann zweien Herren dienen. Wer Nachts arbeitet, der muß am Tage
+schlafen, so wie für den Tagarbeiter die Nacht zur Ruhe gemacht ist.
+Nehmt mir das nächtliche Glockenläuten ab, so bin ich bereit, mit
+Sonnenaufgang an die Arbeit zu gehen. Wenn ich aber Nachts die Glocke
+läuten soll, so muß ich am Tage schlafen, zum allermindesten bis
+Mittag.«
+
+Nachdem sie lange hin und her gestritten hatten, wurden sie endlich über
+folgende Bedingungen einig. Hans sollte von dem nächtlichen Läuten
+befreit werden, und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten, nach
+Mittmorgen eine halbe und nach dem Mittagsessen eine ganze Stunde
+schlafen; den Sonntag aber ganz frei sein. »Aber,« sagte der Pfarrer,
+»bisweilen könnten doch noch Kleinigkeiten vorfallen, besonders im
+Winter, wo die Tage kurz sind, und die Arbeit würde dann länger dauern.«
+--»Mit nichten,« rief Hans, -- »dafür sind im Sommer die Tage wieder
+lang.[64] Ich werde nicht mehr thun, als wozu ich verpflichtet bin,
+nämlich an Werkeltagen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten.«
+
+Einige Zeit darauf wurde der Pfarrer gebeten, zu einer großen Kindtaufe
+zur Stadt zu kommen. Die Stadt war nur einige Stunden weit vom Pfarrhof,
+dennoch nahm Hans den Brotsack mit. »Weswegen thust du das?« fragte der
+Prediger, »wir werden ja zum Abend in der Stadt sein.« Hans antwortete:
+»Wer kann Alles vorher wissen? unterwegs kann so Manches vorfallen, was
+unsere Fahrt verzögert, und ihr kennt unsern Contract, nach welchem ich
+nur bis Sonnenuntergang verpflichtet bin, euch zu bedienen. Sollte die
+Sonne untergehen, ehe wir die Stadt erreichen, so müßtet ihr schon
+allein weiter fahren.«
+
+Da der Pfarrer diese Rede für Scherz hielt, gab er ihm keine Antwort,
+und sie fuhren ab. Kurz vorher war frischer Schnee gefallen, den der
+Wind zusammengeweht hatte, so daß der Weg stellenweise verschüttet war
+und schnelles Fahren unmöglich machte. Unweit der Stadt mußten sie durch
+einen großen Wald. Als sie ihn erreicht hatten, lag die Sonne schon auf
+den Wipfeln der Bäume. Die Pferde schleppten sich langsam Schritt für
+Schritt durch den tiefen Schnee, und Hans drehte sich öfter nach der
+Sonne um. »Warum siehst du so oft hinter dich?« fragte der Pfarrer.
+»Weil ich im Nacken keine Augen habe,« erwiederte Hans. »Laß jetzt deine
+Narrenspossen,« sagte der Pfarrer, »und sieh' zu, daß wir in die Stadt
+kommen, ehe es ganz finster wird.« Hans fuhr weiter, ohne ein Wort zu
+verlieren, unterließ aber nicht, von Zeit zu Zeit die Sonne zu
+beobachten.
+
+Sie mochten etwa in der Mitte des Waldes sein, als die Sonne unterging.
+Hans hielt die Pferde an, nahm seinen Brotsack und stieg aus dem
+Schlitten. »Nun Hans, bist du toll geworden? was machst du?« fragte der
+Seelenhirt. Aber Hans gab ruhig zur Antwort: »Ich will mir hier ein
+Nachtlager zurecht machen, die Sonne ist untergegangen, und meine
+Arbeitszeit ist um.« Sein Brotherr that alles Mögliche, er bat und
+drohte abwechselnd, als aber Alles nichts half, versprach er ihm
+zuletzt ein gutes Trinkgeld und eine Zulage zum Jahreslohn. »Schämt ihr
+euch nicht, Herr Pastor!« sagte Hans --»wollt ihr der Versucher sein und
+mich vom rechten Wege abbringen, so daß ich gegen die Abmachung handle?
+Alle Schätze der Welt können mich dazu nicht verlocken; man faßt den
+Mann beim Wort, wie den Ochsen beim Horn. Wollt ihr noch heut Abend zur
+Stadt, so fahret in Gottes Namen allein, ich kann nicht weiter mit euch
+kommen, denn meine Dienst-Stunden sind abgelaufen.«
+
+»Mein lieber Hans, Goldjunge!« sagte jetzt der Pfarrer, »ich darf dich
+hier nicht allein lassen. Blick' nur um dich, so wirst du sehen, in
+welche Gefahr du dich muthwillig begiebst. Dort ist der Richtplatz mit
+dem Galgen, es hängen zwei Missethäter daran, deren Seelen in der Hölle
+brennen. Du wirst doch nicht in der Nähe solcher Gesellen die Nacht
+zubringen wollen?« »Warum denn nicht?« fragte Hans. »Die Galgenvögel
+hängen oben in der Luft, ich nehme mein Nachtlager unten auf der Erde,
+da können wir uns einander nichts anhaben.« Mit diesen Worten kehrte er
+seinem Herrn den Rücken und ging mit seinem Brotsack davon.
+
+Wollte der Pfarrer die Taufgebühren nicht einbüßen, so mußte er allein
+zur Stadt fahren. Hier war man nicht wenig erstaunt, ihn ohne Kutscher
+ankommen zu sehen; als er aber seine wunderliche Unterhaltung mit Hans
+erzählt hatte, wußten die Leute nicht, wen sie für den größten Thoren
+halten sollten, ob den Herrn oder den Diener.
+
+Hansen war es gleichgültig, was die Leute von ihm dachten oder sagten.
+Mit Hülfe seines Brotsacks hatte er die Forderungen seines Magens
+befriedigt, dann zündete er sich seinen Nasenwärmer (Pfeife) an, machte
+unter einer breiten ästigen Fichte sein Lager zurecht, wickelte sich in
+seinen warmen Pelz und schlief ein. Einige Stunden mochte er geschlafen
+haben, als ein plötzlicher Lärm ihn aufweckte. Die Nacht war mondhell.
+Dicht neben seinem Lager standen zwei kopflose Männlein unter der Fichte
+und führten zornige Reden. Hans richtete sich in die Höhe, um besser zu
+sehen, aber in demselben Augenblick riefen die Männlein: »Er ist es, er
+ist es!« Der eine trat dann näher an Hansen's Lager und sagte: »Alter
+Freund! ein glücklicher Zufall führt uns zusammen. Meine Knochen thun
+mir noch weh von der Thurmtreppe her in der Kirche, du hast wohl die
+Geschichte nicht vergessen? dafür sollen heute deine Knochen dermaßen
+bearbeitet werden, daß du Wochenlang an unser Zusammentreffen denken
+sollst. He! Gesellen! Holt aus und macht euch dran!«
+
+Wie ein dichter Mückenschwarm sprangen nun von allen Seiten die
+kopflosen Männlein herbei, Alle mit tüchtigen prügeln bewaffnet, die
+größer waren als ihre Träger. Die Masse dieser kleinen Feinde drohte
+Gefahr, denn ihre Schläge fielen so hart, daß ein starker Mann kaum
+bessere hätte führen können. Hans glaubte, sein letztes Stündlein sei
+gekommen; einem so zahlreichen Feindeshaufen konnte er keinen Widerstand
+leisten. Sein Glück war es, daß gerade, als das Prügeln im besten Gange
+war, noch ein Männlein dazu kam. »Haltet ein, haltet ein, Kameraden!«
+rief er den Seinigen zu. »Dieser Mann war einst mein Wohlthäter und ich
+bin sein Schuldner. Er schenkte mir das Leben, als ich in seiner Gewalt
+war. Hat er einige von euch unsanft die Treppe hinunter geworfen, so ist
+doch glücklicher Weise keiner lahm geworden. Das warme Bad hat die
+zerschlagenen Glieder längst wieder geschmeidigt, darum verzeiht ihm und
+geht nach Hause.«
+
+Die kopflosen Männlein ließen sich leicht durch ihren Kameraden
+beschwichtigen und gingen still fort. Hans erkannte jetzt in seinem
+Retter den nächtlichen Geist in der Kirchenglocke. Dieser setzte sich
+nun unter der Fichte neben Hans nieder und sagte: »Damals verlachtest du
+mich, als ich dir sagte, vielleicht komme einmal eine Zeit, wo ich dir
+nützlich werden könnte. Heute ist ein solcher Augenblick nun
+eingetreten, und daraus lerne, daß man auch das kleinste Geschöpf auf
+der Welt nicht verachten darf.« »Ich danke dir von Herzen,« sagte Hans
+-- »meine Knochen sind von ihren Schlägen wie zermalmt, und ich hätte
+das Bad leicht mit dem Leben bezahlen können, wenn du nicht zu rechter
+Zeit dazu gekommen wärest.«
+
+Das kopflose Männlein fuhr fort: »Meine Schuld wäre jetzt getilgt; aber
+ich will mehr thun und dir für die erhaltenen Schläge noch
+Schmerzensgeld zahlen. Du brauchst dich nicht länger als Knecht bei
+einem geizigen Pastor zu quälen. Wenn du morgen nach Hause kommst, so
+geh' gleich zur nördlichen Kirchenecke, da wirst du einen großen Stein
+eingemauert finden, der nicht wie die andern mit Kalk getüncht ist.
+Uebermorgen Nacht haben wir Vollmond: dann brich um Mitternacht den
+bezeichneten Stein mit der Brechstange aus der Mauer heraus. Unter dem
+Steine wirst du einen unermeßlichen Schatz finden, an dem viele
+Geschlechter gesammelt haben: goldenes und silbernes Kirchengeräthe und
+sehr viel baares Geld wurde hier, als einst eine Kriegsnoth herrschte,
+vergraben. Diejenigen, welche den Schatz hier verbargen, sind schon vor
+mehr als hundert Jahren alle gestorben, und keine Seele weiß jetzt um
+die Sache. Ein Drittel des Geldes mußt du unter die Kirchspiels-Armen
+vertheilen, alles Andere ist von Rechtswegen dein Eigenthum, womit du
+verfahren kannst, wie es dir beliebt.« In diesem Augenblicke hörte man
+aus dem fernen Dorfe den Hahnenschrei und plötzlich war das kopflose
+Männlein wie weggefegt. Hans konnte lange vor Schmerz in den Gliedern
+nicht einschlafen und dachte viel über den verborgenen Schatz; erst
+gegen Morgen verfiel er in Schlummer.
+
+Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sein Brotherr aus der Stadt
+zurückkam. »Hans, du warst gestern ein großer Thor, daß du nicht mit mir
+fuhrst,« sagte der Pfarrer. »Sieh', ich habe gut gegessen und getrunken
+und überdies noch Geld in der Tasche.« Indem er so sprach, klapperte er
+mit dem Gelde, um dem Knecht das Herz noch schwerer zu machen. Hans aber
+erwiederte ruhig: »Ihr, geehrter Herr Pastor, habt für das Bischen Geld
+die Nacht wachen müssen, während ich im Schlafe hundertmal mehr verdient
+habe.« »Zeige mir doch, was hast du verdient?« fragte der Prediger. Aber
+Hans antwortete: »Die Narren prahlen mit ihren Kopeken, aber die Klugen
+verstecken ihre Rubel.«
+
+Zu Hause angelangt, besorgte Hans rasch, was ihm oblag, spannte die
+Pferde aus und warf ihnen Futter vor, ging dann um die Kirche herum und
+fand an der bezeichneten Stelle den nicht getünchten Mauerstein.
+
+In der ersten Nacht des Vollmonds, als die Andern alle schliefen,
+verließ er heimlich mit einer Brechstange das Haus, brach mit vieler
+Mühe den Stein heraus und fand in der That die Grube mit dem Gelde, ganz
+wie das Männlein gesagt hatte. Am Sonntage vertheilte er den dritten
+Theil unter die Armen des Kirchspiels, kündigte dann dem Prediger auf,
+und da er für die kurze Zeit keinen Lohn verlangte, so wurde er ohne
+Widerrede entlassen. Hans aber zog weit weg, kaufte sich einen schönen
+Bauerhof, nahm ein junges Weib und lebte dann noch viele Jahre glücklich
+und in Frieden.
+
+Zu der Zeit, als mein Großvater Hüterknabe war, lebten in unserm Dorfe
+noch viele alte Leute, welche den Hans gekannt hatten und die Wahrheit
+dieser Geschichte bezeugen konnten.
+
+[Fußnote 63: Neun Uhr. L.]
+
+[Fußnote 64: Er denkt dabei an die ehstnische Redewendung: »die Tage
+gehen in der Richtung (zum Besten) des Wirths« -- d. h. sie nehmen zu.
+Dagegen: »die Tage gehen in der Richtung des Knechts« -- d. h. sie
+nehmen ab.]
+
+
+
+
+
+13. Wie eine Königstochter sieben Jahre geschlafen.
+
+
+Einmal war eines großen Königs Tochter plötzlich gestorben, und Trauer
+und Wehklagen erfüllte das ganze Land. An dem Tage, wo die Todte
+eingesargt werden sollte, kam aus fernen Landen ein weiser Mann
+(Zauberer) in die trauernde Königsstadt. Er schloß aus der allgemeinen
+Bekümmerniß, daß hier etwas Besonderes vorgefallen sein müsse und
+fragte, was denn die Bewohner so sehr drücke. Als er Auskunft erhalten
+hatte, begab er sich in den königlichen Palast, nannte sich einen weisen
+Arzt und bat um Zutritt zum Könige. Schon auf der Schwelle rief er mit
+starker Stimme: »Die Jungfrau ist nicht todt, sondern nur müde, laßt sie
+eine Zeitlang ruhen.« Als der König diesen Ausspruch gehört hatte,
+befahl er dem Fremden, näher zu treten. Der Zauberer aber sagte: »Die
+Jungfrau darf nicht zu Grabe gebracht werden. Ich werde einen Glaskasten
+machen, darin wollen wir sie betten und ruhig schlafen lassen, bis die
+Zeit des Erwachens heran kommt.«
+
+Der König war höchlich erfreut über diese Rede und versprach dem
+Zauberer reichen Lohn, wenn seine Verheißung sich erfüllen würde.
+Dieser machte darauf einen großen Glaskasten, legte seidene Kissen
+hinein, bettete die Königstochter darauf, schloß den Deckel und ließ den
+Kasten in ein großes Gemach tragen, jedoch Wachen vor die Thür stellen,
+damit Niemand die Schlafende wecke.
+
+Nachdem dies geschehen war, sagte der Zauberer zum Könige: »Sendet jetzt
+überall hin und lasset allen Glasvorrath aufkaufen, dann werde ich einen
+Ofen bauen, der größer sein wird als eure Königsstadt, und in welchem
+wir unser Glas zu einem Berge zusammenschmelzen wollen. Wenn sechs Jahre
+verstrichen sind, und der Lerchensang den siebenten Sommer ankündigt,
+dann sendet Boten nach allen Richtungen hin, und lasset bekannt machen,
+daß es jedem jungen Manne erlaubt sei, sich als Bewerber um eure Tochter
+einzufinden. Wer von den Freiern dann, sei es zu Pferde, oder auf seinen
+eigenen Füßen, des Glasberges Gipfel erklimmt, der muß euer
+Schwiegersohn werden. Wenn nämlich der auserkorene Mann kommt, was
+binnen sieben Jahren und sieben Tagen geschehen wird, dann wird eure
+Tochter aus dem Schlafe erwachen und dem Jüngling einen goldenen Ring
+geben. Wer euch diesen Ring bringt, und wäre es der geringste eurer
+Unterthanen, ja auch eines Tagelöhner's Sohn, dem müßt ihr eure Tochter
+zur Gemahlin geben, sonst wird sie in ewigen Schlaf versinken.«
+
+Der König versprach, sich in allen Stücken nach dieser Vorschrift zu
+richten, und gab sofort Befehl, in allen angränzenden Ländern den
+Glasvorrath anzukaufen. Als das sechste Jahr ablief, war so viel Glas
+beisammen, daß es eine Fläche von einer Meile sieben Klafter hoch
+bedeckte.
+
+Inzwischen hatte der Zauberer seinen Schmelzofen fertig, der so hoch
+war, daß er fast an die unterste Wolkenschicht reichte. Der König
+stellte ihm zweitausend Arbeiter zur Verfügung, welche das Glas in den
+Ofen thaten. Hier schmolz es, und die Hitze wurde so stark, daß Sümpfe,
+Flüsse und kleine Seen austrockneten, ja selbst in Quellen und tiefen
+Brunnen eine Abnahme des Wassers zu bemerken war.
+
+Während nun der Zauberer seinen Glasberg zusammenschmilzt, wollen wir in
+eine Bauernhütte treten, die nicht weit von der Königsstadt liegt, und
+wo ein alter Vater mit seinen drei Söhnen wohnt. Die beiden älteren
+Brüder waren gescheute, gewiegte Bursche, der jüngste aber etwas
+einfältig. Als der Vater erkrankte und sein Ende herannahen fühlte, ließ
+er seine Söhne vor sein Lager treten und sprach folgendermaßen: »Ich
+fühle, daß mein Heimgang herannaht, deßhalb will ich euch meinen letzten
+Willen kund thun. Ihr, meine lieben älteren Söhne, sollt
+gemeinschaftlich Haus und Acker bestellen, so lange ihr nicht beide
+heirathet. Die Herrschaft zweier Herdesköniginnen würde einen Riß in's
+Hauswesen bringen. Denn ein altes wahres Wort sagt: »Wo sieben
+unbeweibte Brüder friedlich bei einander leben, da wird es zweien Frauen
+zu eng; sie müssen sich zausen.« Tritt aber dieser Fall ein, so sollt
+ihr Haus und Felder unter einander theilen. Euer jüngster Bruder aber,
+der weder zum Wirth noch zum Knecht taugt, soll bei euch Obdach und
+Nahrung finden, so lange er lebt. Zu diesem Behufe vermache ich euch
+beiden meinen Geldkasten. Euer jüngster Bruder ist zwar etwas kurz von
+Verstande, aber er hat ein gutes Herz, und wird euch eben so willig
+gehorchen, wie er mir immer gehorcht hat.« Die älteren Brüder
+versprachen mit trockenem Auge und geläufiger Zunge des Vaters Willen zu
+erfüllen, der jüngste sprach kein Wort und weinte bitterlich. »Noch Eins
+will ich sagen,« fuhr der Vater fort -- »wenn ich todt bin und ihr mich
+begraben habt, so erweiset mir als letzten kleinen Liebesdienst, daß
+jeder von euch eine Nacht an meinem Grabe wacht.« Beide älteren Brüder
+versprachen mit trockenem Auge und geläufiger Zunge, des Vaters Willen
+zu erfüllen, der jüngste sagte kein Wort und weinte bitterlich. Bald
+nach dieser Unterredung hatte der Vater seine Augen auf immer
+geschlossen.
+
+Die beiden älteren Brüder richteten ein großes Gastmahl an und luden
+viele Gäste ein, damit der todte Vater mit allen Ehren bestattet werde.
+Sie selbst waren guter Dinge und aßen und tranken wie auf einer
+Hochzeit, während ihr dritter Bruder still weinend am Sarge des Vaters
+stand; als der Sarg dann weggetragen und in's Grab gesenkt wurde, da war
+dem jüngsten Sohne zu Muthe, als wären nun alle Freuden abgestorben und
+mit dem Vater begraben.
+
+Spät am Abend, als die letzten Gäste fortgegangen waren, fragte der
+jüngste Bruder, wer die erste Nacht am Grabe des Vaters wachen würde.
+Die andern sagten: »Wir sind müde von der Besorgung des Begräbnisses,
+wir können heute Nacht nicht wachen, aber du hast nichts Besseres zu
+thun, also geh du und halte Wache.«
+
+Der jüngste Bruder ging ohne ein Wort zu sagen zum Grabe des Vaters, wo
+Alles still war und nur die Grille zirpte. Um nicht einzuschlafen, ging
+er leisen Schrittes auf und ab. Es mochte um Mitternacht sein, als es
+wie von einer klagenden Stimme aus dem Grabe tönte:[65]
+
+ »Wessen Schritt ist's, der da schüttet
+ Groben Kiessand auf die Augen,
+ Schwarze Erde auf die Brauen.«
+
+Der Sohn verstand die Frage und antwortete:
+
+ »Das ist ja dein jüngster Knabe,
+ Dessen Schritt ist's, der da schüttet
+ Groben Kiessand auf die Augen,
+ Schwarze Erde auf die Brauen.«
+
+Die Stimme fragte weiter, warum die älteren Brüder nicht zuerst zur
+Wacht gekommen seien, worauf der jüngste sie entschuldigte, sie hätten,
+ermüdet von der Beerdigung, heute nicht kommen können.
+
+Wieder hob des Vaters Stimme an: »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes
+werth, darum will ich dir auch deinen Lohn nicht vorenthalten. Es wird
+bald eine Zeit kommen, wo du dir bessere Kleider wünschen wirst, um in
+die Gesellschaft vornehmer Leute kommen zu können. Dann tritt an mein
+Grab, stampfe mit deiner linken Ferse dreimal auf den Grabhügel und
+sprich: »Lieber Vater, ich bitte um meinen Lohn für die _erste_ nächtliche
+Wacht.« Dann wirst du einen Anzug und ein Pferd erhalten. Aber sage
+deinen Brüdern nichts davon.«
+
+Mit Tagesanbruch ging der Grabeswächter heim, frühstückte etwas, um sich
+zu stärken, und legte sich dann nieder, um zu ruhen.
+
+Als am Abend die Zeit herankam, fragte er bei den Brüdern an, wer von
+ihnen die Nacht am Grabe des Vaters wachen würde. Die Brüder antworteten
+spöttisch: »Nun es wird wohl Niemand kommen, um den Vater aus dem Grabe
+zu stehlen. Wenn du aber Lust hast, so kannst du ja auch diese Nacht
+dort wachen. Aber mit all deinem Wachen wirst du den Vater nicht wieder
+ins Leben zurückrufen.« Der jüngste Bruder wurde über diese lieblose
+Rede noch betrübter und verließ mit Thränen in den Augen das Gemach.
+
+Auf dem Grabe des Vaters war Alles ruhig, wie gestern Nacht, nur die
+Grille zirpte im Grase. Damit er nicht einschliefe, ging er leisen
+Schrittes auf und ab. Es mochte wohl Mitternacht sein, die Hähne hatten
+schon zweimal gekräht, als eine klagende Stimme aus dem Grabe sich
+vernehmen ließ:
+
+ »Wessen Schritt ist's, der da schüttet
+ Groben Kiessand auf die Augen,
+ Schwarze Erde auf die Brauen?«
+
+Der Sohn verstand die Frage und erwiederte:
+
+ »Das ist ja dein jüngster Knabe,
+ Dessen Schritt ist's, der da schüttet
+ Groben Kiessand auf die Augen,
+ Schwarze Erde auf die Brauen.«
+
+Die Stimme fragte weiter, warum keiner der älteren Brüder gekommen sei,
+und der jüngste entschuldigte sie, sie seien von dem Tagewerk zu
+ermüdet, um zu wachen.
+
+Wieder hob des Vaters Stimme an: »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes
+werth, darum werde ich dir auch deinen Lohn nicht vorenthalten. Bald
+wird eine Zeit kommen, wo du dir einen noch besseren Anzug wünschen
+wirst, als den, welchen du dir gestern verdient hast. Dann tritt nur
+dreist an mein Grab, stampfe mit deiner linken Ferse dreimal auf den
+Grabhügel und sprich: »Lieber Vater, ich bitte um meinen Lohn für die
+_zweite_ nächtliche Wacht!« Sofort wirst du einen prächtigeren Anzug und
+ein schöneres Pferd erhalten, so daß die Leute ihre Augen nicht von dir
+wegwenden mögen. Aber sage deinen Brüdern nichts davon.«
+
+Mit Tagesanbruch ging er von der Grabeswacht nach Hause, fand die beiden
+älteren Brüder noch schlafend, frühstückte etwas, um sich zu stärken,
+streckte sich dann auf die Ofenbank hin und schlief, bis die Sonne schon
+etwas über Mittag stand.
+
+Als am Abend die Zeit wieder herannahte, fragte er die Brüder, wer von
+ihnen die Nacht am Grabe des Vaters wachen würde? Sie lachten und
+antworteten spöttisch: »Wer die wohlfeile Arbeit zwei Nächte gethan hat,
+der kann sie auch die dritte Nacht thun. Der Vater wird aus seinem Grabe
+nicht davonlaufen, und noch weniger werden die Leute kommen, ihn zu
+stehlen. Wäre er noch bei vollem Verstande gewesen, so hätte er einen
+Wunsch dieser Art gar nicht geäußert.« Der jüngste Bruder war sehr
+betrübt über ihre lieblose Rede, und ging wieder mit thränenden Augen
+davon.
+
+Auf dem Grabe des Vaters war Alles still, wie die beiden Nächte zuvor,
+nur die Grille zirpte im Grase, und die Schnepfe[66] meckerte unter
+hohem Himmel. Um nicht einzuschlafen, ging der Grabeswächter leisen
+Schrittes auf und ab. Es mochte Mitternacht sein, die Hähne hatten schon
+zweimal gekräht, da rief wieder die klagende Stimme aus dem Grabe:
+
+ »Wessen Schritt ist's, der da schüttet
+ Groben Kiessand auf die Augen,
+ Schwarze Erde auf die Brauen?«
+
+Der Sohn verstand die Frage und erwiederte:
+
+ »Das ist ja dein jüngster Knabe,
+ Dessen Schritt ist's, der da schüttet
+ Groben Kiessand auf die Augen,
+ Schwarze Erde auf die Brauen.«
+
+Die Stimme fragte wieder, weßwegen die älteren Brüder nicht gekommen
+seien, und erhielt dieselbe Antwort wie gestern.
+
+Aber des Vaters Stimme hob wieder an: »Jeder Arbeiter ist seines Lohnes
+werth, ich will dir den deinigen nicht vorenthalten. Bald wird eine Zeit
+kommen, wo du an dir selbst erfahren wirst, daß der Mensch, je mehr er
+hat, desto mehr begehrt. Einem guten Sohne aber, der seinem Vater auch
+nach dem Tode noch Liebe erwies, müssen alle Wünsche erfüllt werden.
+Anfangs wollte ich meine verborgenen Schätze unter deine Brüder theilen,
+jetzt bist du mein einziger Erbe. Wenn dir deine prächtigen Kleider und
+Pferde, die ich dir für die erste und zweite nächtliche Wacht zum Lohne
+versprach, nicht mehr gefallen, so tritt dreist an mein Grab, stampfe
+mit deiner linken Ferse dreimal auf den Grabhügel und sprich: »Lieber
+Vater, ich bitte um meinen Lohn für die _dritte_ nächtliche Wacht!« und
+augenblicklich wirst du die allerprächtigsten Kleider und die
+allerkostbarsten Pferde erhalten. Alle Welt wird mit Bewunderung auf
+dich blicken, deine älteren Brüder werden dich beneiden und ein großer
+König wird dich zum Schwiegersohne wählen. Aber sage deinen Brüdern
+nichts davon.«
+
+Mit Tagesanbruch ging der Grabeswächter nach Hause und dachte bei sich
+selbst: so eine Zeit wird für mich Armen wohl niemals kommen. Als er
+dann ein wenig gefrühstückt hatte, um sich zu stärken, streckte er sich
+auf die Ofenbank, schlief ein und erwachte erst, als die Sonne schon in
+den Wipfeln des Waldes stand.
+
+Während er schlief, sprachen die älteren Brüder untereinander: »Dieser
+Nachtwacher und Tagschläfer wird uns nie zu was nützen, wozu füttern wir
+ihn? Wir thäten besser, das Futter einem Schweine zu geben, das wir zu
+Weihnacht schlachten können.« Der älteste Bruder setzte hinzu: »Werfen
+wir ihn aus dem Hause, er kann vor fremder Leute Thüren sein Brod
+betteln.« Da meinte aber der andere, das würde doch nicht gut angehen,
+und würde ihnen selber Schande bringen, wenn sie, als wohlhabende Leute,
+den Bruder betteln gehen ließen. »Lieber wollen wir ihm die Brosamen von
+unserm Tische hinwerfen, satt soll er nicht dabei werden, aber auch
+nicht Hungers sterben.«
+
+Inzwischen hatte der Zauberer seinen Glasberg fertig geschmolzen, und
+der König hatte überall bekannt machen lassen, daß jeder junge Mann
+kommen dürfe, sich um seine Tochter zu bewerben, daß aber nur demjenigen
+die Jungfrau ihre Hand reichen würde, der zu Pferde oder auf eigenen
+Füßen den Gipfel des Glasberges erklimmen würde.
+
+Der König ließ nun ein großes Gelage anrichten für alle die Gäste, die
+sich einfinden würden. Das Gelage sollte drei Tage währen; für jeden Tag
+wurden hundert Ochsen und siebenhundert Schweine geschlachtet, und
+fünfhundert Fässer Bier gebraut. Die aufgestapelten Würste ragten gleich
+Wänden, die Hefenbröte[67] und Kuchen bildeten Haufen, so hoch wie die
+größten Heuschober.
+
+Die schlafende Königstochter wurde in ihrem Glaskasten auf den Gipfel
+des Glasberges getragen. Von allen Seiten strömten Fremde herbei, theils
+um das Wagestück zu versuchen, theils um das Wunder mit anzusehen. Der
+glänzende Berg strahlte wie eine zweite Sonne, so daß man ihn schon
+viele Meilen weit aus der Ferne erblickte.
+
+Unsere alten Bekannten, die beiden älteren Brüder, hatten sich
+Festkleider machen lassen und gingen auch zum Gastmahl. Der jüngste
+mußte zu Hause bleiben, damit er in seinem elenden Aufzuge den schmucken
+Brüdern keine Schande mache. Aber kaum hatten sich die älteren Brüder
+auf den Weg gemacht, so ging der jüngste an des Vaters Grab, that, wie
+die Stimme ihn gelehrt hatte, und sprach: »Lieber Vater, ich bitte um
+meinen Lohn für die _erste_ nächtliche Wacht!« -- In dem nämlichen
+Augenblicke, wo die Bitte über seine Lippen kam, stand ein ehernes Roß
+da mit ehernem Zaum, und auf dem Sattel lag die schönste glänzende
+Rüstung, vollständig vom Scheitel bis zur Sohle, und Alles paßte so gut,
+als wäre es auf seinen Leib gemacht.
+
+Um Mittag kam der eherne Mann auf seinem ehernen Pferde an den Glasberg,
+wo Hunderte und Tausende standen, aber kein Einziger war im Stande, auch
+nur einige Schritte den glatten Berg hinauf zu kommen. Der eherne Reiter
+drängte sich durch die Menge, ritt ein Drittel des Berges hinauf, als
+wäre es geschwendetes Land, kehrte dann um, grüßte den König und
+verschwand wieder. Manche Zuschauer wollten bemerkt haben, daß die
+schlafende Königstochter ihre Hand regte, als der eherne Mann
+hinaufritt.
+
+Beide Brüder konnten am Abend nicht genug von der wunderbaren That des
+ehernen Mannes und seines ehernen Pferdes erzählen. Der jüngste Bruder
+hörte ihre Reden schweigend an, ließ sich aber nicht merken, daß er
+selber der Mann gewesen war.
+
+Am andern Morgen gingen die Brüder mit Sonnenaufgang wieder fort, um die
+Gasterei nicht zu versäumen. Die Sonne stand in Südost, als der jüngste
+Bruder an das Grab des Vaters kam; er that nach der Vorschrift und
+sagte: »Lieber Vater, ich bitte um meinen Lohn für die _zweite_ nächtliche
+Wacht!« In dem nämlichen Augenblicke, wo die Bitte über seine Lippen
+kam, stand ein silbernes Pferd da mit silbernem Zaum und Sattel, und
+auf dem Sattel lag die prächtigste glänzendste silberne Rüstung,
+vollständig vom Scheitel bis zur Sohle, und Alles paßte so gut, als wäre
+es auf seinen Leib gemacht.
+
+Am Mittag kam der silberne Mann mit seinem Silberpferde an den Glasberg,
+wo Hunderte und Tausende standen; aber kein Einziger war im Stande, auch
+nur einige Schritte auf den glatten Berg hinaufzukommen. Der silberne
+Reiter drängte sich durch die Menge, ritt ein gut Stück über die Hälfte
+den Glasberg hinauf, der für die Hufe seines Pferdes wie geschwendetes
+Land zu sein schien, kehrte um, grüßte den König und war gleich darauf
+wieder verschwunden. Heute hatten die Leute deutlich gesehen, daß die
+schlafende Königstochter bei der Annäherung des silbernen Mannes ihren
+Kopf bewegt hatte.
+
+Die Brüder waren am Abend nach Hause gekommen, und konnten nicht genug
+Rühmens machen von des silbernen Mannes und seines Silberpferdes
+wunderbarer That, meinten aber doch zuletzt, es könne kein wirklicher
+Mensch sein, sondern Alles sei nur ein Zauberblendwerk. Der jüngste
+Bruder hörte ihren Reden still zu, ließ sich aber nichts davon merken,
+daß er selbst der Mann gewesen war.
+
+Am andern Morgen waren beide älteren Brüder mit Tagesanbruch wieder
+fortgegangen. An diesem Tage hatte sich noch mehr Volks versammelt, weil
+heute die sieben Jahre und sieben Tage um waren, nach deren Ablauf die
+Königstochter aus ihrem langen Schlafe erwachen sollte. Die Sonne stand
+schon ziemlich hoch, als der jüngste Bruder an des Vaters Grab ging. Er
+that nach der Vorschrift und sprach: »Lieber Vater, ich bitte um meinen
+Lohn für die _dritte_ nächtliche Wacht.« In demselben Augenblicke, wo
+diese Bitte über seine Lippen kam, stand ein goldenes Pferd da mit
+goldenem Zaum und Sattel, und auf dem Sattel lag die schönste goldene
+Rüstung, vollständig vom Scheitel bis zur Sohle, und Alles paßte so gut,
+als wäre es auf seinen Leib gemacht.
+
+Um Mittag kam der goldene Mann mit seinem Goldpferde an den Glasberg, wo
+Hunderte und Tausende standen, doch kein Einziger war im Stande, auch
+nur einige Schritte den glatten Berg hinaufzukommen. Weder der eherne
+Reiter noch der silberne hatten Spuren auf dem Berge zurückgelassen, der
+glatt geblieben war wie zuvor. Der goldene Reiter drängte sich durch die
+Menge, ritt den Berg hinauf bis zum Gipfel, und der Berg schien für die
+Hufe seines Pferdes wie geschwendetes Land zu sein. Als er oben
+angekommen war, sprang der Deckel des Kastens von selbst auf, die
+schlafende Königstochter richtete sich empor, zog einen goldenen Ring
+von ihrem Finger und gab ihn dem goldenen Reiter. Dieser aber hob die
+Jungfrau auf sein Goldpferd und ritt mit ihr langsam den Berg hinunter.
+Dann legte er sie in des Königs Arme, grüßte anmuthig und war im
+nächsten Augenblick verschwunden, als wäre er in die Erde gesunken.
+
+Des Königs Freude könnt ihr euch leicht vorstellen. Am andern Tage hatte
+er, dem Rathe des weisen Mannes zufolge, überall bekannt machen lassen,
+daß der, welcher der Prinzessin goldenen Ring zurückbringen würde, sein
+Schwiegersohn werden sollte. Von den Gästen waren die meisten zur Nacht
+dageblieben, um zu sehen, wie die Sache ablaufen werde. Auch unsere
+alten Freunde, die älteren Brüder, waren darunter und ließen sich die
+Bewirthung trefflich munden. Aber ihr Erstaunen war nicht gering, als
+sie sahen, wie ein schlecht gekleideter Mann, in dem sie bald ihren
+verschmähten Bruder erkannten, an den König herantrat. Dieser Bettler
+trug in der That den Ring der Königstochter an seiner Hand. Da bereute
+der König seine Zusage, denn so etwas hatte er nicht ahnden können.
+
+Aber der Zauberer sagte zum Könige: »Der Jüngling, den ihr seines
+schlechten Auszuges wegen für einen Bettler haltet, ist der Sohn eines
+mächtigen Königs, dessen Land weit entfernt liegt. Er wurde drei Tage
+nach seiner Geburt von einer bösen Frau des Rõugutaja[68] mit einem
+Bauernsohne vertauscht; dieser starb jedoch schon im ersten Monate,
+während der gestohlene Königssohn in einer Bauernhütte aufwuchs und
+seinem vermeintlichen Vater immer gehorsam war.«
+
+Der König war durch diese Auskunft zufriedengestellt, und ließ einen
+großen Hochzeitsschmaus anrichten, der vier Wochen dauerte. Später
+vererbte er alle seine Reiche auf seinen Schwiegersohn. Sobald dieser
+nur die Bauernkleider abgelegt hatte, benahm er sich gar nicht mehr
+einfältig, sondern seinem Stande gemäß und als kluger Herr. Seine
+Einfalt war ihm ja nicht angeboren, sondern das böse Weib hatte sie ihm
+angethan. Sonntags zeigte er sich dem Volke in seiner Goldrüstung auf
+seinem goldenen Roß. Seine vermeintlichen Brüder waren vor Neid und Wuth
+gestorben.
+
+[Fußnote 65: Die Situation und die Verse erinnern an den Besuch, den
+Kalews Sohn dem Grabe seines Vaters macht in der Nacht vor dem Tage, der
+darüber entscheiden sollte, welcher der drei Brüder einen Felsblock am
+weitesten schleudern und dadurch die Herrschaft über das Land erhalten
+werde. Kalewipoëg =VII=, 809 ff. L.]
+
+[Fußnote 66: Der Laut, den eine kleine Schnepfenart (Becassine) beim
+Fliegen hervorbringt, klingt dem ehstnischen Ohr wie das Meckern einer
+Ziege. L.]
+
+[Fußnote 67: S. Anm. zum Märchen vom Schlaukopf S. 108. L.]
+
+[Fußnote 68: S. unten die Anm. zu dem Märchen 15: Rõugutaja's Tochter.
+L.]
+
+
+
+
+14. Der dankbare Königssohn.
+
+
+Einmal hatte sich ein König des Goldlandes[69] im Walde verirrt und
+konnte, trotz alles Suchens und hin und her Streifens, den Ausweg nicht
+finden. Da trat ein fremder Mann zu ihm und fragte: »Was suchst du,
+Brüderchen, hier im dunklen Walde, wo nur wilde Thiere hausen?« Der
+König erwiederte: »Ich habe mich verirrt und suche den Weg nach Hause.«
+»Versprecht mir zum Eigenthum, was euch zuerst auf eurem Hofe
+entgegenkommen wird, so will ich euch den rechten Weg zeigen,« sagte der
+Fremde.
+
+Der König sann eine Weile nach und erwiederte dann: »Warum soll ich wohl
+meinen guten Jagdhund einbüßen? Ich finde mich wohl auch noch selbst
+nach Hause.« Da ging der fremde Mann fort, der König aber irrte noch
+drei Tage im Walde umher, bis sein Speisevorrath zu Ende ging; dem
+rechten Wege konnte er nicht auf die Spur kommen. Da kam der Fremde zum
+zweiten Mal zu ihm und sagte: »Versprecht ihr mir zum Eigenthum, was
+euch auf eurem Hofe zuerst entgegenkommt?« Da der König aber sehr
+halsstarrig war, wollte er auch dies Mal noch nichts versprechen.
+Unmuthig durchstreifte er wieder den Wald in die Kreuz und die Quer, bis
+er zuletzt erschöpft unter einem Baume niedersank und seine Todesstunde
+gekommen glaubte. Da erschien der Fremde -- es war kein anderer als der
+»alte Bursche« selber -- zum dritten Male vor dem Könige und sagte:
+»Seid doch nur kein Thor! Was kann euch an einem Hunde so viel gelegen
+sein, daß ihr ihn nicht hingeben mögt, um euer Leben zu retten?
+Versprecht mir den geforderten Führerlohn, und ihr sollt eurer Noth
+ledig werden und am Leben bleiben.« »Mein Leben ist mehr werth, als
+tausend Hunde!« entgegnete der König. »Es hängt daran ein ganzes Reich
+mit Land und Leuten. Sei es denn, ich will dein Verlangen erfüllen,
+führe mich nach Hause!« Kaum hatte er das Versprechen über die Zunge
+gebracht, so befand er sich auch schon am Saum des Waldes und konnte in
+der Ferne sein Schloß sehen. Er eilte hin und das Erste, was ihm an der
+Pforte entgegen kam, war die Amme mit dem königlichen Säugling, der dem
+Vater die Arme entgegenstreckte. Der König erschrack, schalt die Amme
+und befahl, das Kind eiligst hinweg zu bringen. Darauf kam sein treuer
+Hund wedelnd angelaufen, wurde aber zum Lohn für seine Anhänglichkeit
+mit dem Fuße fortgestoßen. So müssen schuldlose Untergebene gar oft
+ausbaden, was die oberen in tollem Wahne Verkehrtes gethan haben.
+
+Als des Königs Zorn etwas verraucht war, ließ er sein Kind, einen
+schmucken Knaben, gegen die Tochter eines armen Bauern vertauschen, und
+so wuchs der Königssohn am Herde armer Leute auf, während des Bauern
+Tochter in der königlichen Wiege in seidenen Kleidern schlief. Nach
+Jahresfrist kam der alte Bursche, um seine Forderung einzuziehen und
+nahm das kleine Mädchen mit sich, welches er für das echte Kind des
+Königs hielt, weil er von der betrügerischen Vertauschung der Kinder
+nichts erfahren hatte. Der König aber freute sich seiner gelungenen
+List, ließ ein großes Freudenmahl anrichten, und den Eltern des
+geraubten Kindes ansehnliche Geschenke zukommen, damit es seinem Sohne
+in der Hütte an Nichts fehlen möge. Den Sohn wieder zu sich zu nehmen,
+getraute er sich nicht, weil er fürchtete, der Betrug könnte dann heraus
+kommen. Die Bauernfamilie war mit dem Tausche sehr zufrieden; sie hatten
+einen Esser weniger am Tische und Brot und Geld im Ueberfluß.
+
+Inzwischen war der Königssohn zum Jüngling herangewachsen, und führte im
+Hause seiner Pflege-Eltern ein herrliches Leben. Aber er konnte dessen
+doch nicht recht froh werden. Denn als er vernommen hatte, wie es
+gelungen war, ihn zu befreien, war er sehr unwillig darüber, daß ein
+armes unschuldiges Mädchen statt seiner büßen mußte, was seines Vaters
+Leichtsinn verschuldet hatte. Er nahm sich daher fest vor, entweder,
+wenn irgend möglich, das arme Mädchen frei zu machen, oder mit demselben
+umzukommen. Auf Kosten einer Jungfrau König zu werden, war ihm zu
+drückend. Eines Tages legte er heimlich die Tracht eines Bauernknechtes
+an, lud einen Sack Erbsen auf die Schulter und ging in jenen Wald, wo
+sein Vater sich vor achtzehn Jahren verirrt hatte.
+
+Im Walde fing er laut an zu jammern. »O ich Armer, wie bin ich irre
+gegangen! Wer wird mir den Weg aus diesem Walde zeigen? Hier ist ja weit
+und breit keine Menschenseele zu treffen!« Bald darauf kam ein fremder
+Mann mit langem grauen Barte und einem Lederbeutel am Gürtel, wie ein
+Tatar, grüßte freundlich und sagte: »Mir ist die Gegend hier bekannt,
+und ich kann euch dahin führen, wohin euch verlangt, wenn ihr mir eine
+gute Belohnung versprecht.« »Was kann ich armer Schlucker euch wohl
+versprechen,« erwiederte der schlaue Königssohn, »ich habe nichts weiter
+als mein junges Leben, sogar der Rock auf meinem Leibe gehört meinem
+Brotherrn, dem ich für Nahrung und Kleidung dienen muß.« Der Fremde
+bemerkte den Erbsensack auf der Schulter des Andern und sagte: »Ohne
+alle Habe müßt ihr doch nicht sein, ihr tragt ja da einen Sack, der
+recht schwer zu sein scheint.« »In dem Sacke sind Erbsen,« war die
+Antwort. »Meine alte Tante ist vergangene Nacht gestorben und hat nicht
+so viel hinterlassen, daß man den Todtenwächtern nach Landesbrauch
+gequollene Erbsen vorsetzen kann. Ich habe mir die Erbsen von meinem
+Wirthe um Gottes Lohn ausgebeten, und wollte sie eben hinbringen; um den
+Weg abzukürzen, schlug ich einen Waldpfad ein, der mich nun, wie ihr
+seht, irre geführt hat.« »Also bist du, aus deinen Reden zu schließen,
+eine Waise,« sagte der Fremde grinsend. »Möchtest du nicht in meinen
+Dienst treten, ich suche gerade einen flinken Knecht für mein kleines
+Hauswesen, und du gefällst mir.« »Warum nicht, wenn wir Handels einig
+werden,« antwortete der Königssohn. Zum Knecht bin ich geboren, fremdes
+Brot schmeckt überall bitter, da ist es mir denn ziemlich einerlei,
+welchem Wirth ich gehorchen muß. Welchen Jahreslohn versprecht ihr mir?«
+»Nun,« sagte der Fremde, »alle Tage frisches Essen, zwei Mal wöchentlich
+Fleisch, wenn außer Hause gearbeitet wird, Butter oder Strömlinge als
+Zukost, vollständige Sommer- und Winterkleidung, und außerdem noch zwei
+Külimit[70]-Theil Land zu eigener Nutznießung.« »Damit bin ich
+zufrieden,« sagte der schlaue Königssohn. »Die Tante können auch Andere
+in die Erde bringen, ich gehe mit euch.«
+
+Der alte Bursche schien mit diesem vorteilhaften Handel sehr zufrieden
+zu sein, er drehte sich wie ein Kreisel auf einem Fuße herum, und
+trällerte so laut, daß der Wald davon wiederhallte. Alsdann machte er
+sich mit seinem neuen Knechte auf den Weg, wobei er bemüht war, die Zeit
+durch angenehme Plaudereien zu verkürzen, ohne zu bemerken, daß sein
+Gefährte je nach zehn und funfzehn Schritten immer eine Erbse aus dem
+Sack fallen ließ. Ihr Nachtlager hielten die Wanderer im Walde unter
+einer breiten Fichte, und setzten am andern Morgen ihre Reise fort. Als
+die Sonne schon hoch stand, gelangten sie an einen großen Stein. Hier
+machte der Alte Halt, spähte überall scharf umher, pfiff in den Wald
+hinein und stampfte dann mit dem Hacken des linken Fußes dreimal gegen
+den Boden. Plötzlich that sich unter dem Stein eine geheime Pforte auf,
+und es wurde ein Eingang sichtbar, welcher der Mündung einer Höhle
+glich. Jetzt faßte der alte Bursche den Königssohn beim Arm und befahl
+in strengem Tone: »Folge mir!«
+
+Dicke Finsterniß umgab sie hier, doch kam es dem Königssohne vor, als ob
+ihr Weg immer weiter in die Tiefe führe. Nach einer guten Weile zeigte
+sich wieder ein Schimmer, aber das Licht war weder dem der Sonne, noch
+dem des Mondes zu vergleichen. Scheu erhob der Königssohn den Blick,
+aber er sah weder einen Himmel noch eine Sonne; nur eine leuchtende
+Nebelwolke schwebte über ihnen und schien diese neue Welt zu bedecken,
+in der Alles ein fremdartiges Gepräge trug. Erde und Wasser, Bäume und
+Kräuter, Thiere und Vögel, Alles erschien anders, als er es früher
+gesehen hatte. Was ihn aber am meisten befremdete, war die wunderbare
+Stille ringsum; nirgends war eine Stimme oder ein Geräusch zu vernehmen.
+Alles war still wie im Grabe; nicht einmal seine eigenen Schritte
+verursachten ein Geräusch. Man sah wohl hie und da einen Vogel auf dem
+Aste sitzen mit lang gerecktem Halse und aufgeblähter Kehle, als ob ein
+Laut heraus komme, aber das Ohr vernahm ihn nicht. Die Hunde sperrten
+die Mäuler auf, wie zum Bellen, die Ochsen hoben, wie sie pflegen, den
+Kopf in die Höhe, als ob sie brüllten, aber weder Gebell noch Gebrüll
+wurde hörbar. Das Wasser floß ohne zu rauschen über die Kiesel des
+flachen Grundes, der Wind bog die Wipfel des Waldes, ohne daß man ein
+Säuseln hörte, Fliege und Käfer flogen ohne zu summen. Der alte Bursche
+sprach kein Wort, und wenn sein Gefährte zuweilen zu sprechen
+versuchte, so fühlte er gleich, daß ihm die Stimme im Munde erstarb.[71]
+
+So waren sie, wer weiß wie lange, in dieser unheimlichen stillen Welt
+dahin gezogen, die Angst schnürte dem Königssohne das Herz zu und
+sträubte sein Haar wie Borsten empor, Schauerfrost schüttelte seine
+Glieder -- als endlich, o Wonne! das erste Geräusch sein lauschendes Ohr
+traf, und dieses Schattenleben zu einem wirklichen zu machen schien. Es
+kam ihm vor, als ob eine große Roßherde sich durch Moorgruud
+durcharbeitete. Nun that auch der alte Bursche seinen Mund auf und
+sagte, indem er sich die Lippen leckte: »Der Breikessel siedet, man
+erwartet uns zu Hause!« Wieder waren sie eine Weile weiter gegangen, als
+der Königssohn das Dröhnen einer Sägemühle zu hören glaubte, in der
+mindestens ein Paar Dutzend Sägen zu arbeiten schienen, der Wirth aber
+sagte: »Die alte Großmutter schläft schon, sie schnarcht.«
+
+Sie erreichten dann den Gipfel eines Hügels, und der Königssohn
+entdeckte in einiger Entfernung den Hof seines Wirthes; der Gebäude
+waren so viele, daß man das Ganze eher für ein Dorf oder eine kleine
+Vorstadt hätte halten können, als für die Wohnung _eines_ Besitzers.
+Endlich kamen sie an, und fanden an der Pforte ein leeres
+Hundehäuschen. »Krieche hinein,« herrschte der Wirth, »und verhalte dich
+ruhig, bis ich mit der Großmutter deinetwegen gesprochen habe. Sie ist,
+wie die alten Leute fast alle, sehr eigensinnig, und duldet keinen
+Fremden im Hause.« Der Königssohn kroch zitternd in's Hundehäuschen und
+begann schon seine Ueberkühnheit, die ihn in diese Klemme gebracht
+hatte, zu bereuen.
+
+Erst nach einer Weile kam der Wirth wieder, rief ihn aus seinem
+Schlupfwinkel heraus und sagte mit verdrießlichem Gesicht: »Merke dir
+jetzt genau unsere Hausordnung und hüte dich, dagegen zu verstoßen,
+sonst könnte es dir hier recht schlecht gehen:
+
+ »Augen, Ohren halte offen,
+ Mundes Pforte stets verriegelt!
+ Ohne Weigerung gehorche,
+ Hege, wie du willst, Gedanken,
+ Rede nimmer, wenn gefragt nicht.«
+
+Als der Königssohn über die Schwelle trat, erblickte er ein junges
+Mädchen von großer Schönheit, mit braunen Augen und lockigem Haar. Er
+dachte in seinem Sinne: Wenn der Alte solcher Töchter viele hätte, so
+möchte ich gern sein Eidam werden! Das Mädchen ist ganz nach meinem
+Geschmack.« Die schöne Maid ordnete nun, ohne ein Wort zu sprechen, den
+Tisch, trug die Speisen auf und nahm dann bescheiden ihren Sitz am Herde
+ein, als ob sie den fremden Mann gar nicht bemerkt hätte. Sie nahm Garn
+und Nadeln und fing an, ihren Strumpf zu stricken. Der Wirth setzte sich
+allein zu Tisch, und lud weder Knecht noch Magd dazu, auch die alte
+Großmutter war nirgends zu sehen. Des alten Burschen Appetit war
+grenzenlos; binnen Kurzem machte er reine Bahn mit Allem, was er auf dem
+Tische fand, und davon hätten doch wenigstens ein Dutzend Menschen satt
+werden können. Nachdem er endlich seinen Kinnladen Ruhe gegönnt hatte,
+sagte er zur Jungfrau: »Kehre jetzt aus, was auf dem Boden der Kessel
+und Grapen ist, und sättiget euch mit den Resten, die Knochen aber
+werfet dem Hunde vor.«[72]
+
+Der Königssohn verzog wohl den Mund über das angekündigte
+Kesselbodenkehrichtsmahl, welches er mit dem hübschen Mädchen und dem
+Hunde zusammen verzehren sollte. Aber bald erheiterte sich sein Gesicht
+wieder, als er fand, daß die Reste ein ganz leckeres Mahl auf den Tisch
+lieferten. Während des Essens sah er unverwandt das Mädchen verstohlener
+Weise an, und hätte wer weiß wie viel darum gegeben, wenn er einige
+Worte mit ihr hätte sprechen dürfen. Aber sobald er nur den Mund zum
+Sprechen öffnen wollte, begegnete ihm der flehende Blick des Mädchens,
+der zu sagen schien: »Schweige!« So ließ denn der Jüngling seine Augen
+reden, und gab dieser stummen Sprache durch seinen guten Appetit
+Nachdruck, denn die Jungfrau hatte ja doch die Speisen bereitet, und es
+mußte ihr angenehm sein, wenn der Gast brav zulangte und ihre Küche
+nicht verschmähte. Der Alte hatte sich auf der Ofenbank ausgestreckt und
+machte seinem vollen Magen dermaßen Luft, daß die Wände davon dröhnten.
+
+Nach der Abend-Mahlzeit sagte der Alte zum Königssohn: »Zwei Tage kannst
+du von der langen Reise ausruhen, und dich im Hause umsehen. Uebermorgen
+Abend aber mußt du zu mir kommen, damit ich dir die Arbeit für den
+folgenden Tag anweisen kann; denn mein Gesinde muß immer früher bei der
+Arbeit sein, als ich selber aufstehe. Das Mädchen wird dir deine
+Schlafstätte zeigen.« Der Königssohn nahm einen Ansatz zum Sprechen,
+aber o weh! der alte Bursche fuhr wie ein Donnerwetter auf ihn los und
+schrie: »Du Hund von einem Knecht! Wenn du die Hausordnung übertrittst,
+so kannst du ohne Weiteres um einen Kopf kürzer gemacht werden. Halt das
+Maul und jetzt scher' dich zur Ruhe!«
+
+Das Mädchen winkte ihm, mitzukommen, schloß dann eine Thür auf und
+bedeutete ihn, hineinzutreten. Der Königssohn glaubte eine Thräne in dem
+Auge des Mädchens quillen zu sehen und wäre gar zu gern noch auf der
+Schwelle stehen geblieben, aber er fürchtete den Alten und wagte nicht
+länger zu zögern. »Das schöne Mädchen kann doch unmöglich seine Tochter
+sein,« dachte der Königssohn, denn sie hat ein gutes Herz. Sie ist am
+Ende gar dasselbe arme Mädchen, welches statt meiner hierhergethan
+wurde, und um dessen willen ich das tolle Wagstück unternahm.« Es
+dauerte lange, ehe er den Schlaf auf seinem Lager fand, und dann ließen
+ihm bange Träume keine Ruhe; er träumte von allerlei Gefahr, die ihn
+umstrickte, und überall war es die Gestalt der schönen Jungfrau, die ihm
+zu Hülfe eilte.
+
+Als er am andern Morgen erwachte, war sein erster Gedanke, daß er Alles
+thun wolle, was er der Schönen an den Augen absehen könnte. Er fand das
+fleißige Mädchen schon bei der Arbeit, half ihr Wasser aus dem Brunnen
+heraufwinden und in's Haus tragen, Holz spalten, das Feuer unter den
+Grapen schüren, und ging ihr bei allen andern Arbeiten zur Hand.
+Nachmittags trat er hinaus, um seine neue Wohnstätte näher in
+Augenschein zu nehmen, und wunderte sich sehr, daß er die alte
+Großmutter nirgends zu Gesicht bekam. Im Stalle fand er ein weißes
+Pferd,[73] im Pfahlland eine schwarze Kuh mit einem weißköpfigen Kalbe,
+in andern verschlossenen Ställen glaubte er Gänse, Enten, Hühner und
+anderes Fasel zu hören. Frühstück und Mittagsessen waren eben so
+schmackhaft gewesen, als Abends zuvor, und er hätte mit seiner Lage ganz
+zufrieden sein können, wenn es ihm nicht so sehr schwer geworden wäre,
+dem Mädchen gegenüber seine Zunge im Zaume zu halten. Am Abend des
+zweiten Tages ging er zum Wirth, um die Arbeit für den kommenden Tag zu
+erfahren.
+
+Der Alte sagte: »Für morgen will ich dir eine leichte Arbeit geben. Nimm
+die Sense zur Hand, mähe so viel Gras, als das weiße Pferd zu seinem
+Tagesfutter braucht, und miste den Stall aus. Wenn ich hin käme und die
+Krippe leer oder auf der Diele Mist fände, so könnte es dir bitterbös
+bekommen. Hüte dich davor!«
+
+Der Königssohn war ganz vergnügt, denn er dachte in seinem Sinn: »Mit
+dem Bischen Arbeit komme ich schon zu Gange; wenn ich auch bis jetzt
+weder Pflug noch Sense geführt habe, so sah ich doch oft, wie leicht die
+Landleute mit diesen Werkzeugen umgehen, und Kraft genug habe ich.« Als
+er sich eben auf's Lager hinstrecken wollte, kam das Mädchen leise
+hereingeschlichen, und fragte ihn mit gedämpfter Stimme: »Was für eine
+Arbeit hast du bekommen?« »Morgen« -- erwiederte der Königssohn -- »habe
+ich eine leichte Arbeit; ich soll für das weiße Pferd Futtergras mähen
+und den Stall säubern, das ist Alles.« »Ach du unglückseliges Geschöpf!«
+seufzte das Mädchen: »wie könntest du die Arbeit vollbringen? Das weiße
+Pferd, des Wirthes Großmutter, ist ein unersättliches Geschöpf, welchem
+zwanzig Mäher kaum das tägliche Futter liefern könnten, und andere
+zwanzig hätten vom Morgen bis Abend zu thun, den Mist aus dem Stalle zu
+führen. Wie würdest du denn allein mit Beidem zu Stande kommen? Merke
+auf meinen Rath und befolge ihn genau. Wenn du dem Pferde einige Schooß
+voll Gras in die Krippe geschüttet hast, so mußt du aus Weidenreisern
+einen starken Reif flechten, und aus festem Holze einen Keil schnitzen,
+und zwar so, daß das Pferd sieht, was du thust. Es wird dich sogleich
+fragen, wozu die Dinge dienen sollen, und dann mußt du ihm also
+antworten: Mit diesem Reifen binde ich dir das Maul fest, wenn du mehr
+fressen wolltest, als ich dir hinschütte, und mit diesem Pflock werde
+ich dir den After verkeilen, wenn du mehr solltest fallen lassen, als
+ich Lust hätte fortzuschaffen.« Nachdem das Mädchen dies gesprochen,
+schlich es auf den Zehen eben so leise wieder hinaus, wie es gekommen
+war, ohne dem Jüngling Zeit zum Dank zu lassen. Er prägte sich des
+Mädchens Worte ein, wiederholte sich Alles noch einmal, um nichts zu
+vergessen, und legte sich dann schlafen.
+
+Früh am andern Morgen machte er sich an die Arbeit. Er ließ die Sense
+wacker im Grase tanzen und hatte zu seiner Freude nach kurzer Zeit so
+viel gemäht, daß er einige Schooß voll zusammenharken konnte. Als er dem
+Pferde den ersten Schooß voll hingeworfen hatte, und gleich darauf mit
+dem zweiten Schooß voll in den Stall trat, fand er zu seinem Schrecken
+die Krippe schon leer, und über ein halbes Fuder Mist auf der Diele.
+Jetzt sah er ein, daß er ohne des Mädchens klugen Rath verloren gewesen
+wäre, und beschloß, denselben sogleich zu benutzen. Er begann den Reifen
+zu flechten: das Pferd wandte den Kopf nach ihm hin und fragte
+verwundert: »Söhnchen, was willst du mit diesem Reifen machen?« »Gar
+nichts,« entgegnete der Königssohn,»ich flechte ihn nur, um dir die
+Kinnladen damit fest zu klemmen, falls es dir in den Sinn käme, mehr zu
+fressen, als ich Lust habe dir aufzuschütten.« Das weiße Pferd seufzte
+tief auf und hielt augenblicklich mit Kauen inne.
+
+Der Jüngling reinigte jetzt den Stall, und dann machte er sich daran,
+den Keil zu schnitzen. »Was willst du mit diesem Keil machen?« fragte
+das Pferd wieder. »Gar nichts,« war die Antwort. »Ich mache ihn nur
+fertig, um ihn im Nothfalle als Spunt für die Ausleerungspforte zu
+gebrauchen, damit dir das Futter nicht zu rasch durch die Knochen
+schießt.« Das Pferd sah ihn wieder seufzend an, und hatte ihn sicher
+verstanden, denn als Mittag längst vorüber war, hatte das weiße Pferd
+noch Futter in der Krippe, und die Diele war rein geblieben. Da kam der
+Wirth, um nachzusehen, und als er Alles in bester Ordnung fand, fragte
+er etwas erstaunt: »Bist du selber so klug, oder hast du kluge
+Rathgeber?« Der schlaue Königssohn erwiederte schnell: »Ich habe
+Niemand, als meinen schwachen Kopf und einen mächtigen Gott im Himmel.«
+Der Alte warf unwillig die Lippen auf und verließ brummend den Stall;
+der Königssohn aber freute sich, daß Alles gelungen war.
+
+Am Abend sagte der Wirth: »Morgen hast du keine eigentliche Arbeit, da
+aber die Magd manches Andere im Hause zu besorgen hat, so mußt du unsere
+schwarze Kuh melken. Hüte dich aber, daß keine Milch im Euter
+zurückbleibt. Fände ich das, so könnte es dir das Leben kosten.« Der
+Königssohn dachte, als er hinausging: »wenn dahinter nicht etwa wieder
+eine Tücke steckt, so kann mir die Arbeit nicht schwer werden; ich habe,
+Gottlob, starke Finger, und will die Zitzen schon so pressen, daß kein
+Tropfen Milch darin bleiben soll.« Als er sich eben zur Ruhe legen
+wollte, kam das Mädchen wieder zu ihm und fragte: »Was für eine Arbeit
+hast du morgen?« »Morgen habe ich Gesellentag« -- antwortete der
+Königssohn. »Ich bin morgen den ganzen Tag frei, und habe nichts weiter
+zu thun, als die schwarze Kuh zu melken, so daß kein Tropfen Milch im
+Euter zurückbleibt.« »O du unglückseliges Geschöpf! wie wolltest du das
+zu Stande bringen,« sagte das Mädchen seufzend. »Du mußt wissen, lieber
+unbekannter Jüngling, daß, wenn du auch vom Morgen bis zum Abend
+ununterbrochen melken würdest, du doch nimmer das Euter der schwarzen
+Kuh leeren könntest; die Milch strömt gleich einer Wasserader
+ununterbrochen. Ich sehe wohl, daß der Alte dich verderben will. Aber
+sei unbesorgt, so lange ich am Leben bin, soll dir kein Haar gekrümmt
+werden. Achte auf meinen Rath und befolge ihn pünktlich, so wirst du der
+Gefahr entgehen. Wenn du zum Melken gehst, so nimm einen Topf voll
+glühender Kohlen und eine Schmiedezange mit. Im Stalle lege die Zange in
+die Kohlen und blase diese zu heller Flamme an. Wenn die schwarze Kuh
+dich dann fragt, weßhalb du das thust, so antworte ihr, was im dir jetzt
+in's Ohr sagen werde.« Das Mädchen flüsterte ihm einige Worte in's Ohr,
+und schlich dann auf den Zehen, wie sie gekommen war, aus dem Zimmer.
+Der Königssohn legte sich schlafen.
+
+Kaum strahlte die Morgenröthe am Himmel, als er sich schon von seinem
+Lager erhob, den Melkkübel in die eine und den Kohlentopf in die andere
+Hand nahm und in den Stall ging. Er machte Alles so, wie das Mädchen am
+Abend zuvor angegeben hatte. Befremdet sah die schwarze Kuh seinem
+Treiben eine Weile zu, dann fragte sie: »Was machst du da, Söhnchen?«
+»Gar nichts,« war die Antwort. »Ich will die Zange nur rothglühend
+machen, weil manche Kuh die niederträchtige Gewohnheit hat, nach dem
+Melken noch Milch im Euter zu behalten, und da ist kein besserer Rath,
+als ihr die Zitzen mit einer glühenden Zange zusammenzukneifen, damit
+sich die Milch nicht unnütz in's Euter ergieße.« Die schwarz Kuh seufzte
+tief auf und sah den Melkenden scheu an. Der Königssohn nahm den Kübel,
+melkte das Euter aus, und als er es nach einer Weile wieder anzog, fand
+er nicht einen Tropfen Milch. Später kam der Wirth in den Stall, zog und
+drückte wiederholt an den Zitzen, fand aber keine Milch, und fragte mit
+böser Miene: »Bist du selbst so klug, oder hast du kluge Rathgeber?« Der
+Königssohn antwortete: »Ich habe Niemand, als meinen schwachen Kopf und
+einen mächtigen Gott im Himmel.« Der Alte ging aufgebracht fort.
+
+Als der Königssohn sich am Abend beim Wirth nach seiner Arbeit
+erkundigte, sagte dieser: »Ich habe noch ein Schoberchen Heu auf der
+Wiese stehen, das ich bei trockener Witterung unter Dach bringen möchte.
+Führe mir morgen das Heu ein, aber hüte dich, daß nicht das Mindeste
+zurückbleibt, sonst könntest du dein Leben einbüßen.« Der Königssohn
+verließ vergnügt das Zimmer und dachte: »Heu führen ist keine große
+Arbeit, ich habe weiter keine Mühe, als aufzuladen, das Pferd muß
+ziehen. Ich werde die Großmutter dieses Wirths nicht schonen.« Abends
+kam das Mädchen wieder zu ihm geschlichen, und fragte ihn nach seiner
+Arbeit für morgen. Der Königssohn sagte lachend: »Hier lerne ich alle
+Arten von Bauernarbeit, morgen soll ich ein Schoberchen Heu einführen,
+und nur darauf achten, daß nicht das Mindeste zurückbleibt; das ist mein
+ganzes Tagewerk.« »Ach du unglückseliges Geschöpf,« seufzte das Mädchen:
+»wie könntest du das vollbringen? Wolltest du auch mit allen Leuten
+eines noch so großen Gebiets eine ganze Woche lang Heu führen, so
+würdest du doch dieses Schoberchen nicht fortschaffen. Was von oben her
+weggenommen wird, das wächst vom Grunde auf wieder nach. Merke wohl, was
+ich dir sage: du mußt morgen vor Tagesanbruch aufstehen, das weiße Pferd
+aus dem Stalle ziehen, und einige starke Stricke mitnehmen. Dann geh an
+den Heuschober, lege die Stricke herum, und schirre das Pferd an die
+Stricke. Wenn du damit fertig bist, so klettere auf den Schober hinauf,
+und fang' an zu zählen: eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs und so
+weiter. Das Pferd wird dich sogleich fragen, was du da zählst, dann mußt
+du antworten, was ich dir in's Ohr sage.« Das Mädchen flüsterte ihm das
+Geheimniß zu, und verließ das Zimmer; der Königssohn wußte nichts
+Besseres zu thun, als zu Bette zu gehen.
+
+Als er den andern Morgen erwachte, fiel ihm sogleich des Mädchens guter
+Rath von gestern ein; er nahm starke Stricke, eilte in den Stall, führte
+das weiße Pferd heraus, schwang sich darauf und ritt zum Heuschober, der
+aber mindestens an funfzig Fuder hielt, also kein »Schoberchen« zu
+nennen war. Der Königssohn that Alles, was ihm das Mädchen geheißen
+hatte, und als er endlich, oben auf dem Heuschober sitzend, bis zwanzig
+gezählt hatte, fragte das weiße Pferd verwundert: »Was zählst du da,
+Söhnchen?« »Gar nichts,« war die Antwort. »Ich machte mir nur den Spaß,
+die Wolfsherde dort am Walde zu zählen, aber es sind ihrer so viel, daß
+ich nicht damit fertig werde.« Kaum hatte er das Wort »Wolfsherde«
+heraus, als auch das weiße Pferd wie der Wind davon schoß, so daß es in
+einigen Augenblicken mit dem Schober zu Hause war. Des Wirths Erstaunen
+war nicht gering, als er nach dem Frühstück hinauskam, und das Tagewerk
+des Knechts schon gethan fand. »Bist du selber so klug, oder hast du
+kluge Rathgeber?« fragte der Alte, worauf der Königssohn erwiederte:
+»Ich habe Niemand, als meinen schwachen Kopf und einen mächtigen Gott im
+Himmel.« Der Alte ging kopfschüttelnd und fluchend von dannen.
+
+In der Abenddämmerung ging der Königssohn wieder zu ihm, nach seiner
+Arbeit zu fragen. Der Wirth sagte: »Morgen mußt du mir das weißköpfige
+Kalb auf die Weide führen, doch hüte dich, daß es sich nicht verläuft,
+sonst könntest du leicht dein Leben einbüßen.« Der Königssohn dachte bei
+sich: »mancher zehnjährige Bauerbursch muß eine ganze Herde hüten, da
+kann mir doch die Hut eines einzigen Kalbes nicht schwer werden.« Als er
+sich eben schlafen legen wollte, kam das Mädchen wieder in seine Kammer
+geschlichen und fragte, was für eine Arbeit er morgen habe. »Morgen habe
+ich Faullenzerarbeit,« sagte der Königssohn, »ich soll mit dem
+weißköpfigen Kalbe auf die Weide gehen.« »O du unglückseliges Geschöpf,«
+seufzte das Mädchen: »damit wirst du wohl nimmer durchkommen. Du mußt
+wissen, daß dieses Kalb eine solche Rennwuth hat, daß es an einem Tage
+dreimal um die Welt laufen könnte. Merke dir genau, was ich dir jetzt
+sagen will. Nimm diesen Seidenfaden, binde das eine Ende an das linke
+Vorderbein des Kalbes, und das andere Ende an den kleinen Zeh deines
+linken Fußes, dann wird das Kalb keinen Schritt von deiner Seite
+weichen, gleichviel ob du gehst, stehst oder liegst.« Darauf ging das
+Mädchen fort, und der Königssohn legte sich schlafen, aber es ärgerte
+ihn, daß er wieder vergessen hatte, für den guten Rath zu danken.
+
+Den andern Morgen that er pünktlich, was ihm das gute Mädchen
+vorgeschrieben hatte, und führte das Kalb an dem seidenen Faden auf die
+Weide, wo es, wie ein treues Hündlein, keinen Schritt von seiner Seite
+wich. Bei Sonnenuntergang führte er es wieder in den Stall, als ihm der
+Wirth auch schon entgegenkam und mit zornfunkelndem Blick fragte: »Bist
+du selber so klug, oder hast du kluge Rathgeber?« Der Königssohn
+erwiderte: »Ich habe Niemand, als meinen schwachen Kopf und einen
+mächtigen Gott im Himmel.« Wieder ging der Alte wüthend davon, und der
+Königssohn glaubte nun darüber im Reinen zu sein, daß die Nennung des
+göttlichen Namens den alten Burschen jedesmal in Harnisch brachte.
+
+Spät Abends ging er wieder zum Wirth, um dessen Befehle für den
+folgenden Tag einzuholen. Der Wirth gab ihm ein Säckchen mit Gerste und
+sagte: »Morgen hast du einen Feiertag und kannst ausschlafen, aber dafür
+mußt du dich heute Nacht brav rühren. Säe mir sogleich diese Gerste aus,
+sie wird rasch wachsen und reifen; dann schneidest du sie, drischst sie
+und windigest sie, so daß du sie mälzen und mahlen kannst. Aus dem
+erhaltenen Malzmehl mußt du mir Bier brauen, und morgen früh, wenn ich
+erwache, mir eine Kanne frischen Biers zum Morgentrunk bringen. Hab'
+Acht, daß meine Befehle genau befolgt werden, sonst könntest du leicht
+das Leben einbüßen.«
+
+Niedergeschlagen, mit sorgenschwerem Herzen verließ der Königssohn das
+Gemach, blieb draußen stehen und weinte bitterlich. Er sprach zu sich
+selbst: »Die heutige Nacht ist meine letzte, solch' eine Arbeit kann
+kein Sterblicher vollbringen, und ebensowenig kann mir des klugen
+Mädchens Rath hier helfen. O ich unglückseliges Geschöpf! warum habe ich
+leichtsinnig das Königsschloß verlassen und mich in Gefahren verstrickt.
+Nicht einmal den Sternen des Himmels kann ich mein bitteres Leid klagen,
+denn hier sieht man weder Himmel noch Sterne, doch haben wir einen Gott,
+der überall ist.« Als er mit seinem Gerstensäcklein dastand, öffnete
+sich die Hausthür und das liebe Mädchen trat zu ihm heraus. Sie fragte,
+was ihn so betrübe, und der Jüngling antwortete mit Thränen in den
+Augen: »Ach, meine letzte Stunde ist gekommen, wir müssen auf immer
+scheiden. Vernimm denn noch Alles, ehe ich scheide: ich bin eines
+mächtigen Königs einziger Sohn, dem der Vater einst ein großes Reich
+hinterlassen sollte; aber nun ist Alles hin, Glück und Hoffnung.« Dann
+erzählte er ihr unter häufigen Thränen, was für eine Arbeit der Wirth
+ihm für die Nacht aufgegeben habe, aber es verdroß ihn, zu sehen, daß
+das Mädchen sich aus seiner Betrübniß nicht viel machte. Als er endlich
+seinen langen Bericht geschlossen hatte, sagte die Jungfrau lachend:
+»Heute Nacht kannst du denn, mein lieber Königssohn, ganz ruhig
+schlafen, und morgen den ganzen Tag feiern. Merke genau auf meinen Rath
+und verschmähe ihn nicht, weil er aus dem Munde einer niedrig geborenen
+Magd kommt. Nimm diesen kleinen Schlüssel, er schließt den dritten
+Faselstall auf, worin des Alten dienende Geister wohnen. Wirf den
+Gerstensack in den Stall und schärfe ihnen Wort für Wort den Befehl ein,
+den dir der Wirth für die Nacht gegeben hat; füge aber hinzu: Wenn ihr
+ein Haar breit von meiner Vorschrift abweicht, so müßt ihr allesammt
+sterben; solltet ihr aber Hülfe brauchen, so wird heut' Nacht die Thür
+des siebenten Stalles offen stehen, in welchem des Wirths mächtigste
+Geister wohnen.«
+
+Der Königssohn richtete Alles nach Vorschrift aus, und legte sich
+schlafen. Als er am folgenden Morgen aufwachte und in der Brauküche
+nachsah, fand er die Bierkufen in voller Gährung, so daß der Schaum über
+den Rand floß. Er kostete das Bier, füllte dann eine große Kanne mit dem
+schäumenden Trank an, und brachte sie dem Wirthe, der sich eben auf
+seinem Lager aufrichtete. Aber statt des erwarteten Dankes sagte der
+Wirth ungehalten: »Das kommt nicht aus deinem Kopfe! Ich merke, du hast
+gute Freunde und Rathgeber gefunden. Schon gut, heut' Abend wollen wir
+weiter sprechen.«
+
+Am Abend sagte der Alte: »Morgen habe ich dir keine Arbeit aufzutragen,
+du mußt nur, wenn ich erwache, vor mein Bett treten, und mir zum Gruße
+die Hand reichen.« Der Königssohn spottete innerlich über des Alten
+wunderliche Grille, und lachend setzte er das Mädchen davon in Kenntniß.
+Dieses aber wurde sehr ernst und sagte: »Wahre deine Haut! Der Alte will
+dich morgen früh auffressen. Nur Eins kann dich retten. Du mußt eine
+eiserne Schaufel im Ofen rothglühend machen, und ihm statt deiner Hand
+das glühende Eisen zum Morgengruß darbieten.«[74] Damit eilte sie davon,
+und der Königssohn ging zu Bette. Am Morgen hatte er die Schaufel schon
+rothglühend gemacht, ehe noch der alte Bursche aufwachte. Endlich hörte
+er ihn rufen: »Fauler Knecht, wo bleibst du? komm' und grüße!« Als
+darauf der Königssohn mit der glühenden Schaufel eintrat, rief der Alte
+ihm mit kläglicher Stimme zu: »Ich bin heute sehr krank und kann deine
+Hand nicht fassen. Aber komm' heute Abend wieder, damit ich dir meine
+Befehle geben kann.«
+
+Der Königssohn schlenderte nun den ganzen Tag umher, und ging dann am
+Abend zum Wirth, um sich von ihm die Arbeit für den folgenden Tag
+auftragen zu lassen. Der Wirth war sehr freundlich und sagte
+schmunzelnd: Ich bin mit dir sehr zufrieden! komm Morgen früh mit dem
+Mädchen zu mir, ich weiß, daß ihr euch schon längst lieb habt, und will
+euch als Mann und Frau zusammengeben!«
+
+Der Königssohn hätte vor Freude jauchzen und in die Höhe springen mögen,
+aber glücklicher Weise fiel ihm noch zu rechter Zeit die strenge
+Hausordnung ein, deßhalb blieb er ruhig. Als er vor Schlafengehen der
+Geliebten von seinem Glücke erzählte und von ihr eine gleiche Freude
+erwartete, sah er zu seinem großen Erstaunen, daß das Mädchen vor
+Schrecken bleich wurde wie eine getünchte Wand, und ihr die Zunge wie
+gelähmt war. Als sie sich wieder erholt hatte, sagte sie. »Der alte
+Bursche ist dahinter gekommen, daß ich deine Rathgeberin gewesen bin,
+und will uns Beide verderben. Wir müssen noch diese Nacht die Flucht
+ergreifen, sonst sind wir verloren. Nimm ein Beil, geh' in den Stall und
+schlage dem weißköpfigen Kalbe mit einem kräftigen Hiebe den Kopf ab,
+mit einem zweiten Hiebe spalte den Schädel entzwei. Im Hirn des Kalbes
+findest du ein glänzend rothes Knäulchen, das bringe mir, Alles was
+sonst nöthig ist, werde ich selbst besorgen. Der Königssohn dachte:
+»lieber tödte ich ein unschuldiges Kalb, als daß ich mich selbst und das
+liebe Mädchen umbringen lasse; gelingt uns die Flucht, so sehe ich meine
+Heimath wieder. Die Erbsen, welche ich ausstreute, müssen jetzt
+aufgegangen sein, so daß wir den Weg nicht verfehlen werden.«
+
+Darauf ging er in den Stall. Die Kuh lag neben dem Kalbe hingestreckt,
+und beide schliefen so fest, daß sie ihn nicht kommen hörten. Als er
+aber dem Kalbe den Kopf abhieb, stöhnte die Kuh so schauerlich, als
+hätte sie einen schweren Traum. Rasch führte er den zweiten Hieb, der
+den Schädel spaltete. Siehe! da wurde der Stall plötzlich hell, wie am
+Tage. Das rothe Knäulchen fiel aus dem Gehirn heraus und leuchtete wie
+eine kleine Sonne. Der Königssohn wickelte das Knäulchen behutsam in ein
+Tuch und steckte es in seinen Busen. Es war ein Glück, daß die Kuh nicht
+aufwachte, sonst hätte sie angefangen zu brüllen, und dadurch hätte auch
+der Wirth geweckt werden können.
+
+An der Pforte fand der Königssohn das Mädchen schon reisefertig, ein
+Bündelchen am Arme. »Wo ist dein Knäulchen?« fragte sie. »Hier!«
+antwortete der Jüngling, und gab es ihr. »Wir müssen schnell fliehen!«
+sagte sie, und wickelte einen kleinen Theil des Knäulchens aus dem Tuche
+heraus, damit der leuchtende Schein gleich einer Laterne das nächtliche
+Dunkel ihres Pfades erhelle. Die Erbsen waren, wie der Königssohn
+vermuthet hatte, alle aufgegangen, so daß sie sicher waren, den Weg
+nicht zu verfehlen. Unterwegs erzählte ihm die Jungfrau, daß sie einmal
+ein Gespräch zwischen dem Alten und seiner Großmutter belauscht und
+daraus erfahren habe, daß sie eine Königstochter sei, welche der alte
+Bursche ihren Eltern mit List abgenommen habe. Der Königssohn wußte
+freilich die Sache besser, schwieg aber und war nur von Herzen froh, daß
+es ihm gelungen war, das arme Mädchen zu befreien. So mochten die
+Wanderer eine gute Strecke zurückgelegt haben, als es begann zu tagen.
+
+Der alte Bursche erwachte erst spät am Morgen und rieb sich lange die
+Augen, bis der Schlaf abfiel, dann weidete er sich im Voraus an dem
+Gedanken, daß er die Beiden bald verzehren würde. Nachdem er ziemlich
+lange auf sie gewartet hatte, sagte er für sich: »Sie sind wohl noch
+nicht mit ihrem Hochzeitsstaat fertig!« Als ihm aber das Warten doch zu
+lange dauerte, rief er: »Knecht und Magd, he! wo bleibt ihr?« Fluchend
+und schreiend wiederholte er den Ruf noch einige Mal, aber weder Knecht
+noch Magd ließen sich sehen. Endlich kletterte er zornig aus dem Bette
+und ging die Säumigen zu suchen. Aber er fand das Haus menschenleer, und
+bemerkte auch, daß diese Nacht die Lagerstätten unberührt geblieben
+waren. Jetzt stürzte er in den Stall ... als er hier das Kalb getödtet
+und das Zauberknäulchen entwendet fand, begriff er Alles. Er fluchte,
+daß Alles schwarz wurde, öffnete rasch den dritten Geisterstall und
+schickte seine Gehülfen aus, die Entflohenen zu suchen. »Bringt sie mir,
+wie ihr sie findet, ich muß ihrer habhaft werden!« So sprach der alte
+Bursche und seine Geister stoben wie der Wind davon.
+
+Die Flüchtlinge befanden sich gerade auf einer großen Fläche, als das
+Mädchen den Schritt anhielt und sagte: »Es ist nicht Alles, wie es sein
+sollte. Das Knäulchen bewegt sich in meiner Hand, gewiß werden wir
+verfolgt!« Als sie hinter sich sahen, erblickten sie eine schwarze
+Wolke, welche mit großer Geschwindigkeit näher kam. Das Mädchen drehte
+das Knäulchen dreimal in der Hand um und sprach:
+
+ »Höre Knäulchen, höre Knäulchen!
+ Würde gern alsbald zum Bächlein,
+ Mein Gefährte auch zum Fischlein!«
+
+Augenblicklich waren beide verwandelt. Das Mädchen floß als Bächlein
+dahin, und der Königssohn schwamm als Fischlein im Wasser. Die Geister
+sausten vorüber, kehrten nach einer Weile um, und flogen wieder heim,
+aber Bächlein und Fischlein ließen sie unangetastet. Sobald die
+Verfolger fort waren, verwandelte sich das Bächlein wieder in ein
+Mädchen und machte das Fischlein zum Jüngling, und dann setzten sie in
+menschlicher Gestalt ihre Reise fort.
+
+Als die Geister müde und mit leeren Händen zurückkehrten, fragte sie der
+alte Bursche, ob ihnen denn beim Suchen nichts Besonderes aufgefallen
+wäre? »Gar nichts!« war die Antwort: »nur ein Bächlein floß in der
+Ebene, und ein einziges Fischlein schwamm darin.« Wüthend brüllte der
+Alte: »Schafsköpfe. Das waren sie ja, das waren sie ja!« Schnell riß er
+die Thüren des fünften Stalles auf, ließ die Geister heraus und befahl
+ihnen, des Bächleins Wasser auszutrinken und das Fischlein zu fangen.
+Die Geister stoben wie der Wind von dannen.
+
+Unsere Wanderer näherten sich eben dem Saum eines Waldes, da blieb das
+Mädchen stehen und sagte: »Es ist nicht Alles, wie es sein soll. Das
+Knäulchen bewegt sich wieder in meiner Hand.« Als sie sich umsahen,
+erblicken sie abermals eine Wolke am Himmel, dunkler als die erste und
+mit rothen Rändern. »Das sind unsere Verfolger!« rief die Jungfrau und
+drehte das Knäulchen dreimal in der Hand um, indem sie sprach:
+
+ »Höre Knäulchen, höre Knäulchen!
+ Wandele uns alle Beide:
+ Mich zum wilden Rosenstrauche,
+ Ihn zur Blüthe an dem Strauche.«
+
+Augenblicklich waren sie verwandelt. Aus dem Mädchen ward ein wilder
+Rosenstrauch, und der Jüngling hing als Rose am Stock. Sausend zogen die
+Geister über ihnen hin und kehrten erst nach einer guten Weile wieder
+um; da sie weder Bächlein noch Fischlein gefunden hatten, kümmerten sie
+sich nicht um den Rosenstrauch. Sobald die Verfolger vorüber waren,
+verwandelten sich Strauch und Blume wieder in Mädchen und Jüngling,
+welche nach der kurzen Ruhe rasch weiter eilten.
+
+»Habt ihr sie gefunden?« fragte der Alte, als er seine Gesellen keuchend
+wiederkehren sah. »Nein,« antwortete der Anführer der Geister. »Wir
+fanden weder Bächlein noch Fischlein in der Ebene.« »Habt ihr denn sonst
+nichts Besonderes unterwegs gesehen?« fuhr der Alte auf. Der Anführer
+antwortete: »Dicht am Saume des Waldes stand ein wilder Rosenstrauch an
+dem eine Rose hing.« Schafsköpfe!« schrie der Alte, »das waren sie ja,
+das waren sie ja!« Er schloß darauf den siebenten Stall auf und
+schickte seine mächtigsten Geister aus, sie zu suchen. »Bringt sie mir,
+wie ihr sie findet, todt oder lebendig! ich muß ihrer habhaft werden.
+Reißt den verfluchten Rosenstrauch mit den Wurzeln heraus, und nehmt
+Alles mit, was euch Befremdliches aufstößt.« Wie der Sturmwind flogen
+die Geister davon.
+
+Die Flüchtlinge ruhten eben im Schatten eines Waldes aus, und stärkten
+die ermüdeten Glieder durch Speise und Trank. Plötzlich rief das
+Mädchen. »Alles ist nicht, wie es sein soll; das Knäulchen will mit
+Gewalt aus meinem Busen. Gewiß verfolgt man uns wieder, und die Gefahr
+ist nahe, aber der Wald verbirgt uns unsere Feinde noch.« Dann nahm sie
+das Knäulchen aus dem Busen, drehte es dreimal in der Hand herum und
+sprach:
+
+ »Höre Knäulchen, höre Knäulchen!
+ Mache mich alsbald zum Lüftchen,
+ Den Gefährten mein zum Mücklein!«
+
+Augenblicklich waren beide verwandelt. Das Mädchen löste sich in Luft
+aus, der Königssohn aber schwebte darin als Mücklein. Die mächtige
+Geisterschaar brauste wie ein Sturm über sie hin, und kehrte nach
+einiger Zeit wieder um, weil sie weder einen Rosenstrauch noch sonst
+etwas Befremdliches gefunden hatten. Aber kaum waren die Geister
+vorüber, so verwandelte der Lufthauch sich wieder in das Mädchen, und
+machte aus der Mücke den Jüngling. »Jetzt müssen wir eilen,« rief das
+Holdchen, »bevor der Alte selber kommt zu suchen -- der wird uns in
+jeder Verwandlung erkennen.«
+
+Sie liefen nun eine gute Strecke vorwärts, bis sie den dunklen Gang
+erreichten, in welchem sie bei dem hellen Schein des Knäulchens
+ungehindert emporstiegen. Erschöpft und athemlos kamen sie endlich an
+den großen Stein. Hier wurde das Knäulchen wiederum dreimal gedreht,
+wobei die kluge Jungfrau sprach:
+
+ »Höre Knäulchen, höre Knäulchen!
+ Laß den Stein empor sich heben,
+ Eine Pforte sich bereiten!«
+
+Augenblicklich hob sich der Stein weg, und sie waren glücklich wieder
+auf der Erde. »Gott sei Dank!« rief das Mädchen aus: »wir sind gerettet.
+Hier hat der alte Bursche keine Macht mehr über uns, und vor seiner List
+wollen wir uns hüten. Aber jetzt, Freund, müssen wir uns trennen. Du
+gehst zu deinen Eltern, und ich will die meinigen aufsuchen.« -- »Mit
+nichten,« erwiederte der Königssohn: »ich kann mich nicht mehr von dir
+trennen, du mußt mit mir kommen und mein Weib werden. Du hast
+Leidenstage mit mir ertragen, darum ist es billig, daß du nun auch
+Freudentage mit mir theilst.« Zwar sträubte sich das Mädchen Anfangs,
+aber endlich ging sie doch mit dem Jüngling.
+
+Im Walde trafen sie einen Holzhacker, von dem sie erfuhren, daß im
+Schlosse, wie im ganzen Lande, große Trauer herrsche über das
+unbegreifliche Verschwinden des Königssohnes, von dem seit Jahren jede
+Spur verloren sei. Mit Hülfe des Zauberknäulchens schaffte das Mädchen
+dem heimkehrenden Sohne seine früheren Kleider wieder, damit er vor
+seinem Vater erscheinen könne. Sie selbst aber blieb einstweilen in
+einer Bauernhütte zurück, bis der Königssohn Alles mit seinem Vater
+besprochen hätte.
+
+Aber der alte König war noch vor dem Eintreffen seines Sohnes dahin
+geschieden: der Kummer über den Verlust des einzigen Sohnes hatte sein
+Ende beschleunigt. Noch auf seinem Todbette hatte er sein leichtsinniges
+Versprechen und seinen Betrug bereut, daß er dem alten Burschen ein
+armes unschuldiges Mädchen überlieferte, wofür Gott ihn durch den
+Verlust des Sohnes gezüchtigt habe. Der Königssohn beweinte, wie es
+einem guten Sohne geziemt, den Tod seines Vaters und ließ ihn mit großen
+Ehren bestatten. Dann trauerte er drei Tage, ohne Speise und Trank zu
+sich zu nehmen. Am vierten Morgen aber zeigte er sich dem Volke als
+neuer Herrscher, versammelte seine Räthe und theilte ihnen mit, was für
+wunderbare Dinge er in des alten Burschen Behausung gesehen und ertragen
+habe, vergaß auch nicht zu erzählen, wie die kluge Jungfrau seine
+Lebensretterin geworden.
+
+Da riefen die Räthe wie aus einem Munde: »Sie muß eure Gemahlin und
+unsere Herrscherin werden.«
+
+Als der junge König sich nun aufmachte, um seine Braut einzuholen,
+erstaunte er sehr, als ihm die Jungfrau in königlicher Pracht
+entgegenkam. Mit Hülfe des Zauberknäulchens hatte sie sich alles Nöthige
+verschafft, weßhalb auch das ganze Land glaubte, daß sie die Tochter
+eines unermeßlich reichen Königs und aus fernen Landen gekommen sei.
+Darauf wurde die Hochzeit ausgerichtet, welche vier Wochen dauerte, und
+sie lebten darnach glücklich und zufrieden noch manches liebe Jahr.
+
+[Fußnote 69: Ist wohl identisch mit dem mythischen Kungla-Lande. S. d.
+Anm. 2, S. 102, zum Märchen 8, vom Schlaukopf. L.]
+
+[Fußnote 70: Külimit ist ein Getreidemaß von verschiedener Größe. Das
+Revalsche Loof von drei Külimit ist etwas weniger als ein viertel
+Scheffel Preußisch. L.]
+
+[Fußnote 71: Die Grundzüge dieser phantasievollen Schilderung finden
+sich im Kalewipoëg =X=, 378 ff. vgl. mit =XIII=, 491 ff. Auch dort scheinen
+auf der Straße zur Wohnung des höllischen Geistes weder Sonne, noch Mond
+und Sterne -- nur von den Fackeln zu beiden Seiten des Höllenthors geht
+ein trüber Schimmer aus, der die Ankommenden leitet. L.]
+
+[Fußnote 72: Reminiscenz aus dem Kalewipoëg =XIII=, 401 ff., wo dem
+Kalewsohn über den in der Eingangshöhle zur Hölle kochenden Kessel
+Auskunft ertheilt wird. Erst kostet der Gehörnte, dann die alte Mutter,
+dann kommen Hund und Katze dran, in den Rest theilen sich Köche und
+Knechte. L.]
+
+[Fußnote 73: Die eine der in der Unterwelt gefangen gehaltenen drei
+Schwestern erzählt dem Kalewsohn, daß des Gehörnten Base die
+Höllenhündin, seine Großmutter die weiße Mähre sei. Kalewipoëg =XIV=, 428.
+-- Auf einem weißen Rosse sitzt der Kalewsohn als Höllenwächter, =ibid.=
+=XX=, 1005. Vgl. eine von _Rußwurm_ über Kalews Tod mitgetheilte Sage.
+_Rußwurm_, Sagen aus Hapsal u. s. w. Reval 1861. S. 9-10. L.]
+
+[Fußnote 74: Vgl. das Glühendmachen der künstlichen Hand und das
+Darreichen derselben an die Hexe im Pfortenriegel, in dem Märchen von
+Schnellfuß, Flinkhand und Scharfauge, S. 54. L.]
+
+
+
+
+15. Rõugatajas Tochter.
+
+
+Es lebte einmal vor Zeiten in einer breiten Waldlichtung der alte
+Rõugataja[75] mit seinem Weibe. Sie hatten auch eine Tochter, die nicht
+in natürlicher Beschaffenheit zur Welt gekommen war, dennoch bemühte
+sich die Mutter, sie nach Art der Menschenkinder aufzuziehen, um
+späterhin einen Schwiegersohn zu bekommen. Es ging die Rede, daß das
+Mägdlein, so viel davon sichtbar wurde, wohl menschliche Haut hatte, daß
+aber unter dem Gewande Tannenrinde statt der Haut den Körper deckte.
+Nichtsdestoweniger hoffte die Mutter, sie mit der Zeit an den Mann zu
+bringen, und schickte deßhalb das Mädchen überall hin unter die Leute,
+wo nur in den Dörfern eine Gasterei oder Festlichkeit vorkam. Der
+Tochter schöne Kleider, vielfach gewundene Perlenschnüre, Halsgeschmeide
+von vergoldeten Münzen, große Brustspange und Seidenbänder stachen den
+jungen Burschen wohl in die Augen, aber Freier zogen sie doch nicht in's
+Haus. Die Burschen lachten und spotteten: oben hübsch und glatt,
+unterhalb rauh wie Krötenhaut.
+
+Damit nun das Töchterchen nicht zuletzt daheim als alte Jungfer
+verschimmele, suchte die Mutter bei einer Hexenmutter Hülfe und ließ von
+ihr einen geheimnißvollen Trank bereiten, der, sobald ein Junggeselle
+unversehens davon kostete, ihn unfehlbar trieb, dem Mädchen
+nachzugehen, er mochte nun wollen oder nicht. Die Mutter gab der alten
+Hexe ein Bündelchen mit Achselhaaren nebst andern Heimlichkeiten von
+ihrer Tochter, womit die Hexe das Reizmittel für die Burschen bereiten
+sollte. Als der Wundertrank gekocht war, sagte die Hexe: »Von diesem Naß
+sieben Tropfen, in Speise oder Trank geträufelt, bethören jeden
+Burschen, der davon kostet.«
+
+Darnach wurde auf dem Hofe des Rõugataja ein großer Gastschmaus
+angerichtet, zu welchem von allen Seiten Mengen zusammengebeten wurden,
+besonders zahlreich aber Junggesellen, damit die Jungfer aus der Schaar
+derselben einen wählen könnte, der vor allen andern nach ihrem Geschmack
+wäre. Als das Gelage nun schon zwei Tage im Gange war, zeigte die
+Tochter ihrer Mutter einen jungen Mann, den sie sich gar sehr zum
+Ehgemahl ersehnte. Die schlaue Mutter that heimlich sieben Tropfen vom
+Zaubertrank in einen Kuchen und gab ihn dem Burschen zu essen, worauf
+der arme Schelm nirgends mehr seines Bleibens fand, sondern, wie das
+Kätzchen nach dem Strohhalm, der Tochter Rõugataja's nachlaufen mußte,
+da er sonst weder Tag noch Nacht Ruhe hatte. Bald darauf erschien er als
+Freier, und sein Branntwein wurde freundlich angenommen. Einige Wochen
+später wurde ein prächtiges Hochzeitsmahl angerichtet, so daß noch
+Kinder und Kindeskinder der Pracht und Herrlichkeit gedachten. Aber was
+half das Alles? Als das junge Paar Abends in die Kammer geführt wurde,
+um zu Bette zu gehen, fand der Bräutigam unter der Decke so viel
+Unheimliches, daß ihm das Blut im Herzen gerann; noch in derselben
+Nacht nahm er die Flucht und ließ die junge Frau als Wittwe zurück.
+Mutter und Tochter warteten wohl noch eine Zeitlang, daß der Liebestrank
+der Hexenmutter den jungen Mann wieder herlocken würde; aber wer nicht
+kam, war der entwichene Bräutigam. Als noch eine Woche verstrichen war,
+und der Mann gleichwohl ausblieb, regten sich allerdings Zweifel in
+ihnen. Endlich kam die Nachricht, daß der entwichene Mann eine andere
+Frau gefreit hatte, und damit nahm denn ihr Harren und Hoffen ein Ende.
+
+Ein Jahr später hörte die alte Frau des Rõugataja, daß ihres vormaligen
+Schwiegersohnes Frau einen Knaben geboren hatte. Da reizte ein böser
+Anschlag ihr Herz, daß sie nirgends mehr Ruhe fand, bis mit Hülfe der
+Hexe des Kindes Mutter in einen Wärwolf verwandelt war. Sodann schaffte
+sie heimlich ihre Tochter an Stelle der Wöchnerin in's Bett. Da aber die
+Tochter keine Brust hatte, wie Frauen sie sonst haben, so konnte sie
+auch das Kind nicht säugen. Wohl goß sie Kuhmilch in die künstlich aus
+Bork geformte Brust, allein das Kind nahm sie nicht in den Mund, sondern
+schrie Tag und Nacht vor Hunger, daß der Zeter kein Ende nahm. Es wurden
+zwar Kindesbaderinnen und Thränenstillerinnen von nah und fern
+zusammengeholt, allein was konnte es helfen? Das Kind ließ nicht ab zu
+schreien. Eines Tages rief der Vater in zornigem Muthe: »Tragt den
+Schreihals aus der Stube, sonst sprengt er mir die Ohren: ich kann sein
+Geschrei nicht länger aushalten.« Die Wärterin ging mit dem Kinde
+hinaus, da kam auf dessen Geschrei aus einem Erlenbusch eine Wölfin
+hervor, entriß der Wärterin das Kind mit Gewalt, that aber weder ihr
+noch dem Kinde ein Leides, sondern legte fein säuberlich das Kleine sich
+an die Brust und säugte es. Als das Kind darauf süß eingeschlummert war,
+brachte die Wärterin es nach Haus und legte es in die Wiege, wo es bis
+zum andern Tage ganz ruhig lag. Die Wärterin ließ nichts verlauten von
+dem Vorfall mit der Wölfin, ging aber den folgenden Tag wieder auf's
+Feld, wo sich Alles ganz so begab, wie Tags zuvor. Dabei war die
+Wärterin guter Laune, denn sie hatte es jetzt leicht, und auch der Vater
+des Kindes war seines Lebens wieder froher geworden, weil kein Geschrei
+mehr im Hause war, wiewohl die Wöchnerin noch immer schwer krank zu
+Bette lag und vorgab, weder Hand noch Fuß rühren zu können. Als nun am
+dritten Tage die Wärterin wieder ging, dem Kinde seine Amme zu suchen,
+sagte die Wölfin. »Ich darf nicht jeden Tag so öffentlich in's Freie
+kommen, das Kind zu säugen. Wenn du es aber alle Morgen an den
+Erlenbusch am Ukkofelsen bringst, so will ich es säugen; doch mußt du,
+so lang' ich es säuge, am Rande des Busches Wache halten, damit nicht
+Jemand plötzlich dazu komme und sehe, wie ich das Kind säuge. Und auch
+du selbst darfst nicht eher nach dem Kinde kommen, als bis ich dich
+rufe.« Die Wärterin that, wie geboten war, und die Sache ging über eine
+Woche lang vortrefflich; das Kind gedieh zusehends, schlief ruhig ohne
+Geschrei, und erwachte aus dem Schlafe mit freundlich lächelndem
+Antlitz.
+
+Eines Tages dünkte der Wärterin das Säugen der Wölfin allzulange zu
+dauern, und das Verbot übertretend ging sie heimlich zu spähen, was wohl
+die Amme mit dem Kinde machen möchte. Ein wunderbares Ding war es denn
+freilich, was sie da erblickte. Am Ukkofels saß eine junge nackte Frau,
+das Kind auf ihrem Schooße, welches sie zärtlich liebkoste und auf den
+Armen schaukelte. Endlich nahm sie eine Wolfshaut vom Felsen, schlüpfte
+hinein und rief dann die Wärterin, daß sie käme, das Kind zu nehmen. Als
+die Wärterin drei Tage nach der Reihe diese wunderbare Säugung des
+Kindes beobachtet hatte, konnte sie zu Hause nicht mehr reinen Mund
+halten, sondern that dem Vater Alles kund, was bisher täglich mit dem
+Kinde geschehen war, sowohl das Säugen durch die Wölfin, als auch die
+Gestalt der Frau, die aus der Wolfshaut herausgeschlüpft war. Der Mann
+schloß sofort, daß es hier nicht mit rechten Dingen zugehen könne; er
+verbot der Wärterin das Geheimniß irgend Jemand weiter zu sagen, und
+eilte selbst zu einem berühmten weisen Manne, um Rath und Hülfe zu
+suchen.
+
+Der weise Mann sagte, als er die Erzählung gehört hatte: »Hier scheint
+einer bösen Hexe Werk dahinter zu stecken, was ich sofort ganz
+aufzuklären nicht im Stande bin; aber wir müssen versuchen, durch List
+die Wolfshaut zu erlangen und zu vernichten, dann werden wir schon
+sehen, was für ein Betrug hier verübt ist.« Dann befahl er dem Manne, in
+der Nacht den Ukkofels glühend heiß zu machen, damit, wenn die Wölfin
+die Haut wieder auf den Fels werfen würde, diese versengt und zum
+Anziehen untauglich gemacht würde. Der Mann führte den andern Tag, als
+des Kindes Säugerin sich in den Wald zurückgezogen hatte, ein Paar Fuder
+Holz um den Fels her und auf denselben, und zündete dann in der Nacht
+das Holz an, wodurch der Ukkofels gluthroth wurde, wie die Glühsteine
+eines Badstubenofens. Als dann die Zeit herannahte, wo des Kindes
+Säugerin zu kommen pflegte, räumte er Brände und Asche bei Seite und
+schlüpfte selbst hinter das Gebüsch in ein Versteck, wo er Alles sehen
+konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Auf des Kindes Geschrei kam die
+Wölfin aus dem Walde gerufen, nahm der Wärterin das Kind ab, und legte
+es dann so lange in's Gras, bis sie die Wolfshaut abgezogen und auf den
+Felsrand geworfen hatte. Dann nahm sie das Kind auf den Schooß und
+begann es zu säugen. Je schärfer der Mann die Säugende ansah, desto
+bekannter wurden ihm Gesicht und Gestalt der Frau. Ja -- er erkannte in
+der Säugerin des Kindes sein Weib und begriff jetzt, weßhalb die
+Wöchnerin noch immer zu Hause im dunkeln Zimmer saß. Er sprang nun aus
+dem Gebüsch hervor und eilte auf die Frau zu. Diese schrie vor Schrecken
+auf, legte das Kind in's Gras und wollte ihre Wolfshaut wieder vom
+Felsen nehmen und anziehen, aber das Fell war ganz verbrannt, und nur
+ein zusammengeschrumpftes Ende davon nachgeblieben. Auch dieses warf
+jetzt der Mann auf die allerheißeste Stelle, wo nun die letzten Fetzen
+zu Asche verbrannten. Dann zog er seinen Rock aus, gab ihn der Frau,
+sich damit zu bedecken, und bat sie, so lange mit dem Kinde da zu
+bleiben, bis er nach Hause ginge, die Badstube zu heizen. Zu Hause ging
+er mit freundlicher Ansprache zur Wöchnerin und sagte: »Du mußt heute in
+die Badstube gehn, Liebchen, dann wirst du schneller gesund werden.« Die
+Frau sträubte sich zwar mit aller Macht dagegen; sie könne den Luftzug
+nicht vertragen; wie könne sie so über den Hof in die Badstube gehn.
+»Wenn ich so über den Hof ginge, so würde ich draußen ohnmächtig werden
+und mir den Tod holen.« Der Mann erwiederte: »Das hat gar nichts zu
+sagen, wir wickeln dir Mund und Augen in eine wollene Decke, so daß der
+Luftzug deinem zarten Körper nicht schaden kann.« Damit war die Frau
+ganz zufrieden, denn sie fürchtete nicht den Luftzug, sondern des Mannes
+Auge, der den Betrug gleich erkannt haben würde.
+
+Als die in die Decke gewickelte Wöchnerin mit Hülfe des Mannes in die
+Badstube gebracht worden war, machte der Mann die Thür so fest zu, daß
+keine lebende Seele herein noch heraus kommen konnte, setzte sich dann
+zu Pferde und jagte im Galopp nach Rõugataja's Hof. In die Stube tretend
+rief er mit freundlicher Stimme: »Guten Tag, liebe Schwiegermutter. Ich
+komme euch zu danken, daß ihr mir ein gutes Weib erzogen und mich von
+der Ofengabel von Frau losgemacht habt, die ich in meinem einfältigen
+Sinn gefreit hatte. Wir leben glücklich mit einander, und deßhalb
+wünscht die Tochter euch zu sehen, damit ihr euch selbst von unserer
+Zufriedenheit überzeugen könnt.« Rõugatajas Frau merkte den Betrug
+nicht, sondern freute sich, daß die Sache so gut gegangen war. Der
+Schwiegersohn spannte an, setzte sich mit der Schwiegermutter auf den
+Wagen und fuhr nach Haus. Hier sagte er: »Die junge Frau ist in die
+Badstube gegangen, sich zu baden, habt ihr nicht auch Lust
+hineinzugehen, um den Staub der Fahrt abzuwaschen?« »Warum nicht!«
+erwiederte die Mutter. Der Mann ließ sie in die Badstube treten,
+verschloß die Thür und warf dann den rothen Hahn auf's Dach. Da
+verbrannte denn die Badstube sammt Rõugataja's Frau und ihrer Tochter.
+-- Da jetzt das Haus von der bösen Sippschaft gereinigt war, nahm der
+Mann Weib und Kind zu sich, und sie lebten ungestört bis an ihr Ende.
+
+[Fußnote 75: Rõugataja, dessen Frau hier (wie im Märchen 13 S. 173)
+eine so häßliche Rolle spielt, erscheint im Kalewipoëg =II=. 501 ff. als
+geburtshelfender Gott. Er und der Gott =Ukko=, welcher gleichbedeutend ist
+mit dem Fruchtbarkeit verleihenden Obergotte =Tara= treten an das Lager
+der kreißenden Wittwe Linda, welche ihre Hülfe angerufen hatte, und
+nachdem beide Götter eine Stunde bei ihr geweilt, kommt der Kalewsohn
+glücklich zur Welt. Nach _=Castrén=_. Vorl. S. 45, wurde der finnische =Ukko=
+nur bei schweren Kindesnöthen in Anspruch genommen. Auch sonst kennt die
+ehstnische Ueberlieferung den Rõugataja als Schützer der Wöchnerinnen
+und Neugeborenen; auch bei Heirathen wurde ihm geopfert, damit der
+mütterliche Schooß nicht unfruchtbar bleibe. S. _Kreutzwald_ zu _Boecler_ S.
+18. 42. 43. Dann tritt Rõugataja mit abgeschwächter Bedeutung nur noch
+als Schutzgott der Neugeborenen auf, den die Wärterinnen beim ersten
+Bade eines Kindes, so wie beim Baden kranker Kinder anrufen. Ebend. S.
+49. 53. 54. u. _Kreutzwald_ u. _Neus_, myth. u. mag. Lieder S. 108. Zuletzt
+ist der Gott Rõugataja (etwa wie Knecht Ruprecht) zum Popanz entstellt,
+mit welchem man die Kinder erschreckt und beschwichtigt. -- Der Name,
+der auch in der Form =Raugutaja= vorkommt, scheint mit dem finnischen
+Roggen- oder Saatengott =Ronkoteus= zusammenzuhängen. Daß ein Gott der
+Saaten mit dem Gebären des Weibes in Verbindung gesetzt wird, kann nicht
+auffallen, auch Thor ist Saatgott und zugleich Gott der Ehe, und der
+Mythus von der Persephone weist auf dieselbe Combination. Die
+griechische Braut betritt mit gerösteter Gerste das Haus des Bräutigams.
+Auffallend ist es, daß die ehstnische Mythologie, die doch sonst an
+weiblichen Personificationen reich ist, keine Gestalt wie die
+griechische Eileithyia, oder die römische Lucina aufzuweisen hat. L.]
+
+
+
+
+16. Die Meermaid
+
+
+In der alten glücklichen Zeit gab es auf Erden viel bessere Menschen als
+jetzt, darum ließ ihnen der himmlische Vater auch manche Wunder offenbar
+werden, welche heut' zu Tage entweder ganz verborgen bleiben, oder nur
+selten einmal einem Glückskinde erscheinen. Zwar die Vögel singen nach
+alter Weise, und die Thiere tauschen ihre Laute aus, aber leider
+verstehen wir ihre Sprache nicht, und was sie sagen, bringt uns weder
+Lehre noch Nutzen.
+
+In der _Wiek_ wohnte vor Zeiten am Strande eine schöne Meermaid, die sich
+den Leuten oftmals zeigte; noch meines Großvaters Vetter, der in dieser
+Gegend aufwuchs, hatte sie zuweilen auf einem Steine sitzen sehen, aber
+das Bürschlein hatte nicht gewagt näher zu treten. Die Jungfrau erschien
+in mancherlei Gestalten, bald als Füllen oder Färse, bald wieder als ein
+anderes Thier; manchen Abend mischte sie sich unter die Kinder, und ließ
+es sich gefallen, daß sie mit ihr spielten, daß sich die Knäblein ihr
+auf den Rücken setzten -- dann war sie plötzlich wie unter die Erde
+gesunken!
+
+Wie die alten Leute jener Zeit erzählten, konnte man die Jungfrau in
+früheren Tagen fast jeden schönen Sommerabend am Meeresufer sehen, wo
+sie auf einem Steine sitzend ihr langes blondes Haar mit goldenem Kamme
+glättete, und so schöne Lieder sang, daß den Hörern das Herz hinschmolz.
+Die Annäherung der Menschen aber duldete sie nicht, sondern entschwand
+ihren Blicken, oder entwich in's Meer, wo sie als Schwan sich auf den
+Wellen schaukelte. Warum sie vor den Menschen floh, und nicht mehr das
+frühere Zutrauen zu ihnen hatte, darüber wollen wir jetzt das nähere
+melden.
+
+In alten Tagen, lange vor der Schwedenzeit, lebte am Strande der Wiek
+ein wohlhabender Bauer mit seiner Frau und vier Söhnen; ihren täglichen
+Unterhalt gewannen sie mehr der See als dem Acker ab, weil der Fischfang
+zu ihrer Zeit gar reich gesegnet war. Ihr jüngster Sohn zeigte sich von
+klein auf in allen Stücken anders als seine Brüder, er mied die
+Gesellschaft der Menschen, schlenderte am Meeresufer und im Walde umher,
+sprach mit sich selbst, mit den Vögeln oder mit Wind und Wellen, aber
+wenn er unter die Leute kam, öffnete er den Mund nicht viel, sondern
+stand wie träumend. Wenn im Herbst die Stürme aus dem Meere tobten, die
+Wellen sich haushoch thürmten und sich schäumend am Ufer brachen, dann
+ließ es dem Knaben zu Hause keine Ruhe mehr, er lief wie besessen, oft
+halb nackend, an den Strand. Wind und Wetter scheute sein abgehärteter
+Körper nicht. Er sprang in den Kahn, ergriff die Ruder und fuhr, gleich
+einer wilden Gans, auf dem Kamme der tobenden Wellen weit in die See
+hinaus, ohne daß seine Verwegenheit ihm jemals Gefahr gebracht hätte. Am
+Morgen, wenn der Sturm ausgetobt hatte, fand man ihn am Meeresufer in
+süßem Schlafe. Schickte man ihn irgend wohin, um ein Geschäft zu
+besorgen, z. B. im Sommer das Vieh zu hüten, oder sonst kleine Arbeiten
+zu übernehmen, so machte er seinen Eltern nur Verdruß. Er warf sich
+irgendwo in den Schatten eines Busches, ohne der Thiere zu achten, die
+sich zerstreuten, Wiesen oder Kornfelder betraten, und sich auch
+theilweise verliefen, so daß die Brüder Stunden lang zu thun hatten, bis
+sie der verlorenen Thiere wieder habhaft wurden. Wohl hatte der Vater
+den Knaben die Ruthe bitter genug fühlen lassen, aber das wirkte nicht
+mehr, als Wasser auf eine Gans gegossen. Als der Knabe zum Jüngling
+herangewachsen war, ging es auch nicht besser, keine Arbeit gedieh unter
+seinen lässigen Händen; er zerschlug und zerbrach das Arbeitsgerät,
+mattete die Arbeitsthiere ab, und schaffte doch nichts Rechtes.
+
+Der Vater gab ihn nun auf fremde Bauerhöfe in Dienst, weil er hoffte,
+daß vielleicht die fremde Peitsche den Lotterer bessern und zum
+ordentlichen Menschen machen möchte; aber wer den Burschen eine Woche
+lang auf Probe gehabt hatte, schickte ihn auch in der nächsten Woche
+wieder zurück. Die Eltern schalten ihn einen Tagedieb, und die Brüder
+hießen ihn »_Schlaf-Tönnis_;« binnen kurzem war dieser Spitzname in aller
+Munde, wiewohl er auf den Namen _Jürgen_ getauft war. Weil nun der
+Schlaf-Tönnis keinem Menschen Nutzen brachte, vielmehr Eltern und
+Geschwistern nur zur Last fiel und im Wege war, so hätten sie gern ein
+Stück Geld hingegeben, wenn jemand sie von dem Faullenzer befreit hätte.
+Als der Schlaf-Tönnis nirgends mehr aushielt, und auch Niemand ihn
+behalten wollte, verdingte ihn endlich der Vater bei einem fremden
+Schiffer als Knecht, weil er doch auf der See nicht davon laufen konnte,
+und weil der Bursche auch das Meer von klein auf geliebt hatte. Trotzdem
+war er nach einigen Wochen, ich weiß nicht wie? von dem Schiffe
+entkommen, und hatte seine trägen Füße wieder auf den heimischen Boden
+gesetzt. Nur schämte er sich, das Haus seiner Eltern zu betreten, wo er
+auf keinen freundlichen Empfang hoffen durfte, er trieb sich von einem
+Orte zum andern herum, und suchte sein Leben zu fristen, wie es ging,
+ohne zu arbeiten. Er war ein hübscher starker Bursche, und konnte ganz
+angenehm sprechen, wenn er wollte, obschon er im elterlichen Hause
+seinen Mund nie viel zum Reden gebraucht hatte. Jetzt mußten ihn sein
+schmuckes Aussehen und seine glatte Rede erhalten, denn er wußte sich
+damit bei Frauen und Mädchen einzuschmeicheln.
+
+Da geschah es, als er an einem schönen Sommerabend nach Sonnenuntergang
+allein am Strande sich erging, daß der Meermaid holder Gesang an sein
+Ohr drang. Schlaf-Tönnis dachte alsbald: »Sie ist auch ein Weib, und
+wird mir nichts zu Leide thun!« Er zögerte also nicht, dem Gesange
+nachzugehen, um den schönen Vogel in Augenschein zu nehmen. Er bestieg
+den höchsten Hügel, und gewahrte von da über einige Felder weg die
+Meermaid, die auf einem Steine saß, wo sie mit goldenem Kamme ihr Haar
+glättete und ein herrliches Lied sang. Der Jüngling hätte sich mehr
+Ohren gewünscht, um den Gesang zu hören, der ihm in's Herz schlug wie
+eine Flamme; als er aber näher kam, sah er, daß hier eben so viele Augen
+Noth thäten, die Schönheit der Jungfrau zu fassen. Gewiß hatte die
+Meermaid den Kommenden bemerkt, aber sie floh nicht vor ihm, was sie
+doch sonst immer that, wenn sich Menschen ihr näherten. Schlaf-Tönnis
+mochte etwa noch zehn Schritte von ihr sein, als er plötzlich still
+stand, unentschlossen, ob er warten oder näher treten solle. Und
+wunderbar! Die Meermaid erhob sich vom Steine und kam ihm mit
+freundlicher Miene entgegen. Grüßend bot sie dem Jüngling die Hand und
+sagte: »Ich habe dich hier schon manchen Tag erwartet, weil ein
+bedeutsamer Traum mir deine Ankunft kündete. Du hast unter den Menschen
+nirgends Haus noch Heim, wohin du gehen könntest, oder wo Leute deines
+Schlages taugten. Warum solltest du auch von Fremden abhängig sein, wenn
+die Eltern dir in ihrem Hause keine Stätte bieten? Ich kenne dich von
+klein auf und besser, als die Menschen dich kennen, weil ich ungesehen
+oft um dich war und dich schützte, wenn dein verwegener Uebermuth dich
+hätte verderben können. Ja, meine Hände haben oft dein schwankes Boot
+gehütet, daß es nicht in die Tiefe sank! Komm mit mir, du sollst
+Herrentage haben, und es soll dir an nichts mangeln, was dein Herz nur
+begehrt, sollst du kosten. Ich will dich warten und hüten wie meinen
+Augapfel, daß weder Wind noch Regen noch Frost dir etwas anhaben
+sollen.« Schlaf-Tönnis stand noch immer im Zweifel, er kratzte sich
+hinter den Ohren und überlegte, was er antworten solle; obgleich jedes
+Wort der Jungfrau ihm wie ein Feuerpfeil in's Herz gedrungen war.
+Endlich fragte er schüchtern, ob ihre Behausung weit von hier sei. »Wir
+können mit Windesschnelle dahin kommen, wenn du festes Vertrauen zu mir
+hast,« erwiederte die Meermaid. Da fielen dem Schlaf-Tönnis plötzlich
+mancherlei Reden ein, die er früher von den Leuten über die Meermaid
+gehört hatte, das Herz bangte ihm, und er bat sich drei Tage Bedenkzeit
+aus. »Ich will deinen Wunsch erfüllen,« sagte die Meermaid, »aber damit
+du nicht wieder unsicher werdest, will ich dir, bevor wir scheiden,
+meinen goldenen Ring an deinen Finger stecken, auf daß du das
+Wiederkommen nicht vergessest. Wenn wir dann näher mit einander bekannt
+werden, so kann vielleicht aus diesem Pfande ein Verlobungsring werden.«
+Mit diesen Worten zog sie den Ring ab, steckte ihn dem Jüngling an den
+kleinen Finger und verschwand dann, als wäre sie in Luft zerflossen.
+Schlaf-Tönnis blieb mit offenen Augen stehen, und hätte das Vorgefallene
+für einen Traum gehalten, wenn nicht der glänzende Ring an seinem Finger
+das Gegentheil dargethan hätte. -- Aber mit diesem Ringe schien wie ein
+fremder Geist in ihn gefahren zu sein, der ihm nirgends mehr Rast noch
+Ruhe ließ. Er streifte die ganze Nacht unstet am Strande umher und kam
+immer wieder zu dem Steine zurück, auf welchem die Jungfrau gesessen
+hatte -- aber der Stein war kalt und leer. Am Morgen legte er sich ein
+wenig nieder, aber unruhige Träume störten seinen Schlaf. Als er
+erwachte, fühlte er weder Hunger noch Durst, all sein Sinnen stand nur
+auf den Abend, da hoffte er die Meermaid wieder zu sehen. Der Tag neigte
+sich endlich, es wurde Abend, der Wind legte sich, die Vögel im
+Erlenbusch hörten auf zu singen, und steckten die müden Schnäbel unter
+die Flügel -- aber die Meermaid sah er an dem Abend nirgends.
+
+Sorge und Leid preßten ihm schwere Thränen aus, in seinem Unmuth hätte
+er sich die bitterste Qual anthun mögen -- warum hatte er am gestrigen
+Abend das dargebotene Glück verschmäht und sich eine Bedenkzeit
+ausbedungen, wo ein klügerer als er das Glück mit beiden Händen bei den
+Hörnern gepackt haben würde. Nun half keine Reue noch Klage. Nicht
+minder trübselig verstrich ihm die Nacht und der folgende Tag; unter der
+Last des Kummers fühlte er nicht einmal den Hunger. Gegen
+Sonnenuntergang setzte er sich zerknirschten Herzens auf eben den Stein,
+auf welchem die Meermaid vorgestern gesessen hatte, fing an bitterlich
+zu weinen und sagte ächzend: »Wenn sie heute nicht kommt, so will ich
+nicht länger mehr leben, sondern entweder hier auf dem Steine Hungers
+sterben, oder mich jählings in die Wellen stürzen und in der Tiefe des
+Meeres mein elendes Leben enden!« -- Ich weiß nicht, wie lange er so in
+Gram versunken gesessen hatte, als er eine weiche warme Hand auf seiner
+Stirne fühlte. Als er die Augen aufschlug, sah er die Jungfrau vor sich,
+die ihn liebreich anredete: »Ich sah deine herbe Qual, hörte dein
+sehnsüchtiges Seufzen und mochte nicht länger zögern, obgleich deine
+Bedenkzeit erst morgen Abend abläuft.«
+
+»Vergebt mir, vergebt mir, theure Jungfrau!« bat Schlaf-Tönnis
+schluchzend. »Vergebt mir! ich war ein sinnloser Thor, daß ich das
+unverhoffte Glück nicht festzuhalten wußte. Der Teufel weiß, was für
+eine Tollheit mir vorgestern in den Kopf kam. Bringt mich, wohin ihr
+wollt, ich widerstrebe nicht, ja ich würde mit Freuden mein Leben für
+euch hingeben.«
+
+Die Meermaid erwiederte lachend: »Mich verlangt nicht nach deinem Tode,
+sondern ich will dich lebend als lieben Genossen zu mir nehmen.« Dann
+nahm sie den Jüngling bei der Hand, führte ihn einige Schritte näher
+an's Meer, verband ihm mit einem seidenen Tuche die Augen, und in
+demselben Augenblicke fühlte sich Schlaf-Tönnis von zwei starken Armen
+umfaßt, welche ihn wie im Fluge emporhoben und dann jählings in die Flut
+stürzten. Als die kalte Flut seinen Leib berührte, verlor er das
+Bewußtsein, so daß er nicht mehr wußte, was mit ihm und um ihn vorging.
+Er konnte also späterhin auch nicht sagen, wie lange seine Ohnmacht
+gedauert hatte.
+
+Als er erwachte, sollte er noch Seltsameres erfahren.
+
+Er fand sich auf weichem Kissen in seidenem Bette, das in einem
+prächtigen Gemache stand, dessen Wände von Glas und von innen mit rothen
+Sammetdecken verhüllt waren, damit das grelle Licht den Schläfer nicht
+wecke. Eine Zeit lang wußte er selbst nicht recht, ob er noch lebe oder
+sich nach dem Tode an einem unbekannten Orte befinde. Er reckte seine
+Glieder hin und her, nahm seine Nasenspitze zwischen die Finger, und
+siehe! -- es war Alles, wie es sein mußte. Angethan war er mit einem
+feinen weißen Hemde, und schöne Kleider lagen auf einem Stuhl vor seinem
+Bette. Nachdem er sich eine Zeit lang im Bette gedehnt und sich
+handgreiflich überzeugt hatte, daß er wirklich am Leben sei, stand er
+endlich auf und zog sich an. -- Zufällig hustete er, und augenblicklich
+traten zwei Mädchen ein, grüßten ehrerbietig und baten, der »_gnädige
+Herr_« möge ihnen sagen, was er frühstücken wolle. Während die eine den
+Tisch deckte, ging die andere die Speisen zu bereiten. Es dauerte nicht
+lange, so standen Schüsseln mit Schweinefleisch, Wurst, Blutklößen und
+Scheibenhonig, nebst Bier- und Methkannen auf dem Tische -- gerade als
+ob eine prächtige Hochzeit gefeiert würde. Schlaf-Tönnis, der mehrere
+Tage ohne Nahrung geblieben war, setzte seine Kinnladen in Bewegung und
+aß, was der Magen fassen wollte, dann streckte er sich aufs Bett, um zu
+verdauen. Als er wieder aufstand, kamen die Dienerinnen zurück und baten
+den »gnädigen Herrn«, im Garten spazieren zu gehen, während die gnädige
+Frau sich ankleiden lasse. Es wurden ihm von allen Seiten so viel
+»gnädige Herren« an den Hals geworfen, daß er schon anfing, sich für
+einen solchen zu halten, und seines früheren Standes vergaß.
+
+Ich Garten fand er auf Schritt und Tritt Schönheit und Zierde; im grünen
+Laube glänzten goldene und silberne Aepfel, sogar die Fichten- und
+Tannenzapfen waren golden und goldgefiederte Vögel hüpften in den
+Wipfeln und auf den Zweigen. Zwei Mädchen traten hinter einem Gebüsche
+hervor, sie hatten Auftrag, den »gnädigen Herrn« im Garten herum zu
+führen und ihm alle Schönheiten desselben zu zeigen. Weiter gehend
+gelangten sie an den Rand eines Teiches, auf welchem silbergefiederte
+Gänse und Schwäne schwammen. Ueberall schimmerte Morgenroth, doch
+nirgends sah man die Sonne. Die mit Blüthen bedeckten Gebüsche hauchten
+süßen Duft aus, und Bienen, groß wie Bremsen, flogen um die Blüthen
+herum. Alles, was unser Freund hier von Bäumen und Gewächsen erblickte,
+war viel herrlicher, als wir es jemals schauen. Sodann erschienen zwei
+prächtig gekleidete Mädchen, um den »gnädigen Herrn« zur gnädigen Frau
+einzuladen, welche ihn erwarte. Ehe man ihn zu ihr führte, wurde ihm
+noch ein blauseidener Shawl[76] um die Schultern gelegt. Wer hätte in
+diesem Aufzuge den früheren Schlaf-Tönnis wieder erkannt?
+
+In einer prächtigen Halle, die so groß wie eine Kirche und auch, wie das
+Schlafgemach, aus Glas gegossen war, saßen zwölf scheue Jungfrauen auf
+silbernen Stühlen. Hinter ihnen auf einer Erhöhung unweit der Wand
+standen zwei goldene Stühle, auf deren einem die hehre Königin saß,
+während der andere noch leer war. Als Schlaf-Tönnis über die Schwelle
+trat, erhoben sich alle Jungfrauen von ihren Sitzen und grüßten den
+Ankömmling ehrerbietig, setzen sich auch nicht eher wieder, als bis es
+ihnen geheißen worden. Die Herrin selber blieb auf ihrem Stuhle sitzen,
+nickte dem Jünglinge ihren Gruß zu und winkte befehlend mit dem Finger,
+worauf die Führerinnen den Schlaf-Tönnis in die Mitte nahmen und zur
+Herrin geleiteten. Der Jüngling ging schüchternen Schrittes vorwärts,
+und wagte nicht die Augen aufzuschlagen, denn all' die unerwartete
+Pracht und Herrlichkeit blendete ihn. Man wies ihm seinen Platz auf dem
+goldenen Stuhle neben der Herrin an, und diese sagte: »Dieser Jüngling
+ist mein lieber Bräutigam, dem ich mich verlobt und den ich mir zu
+meinem Gemahl erkoren habe. Ihr müßt ihm jegliche Ehre erweisen und ihm
+eben so gehorchen wie mir. Jedes Mal, daß ich das Haus verlasse, müßt
+ihr ihm die Zeit vertreiben und ihn pflegen und hüten wie meinen
+Augapfel. Schwere Strafe würde den treffen, der meinen Willen nicht
+pünktlich erfüllt.«
+
+Schlaf-Tönnis sah wie verbrüht drein, weil er gar nicht wußte, was er
+von der Sache halten solle; die Erlebnisse dieser Nacht schienen
+wunderbarer als Wunder. Er mußte sich in Gedanken immer wieder fragen,
+ob er wache oder träume. Die Herrin errieth, was in ihm vorging, erhob
+sich von ihrem Stuhle, nahm ihn bei der Hand und führte ihn aus einem
+Zimmer in's andere; alle waren menschenleer. So waren sie in das zwölfte
+Gemach gelangt, das etwas kleiner aber noch prächtiger war, als die
+andern. Hier nahm die Herrin ihre Krone vom Haupte, warf den
+goldverbrämten seidenen Mantel ab, und als Schlaf-Tönnis jetzt die Augen
+aufzuschlagen wagte, sah er keine fremde Herrin, sondern die Meermaid an
+seiner Seite. O du liebe Zeit! jetzt wuchs ihm plötzlich der Muth und
+seine Hoffnung erblühte. Freudig rief er: »O theure Meermaid!« -- aber
+in demselben Augenblick schloß die Hand der Jungfrau ihm den Mund; sie
+sprach in ernstem Tone: »Wenn dir mein und dein eigenes Glück lieb ist,
+so nenne nie mehr diesen Namen, den man mir zum Schimpf beigelegt hat.
+Ich bin der Wasser-Mutter[77] Tochter, und unserer sind viele
+Schwestern, wenn wir auch alle einsam, jede an ihrem Ort, im Meere, in
+Seeen und Flüssen wohnen, und uns nur selten einmal durch einen
+glücklichen Zufall zu sehen bekommen.« Dann erklärte sie ihm, sie habe
+bis jetzt jungfräulich gelebt, müsse aber als verordnete Herrscherin
+Namen und Würde einer königlichen Frau aufrecht erhalten. Schlaf-Tönnis
+war durch sein unverhofftes Glück wie von Sinnen gekommen, er wußte
+nicht, was er in seiner Freude beginnen sollte, aber die Zunge war ihm
+wie gebunden, und er brachte nicht viel mehr heraus als _Ja_ oder _Nein_.
+Als er sich aber beim Mittagsmahl die leckeren Speisen schmecken ließ,
+und als die köstlichen Getränke ihm warm machten, da löste sich auch
+seine Zunge, und er wußte sich nicht bloß wie sonst gut zu unterhalten,
+sondern auch manchen artigen Scherz anzubringen.
+
+Am folgenden und am dritten Tage ging dieses glückliche Leben eben so
+fröhlich weiter; Schlaf-Tönnis glaubte sich bei lebendigem Leibe in den
+Himmel versetzt. Vor Schlafengehen sagte die Meermaid zu ihm: »Morgen
+haben wir Donnerstag,[78] und allwöchentlich muß ich, einem Gelübde
+gemäß an diesem Tage fasten und einsam von allen Andern getrennt leben.
+Donnerstags kannst du mich nicht früher sehen, als bis der Hahn Abends
+drei Mal gekräht hat. Meine Dienerinnen werden inzwischen für dich
+sorgen, daß dir die Zeit nicht lang werde, und es dir an Nichts fehle.«
+
+Am andern Morgen fand Schlaf-Tönnis seine Genossin nirgends -- er
+gedachte dessen, was sie ihm am Abend zuvor angekündigt hatte, nämlich,
+daß er heute und jeden künftigen Donnerstag ohne seine Gemahlin
+zubringen müsse. Die Dienerinnen bemühten sich, ihm auf alle Weise die
+Zeit zu vertreiben, sie sangen, spielten und führten heitere Tänze auf;
+dann setzten sie ihm wieder Speise und Trank vor, wie ein geborener
+Königssohn sie nicht besser haben konnte, und der Tag verging ihm
+schneller als er geglaubt hatte. Nach dem Abendessen begab er sich zur
+Ruhe, und als der Hahn das dritte Mal gekräht hatte, kam die Schöne
+wieder zu ihm. Ebenso ging es an jedem folgenden Donnerstage. Oft zwar
+hatte er die Geliebte gebeten, am Donnerstage mit ihr zusammen fasten zu
+dürfen, aber vergebens. Als er nun einst wieder an einem Mittwoch seine
+Gemahlin mit dieser Bitte quälte und ihr keine Ruhe ließ, sagte die
+Meermaid mit thränenden Augen: »Nimm mein Leben, wenn du willst, ich
+gebe es gerne hin, aber deinen Wunsch, dich zu meinem Fasttage
+mitzunehmen, kann und darf ich nicht erfüllen.«
+
+Ein Jahr oder darüber mochte ihnen so verflossen sein, als sich Zweifel
+im Herzen des Schlaf-Tönnis regten, die immer quälender wurden, so daß
+er keine Ruhe mehr fand. Das Essen wollte ihm nicht munden, und der
+Schlaf erquickte ihn nicht. Er fürchtete nämlich, daß die Meermaid außer
+ihm noch einen heimlichen Geliebten habe, in dessen Armen sie jeden
+Donnerstag ruhe, während er die Zeit mit ihren Dienerinnen hinbringen
+müsse. Die Kammer, in welcher die Meermaid sich Donnerstags verborgen
+hielt, kannte er längst, aber was half es? Die Thür war immer
+verschlossen und die Fenster waren von innen durch doppelte Vorhänge so
+dicht verhüllt, daß nirgends eine Oeffnung wenn auch nur von der Breite
+eines Nadelöhrs blieb, durch welche ein Sonnenstrahl, geschweige denn
+ein menschliches Auge, hätte eindringen können. Aber je unmöglicher die
+Aufhellung dieses Geheimnisses schien, desto heftiger wurde sein
+Verlangen, der Sache auf den Grund zu kommen. Wenngleich er von dem, was
+ihm auf dem Herzen lastete, der Meermaid kein Wörtchen verrieth, so
+merkte sie doch an seinem unsteten Wesen, daß die Sachen nicht mehr
+standen wie sie sollten. Wiederholt bat sie ihn mit Thränen in den
+Augen, er möge sie und sich selbst doch nicht mit verkehrten Gedanken
+plagen. »Ich bin,« sagte sie, »frei von aller Schuld gegen dich, ich
+habe keine heimliche Liebe noch irgend eine andere Sünde gegen dich auf
+dem Gewissen. Aber dein falscher Argwohn macht uns Beide unglücklich,
+und wird unsern Herzensfrieden zerstören. Mit Freuden würde ich jeden
+Augenblick mein Leben für dich hingeben, wenn du es wünschen würdest,
+aber an meinem Fasttage kann ich dich nicht in meine Nähe lassen. Es
+darf nicht sein, und würde unserer Liebe und unserem Glücke für immer
+den Untergang bringen. Wir leben ja sechs Tage in der Woche in ruhigem
+Glücke mit einander, wie kann uns die Trennung _eines_ Tages so schwer
+fallen, daß du sie nicht ertragen solltest.«
+
+Sechs Tage hielt solch' ein verständiger Zuspruch immer wieder vor, aber
+wenn der nächste Donnerstag kam, und die Meermaid nicht erschien, dann
+verlor er den Kopf und geberdete sich wie ein halb Verrückter. Er hatte
+keine Ruhe mehr, zuletzt wollte er am Donnerstage Niemand um sich
+haben, die Dienerinnen durften nur die Speisen und Getränke auftragen
+und mußten sich dann gleich entfernen, damit er allein hausen könne wie
+ein Gespenst.
+
+Diese gänzliche Verwandlung nahm Alle Wunder, und als die Meermaid die
+Sache erfuhr, wollte sie sich die Augen aus dem Kopfe weinen; doch
+überließ sie sich ihrem Schmerze nur, wenn Niemand dabei war.
+Schlaf-Tönnis hoffte, wenn er allein gelassen würde, bessere Gelegenheit
+zur Untersuchung der geheimnißvollen Fastenkammer zu finden --
+vielleicht entdeckte er doch irgendwo ein Spältchen, durch welches er
+spähen und beobachten könnte, was dort vorginge. Je mehr er sich aber
+abquälte, desto unmuthiger wurde auch die Meermaid, und wenn sie noch
+ein freundliches Antlitz zeigte, so kam ihr doch die Freundlichkeit
+nicht mehr von Herzen wie sonst.
+
+So vergingen einige Wochen, und die Sache wurde nicht besser und nicht
+schlechter; da fand Schlaf-Tönnis eines Donnerstags neben dem Fenster
+eine kleine Stelle, wo die Vorhänge sich zufällig verschoben hatten, so
+daß der Blick in die Kammer dringen konnte. Was er da sah, machte sein
+Herz ärger als Februarkälte gerinnen. Das geheimnißvolle Gemach hatte
+keinen Fußboden, sondern sah aus wie ein großer viereckiger Kübel, der
+viele Fuß hoch mit Wasser gefüllt war. Darin schwamm seine geliebte
+Meermaid. Vom Kopf bis zum Bauch hatte sie noch die Schönheit des
+weiblichen Körpers, aber die untere Hälfte vom Nabel abwärts war ganz
+Fisch, mit Schuppen bedeckt und mit Flossen versehen. Mit dem breiten
+Fischschwanz plätscherte sie zuweilen im Wasser, daß es hoch
+aufspritzte. -- Der Späher wich wie betäubt zurück, und ging betrübt
+hinweg. Wie viel hätte er darum gegeben, wenn er diesen Anblick aus
+seinem Gedächtnisse hätte auslöschen können! Er dachte hin und her,
+wußte aber nicht, was er anfangen sollte.
+
+Der Hahn hatte am Abend wie gewöhnlich drei Mal gekräht, aber die
+Meermaid kam nicht zu ihm zurück. Er durchwachte die ganze Nacht, aber
+die Schöne erschien immer noch nicht. Erst am Margen kam sie in
+schwarzen Trauerkleidern, das Gesicht mit einem dünnen Seidentuch
+verhüllt, und sprach mit weinender Stimme: »O, du Unseliger, der du
+durch deine Torheit unserem glücklichen Leben ein Ende gemacht hast! Du
+siehst mich heute zum letzten Male und mußt nun wieder in deinen
+früheren Zustand zurückkehren, was du dir selber zuzuschreiben hast.
+Leb' wohl zum letzten Male!«
+
+Ein plötzlicher Krach und ein starkes Getöse, als ob der Boden unter den
+Füßen weg rollte, warf den Schlaf-Tönnis nieder, und in seiner Betäubung
+hörte und sah er nicht mehr, was mit ihm und um ihn her vorging.
+
+Als er endlich, wer weiß wie lange nachher, aus seiner Ohnmacht
+erwachte, fand er sich am Meeresstrande, dicht bei demselben Steine, auf
+welchem die schöne Meermaid gesessen hatte, als sie den
+Freundschaftsbund mit ihm schloß. Statt der prächtigen Kleider, die er
+in der Behausung der Meermaid täglich getragen hatte, fand er seinen
+alten Anzug, der aber viel älter und zerlumpter aussah, als es nach
+seiner Annahme der Fall sein konnte. Die Glückstage unseres guten
+Freundes waren vorüber, und keine noch so bittere Reue konnte sie
+zurückbringen.
+
+Als er weiter ging, stieß er auf die ersten Gehöfte seines Dorfs. Sie
+standen wohl an der alten Stelle, aber sahen doch anders aus. Was ihm
+aber, als er sich umsah, noch viel wunderbarer dünkte, war, daß die
+Menschen ihm ganz fremd waren, und nicht ein einziges bekanntes Gesicht
+ihm begegnete.
+
+Auch ihn sahen Alle befremdet an, als ob sie ein Wunderthier vor sich
+hätten. Schlaf-Tönnis ging nun zum Hofe seiner Eltern; auch hier kamen
+ihm fremde Menschen entgegen, die ihn nicht kannten, und die er nicht
+kannte. Erstaunt fragte er nach seinem Vater und seinen Brüdern, aber
+Niemand konnte ihm Bescheid geben. Endlich kam ein gebrechlicher Alter
+auf einen Stock gestützt aus dem Hause und sagte: »Bauer, der Wirth,
+nach welchem du dich erkundigst, schläft schon über dreißig Jahre in der
+Erde; auch seine Söhne müssen todt sein. Wo kommst du denn her,
+Alterchen, um solchen vergessenen Dingen nachzuforschen?« Das Wort
+»Alterchen« hatte den Schlaf-Tönnis dermaßen erschreckt, daß er nichts
+weiter fragen konnte. Er fühlte seine Glieder zittern, wandte den
+fremden Menschen den Rücken, und eilte zur Pforte hinaus. Die Anrede
+»Alterchen« ließ ihm keine Ruhe; dies Wort war ihm centnerschwer auf die
+Seele gefallen -- die Füße versagten ihm den Dienst.
+
+An der nächsten Quelle besah er seine Gestalt im Wasserspiegel: die
+bleichen zusammengeschrumpften Wangen, die eingefallenen Augen, der
+lange graue Bart und die grauen Haare bestätigten, was er vernommen
+hatte. Diese vergilbte, verwelkte Gestalt hatte keine Aehnlichkeit mehr
+mit dem Jüngling, den die Meermaid sich zum Bräutigam erkoren hatte.
+Jetzt erst ward der Unglückliche inne, daß die vermeintlichen paar Jahre
+ihm den größten Theil seines Lebens hinweggenommen hatten, denn als
+blühender Jüngling war er in das Haus der Meermaid eingezogen, und als
+gespenstischer Alter war er zurückgekommen. Dort hatte er weder den Fluß
+der Zeit noch das Hinschwinden des Körpers gespürt, und er konnte es
+sich nicht erklären, wie die Bürde des Alters ihm so plötzlich, gleich
+einer Vogelschlinge, über den Hals gekommen war. Was sollte er jetzt
+beginnen, da er als Fremder unter Fremde verschneit war? -- Einige Tage
+lang streifte er am Strande von einem Bauerhofe zum andern umher, und
+gute Menschen gaben ihm aus Barmherzigkeit ein Stück Brot. Da traf er
+einst mit einem munteren Burschen zusammen, dem er seinen Lebenslauf
+ausführlich erzählte, aber in derselben Nacht war er auch verschwunden.
+Nach einigen Tagen wälzten die Wellen seinen Leichnam an's Ufer. Ob er
+vorsätzlich oder zufällig im Meere ertrunken war, ist nicht bekannt
+geworden.
+
+Von dieser Zeit an hat sich das Wesen der Meermaid den Menschen
+gegenüber gänzlich verändert; nur Kindern erscheint sie zuweilen, fast
+immer in anderer Gestalt, erwachsene Menschen aber läßt sie nicht an
+sich heran kommen, sondern scheut sie wie das Feuer.
+
+[Fußnote 76: Sfoba, »ein Stück des festlichen Anzuges, ein weißes
+wollenes Tuch mit bunt ausgenähten Kanten und mit Troddeln an den kurzen
+Rändern, auf der Brust mit einer Spange zusammengehalten.« _Wiedemann_,
+Wörterb. s. v. L.]
+
+[Fußnote 77: Vgl. Nota zu dem Märchen von den zwölf Töchtern S. 89. L.]
+
+[Fußnote 78: Vgl. Anm. zum Märchen 1, die Goldspinnerinnen S. 2. L.]
+
+
+
+
+17. Die Unterirdischen.[79]
+
+
+In einer stürmigen Nacht zwischen Weihnacht und Neujahr war ein Mann vom
+Wege abgekommen; während er sich durch die tiefen Schneetriften
+durchzuarbeiten suchte, erlahmte seine Kraft, so daß er von Glück sagen
+konnte, als er unter einem dichten Wachholderbusch Schutz vor dem Winde
+fand. Hier wollte er übernachten, in der Hoffnung, am hellen Morgen den
+Weg leichter zu finden. Er zog seine Glieder zusammen wie ein Igel,
+wickelte sich in seinen warmen Pelz und schlief bald ein. Ich weiß
+nicht, wie lange er so gelegen hatte, als er fühlte, daß Jemand ihn
+rüttele. Als er aus dem Schlafe auffuhr, schlug eine fremde Stimme an
+sein Ohr: »Bauer, ohe! steh auf! sonst begräbt dich der Schnee, und du
+kommst nicht wieder heraus.« Der Schläfer steckte den Kopf aus dem Pelze
+hervor und sperrte die noch schlaftrunkenen Augen weit auf. Da sah er
+einen Mann von langem schlanken Wuchse vor sich; der Mann trug als Stock
+einen jungen Tannenbaum, der doppelt so hoch war wie sein Träger. »Komm
+mit mir,« sagte der Mann mit dem Tannenstock -- »für uns ist im Walde
+unter Bäumen ein Feuer gemacht, wo sich's besser ruht, als hier auf
+freiem Felde.« Ein so freundliches Anerbieten mochte der Mann nicht
+ausschlagen, vielmehr stand er sogleich auf, und schritt rüstig mit dem
+fremden Manne vorwärts. Der Schneesturm tobte so heftig, daß man auf
+drei Schritt nicht sehen konnte, aber wenn der fremde Mann seinen
+Tannenstock aufhob und mit strenger Stimme rief: »Hoho!
+Stümesmutter![80] mach' Platz!« so bildete sich vor ihnen ein breiter
+Pfad, wohin auch kein Schneeflöckchen drang. Zu beiden Seiten und im
+Rücken tobte wildes Schneegestöber, aber die Wanderer focht es nicht an.
+Es war, als ob auf beiden Seiten eine unsichtbare Wand das Gestüm
+abwehrte. Bald kamen die Männer an den Wald, aus dem schon von fern der
+Schein eines Feuers ihnen entgegen leuchtete. »Wie heißt du?« fragte der
+Mann mit dem Tannenstock, und der Bauer erwiederte: »Des langen Hans
+Sohn Hans.«
+
+Am Feuer saßen drei Männer mit weißen leinenen Kleidern angethan, als
+wäre es mitten im Sommer. Auch sah man in einem Umkreise von dreißig
+oder mehr Schritten nur Sommerschöne: das Moos war trocken, die Pflanzen
+grün, und der Rasen wimmelte von Ameisen und Käferchen. Von fern aber
+hörte des langen Hans Sohn den Wind sausen und den Schnee brausen. Noch
+verwunderlicher war das brennende Feuer, welches hellen Glanz
+verbreitete, ohne daß ein Rauchwölkchen aufstieg. »Was meinst du, Sohn
+des langen Hans, ist dies nicht ein besserer Ruheplatz für die Nacht,
+als da auf freiem Felde unter dem Wachholderbusch?« Hans mußte dies
+zugeben, und dem fremden Manne dafür danken, daß er ihn so gut geführt
+hatte. Dann warf er seinen Pelz ab, wickelte ihn zu einem Kopfkissen
+zusammen, und legte sich im Scheine des Feuers nieder. Der Mann mit dem
+Tannenstock nahm sein Fäßchen aus einem Busche und bot Hansen einen
+Labetrunk, der schmeckte vortrefflich und erfreute ihm das Herz. Der
+Mann mit dem Tannenstock streckte sich nun auch auf den Boden hin und
+redete mit seinen Genossen in einer fremden Sprache, von der unser Hans
+kein Wörtchen verstand; er schlief darum bald ein.
+
+Als er aufwachte, fand er sich allein an einem fremden Orte, wo weder
+Wald noch Feuer mehr war. Er rieb sich die Augen und rief sich das
+Erlebniß der Nacht zurück, meinte aber geträumt zu haben; doch konnte er
+nicht begreifen, wie er denn hierher an einen ganz fremden Ort gerathen
+war. Aus der Ferne drang ein starkes Geräusch an sein Ohr, und er fühlte
+den Boden unter seinen Füßen zittern. Hans horchte eine Zeit lang, von
+wo der Lärm komme, und beschloß dann, dem Schalle nachzugehen, weil er
+hoffte, auf Menschen zu treffen. So kam er an die Mündung einer
+Felsengrotte, aus welcher der Lärm erscholl, und ein Feuer hervorschien.
+Als er in die Grotte trat, sah er eine ungeheure Schmiede vor sich mit
+einer Menge von Blasebälgen und Ambosen; an jedem Ambos standen sieben
+Arbeiter. Närrischere Schmiede konnten auf der Welt nicht zu finden
+sein. Die einem Manne bis zum Knie reichenden Männlein hatten Köpfe, die
+größer waren als ihre winzigen Leiber, und führten Hämmer, die mehr als
+doppelt so groß waren, als ihre Träger. Aber sie hämmerten mit ihren
+schweren Eisenkeulen so wacker auf den Ambos los, daß die kräftigsten
+Männer keine wuchtigeren Schläge hätten führen können. Bekleidet waren
+die kleinen Schmiede nur mit Lederschürzen, die vom Halse bis zu den
+Füßen reichten; auf der Rückseite waren die Körper nackend, wie Gott sie
+geschaffen hatte. Im Hintergrund an der Wand saß der Hansen wohlbekannte
+Mann mit dem Tannenstocke auf einem hohen Block, und gab scharf Acht auf
+die Arbeit der kleinen Gesellen. Zu seinen Füßen stand eine große Kanne,
+aus welcher die Arbeiter ab und zu einen Trunk thaten. Der Herr der
+Schmiede hatte nicht mehr die weißen Kleider von gestern an, sondern
+trug einen schwarzen rußigen Rock und um die Hüften einen Ledergürtel
+mit großer Schnalle; mit seinem Tannenstocke gab er den Gesellen von
+Zeit zu Zeit einen Wink, denn das Menschenwort wäre bei dem Getöse
+unvernehmlich gewesen. Ob Jemand den Hans bemerkt hatte, blieb diesem
+unklar, sintemal Meister und Gesellen ihre Arbeit hurtig förderten, ohne
+den fremden Mann zu beachten. Nach einigen Stunden wurde den kleinen
+Schmieden eine Rast gegönnt; die Bälge wurden angehalten, und die
+schweren Hämmer zu Boden geworfen. Jetzt, da die Arbeiter die Grotte
+verließen, erhob sich der Wirth vom Blocke und rief den Hans zu sich:
+»Ich habe deine Ankunft wohl bemerkt,« sagte er, »aber da die Arbeit
+drängte, konnte ich nicht früher mit dir reden. Heute mußt du mein Gast
+sein, um meine Lebensweise und Haushaltung kennen zu lernen. Verweile
+hier so lange, bis ich die schwarzen Kleider ablege.« Mit diesen Worten
+zog er einen Schlüssel aus der Tasche, schloß eine Thür in der
+Grottenwand auf, und ließ Hans hineintreten.
+
+O was für Schätze und Reichthümer Hans hier erblickte! Ringsum lagen
+Gold- und Silberbarren aufgestapelt und schimmerten und flimmerten ihm
+vor den Augen. Hans wollte zum Spaße die Goldbarren eines Haufens
+überzählen und war gerade bis fünfhundert und siebzig gekommen, als der
+Wirth zurückkehrte und lachend rief: »Laß nur das Zählen, es würde dir
+zu viel Zeit kosten. Nimm dir lieber einige Barren vom Haufen, ich will
+sie dir zum Andenken verehren.« Natürlich ließ sich Hans so etwas nicht
+zweimal sagen; mit beiden Händen erfaßte er einen Goldbarren, konnte ihn
+aber nicht einmal von der Stelle rühren, geschweige denn aufheben. Der
+Wirth lachte und sagte: »Du winziger Floh vermagst nicht das kleinste
+meiner Geschenke fortzubringen, begnüge dich denn mit der Augenweide.«
+Mit diesen Worten führte er Hans in eine andere Kammer, von da in eine
+dritte, vierte und so fort, bis sie endlich in die siebente
+Grottenkammer kamen, die von der Größe einer großen Kirche und gleich
+den anderen vom Fußboden bis zur Decke mit Gold- und Silberhaufen
+angefüllt war. Hans wunderte sich über die unermeßlichen Schätze, womit
+man sämmtliche Königreiche der Welt hätte zu erb und eigen kaufen
+können, und die hier nutzlos unter der Erde lagen. Er fragte den Wirth:
+»Weßwegen häuft ihr hier einen so ungeheuren Schatz an, wenn doch kein
+lebendes Wesen von dem Gold und Silber Vortheil zieht? Käme dieser
+Schatz in die Hände der Menschen, so würden sie alle reich werden, und
+Niemand brauchte zu arbeiten oder Noth zu leiden.« »Gerade deßhalb,«
+erwiederte der Wirth -- »darf ich den Schatz nicht an die Menschen
+überliefern; die ganze Welt würde vor Faulheit zu Grunde gehen, wenn
+Niemand mehr für das tägliche Brot zu sorgen brauchte. Der Mensch ist
+dazu geschaffen, daß er sich durch Arbeit und Sorgfalt erhalten soll.«
+Hans wollte das durchaus nicht wahr haben und bestritt nachdrücklich die
+Ansicht des Wirths. Endlich bat er, ihm doch zu erklären was es fromme,
+daß hier all' das Gold und Silber als Besitzthum eines Mannes lagere und
+schimmele, und daß der Herr des Goldes unablässig bemüht sei, seinen
+Schatz zu vergrößern, da er schon einen so überschwenglichen Ueberfluß
+habe? Der Wirth gab zur Antwort: »Ich bin kein Mensch, wenn ich gleich
+Gestalt und Gesicht eines solchen habe, sondern eines jener höheren
+Geschöpfe, welche nach der Anordnung des Allvaters geschaffen sind, der
+Welt zu walten. Nach seinem Gebot muß ich mit meinen kleinen Gesellen
+ohne Unterlaß hier unter der Erde Gold und Silber bereiten, von welchem
+alljährlich ein kleiner Theil zum Bedarf der Menschen herausgegeben
+wird, nur knapp soviel als sie brauchen, um ihre Angelegenheiten zu
+betreiben. Aber Niemand soll sich die Gabe ohne Mühe zueignen. Wir
+müssen deßhalb das Gold erst fein stampfen, und dann die Körnlein mit
+Erde, Lehm und Sand vermischen; später werden sie, wo das Glück will, in
+diesem Grant gefunden, und müssen mühsam herausgesucht werden. Aber,
+Freund, wir müssen unsere Unterhaltung abbrechen, denn die Mittagsstunde
+naht heran. Hast du Lust, meinen Schatz noch länger zu betrachten, so
+bleib hier, erfreue dein Herz an dem Glanze des Goldes, bis ich komme
+dich zum Essen zu rufen.« Damit trennte er sich von Hans.
+
+Hans schlenderte nun wieder aus einer Schatzkammer in die andere, und
+versuchte hie und da ein kleineres Stück Gold aufzuheben, aber es war
+ihm ganz unmöglich. Er hatte zwar schon früher von klugen Leuten sagen
+hören, wie schwer Gold sei, aber er hatte es niemals glauben wollen --
+jetzt lehrten es ihn seine eigenen Versuche. Nach einer Weile kam der
+Wirth zurück, aber so verwandelt, daß Hans ihn im ersten Augenblick
+nicht erkannte. Er trug rothe feuerfarbene Seidengewänder, reich
+verziert mit goldenen Tressen und goldenen Franzen, ein breiter goldener
+Gürtel umschloß seine Hüften und auf seinem Kopfe schimmerte eine
+goldene Krone, aus welcher Edelsteine funkelten, wie Sterne in einer
+klaren Winternacht. Statt des Tannenstockes hielt er ein kleines aus
+feinem Golde gearbeitetes Stäbchen in der Hand, an welchem sich
+Verästelungen befanden, so daß das Stäbchen aussah wie ein Sproß des
+großen Tannenstockes.
+
+Nachdem der königliche Besitzer des Schatzes die Thüren der
+Schatzkammern verschlossen und die Schlüssel in die Tasche gesteckt
+hatte, nahm er Hans bei der Hand und führte ihn aus der
+Schmiedewerkstatt in ein anderes Gemach, wo für sie das Mittagsmahl
+angerichtet war. Tische und Sitze waren von Silber; in der Mitte der
+Stube stand ein prächtiger Eßtisch, zu beiden Seiten desselben ein
+silberner Stuhl. Eß- und Trinkgeschirr, als da sind Schalen, Schüsseln,
+Teller, Kannen und Becher, waren von Gold. Nachdem sich der Wirth mit
+seinem Gaste am Tische niedergelassen hatte, wurden zwölf Gerichte nach
+einander aufgetragen; die Diener waren ganz wie die Männlein in der
+Schmiede, nur daß sie nicht nackt gingen sondern helle reine Kleider
+trugen. Sehr wunderbar kam Hansen ihre Behendigkeit und Geschicklichkeit
+vor; denn obgleich man keine Flügel an ihnen wahrnahm, so bewegten sie
+sich doch so leicht, als wären sie gefedert. Da sie nämlich nicht bis
+zur Höhe des Tisches hinanreichten, so mußten sie wie die Flöhe immer
+vom Boden auf den Tisch hüpfen. Dabei hielten sie die großen mit Speisen
+angefüllten Schalen und Schüsseln in der Hand, und wußten sich doch so
+in Acht zu nehmen, daß nicht ein Tropfen verschüttet ward. Während des
+Essens gossen die kleinen Diener Meth und köstlichen Wein aus den Kannen
+in die Becher und reichten diese den Speisenden. Der Wirth unterhielt
+sich freundlich und erläuterte Hansen mancherlei Geheimnisse. So sagte
+er, als auf sein nächtliches Zusammentreffen mit Hans die Rede kam:
+»Zwischen Weihnacht und Neujahr streife ich oft zum Vergnügen auf der
+Erde umher, um das Treiben der Menschen zu beobachten und einige von
+ihnen kennen zu lernen. Von dem, was ich bis jetzt gesehen und erfahren
+habe, kann ich nicht viel Rühmens machen. Die Mehrzahl der Menschen lebt
+einander zum Schaden und zum Verdruß. Jeder klagt mehr oder weniger über
+den Andern, Niemand sieht seine eigene Schuld und Verfehlung, sondern
+wälzt auf Andere, was er sich selbst zugezogen hat.« Hans suchte nach
+Möglichkeit die Wahrheit dieser Worte abzuleugnen, aber der freundliche
+Wirth ließ ihm reichlich einschenken, so daß ihm endlich die Zunge so
+schwer wurde, daß er kein Wort mehr entgegnen, und auch nicht verstehen
+konnte, was der Hausherr sagte. Binnen kurzem schlief er auf seinem
+Stuhle ein, und wußte nicht mehr, was mit ihm vorging.
+
+In seinem schlaftrunkenen Zustande hatte er wunderbare bunte Träume, in
+welchen ihm unaufhörlich die Goldbarren vorschwebten. Da er sich im
+Traume viel stärker fühlte, nahm er ein paar Goldbarren auf den Rücken
+und trug sie mit Leichtigkeit davon. Endlich ging ihm aber doch unter
+der schweren Last die Kraft aus, er mußte sich niedersetzen und Athem
+schöpfen. Da hörte er schäkernde Stimmen, er hielt es für den Gesang der
+kleinen Schmiede; auch das helle Feuer von ihren Blasebälgen traf sein
+Auge. Als er blinzelnd aufschaute, sah er um sich her grünen Wald, er
+lag auf blumigem Rasen und kein Feuer von Blasebälgen, sondern der
+Sonnenstrahl war es, was ihm freundlich in's Gesicht schien. Er riß sich
+nun vollends aus den Banden des Schlafes los, aber es dauerte eine Zeit
+lang, ehe er sich auf das besinnen konnte, was ihm in der Zwischenzeit
+begegnet war.
+
+Als endlich seine Erinnerungen wieder wach wurden, schien ihm Alles so
+seltsam und so wunderbar, daß er es mit dem natürlichen Lauf der Dinge
+nicht zu reimen wußte. Hans besann sich, wie er im Winter einige Tage
+nach Weihnacht in einer stürmigen Nacht vom Wege abgekommen war, und
+auch was sich später zugetragen hatte, tauchte wieder in seiner
+Erinnerung auf. Er hatte die Nacht mit einem fremden Manne an einem
+Feuer geschlafen, war am andern Tage zu diesem Manne, der einen
+Tannenstock führte, zu Gast gegangen, hatte dort zu Mittag gegessen und
+sehr viel getrunken -- kurz er hatte ein paar Tage in Saus und Braus
+verlebt. Aber jetzt war doch rings um ihn her vollständiger Sommer, es
+konnte also nur Zauberei im Spiele sein. Als er sich erhob, fand er
+ganz in der Nähe eine alte Feuerstelle, welche in der Sonne wunderbar
+glänzte. Als er die Stätte schärfer in's Auge faßte, sah er, daß der
+vermeintliche Aschenhaufe feiner Silberstaub und die übrig gebliebenen
+Brände lichtes Gold waren. O dieses Glück. Woher nun einen Sack nehmen,
+um den Schatz nach Hause zu tragen? Die Noth macht erfinderisch. Hans
+zog seinen Winterpelz aus, fegte die Silberasche zusammen, daß auch kein
+Stäubchen übrig blieb, that die Goldbrände und das Zusammengefegte in
+den Pelz und band dann die Zipfel desselben mit seinem Gürtel zusammen,
+so daß nichts herausfallen konnte. Obwohl die Bürde nicht groß war, so
+wurde sie ihm doch gehörig schwer, so daß er wie ein Mann zu schleppen
+hatte, ehe er einen passenden Platz fand, um seinen Schatz zu
+verstecken.
+
+Auf diese Weise war Hans durch ein unverhofftes Glück plötzlich zum
+reichen Manne geworden, der sich wohl ein Landgut hätte kaufen können.
+Als er aber mit sich zu Rathe ging, hielt er es zuletzt für das Beste,
+seinen alten Wohnort zu verlassen, und sich weiter weg einen neuen
+auszusuchen, wo die Leute ihn nicht kannten. Dort kaufte er sich denn
+ein hübsches Grundstück, und es blieb ihm noch ein gut Stück Geld übrig.
+Dann nahm er eine Frau und lebte als reicher Mann glücklich bis an sein
+Ende. Vor seinem Tode hatte er seinen Kindern das Geheimniß entdeckt,
+wie es der Unterirdischen Wirth gewesen, der ihn reich gemacht. Aus dem
+Munde der Kinder und Kindeskinder verbreitete sich dann die Geschichte
+weiter.
+
+[Fußnote 79: Die Unterirdischen (=ma-alused=) »die geheimen Schmiede
+Allvaters« schaffen bei nächtlicher Weile und ruhen am Tage. Legt man
+zwischen Weihnacht und Neujahr um Mitternacht das Ohr an die Erde, so
+hört man das Schmieden der als Zwerge gedachten Unterirdischen -- ja man
+unterscheidet, ob Eisen, Silber oder Gold bearbeitet wird. In der
+Neujahrsnacht werden sie sichtbar und treiben mit dem nächtlichen
+Wanderer Schabernack. Da die Unterirdischen in der Weihnachts- und
+Neujahrsnacht auch in menschlicher Gestalt erscheinen, so ist man
+gastfrei gegen jeden Unbekannten; läßt auch den Tisch mit Speisen
+besetzt stehen und verschließt die Speisekammer nicht. Nach _Rußwurm_,
+Sagen aus Hapsal und der Umgegend, Reval 1846, S. 20, erhalten die
+Unterirdischen, was am Sonnabend Abend oder Donnerstag Abend ohne Licht
+gearbeitet wird. Die Unterirdischen verlieben sich zuweilen in schöne
+Mädchen, woraus beiden Theilen Leid und Unheil erwächst. Die verlassenen
+Bräute hören noch Wochenlang das nächtliche Wehklagen der Geister, und
+werden von diesen geplagt, wenn sie später Verbindungen mit ihres
+Gleichen eingehen.
+
+Die Unterirdischen wollen nicht gestört sein; wer sich (erhitzt!) auf
+den feuchten Boden setzt, unter welchem sie gerade hausen, wird mit
+einem Hautausschlag bestraft, der Erdhauch (norweg. =alvgust=, Elb-,
+Elf-Hauch) oder Erdzorn heißt, und den man heilt, indem man die Urheber
+durch ein Opfer von geschabtem Silber besänftigt. (Nach _Kreutzwald_ und
+_Neus_.)
+
+Die finnischen =maahiset=, denen diese ehstnischen Unterirdischen
+(=ma-alused=) entsprechen, bezeichnen nach =Castrén= (finn. Mythol. S. 169)
+eine eigene Art von Naturgeistern, die sich in der Erde, unter Bäumen,
+Steinen und Schwellen aufhalten; es sind unsichtbare aber
+menschenähnliche Zwerge reizbarer Natur, die mit Hautkrankheit strafen.
+Man ehrt und nährt sie. -- Mit den Haus- und Schutzgeistern hängen die
+finnischen und ehstnischen Unterirdischen nicht zusammen, wenn auch in
+ehstnischen Beschwörungsformeln die Schlange als Unterirdische
+bezeichnet wird, und wenn auch der Schlangencultus noch vor nicht gar
+langer Zeit geübt wurde. L.]
+
+[Fußnote 80: S. d. Anm. zum Märchen 6, die zwölf Töchter, S. 89. L.]
+
+
+
+
+18. Der Nordlands-Drache
+
+
+Vormals lebte, der Erzählung alter Leute zufolge, ein gräuliches
+Unthier, das aus Nordland gekommen war, schon große Landstriche von
+Menschen und Thieren entblößt hatte, und allmählich, wenn Niemand
+Abhülfe gebracht hätte, alles Lebendige vom Erdboden vertilgt haben
+würde.
+
+Es hatte einen Leib wie ein Ochs und Beine wie ein Frosch, nämlich zwei
+kurze vorn und zwei lange hinten, ferner einen schlangenartigen zehn
+Klafter langen Schweif; es bewegte sich wie ein Frosch, legte aber mit
+jedem Sprunge eine halbe Meile zurück. Zum Glücke blieb es an dem Orte,
+wo es sich einmal niedergelassen hatte, mehrere Jahre, und zog nicht
+eher weiter, als bis die ganze Umgegend kahl gefressen war. Der Leib war
+über und über mit Schuppen bedeckt, welche fester waren als Stein und
+Erz, so daß Nichts ihn beschädigen konnte. Die beiden großen Augen
+funkelten bei Nacht und bei Tage wie die hellsten Kerzen, und wer einmal
+das Unglück hatte, in ihren Glanz hinein zu blicken, der war wie
+bezaubert, und mußte von selbst dem Ungeheuer in den Rachen laufen. So
+kam es, daß sich ihm Thiere und Menschen selber zum Fraße lieferten,
+ohne daß es sich von der Stelle zu rühren brauchte. Die Könige der
+Umgegend hatten demjenigen überaus reichen Lohn verheißen, der durch
+Zauber oder durch andere Gewalt das Ungeheuer vertilgen könnte, und
+Viele hatten schon ihr Heil versucht, aber ihre Unternehmungen waren
+alle gescheitert. So wurde einst ein großer Wald, in welchem das
+Ungeheuer hauste, in Brand gesteckt; der Wald brannte nieder, aber dem
+schädlichen Thiere konnte das Feuer nicht das Mindeste anhaben.
+Allerdings sagten Ueberlieferungen, die im Munde alter Leute waren, daß
+Niemand auf andere Weise des Ungeheuers Herr werden könne, als durch des
+Königs Salomo Siegelring; auf diesem sei eine Geheimschrift eingegraben,
+aus welcher man erfahre, wie das Unthier umgebracht werden könne. Allein
+Niemand wisse zu melden, wo jetzt der Ring verborgen sei, und eben so
+wenig sei ein Zauberer zu finden, der die Schrift deuten könne.
+
+Endlich entschloß sich ein junger Mann, der Herz und Kopf auf dem
+rechten Flecke hatte, auf gut Glück den Spuren des Ringes
+nachzuforschen. Er schlug den Weg gen Morgen ein, allwo vornehmlich die
+Weisheit der Vorzeit zu finden ist. Erst nach einigen Jahren traf er mit
+einem berühmten Zauberer des Ostens zusammen und fragte ihn um Rath. Der
+Zauberer erwiederte: »Das Bischen Klugheit der Menschen kann dir hier
+nichts helfen, aber Gottes Vögel unter dem Himmel werden dir die besten
+Führer sein, wenn du ihre Sprache erlernen willst. Ich kann dir dazu
+verhelfen, wenn du einige Tage bei mir bleiben willst.« Der Jüngling
+nahm das freundliche Anerbieten mit Dank an und sagte: »Für jetzt bin
+ich freilich nicht im Stande, dich für deine Wohlthat zu beschenken,
+fällt aber mein Unternehmen glücklich aus, so werde ich dir deine Mühe
+reichlich vergelten.« Nun kochte der Zauberer aus neunerlei Kräutern,
+die er heimlich bei Mondenschein gesammelt hatte, einen kräftigen Trank
+und gab davon dem Jünglinge drei Tage hintereinander neun Löffel täglich
+zu trinken, was zur Folge hatte, daß ihm die Vogelsprache verständlich
+wurde. Beim Abschiede sagte der Zauberer: »Solltest du das Glück haben,
+Salomonis Ring zu entdecken und desselben habhaft zu werden, so komm zu
+mir zurück, damit ich dir die Schrift auf dem Ringe deute, denn es lebt
+jetzt außer mir Keiner, der das vermöchte.«
+
+Schon am nächsten Tage fand der Jüngling die Welt wie verwandelt, er
+ging nirgends mehr allein, sondern hatte überall Gesellschaft, weil er
+die Vogelsprache verstand, durch welche ihm Vieles offenbar wurde, was
+menschliche Einsicht ihn nicht hätte lehren können. Aber geraume Zeit
+verfloß, ohne daß er von dem Ringe etwas gehört hätte. Da geschah es
+eines Abends, als er vom Gang und der Hitze ermüdet, sich zeitig im
+Walde unter einem Baume niedergelassen hatte, um sein Abendbrot zu
+verzehren, daß auf hohem Wipfel zwei buntgefiederte fremde Vögel ein
+Gespräch mit einander führten, welches ihn betraf. Der erste Vogel
+sagte: »Ich kenne den windigen Herumtreiber unter dem Baume da, der
+schon so lange wandert, ohne die Spur zu finden. Er sucht den verlorenen
+Ring des Königs Salomo.« Der andere Vogel erwiederte: »Ich glaube, er
+müßte bei der Höllenjungfrau Hülfe suchen, die wäre gewiß im Stande ihm
+auf die Spur zu helfen. Wenn sie den Ring auch nicht selbst hat, so weiß
+sie doch ganz genau, wer das Kleinod jetzt besitzt.« Der erste Vogel
+versetzte: »Das wäre schon recht, aber wo soll er die Höllenjungfrau
+auffinden, die nirgends eine bleibende Stätte hat, sondern heute hier
+und morgen dort wohnt: eben so gut könnte er die Luft fest halten!« Der
+andere Vogel erwiederte: »Ihren gegenwärtigen Aufenthalt weiß ich zwar
+nicht anzugeben, aber heute binnen drei Tagen kommt sie zur Quelle, ihr
+Gesicht zu waschen, wie sie jeden Monat in der Nacht des Vollmonds thut,
+damit die Jugendschöne nie von ihren Wangen schwinde und die Runzeln des
+Alters ihr Antlitz nicht zusammenziehen.« Der erste Vogel sagte: »Nun,
+die Quelle ist nicht weit von hier; wollen wir des Spaßes halber ihr
+Treiben mit ansehen?« »Meinethalben, wenn du willst,« gab der andere
+Vogel zur Antwort. -- Der Jüngling war gleich entschlossen, den Vögeln
+zu folgen und die Quelle aufzusuchen, doch machte ihn zweierlei besorgt,
+erstens, daß er die Zeit verschlafen könne, wo die Vögel aufbrächen, und
+zweitens, daß er keine Flügel hatte, um dicht hinter ihnen zu bleiben.
+Er war zu sehr ermüdet, um die ganze Nacht wach zu bleiben, die Augen
+fielen ihm zu. Aber die Sorge ließ ihn doch nicht ruhig schlafen, er
+wachte öfters auf, um den Aufbruch der Vögel nicht zu verpassen. Darum
+freute er sich sehr, als er bei Sonnenaufgang zum Wipfel hinauf blickte
+und die buntgefiederten Gesellen noch sah, wie sie unbeweglich saßen,
+mit den Schnäbeln unter den Federn. Er verzehrte sein Frühstück und
+wartete dann, daß die Vögel aufbrechen sollten. Aber sie schienen
+diesen Morgen nirgends hin zu wollen, sie flatterten, wie zur Kurzweil
+oder um Nahrung zu suchen, von einem Wipfel zum andern und trieben das
+so fort bis zum Abend, wo sie sich an der alten Stelle zur Ruhe begaben.
+Eben so ging es noch den folgenden Tag. Erst am Mitmorgen des dritten
+Tages sagte der eine Vogel zum andern. »Heute müssen wir zur Quelle, um
+zu sehen, wie sich die Höllenjungfrau ihr Antlitz wäscht.« Bis Mittag
+blieben sie noch, dann flogen sie davon und nahmen ihren Weg gerade gen
+Süden. Dem Jüngling klopfte das Herz vor Furcht, seine Führer aus dem
+Gesicht zu verlieren. Aber die Vögel waren nicht weiter geflogen, als
+sein Gesichtskreis reichte, und hatten sich dann auf einem Baumwipfel
+niedergelassen. Der Jüngling rannte ihnen nach, daß seine Haut dampfte
+und ihm der Athem zu stocken drohte. Nach dreimaligem Ausruhen kamen die
+Vögel auf eine kleine Fläche, an deren Rande sie sich auf einem hohen
+Baumwipfel niederließen. Als der Jüngling nach ihnen dort anlangte,
+gewahrte er mitten in der Fläche eine Quelle; er setzte sich nun unter
+denselben Baum, auf dessen Wipfel die Vögel sich aufhielten. Dann
+spitzte er seine Ohren, um zu vernehmen, was die gefiederten Geschöpfe
+miteinander redeten.
+
+»Die Sonne ist noch nicht unter« -- sagte der eine Vogel -- »wir müssen
+noch eine Weile warten, bis der Mond aufgeht, und die Jungfrau zur
+Quelle kommt. Wollen doch sehen, ob sie den Jüngling unter dem Baume
+bemerkt?« Der andere Vogel erwiderte: »Ihrem Auge entgeht wohl Nichts,
+was nach einem jungen Manne riecht, Sollte der Jüngling verschlagen
+genug sein, um nicht in ihr Garn zu gehen?« Worauf der erste Vogel
+sagte: »Wir werden ja sehen, wie sie miteinander fertig werden.«
+
+Der Abend war schon vorgerückt, der Vollmond stand schon hoch über dem
+Walde, da hörte der Jüngling ein leises Geräusch: nach einigen
+Augenblicken trat aus dem Walde eine Maid hervor, und schritt flüchtigen
+Fußes, so daß ihre Sohlen den Boden nicht zu berühren schienen, über den
+Rasen zur Quelle. Der Jüngling mußte sich gestehen, daß er in seinem
+Leben noch kein schöneres Weib gesehen habe, und mochte kein Auge mehr
+von der Jungfrau verwenden.
+
+Diese ging, ohne seiner zu achten, zur Quelle, hob die Augen zum Monde
+empor, fiel auf die Knie, tauchte neun Mal ihr Antlitz in die Quelle,
+blickte nach jedem Male den Mond an und rief: »Vollwangig und hell, wie
+du jetzt bist, möge auch meine Schönheit blühen unvergänglich!« Dann
+ging sie neun Mal um die Quelle und sang nach jedem Gange:
+
+ »Nicht der Jungfrau Antlitz welke,
+ Nie der Wangen Roth erbleiche,
+ Ob der Mond auch wieder schwinde,
+ Möge ich doch immer wachsen,
+ Mir das Glück stets neu erblühen!«
+
+Darauf trocknete sie sich mit ihren langen Haaren das Gesicht ab, und
+wollte von dannen gehen, als ihre Augen plötzlich auf die Stelle fielen,
+wo der Jüngling unter dem Baume saß. Sogleich wandte sie ihre Schritte
+dahin. Der junge Mann erhob sich und blieb in Erwartung stehen. Die
+schöne Maid kam näher und sagte: »Eigentlich müßtest du einer schweren
+Strafe verfallen, daß du der Jungfrau heimliches Thun im Mondschein
+belauscht hast; aber da du fremd bist und zufällig herkamst, so will ich
+dir verzeihen. Doch mußt du mir wahrheitsgetreu bekennen, woher du bist
+und wie du hierher kamst, wohin bisher noch kein Sterblicher seinen Fuß
+gesetzt hat?« Der Jüngling antwortete mit vielem Anstande: »Vergebet,
+theure Jungfrau, wenn ich ohne Wissen und Willen gegen euch gefehlt
+habe. Da ich nach langer Wanderung hierher gerieth, fand ich den schönen
+Platz unter dem Baume, und wollte da mein Nachtlager nehmen. Eure
+Ankunft ließ mich zögern, so blieb ich sitzen, weil ich glaubte, daß
+stilles Schauen euch nicht nachtheilig werden könne.« Die Jungfrau
+versetzte liebreich: »Komm zur Nacht zu uns! Auf Kissen ruht es sich
+besser als hier auf kühlem Moose.« Der Jüngling stand ein Weilchen
+zweifelnd, und wußte nicht, was er thun solle, ob das freundliche
+Anerbieten annehmen oder zurückweisen. Da sprach auf dem Baumwipfel ein
+Vogel zum andern. »Er wäre ein Thor, wenn er sich das Anerbieten nicht
+gefallen ließe.« Die Jungfrau, die der Vogelsprache wohl nicht kundig
+war, sagte mit freundlicher Mahnung: »Fürchte nichts, mein Freund! ich
+lade dich nicht in böser Absicht ein, ich wünsche dir von ganzem Herzen
+Gutes.« Die Vögel sagten hinterdrein: »geh', wohin man dich ruft, aber
+hüte dich, Blut zu geben, um deine Seele nicht zu verkaufen.«
+
+Nun ging der Jüngling mit ihr. Nicht weit von der Quelle kamen sie in
+einen schönen Garten, in welchem ein prächtiges Wohnhaus stand, das im
+Mondschein schimmerte, als wären Dach und Wände aus Gold und Silber
+gegossen. Als der Jüngling hineintrat, fand er viele prachtvolle
+Gemächer, eins immer schöner als das andere; viele hundert Kerzen
+brannten auf goldenen Leuchtern und verbreiteten überall eine Helligkeit
+wie die des Tages. Darauf gelangten sie in ein Gemach, wo eine mit
+köstlichen Speisen besetzte Tafel sich befand; an der Tafel standen zwei
+Stühle, der eine von Silber, der andere von Gold; die Jungfrau ließ sich
+auf den goldenen Stuhl nieder, und bat den Jüngling, sich auf den
+silbernen zu setzen. Weißgekleidete Mädchen trugen die Speisen auf und
+räumten sie wieder ab, wobei aber kein Wort gesprochen wurde, auch
+traten die Mädchen so leise auf, als gingen sie auf Katzenpfoten. Nach
+Tisch, als der Jüngling mit der königlichen Jungfrau allein geblieben
+war, wurde ein anmuthiges Gespräch geführt, bis endlich ein Frauenzimmer
+in rother Kleidung erschien, um zu erinnern, daß es Zeit sei, sich
+schlafen zu legen.
+
+Da führte die Jungfrau den Jüngling in eine andere Kammer, wo ein
+seidenes Bett mit Daunenkissen stand; sie wies es ihm und entfernte
+sich. Der Jüngling meinte bei lebendigem Leibe im Himmel zu sein, auf
+Erden sei solch' ein Leben nicht zu finden. Nur darüber wußte er später
+keine Rechenschaft zu geben, ob ihn Träume getäuscht, oder ob er
+wirklich Stimmen an seinem Bette vernommen hätte, welche ihm ein Wort
+zuriefen, das sein Herz erschreckte: »Gieb kein Blut!«
+
+Am andern Morgen fragte ihn die Jungfrau, ob er nicht Lust habe hier zu
+bleiben, wo die ganze Woche aus lauter Feiertagen bestehe. Und als der
+Jüngling auf die Frage nicht gleich Antwort gab, setzte sie hinzu: »Ich
+bin, wie du selbst siehst, jung und blühend, und ich stehe unter
+Niemandes Botmäßigkeit, sondern kann thun, was mir beliebt. Bisher ist
+es mir noch nie in den Sinn gekommen zu heiraten, aber von dem
+Augenblicke an, wo ich dich erblickte, stiegen mir plötzlich andere
+Gedanken auf, denn du gefällst mir. Sollten nun unsere Gedanken
+übereinstimmen, so könnte ein Paar aus uns werden. Hab' und Gut besitze
+ich unendlich viel, wie du dich selber auf Schritt und Tritt überzeugen
+kannst, und so kann ich Tag für Tag königlich leben. Was dein Herz nur
+begehrt, kann ich dir gewähren.« Wohl drohte die Schmeichelrede der
+schönen Maid des Jünglings Sinn zu verwirren, aber zu seinem Glücke fiel
+ihm ein, daß die Vögel sie die Höllenjungfrau genannt und ihn gewarnt
+hatten, daß er ihr Blut gebe, und daß er auch in der Nacht, sei es
+träumend oder wachend, dieselbe Warnung vernommen habe. Darum erwiederte
+er: »Theure Jungfrau, verargt es mir nicht, wenn ich euch ganz
+aufrichtig gestehe, daß man das Freien nicht abmachen kann wie einen
+Roßkauf, sondern daß es dazu längerer Ueberlegung bedarf. Vergönnt mir
+deshalb einige Tage Bedenkzeit, dann wollen wir uns darüber
+verständigen.« »Warum nicht,« erwiederte die schöne Maid -- meinethalben
+kannst du dich einige Wochen bedenken und mit deinem Herzen zu Rathe
+gehen.«
+
+Damit nun dem Jünglinge inzwischen die Zeit nicht lang würde, führte ihn
+die Jungfrau von einer Stelle ihres prächtigen Hauses zur andern, und
+zeigte ihm all' die reichen Schatzkammern und Truhen, welche sein Herz
+erweichen sollten. All' diese Schätze waren aber durch Zauberei
+entstanden, denn die Jungfrau konnte mit Hülfe des Salomonischen
+Siegelringes alle Tage und an jedem Orte eine solche Wohnung nebst allem
+Zubehör hervorbringen, aber das Alles hatte keine Dauer, es war vom
+Winde hergeweht, und ging auch wieder in den Wind, ohne eine Spur
+zurückzulassen.[81] Da der Jüngling das aber nicht wußte, so hielt er
+das Blendwerk für Wirklichkeit. Eines Tages führte ihn die Jungfrau in
+eine verborgene Kammer, wo auf einem silbernen Tische ein goldenes
+Schächtelchen stand. Auf das Schächtelchen zeigend sagte sie: »Hier
+steht mein theuerster Schatz, dessen Gleichen auf der ganzen Welt nicht
+zu finden ist, es ist ein kostbarer goldener Ring. Wenn du mich freien
+solltest, so würde ich dir diesen Ring zum Mahlschatz geben, und er
+würde dich zum glücklichsten aller Menschen machen. Damit aber das Band
+unserer Liebe ewige Dauer erhalte, mußt du mir dann für den Ring drei
+Tropfen Blut von dem kleinen Finger deiner linken Hand geben.«
+
+Als der Jüngling diese Rede hörte, überlief es ihn kalt; daß sie sich
+Blut ausbedang, erinnerte ihn daran, daß er seine Seele aufs Spiel
+setze. Er war aber schlau genug, sich nichts merken zu lassen, und auch
+keine Einwendung zu machen, vielmehr fragte er, wie beiläufig, was es
+für eine Bewandniß mit dem Ringe habe. Die Jungfrau erwiederte: »Kein
+Lebendiger ist bis jetzt im Stande gewesen, die Kraft dieses Ringes ganz
+zu ergründen, weil keiner die geheimen Zeichen desselben vollständig zu
+deuten wußte. Aber schon mit dem halben Verständniß vermag ich Wunder zu
+verrichten, welche mir kein anderes Wesen nachmachen kann. Stecke ich
+den Ring auf den kleinen Finger meiner linken Hand, so kann ich mich wie
+ein Vogel in die Luft schwingen, und hinfliegen wohin ich will. Stecke
+ich den Ring auf den Ringfinger meiner linken Hand, so bin ich sogleich
+für Alle unsichtbar, mich selbst und Alles, was mich umgiebt, sehe ich,
+aber die Andern sehen mich nicht. Stecke ich den Ring an den
+Mittelfinger meiner linken Hand, dann kann mir kein scharfes Werkzeug,
+noch Wasser und Feuer etwas anhaben. Stecke ich den Ring an den
+Zeigefinger meiner linken Hand, dann kann ich mir mit seiner Hülfe alle
+Dinge schaffen, die ich begehre; ich kann in einem Augenblicke Häuser
+aufbauen und sonstige Gegenstände hervorbringen. So lange endlich der
+Ring am Daumen der linken Hand sitzt, ist die Hand so stark, daß sie
+Felsen und Mauern brechen kann.[82] Außerdem trägt der Ring noch andere
+geheime Zeichen, welche, wie gesagt, bis heute noch Niemand zu deuten
+wußte; doch läßt sich denken, daß sie noch viele wichtige Geheimnisse
+enthalten. Der Ring war vor Alters Eigenthum des Königs Salomo, des
+weisesten der Könige, unter dessen Regierung die weisesten Männer
+lebten. Doch ist es bis auf den heutigen Tag nicht kund geworden, ob der
+Ring durch göttliche Kraft oder durch Menschenhände entstanden ist; es
+wird behauptet, daß ein Engel dem weisen Könige den Ring geschenkt
+habe.« Als der Jüngling die Schöne so reden hörte, war sein erster
+Gedanke, sich des Ringes durch List zu bemächtigen, er that deshalb, als
+ob er das Gehörte durchaus nicht für wahr halten könne. So hoffte er die
+Jungfrau zu bewegen, daß sie den Ring aus dem Schächtelchen nehme und
+ihm zeige -- wobei er dann vielleicht Gelegenheit fände, sich des
+Wunderringes zu bemächtigen. Er wagte aber nicht, die Jungfrau geradezu
+darum zu bitten, daß sie ihm den Ring zeige. Er umschmeichelte sie und
+geberdete sich zärtlich, aber sein Herz sann nur darauf, in den Besitz
+des Ringes zu gelangen. Schon nahm die Jungfrau den Schlüssel zum
+Kästchen aus dem Busen, um es aufzuschließen, aber sie steckte ihn
+wieder zu sich und sagte: »Dazu haben wir künftig noch Zeit genug.« Ein
+Paar Tage darauf kam die Rede wieder auf den Wunderring, und der
+Jüngling sagte: »Nach meinem Dafürhalten sind solche Dinge, wie ihr sie
+mir von der Kraft eures Ringes erzählt, schlechterdings nicht möglich.«
+Da öffnete die Jungfrau das Schächtelchen und nahm den Ring heraus, der
+zwischen ihren Fingern blitzte wie der hellste Sonnenstrahl. Dann
+steckte sie ihn zum Spaße an den Mittelfinger ihrer linken Hand und
+sagte dem Jüngling, er solle ein Messer nehmen und damit auf sie
+losstechen wohin er wolle, denn es könne ihr doch nicht schaden. Der
+Jüngling sträubte sich gegen dies bedenkliche Beginnen, als aber die
+Jungfrau nicht abließ, mußte er sich fügen. Obwohl er nun, anfangs mehr
+spielend, dann aber ernsthaft, auf alle Weise die Jungfrau mit dem
+Messer zu treffen suchte, so war es doch, als ob eine unsichtbare Wand
+von Eisen zwischen Beiden stünde; die Schneide konnte nicht eindringen,
+und die Jungfrau stand lachend und unbewegt vor ihm. Darauf steckte sie
+den Ring an ihren Ringfinger, und war im Nu den Blicken des Jünglings
+entschwunden, so daß dieser durchaus nicht begreifen konnte, wohin sie
+gekommen war. Bald stand sie wieder lachend vor ihm auf der alten
+Stelle, den Ring zwischen den Fingern haltend. »Laßt doch sehen« -- bat
+der Jüngling -- »ob es mir auch möglich ist, so seltsame Dinge mit dem
+Ringe zu machen?« Die Jungfrau, welche keinen Betrug ahndete, gab ihm
+den Wunderring.
+
+Der Jüngling that, als wisse er noch nicht recht Bescheid, und fragte:
+»An welchen Finger muß ich den Ring stecken, damit mir ein scharfes
+Werkzeug nicht schaden könne?« -- Worauf die Jungfrau lachend
+erwiederte: »An den Mittelfinger der linken Hand!« Sie nahm dann selbst
+das Messer und suchte damit zu stoßen, konnte aber dem Jüngling keinen
+Schaden thun. Darauf nahm dieser das Messer und versuchte sich selber zu
+beschädigen, aber es war auch ihm unmöglich. Darauf bat er die Jungfrau,
+ihm zu zeigen, wie er mit dem Ringe Steine und Felsen spalten könne. Sie
+führte ihn in den Hof, wo ein klafterhoher Kiesel lag. »Jetzt stecke den
+Ring« -- so unterwies ihn die Jungfrau -- »an den Daumen deiner linken
+Hand, und schlage dann mit der Faust auf den Stein, und du wirst sehen,
+welche Kraft in deiner Hand liegt.« Der Jüngling that es und sah zu
+seinem Erstaunen, wie der Stein unter dem Schlage seiner Hand in tausend
+Trümmer barst. Da dachte der Jüngling, wer das Glück nicht bei den
+Hörnern zu fassen weiß, der ist ein Thor, denn einmal entflohen, kehrt
+es nicht zurück. Während er noch über die Zertrümmerung des Steines
+scherzte, steckte er wie spielend den Ring an den Ringfinger seiner
+linken Hand. Da rief die Jungfrau: »Jetzt bist du für mich so lange
+unsichtbar, bis du den Ring abziehst.« Aber das zu thun war der Jüngling
+nicht gesonnen, vielmehr ging er rasch einige Schritte weiter, steckte
+dann den Ring an den kleinen Finger der linken Hand, und schwang sich in
+die Höhe wie ein Vogel. Als die Jungfrau ihn davon fliegen sah, hielt
+sie Anfangs auch diesen Versuch für bloßen Scherz, und rief: »Komm
+zurück, mein Freund! Jetzt hast du gesehen, daß ich dir die Wahrheit
+gesagt habe!« Aber wer nicht zurückkam, war der Jüngling; da merkte die
+Jungfrau den Betrug, und brach in bittere Klagen aus über ihr Unglück.
+
+Der Jüngling hielt seinen Flug nicht eher an, als bis er nach einigen
+Tagen wieder zu dem berühmten Zauberer gekommen war, bei welchem er die
+Vogelsprache gelernt hatte. Der Zauberer war außerordentlich froh, daß
+des Mannes Wanderung so guten Erfolg gehabt hatte. Er machte sich
+sogleich daran, die geheime Schrift auf dem Ringe zu deuten, er brauchte
+aber sieben Wochen ehe er damit zu Stande kam. Darauf gab er dem
+Jünglinge folgende Auskunft, wie der Nordlands-Drache zu vertilgen sei:
+»Du mußt dir ein eisernes Pferd gießen lassen, das unter jedem Fuße
+kleine Räder hat, so daß man es vorwärts und rückwärts schieben kann.
+Dann mußt du aufsitzen und dich mit einem eisernen zwei Klafter langen
+Speere bewaffnen, den du freilich nur führen kannst, wenn der Wunderring
+am Daumen deiner linken Hand steckt. Der Speer muß in der Mitte die
+Dicke einer mäßigen Birke haben und seine beiden Enden müssen gleich
+scharf sein. In der Mitte des Speeres mußt du zwei starke zehn Klafter
+lange Ketten befestigen, die stark genug sind, den Drachen zu halten.
+Sobald der Drache sich in den Speer fest gebissen hat, so daß dieser ihm
+die Kinnlade durchbohrt, mußt du wie der Wind vom Eisenroß herunter
+springen, um dem Unthier nicht in den Rachen zu fallen, und mußt die
+Enden der Ketten mit eisernen Pflöcken dergestalt in die Erde rammen,
+daß keine Gewalt sie herausziehen kann. Nach drei oder vier Tagen ist
+die Kraft des Unthiers so weit erschöpft, daß du dich ihm nähern kannst,
+dann stecke Salomos Kraftring an den Daumen deiner linken Hand, und
+schlage es vollends todt. Bis du aber herangekommen bist, muß der Ring
+am Ringfinger deiner linken Hand stecken, damit das Unthier dich nicht
+sehen kann, sonst würde es dich mit seinem langen Schwanze todt
+schlagen. Wenn du Alles vollbracht hast, trage Sorge, daß du den Ring
+nicht verlierst, und daß dir auch Niemand mit List das Kleinod
+entwende.«
+
+Unser Freund dankte dem Zauberer für die Belehrung und versprach, ihn
+später für seine Mühe zu belohnen. Aber der Zauberer erwiederte: »Ich
+habe aus der Entzifferung der Geheimschrift des Ringes so viel
+Zauberweisheit geschöpft, daß ich keines anderen Gutes weiter bedarf.«
+So trennten sie sich, und der Jüngling eilte nach Hause, was ihm nicht
+mehr schwer wurde, da er wie ein Vogel fliegen konnte wohin er wollte.
+
+Als er nach einigen Wochen in der Heimath anlangte, hörte er von den
+Leuten, daß der gräuliche Nordlands-Drache schon in der Nähe sei, so daß
+er jeden Tag über die Grenze kommen könne. Der König ließ überall
+bekannt machen, daß er demjenigen, der dem Unthier das Garaus machen
+würde, nicht nur einen Theil seines Königreiches schenken, sondern auch
+seine Tochter zur Frau geben wolle. Nach einigen Tagen trat unser
+Jüngling vor den König und erklärte, er hoffe das Unthier zu vernichten,
+wenn der König Alles wolle anfertigen lassen, was dazu erforderlich sei.
+Der König ging mit Freuden darauf ein. Es wurden nun sämmtliche
+geschickte Meister aus der Umgegend zusammenberufen, die mußten erst das
+Eisenpferd gießen, dann den großen Speer schmieden, und endlich auch die
+eisernen Ketten, deren Ringe zwei Zoll Dicke hatten. Als aber Alles
+fertig war, fand es sich, daß das eiserne Pferd so schwer war, daß
+hundert Männer es nicht von der Stelle bringen konnten. Da blieb dem
+Jüngling nichts übrig, als mit Hülfe seines Kraftringes das Pferd allein
+fort zu bewegen.
+
+Der Drache war keine Meile mehr entfernt, so daß er mit ein Paar
+Sprüngen über die Grenze setzen konnte. Der Jüngling überlegte nun, wie
+er allein mit dem Unthier fertig werden solle, denn da er das schwere
+Eisenpferd von hinten her schieben mußte, so konnte er sich nicht
+aufsetzen, wie es der Zauberer vorgeschrieben hatte. Da belehrte ihn
+unerwartet eines Raben Schnabel: »Setze dich auf das Eisenpferd, und
+stemme den Speer gegen den Boden, als wolltest du einen Kahn vom Ufer
+abstoßen.« Der Jüngling machte es so und fand, daß er auf diese Weise
+vorwärts kommen könne. Das Ungeheuer sperrte schon von Weitem den Rachen
+auf, um die erwartete Beute zu vertilgen. Noch einige Klafter, so wären
+Mann und Eisenroß im Rachen des Unthiers gewesen. Der Jüngling bebte vor
+Entsetzen und das Herz erstarrte ihm zu Eis, allein er ließ sich nicht
+verwirren, sondern stieß mit aller Kraft zu, so daß der eiserne Speer,
+den er aufrecht in der Hand hielt, den Rachen des Unthiers durchbohrte.
+Dann sprang er vom Eisenroß und wandte sich schnell wie der Blitz, als
+das Unthier die Kinnladen zusammenklappte. Ein gräßliches Gebrüll, das
+viele Meilen weit erscholl, gab den Beweis, daß der Nordlands-Drache
+sich festgebissen hatte. Als der Jüngling sich umwandte, sah er eine
+Spitze des Speers Fuß lang aus der oberen Kinnlade hervorragen, und
+schloß daraus, daß die andere im Boden fest steckte. Das Eisenroß aber
+hatte der Drache mit seinen Zähnen zermalmt. Jetzt eilte der Jüngling,
+die Ketten am Boden zu befestigen, wozu starke Eisenpflöcke von mehreren
+Klaftern Länge in Bereitschaft gesetzt waren.
+
+Der Todeskampf des Ungeheuers dauerte drei Tage und drei Nächte: wenn es
+sich bäumte, schlug es so gewaltig mit dem Schwanze gegen den Boden, daß
+die Erde auf zehn Meilen weit bebte. Als es endlich den Schwanz nicht
+mehr rühren konnte, hob der Jüngling mit Hülfe des Ringes einen Stein
+auf, den zwanzig Männer nicht hätten bewegen können, und schlug damit
+dem Thiere so lange auf den Kopf, bis es kein Lebenszeichen mehr von
+sich gab.
+
+Grenzenlos war überall der Jubel, als die Botschaft kam, daß der
+schlimme Feind sein Ende gefunden. --Der Sieger wurde in der Königsstadt
+mit großen Ehrenbezeugungen empfangen, als wäre er der mächtigste
+König. Der alte König brauchte auch seine Tochter nicht zur Heirath zu
+zwingen, sondern diese verlangte selber, sich dem starken Manne zu
+vermählen, der allein ausgerichtet hatte, was die Andern auch mit einer
+ganzen Armee nicht vermochten. Nach einigen Tagen wurde eine prachtvolle
+Hochzeit gefeiert, welche vier Wochen lang dauerte, und zu welcher alle
+Könige der Nachbarländer sich versammelt hatten, um dem Manne zu danken,
+der die Welt von ihrem schlimmsten Feinde befreit hatte. Allein über dem
+Hochzeitsjubel und der allgemeinen Freude hatte man vergessen, daß des
+Ungeheuers Leichnam unbegraben liegen geblieben war, und da er jetzt in
+Verwesung überging, so verbreitete er einen solchen Gestank, daß Niemand
+sich in die Nähe wagte. Es entstanden Seuchen, welche viele Menschen
+hinrafften. Deshalb beschloß der Schwiegersohn des Königs, Hülfe bei dem
+Zauberer im Osten zu suchen, was ihm mit seinem Ringe nicht schwer fiel,
+weil er auf Vogelschwingen hin fliegen konnte.
+
+Aber das Sprichwort sagt, unrecht Gut gedeiht nicht, und wie gewonnen,
+so zerronnen. Diese Erfahrung sollte auch des Königs Schwiegersohn mit
+dem entwendeten Ringe machen. Der Höllenjungfrau ließ es weder Tag noch
+Nacht Ruhe, ihrem Ringe wieder auf die Spur zu kommen. Als sie mit Hülfe
+von Zauberkünsten erfahren hatte, daß des Königs Schwiegersohn sich in
+Vogelgestalt zu dem Zauberer aufmache, verwandelte sie sich in einen
+Adler, und kreiste so lange in den Lüften, bis ihr der Vogel, auf den
+sie wartete, zu Gesicht kam -- sie erkannte ihn sogleich an dem Ringe,
+der ihm an einem Bande um den Hals hing. Da schoß der Adler auf den
+Vogel nieder und in demselben Augenblick, wo seine Klauen ihn packten,
+hatte er ihm auch mit dem Schnabel den Ring vom Halse gerissen, ehe noch
+der Mann in Vogelgestalt etwas dagegen thun konnte. Jetzt ließ der Adler
+sich mit seiner Beute zur Erde nieder, und beide standen in ihrer
+früheren Menschengestalt neben einander. »Jetzt bist du in meiner Hand,
+Frevler!« rief die Höllenjungfrau. -- »Ich nahm dich als meinen
+Geliebten auf, und du übtest Betrug und Diebstahl: ist das mein Lohn? Du
+nahmst mir mein kostbarstes Kleinod durch List, und hofftest, als
+Schwiegersohn des Königs ein glückliches Leben zu führen, aber jetzt hat
+sich das Blatt gewandt. Du bist in meiner Gewalt und sollst mir für
+allen Frevel büßen.« »Vergebt, vergebt,« bat des Königs Schwiegersohn,
+ich weiß wohl, daß ich mich schwer gegen euch vergangen habe, und bereue
+meine Schuld von ganzem Herren.« Die Jungfrau erwiederte: »Deine Bitten
+und deine Reue kommen zu spät, und Nichts kann dir mehr helfen. Ich darf
+dich nicht schonen, das brächte mir Schande und machte mich zum Gespött
+der Leute. Zwiefach hast du dich an mir versündigt, erst hast du meine
+Liebe verschmäht, und dann meinen Ring entwendet, dafür mußt du Strafe
+leiden.« Mit diesen Worten steckte sie den Ring an den Daumen ihrer
+linken Hand, nahm den Mann wie eine Hedekunkel auf den Arm und ging mit
+ihm von dannen. Diesmal führte ihr Weg nicht in jene prächtige
+Behausung, sondern in eine Felsenhöhle, wo Ketten von der Wand herunter
+hingen. Die Jungfrau ergriff die Enden der Ketten, und fesselte damit
+dem Manne Hände und Füße, so daß Entkommen unmöglich war; dann sagte
+sie mit Zorn: »Hier sollst du bis an dein Ende gefangen bleiben. Ich
+werde dir täglich so viel Nahrung bringen lassen, daß du nicht Hungers
+sterben kannst, aber auf Befreiung darfst du nimmer hoffen.« Damit
+verließ sie ihn.
+
+Der König und seine Tochter verlebten eine schwere Zeit des Kummers, als
+Woche auf Woche verging, und der Schwiegersohn weder zurück kam, noch
+auch Nachricht von sich gab. Oftmals träumte der Königstochter, daß ihr
+Gemahl schwere Pein leiden müsse, sie bat deßhalb ihren Vater, von allen
+Seiten her Zauberer zusammenrufen zu lassen, damit sie vielleicht
+Auskunft darüber gäben, wo der Verschwundene lebe, und wie er zu
+befreien sei. Aber sämmtliche Zauberer konnten nichts weiter berichten,
+als daß er noch lebe und schwere Pein leide, keiner wußte den Ort zu
+nennen, wo er sich befinde, noch anzugeben, wie man ihn auffinden könne.
+Endlich wurde ein berühmter Zauberer aus Finnland vor den König geführt,
+der den weiteren Bescheid ertheilen konnte, daß des Königs Schwiegersohn
+im Ostlande gefangen gehalten werde, und zwar nicht durch Menschen,
+sondern durch ein mächtigeres Wesen. Also schickte der König seine Boten
+in der genannten Richtung aus, um den verlorenen Schwiegersohn
+aufzusuchen. Glücklicherweise kamen sie zu dem alten Zauberer, der die
+Schrift auf Salomonis Siegelring gedeutet und daraus eine Weisheit
+geschöpft hatte, die allen Uebrigen verborgen blieb. Dieser Zauberer
+fand bald heraus, was er wissen wollte, und sagte: »Den Mann hält man
+durch Zaubermacht da und da gefangen, aber ohne meine Hülfe könnt ihr
+ihn nicht befreien, ich muß selbst mit euch gehen.«
+
+Sie machten sich also auf und kamen, von Vögeln geführt, nach einigen
+Tagen in die Felsenhöhle, wo des Königs Schwiegersohn jetzt schon beinah
+sieben Jahre die schwere Kerkerhaft erduldet hatte. Er erkannte den
+Zauberer augenblicklich, dieser aber erkannte ihn nicht, weil er sehr
+abgemagert war. Der Zauberer löste durch seine Kunst die Ketten, nahm
+den Befreiten zu sich, und pflegte und heilte ihn, bis er wieder kräftig
+genug war, um die Reise anzutreten. Er langte an demselben Tage an, wo
+der alte König gestorben war, und wurde nun zum Könige erhoben. Jetzt
+kamen nach langen Leidenstagen die Freudentage, welche bis an sein Ende
+währten; den Wunderring aber erhielt er nicht wieder, -- auch hat ihn
+nachmals keines Menschen Auge mehr gesehen.
+
+[Fußnote 81: Vgl. Anm. zu Märchen 1, die Goldspinnerinnen, S. 11. L.]
+
+[Fußnote 82: Vgl. Anm. zu S. 110. im Märchen 8. L.]
+
+
+
+
+19. Das Glücksei.
+
+
+Einmal lebte in einem großen Walde ein armer Mann mit seinem Weibe; Gott
+hatte ihnen acht Kinder gegeben, von denen die ältesten schon ihr Brod
+bei fremden Leuten verdienten, und so machte es den Eltern gerade nicht
+viel Freude, als ihnen im späten Alter noch ein neuntes Söhnlein geboren
+wurde. Aber Gott hatte es ihnen einmal geschenkt, und so mußten sie es
+nehmen, und ihm nach Christenbrauch die Taufe geben lassen. Nun wollte
+aber Niemand zu dem Kinde Gevatter stehen, weil Jeder besorgte: wenn die
+Eltern sterben, so fällt mir das Kind zur Last. Da dachte der Vater: ich
+nehme das Kind, und trage es am Sonntag in die Kirche, und sage, daß ich
+nirgends Gevattern habe finden können, mag dann der Prediger thun, was
+er will, mag er das Kind taufen oder nicht, auf meine Seele kann keine
+Sünde fallen. Als er sich am Sonntag aufmachte, fand er nicht weit von
+seinem Hause einen Bettler am Wege sitzen, der ihn um ein Almosen bat.
+Der Mann sagte: »Ich habe dir nichts zu geben, Brüderchen, die wenigen
+Kopeken, die ich in der Tasche habe, muß ich für die Kindtaufe
+ausgeben; willst du mir aber einen Gefallen thun, so komm und steh bei
+meinem Kinde Gevatter, nachher gehen wir nach Hause und nehmen vorlieb
+mit dem, was uns die Hausfrau zum Taufschmaus beschert hat.« Der
+Bettler, den bis dahin noch niemand zu Gevatter gebeten hatte, erfüllte
+mit Freuden die Bitte des Mannes, und ging mit ihm zur Kirche. Als sie
+eben dort angekommen waren, fuhr eine prächtige Kutsche mit vier Pferden
+vor, und eine junge vornehme Dame stieg aus. Der arme Mann dachte, hier
+will ich zum letzten Male mein Glück versuchen, trat mit demüthigem
+Gruße vor die Frau oder das Fräulein, was sie nun sein mochte, und
+sagte: »Geehrtes Fräulein, oder was ihr sonst sein mögt! würdet ihr euch
+nicht der Mühe unterziehen, bei meinem Kinde Gevatter zu stehen?« Das
+Fräulein sagte zu.
+
+Als nun nach der Predigt das Kind zur Taufe gebracht wurde, verwunderten
+sich Prediger und Gemeinde sehr darüber, daß ein armseliger Bettelmann
+und eine stolze vornehme Dame zusammen bei dem Kinde Gevatter standen.
+Das Kind erhielt in der Taufe den Namen Pärtel. Die reiche Pathe
+bezahlte das Taufgeld und machte noch ein Pathengeschenk von drei
+Rubeln, worüber der Vater des Kindes höchlich erfreut war. Der Bettler
+ging dann mit zum Taufschmause. Ehe er am Abend fortging, nahm er ein in
+einen kleinen Lappen gewickeltes Schächtelchen aus der Tasche, gab es
+der Mutter des Kindes, und sagte: »Mein Pathengeschenk ist zwar
+unbedeutend, aber verschmähet es dennoch nicht, vielleicht erwächst
+eurem Söhnlein einmal Glück daraus. Ich hatte eine sehr kluge Tante, die
+sich auf vielerlei Zauberkünste verstand, die gab mir vor ihrem Tode
+das Vogelei in diesem Schächtelchen, indem sie sagte: »Wenn dir einmal
+etwas ganz Unerwartetes begegnet, was du niemals ahnden konntest, dann
+entäußere dich dieses Eies; wenn es demjenigen zu Theil wird, für den es
+bestimmt ist, so kann es ihm großes Glück bringen. Aber hüte das Ei wie
+deinen Augapfel, damit es nicht zerbricht, denn die Glücksschale ist
+zart.« Nun ist mir bis auf den heutigen Tag, obwohl ich nahe an sechzig
+Jahre alt bin, noch nichts so Unerwartetes begegnet, als daß ich heute
+morgen zu Gevatter gebeten wurde, und es war gleich mein erster Gedanke:
+Du mußt dem Kinde das Ei zum Pathengeschenk geben.«
+
+Der kleine Pärtel gedieh vortrefflich, und wuchs seinen Eltern zur
+Freude auf, bis er im Alter von zehn Jahren in ein anderes Dorf zu einem
+wohlhabenden Wirthe als Hüterknabe kam. Alle im Hause waren mit dem
+Hüterknaben sehr zufrieden, da er ein frommer stiller Bursche war, der
+seiner Brotherrschaft niemals Verdruß machte. Die Mutter hatte ihm beim
+Abschied das Pathengeschenk in die Tasche gesteckt, und ihm empfohlen,
+es sorgsamlich zu hüten, wie seinen Augapfel, was Pärtel auch befolgte.
+Auf dem Weideplatz stand ein alter Lindenbaum, und unter diesem lag ein
+großer Kieselstein; diesen Ort hatte der Knabe sehr lieb, so daß den
+Sommer über kein Tag verging, an dem er nicht unter der Linde auf dem
+Steine gesessen hätte. Auf diesem Steine verzehrte er auch gewöhnlich
+das Brot, welches ihm alle Morgen mitgegeben wurde, und seinen Durst
+stillte eine kleine Quelle in der Nähe des Steines. Mit den anderen
+Hirtenknaben, die viel Muthwillen trieben, hielt Pärtel keine
+Freundschaft. Wunderbar war es, daß ringsum nirgends so schönes Gras
+anzutreffen war, als zwischen dem Stein und der Quelle; obwohl die Herde
+jeden Tag hier weidete, so hatte doch am andern Morgen der Rasen mehr
+das Ansehen einer geschonten Wiese als das einer Weide.
+
+Wenn Pärtel zuweilen an einem heißen Tage auf dem Steine ein wenig
+einschlummerte, so erfreuten ihn jedesmal wunderbare Träume, und noch
+beim Erwachen klangen ihm Spiel und Gesang in den Ohren, so daß er mit
+offenen Augen weiter träumte. Der Stein war ihm wie ein theurer Freund,
+von dem er täglich mit schwerem Herzen schied, und zu dem er den andern
+Morgen voll Sehnsucht zurückeilte. So war Pärtel funfzehn Jahre alt
+geworden, und sollte nun nicht länger mehr Hüterknabe bleiben. Der Wirth
+nahm ihn zum Knecht, ohne ihm jedoch schwerere Arbeit aufzulegen, als er
+zu leisten vermochte. Am Sonntage oder an Sommerabenden, wenn die
+anderen Bursche mit den Dirnen schäkerten, gesellte sich Pärtel nicht zu
+ihnen, sondern ging still sinnend auf den Weideplatz an seinen lieben
+Lindenbaum, unter welchem er nicht selten die halbe Nacht zubrachte. So
+saß er einmal wieder an einem Sonntag Abend auf dem Steine und schlug
+die Maultrommel, da kroch eine milchweiße Schlange unter dem Steine
+hervor, hob den Kopf, als wollte sie zuhören, und blickte den Pärtel mit
+ihren klaren Augen an, die wie feurige Funken glänzten. Dies wiederholte
+sich in der Folge, weßhalb Pärtel, sobald er nur freie Zeit hatte, immer
+nach seinem Steine eilte, um die schöne weiße Schlange zu sehen, die
+sich zuletzt so an ihn gewöhnt hatte, daß sie sich oftmals um seine
+Beine wand.
+
+Pärtel war nun in das Jünglingsalter getreten, seine beide Eltern waren
+gestorben, und seine Brüder und Schwestern lebten alle weit entfernt, so
+daß sie nicht viel von einander hörten, geschweige denn einander sahen.
+Aber lieber als Brüder und Schwestern war ihm die weiße Schlange
+geworden; bei Tage waren seine Gedanken auf sie gerichtet, und fast jede
+Nacht träumte er von ihr. Deßhalb wurde ihm die Winterzeit sehr lange,
+wo tiefer Schnee lag und der Boden gefroren war. Als im Frühling die
+Sonnenstrahlen den Schnee geschmolzen und den Boden aufgethaut hatten,
+war Pärtels erster Gang wieder zum Steine unter der Linde, obwohl noch
+kein Blättchen am Baume zu sehen war. O die Freude! Sobald er seine
+Sehnsucht in den Tönen der Maultrommel ausgehaucht hatte, kroch die
+weiße Schlange unter dem Stein hervor und spielte zu seinen Füßen, aber
+dem Pärtel schien es heute, als wenn die Schlange Thränen vergossen
+hätte, und das that seinem Herzen weh. Er ließ nun keinen Abend mehr
+hingehen, ohne zum Steine zu kommen, und die Schlange wurde immer
+dreister, so daß sie sich schon streicheln ließ, aber wenn Pärtel sie
+festhalten wollte, schlüpfte sie ihm durch die Finger und kroch wieder
+unter den Stein.
+
+Am Abend des Johannistages, da alle Dorfbewohner, alt und jung, mit
+einander zum Johannisfeuer gingen, durfte doch auch Pärtel nicht
+zurückbleiben, obwohl sein Herz ihn auf einen andern Weg lockte. Aber
+mitten in der Lustbarkeit, als die andern sangen, tanzten und andere
+Kurzweil trieben, schlich er sich von ihnen fort zum Lindenbaum, denn
+das war der einzige Ort, wo sein Herz Ruhe fand. Als er näher kam,
+glänzte ihm vom Steine her ein helles kleines Feuer entgegen, was ihn
+sehr in Verwunderung setzte, da, so viel er wußte, Menschen sich um
+diese Zeit dort nicht aufhielten. Als er ankam, war das Feuer erloschen,
+und hatte weder Asche noch Funken zurückgelassen. Er setzte sich auf den
+Stein und fing an, wie gewöhnlich, die Maultrommel zu rühren. Mit einem
+Male tauchte das Feuer wieder auf, und es war nichts anderes als das
+funkelnde Augenpaar der weißen Schlange. Diese spielte wieder zu seinen
+Füßen, ließ sich streicheln, und sah ihn so durchdringend an, als wollte
+sie sprechen. Mitternacht konnte nicht weit sein, als die Schlange unter
+den Stein in ihr Nest schlüpfte, und auch auf Bartels Spiel nicht wieder
+zum Vorschein kam. Als er sein Instrument vom Munde nahm, in die Tasche
+steckte, und sich anschickte, nach Hause zu gehen, da säuselte das Laub
+der Linde im Hauch des Windes so wunderbar, daß es wie eine
+Menschenstimme an sein Ohr schlug, und er mehrmals die Worte zu hören
+glaubte:
+
+ »Zarte Schale hat das Glücksei,
+ Zähen Kernes ist die Trübsal;[83]
+ Zaudre nicht das Glück zu haschen.«
+
+Da fühlte er ein so schmerzliches Verlangen, daß ihm das Herz zu brechen
+drohte, und doch wußte er selber nicht, wonach er sich sehnte. Bittre
+Thränen rannen ihm von den Wangen, und er klagte: »Was hilft mir
+Unglücklichem das Glücksei, da mir auf dieser Welt doch kein Glück
+beschieden ist! Von klein auf fühle ich, daß ich für die Menschen nicht
+passe, sie verstehen mich nicht, und ich sie nicht: was ihnen Freude
+macht, das schafft mir Qual, was mich aber glücklich machen könnte, das
+weiß ich selbst nicht, wie sollten es Andere wissen. Der Reichthum und
+die Armuth haben beide bei mir zu Gevatter gestanden, darum habe ich
+auch zu nichts Rechtem kommen können.« Da wurde es plötzlich so hell um
+ihn her, als ob Linde und Stein von der vollen Sonne beschienen würden,
+so daß er eine Weile die Augen nicht öffnen konnte, sondern sich erst an
+die Helligkeit gewöhnen mußte. Da sah er neben sich auf dem Steine ein
+schönes Frauenbild stehen, in schneeweißen Kleidern, wie wenn ein Engel
+vom Himmel herunter gestiegen wäre. Aus dem Munde der Jungfrau aber
+tönte eine Stimme, die ihm süßer klang, als der Gesang der Nachtigall,
+und die Stimme sprach: »Lieber Jüngling, fürchte dich nicht, sondern
+erhöre die Bitte eines unglücklichen Mädchens! Ich Arme lebe in einem
+trübseligen Kerker, und wenn du dich meiner nicht erbarmst, so habe ich
+nimmer Hoffnung auf Erlösung. O, lieber Jüngling, habe Mitleid mit mir,
+und weise mich nicht ab. Ich bin eines mächtigen Königs Tochter aus dem
+Ostlande, unendlich reich an Gold und Schätzen, aber das kann mir nichts
+helfen, weil ein Zauber mich zwang, in Gestalt einer Schlange hier unter
+dem Felsen zu leben, wo ich schon viele hundert Jahre weile, ohne je
+älter zu werden. Obwohl ich noch nie einem Menschenkinde Böses zugefügt
+habe, so fliehen doch Alle vor meiner Gestalt, so wie sie mich
+erblicken. Du bist das einzige lebende Wesen, das meine Annäherung nicht
+scheute; ja, ich durfte zu deinen Füßen spielen, und deine Hand hat mich
+oftmals freundlich gestreichelt. Darum erwachte in meinem Herzen die
+Hoffnung, daß du mein Retter werden könntest. Dein Herz ist rein, wie
+das eines Kindes, in welchem Lug und Trug noch nicht wohnen. Auch trifft
+bei dir Alles zu, was zu meiner Rettung erforderlich ist: eine vornehme
+Dame und ein Bettler standen zusammen Gevatter bei dir, und das Glücksei
+wurde dein Pathengeschenk. Nur einmal nach je fünf und zwanzig Jahren in
+der Johannisnacht ist es mir vergönnt, in Menschengestalt eine Stunde
+lang auf der Erde zu wandeln, und wenn dann ein Jüngling reinen Herzens,
+der diese besonderen Gaben besitzt, kommen und meine Bitte erhören
+würde, so könnte ich aus meiner langen Gefangenschaft erlöst werden.
+Rette, o rette mich aus der endlosen Kerkerhaft, ich bitte dich in aller
+Engel Namen.« So sprechend fiel sie dem Pärtel zu Füßen, umfaßte seine
+Knie und weinte bitterlich.
+
+Dem Pärtel schmolz das Herz bei diesem Anblick und bei dieser Rede, er
+bat die Jungfrau aufzustehen und ihm zu sagen, wie die Rettung möglich
+sei. »Ich würde ja ohne Zögern durch Feuer und Wasser gehen,« sagte er,
+»wenn dadurch deine Rettung möglich würde, und hätte ich zehn Leben zu
+verlieren, ich würde sie alle für deine Rettung hingeben! Eine nie
+gekannte Sehnsucht läßt mir keine Ruhe mehr, aber wonach ich mich sehne,
+weiß ich selbst nicht.«
+
+Die Jungfrau sagte: »Komm morgen Abend gegen Sonnenuntergang wieder
+hierher, und wenn ich dir dann als Schlange entgegen komme, und mich wie
+einen Gürtel um deinen Leib winde, und dich dreimal küsse, so erschrick
+nicht, und bebe nicht zurück, sonst muß ich wieder weiter seufzen unter
+dem Fluche der Verzauberung, und wer weiß auf wie viel hundert Jahre.«
+Mit diesen Worten war die Jungfrau den Blicken des Jünglings
+entschwunden, und wieder säuselte es aus dem Laube der Linde:
+
+ »Zarte Schale hat das Glücksei,
+ Zähen Kernes ist die Trübsal;
+ Zaudre nicht das Glück zu haschen!«
+
+Pärtel war nach Hause gekommen und hatte sich vor Tages Anbruch schlafen
+gelegt, aber wunderbar bunte Träume, theils freundliche, theils
+häßliche, scheuchten die Ruhe von seinem Lager. Mit einem Schrei sprang
+er auf, weil ein Traum ihm vorgespiegelt hatte, daß die weiße Schlange
+sich um seine Brust schlang und ihn erstickte. Zwar achtete er nicht
+weiter auf dieses Schreckbild, vielmehr war er fest entschlossen, die
+Königstochter aus den Banden der Verzauberung zu erlösen, und wenn er
+selber darüber zu Grunde gehen sollte -- aber dennoch wurde ihm das Herz
+immer schwerer, je näher die Sonne dem Horizonte kam. Zur festgesetzten
+Zeit stand er am Steine unter der Linde, und blickte seufzend zum Himmel
+empor, den er um Muth und Kraft anflehte, damit er nicht vor Schwäche
+zittere, wenn sich die Schlange um seinen Leib winden und ihn küssen
+werde. Da fiel ihm plötzlich das Glücksei ein; er zog das Schächtelchen
+aus der Tasche, wickelte es los, und nahm das kleine Ei, das nicht
+größer war, als das Ei einer Grasmücke, zwischen die Finger.
+
+In demselben Augenblicke war die schneeweiße Schlange unter dem Steine
+hervorgeschlüpft, hatte sich um seinen Leib gewunden, und richtete eben
+ihren Kopf empor, um ihn zu küssen, da -- der Mann wußte selbst nicht
+wie es geschah -- hatte er der Schlange das Glücksei in den Mund
+gesteckt. Er stand, ob auch mit frierendem Herzen, ohne zu beben, bis
+die Schlange ihn dreimal geküßt hatte. Jetzt erfolgte ein Krachen und
+Leuchten, als hätte der Blitz in den Stein geschlagen, und schwerer
+Donner machte die Erde erzittern, so daß Pärtel wie todt zu Boden fiel,
+und nicht mehr wußte, was mit ihm oder um ihn her geschah.
+
+Aber in diesem furchtbaren Augenblicke waren die Bande des Zaubers
+gebrochen, und die königliche Jungfrau war aus ihrer langen Haft erlöst.
+Als Pärtel aus seiner schweren Ohnmacht erwachte, fand er sich auf
+weichen Seidenkissen, in einem prächtigen Glasgemach von himmelblauer
+Farbe. Das schöne Mädchen kniete vor seinem Bette, streichelte seine
+Wangen, und rief, als er die Augen aufschlug: »Dank dem himmlischen
+Vater, der mein Gebet erhört hat! und tausend, tausend Dank auch dir,
+theurer Jüngling, der du mich aus der langen Verzauberung erlöst hast.
+Nimm jetzt zum Lohne mein Reich, dieses prachtvolle Königsschloß mit
+allen seinen Schätzen, und wenn du willst, auch mich als Gemahlin mit in
+den Kauf. Du sollst fortan hier glücklich leben, wie es dem Herrn des
+Glücksei's gebührt. Bis heute war dein Loos wie das deines _Taufvaters_,
+jetzt harrt deiner ein besseres Loos, ein solches, wie es deiner
+_Taufmutter_ zugefallen war.«
+
+Pärtel's Glück und Freude vermöchte wohl Niemand zu schildern; alle
+unbegriffene Sehnsucht seines Herzens, die ihn ruhelos immer wieder
+unter die Linde trieb, war jetzt gestillt. Von der Welt geschieden lebte
+er mit seiner theuren Gemahlin im Schooße des Glückes bis an sein Ende.
+-- In dem Dorfe aber und auf dem Bauerhofe, wo er gedient hatte, und wo
+man ihn um seines frommen Wesens willen lieb hatte, erregte sein
+Verschwinden große Betrübniß. Darum machten sich Alle auf, ihn zu
+suchen, und ihr erster Gang war zur Linde, welche Pärtel so häufig zu
+besuchen pflegte, und wohin man ihn auch Abends zuvor noch hatte gehen
+sehn. Groß war das Erstaunen der Leute, als sie dort weder den Pärtel,
+noch die Linde, noch den Stein mehr vorfanden; auch die kleine Quelle in
+der Nähe war vertrocknet, und keines Menschen Auge hat selbige Dinge
+jemals wieder erblickt.
+
+[Fußnote 83: Aus Kalewipoëg =XIX=, 140, 141, wo aber der Gehörnte mit
+diesen Versen den Kalewsohn vor Uebermuth warnt. L.]
+
+
+
+
+20. Der Frauenmörder.
+
+
+Es lebte einmal ein reicher hochadliger Gutsherr, unter dessen
+Botmäßigkeit ausgedehnte Gebiete, Landgüter und eine Unzahl von Leuten
+standen. Seinen Wohnsitz hatte er auf einem einsamen festen Schlosse,
+das hinter Wäldern und Sümpfen versteckt lag wie eine Bärenhöhle, und
+rings mit Mauern und Gräben umgeben war, so daß Feinde nicht leicht
+eindringen konnten. Man meinte, der große Herr habe den einsamen Ort
+deßwegen zu seinem Wohnsitz gewählt, damit seine unermeßliche Habe den
+Leuten nicht in die Augen steche und ihre Habsucht reize. Es sollten da
+nämlich große Felsenkeller mit Gold und Silber angefüllt sein, womit der
+Besitzer, wenn er gewollt hätte, ganze Königreiche hätte kaufen können.
+An Geld und Schätzen hatte er also Ueberfluß, aber mit seinen Frauen
+hatte er kein Glück. Sie starben ihm alle binnen kurzer Frist, eine nach
+der andern; doch hielt sich der Wittwer nie mit langem Trauern auf,
+sondern ritt jedesmal ohne Zeitverlust von neuem auf die Freite. Obschon
+er noch im mittleren Mannesalter stand, sollte er doch schon eilf Frauen
+auf der Bahre gesehen haben, als er auszog, um die zwölfte zu freien.
+Man weiß, daß es einem reichen Manne nie schwer wird, zu einer Frau zu
+kommen, denn mit dem Goldnetze kann man die Mädchen zu Dutzenden fangen.
+Trotzdem stellten sich unserem reichen Freier, als er jetzt die zwölfte
+Frau nehmen wollte, Hindernisse in den Weg, so daß er wie ein geringer
+Mann an mancher Thüre anklopfen mußte, ehe er eine Braut unter die Haube
+bringen konnte. Das rasche Wegsterben seiner vielen Frauen hatte den
+jungen Damen der Umgegend Schrecken eingeflößt; es konnte doch wohl
+nicht mit rechten Dingen zugehen, daß die jungen blühenden Frauen so
+rasch dahin welkten. Ein Geheimniß mußte hier obwalten -- aber es blieb
+Allen ein Räthsel.
+
+Als nun der stolze reiche Freier lange Zeit vergebliche Wege gemacht
+hatte, beschloß er endlich, sein Glück auf einem Edelhofe zu versuchen,
+wo ein armer Edelmann mit seinen drei blühenden Töchtern lebte. Sie
+waren alle drei schön und glichen köstlichen Aepfeln, aber die jüngste
+überstrahlte die beiden andern, so daß sie recht gut auch die Gemahlin
+eines Königs hätte werden können. Der vornehme Freier hatte sein Auge
+alsbald auf das jüngste Fräulein geworfen; zwar schien des Fräuleins
+Herz anfangs kalt gegen ihn zu sein, aber seine reichen Geschenke,
+seidene Kleider, goldene Ketten und sonstiger Schmuck, übten eine so
+erwärmende Wirkung, daß es dem Vater und den beiden Schwestern gelang,
+das Mädchen zu überreden. Der Vater hoffte an dem reichen Schwiegersohne
+eine Stütze zu finden, und auch die Töchter erwarteten, daß ihnen der
+Schwager nützlich sein werde, der schon versprochen hatte, ihnen auf
+seine Kosten prächtige Hochzeitskleider machen zu lassen. Da die
+Schwestern sich sehr lieb hatten, so waren die älteren nicht im
+mindesten neidisch darüber, daß die jüngste zuerst heirathen sollte. Der
+Bräutigam hatte seinen künftigen Schwiegervater darum gebeten, die
+Hochzeit nicht auszurichten, da er sie auf seinem Schlosse zu feiern und
+alle Kosten selbst zu tragen wünsche.
+
+So weit war es mit der Werbung gut gegangen, und der Bräutigam war schon
+wieder abgereist, um sein Haus für die Hochzeit herzurichten, und hatte
+auch schon den Tag für die Hochzeit angesetzt. Da ereignete sich ein
+Vorfall, der dem alten Herrn Verdruß bereitete, und das Herz der Braut
+mit Betrübniß erfüllte. Auf dem Edelhofe lebte ein armer Knabe, den die
+Herrschaft nach dem Tode seiner Eltern, als er erst zwei Jahr alt war,
+zu sich genommen hatte; man hatte ihn später zum Gänsejungen gebraucht,
+seit länger als einem Jahre aber war er Aufwärter. Die Gutsleute nannten
+ihn immer noch den Gänse-Tönnis. Er war ein halbes Jahr jünger als das
+jüngste Fräulein, und hatte als Kind mit ihr gespielt; dadurch war eine
+Freundschaft zwischen ihnen entstanden, und das Fräulein war immer sehr
+liebreich gegen den Tönnis gewesen. Tönnis verehrte auf der ganzen Welt
+kein lebendes Wesen so sehr, wie sein theures Fräulein. Was er dem
+Fräulein nur an den Augen absehen konnte, das that er ungeheißen, und er
+wäre ohne Zagen durch Feuer und Wasser gegangen, wenn das Fräulein es
+befohlen hätte. Als er hörte, daß das Fräulein sich mit einem Wittwer
+vermählen würde, erschrack er so heftig, daß er verzweifeln wollte;
+mehrere Tage nahm er keine Nahrung zu sich, noch kam Nachts Schlaf in
+sein Auge. Er ging umher wie eine wandelnde Leiche, und Alle glaubten,
+daß er schwer krank sei. Als Tönnis den Bräutigam zum erstenmal gesehen
+hatte, war ihm dieser Anblick wie ein schneidendes Schwert durchs Herz
+gegangen. »Mein theures Fräulein rennt in ihr Verderben,« dachte er. Er
+wartete jetzt immer nur auf einen Augenblick, wo er mit dem Fräulein
+sprechen könnte. Als sie nun eines Tages in den Gemüsegarten gegangen
+war, trat ihr Tönnis demüthig entgegen: »Gnädiges theures Fräulein,
+höret auf meine Bitte! Werdet nicht die Gattin eines Mörders, der euch
+ebenso umbringen würde, wie die eilf, die ihn vor euch geheirathet
+haben.« Das Fräulein erschrack, als sie diese Rede hörte, und fragte,
+woher er denn wissen könne, daß die früheren Frauen dieses Herrn einen
+gewaltsamen Tod gefunden. Tönnis antwortete: »Mein Herz sagte es mir,
+als ich den Bräutigam zum erstenmale erblickte, und mein Herz hat mich
+noch niemals betrogen.« Als das Fräulein ihren Schwestern und ihrem
+Vater erzählte, was sie vernommen, gerieth der alte Herr in so heftigen
+Zorn, daß er drohte, den Tönnis halb todt zu schlagen, und dann mit den
+Hunden vom Hofe jagen zu lassen. Wer weiß, ob er die Drohung nicht
+ausgeführt hätte, wenn die Fräulein sich nicht mit Bitten dazwischen
+gelegt und sich bemüht hätten, seinen Zorn zu besänftigen. Die Fräulein
+sagten: »Der Bursche hat es ja doch nicht böse gemeint, vielmehr wünscht
+er uns nur Gutes.« Nach einigen Tagen ließ der alte Herr den Tönnis
+rufen, schalt ihn wegen seines thörichten Geschwätzes und sagte endlich:
+»Wenn du dem Fräulein noch einmal mit solchem leeren Gerede in den
+Ohren liegst, so lasse ich dich wie einen tollen Hund niederschießen.«
+Um seine Töchter zu beruhigen, sagte ihnen der alte Herr, daß der Tönnis
+durch eine Krankheit schwachsinnig geworden sei. Gleichwohl waren im
+Herzen des jüngsten Fräuleins Zweifel aufgestiegen, und sie hätte sich
+gern von ihrem Bräutigam losgemacht, wenn sich nur irgend eine
+Möglichkeit gezeigt hätte. Aber Vater und Schwestern widersetzten sich
+diesem Vorhaben einmüthig, indem sie sagten: »Stoße dein Glück nicht
+leichtsinnig von dir. Du wirst eines reichen Mannes Frau, wirst dort ein
+Leben haben wie im Himmel, und auch uns helfen können.« Je näher der
+Hochzeitstag heranrückte, desto schwerer wurde dem Fräulein das Herz,
+ihr schmeckte kein Essen mehr und kein Schlaf kam Nachts in ihr Auge.
+Endlich ließ sie eines Tages heimlich den Tönnis rufen, und fragte ihn,
+was sie thun solle, da der alte Herr von einem Zurücktreten durchaus
+nichts wissen wolle. Darauf antwortete Tönnis mit der Bitte, ihn
+mitzunehmen: »So lange ich euch nahe bin,« -- sagte er, -- »soll Niemand
+es wagen, Hand an euch zu legen.« Darauf bat das Fräulein ihren Vater um
+Erlaubniß, den Tönnis mitzunehmen. »Meinethalben,« -- sagte der alte
+Herr, -- »wenn dein Bräutigam nichts dagegen einzuwenden hat.« Der
+Bräutigam verzog zwar ein wenig das Gesicht, als er den Wunsch seiner
+Braut vernahm, aber da er die Braut nicht fahren lassen wollte, so mußte
+er ihrem Begehren willfahren.
+
+Der Hochzeitstag wurde im Hause des Bräutigams mit Jubel und großer
+Pracht begangen, über eine Woche blieben sämmtliche Hochzeitsgäste, und
+jeder mußte, als er heimkehrte, bekennen, daß er in seinem Leben noch
+keine schönere Hochzeit gesehen habe. Der Schwiegervater und die
+Schwägerinnen blieben noch einige Wochen länger, und führten ein Leben
+wie im Himmel. Beim Abschiede hatte ihnen der Schwiegersohn noch viele
+kostbare Geschenke mitgegeben, und das junge Paar war allein auf dem
+stolzen Edelhofe zurückgeblieben.
+
+Einige Wochen später sagte der Herr zu seiner Gemahlin: »Ich muß nun,
+mein Herzchen, auf drei Wochen verreisen, um meine entlegeneren Güter
+und Besitzungen zu besichtigen, deßhalb habe ich eine Botschaft nach dem
+Hause deines Vaters abgefertigt, um eine deiner Schwestern
+herzubescheiden, die dir Gesellschaft leisten soll, bis ich wiederkomme.
+Die Schwester kann heute Abend oder morgen Mittag hier eintreffen.
+Während meiner Abwesenheit wird hier das Ganze unter deiner Leitung
+stehen, sorge dafür, daß Alles so fortgeht, wie ich es angeordnet habe.
+Hier sind meine Schlüssel, vertraue sie Niemanden an; du selbst hast
+überall Zutritt. Nur in diesem Kästchen hier liegt ein einzelner
+goldener Schlüssel; in dasjenige Zimmer, welches er aufschließt, darfst
+du deinen Fuß nicht setzen, noch auch die Thür öffnen, um hineinzusehen.
+Ich bitte dich, Liebchen, hüte dich vor solchem Vorwitz, denn dein und
+mein Glück würde zerstört, sobald du mein Verbot übertrittst. Solltest
+du absichtlich oder von ungefähr die verbotene Kammer betreten -- und
+mir würde das nicht unbekannt bleiben --, so müßte ich dir mit eigener
+Hand das Haupt vom Rumpfe abschlagen.« Die Frau weigerte sich, den
+unheimlichen Schlüssel in Verwahrung zu nehmen, aber der Herr ließ
+nicht ab, sondern drang so lange in sie, bis sie den goldenen Schlüssel
+empfing. Beim Abschiede sprach sie noch zum Schloßherrn: »Meinetwegen
+kannst du unbesorgt sein, ich will deine Geheimnisse nicht sehen, wenn
+du sie mir nicht selbst zeigen magst.«
+
+Am Tage nach der Abreise des Herrn traf die mittlere Schwester ein, um
+der jungen Frau die Zeit zu vertreiben. Die Schwestern unterhielten
+sich, und scherzten mit einander, und manches Mal kam auch die Rede
+darauf, daß des Tönnis böse Ahnung ihnen ganz unnütze Angst eingeflößt
+habe. Dennoch wurde die junge Frau wieder unruhiger, als ihr eines
+Morgens gemeldet wurde, daß Tönnis in der Nacht verschwunden sei, und
+Niemand wisse, wo er hingekommen. Den Abend zuvor hatte er zur Frau
+gesagt: »Ich weiß nicht, wie es kommt, daß ich euretwegen in schwerer
+Sorge bin, es könne euch irgend ein Unglück zustoßen. Jede Nacht träume
+ich von euch, wie wenn ein böser Mensch hinter euch steht, der euch das
+Garaus machen will. Und des Morgens weckt mich gewöhnlich ein häßlicher
+Traum, wo ihr mit blutigem Kopfe vor meinem Bette steht.« Die Frau hatte
+sich jeder Besorgniß vor diesen Träumen als einer leeren Furcht zu
+erwehren gesucht, aber als sie des Burschen Verschwinden erfuhr, fiel
+ihr dessen Rede von gestern Abend doch schwer auf's Herz. Sie schickte
+Leute nach allen Richtungen aus, um ihn aufzusuchen; die Leute kehrten
+am Abend zurück, aber keiner von ihnen hatte eine Spur des
+Verschwundenen gefunden. Der Frau kam es vor, als wäre mit Tönnis ihr
+bester Beschützer und ihr treuester Freund von ihr geschieden. Wiewohl
+das Fräulein sich auf alle Weise bemühte, den Kummer der Schwester zu
+mildern, so fand die arme Frau doch keinen Trost.
+
+Eines Tages wollte sie ihrer Schwester alle Räume und Schatzkammern des
+Schlosses zeigen, sie gingen von einem Gemach zum andern, musterten
+Alles, und befriedigten ihre Schaulust. Zuletzt kamen sie auch vor die
+Thür, welche der goldene Schlüssel öffnete, allein das war die Kammer,
+welche die Frau nicht betreten durfte --sollte sie doch nicht einmal an
+der Schwelle nach den Geheimnissen dieser Kammer spähen. Das Fräulein
+hatte große Lust, sich diese geheimnißvolle Kammer anzusehen, und bat
+ihre Schwester, die Thür aufzuschließen. Die Frau mochte wohl kein
+geringeres Verlangen danach empfinden, allein sie rief sich das Verbot
+ihres Gemahls in's Gedächtniß zurück, und sagte, es sei ihr nicht
+erlaubt, diese Kammer zu betreten. Die Schwester spottete ihrer Furcht:
+»Schlüssel und Schloß« -- meinte sie -- »haben keine Zunge, mit der sie
+dem Herrn verrathen könnten, daß sich Jemand ihrer bedient hat. Was kann
+hier auch weiter versteckt sein, als allerlei Kostbarkeiten, die er dir,
+wer weiß aus welcher Laune, nicht zeigen will. Wenn die Männer aus Laune
+vor ihren Frauen etwas verbergen, so dürfen auch die Frauen aus Laune
+dem Verbote der Männer zuwider handeln. Wenn du dich fürchtest zu
+öffnen, so gieb mir den Schlüssel, ich werde dir die Thür aufschließen.«
+Obwohl die Frau sich mit dem Munde noch gegen das Verlangen der
+Schwester sträubte, so war sie doch im Herzen schon längst eines Sinnes
+mit ihr. Sie nahm den Schlüssel aus dem Kästchen und steckte ihn in's
+Schloß. Noch ehe sie Zeit gehabt hatte, den Schlüssel im Schlosse
+umzudrehen, sprang die Thür mit großem Geräusch auf, wobei Zauberkünste
+im Spiele gewesen sein mußten. Aber wer vermöchte das Entsetzen zu
+beschreiben, welches jetzt die Beiden überfiel, als ihr Blick über die
+Schwelle in das Innere der geheimnißvollen Kammer drang. In der Mitte
+derselben stand ein Eichenblock, und auf diesem lag ein breites Beil;
+der ganze Fußboden war mit geronnenem Blute bedeckt! Was aber das
+Gräßlichste war, und den letzten Blutstropfen in ihren Herzen erstarren
+machte: hinten an der Wand standen in einer Reihe auf einem langen
+Tische die blutigen Köpfe der früheren eilf Frauen! Diese unglücklichen
+Geschöpfe hatten alle in dieser Mordkammer den Tod gefunden
+--wahrscheinlich weil auch sie in ihrem Vorwitze des Mannes Verbot
+übertreten hatten.
+
+Derselbe gräßliche Tod drohte auch jetzt der zwölften Frau, denn sie
+sagte sich sogleich, daß der teuflische Mann, der die andern umgebracht
+habe, ihr auch keine Barmherzigkeit schenken werde. Schon sah sie ihren
+Hals auf dem blutigen Blocke, fühlte die Schneide des Beils in ihrem
+Nacken, als sie voll Entsetzen über die Schwelle zurückschwankte. Den
+Schlüssel hatte sie beim Einstecken auf den Boden fallen lassen; als sie
+ihn jetzt aufhob, fand sie blutige Rostflecken daran, die kein Wischen
+und kein Scheuern vertilgen konnte. Als sie dann versuchten, die Thür
+zuzuschließen, fanden sie es unmöglich; die Thür klaffte eine Hand breit
+auseinander, als ob zwischen Thür und Pfosten ein unsichtbarer Keil sich
+befände. Jetzt fehlte es nicht an Jammer und Reue, aber was konnte es
+fruchten? Zum Glück hatten sie noch eine Woche bis zur Rückkehr des
+Herrn, während dieser Frist wollten sie auf Mittel sinnen, die Sache wo
+möglich wieder gut zu machen.
+
+Schlaflos verging den Schwestern die Nacht; so oft ihnen die Augen
+zufielen, stand gleich der blutige Block mit dem Beile wieder vor ihnen,
+und scheuchte allen Schlummer. Am Morgen trat die Kammerjungfer bei der
+Frau ein und meldete, der Herr halte schon vor der Pforte. Die Frau
+erbebte am ganzen Leibe, und war unfähig, sich von ihrem Sitze zu
+erheben. Kaum war der Herr vom Pferde gestiegen, so fragte er nach der
+Frau, und ging rasch die Treppe hinauf. Als er in's Zimmer trat,
+brannten seine Augen wie zwei Feuer; die vor Angst erbleichende Frau
+wollte aufstehen, sank aber wieder auf ihren Stuhl zurück. Der Herr sah
+augenblicklich, was hier vorgegangen war, und fragte, wo der goldene
+Schlüssel sei. Mit zitternder Hand zog die Frau das Kästchen aus ihrer
+Tasche, und überreichte es dem Herrn, der beim Oeffnen sogleich die
+Rostflecke am Schlüssel fand. Da schwoll sein Gesicht blauroth an, und
+seine Augen rollten wie Feuerräder, so daß die Frau ihn nicht ansehen
+konnte. »Ruchloses Geschöpf!« -- schrie er mit fürchterlicher Stimme --
+»du mußt ohne Gnade von meiner Hand sterben, weil du mein Gebot
+übertreten hast. Gott im Himmel mag dir vergeben, ich kann deinen
+Vorwitz nicht ungestraft lassen. Hatte ich dir doch das Regiment und
+alle meine Habe anvertraut, und du hast mich betrogen! Mit den
+Reichthümern, die ich dir gegeben, konntest du wie eine Königin in Glück
+und Freude leben! Warum hast du mein Gebot übertreten?! Bereite dich
+zum Tode, denn deine Tage sind zu Ende!«
+
+Die Frau versuchte einige Worte zu ihrer Entschuldigung vorzubringen,
+aber der Herr tobte noch ärger: »Bereite dich zum Tode, denn deine
+Augenblicke sind gezählt!« Die Schwester der Frau hatte sich gleich, als
+der Lärm begann, geflüchtet, und wagte nicht mehr sich zu zeigen, denn
+sie war bange, sich ebenfalls den Tod zuzuziehen. Die Frau fiel vor dem
+Herrn auf die Knie, betete zu Gott, und versuchte dazwischen wieder
+ihres Gatten Herz zu erweichen.
+
+»Des Geschwätzes ist genug!« schrie der Herr. »Lege deinen Kopf auf den
+Block!« Als die Frau diesem Befehle nicht gleich Folge leistete,
+schleppte er sie bei den Haaren an den Block, drückte mit der linken
+Hand den Kopf nieder und ergriff mit der rechten das Beil, um sie zu
+tödten.
+
+Aber in demselben Augenblicke, wo er das Beil emporhob, fiel von hinten
+ein schwerer Knüttel auf seinen Kopf, so daß ihm das Beil aus der Hand
+fiel, und er selbst hinstürzte. In seiner Wuth hatte der Mörder nicht
+bemerkt, daß ein Mann mit einem Knüttel hinter ihm her schritt, als er
+die Frau in die Mordkammer schleppte. Dieser Mann war Tönnis. Die Frau
+war vor Angst und Schrecken in Ohnmacht gefallen, so daß sie nichts mehr
+von dem wußte, was um sie her vorging. Tönnis band dem Herrn Hände und
+Füße mit starken Stricken, und als derselbe sich wieder von seiner
+Betäubung erholte, konnte er sich nicht mehr los machen, und Niemanden
+Böses zufügen. Dann eilte Tönnis der ohnmächtigen Frau zu Hülfe, die
+erst nach einigen Stunden aus ihrer Ohnmacht erwachte.
+
+Jetzt setzte man das Gericht in Kenntniß, und schickte sogleich eine
+Botschaft an den Vater der Frau, daß er her käme. Die Untersuchung
+brachte an den Tag, daß der Mörder eilf Frauen umgebracht hatte, und
+auch die letzte gemordet haben würde, wenn Tönnis nicht zu Hülfe
+gekommen wäre; der Mörder wurde deshalb vor das peinliche Gericht
+gestellt, und zum Tode verurtheilt. Da er keine näheren Verwandten
+hatte, denen ein Erbrecht zustand, so wurden alle Edelhöfe und
+Besitzungen der Wittwe zugesprochen; nur ein Theil des Vermögens wurde
+unter die Armen vertheilt.
+
+Bei der reichen Wittwe meldeten sich Freier von allen Seiten, aber sie
+heirathete keinen derselben, sondern nahm nach einem Jahre den Tönnis
+zum Gemahl, und Beide führten ein glückliches Leben bis an ihr Ende.
+
+
+
+
+21. Der herzhafte Riegenaufseher.[84]
+
+
+Einmal lebte ein Riegenaufseher, der an Herzhaftigkeit nicht viele
+seines Gleichen hatte. Von ihm hatte der »alte Bursche« selber gerühmt,
+ein herzhafterer Mann sei ihm auf der ganzen Welt noch nicht
+vorgekommen. Der Alte ging deßhalb häufig an den Abenden, wo die
+Drescher nicht in der Scheune waren, zum Aufseher zu Gast, und unter
+angenehmen Gesprächen wurde ihnen die Zeit niemals lang. Der alte
+Bursche meinte zwar, der Aufseher kenne ihn nicht, sondern halte ihn für
+einen einfachen Bauer, allein der Aufseher kannte ihn recht gut, wenn er
+sich auch nichts merken ließ, und hatte sich vorgenommen, den (alten
+Hörnerträger) Teufel wo möglich einmal über's Ohr zu hauen. Als der alte
+Bursche eines Abends über sein Junggesellen-Leben klagte, und daß er
+Niemanden habe, der ihm einen Strumpf stricke oder einen Handschuh nähe,
+fragte der Aufseher: »Warum gehst du denn nicht auf die Freite,
+Brüderchen?« Der alte Bursche erwiederte: »Ich habe schon manchmal mein
+Heil versucht, aber die Mädchen wollen mich nicht. Je jünger und
+blühender sie waren, desto ärger spotteten sie meiner.« Der Aufseher
+rieth ihm, um ältere Mädchen oder Wittwen zu freien, die viel eher kirre
+zu machen seien, und nicht leicht einen Freier verschmähen würden. Nach
+einigen Wochen heirathete denn auch der alte Bursche ein bejahrtes
+Mädchen; es dauerte aber nicht gar lange, so kam er wieder zum
+Riegenaufseher, ihm seine Noth zu klagen, daß die junge Frau voller
+Tücke sei; sie lasse ihm weder bei Nacht noch bei Tage Ruhe, sondern
+quäle ihn ohne Unterlaß. »Was bist du denn für ein Mann,« lachte der
+Aufseher, »daß dein Weib die Hosen hat anziehen dürfen! Nahmst du einmal
+ein Weib, so mußtest du auch deines Weibes Herr werden!« Der alte
+Bursche erwiederte: »Ich werde mit ihr nicht fertig. Hole sie der und
+jener, ich setze meinen Fuß nicht mehr in's Haus.« Der Riegenaufseher
+suchte ihm Trost einzusprechen, und sagte, er solle sein Heil noch
+einmal versuchen, aber der alte Bursche meinte, es sei an der ersten
+Probe genug, und hatte nicht Lust, seinen Nacken zum zweiten Male in das
+Joch eines Weibes zu legen.
+
+Im Herbste des nächsten Jahres, als das Dreschen wieder begonnen hatte,
+machte der alte Bekannte dem Aufseher einen neuen Besuch. Der Aufseher
+merkte gleich, daß dem Bauer etwas auf dem Herzen brannte, er fragte
+aber nicht, sondern wollte abwarten, daß der Andere selber mit der Sache
+herauskäme. Er erfuhr denn auch bald des alten Burschen Mißgeschick. Im
+Sommer hatte derselbe die Bekanntschaft einer jungen Wittwe gemacht,
+die wie ein Täubchen girrte, so daß dem Männlein abermals
+Freiersgedanken aufstiegen. Er heirathete sie auch, fand aber später,
+daß sie der ärgste Hausdrache war, den es geben konnte, und daß sie ihm
+gern die Augen aus dem Kopfe gerissen hätte, so daß er endlich seinem
+Glücke dankte, als er sich von der bösen Sieben losgemacht hatte. Der
+Riegenaufseher sagte: »Ich sehe wohl, daß du zum Ehemann nicht taugst,
+denn du bist ein Hasenfuß, und verstehst nicht, ein Weib zu regieren.«
+Darin mußte ihm denn der alte Bursche Recht geben. Nachdem sie dann noch
+eine Weile über Weiber und Heirathen geplaudert hatten, sagte der alte
+Bursche: »Wenn du denn wirklich ein so herzhafter Mann bist, daß du dir
+getraust, den schlimmsten Höllendrachen unter dem Weibervolk zahm zu
+machen, so will ich dir eine Bahn zeigen, auf welcher deine
+Herzhaftigkeit bessern Lohn finden wird, als bei der Zähmung eines bösen
+Weibes. Du kennst doch die Ruinen des alten Schlosses auf dem Berge?
+dort liegt ein großer Schatz aus alten Zeiten, der noch Niemandem zu
+Theil geworden ist, weil eben noch keiner Muth genug hatte, ihn zu
+heben.« Der Riegenaufseher gab lachend zur Antwort: »Wenn hier nichts
+weiter nöthig ist, als Muth, so habe ich den Schatz schon so gut wie in
+der Tasche!« Darauf theilte der alte Bursche dem Aufseher mit, daß er in
+künftiger Donnerstags-Nacht, wo der Mond voll werde, hingehen müsse, um
+den vergrabenen Schatz zu heben, und fügte hinzu: »Hüte dich aber, daß
+nicht die geringste Furcht dich anwandle, denn wenn dir das Herz bangen,
+oder auch nur eine Faser an deinem Leibe zittern sollte, so verlierst
+du nicht nur den gehofften Schatz, sondern kannst auch dein Leben
+einbüßen, wie viele Andere, die vor dir ihr Glück versuchten. Wenn du
+mir nicht glaubst, so gehe nur in irgend einen Bauerhof und laß die
+Leute erzählen, was sie über das Gemäuer des alten Schlosses gehört --
+Manche auch wohl mit eigenen Augen gesehen haben. Noch einmal: wenn dir
+dein Leben lieb ist, und du des Schatzes habhaft werden willst, so hüte
+dich vor aller Furcht.«
+
+Am Morgen des bezeichneten Donnerstags machte sich der Riegenaufseher
+auf den Weg, und obgleich er nicht die geringste Furcht empfand, so
+kehrte er doch in der Dorfschenke ein, in der Hoffnung, dort auf
+Menschen zu stoßen, die ihm Eins oder das Andere über die alten
+Schloßmauern berichten könnten. Er fragte den Wirth, was das für alte
+Mauern wären auf dem Berge, und ob die Leute noch etwas darüber wüßten,
+wer sie aufgeführt, und wer sie dann wieder zerstört habe. Ein alter
+Bauer, der die Frage des Riegenaufsehers gehört hatte, gab folgenden
+Bescheid: »Der Sage nach hat vor vielen hundert Jahren ein steinreicher
+Gutsherr dort gewohnt, der über weite Ländereien und zahlreiches Volk
+gebot. Dieser Herr führte ein eisernes Regiment, und behandelte seine
+Unterthanen grausam, aber mit dem Schweiß und Blut derselben hatte er
+unermeßlichen Reichthum zusammengescharrt, so daß Gold und Silber
+fuderweise von allen Seiten her auf's Schloß kam, wo es in tiefen
+Kellern vor Dieben und Räubern verwahrt wurde. Auf welche Weise der
+reiche Bösewicht zuletzt seinen Tod fand, hat Niemand erfahren. Die
+Diener fanden eines Morgens sein Bett leer, drei Blutstropfen auf dem
+Boden, und eine große schwarze Katze zu Häupten des Bettes, die man
+vorher nie gesehen hatte und nachher nie wieder sah. Man meinte daher,
+die Katze sei der böse Geist selber gewesen, der in dieser Gestalt den
+Herrn in seinem Bette erwürgt, und dann zur Hölle gebracht habe, wo er
+für seine Frevel büßen müsse. -- Als später auf die Nachricht von dem
+Todesfall die Verwandten des Schloßherrn sich einfanden, um dessen
+Schatz in Besitz zu nehmen, fand sich nirgends ein Kopek Geld vor.
+Anfangs hielt man die Diener für die Diebe, und stellte sie vor Gericht;
+allein da sie sich ihrer Unschuld bewußt waren, so bekannten sie auch
+auf der Folter Nichts. Inzwischen hatten viele Menschen Nachts ein
+Geklapper, wie mit Geld, tief unter der Erde, vernommen, und machten dem
+Gericht davon Anzeige, und als dieses eine Untersuchung anstellte und
+die Aussage bestätigt fand, wurden die Diener freigelassen. Das seltsame
+nächtliche Geldgeklapper wurde später noch oft gehört, auch fanden sich
+Manche, die dem Schatze nachgruben, aber es kam nichts zu Tage, und von
+den Schatzgräbern kehrte keiner zurück; sicher hatte eben Der sie
+geholt, der dem Herrn des Geldes ein so gräßliches Ende bereitet hatte.
+Soviel sah Jeder, daß hier Etwas nicht geheuer war, -- darum getraute
+sich auch Niemand in dem alten Schlosse zu wohnen, bis endlich das Dach
+und die Wände durch Wind und Regen verfielen, und nichts weiter übrig
+blieb, als die alten Ruinen. Kein Mensch wagt sich bei nächtlicher Weile
+in die Nähe, noch weniger erkühnt sich Einer, dort nach alten Schätzen
+zu suchen.« --So sprach der alte Bauer.
+
+Als der Riegenaufseher seine Erzählung vernommen hatte, äußerte er wie
+halb im Scherze: »Ich hätte Lust, mein Heil zu versuchen! Wer geht
+künftige Nacht mit mir?« Die Männer schlugen ein Kreuz und betheuerten
+einhellig, daß ihnen ihr Leben viel lieber sei, als alle Schätze der
+Welt, die doch Niemand erlangen könne, ohne seine Seele zu verderben.
+Dann baten sie den Fremden, er möge den eitlen Gedanken fahren lassen,
+und sein Leben nicht dem Teufel überantworten. Allein der kühne
+Riegenaufseher achtete weder Bitten noch Einschüchterungen, sondern war
+entschlossen, sein Heil auf eigene Hand zu versuchen. Er bat sich am
+Abend von dem Schenkwirth ein Bund Kienspan aus, um nicht im Dunkeln zu
+bleiben, und erkundigte sich dann nach dem kürzesten Wege zu den alten
+Schloßruinen.
+
+Einer der Bauern, der etwas mehr Muth zu haben schien als die Andern,
+ging ihm eine Strecke weit mit einer brennenden Laterne als Führer
+voran, kehrte aber um, als sie noch über eine halbe Werst weit von dem
+Gemäuer entfernt waren. Da der bewölkte Nachthimmel Nichts erkennen
+ließ, so mußte der Riegenaufseher seinen Weg tastend verfolgen. Das
+Pfeifen des Windes und das Geschrei der Nachteulen schlug schauerlich an
+sein Ohr, konnte aber sein tapferes Herz nicht schrecken. Sobald er im
+Stande war, unter dem Schutze des Mauerwerks Feuer zu machen, zündete er
+einen Span an, und spähte nach einer Thür oder einer Oeffnung umher,
+durch die er unter die Erde hinabsteigen könnte. Nachdem er eine Weile
+vergebens gesucht hatte, sah er endlich am Fuße der Mauer ein Loch,
+welches abwärts führte. Er steckte den brennenden Span in eine
+Mauerspalte, und räumte mit den Händen soviel Geröll und Schutt fort,
+daß er hineinkriechen konnte. Nachdem er eine Strecke weit gekommen war,
+fand er eine steinerne Treppe, und der Raum wurde weit genug, daß er
+aufrecht gehen konnte. Das Kienspan-Bund auf der Schulter und einen
+brennenden Span in der Hand, stieg er die Stufen hinunter, und kam
+endlich an eine eiserne Thür, die nicht verschlossen war. Er stieß die
+schwere Thür auf und wollte eben eintreten, als eine große schwarze
+Katze mit feurigen Augen windschnell durch die Thür und zur Treppe
+hinauf schoß. Der Riegenaufseher dachte: die hat gewiß den Herrn des
+Geldes erwürgt, stieß die Thür zu, warf das Kienspan-Bund zu Boden, und
+sah sich dann den Ort näher an. Es war ein großer breiter Saal, an
+dessen Wänden überall Thüren angebracht waren; er zählte deren zwölf,
+und überlegte, welche von ihnen er zuerst versuchen sollte. »Sieben ist
+doch eine Glückszahl!« sagte er, und zählte dann von der Eingangsthür
+bis zur siebenten; aber diese war verschlossen und wollte nicht
+aufgehen. Als er sich indeß mit aller Leibeskraft gegen die Thür
+stemmte, gab das verrostete Schloß nach, und die Thür sprang auf. Als
+der Riegenaufseher hineintrat, fand er ein Gemach von mittlerer Größe,
+welches an einer Wand einen langen Tisch nebst einer Bank, an der andern
+Wand einen Ofen und vor demselben einen Herd enthielt; neben dem Herde
+lagen auch Scheite Holz am Boden. Der Mann machte nun Feuer an, und sah
+beim Scheine desselben, daß ein kleiner Grapen und eine Schale mit Mehl
+auf dem Ofen standen, auch fand er etwas Salz im Salzfaß. »Sieh' doch!«
+rief der Aufseher. »Hier finde ich ja unerwartet Mundvorrath, Wasser
+habe ich mir im Fäßchen mitgebracht, jetzt kann ich mir eine warme Suppe
+kochen.« Damit stellte er den Grapen auf's Feuer, that Mehl und Wasser
+hinein, streute Salz darauf, rührte mit einem Splitter um, und kochte
+die Suppe gar; dann goß er sie in die Schale, und setzte sie auf den
+Tisch. Das helle Feuer des Herdes erleuchtete die Stube, so daß er
+keinen Span anzuzünden brauchte. Der muthige Riegenaufseher setzte sich
+nun an den Tisch, nahm den Löffel und fing an, sich mit der warmen Suppe
+den leeren Magen zu füllen. Plötzlich sah er, als er aufblickte, die
+schwarze Katze mit den feurigen Augen auf dem Ofen sitzen; er konnte
+nicht begreifen, wie das Thier dahin gekommen sei, da er doch mit
+eigenen Augen gesehen hatte, wie die Katze die Treppe hinauf gerannt
+war. Darauf wurden draußen drei laute Schläge an die Thür gethan, so daß
+Wände und Fußboden schütterten, aber der Riegenaufseher verlor den Muth
+nicht, sondern rief mit strenger Stimme: »Wer einen Kopf auf dem Rumpfe
+hat, soll eintreten!« Augenblicklich prallte die Thür weit auf, die
+schwarze Katze sprang vom Ofen herunter und schoß durch die Thür, wobei
+ihr aus Maul und Augen Feuerfunken sprühten. Als die Katze davon
+gelaufen war, traten vier lange Männer ein in langen weißen Röcken und
+mit feuerrothen Mützen, welche dermaßen funkelten, daß sich Tageshelle
+im Gemach verbreitete. Die Männer trugen eine Bahre auf den Schultern,
+und auf der Bahre stand ein Sarg; das flößte aber dem beherzten
+Riegenaufseher keine Furcht ein. Ohne ein Wort zu sagen, stellten die
+Männer den Sarg auf den Boden, gingen dann einer nach dem andern zur
+Thür hinaus und zogen sie hinter sich zu. Die Katze miaute und kratzte
+an der Thür, als ob sie herein wollte, aber der Riegenaufseher kümmerte
+sich nicht darum, sondern verzehrte ruhig seine warme Suppe. Als er satt
+war, stand er auf und besah sich den Sarg; er brach den Deckel auf und
+erblickte einen kleinen Mann mit langem weißen Barte. Der Riegenaufseher
+hob ihn heraus, und brachte ihn zum Herde an's Feuer, um ihn zu
+erwärmen. Es dauerte auch nicht lange, so fing das alte Männchen an,
+sich zu erholen und Hände und Füße zu regen. Der muthige Riegenaufseher
+hatte nicht die geringste Furcht; er nahm die Suppenschüssel und den
+Löffel vom Tische, und fing an, den Alten zu füttern. Diesem aber
+dauerte das zu lange, drum faßte er die Schüssel mit beiden Händen und
+schlürfte hastig alle Suppe hinunter. Dann sagte er: »Dank dir,
+Söhnchen! daß du dich über mich Armen erbarmt, und meinen von Hunger und
+Kälte erstarrten Leib wieder aufgerichtet hast. Für diese Wohlthat will
+ich dir so fürstlichen Lohn spenden, daß du mich Zeit Lebens nicht
+vergessen sollst. -- Da hinter dem Ofen findest du Pechfackeln, zünde
+eine derselben an, und komm mit mir. Vorher aber mach die Thür fest zu,
+damit die wüthige Katze nicht herein kann, die dir den Hals brechen
+würde. Später wollen wir sie so kirre machen, daß sie Niemanden mehr
+Schaden zufügen kann.«
+
+Mit diesen Worten hob der Alte eine viereckige Fliese von der Breite
+einer halben Klafter aus dem Boden, und es zeigte sich, daß der Stein
+den Eingang zu einem Keller bedeckt hatte. Der Alte stieg zuerst die
+Stufen hinunter, und furchtlos folgte ihm der Riegenaufseher mit der
+brennenden Pechfackel auf dem Fuße, bis sie in eine schauerliche tiefe
+Höhle gelangten.
+
+In dieser großen kellerartig gewölbten Höhle lag ein gewaltiger
+Geldhaufe, so hoch wie der größte Heuschober, halb Silber, halb Gold.
+Das alte Männchen nahm jetzt aus einem Wandschranke eine Handvoll
+Wachslichter, drei Flaschen Wein, einen geräucherten Schinken und ein
+Brotlaib heraus, und sagte dann zum Riegenaufseher: »Ich gebe dir drei
+Tage Zeit, diesen Geldklumpen zu zählen und zu sondern. Du mußt den
+Haufen in zwei Theile theilen, so daß beide ganz gleich werden und kein
+Rest bleibt. Während du mit dieser Theilung dich beschäftigst, will ich
+mich an der Wand schlafen legen, aber hüte dich, daß du dabei nicht das
+geringste Versehen machst, sonst erwürge ich dich.« Der Riegenaufseher
+machte sich sogleich an die Arbeit, und der Alte streckte sich nieder.
+Damit kein Versehen vorkommen könne, theilte der Riegenaufseher so, daß
+er immer zwei gleichartige Geldstücke nahm, es mochten Thaler oder
+Rubel, Gold- oder Silbermünzen sein; das eine Geldstück legte er dann
+links und das andere rechts, so daß zwei Haufen entstanden. Wenn ihm die
+Kraft auszugehen drohte, so erquickte er sich durch einen Schluck aus
+der Flasche, genoß etwas Brot und Fleisch, und setzte dann neugestärkt
+seine Arbeit fort. Weil er sich die Nacht nur einen kurzen Schlaf
+gönnte, um die Arbeit rasch zu fördern, wurde er schon am Abend des
+zweiten Tages mit der Theilung fertig, aber ein kleines Silberstück war
+übrig geblieben. Was jetzt thun? Das machte dem braven Riegenaufseher
+keine Noth, er zog sein Messer aus der Tasche, legte die Schneide auf
+die Mitte des Geldstücks, und schlug dann mit einem Steine so kräftig
+auf des Messers Rücken, daß das Geldstück in zwei Hälften gespalten
+wurde. Die eine Hälfte legte er dann zu dem Haufen rechts, und die
+andere zu dem Haufen links; darauf weckte er den Alten auf und lud ihn
+ein, die Arbeit in Augenschein zu nehmen. Als der Alte die beiden
+Hälften des übrig gebliebenen Geldstücks je rechts und links erblickte,
+fiel er mit einem Freudengeschrei dem Riegenaufseher um den Hals,
+streichelte lange seine Wangen und sagte endlich: »Tausend und aber
+tausend Dank dir, kühner Jüngling, der du mich aus meiner langen, langen
+Gefangenschaft erlöst hast. Ich habe schon viele hundert Jahre meinen
+Schatz hier bewachen müssen, weil sich kein Mensch fand, der Muth oder
+Verstand genug hatte, das Geld so zu theilen, daß Nichts übrig blieb.
+Ich mußte deshalb, einem eidlichen Gelöbnisse zufolge, Einen nach dem
+Andern erwürgen, und da Keiner wiederkehrte, so wagte in den letzten
+zweihundert Jahren Niemand mehr her zu kommen, obgleich ich keine Nacht
+verstreichen ließ, ohne mit dem Gelde zu klappern. Dir, du Glückskind!
+war es beschieden, mein Retter zu werden, als mir schon alle Hoffnung
+schwinden wollte, und ich ewige Gefangenschaft fürchten mußte. Dank,
+tausend Dank dir für deine Wohlthat! Den einen Geldhaufen bekommst du
+jetzt zum Lohn für deine Mühe, den andern aber mußt du unter die Armen
+vertheilen, zur Sühne für meine schweren Sünden; denn ich war, als ich
+auf Erden lebte und diesen Schatz anhäufte, ein großer Frevler und
+Bösewicht. Noch eine Arbeit hast du zu meinem und deinem Nutzen zu
+vollbringen. Wenn du wieder hinaufgehst, und die große schwarze Katze
+dir auf der Treppe entgegenkommt, dann packe sie und hänge sie auf. Hier
+ist eine Schlinge, aus der sie sich nicht wieder herausziehen soll.«
+Damit zog er eine aus feinem Golddraht geflochtene Schnur von der Dicke
+eines Schuhbandes aus dem Busen, gab sie dem Riegenaufseher und
+verschwand, als wäre er in den Boden gesunken. Aber in demselben
+Augenblicke entstand ein Gekrach, als ob die Erde unter den Füßen des
+Riegenaufsehers bersten wollte. Das Licht erlosch, und um ihn her
+herrschte tiefe Finsterniß, allein auch dieses unerwartete Ereigniß
+machte ihn nicht muthlos. Er suchte tappend seinen Weg, bis er an die
+Treppe kam, kletterte die Stufen hinan, und kam in die erste Stube, wo
+er sich die Suppe gekocht hatte. Das Feuer auf dem Herde war längst
+ausgegangen, aber er fand in der Asche noch Funken, die er zur Flamme
+anblasen konnte. Der Sarg stand noch auf der Bahre, aber statt des Alten
+schlief die große schwarze Katze darin. Der Riegenaufseher packte sie am
+Kopfe, schlang die Goldschnur um ihren Hals, hing sie an einem starken
+eisernen Nagel in der Wand auf, und legte sich auf den Boden zur Ruhe.
+
+Erst am andern Morgen kam er aus dem Gemäuer heraus, und nahm den
+nächsten Weg zur Schenke, in der er vorher eingekehrt war. Als der Wirth
+sah, daß der Fremde unversehrt entronnen sei, kannten seine Freude und
+sein Erstaunen keine Grenzen. Der Riegenaufseher aber sagte: »Besorge
+mir für gute Bezahlung ein paar Dutzend Säcke von Tonnengehalt und
+miethe Pferde, damit ich meinen Schatz wegführen kann.« Daran merkte
+der Schenkwirth, daß des Fremden Gang kein fruchtloser gewesen war, und
+erfüllte sogleich des reichen Mannes Verlangen. Als darauf der
+Riegenaufseher von den Leuten erkundet hatte, was für Gebiete vor Alters
+unter der Herrschaft des damaligen Schloßbesitzers gestanden hatten,
+wies er den dritten Theil des den Armen bestimmten Geldes jenen Gebieten
+zu, übergab die beiden andern Drittel dem Gericht zur Vertheilung und
+siedelte sich mit seinem eigenen Gelde in einem fernen Lande an, wo ihn
+Niemand kannte. Dort müssen noch heutigen Tags seine Verwandten als
+reiche Leute leben, und die Kühnheit ihres Ahnherrn preisen, der diesen
+Schatz errungen hatte.
+
+[Fußnote 84: Riege ist baltischer Provinzialismus für Scheune, Dörr-
+und Dresch-Scheune. Die (steinerne) Gutsriege enthält auch Kornkammern,
+Flachsspeicher, Branntweinkeller. L.]
+
+
+
+
+22. Wie ein Königssohn als Hüterknabe aufwuchs.
+
+
+Es war einmal ein König, der seine Unterthanen milde und liebreich
+regierte, so daß Niemand im Königreiche war, der ihn nicht gesegnet, und
+den himmlischen Vater um die Verlängerung seiner Lebenstage angefleht
+hätte.
+
+Der König lebte schon manches Jahr in glücklicher Ehe, aber kein Kind
+war den Ehegatten geschenkt worden. Groß war daher seine und sämmtlicher
+Unterthanen Freude, als die Königin ein Söhnlein zur Welt brachte, aber
+die Mutter sollte dieses Glück nicht lange genießen. Drei Tage nach des
+Sohnes Geburt schlossen sich ihre Augen für immer -- der Sohn war Waise,
+und der König Wittwer. Schweren Kummer empfand der König über den Tod
+seiner theuren Gemahlin, und mit ihm trauerten die Unterthanen; man sah
+nirgends mehr ein fröhliches Antlitz. Zwar nahm der König, auf Andringen
+seiner Unterthanen, drei Jahre später eine andere Gemahlin, aber bei der
+neuen Wahl war ihm das Glück nicht wieder günstig: ein Täubchen hatte er
+begraben, und einen Habicht dafür bekommen; es geht leider vielen
+Wittwern so. Die junge Frau war ein böses, hartherziges Weib, das weder
+dem Könige noch den Unterthanen Gutes erwies. Den Sohn der vorigen
+Königin konnte sie nicht vor Augen leiden, da sie besorgen mußte, die
+Regierung werde an diesen Stiefsohn fallen, den die Unterthanen um
+seiner hingeschiedenen Mutter willen liebten. Die tückische Königin
+faßte darum den bösen Vorsatz, das Knäblein heimlich an einen Ort zu
+schaffen, wo der König es nicht wiederfinden könne; es umzubringen, dazu
+hatte sie nicht den Muth. Ein nichtswürdiges altes Weib half für gute
+Bezahlung der Königin die böse That auszuführen. Bei nächtlicher Weile
+wurde das Kind dem gottlosen Weibe überliefert, und von diesem auf
+Schleichwegen weit weg gebracht, und armen Leuten als Pflegkind
+übergeben. Unterwegs zog die Alte dem Kinde seine guten Kleider aus, und
+hüllte es in Lumpen, damit Niemand den Betrug merke. Der Königin hatte
+sie mit einem schweren Eide gelobt, keinem Menschen den Ort zu nennen,
+wohin der Königssohn geschafft worden. Am Tage wagte die Kindesdiebin
+nicht zu wandern, weil sie Verfolgung fürchtete; darum dauerte es lange,
+bis sie einen verborgenen Ort fand, der sich zum Aufenthalte für das
+königliche Kind eignete. In ein einsames Waldgehöft, das fremder
+Menschen Fuß selten betreten hatte, wurde der gestohlene Königssohn als
+Pflegling gethan, und der Wirth erhielt für das Aufziehen des Kindes die
+Summe von hundert Rubeln. Es war ein Glück für den Königssohn, daß er zu
+guten Menschen gekommen war, die für ihn sorgten, als wäre er ihr
+leibliches Kind. Der muntere Knabe machte ihnen oft Spaß, besonders
+wenn er sich einen Königssohn nannte. Sie sahen wohl aus der reichlichen
+Bezahlung, die sie erhalten hatten, daß das Knäblein kein rechtmäßiger
+Sprößling sei, und vom Vater oder von der Mutter her vornehmer Abkunft
+sein mochte, allein so hoch verstiegen sich ihre Gedanken nicht, daß sie
+für wahr gehalten hätten, wessen das Kind in seinem einfältigen Sinne
+sich rühmte.
+
+Man kann sich leicht vorstellen, wie groß der Schrecken im Hause des
+Königs war an dem Morgen, wo man entdeckte, daß das Söhnchen in der
+Nacht gestohlen war, und zwar auf so wunderbare Weise, daß Niemand es
+gehört hatte, und daß nicht die leiseste Spur des Diebes zurückgeblieben
+war. Der König weinte Tage lang bitterlich um den Sohn, den er im
+Andenken an dessen Mutter um so zärtlicher liebte, je weniger er mit
+seiner neuen Gemahlin glücklich war. Zwar wurden lange Zeit hindurch
+aller Orten Nachforschungen angestellt, um dem verschwundenen Kinde auf
+die Spur zu kommen, auch wurde Jedem eine große Belohnung verheißen, der
+irgend eine Auskunft darüber geben könnte, aber Alles blieb vergeblich,
+das Knäblein schien wie weggeblasen. Kein Mensch konnte das Geheimniß
+aufklären, und Manche glaubten, das Kind sei durch einen bösen Geist
+oder durch Hexerei entführt. In das einsame Waldgehöft, wo der
+Königssohn lebte, hatte keiner der Suchenden seine Schritte gelenkt, und
+ebensowenig konnten die Bekanntmachungen dahin dringen. -- Während nun
+der Königssohn daheim als Todter beweint wurde, wuchs er im stillen
+Walde auf und gedieh fröhlich, bis er in das Alter trat, daß er schon
+Geschäfte besorgen konnte. Da legte er denn eine wunderbare Klugheit an
+den Tag, so daß seine Pflegeeltern sich oft genug gestehen mußten, daß
+hier das Ei viel klüger sei als die Henne.
+
+Der Königssohn hatte schon über zehn Jahre in dem Waldgehöfte gelebt,
+als er ein Verlangen empfand, unter die Leute zu kommen. Er bat seine
+Pflegeeltern um Erlaubniß, sich auf eigene Hand sein Brot zu verdienen,
+indem er sagte: »Ich habe Verstand und Kraft genug, um mich ohne eure
+Hülfe zu ernähren. Bei dem einsamen Leben hier wird mir die Zeit sehr
+lang.« Die Pflegeeltern sträubten sich anfangs sehr dagegen, mußten aber
+endlich nachgeben, und den Wunsch des jungen Burschen erfüllen. Der
+Wirth ging selbst mit, um ihn zu begleiten, und eine passende Stelle für
+ihn ausfindig zu machen. In einem Dorfe fand er einen wohlhabenden
+Bauerwirth, der einen Hüterknaben brauchte, und da sich der Pflegesohn
+gerade einen solchen Dienst wünschte, so wurde man bald einig. Der
+Vertrag lautete auf ein Jahr, allein es wurde ausdrücklich bedungen, daß
+es dem Knaben zu jeder Zeit gestattet sein solle, den Dienst zu
+verlassen und zu seinen Pflegeeltern zurückzukehren. Ebenso konnte der
+Wirth, wenn er mit dem Knaben nicht zufrieden war, ihn noch vor Ablauf
+des Jahres entlassen, jedoch nicht ohne Vorwissen der Pflegeeltern. Das
+Dorf, wo der Königssohn diesen Dienst gefunden hatte, lag unweit einer
+großen Landstraße, auf welcher täglich viele Menschen vorbeikamen, Hohe
+wie Niedere. Der königliche Hüterknabe saß häufig dicht an der
+Landstraße, und unterhielt sich mit den Vorübergehenden, von denen er
+Manches erfuhr, was ihm bis dahin unbekannt geblieben war. Da geschah
+es eines Tages, daß ein alter Mann mit grauen Haaren und langem weißen
+Barte des Weges kam, als der Königssohn auf einem Steine sitzend die
+Maultrommel schlug; die Thiere grasten indeß, und wenn eines derselben
+sich zu weit von den übrigen entfernen wollte, so trieb des Knaben Hund
+es zurück. Der Alte betrachtete ein Weilchen den Knaben und seine Herde,
+trat dann einige Schritte näher und sagte: »Du scheinst mir nicht zum
+Hüterknaben geboren zu sein.« Der Knabe erwiederte: »Mag sein, ich weiß
+nur soviel, daß ich zum Herrscher geboren bin, und hier vorerst das
+Geschäft des Herrschens erlerne. Geht es mit den Vierfüßlern gut, so
+versuche ich weiterhin mein Glück auch wohl mit den Zweifüßlern.« Der
+Alte schüttelte wie verwundert den Kopf und ging seiner Wege. Ein
+anderes Mal fuhr eine prächtige Kutsche vorbei, in der ein Frauenzimmer
+mit zwei Kindern saß: auf dem Bocke der Kutscher und hinten auf ein
+Lakai. Der Königssohn hatte gerade ein Körbchen mit frischgepflückten
+Erdbeeren in der Hand, welches der stolzen deutschen Frau in die Augen
+fiel, und ihren Appetit reizte. Sie befahl dem Kutscher zu halten, und
+rief gebieterisch zum Kutschenfenster hinaus: »Du Rotzlöffel! bring die
+Beeren her, ich will dir ein paar Kopeken zu Weißbrot dafür geben!« Der
+königliche Hüterknabe that, als ob er nichts hörte, und auch nicht
+glaubte, daß ihm der Befehl gelte, so daß die Frau ein zweites und ein
+drittes Mal rufen mußte, was aber auch nur in den Wind gesprochen war.
+Da rief sie dem Lakaien hinter der Kutsche zu: »Geh und ohrfeige diesen
+Rotzlöffel, damit er gehorcht.« Der Lakai stürzte hin, um den
+erhaltenen Befehl auszuführen. Noch ehe er ankam, war der Hüterknabe
+aufgesprungen, hatte einen tüchtigen Knüppel ergriffen, und schrie dem
+Lakai zu: »Wenn dich nicht nach einem blutigen Kopf gelüstet, so thue
+keinen Schritt weiter, oder ich zerschlage dir das Gesicht!« Der Lakai
+ging zurück, und meldete, was ihm begegnet war. Da rief die Dame zornig:
+»Schlingel! willst du dich vor dem Rotzlöffel von Jungen fürchten? Geh
+und nimm ihm den Korb mit Gewalt weg, ich will ihm zeigen, wer ich bin,
+und werde auch noch seine Eltern bestrafen lassen, die ihn nicht besser
+zu erziehen verstanden.« -- »Hoho!« rief der Hüterknabe, der den Befehl
+gehört hatte, »so lange noch Leben in meinen Gliedern sich regt, soll
+Niemand mir mit Gewalt nehmen, was mein rechtmäßiges Eigenthum ist. Ich
+stampfe Jeden zu Brei, der mir meine Erdbeeren rauben will!« So
+sprechend spuckte er in die Hand, und schwang den Knüppel um den Kopf,
+daß es sauste. Als der Lakai das sah, hatte er nicht die geringste Lust,
+die Sache zu probiren; die Frau aber fuhr unter schweren Drohungen
+davon, versichernd, daß sie diesen Schimpf nicht ungeahndet lassen
+werde. Andere Hüterknaben, welche den Vorfall von Weitem mit angesehen
+und angehört hatten, erzählten ihn am Abend ihren Hausgenossen. Da
+geriethen Alle in Furcht, daß man auch ihnen zu nahe thun könnte, wenn
+die vornehme Frau sich vor Gericht über die thörichte Widerspenstigkeit
+des Burschen beklagte, und es zur Untersuchung käme. Den Königssohn
+schalt sein Wirth und sagte: »Ich werde nicht für dich sprechen; was du
+dir eingebrockt hast, kannst du auch ausessen.« Der Königssohn
+erwiederte: »Damit will ich schon zurecht kommen, das ist meine Sache.
+Gott hat mir selber einen Mund in den Kopf, und eine Zunge in den Mund
+gesetzt, ich kann selber für mich sprechen, wenn es noth thut, und werde
+euch nicht bitten, mein Fürsprecher zu sein. Hätte die Frau auf
+geziemende Weise die Erdbeeren verlangt, ich hätte sie ihr gegeben, aber
+wie durfte sie mich Rotzlöffel schimpfen? Meine Nase ist noch immer eben
+so rein von Rotz gewesen wie die ihrige.«
+
+Die Frau war in die Stadt des Königs gefahren, wo sie nichts Eiligeres
+zu thun hatte, als sich bei Gericht über das unverschämte Benehmen des
+Hüterknaben zu beschweren. Man schritt auch ungesäumt zur Untersuchung,
+und es wurde Befehl gegeben, das Bürschlein sammt seinem Wirthe vor's
+Gericht zu bringen. Als die Gerichtsdiener in's Dorf kamen, um den
+Befehl auszuführen, sagte der Königssohn: »Mein Wirth hat mit dieser
+Sache nichts zu schaffen; was ich gethan habe, das muß ich auch
+verantworten.« Jetzt wollte man ihm die Hände auf den Rücken binden, und
+ihn als Gefangenen vor Gericht führen, aber er zog ein scharfes Messer
+aus der Tasche, trat rasch einige Schritte zurück, richtete die Spitze
+des Messers auf sein Herz, und rief aus: »Lebend soll mich Niemand
+binden! Ehe eure Hand mich bindet, stoße ich mir das Messer in's Herz!
+Meinen Leichnam mögt ihr dann binden, und damit machen, was ihr wollt;
+so lange ich noch Athem habe, soll kein Mensch mir einen Strick oder
+eine Fessel anlegen! Vor Gericht will ich gern erscheinen, und Auskunft
+geben, als Gefangenen lasse ich mich nicht fortführen.« Seine Kühnheit
+setzte die Gerichtsdiener dermaßen in Schrecken, daß sie nicht wagten,
+ihm nahe zu kommen; sie fürchteten, es möchte ihnen zur Last fallen,
+wenn der Knabe in seinem Trotze sich umbrächte. Und da er ihnen
+gutwillig folgen wollte, so mußten sie sich zufrieden geben. Unterwegs
+wunderten sich die Gerichtsdiener täglich mehr über den Verstand und die
+Klugheit ihres Gefangenen, denn dieser wußte in allen Dingen besser
+Bescheid als sie selber. Noch viel größer war die Verwunderung der
+Richter, als sie den Hergang der Sache aus dem Munde des Knaben
+vernahmen; er sprach so klar und bündig, daß man ihm Recht geben und ihn
+von aller Schuld frei sprechen mußte. Auch der König, an den sich die
+vornehme Frau jetzt wandte, und der sich auf ihre Bitten die ganze Sache
+auseinander setzen ließ, mußte den Richtern beistimmen, und den Burschen
+straflos lassen. Jetzt wollte die vornehme Frau bersten vor Zorn, sie
+geberdete sich wie eine Katze, die wüthend auf einen Hund schnaubt, so
+ein Rotzlöffel von Bauerjungen sollte ihr gegenüber Recht behalten! Sie
+klagte ihre Noth der Königin, von der sie wußte, daß sie ungleich härter
+war als der König. »Mein Gemahl,« sagte die Königin, »ist eine alte
+Nachtmütze, und seine Richter sind all' zusammen Schafsköpfe! Schade,
+daß ihr eure Sache vor Gericht brachtet, und nicht lieber gleich zu mir
+kamt; ich hätte euren Handel anders geschlichtet und euch Recht gegeben.
+Jetzt, da die Sache durchs Gericht entschieden und vom Könige bestätigt
+ist, bin ich nicht mehr im Stande, der Sache öffentlich eine bessere
+Wendung zu geben, aber wir müssen sehen, wie wir ohne Aufsehen über den
+Burschen eine Züchtigung verhängen können.« Da fiel es der Frau zur
+rechten Zeit ein, daß auf ihrem Gebiete eine sehr böse Bauerwirthin
+angesessen war, bei der kein Knecht mehr bleiben wollte; auch gab der
+Wirth selber zu, daß es bei ihnen ärger hergehe als in der Hölle. Wenn
+man das naseweise Bürschlein auf diesen Hof als Hüterknaben geben
+könnte, so würde ihm das gewiß eine schwerere Züchtigung sein, als
+irgend ein Richterspruch ihm zuerkennen könnte. »Ich will die Sache
+gleich so einrichten, wie ihr wünscht,« sagte die Königin, ließ einen
+zuverlässigen Diener rufen, und gab ihm an, was er zu thun habe. Hätte
+ihre Seele geahndet, daß der Hüterknabe der von ihr verstoßene
+Königssohn sei, so hätte sie ihn ohne weiteres tödten lassen, ohne sich
+um König oder Richterspruch zu kümmern.
+
+Der Bauerwirth hatte kaum den Befehl der Königin erhalten, als er auch
+den Hüterknaben seines Dienstes entließ. Er dankte seinem Glücke, daß er
+noch so leichten Kaufes davon gekommen war. Der Königin Diener führte
+nun den Burschen selber auf den Bauerhof, auf welchen sie ihn wider
+seinen Willen verdungen hatte. Die tückische Wirthin jauchzte auf vor
+Freude, daß die Königin ihr einen Hüterknaben geschafft, und ihr
+zugleich frei gestellt hatte, mit ihm zu machen was sie wollte, weil das
+Bürschlein sehr halsstarrig und in Gutem nicht zu lenken sei. Sie kannte
+des neuen Mühlsteins Härte noch nicht, und hoffte, in ihrer alten Weise
+mit ihm zu mahlen. Bald aber sollte das höllische Weib inne werden, daß
+ihr dieser Zaun denn doch zu hoch war, um hinüber zu kommen, sintemal
+das Bürschlein einen gar zähen Sinn hatte, und kein Haar breit von
+seinem Rechte vergab. Wenn ihm die Wirthin ohne Grund ein böses Wort
+gab, so erhielt sie deren gleich ein Dutzend zurück; wenn sie die Hand
+gegen den Knaben aufhob, so raffte dieser einen Stein oder ein
+Holzscheit, oder was ihm gerade zur Hand war, auf und rief: »Wage es
+nicht, einen Schritt näher zu kommen, oder ich schlage dir das Gesicht
+entzwei, und stampfe deinen Leib zu Brei!« Solche Reden hatte die
+Hausfrau in ihrem Leben noch von Niemanden, am wenigsten aber von ihren
+Knechten gehört; der Wirth aber freute sich im Stillen, wenn er ihren
+Hader mit anhörte, und stand auch seiner Frau nicht bei, da der Knabe
+seine Pflicht nicht versäumte. Die Wirthin suchte nun den Hüterknaben
+durch Hunger zu zähmen, und weigerte ihm die Nahrung, aber der Knabe
+nahm das Laib mit Gewalt, wo er es fand, und melkte sich dazu Milch von
+der Kuh, so daß sein Magen kein Nagen des Hungers verspürte. Je weniger
+die Wirthin mit dem Hüterknaben fertig werden konnte, desto mehr suchte
+sie ihr Müthchen am Manne und dem Gesinde zu kühlen. Als der Königssohn
+sich dieses heillose Leben, das einen Tag wie den andern war, einige
+Wochen lang mit angesehen hatte, beschloß er, der Wirthin alle ihre
+Schlechtigkeit heimzuzahlen, und zwar in der Weise, daß die Welt den
+Drachen gänzlich los würde. Um seinen Vorsatz auszuführen, fing er ein
+Dutzend Wölfe ein, und sperrte sie in eine Höhle, wo er ihnen alle Tage
+ein Thier von seiner Herde vorwarf, damit sie nicht verhungerten. Wer
+vermöchte der Wirthin Wuth zu beschreiben, als sie ihr Eigenthum dahin
+schwinden sah, denn der Knabe brachte alle Abende ein Stück Vieh weniger
+nach Hause, als er am Morgen auf die Weide getrieben hatte, und
+antwortete auf alle Fragen nichts weiter als: »Die Wölfe haben's
+zerrissen!« Die Wirthin schrie wie eine Rasende, und drohte, das
+Bürschlein den wilden Thieren zum Fraß vorzuwerfen, aber der Knabe
+entgegnete lachend: »Da wird ihnen dein wüthiges Fleisch besser munden!«
+Darauf ließ er seine Wölfe in der Höhle drei Tage lang ohne Futter,
+trieb dann in der Nacht, als Alles schlief, die Herde aus dem Stalle und
+statt derselben die zwölf Wölfe hinein, worauf er die Thür fest
+verschloß, so daß die wilden Bestien nicht heraus konnten. Als die Sache
+soweit in Ordnung war, machte er sich auf die Socken, da ihm der
+Hirtendienst schon längst zuwider geworden war, und er jetzt auch Kraft
+genug in sich fühlte, um größere Arbeiten zu unternehmen.
+
+O du liebe Zeit! was begab sich da am Morgen, als die Wirthin in den
+Stall ging, um die Thiere herauszulassen und die Kühe zu melken. Die vom
+Hunger wüthend gewordenen Wölfe sprangen auf sie los, rissen sie nieder
+und verschlangen sie sammt ihren Kleidern mit Haut und Haar, so daß
+nichts weiter von ihr übrig blieb, als Zunge und Herz, diese beiden
+taugten nicht einmal den wilden Bestien, weil sie zu giftig waren. Weder
+Wirth noch Gesinde betrübten sich über dieses Unglück, vielmehr war
+Jeder dem Geschicke dankbar, das ihn von dem Höllenweibe befreit hatte.
+
+Der Königssohn hatte einige Jahre die Welt durchstreift, und bald dies
+bald jenes Gewerbe versucht, er hielt aber an keinem Orte lange aus,
+weil ihn die Erinnerungen seiner Kindheit, die ihm wie lebhafte Träume
+vorschwebten, stets daran mahnten, daß er durch seine Geburt einem
+höheren Stande angehöre. Von Zeit zu Zeit traf er wieder mit dem alten
+Manne zusammen, der ihn schon damals in's Auge gefaßt hatte, als er noch
+Hüterknabe war. Als der Königssohn achtzehn Jahr alt war, trat er bei
+einem Gärtner in Dienst, um die Gärtnerei zu erlernen. Gerade zu der
+Zeit ereignete sich etwas, was seinem Leben eine andere Wendung geben
+sollte. Die ruchlose Alte, welche ihn auf Befehl der Königin geraubt und
+als Pflegkind in das Waldgehöft gebracht hatte, beichtete auf ihrem
+Todbette dem Geistlichen den von ihr verübten Frevel, denn ihre unter
+der Last der Sünde seufzende Seele fand nicht eher Ruhe, als bis sie die
+böse That aufgedeckt hatte. Sie nannte auch den Bauerhof, auf welchen
+sie das Kind gebracht hatte, konnte aber nichts weiter darüber sagen, ob
+das Kind am Leben geblieben oder gestorben sei. Der Geistliche machte
+sich eilig auf, dem Könige die Freudenbotschaft zu bringen, daß eine
+Spur seines verschwundenen Sohnes gefunden sei. Der König verrieth
+Niemanden, was er erfahren, ließ augenblicklich ein Pferd satteln und
+machte sich mit drei treuen Dienern auf den Weg. Nach einigen Tagen
+erreichten sie das Waldgehöft; Wirth und Wirthin bekannten der Wahrheit
+gemäß, daß ihnen vor so und so langer Zeit ein Kind männlichen
+Geschlechts als Pflegling übergeben worden, und daß sie gleichzeitig
+hundert Rubel für das Aufziehen desselben erhalten hatten. Daraus hatten
+sie freilich gleich geschlossen, daß das Kind von vornehmer Geburt sein
+könne, aber das sei ihnen niemals in den Sinn gekommen, daß das Kind von
+königlichem Geblüte sei, vielmehr hätten sie immer nur ihren Spaß daran
+gehabt, wenn das Kind sich selbst einen Königssohn genannt hätte. Darauf
+führte der Wirth selbst den König in das Dorf, wohin er den Knaben als
+Hirtenjungen gebracht hatte, wiewohl nicht aus eigenem Antriebe, sondern
+auf Verlangen des Knaben, der an dem einsamen Orte nicht länger hatte
+leben mögen. Wie erschrack der Wirth, und noch mehr der König, als sich
+in dem Dorfe der Knabe, der zum Jüngling herangewachsen sein mußte,
+nicht fand, und man auch keine nähere Auskunft über ihn erhalten konnte.
+Die Leute wußten nur soviel zu sagen, daß der Knabe auf die Klage einer
+vornehmen Dame vor Gericht gestellt, von diesem aber freigesprochen und
+losgelassen worden sei. Später aber sei ein Diener der Königin
+erschienen, der den Knaben fortgeführt und in einem andern Gebiete in
+Dienst gegeben habe. Der König eilte dahin, und fand auch das Gesinde,
+in welchem sein Sohn eine kurze Zeit gewesen war, darnach aber war er
+entflohen, und man hatte nichts weiter von ihm gehört. Wie sollte man
+jetzt aufs Geratewohl weiter suchen, und wer war im Stande, den rechten
+Weg zu weisen?
+
+Während der König noch voller Kümmerniß war, daß sich hier alle Spuren
+verloren, trat ein alter Mann vor ihn hin -- derselbe, der schon mehrere
+Mal mit dem Königssohne zusammen getroffen war -- und sagte, er sei
+einem jungen Manne, wie man ihn suche, dann und wann begegnet, und habe
+ihn anfangs als Hirten und später in mancherlei anderen Handthierungen
+gesehen; und er hoffe, die Spur des Verschwundenen zu finden. Der König
+sicherte dem Alten reiche Belohnung, wenn er ihn auf die Spur des Sohnes
+bringen könne, befahl einem der Diener, vom Pferde zu steigen, und hieß
+den Alten aufsitzen, damit sie rascher vorwärts kamen. Dieser aber
+sagte lächelnd: »So viel wie eure Pferde laufen können, leisten meine
+Beine auch noch; sie haben ein größeres Stück Welt durchwandert, als
+irgend ein Pferd.« Nach einer Woche kamen sie wirklich dem Königssohne
+auf die Spur, und fanden ihn auf einem stattlichen Herrenhofe, wo er,
+wie oben erzählt, die Gärtnerei erlernte. Grenzenlos war des Königs
+Freude, als er seinen Sohn wieder fand, den er schon so manches Jahr als
+todt beweint hatte. Freudenthränen rannen von seinen Wangen, als er den
+Sohn umarmte, ihn an seine Brust drückte und küßte. Doch sollte er aus
+des Sohnes Munde eine Nachricht vernehmen, welche ihm die Freude des
+Wiederfindens schmälerte und ihn in neue Betrübniß versetzte. Der
+Gärtner hatte eine junge blühende Tochter, welche scheuer war als alle
+Blumen in dem prachtvollen Garten, und so fromm und schuldlos wie ein
+Engel. Diesem Mädchen hatte der Königssohn sein Herz geschenkt, und er
+gestand seinem Vater ganz offen, daß er nie eine Dame von edlerer
+Herkunft freien, sondern die Gärtnerstochter zu seiner Gemahlin machen
+wolle, sollte er auch sein Königreich aufgeben müssen. »Komm nur erst
+nach Hause,« sagte der König, »dann wollen wir die Sache schon in
+Ordnung bringen.« Da bat sich der Sohn von seinem Vater einen kostbaren
+goldenen Ring aus, steckte ihn vor Aller Augen der Jungfrau an den
+Finger und sagte: »Mit diesem Ringe verlobe ich mich dir, und über kurz
+oder lang komme ich wieder, um als Bräutigam dich heim zu führen.« Der
+König aber sagte: »Nein, nicht so --auf andere Weise soll die Sache vor
+sich gehen!« -- zog den Ring wieder vom Finger des Mädchens und hieb
+ihn mit seinem Schwerte in zwei Stücke. Die eine Hälfte gab er seinem
+Sohne, die andere der Gärtnerstochter, und sagte: »Hat Gott euch für
+einander geschaffen, so werden die beiden Hälften des Ringes zu rechter
+Zeit von selbst ineinander schmelzen, so daß kein Auge die Stellen wird
+entdecken können, wo der Ring durchgehauen war. Jetzt bewahre Jeder von
+euch seine Hälfte, bis die Zeit erfüllt sein wird.«
+
+Die Königin wollte vor Wuth bersten, als ihr Stiefsohn, den sie für
+immer verschollen glaubte, plötzlich zurück kehrte, und zwar als
+rechtmäßiger Thronerbe, da dem Könige aus seiner zweiten Ehe nur zwei
+Töchter geboren waren. Als nach einigen Jahren des Königs Augen sich
+geschlossen hatten, wurde sein Sohn zum König erhoben. Wiewohl ihm die
+Stiefmutter schweres Unrecht zugefügt hatte, wollte er doch nicht Böses
+mit Bösem vergelten, sondern überließ die Strafe dem Gerichte Gottes. Da
+nun die Stiefmutter keine Hoffnung mehr hatte, eine ihrer Töchter
+vermittelst eines Schwiegersohnes auf den Thron zu bringen, so wollte
+sie wenigstens eine fürstliche Jungfrau aus ihrer eigenen Sippschaft dem
+Könige vermählen, aber dieser entgegnete kurz: »Ich will nicht! ich habe
+meine Braut längst gewählt.« Als die verwittwete Königin dann erfuhr,
+daß der junge König ein Mädchen von niederer Herkunft zu freien gedenke,
+stachelte sie die höchsten Räthe des Reichs auf, sich einmüthig dagegen
+zu stemmen. Aber der König blieb fest und gab nicht nach. Nachdem man
+lange hin und her gestritten hatte, gab der König schließlich den
+Bescheid: »Wir wollen ein großes Fest geben und dazu alle Königstöchter
+und die andern vornehmen Jungfrauen einladen, so viel ihrer sind, und
+wenn ich eine unter ihnen finde, welche meine erwählte Braut an
+Schönheit und Züchten übertrifft, so will ich sie freien. Ist das aber
+nicht der Fall, so wird meine erwählte auch meine Gemahlin.«
+
+Jetzt wurde im Königsschloß ein prächtiges Freudenfest hergerichtet,
+welches zwei Wochen dauern sollte, damit der König Zeit hätte, die
+Jungfrauen zu mustern, ob eine derselben den Vorzug vor der
+Gärtnerstochter verdiene. Alle fürstlichen Frauen der Umgegend waren mit
+ihren Töchtern zum Feste gebeten, und da der Zweck der Einladung
+allgemein bekannt war, hoffte jedes Mädchen, daß ihr das Glücksloos
+zufallen werde. Schon näherte sich das Fest seinem Ende, aber noch immer
+hatte der junge König Keine gefunden, die nach seinem Sinne war. Am
+letzten Tage des Festes erschienen in der Frühe die höchsten Räthe des
+Reichs wieder vor dem Könige und sagten --auf Eingebung der
+Königin-Wittwe -- wenn der König nicht bis zum Abend eine Wahl getroffen
+habe, so könne ein Aufstand ausbrechen, weil alle Unterthanen wünschten,
+daß der König sich vermähle. Der König erwiederte: »Ich werde dem
+Wunsche meiner Unterthanen nachkommen und mich heute Abend erklären.«
+Dann schickte er ohne Vorwissen der Andern einen zuverlässigen Diener
+zur Gärtnerstochter, mit dem Auftrage, sie heimlich herzubringen, und
+hier bis zum Abend versteckt zu halten. Als nun am Abend des Königs
+Schloß von Lichtern strahlte, und alle fürstlichen Jungfrauen in ihrem
+Feststaat den Augenblick erwarteten, der ihnen Glück oder Unglück
+bringen sollte, trat der König mit einer jungen Dame in den Saal, deren
+Antlitz so verhüllt war, daß kaum die Nasenspitze heraus sah. Was Allen
+aber gleich auffiel, war der schlichte Anzug der Fremden: sie war in
+weißes feines Leinen gekleidet, und weder Seide, noch Sammet, noch Gold
+war an ihr zu finden, während alle Andern von Kopf bis zu Fuß in Sammet
+und Seide gehüllt waren. Einige verzogen spöttisch den Mund, andere
+rümpften unwillig die Nase, der König aber that, als bemerkte er es
+nicht, löste die Kopfhülle der Jungfrau, trat dann mit ihr vor die
+verwittwete Königin und sagte: »Hier ist meine erwählte Braut, die ich
+zur Gemahlin nehmen will, und ich lade euch und Alle, die hier
+versammelt sind, zu meiner Hochzeit ein.« Die verwittwete Königin rief
+zornig aus: »Was kann man auch Besseres erwarten von einem Manne, der
+bei der Herde aufgewachsen ist! Wenn ihr da wieder hin wollt, dann nehmt
+die Magd nur mit, die wohl verstehen mag, Schweine zu füttern, sich aber
+nicht zur Gemahlin eines Königs eignet -- eine solche Bauerdirne kann
+den Thron eines Königs nur verunehren!« Diese Worte weckten des Königs
+Zorn, und streng entgegnete er: »Ich bin König und kann thun, was ich
+will; aber wehe euch, daß ihr mir jetzt meinen früheren Hirtenstand in's
+Gedächtniß zurückriefet; damit habt ihr mich zugleich daran erinnert,
+wer mich in diesen Stand verstoßen. Indeß, da kein vernünftiger Mensch
+die Katze im Sacke kauft, will ich noch vor meiner Trauung Allen
+deutlich machen, daß ich nirgends eine bessere Gemahlin hätte finden
+können, als gerade dieses Mädchen, das fromm und rein ist wie ein Engel
+vom Himmel.« Mit diesen Worten verließ er das Zimmer, und kam bald
+darauf mit eben dem Alten zurück, den er von seinem Hirtenstande her
+kannte, und der den König später auf die Spur seines Sohnes gebracht
+hatte. Dieser Alte war ein berühmter Zauberer Finnlands, der sich auf
+viele geheime Künste verstand. Der König sprach zu ihm: »Liebster
+Zauberer! offenbaret uns durch eure Kunst das innere Wesen der hier
+anwesenden Jungfrauen, damit wir erkennen, welche unter ihnen die
+würdigste ist, meine Gemahlin zu werden.« Der Zauberer nahm eine Flasche
+mit Wein, besprach ihn, bat die Jungfrauen, in der Mitte des Saales
+zusammenzutreten, und besprengte dann den Kopf einer Jeden mit ein paar
+Tropfen des Zauberweins, worauf sie Alle stehenden Fußes einschliefen. O
+über das Wunder, welches sich jetzt aufthat! Nach kurzer Zeit sah man
+sie sämmtlich verwandelt, so daß keine mehr ihre menschliche Gestalt
+hatte, sondern statt ihrer allerlei wilde und gezähmte Thiere
+erschienen, einige waren in Schlangen, Wölfe, Baren, Kröten, Schweine,
+Katzen, andere wieder in Habichte und sonstige Raubvögel verwandelt.
+Mitten unter allen diesen Thiergestalten aber war ein herrlicher
+Rosenstock gewachsen, der mit Blüthen bedeckt war, und auf dessen
+Zweigen zwei Tauben saßen. Das war die vom Könige zur Gemahlin erwählte
+Gärtnerstochter. Darauf sagte der König: »Jetzt haben wir einer
+Jeglichen Kern gesehen, und ich lasse mich nicht durch die glänzende
+Schale blenden!« Die Königin-Wittwe wollte vor Zorn bersten, aber was
+konnte es ihr helfen, da die Sache so klar da lag. Darauf räucherte der
+Zauberer mit Zauberkräutern, bis alle Jungfrauen aus dem Schlafe
+erwachten, und wieder Menschengestalt erhielten. Der König erfaßte die
+aus dem Rosenstrauche hervorgegangene Geliebte, und fragte nach ihrem
+halben Ringe, und als die Jungfrau ihn aus dem Busen nahm, zog auch er
+seinen halben Ring hervor, und legte beide Hälften auf seine Handfläche;
+augenblicklich verschmolzen sie mit einander, so daß kein Auge einen Riß
+oder irgend ein Merkmal der Stellen entdeckte, wo die Schneide des
+Schwertes den Ring einst getrennt hatte. »Jetzt ist auch meines
+heimgegangenen Vaters Wille in Erfüllung gegangen!« sagte der junge
+König, und ließ sich noch an demselben Abend mit der Gärtnerstochter
+trauen. Dann lud er alle Anwesende zum Hochzeitsschmaus, aber die
+fürstlichen Jungfrauen hatten erfahren, welches Wunder sich während
+ihres Schlafes mit ihnen begeben, und gingen voller Scham nach Hause. Um
+so größer war der Unterthanen Freude, daß ihre Königin von Innen und von
+Außen ein untadelhaftes Menschenbild war.
+
+Als das Hochzeitsfest zu Ende war, ließ der junge König eines Tages
+sämmtliche Oberrichter des Reiches versammeln und fragte sie, welche
+Strafe ein Frevler verdiene, der einen Königssohn heimlich habe
+wegstehlen, und in einem Bauerhofe als Hüterknaben aufziehen lassen, und
+der außerdem noch den Jüngling schnöde gelästert habe, nachdem ihn das
+Glück seinem früheren Stande zurückgegeben. Sämmtliche Richter
+erwiederten wie aus einem Munde: »Ein solcher Frevler muß den Tod am
+Galgen erleiden.« Darauf sagte der König: »Nun wohl! Rufet die
+verwittwete Königin vor Gericht!« Die Königin-Wittwe wurde gerufen und
+das gefällte Urtheil ihr verkündet. Als sie es hörte, wurde sie bleich
+wie eine getünchte Wand, warf sich vor dem jungen Könige auf die Knie
+und bat um Gnade. Der König sagte: »Ich schenke euch das Leben, und
+hätte euch niemals vor Gericht gestellt, wenn es euch nicht eingefallen
+wäre, mich noch hinterher mit eben dem Leiden zu schmähen, welches ich
+durch euren Frevel habe erdulden müssen; in meinem Königreiche aber ist
+eures Bleibens nicht mehr. Packet noch heute eure Sachen zusammen, um
+vor Sonnenuntergang meine Stadt zu verlassen. Diener werden euch bis
+über die Grenze begleiten. Hütet euch, jemals wieder den Fuß auf mein
+Gebiet zu setzen, da es Jedermann, auch dem Geringsten, frei steht, euch
+wie einen tollen Hund todt zu schlagen. Eure Töchter, die auch meines
+heimgegangenen Vaters Töchter sind, dürfen hier bleiben, weil ihre Seele
+rein ist von dem Frevel, den ihr an mir verübt habt.«
+
+Als die verwittwete Königin fortgebracht war, ließ der junge König in
+der Nähe seiner Stadt zwei hübsche Wohnhäuser aufbauen, von denen das
+eine den Eltern seiner Frau, und das andere dem Wirthe des Bauerhofs
+geschenkt wurde, der den hülflosen Königssohn liebevoll aufgezogen
+hatte. Der als Hüterknabe aufgewachsene Königssohn und seine aus
+niederem Geschlecht entsprossene Gemahlin lebten dann glücklich bis an
+ihr Ende, und regierten ihre Unterthanen so liebevoll wie Eltern ihre
+Kinder.
+
+
+
+
+23. Dudelsack-Tiidu.
+
+
+Es lebte einmal ein armer Käthner, den Gott mit Kindern reichlicher
+gesegnet hatte, als mit Brot. Töchter und Söhne wuchsen den Eltern zur
+Freude auf, und verdienten sich meist schon ihr Stück Brot bei Fremden
+--nur aus einem Sohne wollte nichts Rechtes werden. Ob der Bursche von
+Natur einfältig war, oder ob sonst ein Gebreste ihn drückte, oder ob er
+träges Blut unter den Nägeln hatte, das konnte Niemand mit Sicherheit
+sagen. Aber daß er faul und lotterig war und zu keinerlei Geschäft
+taugte, das mußten seine Eltern sowohl wie das ganze Dorf eingestehen.
+Es halfen auch weder gute Worte noch Ruthenstreiche, vielmehr wuchs die
+Faulheit des Burschen, je älter er wurde. Im Winter hinter dem Ofen
+liegen und im Sommer unter einem Busche schlafen, war sein
+Haupt-Tagewerk, dazwischen pfiff er oder blies die Weidenflöte, daß es
+eine Lust war anzuhören. So saß er eines Tages wieder hinter einem
+Busche und blies mit den Vögeln um die Wette, als ein fremder alter Mann
+des Weges daher kam. Er fragte mit freundlicher Stimme: »Sage mir,
+Söhnchen! was für ein Gewerbe möchtest du denn einst treiben?« Der
+Bursche erwiderte: »Das Gewerbe wäre meine geringste Sorge, könnte ich
+nur ein reicher Mann werden, daß ich nicht nöthig hätte zu arbeiten, und
+unter anderer Leute Zuchtruthe zu stehen.« Der alte Mann lachte und
+sagte: »Der Plan wäre gar nicht übel, aber ich sehe nicht ein, woher dir
+Reichthum kommen soll, wenn du gar nicht arbeiten willst? Läuft doch die
+Maus einer schlafenden Katze nicht in den Rachen. Wer Geld und Gut
+erwerben will, der muß seine Glieder rühren, arbeiten und sich Mühe
+geben, sonst« -- Der Bursche fiel ihm in die Rede und bat: »Lassen wir
+diese Reden! das habe ich schon viele hundert Mal gehört, und es kommt
+mir vor, wie wenn man Wasser auf die Gans gießen wollte, denn aus mir
+kann doch nimmer ein Arbeiter werden.« Der alte Mann erwiederte milde:
+»Der Schöpfer hat dir eine Gabe verliehen, mit welcher du leicht das
+tägliche Brot und noch ein Stück Geld dazu verdienen könntest, wenn du
+dich auf's Dudelsackpfeifen legen würdest. Verschaffe dir einen guten
+Dudelsack, blase ihn eben so geschickt wie jetzt die Weidenflöte, und du
+findest Brot und Geld überall, wo fröhliche Menschen wohnen.« »Aber
+woher soll ich den Dudelsack nehmen?« fragte der junge Bursche. Der Alte
+erwiederte: »Verdiene dir Geld und kaufe dir dann einen Dudelsack. Für
+den Anfang kannst du die Weidenflöte blasen und auf dem Blatte pfeifen,
+auf beiden bist du schon ein kleiner Meister! Ich hoffe auch künftig
+noch mit dir zusammen zu treffen, dann wollen wir sehen, ob du meinen
+Rath benutzt hast, und welcher Gewinn dir aus meiner Belehrung erwachsen
+ist.« Damit trennte er sich von dem Burschen und ging seines Weges.
+_Tiidu_ -- so hieß der Bursche -- begann über des alten Mannes Rede
+nachzudenken, und je länger er sann, desto mehr mußte er dem Alten Recht
+geben. Er entschloß sich, den von dem Alten angegebenen Weg zum Glücke
+einzuschlagen; allein er verrieth Niemanden ein Wort von seinem
+Vorhaben, sondern ging eines Morgens vom Hause und -- kam nicht wieder.
+Den Eltern machte sein Scheiden keinen Kummer, der Vater dankte noch
+seinem Geschicke, daß er den faulen Sohn los geworden war, und hoffte,
+daß die Welt mit der Zeit dem Tiidu die faule Haut abstreifen und die
+Noth ihn zum ordentlichen Menschen erziehen würde.
+
+Tiidu strich einige Wochen von Dorf zu Dorf und von Gut zu Gut umher;
+überall nahmen die Leute ihn freundlich auf, und hörten gern zu, wenn er
+seine Weidenflöte blies, gaben ihm zu essen, und schenkten ihm auch
+manchmal einige Kopeken. Diese Kopeken sammelte der Bursche sorgfältig,
+bis er endlich soviel beisammen hatte, um sich einen guten Dudelsack
+kaufen zu können. Jetzt fing sein Glück an zu blühen, denn weit und
+breit war kein Dudelsackpfeifer zu finden, der so kunstgerecht und so
+taktmäßig zu blasen verstand. Tiidu's Dudelsack setzte alle Beine in
+Bewegung. Wo nur eine Hochzeit, ein Ernteschmaus, oder eine andere
+Lustbarkeit begangen wurde, da durfte der _Dudelsack-Tiidu_ nicht mehr
+fehlen. Nach einigen Jahren war er ein so berühmter Dudelsackpfeifer
+geworden, daß man ihn wie einen Zauberkundigen von einem Orte zum
+andern, oft viele Meilen weit, kommen ließ. So blies er einst auf einem
+Gute beim Ernteschmaus, wozu auch viele Gutsherren aus der Umgegend
+gekommen waren, um die Belustigung des Volkes mit anzusehen. Alle
+mußten einmüthig bekennen, daß ihnen in ihrem Leben noch kein
+geschickterer Dudelsackpfeifer vorgekommen war. Ein Gutsherr nach dem
+andern lud den Dudelsack-Tiidu zu sich, dann mußte er die Herrschaft
+durch sein Spiel ergötzen und erhielt dafür gute Kost und gutes Getränk,
+dazu noch Geld und mancherlei Geschenke. Einer der reichen Herren ließ
+ihn von Kopf zu Fuß neu kleiden, ein anderer schenkte ihm einen schönen
+Dudelsack mit messingener Röhre. Die Fräulein banden ihm seidene Bänder
+an den Hut, und die Frauen strickten ihm bunte Handschuhe. Jeder Andere
+wäre an Tiidu's Stelle mit diesem Glücke sehr zufrieden gewesen, aber
+seine Sehnsucht nach Reichthum ließ ihm keine Ruhe, sondern trieb ihn
+wie mit einer Feuergeißel immer weiter. Je mehr er einsah, daß der
+Dudelsack allein ihn nicht zum reichen Manne machen könne, desto stärker
+wurde seine Geldgier. Erzählungen, die im Munde des Volkes lebten,
+wußten viel zu berichten von dem Reichthume des Landes Kungla,[85] und
+Tiidu konnte das Tag und Nacht nicht aus dem Kopfe bringen. Wenn ich nur
+hinkommen könnte, dachte er, so würde ich schon den Weg zum Reichthum
+finden. Er wanderte nun am Strande hin, um vielleicht durch einen
+glücklichen Zufall ein Schiff oder ein Segelboot zu finden, das ihn über
+die See brächte. Endlich kam er in die Stadt Narwa, wo gerade viele
+fremde Kauffahrer im Hafen lagen. Einer derselben sollte nach einigen
+Tagen nach Land Kungla absegeln, und Tiidu suchte den Schiffer auf.
+Dieser wollte ihn mitnehmen, aber der geforderte Preis war dem kargen
+Dudelsackpfeifer zu hoch. Er suchte sich nun durch seinen Dudelsack bei
+dem Schiffsvolke einzuschmeicheln, und hoffte dadurch die Kosten der
+Fahrt zu verringern. Das Glück wollte, daß er einen jungen Matrosen
+fand, der ihm versprach, ihn heimlich hinter dem Rücken des Schiffers
+auf's Schiff zu bringen. In der letzten Nacht vor dem Abgange des
+Schiffes brachte der Matrose wirklich den Tiidu auf's Schiff und
+versteckte ihn in einem dunkeln Winkel zwischen Fässern, brachte ihm
+auch, ohne daß die Andern es merkten, Speise und Trank dahin, damit er
+in seinem Schlupfwinkel nicht Hunger leide. In der folgenden Nacht, als
+das Schiff schon auf hoher See war, und Tiidu's Freund auf dem Verdeck
+allein Wache hielt, holte er ihn aus seinem Schlupfwinkel hervor, band
+ihm ein Tau um den Leib, befestigte das andere Ende des Taues am Schiffe
+und sagte: »Ich werde dich jetzt an dem Taue in's Meer lassen, und wenn
+man dir zu Hülfe eilt, so mußt du das Tau von deinem Leibe losschneiden
+und ihnen weiß machen, du seiest vom Hafen her dem Schiffe
+nachgeschwommen.« Obwohl dem Tiidu ein wenig bange wurde, hoffte er doch
+mit Hülfe des Taues sich eine Zeit lang über Wasser zu halten, da er ein
+guter Schwimmer war. Sobald er in's Wasser gelassen worden, weckte sein
+Freund die anderen Matrosen und zeigte ihnen die menschliche Gestalt,
+die schwimmend dem Schiffe folgte. Die Leute sperrten Mund und Augen
+auf, als sie das seltsame Abenteuer erblickten, und weckten auch den
+Schiffer, damit er sich die Sache ansehe. Dieser schlug dreimal das
+Kreuz und fragte dann den Schwimmer: »Bekenne wahrhaft, wer du bist,
+ein Geist oder ein sterblicher Mensch?« Der Schwimmer antwortete: »Ein
+armer sterblicher Mensch, dessen Kraft bald erschöpft sein wird, wenn
+ihr euch seiner nicht erbarmt.« Der Schiffer ließ nun ein Tau in's Meer
+werfen, um den Schwimmenden daran heraufzuziehen. Als Tiidu das Ende des
+Taues gefaßt hatte, schnitt er erst mit einem Messer das um seinen Leib
+geschlungene Tau entzwei und bat sodann, man möge ihn heraufziehen. Als
+es geschehen war, fragte ihn der Schiffer: »Sage, woher du kommst und
+wie du bis hierher gelangtest.« Dudelsack-Tiidu erwiederte: »Ich schwamm
+eurem Schiffe nach, als ihr aus dem Hafen abfuhrt, und hielt mich von
+Zeit zu Zeit, wenn die Kraft mir auszugehen drohte, am Steuer fest. So
+hoffte ich nach Land Kungla zu kommen, weil ich nicht so viel Geld
+hatte, als ihr für die Ueberfahrt verlangtet.« Des Jünglings wunderbare
+Kühnheit rührte des Schiffer's Herz, und freundlich sagte er: »Danke dem
+himmlischen Vater, der dein Leben so wunderbar beschützt hat! Ich will
+dich unentgeltlich nach Kungla bringen.« Dann befahl er, dem Tiidu
+trockene Kleider anzuziehen, und ihn in der Schiffskajüte zu betten,
+damit er sich von der Anstrengung der langen Schwimmfahrt erhole. Tiidu
+aber und sein Freund waren froh, daß ihre List so glücklich abgelaufen
+war.
+
+Am andern Morgen sah das Schiffsvolk auf den Tiidu wie auf ein Wunder,
+da er eine Strecke geschwommen war, wie es Keiner für möglich gehalten.
+Weiterhin machte ihnen sein schönes Dudelsackspiel große Freude, und
+der Schiffer gestand mehr als einmal, daß er noch nie einen so
+herrlichen Dudelsack gehört habe. Als das Schiff nach einigen Tagen in
+Land Kungla vor Anker gegangen war, verbreitete sich durch der
+Schiffsleute Mund mit Windesschnelle die Kunde von dem melodischen
+Fisch, den sie im Meere gefangen, und der Nacht und Tag dem Schiffe
+nachgeschwommen wäre. Natürlich durften Tiidu und sein Freund dieser
+Erzählung nicht widersprechen, da sie sich sonst selber in Gefahr
+gebracht hätten. Die wunderbare Mär verschaffte dem Tiidu an der fremden
+Küste viele Freunde, weil Jeder die wunderbare Schwimmfahrt aus seinem
+eigenen Munde hören wollte. Da mußte denn der Bursche aus der Noth eine
+Tugend machen, und den Leuten vorlügen, daß es puffte. Es wurde ihm mehr
+als ein Dienst angeboten, allein er lehnte alle ab, weil er fürchtete,
+als Lügner dazustehen, sobald sein Herr eine Probe seiner Schwimmkunst
+zu sehen wünschte. Lieber wollte er gerades Wegs in die Königsstadt
+gehen, wo weder er noch seine Schwimmkraft bekannt war, dort hoffte er
+am leichtesten einen Dienst zu finden, der ihn zum reichen Manne machte.
+Als er nach einigen Tagen ankam, schwindelte ihm der Kopf bei dem
+Anblicke der Pracht und Herrlichkeit, die überall verbreitet waren. Für
+zwei Augen war es schlechterdings unmöglich, das Alles ordentlich zu
+betrachten, dazu hätte er einiger Dutzend Augen bedurft. Je mehr er sich
+in die Anschauung dieses Glanzes und Reichthums vertiefte, desto
+kläglicher kam ihm seine eigene Armuth vor. Noch unerträglicher war es
+ihm, daß keiner von den stolzen Leuten seiner achtete, sondern daß man
+ihn wie einen Lump aus dem Wege stieß, als hätte er gar nicht das
+Recht, sich in den Strahlen von Gottes Sonne zu wärmen. -- Seinen
+Dudelsack wagte er gar nicht sehen zu lassen, denn er dachte mit Zagen:
+wer von diesen stolzen Leuten wird auf meinen armen Dudelsack hören! --
+So irrte er viele Tage in den Straßen der Stadt umher und trachtete nach
+einem Dienste, fand aber keinen, bei dem er hoffen konnte, in kurzer
+Zeit reich zu werden. Endlich, als er schon die Flügel hängen ließ, fand
+er einen Dienst im Hause eines reichen Kaufmannes, dessen Koch gerade
+einen Küchenjungen brauchte. Hier konnte nun Tiidu den Reichthum von
+Land Kungla gründlich kennen lernen, der in der That größer war, als man
+sich vorstellen konnte. Alle Geräthe für's tägliche Leben, die bei uns
+zu Lande aus Eisen, Kupfer, Zinn, Holz oder Lehm verfertigt werden,
+waren hier von reinem Silber oder Gold; in silbernen Grapen wurden die
+Speisen gekocht, in silbernen Pfannen wurden die Kuchen gebacken, und in
+goldenen Schalen und goldenen Schüsseln wurde aufgetragen. Selbst die
+Schweine fraßen nicht aus Trögen, sondern aus silbernen Kübeln. Man kann
+sich hiernach leicht denken, daß es dem Tiidu an nichts gebrach, er
+führte als Küchenjunge ein Herrenleben; aber sein habsüchtiges Gemüth
+hatte doch keine Ruhe. Unaufhörlich quälte ihn der eine Gedanke: was
+hilft mir all' der Reichthum, den ich vor Augen habe, wenn die Schätze
+nicht mein sind; mein Dienst als Küchenjunge kann mich doch niemals zum
+reichen Manne machen. Und doch betrug sein Monatslohn mehr als bei uns
+ein Jahreslohn, so daß er durch Ansammlung desselben nach Jahren, wenn
+nicht reich, doch wohlhabend geworden wäre.
+
+Er hatte schon ein Paar Jahre als Küchenjunge im Dienst gestanden, und
+ein gut Stück Geld zurückgelegt, aber das hatte seine Geldgier nur noch
+erhöht. Er war zugleich ein solcher Filz geworden, daß er sich keinen
+neuen Anzug besorgen mochte, doch mußte er es thun auf Geheiß des Herrn,
+der schlechte Kleider in seinem Hause nicht duldete. Als der Kaufherr
+dann einen großen Kindtaufschmaus gab, ließ er allen seinen Dienern auf
+seine Kosten schöne Anzüge machen. Den ersten Sonntag nach dieser
+Kindtaufe legte Tiidu seinen neuen stattlichen Anzug an, und ging zur
+Stadt hinaus in einen Lustgarten, in welchem sich an Sonntagen die
+Einwohner der Stadt zu ergehen pflegten. Als er eine Zeit lang unter den
+fremden Leuten gewandelt war, von denen er Niemand kannte, und Niemand
+ihn, traf sein Blick zufällig auf eine Gestalt, die ihm wie bekannt
+vorkam, obwohl er sich nicht darauf besinnen konnte, wo er den Mann
+früher gesehen habe. Während er sein Gedächtniß noch anstrengte, verlor
+sich der vermeintliche Bekannte in dem Gewühl. Tiidu strich hin und her,
+und spähte nach ihm aus, aber alles Suchen war umsonst. Erst gegen Abend
+sah er seinen Mann unter einer mächtigen Linde allein auf einer
+Rasenbank sitzen. Tiidu war im Zweifel, ob er hinzu treten oder warten
+sollte, bis der fremde Mann ihn erblicken und sich merken lassen würde,
+ob er ihn, den Tiidu, kenne oder nicht? Ein paar Mal hustete Tiidu, aber
+der fremde Mann beachtete es nicht, sondern heftete wie in tiefen
+Gedanken die Augen auf den Boden. Ich trete näher --dachte Tiidu -- und
+wecke ihn aus seinen Gedanken, dann wird es sich schon zeigen, ob wir
+einander kennen oder nicht. Sachte vorwärts gehend, hielt er den Blick
+scharf auf den fremden Mann gerichtet. Jetzt schlug dieser die Augen auf
+und es war klar, daß er ihn sogleich erkannte, denn er stand auf, ging
+auf Tiidu zu und reichte ihm zum Gruße die Hand, dann fragte er: »Wo
+hast du deinen Dudelsack gelassen?« Da erst überzeugte sich Tiidu, daß
+der Fragende derselbe alte Mann war, der ihm früher empfohlen hatte,
+Dudelsackpfeifer zu werden. Er ging nun mit dem Alten aus der Volksmenge
+heraus an einen abgelegenen Ort, und erzählte ihm seine bisherigen
+Erlebnisse. Der Alte runzelte die Stirn, schüttelte wiederholt den Kopf
+und sagte, als Tiidu seinen Bericht beendigt hatte: »Ein Thor bist du
+und ein Thor bleibst du! Was war das für ein verrückter Einfall, daß du
+den Dudelsack aufgabst und Küchenjunge wurdest? Mit dem Dudelsack
+hättest du hier in einem Tage mehr verdienen können, als durch deinen
+Dienst in einem halben Jahre. Eile nach Hause, hole deinen Dudelsack her
+und blase, so wirst du mit eigenen Augen sehen, daß ich die Wahrheit
+gesagt habe.« Tiidu sträubte sich freilich, weil er das Gespötte der
+stolzen Leute fürchtete, auch meinte er, er habe in der langen Zeit das
+Spielen verlernt. Aber der Alte ließ nicht ab, sondern setzte dem Tiidu
+so lange zu, bis er nach Hause ging und seinen Dudelsack herbrachte. Der
+Alte hatte so lange unter der Linde gesessen und gewartet; als Tiidu mit
+dem Dudelsack wieder kam, sagte er: »Setze dich neben mich auf die
+Rasenbank und fang' an zu blasen, dann wirst du schon sehen, wie sich
+die Leute um uns her versammeln werden.« Tiidu that es, wenn auch mit
+Widerstreben -- aber als er anfing zu spielen, kam es ihm vor, als wäre
+heute ein neuer Geist in den Dudelsack gefahren, denn noch niemals hatte
+er dem Instrumente einen so schönen Ton entlocken können. Bald sammelte
+sich eine dichte Menge um die Linde, angezogen von dem schönen Spiele.
+Je zahlreicher die Menge wurde, desto lieblicher ertönten die Weisen des
+Dudelsacks. Als die Leute eine Zeitlang zugehört hatten, nahm der Alte
+seinen Hut ab und trat unter sie, um die Gaben für den Spieler
+einzusammeln. Da wurden von allen Seiten Thaler, halbe Thaler und kleine
+Silbermünzen hineingeworfen, dann und wann fiel auch ein blinkendes
+Goldstück in den Hut. Tiidu spielte dann noch zum Danke manche schöne
+Weise auf, ehe er sich anschickte, nach Hause zu gehen. Als er durch den
+dichten Haufen schritt, hörte er vielfach sagen: »Kunstreicher Meister!
+komm nächsten Sonntag wieder, uns zu erfreuen!« --Als sie an's Thor
+gekommen waren, sagte der Alte: »Nun, was meinst du, ist die heutige
+Arbeit von ein paar Stunden nicht angenehmer, als die Handthierung eines
+Küchenjungen? -- Zum zweitenmale habe ich dir den Weg gezeigt, packe
+nun, wie ein vernünftiger Mann, den Ochsen bei beiden Hörnern, damit das
+Glück dir nicht wieder entschlüpfe! Meine Zeit erlaubt mir nicht, hier
+länger dein Führer zu sein, drum merke dir, was ich sage, und handle
+darnach. Jeden Sonntag Nachmittag setze dich mit deinem Dudelsack unter
+die Linde und blase, daß die Leute sich ergötzen. Kaufe dir aber einen
+Filzhut mit tiefem Boden, und stelle ihn zu deinen Füßen hin, damit die
+Hörer ihre Spenden hineinlegen können. Ruft man dich zu einem Feste, um
+den Dudelsack zu spielen, so bedinge niemals einen Preis, sondern
+versprich mit dem zufrieden zu sein, was man dir freiwillig geben werde.
+Du wirst so von den reichen Bürgern mehr erhalten, als du selbst gewagt
+hättest zu verlangen, und kommt es auch zuweilen vor, daß irgend ein
+Filz dir zu wenig giebt, so wird es dir durch die reichere Gabe der
+Uebrigen zehnfach ersetzt, und du hast noch den Vortheil, daß Niemand
+dich geldgierig nennen darf. Vor allen Dingen hüte dich vor dem Geiz! --
+Vielleicht treffen wir künftig noch einmal wieder zusammen, dann werde
+ich ja hören, wie du meiner Weisung nachgekommen bist. Für dies Mal Gott
+befohlen!« So schieden sie von einander.
+
+Dudelsack-Tiidu war sehr erfreut, als er zu Hause sein Geld zählte und
+fand, daß ihm das Spiel von einigen Stunden mehr eingebracht hatte, als
+sein Dienst in einem halben Jahre. Da dauerte ihn die falsch angewandte
+Zeit; doch konnte er seinen Dienst nicht sogleich verlassen, weil er
+erst einen Stellvertreter schaffen mußte. Nach einigen Tagen fand er
+einen solchen und wurde entlassen. Dann ließ er sich schöne farbige
+Kleider machen, band einen Gürtel mit silberner Schnalle um die Hüften,
+und ging den nächsten Sonntag Nachmittag unter die Linde, um den
+Dudelsack zu blasen. Es hatten sich noch viel mehr Leute eingefunden,
+als das erste Mal, denn das Gerücht von dem geschickten Dudelsackpfeifer
+hatte sich in der Stadt verbreitet, und Jedermann wünschte ihn zu hören.
+Als er am Abend sein Geld zählte, fand er fast doppelt so viel als am
+ersten Sonntage. Ebenso günstig war ihm das Glück fast jeden Sonntag, so
+daß er sich im Herbst eine Wohnung in einem stattlichen Gasthof miethen
+konnte. An den Abenden, wo die Bürger den Gasthof besuchten, wurde der
+geschickte Meister oft gebeten, die Gäste durch seinen Dudelsack zu
+ergötzen, wofür er dann doppelte Bezahlung erhielt, einmal vom Wirth,
+und sodann noch von den Gästen. Als der Wirth später sah, wie der
+Künstler jeden Abend immer mehr Gäste in's Haus zog, gab er ihm Kost und
+Wohnung frei. Gegen den Frühling ließ Tiidu an seinen Dudelsack silberne
+Röhren machen, die von innen und von außen vergoldet waren, so daß sie
+in der Sonne und am Feuer funkelten. Als es wieder Sommer wurde, kamen
+auch die Städter wieder zu ihrer Erholung in's Freie, und Sonntag für
+Sonntag spielte Tiidu und sah seinen Reichthum anwachsen. Da kam
+einstmals auch der König, um die Lustbarkeit des Volkes mit anzusehen,
+und hörte schon von fern das schöne Dudelsackspiel. Der König ließ den
+Spielenden zu sich rufen, und schenkte ihm einen Beutel voll Gold. Als
+die andern Großen das sahen, ließen sie einer nach dem andern den
+Dudelsackpfeifer in ihre Häuser kommen, wo er ihnen vorspielen mußte.
+Tiidu beobachtete pünktlich die Vorschrift des Alten, indem er sich nie
+einen Lohn ausbedang, sondern Jedem überließ, nach Gutbefinden zu geben,
+und es fand sich, daß er fast immer viel mehr erhielt, als er selber zu
+fordern gewagt hätte.
+
+Nach einigen Jahren war Dudelsack-Tiidu im Lande Kungla zum reichen
+Manne geworden, und beschloß nun, in seine Heimath zurückzukehren, um
+sich dort ein Gut zu kaufen, und das Blasen aufzugeben. Die Geschenke
+des Königs und der anderen hohen Herren hatten sein Vermögen
+beträchtlich vergrößert, und des alten Mannes Prophezeiung wahr
+gemacht. Er brauchte jetzt nicht mehr heimlich in einen Schiffswinkel zu
+kriechen, sondern war reich genug, um für sich allein ein Schiff zu
+miethen, das ihn mit allen seinen Schätzen in's Vaterland führen sollte.
+Er hatte sich, wie das im Lande Kungla üblich war, viele goldene und
+silberne Geräthe gekauft, welche jetzt in Kisten gepackt und an Bord
+gebracht wurden; wieder andere Kisten waren mit baarem Gelde angefüllt.
+Zuletzt bestieg der Herr dieser Schätze selbst das Schiff, und dieses
+segelte ab. Ein günstiger frischer Wind trieb sie bald auf die hohe See,
+wo nur Himmel und Wasser zu sehen waren. Zur Nacht aber drehte sich der
+Wind und trieb das Schiff gegen Süden. Von Stunde zu Stunde wuchs die
+Gewalt des Sturms, und der Schiffer konnte keinen festen Curs mehr
+halten, weil Wind und Wellen jetzt die einzigen Herren des Schiffes
+waren, nach deren Willen es sich bewegen mußte. Als das Schiff einen Tag
+und zwei Nächte auf diese Weise hin und hergeschleudert worden, krachte
+der Kiel gegen einen Felsen, und das Schiff begann zu sinken. Die Böte
+wurden in's Meer gelassen, damit die Menschen dem Tode entrinnen möchten
+-- allein was konnte gegen die tobenden Wellen Stand halten? Bald warf
+eine hohe Welle das kleine Boot um, in welchem Tiidu mit drei Matrosen
+saß, und das feuchte Bett umschloß die Männer. Zum Glück schwamm nicht
+weit von Tiidu eine Ruderbank; es gelang ihm, sie zu ergreifen und sich
+mit Hülfe derselben auf der Oberfläche zu halten. Als darauf der Wind
+sich legte und das Wetter sich aufklärte, sah er das Ufer, das gar nicht
+weit zu sein schien. Er nahm seine letzte Kraft zusammen und suchte das
+Ufer zu erreichen, fand aber, daß es viel weiter entfernt war, als es
+den Anschein gehabt hatte. Auch hätte ihn die eigene Kraft nicht mehr
+an's Ziel gebracht, nur mit Hülfe der Brandung, die ihn vorwärts
+schleuderte, erreichte er endlich die Küste. Ganz erschöpft, mehr todt
+als lebendig, sank er auf das felsige Ufer und schlief ein. Wie lange
+sein Schlaf gedauert hatte, darüber konnte er sich keine Rechenschaft
+geben, er hatte aber die traumhafte Erinnerung, als habe jener alte Mann
+ihn besucht und ihm aus seinem Schlauche zu trinken gegeben, was ihn
+wunderbar gestärkt und ihm gleichsam neue Lebensgeister eingeflößt habe.
+Als er nach dem langen Schlafe vollends munter wurde, fand er sich
+allein auf dem bemoosten Felsen, und sah nun wohl, daß die Ankunft des
+Alten nur ein Traum gewesen war. Doch hatte der Schlaf ihn wieder so
+weit gestärkt, daß er sich ohne Mühe erheben und eine Wanderung antreten
+konnte, auf welcher er Menschen zu finden hoffte. Er ging eine Weile am
+Ufer entlang, und spähte nach einem Fußsteige oder sonst einer Spur, die
+zu Menschen leiten könnte. Aber soweit sein Auge reichte, war von
+Fußstapfen nichts zu entdecken. Moos, Sand und Rasen hatten ein so
+friedliches Ansehen, als ob noch niemals die Füße von Menschen oder
+Thieren darüber hin geschritten wären. Was jetzt beginnen? Er mochte
+überlegen, soviel er wollte, er wußte nichts Besseres, als der Nase nach
+weiter zu gehen, in der Hoffnung, daß ein glücklicher Zufall ihn einen
+Weg finden lasse, der zu Menschen führe. Eine halbe Meile weiter fand er
+schöne üppige Laubwälder, aber die Bäume hatten alle ein fremdartiges
+Ansehen, und nicht ein einziger war ihm bekannt. Im Walde fand er weder
+Fußtritte von Herden noch von Menschen, sondern je weiter er vordrang,
+desto dichter wurde der Wald, und das Weiterkommen wurde immer
+schwieriger. Er setzte sich nieder, um seinen müden Beinen Ruhe zu
+gönnen. Da wurde ihm plötzlich das Herz schwer, Wehmuth überfiel ihn und
+bittre Reue; zum ersten Male kam ihm der Gedanke, er habe unrecht gethan
+ohne Wissen und Willen der Eltern von zu Hause fortzulaufen, die
+Seinigen zu verlassen, und wie ein Landstreicher umher zu schweifen.
+»Wenn ich hier unter wilden Thieren umkomme,« -- schluchzte er -- »so
+wird mir der gebührende Lohn für meinen Leichtsinn. Meinen Schatz, der
+in's Meer sank, würde ich nicht bedauern -- wie gewonnen, so zerronnen!
+wenn mir nur der Dudelsack geblieben wäre, womit ich mein trauerndes
+Herz beschwichtigen und meine Sorgenlast erleichtern könnte!« Als er
+weiter schritt, erblickte er einen Apfelbaum mit seinem wohlbekannten
+Laube, und durch das Laub schimmerten große rothe Aepfel, welche seine
+Eßlust reizten. Er eilte hin und -- welch' ein Glück! noch nie hatte er
+schmackhafteres Obst gekostet. Er aß sich satt und legte sich dann unter
+den Apfelbaum zur Ruhe, indem er dachte: wenn es hier viele solche
+Apfelbäume giebt, so ist mir vor Hunger nicht bange. Als er erwachte,
+verzehrte er noch einige Aepfel, stopfte sich dann Taschen und Rockbusen
+voll und wanderte weiter. Das dunkle Waldesdickicht zwang ihn langsam zu
+gehen, und machte an vielen Stellen das Durchkommen schwierig, so daß
+die Nacht hereinbrach, ohne daß freies Feld oder Menschenspuren
+sichtbar wurden. Tiidu streckte sich auf das weiche Moos und schlief,
+als ob er auf den schönsten Kissen läge. Am andern Morgen frühstückte er
+einige Aepfel, und suchte dann mit frischer Kraft weiter vorzudringen,
+bis er nach einiger Zeit an eine Lichtung kam, die wie eine kleine Insel
+mitten im Walde lag. Ein kleiner Bach, der aus einer nahen Quelle
+entsprang, ergoß sein klares frisches Wasser über die Lichtung. Als
+Tiidu an den Rand des Baches kam, erblickte er zufällig im Wasser sein
+Bild, was ihn dermaßen erschreckte, daß er einige Schritte zurücksprang
+und an allen Gliedern zitterte wie Espenlaub. Aber auch Beherztere als
+er wären hier wohl erschrocken. Sein Bild im Wasserspiegel zeigte ihm
+nämlich, daß seine Nasenspitze wie der Fleischzapfen eines Puters aussah
+und bis zum Nabel reichte. Die tastende Hand bestätigte, was das Auge
+gesehen. Was jetzt beginnen? So konnte er schlechterdings nicht unter
+die Leute gehen, die ihn wohl gar wie ein wildes Thier todt geschlagen
+hätten. War es nun das Gefühl der Angst, was die Nase zusehends wachsen
+ließ, oder reckte sie sich wirklich immer weiter aus -- genug es war dem
+Eigenthümer der Nase so gräulich zu Muthe, als ob sie immer länger und
+länger würde, so daß er keinen Schritt thun konnte, ohne zu fürchten,
+seine Nase würde an die Beine stoßen. Er setzte sich nieder und beklagte
+sein Unglück bitterlich: »O wenn nur jetzt Niemand käme, und mich so
+fände! Lieber will ich im Walde verhungern, als mich mit einer so
+abscheulichen Nase zeigen.« Hätte er jetzt schon gewußt, was er später
+erfuhr, daß diese Waldinsel unbewohnt war, so hätte er sich darüber
+trösten können. Je mehr ihn aber jetzt sein Unglück verdroß, desto
+dicker schwoll seine Nase an, und desto bläulicher wurde sie, wie bei
+einem zornigen Puterhahn. Da sieht er nahebei an einem Strauche sehr
+schöne Nüsse, und es gelüstet ihn, sich damit zu laben; er pflückt eine
+Handvoll, beißt eine Nuß auf und findet einen süßen Kern in der Schale.
+Er verschluckt noch einige Kerne und bemerkt zu seinem Erstaunen, daß
+die scheußliche Länge seiner Nase sichtlich abnimmt. Nach kurzer Zeit
+erblickt er im Wasser seine Nasenspitze wieder an ihrer natürlichen
+Stelle, ja noch etwas höher über dem Munde, als sie vorher stand. Jetzt
+löste sich sein Kummer in Frohlocken auf, und er verfiel darauf, den
+wunderbaren Vorfall näher zu ergründen, um zu erfahren, was denn
+eigentlich seine Nase erst lang und dann wieder kurz gemacht habe.
+Sollten es die schönen Aepfel gewesen sein -- fragte er sich in
+Gedanken, nahm einen Apfel aus der Tasche, und begann davon zu essen.
+Sowie er ein Stück gekaut und verschluckt hat, nimmt er im Wasser
+deutlich wahr, wie die Nasenspitze sich zusehends in die Länge dehnt.
+Spaßes halber ißt er den Apfel ganz auf, und findet jetzt die Nase
+spannenlang; dann nimmt er einige Nußkerne, zerkaut und verschluckt sie,
+und sieh', o Wunder! die lange Nase schrumpft zusammen, bis sie auf ihr
+natürliches Maaß zurückgegangen ist. Jetzt wußte der Mann, woran er war.
+Er denkt: was ich für ein großes Unglück hielt, kann mir vielleicht noch
+Glück bringen, wenn ich wieder unter Menschen kommen sollte; pflückt
+eine Tasche voll Nüsse und eilt, in seine eigenen Fußstapfen tretend,
+zurück, um den Baum mit den nasenvergrößernden Aepfeln aufzusuchen. Da
+hier nun keine anderen Spuren liefen, als die, welche er selbst
+zurückgelassen hatte, fand er den Apfelbaum ohne Mühe wieder. Er schälte
+nun erst einige junge Bäume ab und machte sich aus der Rinde einen Korb,
+den er dann mit Aepfeln füllte. Da aber die Nacht schon hereinbrach,
+wollte er heute nicht weiter gehen, sondern hier sein Nachtlager halten.
+Wiederum hatte er das seltsame Traumgesicht, daß der wohlbekannte Alte
+ihm aus seinem Fäßchen zu trinken gab und ihm den Rath ertheilte, auf
+demselben Wege, den er gekommen, an den Strand zurückzugehen, wo er
+gewiß Hülfe finden würde. Zuletzt hatte der Alte gesagt: »Weil du deinen
+in's Meer gesunkenen Schatz nicht bedauert hast, sondern nur deinen
+Dudelsack, so will ich dir einen neuen zum Andenken verehren.« Am Morgen
+erinnerte er sich seines Traumes; aber wer vermöchte seine Freude und
+sein Glück zu beschreiben, als er den im Traum ihm verheißenen Dudelsack
+neben dem Korbe am Boden liegen sah. Tiidu nahm den Dudelsack und begann
+nach Herzenslust zu blasen, daß der Wald davon wiederhallte. Nachdem er
+sich satt gespielt hatte, nahm er den Weg unter die Füße und schlug die
+Richtung nach der See ein.
+
+Es war schon etwas über Mittag, als er die Küste erreichte, in deren
+Nähe er ein Schiff liegen sah, an welchem das Schiffsvolk eben
+Ausbesserungen vornahm. Die Leute wunderten sich, auf dieser Insel, die
+sie für unbewohnt gehalten, einen Menschen zu erblicken. Der Schiffer
+ließ ein Boot herunter, und schickte mit demselben zwei Männer an's
+Ufer. Tiidu erzählte ihnen sein Unglück, wie das Schiff untergegangen
+sei, und Gottes Gnade ihn wunderbarer Weise aus Todesgefahr errettet
+habe. Der Schiffer versprach ihn unentgeltlich mitzunehmen und nach Land
+Kungla zurückzubringen, wohin das Schiff bestimmt war. Unterwegs
+erfreute Tiidu den Schiffer und das Schifssvolk durch sein schönes
+Spiel; nach einigen Tagen hatten sie die Küste von Land Kungla erreicht.
+Mit nassen Augen dankte Tiidu dem Schiffer, der ihn erlöst hatte, und
+versprach, das Ueberfahrtsgeld redlich nachzuzahlen, sobald es ihm
+wieder gut gehe. Als er nach einigen Tagen wieder in des Königs Stadt
+angekommen war, spielte er gleich den ersten Abend öffentlich, und nahm
+dafür so viel Geld ein, daß er sich neue Kleider nach ausländischem
+Schnitt machen lassen konnte. Darauf that er einige rothe Aepfel in ein
+Körbchen und ging mit seiner Waare an das Thor des Königshauses, wo er
+sie am leichtesten los zu werden hoffte. Es dauerte auch nicht gar
+lange, so kam ein königlicher Diener, kaufte die schönen Aepfel,
+bezahlte mehr als gefordert war, und hieß den Verkäufer am nächsten Tage
+wiederkommen. Tiidu aber machte sich eilig davon, als ob er Feuer in der
+Tasche hätte, und dachte nicht daran, mit seiner Waare wiederzukommen,
+denn er wußte ja recht gut, daß der Genuß der Aepfel ein Wachsen der
+Nasen hervorbringen würde. Er ließ sich dann noch an demselben Tage
+einen andern Anzug machen, und kaufte sich einen langen schwarzen Bart,
+den er sich an's Kinn klebte; dadurch veränderte er sein Aussehen
+dermaßen, daß selbst seine nächsten Bekannten ihn nicht wieder erkannt
+hätten. Daraus nahm er in einem Wirthshause in einer entlegenen Vorstadt
+seine Wohnung und nannte sich einen ausländischen Zauberkünstler, der
+alle Gebrechen zu heilen wisse.
+
+Am andern Tage war die ganze Stadt voll Bestürzung über das Unglück,
+welches sich im Hause des Königs zugetragen hatte. Der König, seine
+Gemahlin und seine Kinder hatten gestern Aepfel genossen, die man von
+einem Fremden gekauft hatte, und waren darnach Alle erkrankt. Worin ihre
+Krankheit bestand, das wurde nicht verrathen. Alle Doctoren, Aerzte und
+Zauberkünstler der Stadt wurden zusammen gerufen, aber keiner konnte
+helfen, weil sie eine solche Krankheit noch niemals bei Menschen gesehen
+hatten. Später verlautete über die Krankheit, es sei ein Nasenübel. Als
+eines Tages alle Aerzte und Zauberkünstler zur Berathung versammelt
+waren, hielten einige es für nothwendig, die überflüssige Verlängerung
+der Nasen wegzuschneiden; aber der König und seine Familie wollten sich
+einer so schmerzhaften Kur nicht unterziehen. Da wurde gemeldet, daß bei
+einem Gastwirth in der Vorstadt ein ausländischer Zauberkünstler sich
+aufhalte, der alle Gebrechen heilen könne. Der König schickte sogleich
+seine mit vier Pferden bespannte Kutsche hin, und ließ den
+Zauberkünstler zu sich bescheiden. Tiidu hatte über die halbe Nacht
+daran gearbeitet, sich ganz unkenntlich zu machen, und es war ihm so gut
+gelungen, daß weder von dem Dudelsackpfeifer noch von dem
+Aepfelverkäufer eine Spur nachgeblieben war. Auch seine Ausdrucksweise
+war so gebrochen, daß er Manches erst mit den Fingern andeuten mußte,
+ehe die Andern daraus klug wurden. Als er zum Könige kam, besah er das
+seltsame Gebrechen, nannte es die Puterseuche, und versprach, es ohne
+Schneiden zu curiren. Dem Könige und seiner Gemahlin waren die Nasen
+schon über eine Elle lang gewachsen, und dehnten sich noch immer weiter.
+Dudelsack-Tiidu hatte feines Pulver von seinen Nüssen in eine kleine
+Dose gethan, gab jedem Kranken eine Messerspitze voll ein, und ordnete
+an, daß die Kranken sich in ein finsteres Gemach verfügten, wo sie sich
+zu Bette legen und in Kissen hüllen mußten, damit starker Schweiß
+erfolge, und den Krankheitsstoff zum Körper heraustreibe. Als sie nach
+einigen Stunden wieder an's Licht traten, hatten alle ihre vorigen Nasen
+wieder.
+
+Der König hätte in seiner Freude gern die Hälfte seines Königreiches für
+diese Cur hingegeben, die ihn und die Seinigen von der greulichen
+Nasenkrankheit befreit hatte. Allein durch die Noth, welche
+Dudelsack-Tiidu beim Schiffbruch erlebt hatte, war seine Geldgier
+schwächer geworden, und er verlangte nicht mehr, als hinreichte um sich
+ein Gut zu kaufen, auf welchem er seine Lebenstage friedlich zu
+beendigen wünschte. Der König ließ ihm jedoch eine dreimal größere Summe
+auszahlen, mit welcher Tiidu zum Hafen eilte und ein Schiff bestieg, das
+ihn in seine Heimath zurückbringen sollte. Vor seiner Abfahrt hatte er
+seinen falschen Bart abgenommen, und die fremdartigen Kleider mit
+anderen vertauscht. Dem Schiffer, der ihn von der wüsten Insel gerettet
+hatte, erstattete er das Geld, welches er ihm für die Ueberfahrt
+schuldete. Nachdem er an seiner heimischen Küste gelandet war, begab er
+sich nach seinem Geburtsorte, und fand seinen Vater, zwei Brüder und
+drei Schwestern noch am Leben; die Mutter und drei Brüder waren
+gestorben. Tiidu gab sich den Seinigen nicht eher zu erkennen, als bis
+er das Gut gekauft hatte. Dann ließ er ein prächtiges Gastmahl
+anrichten, und seine ganze Familie dazu einladen. Bei Tische gab er sich
+zu erkennen und sagte: »Ich bin _Tiidu_, euer fauler Sohn und Bruder, der
+zu Nichts zu gebrauchen war, seinen Eltern Kummer machte, und endlich
+heimlich davon lief. Mein Glück war mir holder als ich selbst, und darum
+komme ich jetzt als reicher Mann zurück. Jetzt müsset ihr Alle kommen
+und auf meiner Besitzung wohnen, und der Vater muß bis an seinen Tod in
+meinem Hause bleiben.« -- Später freite er ein tugendsames Mädchen, das
+nichts weiter besaß, als ein hübsches Gesicht und ein gutes Herz. Als er
+am Abend des Hochzeitstages mit seiner jungen Frau das Schlafgemach
+betrat, fand er große Kisten und Kasten vor demselben, welche alle seine
+in's Meer gesunkenen Schätze enthielten. In einem der Kasten lag ein
+Blatt, worauf die Worte geschrieben waren: »Einem guten Sohne, der für
+Eltern und Verwandte sorgt, giebt auch die Meerestiefe den geraubten
+Schatz heraus.« Wer aber der zauberkräftige Alte gewesen, der ihn auf
+den Weg des Glückes geführt, ihn aus der Seegefahr gerettet und Gier und
+Geiz aus seinem Herzen getilgt hatte: das hat er niemals erfahren.
+
+Ob gegenwärtig noch von Dudelsack-Tiidu's Nachkommen Jemand lebt, ist
+mir nicht bekannt, sollte man aber einige von ihnen ausfindig machen,
+dann sind es gewiß so feine Herrschaften, daß bei ihnen weder
+bäuerlicher Rauchgeruch noch Riegenstaub mehr anzutreffen ist.
+
+[Fußnote 85: S. die Anm. 2. zu 8, »Schlaukopf«, S. 102. L]
+
+
+
+
+24. Die aus dem Ei entsprossene Königstochter.
+
+
+Einmal lebte ein König, dessen Gemahlin keine Kinder hatte, was Beide
+sehr bekümmerte, besonders wenn sie sahen, wie niedriger stehende
+Menschen in dieser Hinsicht viel reicher waren als sie selber. Trauriger
+als gewöhnlich war die Königin immer, wenn der König einmal nicht zu
+Hause war; dann saß sie fast immer im Garten unter einer breiten Linde,
+senkte den Kopf und hatte die Augen voll Thränen. Da saß sie auch wieder
+eines Tages, als der König auf einige Wochen verreist war, um die
+Kriegsmacht zu besichtigen, welche an der Grenze des Reiches stand,
+einen drohenden feindlichen Einbruch abzuwehren. Der Königin war das
+Herz so beklommen, als stehe ihr ein unerwartetes Unglück bevor, und
+ihre Augen füllten sich mit bitteren Thränen. Als sie das Antlitz
+emporhob, sah sie ein altes Mütterchen, welches auf Krücken einher
+hinkte, sich an der Quelle bückte, um zu trinken, und nachdem sie ihren
+Durst gestillt hatte, gerade auf die Linde zu humpelte, wo die Königin
+weilte. Das Mütterchen neigte ihr Haupt und sagte: »Nehmt es nicht übel,
+geehrtes hohes Frauchen, daß ich es wage, vor euch zu erscheinen, und
+fürchtet euch nicht vor mir, denn es wäre leicht möglich, daß ich zur
+guten Stunde gekommen bin und euch Glück bringe.« Die Königin
+betrachtete sie zweifelhaft und antwortete: »Du selber scheinst mir an
+Glück keinen Ueberfluß zu haben, was kannst du Andern davon gewähren?«
+Die Alte ließ sich aber nicht irre machen, sondern sagte: »Unter rauher
+Schale steckt oft glattes Holz und süßer Kern. Zeiget mir eure Hand,
+damit ich erfahre, wie es mit euch werden wird.« Die Königin streckte
+ihr die Hand hin, damit die Alte darin lesen könne. Als diese die Linien
+und Striche eine Weile genau betrachtet hatte, ließ sie sich
+folgendermaßen vernehmen: »Euer Herz ist jetzt mit zwei Sorgen beladen,
+einer alten und einer neuen. Die neue Sorge, die euch quält, ist die um
+euren Gemahl, der jetzt weit von euch ist; --aber glaubet meinem Worte,
+er ist gesund und munter und wird binnen zwei Wochen zurück kommen und
+euch frohe Zeitung bringen. Eure alte Sorge aber, welche eurer Hand
+tiefere Striche eingedrückt hat, rührt daher, daß Gott euch keine
+Leibesfrucht geschenkt hat!« Die Königin erröthete und wollte ihre Hand
+aus der Hand der Alten losmachen, aber die Alte bat: »Habt noch ein
+wenig Geduld, so bringen wir Alles auf einmal in's Reine.« Die Königin
+fragte: »Sage mir, Mütterchen, wer du bist, daß du mir aus der
+Handfläche meine Herzensgedanken kund thun kannst?« Die Alte erwiederte:
+»Um meinen Namen ist es hier nicht zu thun, und ebenso wenig darum,
+welche Kraft mir eures Herzens geheime Wünsche kund macht; ich freue
+mich nur, daß es mir vergönnt ist, euch auf die rechte Bahn zu bringen,
+und eures Herzens Kummer zu mindern. Durch Zaubermacht ist euer Leib
+verschlossen, so daß ihr nicht eher Kinder zur Welt bringen könnt, bis
+die Bänder des Verschlusses gelöst sind, und die natürliche
+Beschaffenheit wieder hergestellt ist. Ich kann dies bewirken, jedoch
+nur dann, wenn ihr Alles befolgt, was ich euch sagen werde.« »Alles will
+ich ja gern thun, und dich auch für deine Mühe königlich belohnen, wenn
+du deine Versprechungen wahr machst,« sagte die Königin. -- Die Alte
+stand eine Zeitlang in Gedanken und fuhr dann fort: »Heute über's Jahr
+sollt ihr sehen, daß meine Prophezeiungen eintreffen.« Mit diesen Worten
+zog sie ein in viele Lappen gewickeltes Bündel aus dem Busen, und als
+die Lappen abgenommen waren, kam ein kleines Körbchen von Birkenrinde
+zum Vorschein; sie gab es der Königin und sagte: »In dem Körbchen findet
+ihr ein Vogelei;[86] dieses brütet drei Monate in eurem Schooße aus, bis
+ein lebendiges Püppchen herauskommt, das einem menschlichen Kinde
+gleicht. Das Püppchen legt in einen Wollkorb, und lasset es so lange
+wachsen, bis es die Größe eines neugeborenen Kindes hat; Speise oder
+Trank braucht es nicht, das Körbchen aber muß immer an einem warmen Orte
+stehen. Neun Monate nach der Geburt des Püppchens werdet ihr einen Sohn
+zur Welt bringen. An demselben Tage hat auch das Püppchen die Größe
+eines neugeborenen Kindes erreicht, nehmet es dann heraus, leget es
+neben den neugeborenen Sohn in's Bette und lasset dem Könige melden,
+daß Gott euch Zwillinge geschenkt habe, einen Sohn und eine Tochter. Den
+Sohn säuget an eurer Brust, für die Tochter aber müßt ihr eine Amme
+nehmen. An dem Tage, wo beide Kinder zur Taufe gebracht werden, bittet
+mich, bei der Tochter Pathenstelle zu vertreten. Das macht ihr so: Auf
+dem Boden des Körbchens findet ihr unter der Wolle einen Flederwisch,
+den blaset zum Fenster hinaus, dann erhalte ich augenblicklich die
+Botschaft und komme, bei eurem Töchterchen Gevatter zu stehen. Von dem,
+was euch jetzt begegnet ist, dürft ihr Niemanden etwas sagen.« Ehe noch
+die Königin ein Wort erwiedern konnte, eilte die hinkende Alte davon,
+und nachdem sie zehn Schritte gemacht hatte, war von einer Alten keine
+Spur mehr, sondern statt derselben schritt ein junges Weib in aufrechter
+Haltung so rasch dahin, daß sie mehr zu fliegen als zu gehen schien. Die
+Königin aber konnte sich von ihrer Verwunderung noch nicht erholen, und
+würde Alles für einen Traum gehalten haben, wenn nicht das Körbchen in
+ihrer Hand bezeugt hätte, daß die Sache wirklich vorgefallen war. Sie
+fühlte ihr Herz mit einem Male wunderbar erleichtert. Sie trat in ihr
+Gemach, wickelte das Körbchen, in welchem ein kleines Ei in feiner Wolle
+lag, in seidene Tücher und steckte es in ihren Busen, wie das Mütterchen
+vorgeschrieben hatte. Auch alles Uebrige gelobte sie sich zu erfüllen
+und das Geheimniß zu bewahren.
+
+Gerade als der letzte Tag der zweiten Woche nach dem Besuche der Alten
+zu Ende ging, kehrte der König zurück und rief schon von fern der Frau
+die frohe Nachricht zu: »Mein Heer hat einen vollständigen Sieg davon
+getragen und den Feind mit blutigen Köpfen heimgeschickt, so daß unsere
+Unterthanen für's erste Ruhe haben werden.« So war die erste
+Prophezeiung der Alten vollständig eingetroffen, und dadurch befestigte
+sich im Herzen der Königin die Hoffnung, daß auch die übrigen
+Prophezeiungen in Erfüllung gehen würden. Sie hütete das Körbchen mit
+dem Ei in ihrem Busen wie ein Kleinod, und ließ ein goldenes Kästchen
+machen, in welches sie das Körbchen legte, damit das Eichen nicht etwa
+beschädigt würde. Nach drei Monaten schlüpfte aus dem Ei ein lebendiges
+Püppchen von halber Fingerlänge, welches der Vorschrift gemäß in den
+Wollkorb gelegt wurde, um zu wachsen. So war auch die zweite
+Prophezeiung wahr geworden, und die Königin harrte nun mit Spannung der
+Zeit, wo ihr Herz zum ersten Male Mutterfreuden schmecken sollte. Und in
+der That brachte sie nach Jahresfrist ein Söhnlein zur Welt, wie das
+alte Mütterchen vorhergesagt hatte. Da nahm sie das Mägdlein aus dem
+Wollkasten, legte es neben den Sohn in die Wiege, und ließ dem Könige
+sagen, daß sie Zwillinge geboren habe, einen Sohn und eine Tochter. Die
+Freude des Königs und seiner Unterthanen kannte keine Grenzen. -- Alle
+glaubten fest daran, daß die Königin mit Zwillingen niedergekommen sei.
+An dem Tage, wo die Kinder getauft werden sollten, öffnete die Königin
+ein wenig das Fenster und ließ den Flederwisch fliegen, um die
+Taufmutter für die Tochter herbeizuschaffen, denn sie war überzeugt, die
+Gevatterin würde zur rechten Zeit da sein. Als die eingeladenen
+Taufgäste schon alle beisammen waren, fuhr eine prächtige Kutsche mit
+sechs dotterfarbigen Rossen vor, und aus der Kutsche stieg eine junge
+Frau in rosenrothen goldgestickten seidenen Gewändern, die einen Glanz
+verbreiteten, der mit dem Glanze der Sonne wetteiferte; das Antlitz
+hatte sie mit einem feinen Schleier verhüllt. Als sie eintrat, nahm sie
+den Schleier ab, und Alle mußten staunend bekennen, daß sie in ihrem
+Leben noch keine schönere Jungfrau gesehen hätten. Die schöne Jungfrau
+nahm nun das Töchterchen auf ihre Arme und trug es zur Taufe, in welcher
+dem Kinde der Name _Dotterine_ beigelegt wurde, was freilich Niemanden
+verständlich war, als der Königin, da ja das Kind wie ein Vogeljunges
+aus einem Eidotter geboren war. Taufvater des Sohnes war ein vornehmer
+Herr, und das Knäblein erhielt den Namen _Willem_. Nach vollzogener Taufe
+ließ sich die Taufmutter von der Königin das Körbchen mit den
+Eierschalen geben, legte das Kind in die Wiege und sagte heimlich zur
+Königin: »So lange die Kleine in der Wiege schläft, muß das Körbchen
+neben ihr liegen, damit ihr nichts Uebles zustoßen kann, denn in dem
+Körbchen ruht ihr Glück. Darum hütet diesen Schatz wie euren Augapfel,
+und schärfet auch eurem Töchterchen, wenn es anfängt zu begreifen, ein,
+daß es dieses unscheinbare Ding sorgfältig in Acht nehmen muß.« Sie
+sprach dann noch Manches mit der Mutter über die Erziehung ihrer Pathe,
+küßte diese drei Mal, nahm Abschied, stieg in die Kutsche und fuhr
+davon. Niemand wußte, woher sie gekommen war und wohin sie ging; auch
+die Königin gab auf Befragen keinen weiteren Bescheid als: es ist eine
+mir bekannte Königstochter aus fernem Lande.
+
+Die Kinder gediehen fröhlich, Willem bei der Muttermilch und Dotterine
+an der Brust der Amme. Diese liebte das Mägdlein so zärtlich, als wäre
+es ihr leibliches Kind gewesen, und die Königin behielt sie deßhalb nach
+der Entwöhnung als Kinderwärterin. Die kleine Dotterine wurde von Tage
+zu Tage hübscher, so daß die älteren Leute meinten, sie würde einmal
+ihrer Taufmutter ähnlich werden. Die Amme hatte zuweilen bemerkt, daß in
+der Nacht, wenn Alles schlief, eine fremde schöne Frau erschien, um den
+Säugling zu betrachten; als sie dies der Königin entdeckte, schärfte ihr
+diese ein, gegen Niemanden von dem nächtlichen Gaste etwas verlauten zu
+lassen. Als die Zwillinge zwei Jahr alt waren, wurde die Königin
+plötzlich schwer krank; zwar wurden Aerzte von nah und fern
+herbeigerufen, aber sie konnten nicht helfen, denn für den Tod ist kein
+Kraut gewachsen. Die Königin fühlte selbst, daß sie von Stunde zu Stunde
+dem Grabe immer näher kam, und ließ deßhalb die Wärterin und vormalige
+Amme der Dotterine rufen. Ihr, als der treuesten ihrer Dienerinnen,
+übergab sie das Glückskörbchen mit den Eierschalen und schärfte ihr ein,
+das verwunderliche Ding sorgfältig in Acht zu nehmen. »Wenn mein
+Töchterchen,« so sagte die Königin, »zehn Jahr alt ist, dann händige ihr
+das Kleinod ein, und ermahne sie, es zu hüten, weil es das Glück ihrer
+Zukunft birgt. Um meinen Sohn sorge ich nicht, ihn, als des Reiches
+Erben, wird der König unter seine Obhut nehmen.« Die Wärterin mußte ihr
+dann eidlich versprechen, das Geheimniß vor jedermann zu bewahren.
+Darauf ließ sie den König an ihr Bett rufen und bat ihn, er möge die
+gewesene Amme Dotterinen's ihr als Wärterin und Dienerin lassen, so
+lange als Dotterine es wünschen würde. Der König versprach es; noch
+denselben Abend gab seine Gemahlin ihren Geist auf.
+
+Nach einigen Jahren freite der verwittwete König wieder, und brachte
+eine junge Frau in's Haus, die sich aus dem gealterten Gemahl nichts
+machte, sondern ihn nur aus Ehrgeiz genommen hatte. Die Kinder der
+ersten Frau konnte sie nicht vor Augen sehen, weßhalb der König sie an
+einem abgesonderten Orte aufziehen ließ, wo Dotterinen's frühere Amme
+mütterlich für sie sorgte. Kamen die Kinder einmal zufällig der
+Stiefmutter zu Gesicht, so stieß sie dieselben wie junge Hunde mit dem
+Fuße fort, so daß die Kinder sie scheuten wie das Feuer. Als Dotterine
+das Alter von zehn Jahren erreicht hatte, händigte ihr die Amme das
+Pathengeschenk ein, und ermahnte sie, dasselbe wohl in Acht zu nehmen.
+Da das Geschenk aber dem Kinde so gar unansehnlich vorkam, so gab es
+nicht viel darauf, legte es zu den übrigen von der Mutter geerbten
+Sachen in den Kasten, und dachte nicht weiter daran. Darüber waren
+wieder ein Paar Jahre hingegangen, als eines Tages, da der König sich
+entfernt hatte, die Stiefmutter Dotterine im Garten unter einer Linde
+sitzen fand: wie ein Habicht fuhr sie auf das Kind los, riß es an den
+Ohren und schlug es, daß Blut aus Mund und Nase floß. Weinend lief das
+Mädchen in ihr Gemach, und als sie die Amme dort nicht fand, fiel ihr
+mit einem Male das Pathengeschenk ein. Sie nahm es aus dem Kasten und
+wollte nun zu ihrer Zerstreuung sehen, was denn wohl darin wäre. Aber
+sie fand im Körbchen keinen größeren Schatz als eine Handvoll feine
+Schafwolle und ein paar leere Eierschalen. Unter der Wolle auf dem
+Grunde des Körbchens lag ein Flederwisch. Als nun das Mädchen am
+geöffneten Fenster die wertlosen Sachen betrachtete, verursachte es
+einen Luftzug, der den Flederwisch fort blies. Augenblicklich stand eine
+fremde schöne Frau neben Dotterinen, streichelte ihr Kopf und Wangen und
+sagte freundlich: »Fürchte dich nicht, liebes Kind, ich bin deine
+Taufmutter, und bin hergekommen, dich zu sehen. Deine vom Weinen
+angeschwollenen Augen sagen mir, daß du traurig bist. Ich weiß, daß das
+Leben, welches du unter dem Joche deiner Stiefmutter führst, nicht
+leicht ist, allein halte aus und bleibe brav in allen Anfechtungen, dann
+werden einst bessere Tage für dich anbrechen. Wenn du erwachsen bist,
+hat deine Stiefmutter keine Gewalt mehr über dich, und eben so wenig
+können andere böse Menschen dir schaden, wenn du dein Körbchen nicht
+verloren gehen lässest; auch die Eierschalen darfst du nicht abhanden
+kommen lassen, zu rechter Zeit werden sie sich wieder zu einem Eichen
+zusammenfügen, und dann wird dein Glück erblühen. Nähe dir ein seidenes
+Säckchen, stecke das Körbchen hinein und verwahre es Tag und Nacht im
+Busen, so können dir weder deine Stiefmutter noch andere Menschen etwas
+Böses anhaben. Sollte dir aber irgend etwas zustoßen, wobei du ohne
+meinen Rath nicht durchkommen zu können glaubst, so nimm den Flederwisch
+aus dem Körbchen und blase ihn in's Freie; dann werde ich augenblicklich
+da sein, dir zu helfen. Komm jetzt in den Garten, da können wir uns
+unter der Linde weiter unterhalten, ohne daß ein Anderer es hört.« Unter
+der Linde setzten sie sich auf eine Rasenbank und die Taufmutter wußte
+der Kleinen durch anmuthiges Gespräch die Zeit so gut zu verkürzen, daß
+sie nicht merkte, wie die Sonne schon längst untergegangen war und die
+Nacht hereinbrach. Da sagte die Taufmutter: »Reiche mir das Körbchen,
+ich will etwas Abendbrot besorgen, damit du nicht mit leerem Magen
+schlafen zu gehen brauchst.« Sie sprach dann heimliche Worte über das
+Körbchen, worauf ein Tisch mit wohlschmeckenden Speisen aus dem Boden
+stieg. Beide aßen sich satt, dann begleitete die Taufmutter Dotterinen
+wieder zum Hause des Königs, und lehrte ihr während dieses Ganges die
+geheimen Worte, welche sie dem Körbchen zuflüstern müsse, wenn sie etwas
+zu begehren hätte. Seltsam war es, daß von da an die Stiefmutter ihrer
+Stieftochter kein böses Wort mehr gab, sondern fast immer freundlich
+gegen sie war.
+
+Nach einigen Jahren war Dotterine zur reifen Jungfrau herangewachsen,
+und ihre Schönheit und Wohlgestalt war so blendend, daß man glaubte, es
+gebe ihres Gleichen nicht auf der Welt. Da brach ein schwerer Krieg aus,
+der von Tag zu Tage schlimmer wurde, bis zuletzt der Feind vor die
+Königsstadt zog und sie mit Heeresmacht einschloß, so daß keine Seele
+heraus noch herein kommen konnte. Der Hunger begann die Einwohner zu
+quälen, und auch in des Königs Hause drohte binnen wenigen Tagen der
+Mundvorrath auszugehen. -- Da ließ Dotterine eines Tages ihren
+Flederwisch fliegen, und siehe da! augenblicklich war die Taufmutter bei
+ihr. Als die Königstochter ihr die Noth und das Elend geklagt hatte,
+sagte die Taufmutter: »Dich, liebes Kind, kann ich wohl aus dieser
+Gefahr erretten, für die andern aber reicht meine Hülfe nicht aus, sie
+müssen selber sehen, wie sie durchkommen.« Darauf nahm sie Dotterinen
+bei der Hand und führte sie aus der Stadt mitten durch das Heer der
+Feinde, deren Augen sie so verblendet hatte, daß Niemand die Flüchtlinge
+sehen konnte. Am folgenden Tage fiel die Stadt in die Hand der Feinde,
+und der König mit seinem ganzen Hause wurde gefangen genommen, sein Sohn
+Willem aber war glücklich entronnen. Die Königin hatte durch einen
+feindlichen Speer den Tod gefunden. Für Dotterine hatte die Taufmutter
+Bauernkleider besorgt, und ihr Antlitz so verändert, daß Niemand sie
+erkennen konnte. »Wenn einst wieder eine bessere Zeit kommt,« sagte die
+Taufmutter, »und du dich sehnst, in deiner früheren Gestalt vor die
+Leute zu treten, dann flüstere dem Körbchen die geheimen Worte zu und
+gebiete ihm, dich in deine eigene Gestalt zurück zu verwandeln; und es
+wird so geschehen. Jetzt ertrage eine Zeitlang geduldig schwere Tage,
+bis die Lage sich bessert.« Scheidend ermahnte sie noch das Mädchen, das
+Körbchen gut in Acht zu nehmen, und entfernte sich dann. Dotterine
+wanderte mehrere Tage von einem Orte zum andern umher, da aber der Feind
+die ganze Umgegend verwüstet hatte, so fand sie anfangs weder Obdach
+noch Dienst. Zwar bot ihr das Körbchen ihre tägliche Nahrung, aber sie
+wollte doch nicht so auf eigene Hand weiter leben, und nahm deßhalb mit
+Freuden einen Dienst als Magd in einem Bauerhofe an, wo sie so lange zu
+bleiben gedachte, bis die Dinge sich wenden würden. Anfangs wurde die
+ungewohnte grobe Arbeit Dotterinen sehr schwer, weil sie sich eben noch
+niemals damit abgegeben hatte. Aber war es nun, daß ihre Gliedmaßen
+sich wirklich so schnell abhärteten, oder daß das Wunderkörbchen ihr
+heimlich half -- nach drei Tagen ging ihr Alles so gut von der Hand, als
+wäre sie von Kindesbeinen an dabei aufgewachsen. An ihr wurde das alte
+Wort zu Schanden, welches sagt: »Man kann wohl aus einem Bauern eine
+Herrschaft, aber aus einer Herrschaft keinen Bauern machen.« Da traf es
+sich, daß eines Tages eine Edelfrau durchs Dorf fuhr, als Dotterine
+gerade auf dem Hofe Holzgefäße scheuerte. Des Mädchens flinkes Thun und
+anmuthiges Wesen fesselte die Frau; sie ließ halten, rief das Mädchen
+heran und fragte: »Hast du nicht Lust bei mir auf dem Gute in Dienst zu
+treten?« »Gern,« antwortete die Königstochter, »wenn meine jetzige
+Brotherrschaft mir Erlaubniß giebt.« Die Frau versprach die Sache mit
+dem Wirthe in Ordnung zu bringen, ließ das Mädchen den Sitz hinter der
+Kutsche einnehmen und fuhr mit ihr auf's Gut. Hier hatte es Dotterine
+wieder leichter, denn ihre ganze Arbeit bestand darin, die Zimmer
+aufzuräumen und der Frau und den Fräulein beim Ankleiden behülflich zu
+sein. Nach einem halben Jahre kam die fröhliche Kunde, daß des alten
+Königs Sohn, der den Feinden glücklich entkommen war, in der Fremde ein
+Heer gesammelt, mit welchem er sein Königreich dem Feinde wieder
+abgenommen habe, und daß er nun selber zum Könige erhoben worden sei.
+Die Freudenbotschaft war aber zugleich von einer Todesbotschaft
+begleitet: der alte König war im Gefängniß gestorben. Da nun Dotterine
+Anderen ihren Kummer nicht zeigen durfte, so weinte sie heimlich bittere
+Thränen über ihres Vaters Tod, denn ein anderer als ihr Vater konnte ja
+doch der verstorbene König nicht sein.
+
+Nach Ablauf des Trauerjahres ließ der junge König verkünden, daß er
+entschlossen sei, sich zu vermählen. Es wurden deswegen von nah und fern
+alle Jungfrauen vornehmer Herkunft zu einem Feste in das Haus des Königs
+geladen, damit derselbe sich aus ihrer Mitte eine junge Frau wählen
+könne, wie Auge und Herz sie begehrten. Auch die Töchter der Dame, bei
+welcher Dotterine diente, und die alle drei jung und blühend waren,
+rüsteten sich zum Feste. Dotterine hatte jetzt einige Wochen vom Morgen
+bis zum Abend vollauf mit dem Putze der Fräulein zu thun. In dieser Zeit
+träumte ihr jede Nacht, ihre Taufmutter käme an ihr Bett und sagte:
+»Schmücke erst deine Fräulein zum Feste, und dann folge selber nach.
+Keine kann dort so schmuck und so schön sein wie du!« Je näher der Tag
+des Festes heranrückte, desto unruhiger wurde Dotterinen zu Muthe, und
+als die Frau mit ihren Töchtern davon gefahren war, warf sie sich mit
+dem Gesicht auf's Bett und vergoß bittere Thränen. Da war's, als ob ihr
+eine Stimme zurief: »Nimm dein Körbchen zur Hand, dann wirst du Alles
+finden, was du brauchst.« Dotterine sprang auf, nahm das Körbchen aus
+dem Busen, sprach darüber die geheimen Worte, welche sie gelernt hatte,
+und siehe das Wunder! augenblicklich lagen prachtvolle goldgewirkte
+Gewänder auf dem Bette. Als sie sich dann das Gesicht wusch, erhielt sie
+ihr früheres Ansehen wieder, und als sie die prächtigen Kleider angelegt
+hatte, und dann vor den Spiegel trat, erschrack sie selber über ihre
+Schönheit. Als sie die Treppe hinunter kam, fand sie vor der Thür eine
+stattliche Kutsche mit vier dotterfarbigen Pferden bespannt. Sie setzte
+sich ein und fuhr mit Windesschnelle fort, so daß sie in weniger als
+einer Stunde vor der Pforte des Königshauses angelangt war. Als sie eben
+aussteigen wollte, fand sie zu ihrem Schrecken, daß sie beim raschen
+Ankleiden das Glückskörbchen zu Hause vergessen hatte. Was jetzt
+beginnen? Schon entschloß sie sich zurückzufahren, als eine kleine
+Schwalbe mit dem Körbchen im Schnabel an's Kutschfenster geflogen kam.
+Erfreut nahm ihr Dotterine das Körbchen aus dem Schnabel, steckte es in
+den Busen und hüpfte leicht wie ein Eichhörnchen die Treppe hinauf.
+
+Im Festgemach funkelte Alles von Pracht und Schönheit, die vornehmen
+Fräulein hatten ihren kostbarsten Schmuck angelegt, jede in der
+Hoffnung, daß des jungen Königs Auge auf sie fallen würde. Als aber
+plötzlich die Thür sich öffnete und Dotterine eintrat, da erbleichte der
+Andern Glanz wie der der Sterne beim Aufgang der Sonne, so daß der
+Königssohn nur noch diese Jungfrau sah. Einige ältere Personen, die sich
+noch dessen erinnerten, was vorgefallen war, als der König mit seiner
+später verschwundenen Schwester die Taufe erhielt, sprachen zu einander:
+»Diese Jungfrau kann gar wohl die Tochter jener unbekannten Dame sein,
+welche bei unseres alten Königs Tochter Gevatter stand.« Der König kam
+Dotterinen nicht mehr von der Seite, und kümmerte sich nicht um die
+übrigen Gäste. Um Mitternacht geschah etwas Wunderbares: das Gemach war
+plötzlich wie in Wolken gehüllt, so daß man weder den Glanz der Lichter
+noch die Menschen sah. Nach einer kleinen Weile entwickelte sich aus
+dem Nebel wieder Helligkeit und es erschien eine Frau, die keine andere
+war, als Dotterinens Taufmutter. Sie sprach zum jungen Könige: »Das
+Mädchen, welches neben dir steht, ist deine vermeintliche Schwester,
+welche mit dir zusammen getauft wurde, und an dem Tage verschwand, wo
+die Stadt in die Hände der Feinde fiel. Die Jungfrau ist aber nicht
+deine Schwester, sondern eines weit entfernten Königs Tochter, welche
+ich aus der Verzauberung erlöste, und deiner verstorbenen Mutter zur
+Pflege übergab.« Dann krachte es, daß die Wände zitterten, und in
+demselben Augenblick war die Taufmutter verschwunden, ohne daß jemand
+sah, wo sie hingekommen war. Der junge König ließ sich am folgenden Tage
+mit Dotterinen trauen, worauf eine prächtige Hochzeitsfeier folgte. Der
+König lebte mit seiner Gemahlin sehr glücklich bis an sein Ende, aber
+Niemand hat je gehört, wohin das Glückskörbchen gekommen ist. Man meint,
+die Taufmutter habe es heimlich mitgenommen, als sie ihre Pathe das
+letzte Mal gesehen.
+
+[Fußnote 86: Aus dem von einem Hühnchen ausgebrüteten Ei eines
+Birkhuhns ist Linda, die Gattin des Kalew und die Mutter des
+Kalewsohnes, hervorgegangen. S. den Anfang des _Kalewipoëg_. L.]
+
+
+
+
+Anmerkungen
+
+von
+
+Reinhold Köhler und Anton Schiefner.
+
+
+1. Die Goldspinnerinnen.
+
+Wie S. 10 eine Handvoll aus _neunerlei_ Arten gemischter Hexenkräuter zur
+Verfertigung des Hexenknäuels gebraucht wird, so kömmt S. 243 ein Trank
+aus _neunerlei_ Kräutern vor, wovon ein Jüngling drei Tage hinter einander
+_neun_ Löffel täglich erhält. S. 246 wäscht sich die Höllenjungfrau _neun_
+mal ihr Gesicht in der Quelle und umwandelt sie _neun_ mal. S. 262 _neun_
+Kinder. Die Heiligkeit und die häufige Anwendung der Neunzahl ist
+bekanntlich uralt und weit verbreitet, namentlich auch bei den
+finnisch-tatarischen Völkern. Vgl. Ph. J. v. Strahlenberg Das Nord- und
+Ostliche Theil von Europa und Asia, Stockholm 1730, S. 75-82, und
+Schiefner Die Heldensagen der Minussinschen Tataren S. =XXIX=. Auch in den
+in neuster Zeit von W. Radloff gesammelten Proben der Volksliteratur der
+türkischen Stämme Süd-Sibiriens begegnet die Neunzahl sehr oft. Was
+insbesondere die _neunerlei Kräuter_ betrifft, so erwähnt Strahlenberg S.
+78, daß die Bauern in Liefland »gemeiniglich neunerlei Kräuter zu ihren
+Arzenei-Getränken gebrauchen.« Auch im deutschen Aberglauben spielen die
+neunerlei Kräuter eine wichtige Rolle (A. Wuttke Der deutsche
+Volksaberglaube der Gegenwart, 2. völlig neue Bearbeitung, Berlin 1869,
+§. 120, vgl. auch §§. 74, 85, 92, 253, 495, 528, 683). K.
+
+
+3. Schnellfuß, Flinkhand und Scharfauge.
+
+Märchen von Menschen mit derartigen wunderbaren Eigenschaften sind
+zahlreich. Viele derselben hat Benfey in seinem Aufsatz »Das Märchen von
+den Menschen mit den wunderbaren Eigenschaften« im Ausland 1858, Nr.
+41-45 zusammengestellt. Vgl. auch noch Jahrbuch für romanische und
+englische Literatur =VII=, 32. Das ehstnische Märchen ist eine durchaus
+eigenthümliche Gestaltung des Stoffes. K.
+
+S. 34, Z. 1 und 18 lese man »_drei Eier eines schwarzen Huhns_.« Wie hier
+ein _schwarzes_ Huhn, so S. 62 ein _schwarzer_ Hund, S. 70 u. 289 eine
+_schwarze_ Katze, S. 97 ein _schwarzes_ Pferd, S. 99 _schwarze_ Ochsen. Sch.
+
+Der S. 42 vorkommende _Goldapfelbaum_, von dem Goldäpfel entwendet werden
+und bei dem nachts gewacht wird, bis der Dieb entdeckt wird, ist einem
+vielverbreiteten Märchen entnommen, welches man »das Märchen von dem
+Goldapfelbaum und von den drei Königssöhnen« betiteln kann. Es findet
+sich bei Grimm Nr. 57, v. Hahn Griechische und albanesische Märchen Nr.
+70, Schott Walachische M. Nr. 26, J. W. Wolf Zeitschrift für deutsche
+Mythologie =II=, 389 (aus der Bukowina), Wuk Serbische Volksmärchen Nr. 4,
+Waldau Böhmisches Märchenbuch S. 131, Glinski =Bajarz polski I=, 1, Vogl
+Die ältesten Volksmärchen der Russen Nr. 2 und nach Schiefners
+Mittheilung bei Afanasjew =VII=, 121 und Salmelainen =IV=, 45. In allen
+diesen Märchen sind es wunderbare Vögel, welche die Aepfel entwenden.
+Das masurische Märchen bei Töppen Aberglauben aus Masuren, 2. Aufl., S.
+139, gehört nur dem Anfang nach her, verläuft aber dann in ein ganz
+andres Märchen. K.
+
+S. 47 wäre statt »der Hexenmeister _Piirisilla_« genauer zu übersetzen
+»der Hexenmeister von _Piirisild_« d. h. Gränzbrücke (Genitiv _Piirisilla_).
+Vielleicht steckt in dem Piirisild eine Erinnerung an den Zauberer
+Virgilius. Letzterer ist sogar noch in einem polnischen Kinderspiel
+bekannt, das dem englischen »Simon sagts« (s. Wagner Illustrirtes
+Spielbuch für Knaben, Leipzig O. Spamer, 2. Aufl., Nr. 714) zunächst
+kommt. Sch.
+
+S. 51, Z. 4 ist mit dem ehstnischen Texte übereinstimmend zu lesen
+»_schwedische_ Brüder«. Es zogen diese ja zu dem Könige im _Nordlande_, wie
+wir aus S. 49 Zeile 6 ersehen. Wir haben zugleich einen Fingerzeig über
+die Quelle des Märchens. So finden wir auch S. 60 den _Schwedenkönig_
+genannt. Sch.
+
+
+4. Der Tontlawald.
+
+In dem russischen Märchen »die schöne Wasilissa« (Afanasjew =IV=, 44) wird
+die Stieftochter in den Wald geschickt, um von der dort wohnenden Hexe
+(=Jagá babá=) Feuer zu holen. Auf den Rath der ihr von der Mutter auf dem
+Sterbebett übergebenen Puppe, mit der sie ihre Nahrung theilt, begiebt
+sie sich in den Wald und besteht dort alle Gefahren. Die Hexe giebt ihr
+einen Todtenkopf mit funkelnden Augen mit, welcher ihre Stiefschwestern
+zu Asche verbrennt.
+
+Gute Kenner der ehstnischen Gebräuche bestätigen mir die S. 74 und 177
+vorkommende Sitte, für die Todtenwächter zur Nacht Erbsen in Salz zu
+kochen. Sch.
+
+
+5. Der Waise Handmühle.
+
+Außer dem von Herrn Löwe in der Anmerkung auf S. 80 Angeführten verweise
+ich auf den Aufsatz »Ueber das Wort Sampo im finnischen Epos« im
+Bulletin der Petersburger Akademie =III=, 497-506 = =Mélanges russes IV=,
+195-209, in welchem ich verschiedene auf Wundermühlen bezügliche
+russische Märchen vorführe. Sch.
+
+
+7. Wie eine Waise unverhofft ihr Glück fand.
+
+Dieses Märchen ist früher von Herrn Kreutzwald mir mitgeteilt und von
+mir im Bulletin =XVI=, 448-56 und 562-63 (= =Mélanges russes IV=, 7-18) in
+dem Aufsatz »Zum Mythus vom Weltuntergange« veröffentlicht worden, wo
+auch das in finnischen Märchen Vorkommende verwandten Inhalts berührt
+ist. Sch.
+
+Wie sich in diesem Märchen (S. 95 f.) ein ins Wasser geworfenes
+Klettenblatt in einen Nachen verwandelt, so verwandeln sich in Ariostos
+Rasendem Roland (=XXXIX=, 26-28) die von Astolf ins Meer geworfenen
+verschiedenen Blätter in Schiffe. K.
+
+
+8. Schlaukopf.
+
+Dieses Märchen erinnert einigermaßen an die, welche ich im Jahrbuch für
+roman. und engl. Literatur =VII=, 137 f. zusammengestellt habe. Nach
+Schiefners Mittheilung gehört dazu noch ein finnisches (Salmelainen =IV=,
+126), wo Helli dem Bergkobold (=Wuoren peikko=) Pferd, Geld und goldene
+Decke stiehlt. K.
+
+
+11. Der Zwerge Streit.
+
+Der Streit der Erben (Geister, Teufel, Riesen, Zwerge, Menschen) um
+Wunschdinge, welche dann der von den Streitenden erwählte Schiedsrichter
+sich aneignet, kömmt oft in den Märchen des Morgen- und Abendlandes vor.
+Näher darauf einzugehen ist hier nicht der Ort, nur folgendes sei
+bemerkt. Die Zahl der Wunschdinge ist häufig drei, und darunter befinden
+sich sehr oft ein Paar Schuhe oder Stiefeln und ein Hut oder eine Mütze.
+Erstere bringen den Besitzer entweder, wie hier, sofort an einen
+gewünschten Ort, oder er kann wenigstens in ihnen mit jedem Schritt
+Meilen (7-1000) zurücklegen. Der Hut oder die Mütze hat meistens die
+Eigenschaft unsichtbar zu machen: daß der Träger des Hutes aber alles,
+auch das fernste und den gewöhnlichen Menschen sonst unsichtbare, sehen
+kann, ist dem ehstnischen Märchen eigen, ebenso wie der Alles
+schmelzende Stock. Zwar kömmt unter den Wunschdingen in mehreren Märchen
+ein Stock oder eine Keule vor, aber nicht mit dieser Eigenschaft.
+
+Was den Umstand betrifft, daß der Hut aus Nägelschnitzeln gemacht ist,
+so ist außer dem S. 143, Anm. 1 Bemerkten noch auf Schiefners
+Mittheilung im Bulletin =II=, 293 zu verweisen, daß die Lithauer in
+Samogitien ihre Nägelschnitzel nicht wegwerfen, sondern an ihrem Leibe
+verwahren, aus Furcht, der Teufel könne dieselben auflesen und sich
+einen Hut daraus machen. Schiefner erinnert auch an das aus
+Nägelschnitzeln Todter gebildete Todtenschiff Naglfari in der Edda.
+
+Daß Zwerge bei Hochzeiten unsichtbar mitessen, kömmt öfters in deutschen
+Sagen vor, z. B. in Büschings Wöchentlichen Nachrichten =I=, 73,
+Müllenhoff Sagen, Märchen und Lieder aus Schleswig u. s. w. S. 280, Nr.
+380, Kuhn und Schwartz Norddeutsche Sagen Nr. 189, 4; 270, 2; 291. K.
+
+
+13. Wie eine Königstochter sieben Jahre geschlafen.
+
+Man vgl. das finnische Märchen aus Salmelainens Sammlung in Ermans
+Archiv für wissenschaftliche Kunde von Rußland =XIII=, 483, das masurische
+bei Töppen Aberglauben aus Masuren S. 148, das von Chavannes in der
+Sammelschrift »Die Wissenschaften im 19. Jahrhundert« =IX=, 100
+mitgetheilte russische, das polnische bei Glinski =Bajarz polski I=, 38,
+das tiroler bei Zingerle Tirols Volksdichtungen und Volksgebräuche =II=,
+395. Alle diese Märchen gehen gleich dem ehstnischen davon aus, daß ein
+sterbender Vater seine drei Söhne auffordert, nach seinem Tode der Reihe
+nach je eine Nacht auf seinem Grabe zuzubringen, welcher Aufforderung
+jedoch die beiden ältesten nicht nachkommen, während der jüngste, der
+als Dümmling gilt, alle drei Nächte auf dem väterlichen Grabe wacht. Die
+Hand der Königstochter soll im finnischen Märchen der erhalten, welcher
+sein Pferd bis ans dritte Stockwerk der Hofburg springen lassen und der
+da sitzenden Prinzessin einen Kuß geben kann; im masurischen, wer zu
+Pferde zweimal in das vierte Stockwerk des Schlosses zur Prinzessin
+gelangen kann; im russischen, wer zu Pferde der im dritten Stockwerk
+sitzenden Prinzessin einen Kuß geben, oder nach Varianten: wer über
+zwölf Glastafeln oder über so und so viel Balken zu ihr oder ihrem Bild
+zu Pferd gelangen kann; im tiroler, wer einen steilen Felsen empor
+reiten kann; im polnischen, wer in Ritterspielen siegt. In einigen der
+zahlreichen, sonst ähnlichen Märchen, in denen jedoch die Nachtwachen
+auf dem Grabe des Vaters fehlen, muß, wie im ehstnischen, der Bewerber
+um die Hand der Königstochter einen Glasberg hinaufreiten (Sommer Sagen,
+Märchen und Gebräuche aus Sachsen und Thüringen =I=, 96, Asbjörnsen und
+Moë Norske Folkeeventyr Nr. 52, Grundtvig Gamle danske Minder i
+Folkemunde =I=, 211, Müllenhoff Sagen, Märchen und Lieder aus Schleswig u.
+s. w. S. 437, Anmerk. zu Nr. =XIII=). In fast allen hierher gehörigen
+Märchen macht der Dümmling von seinem Siege zunächst keinen Gebrauch,
+begibt sich vielmehr unerkannt nach Hause und wird erst nach einiger
+Zeit, meist ohne sein Zuthun, als der gesuchte Sieger erkannt. In diesem
+Punkte ist das ehstnische Märchen entstellt. Durchaus eigentümlich dem
+ehstnischen Märchen sind der siebenjährige Schlaf der Königstochter und
+der Umstand, daß der Bauernsohn ein vertauschter Prinz ist. K.
+
+Daß der Glaskasten, in dem die Königstochter ruht, und der Glasberg
+Nachklänge der altnordischen Brynhildr-Mythe sind, bemerke ich, indem
+ich kurz auf Mannhardt Germanische Mythen S. 333 verweise, woselbst man
+auch das hierher gehörige dänische Volkslied citiert findet, demzufolge
+Sigfrid den Glasberg hinaufreitet. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der
+in der russischen Heldensage räthselhaft dastehende Swjatogor (ob nicht
+entstellt aus Sigurd?), der sein Weib in einem Krystall-Schrein auf den
+Schultern trägt (Rybnikow =I=, 37), hierher zu ziehen ist. Wie sehr
+Verunstaltungen im Laufe der Zeit entstehen können, erkennt man leicht,
+wenn man bedenkt, wie die dem Swjatogor vom Schicksal bestimmte Braut im
+Land am Meeresstrand dreißig Jahre auf einem Misthaufen ruht und ihr
+Leib wie Tannenrinde aussieht; vgl. meinen Aufsatz »Zur russischen
+Heldensage« im Bulletin =IV=, 273-85 = =Mélanges russes IV=, 230-48. In dem
+Märchen »der Krystallberg« bei Afanasjew =VII=, 209, kriecht der
+Königssohn Iwan in Gestalt einer Ameise in den Krystallberg, in welchen
+der zwölfköpfige Drache die Königstochter entführt hatte; er tödtet den
+Drachen und findet in dessen rechter Seite einen Kasten, in dem Kasten
+einen Hasen, in dem Hasen eine Ente, in der Ente ein Ei, in dem Ei ein
+Samenkorn; dieses zündet er an und bringt es zum Krystallberg, der
+alsbald zerschmilzt. Sch.
+
+
+14. Der dankbare Königssohn.
+
+Man vgl. die von mir in Benfeys Orient und Occident =II=, 103-114
+zusammengestellten Märchen, denen man noch Haltrich Volksmärchen aus dem
+Sachsenlande in Siebenbürgen Nr. 26, v. Hahn Griechische und
+albanesische Märchen Nr. 54, Glinski =Bajarz polski I=, 109, Kletke
+Märchensaal =II=, 71, Schneller Märchen aus Wälschtirol Nr. 27 beifüge. In
+allen diesen Märchen geräth ein Jüngling -- meistens in Folge eines
+erzwungenen oder erlisteten Versprechens seines Vaters -- in die Gewalt
+eines feindlichen Wesens (Teufel, Dämon, Geist, Riese, Meerfrau,
+Zauberer, Hexe) und trifft da eine Jungfrau -- in den meisten Märchen
+die Tochter jenes Wesens --, durch deren Hilfe er die ihm aufgegebenen
+schweren Arbeiten verrichtet und die dann mit ihm entflieht. Die meisten
+Märchen schließen aber nicht hiermit, sondern sie erzählen noch, wie der
+Jüngling seine Retterin in Folge der Uebertretung einer ihm von ihr
+gegebenen Vorschrift eine Zeitlang vergißt. -- Wie im ehstnischen
+Märchen der verirrte König dem Teufel das versprechen muß, was ihm auf
+seinem Hof zuerst entgegen kömmt, so müssen in dem entsprechenden
+Märchen bei Müllenhoff Nr. 6 die verirrten Eltern dasselbe versprechen,
+und in dem parallelen schwedischen Märchen bei Cavallius Nr. =XIV=, =A=, muß
+der König in seinem Schiff dem Meerweib das versprechen, was ihm am
+Strande zuerst begegne. In andern der hierher gehörigen Märchen wird das
+verlangt und versprochen, was man zu Hause habe, ohne es zu wissen
+(Glinski, Kletke), oder was die Königin unter dem Gürtel trägt
+(Cavallius Nr. =XIV=, =B=), oder der Sohn wird geradezu verlangt (Campbell,
+v. Hahn); bei Haltrich endlich wird »en noa Sil« verlangt, was ein
+neues Seil und eine neue Seele bedeutet.[87] -- Dem ehstnischen Märchen
+ganz eigentümlich ist die Vertauschung des Königssohn mit der
+Bauerntochter. Auch die Aufgaben, die im ehstnischen Märchen der Teufel
+gibt, sind andere als in den übrigen Märchen. -- Daß die Jungfrau sich
+und ihren Schützling auf der Flucht verwandelt, kömmt in mehreren der
+parallelen Märchen vor, insbesondere die Verwandlung in Rosenstrauch und
+Rose bei Grimm Nr. 113 und Müllenhoff Nr. 6, auch in den theilweis
+hierher gehörigen Märchen bei Wolf deutsche Hausmärchen S. 292 und
+Waldau Böhmisches Märchenbuch S. 268, die in Wasser und Fisch bei Grimm
+Nr. 113. K.
+
+Wie S. 194 der Königssohn statt seiner Hand eine glühende Schaufel
+reicht, so in einem russischen Heldenlied Ilja von Murom dem blinden
+Vater Swjatogors ein Stück erhitztes Eisen (Rybnikow =III=, 6). Sch.
+
+[Fußnote 87: Nicht diese letztere Form des Versprechens, aber die
+übrigen kommen auch in anderen, sonst nicht unmittelbar in diesen Kreis
+gehörigen Märchen vor, z. B. bei Grimm Nr. 92, Schott Walachische
+Märchen Nr. 2 (das zuerst Begegnende); Asbjörnsen Nr. 9 (das unterm
+Gürtel); Wolf S. 199, Waldau S. 26, v. Saal Märchen der Magyaren S. 129
+(das nicht Gewußte zu Hause).]
+
+
+15. Rõugatajas Tochter.
+
+In dem finnischen Märchen »die wunderliche Birke (Salmelainen =I=, 76) hat
+die böse Syöjätär die vom Königssohne geheirathete Tuhkimus
+(Aschenbrödel) in eine Rennthierkuh verwandelt; in dieser Gestalt stillt
+sie ihr Kind; die Rennthierhaut wird vom Königssohn verbrannt; Syöjätär
+und ihre Tochter kommen in der Badstube um. Sch.
+
+Insofern in beiden Märchen die abgelegte Thierhaut verbrannt wird,
+berühren sie sich mit den zahlreichen, übrigens anders verlaufenden
+Märchen von der verbrannten Thierhülle. Vgl. Benfey Pantschatantra =I=,
+254 und meine Zusammenstellung im Jahrbuch für roman. und englische
+Literatur =VII=, 254 ff., die sich noch vermehren läßt. K.
+
+
+16. Die Meermaid.
+
+Die ehstnische Ueberschrift »_Näkineitsi_« d. i. buchstäblich
+»Näk-Mädchen« (Nixe) weist auf schwedischen Ursprung des Märchens hin.
+Sch.
+
+Man vergleiche die bekannte französische, fast in ganz Europa, auch in
+_Schweden_ zum Volksbuch gewordene Dichtung von der Melusine, die alle
+Sonnabende[88] vom Nabel abwärts zur Schlange wurde und welcher Graf
+Raimund vor seiner Vermählung mit ihr versprechen mußte, sie nie
+Sonnabends sehen zu wollen.
+
+Wenn Schlaf-Tönnis aus dem Reich der Meermaid als Greis auf die Erde
+zurückkehrt, so beruht dies auf dem Glauben, daß Sterblichen im Elfen-
+oder Feen-Lande die Zeit, ihnen unbewußt, mit reißender Geschwindigkeit
+verfließt. So glaubt Thomas der Reimer bei der Elfenkönigin drei Tage
+gewesen zu sein, während doch drei Jahre verflossen sind. (W. Scott
+=Border Minstrelsy=, =Edinburgh 1861=, =IV=, 127). Ein schwedischer Ritter ist
+40 Jahre im Elfenland gewesen und glaubt nur eine Stunde da verbracht zu
+haben (Afzelius Volkssagen und Volkslieder aus Schwedens älterer und
+neuerer Zeit, übersetzt von Ungewitter =II=, 297). Vgl. auch das Märchen
+aus Wales bei Rodenberg Ein Herbst in Wales S. 128 und die
+Kiffhäuser-Sagen bei A. Witzschel Sagen aus Thüringen Nr. 277 und 278.
+Legenden erzählen Gleiches von Menschen, die im Paradies gewesen sind.
+Vgl. Liebrechts Anmerkung zu Dunlop a. a. O. S. 543 und W. Menzel
+Christliche Symbolik =II=, 194 ff. K.
+
+[Fußnote 88: Die Fee Manto in Ariosts Rasendem Roland (=XLIII=, 98) und
+die Sibylle im Roman »Guerino Meschino« (Dunlop Geschichte der
+Prosadichtungen, übersetzt von F. Liebrecht, S. 315) werden ebenfalls
+alle Sonnabende -- aber nicht bloß vom Nabel an, sondern ganz -- zu
+Schlangen.]
+
+
+18. Der Nordlands-Drache.
+
+Ueber den _Ring Salomonis_ vgl. Eisenmenger Entdecktes Judenthum S. 351
+ff., J. v. Hammer Rosenöl =I=, 171 ff., G. Weil Biblische Legenden der
+Muselmänner S. 231 und 271 ff., F. Liebrecht Des Gervasius von Tilbury
+=Otia imperialia= S. 77. In einem Märchen der 1001 Nacht (Der Tausend und
+Einen Nacht noch nicht übersetzte Mährchen u. s. w. in's Französische
+übersetzt von J. v. Hammer und aus dem Französischen in's Deutsche von
+A. E. Zinserling, =I=, 311) wird, wie im ehstnischen Märchen, der Ring
+Salomos, der mit diesem Ring am Finger in einer Insel der sieben Meere
+begraben liegt, gesucht. K.
+
+
+19. Das Glücksei.
+
+Daß in Schlangen, Kröten oder dergl. verwandelte Jungfrauen nur erlöst
+werden können, wenn ein Jüngling sie dreimal küßt oder sich küssen läßt,
+kömmt in deutschen Sagen öfters vor. S. Grimm Deutsche Mythologie S.
+921, W. Menzel Die deutsche Dichtung I, 192, Curtze Volksüberlieferungen
+aus Waldeck S. 198. K.
+
+
+20. Der Frauenmörder.
+
+Eine Variante des bekannten Blaubart-Märchens. S. die Anmerkung zu Grimm
+Nr. 46 und Jahrbuch für romanische und englische Literatur =VII=, 151 f.
+K.
+
+
+23. Dudelsack-Tiidu.
+
+In Bezug auf die Aepfel, welche ein Wachsen der Nasen verursachen, und
+die Nüsse, durch welche die Nasen wieder klein werden, vergleiche man
+die Geschichte des Fortunatus und seiner Söhne (s. Zachers Artikel
+»Fortunatus« in der Encyklopädie von Ersch und Gruber) und Grimm Nr.
+122, Zingerle Tirols Volksdichtungen =II=, 73, Curtze Volksüberlieferungen
+aus Waldeck S. 34, Campbell =Popular tales of the West Highlands= Nr. 10,
+das finnische Märchen aus Salmelainens Sammlung (=I=, 4.) bei Asbjörnsen
+und Gräße Nord und Süd S. 145, das rumänische im Ausland 1856, S. 716,
+Nr. 8. K.
+
+
+
+
+Berichtigungen und Zusätze.
+
+
+S. 34 Z. 1 u. 18 v. o. l. drei Eier von einer schwarzen Henne
+ st. drei schwarze Hühnereier (die es ja nicht giebt!)
+
+S. 117 Z. 2 v. o. l. alsdann st. aldann.
+
+S. 127 Anm. 2 l. Oesel st. Desel.
+
+S. 174 Die in den Verhandlungen der gelehrten ehstn. Gesellschaft
+ zu Dorpat abgedruckte Kreutzwaldsche Uebersetzung
+ des Märchens vom dankbaren Königssohn ist verglichen
+ worden; der ehstnische Text hat in der helsingforser
+ Sammlung verschiedene Zusätze erhalten. Uebersetzungen
+ anderer ehstnischer Märchen haben mir nicht vorgelegen.
+
+S. 174 Z. 2 v. u. fehlt »zu« vor: ihm.
+
+S. 184 Nota. In Beziehung auf das weiße Pferd bemerkt Neus
+ zu der Sage von =Issi teggi= (Selbst gethan) im illustrirten
+ Revalschen Almanach für 1856, daß das weiße
+ Pferd in heidnischer Zeit, wie bei andern Völkern, so
+ auch wohl bei den Ehsten, für besonders heilig galt und
+ daher seit Einführung des Christentums für besonders
+ teuflisch.
+
+S. 188 Z. 15 v. o. l. Im st. Ich.
+
+S. 229 Z. 3 v. u. l. fast immer st. meist.
+
+S. 354 Z. 8 v. u. l. einander st. eiander.
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Ehstnische Märchen,
+by Friedrich Kreutzwald
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EHSTNISCHE MÄRCHEN ***
+
+***** This file should be named 21658-8.txt or 21658-8.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
+ http://www.gutenberg.org/2/1/6/5/21658/
+
+Produced by Taavi Kalju and the Online Distributed
+Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was
+produced from scanned images of public domain material
+from the Google Print project.)
+
+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
+copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
+protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
+charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
+do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
+rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
+such as creation of derivative works, reports, performances and
+research. They may be modified and printed and given away--you may do
+practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
+subject to the trademark license, especially commercial
+redistribution.
+
+
+
+*** START: FULL LICENSE ***
+
+THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
+PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
+
+To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
+distribution of electronic works, by using or distributing this work
+(or any other work associated in any way with the phrase "Project
+Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project
+Gutenberg-tm License (available with this file or online at
+http://gutenberg.org/license).
+
+
+Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm
+electronic works
+
+1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
+electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
+and accept all the terms of this license and intellectual property
+(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
+the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
+all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
+If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
+Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
+terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
+entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.
+
+1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
+used on or associated in any way with an electronic work by people who
+agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
+located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
+copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
+works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
+are removed. Of course, we hope that you will support the Project
+Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
+freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
+this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
+the work. You can easily comply with the terms of this agreement by
+keeping this work in the same format with its attached full Project
+Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.
+
+1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
+what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in
+a constant state of change. If you are outside the United States, check
+the laws of your country in addition to the terms of this agreement
+before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
+creating derivative works based on this work or any other Project
+Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning
+the copyright status of any work in any country outside the United
+States.
+
+1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
+
+1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate
+access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
+whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
+phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project
+Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
+copied or distributed:
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived
+from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
+posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
+and distributed to anyone in the United States without paying any fees
+or charges. If you are redistributing or providing access to a work
+with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
+work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
+through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
+Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
+1.E.9.
+
+1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
+with the permission of the copyright holder, your use and distribution
+must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
+terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked
+to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
+permission of the copyright holder found at the beginning of this work.
+
+1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
+License terms from this work, or any files containing a part of this
+work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
+
+1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
+electronic work, or any part of this electronic work, without
+prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
+active links or immediate access to the full terms of the Project
+Gutenberg-tm License.
+
+1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
+compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
+word processing or hypertext form. However, if you provide access to or
+distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
+"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
+posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
+you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
+copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
+request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
+form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
+License as specified in paragraph 1.E.1.
+
+1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
+performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
+unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
+
+1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
+access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
+that
+
+- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
+ the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
+ you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
+ owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
+ has agreed to donate royalties under this paragraph to the
+ Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
+ must be paid within 60 days following each date on which you
+ prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
+ returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
+ sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
+ address specified in Section 4, "Information about donations to
+ the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
+
+- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
+ you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
+ does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
+ License. You must require such a user to return or
+ destroy all copies of the works possessed in a physical medium
+ and discontinue all use of and all access to other copies of
+ Project Gutenberg-tm works.
+
+- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
+ electronic work is discovered and reported to you within 90 days
+ of receipt of the work.
+
+- You comply with all other terms of this agreement for free
+ distribution of Project Gutenberg-tm works.
+
+1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
+electronic work or group of works on different terms than are set
+forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
+both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
+Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
+Foundation as set forth in Section 3 below.
+
+1.F.
+
+1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
+effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
+public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
+collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
+works, and the medium on which they may be stored, may contain
+"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
+corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
+property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
+computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
+your equipment.
+
+1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
+of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
+Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
+Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
+liability to you for damages, costs and expenses, including legal
+fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
+LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
+PROVIDED IN PARAGRAPH F3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
+TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
+LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
+INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
+DAMAGE.
+
+1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
+defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
+receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
+written explanation to the person you received the work from. If you
+received the work on a physical medium, you must return the medium with
+your written explanation. The person or entity that provided you with
+the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
+refund. If you received the work electronically, the person or entity
+providing it to you may choose to give you a second opportunity to
+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
+
+1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
+warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
+If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
+law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
+the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
+
+1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
+trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
+providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
+with this agreement, and any volunteers associated with the production,
+promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at http://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit http://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ http://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
diff --git a/21658-8.zip b/21658-8.zip
new file mode 100644
index 0000000..8753308
--- /dev/null
+++ b/21658-8.zip
Binary files differ
diff --git a/21658-h.zip b/21658-h.zip
new file mode 100644
index 0000000..c7bea7e
--- /dev/null
+++ b/21658-h.zip
Binary files differ
diff --git a/21658-h/21658-h.htm b/21658-h/21658-h.htm
new file mode 100644
index 0000000..d0bc883
--- /dev/null
+++ b/21658-h/21658-h.htm
@@ -0,0 +1,9884 @@
+<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN"
+ "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd">
+
+<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml">
+ <head>
+ <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=iso-8859-1" />
+ <title>
+ The Project Gutenberg eBook of Ehstnische Märchen, by Friedrich Reinhold Kreutzwald.
+ </title>
+ <style type="text/css">
+/*<![CDATA[ XML blockout */
+<!--
+ p { margin-top: .75em;
+ text-align: justify;
+ margin-bottom: .75em;
+ }
+ h1,h2,h3,h4,h5,h6 {
+ text-align: center; /* all headings centered */
+ clear: both;
+ }
+ hr { width: 33%;
+ margin-top: 2em;
+ margin-bottom: 2em;
+ margin-left: auto;
+ margin-right: auto;
+ clear: both;
+ }
+
+ table {margin-left: auto; margin-right: auto;}
+
+ body{margin-left: 10%;
+ margin-right: 10%;
+ }
+
+ .pagenum { /* uncomment the next line for invisible page numbers */
+ /* visibility: hidden; */
+ position: absolute;
+ left: 1%;
+ font-size: smaller;
+ text-align: left;
+ color: gray;
+ } /* page numbers */
+
+ em.gesperrt {letter-spacing: 0.35ex; padding-left: 0.35ex; font-style: normal;}
+ em.antiqua {font-family: "Courier New", monospace; font-size: smaller; font-style: normal;}
+
+ .linenum {position: absolute; top: auto; left: 4%;} /* poetry number */
+ .blockquot{margin-left: 5%; margin-right: 10%;}
+ .sidenote {width: 20%; padding-bottom: .5em; padding-top: .5em;
+ padding-left: .5em; padding-right: .5em; margin-left: 1em;
+ float: right; clear: right; margin-top: 1em;
+ font-size: smaller; color: black; background: #eeeeee; border: dashed 1px;}
+
+ .bb {border-bottom: solid 2px;}
+ .bl {border-left: solid 2px;}
+ .bt {border-top: solid 2px;}
+ .br {border-right: solid 2px;}
+ .bbox {border: solid 2px;}
+
+ .center {text-align: center;}
+ .smcap {font-variant: small-caps;}
+ .u {text-decoration: underline;}
+
+ .caption {font-weight: bold;}
+
+ .figcenter {margin: auto; text-align: center;}
+
+ .figleft {float: left; clear: left; margin-left: 0; margin-bottom: 1em; margin-top:
+ 1em; margin-right: 1em; padding: 0; text-align: center;}
+
+ .figright {float: right; clear: right; margin-left: 1em; margin-bottom: 1em;
+ margin-top: 1em; margin-right: 0; padding: 0; text-align: center;}
+
+ .footnotes {border: dashed 1px;}
+ .footnote {margin-left: 10%; margin-right: 10%; font-size: 0.9em;}
+ .footnote .label {position: absolute; right: 84%; text-align: right;}
+ .fnanchor {vertical-align: super; font-size: .8em; text-decoration: none;}
+
+ .poem {margin-left:10%; margin-right:10%; text-align: left;}
+ .poem br {display: none;}
+ .poem .stanza {margin: 1em 0em 1em 0em;}
+ .poem span.i0 {display: block; margin-left: 0em; padding-left: 3em; text-indent: -3em;}
+ .poem span.i2 {display: block; margin-left: 2em; padding-left: 3em; text-indent: -3em;}
+ .poem span.i4 {display: block; margin-left: 4em; padding-left: 3em; text-indent: -3em;}
+ // -->
+ /* XML end ]]>*/
+ </style>
+ </head>
+<body>
+
+
+<pre>
+
+The Project Gutenberg EBook of Ehstnische Märchen, by Friedrich Kreutzwald
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+
+Title: Ehstnische Märchen
+
+Author: Friedrich Kreutzwald
+
+Commentator: Anton Schiefner
+ Reinhold Köhler
+
+Translator: Ferdinand Löwe
+
+Release Date: June 1, 2007 [EBook #21658]
+
+Language: German
+
+Character set encoding: ISO-8859-1
+
+*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EHSTNISCHE MÄRCHEN ***
+
+
+
+
+Produced by Taavi Kalju and the Online Distributed
+Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was
+produced from scanned images of public domain material
+from the Google Print project.)
+
+
+
+
+
+
+</pre>
+
+
+
+
+
+<h1>Ehstnische M&auml;rchen.</h1>
+
+
+<h3>Aufgezeichnet</h3>
+
+<h4>von</h4>
+
+<h2>Friedrich Kreutzwald.</h2>
+
+<hr style="width: 15%;" />
+
+<h3>Aus dem Ehstnischen &uuml;bersetzt</h3>
+
+<h4>von</h4>
+
+<h3>F. L&ouml;we,</h3>
+<h4>ehem. Bibliothekar a. d. Petersb. Akad. d. Wissenschaften.</h4>
+
+<hr style="width: 15%;" />
+
+<h4>Nebst einem Vorwort von <em class="gesperrt">Anton Schiefner</em> und Anmerkungen
+von <em class="gesperrt">Reinhold K&ouml;hler</em> und <em class="gesperrt">Anton Schiefner</em>.</h4>
+
+<hr style="width: 15%;" />
+
+<h5>Halle,<br />
+Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses.<br />
+1869.
+</h5>
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_iii" id="Page_iii">[S iii]</a></span></p>
+<h2>Vorwort.</h2>
+
+
+<p>Im dritten Bande der Kinder- und Hausm&auml;rchen hat <em class="gesperrt">Wilhelm Grimm</em> auf S.
+353 der Ausgabe von 1856 auf die ihm bis zu der Zeit bekannt gewordenen
+ehstnischen M&auml;rchen hingewiesen, und auf S. 385 namentlich die zuerst
+von <em class="gesperrt">F&auml;hlmann</em> im Jahre 1842 in dem ersten Bande der Verhandlungen der
+gelehrten ehstnischen Gesellschaft zu Dorpat ver&ouml;ffentlichte anmuthige
+Dichtung Koit und &Auml;mmarik hervorgehoben. In ausf&uuml;hrlicherer Fassung ist
+die letztere sp&auml;ter (1854) von <em class="antiqua">Dr.</em> <em class="gesperrt">Friedrich Kreutzwald</em> mir mitgetheilt
+und von mir im Bulletin der St. Petersburger Akademie <em class="antiqua">T. XII.</em> Nr. 3, 4
+(auch in den <em class="antiqua">M&eacute;langes russes</em> <em class="antiqua">T. II.</em> S. 409) in dem Aufsatz &raquo;zur
+ehstnischen Mythologie&laquo; abgedruckt worden. Ebendaselbst habe ich auch
+auf die M&ouml;glichkeit einer Entlehnung dieser Dichtung von einem
+Nachbarvolke aufmerksam gemacht. An solchen Entlehnungen sind die Ehsten
+nicht &auml;rmer als andere V&ouml;lker, und es gew&auml;hrt ein eigenth&uuml;mliches
+Interesse, mehr oder minder anderswoher bekannte Stoffe in ihrer
+ehstnischen Einkleidung zu betrachten. Allein nicht blo&szlig; die Freude an
+der poetischen Behandlung der einzelnen M&auml;rchen ist es, was uns
+auffordert, denselben unsere Aufmerksamkeit zuzuwenden. Es kn&uuml;pfen sich
+<span class='pagenum'><a name="Page_iv" id="Page_iv">[S iv]</a></span>eine ganze Anzahl rein ethnographischer und historischer Fragen an die
+Betrachtung ihres Inhalts.</p>
+
+<p>Der Uebersetzer hat es f&uuml;r angemessen erachtet, auf so manche Z&uuml;ge
+hinzuweisen, welche die einzelnen M&auml;rchen mit der von <em class="antiqua">Dr.</em> <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> ins
+Leben gerufenen Dichtung &raquo;Kalewipo&euml;g&laquo; gemein haben. Manches ist
+allerdings aus den nicht blo&szlig; bei den Ehsten in Umlauf befindlichen
+M&auml;rchen erst in die Sage und daraus in die epischen Lieder gewandert,
+anderes bietet uns aber treulichst erhaltene Spuren altscandinavischer
+Mythen dar. Habe ich bereits im Jahre 1860 bei Gelegenheit der
+Besprechung des Kalewipo&euml;g (Bulletin B. <em class="antiqua">II.</em> S. 273-297 = <em class="antiqua">M&eacute;langes russes</em>
+B. <em class="antiqua">II.</em> S. 126-161) darauf aufmerksam gemacht, wie im Kalewipo&euml;g vielfach
+Nachkl&auml;nge des alten Thor-Cultus vorliegen, so kann man das mit gleichem
+Recht von den in vorliegender Sammlung dargebotenen M&auml;rchen behaupten.
+Man ber&uuml;cksichtige au&szlig;er dem von Herrn L&ouml;we S. 2 angef&uuml;hrten z. B. S.
+113 die dem Donnerer geh&ouml;rige Gerte aus Ebereschenholz, sowie auch S.
+137 das Ruder aus demselben Holze. Vgl. &uuml;ber die auch S. 18 vorkommende
+Eberesche als dem Donnerer heilig Mannhardt Germanische Mythen S. 13 f.</p>
+
+<p>Als ich im Jahre 1855 &uuml;ber den Mythengehalt der finnischen M&auml;rchen
+(<em class="antiqua">Bullet. hist. philol. T. XII.</em> Nr. 24) kurz berichtete, waren von den
+ehstnischen M&auml;rchen nur sehr wenige bekannt, und die ganze reiche
+M&auml;rchenliteratur der Russen, von der uns die von <em class="gesperrt">Afanasjew</em> in den Jahren
+<span class='pagenum'><a name="Page_v" id="Page_v">[S v]</a></span>1855-1863 erschienene Sammlung in acht B&auml;nden eine Ahnung giebt, war
+nur in wenigen Proben zug&auml;nglich. Bei einem eingehenden Studium der
+ebengenannten Sammlung d&uuml;rften nicht allein die finnischen M&auml;rchen in
+einem andern Lichte erscheinen, sondern auch die ehstnischen richtiger
+gew&uuml;rdigt werden k&ouml;nnen. Sicher ist es wenigstens, da&szlig;, wenn wir die
+ehstnischen M&auml;rchen betrachten, wir es mit den Einfl&uuml;ssen der
+verschiedensten Zeiten und V&ouml;lker zu thun haben.</p>
+
+<p>Manche Z&uuml;ge weisen unverkennbar auf litauische Ber&uuml;hrungen hin, andere
+zahlreichere und wohl auch j&uuml;ngere auf russische Elemente; da die
+K&uuml;stenstriche Ehstlands und namentlich die zun&auml;chst liegenden Inseln
+schwedische Bev&ouml;lkerung gehabt und zum Theil auch noch gegenw&auml;rtig
+haben, ist der letzteren nebst manchem M&auml;rchen auch mancher aus der
+&auml;ltesten Zeit stammende Mythus entnommen. Aber auch die neueste Zeit hat
+aus der Kinderstube der deutschen Familien sowohl in der Stadt als auf
+dem Lande so manches M&auml;rchen in die Bauerh&uuml;tten verpflanzt. Nicht minder
+haben die aus dem Kriegsdienste heimkehrenden Ehsten so manche
+Erz&auml;hlung, die sie fr&uuml;her im schwedischen oder sp&auml;ter im russischen
+Heere vernommen hatten, den h&ouml;rlustigen Leuten in der Heimath
+zugetragen.</p>
+
+<p>Au&szlig;er den von <em class="gesperrt">W. Grimm</em> a. a. O. namhaft gemachten Sammlungen sind
+verschiedene ehstnische M&auml;rchen ver&ouml;ffentlicht worden, namentlich in den
+Jahrg&auml;ngen 1846, 1848, 1849, 1852 und 1858 des &raquo;Inlands&laquo;, im
+illustrirten revalschen Almanach 1855 und 1856 und anderswo; eine
+ziemlich genaue Aufz&auml;hlung derselben wird man in <em class="antiqua">Dr.</em> <em class="gesperrt">Winkelmanns</em> nun im
+Druck befind<span class='pagenum'><a name="Page_vi" id="Page_vi">[S vi]</a></span>licher <em class="antiqua">Bibliotheca Livoniae historica</em> S. 39 f. finden. Am
+beachtenswertesten sind die von den auch sonst um die Literatur der
+Ehsten hochverdienten beiden M&auml;nnern Heinrich <em class="gesperrt">Neus</em> in Reval und
+Friedrich <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> in Werro mitgetheilten M&auml;rchen. Der letztere der
+beiden genannten Herren erhielt auch von der finnischen
+Literaturgesellschaft in Helsingfors den ehrenvollen Auftrag, eine
+umfassende Sammlung von ehstnischen M&auml;rchen herauszugeben. Diese
+Sammlung, welche auf 368 Seiten 43 gr&ouml;&szlig;ere und 18 kleinere St&uuml;cke
+umfa&szlig;t, erschien im Jahre 1866 zu Helsingfors im Verlage der
+Literaturgesellschaft mit Bewilligung der letzteren und des Herrn
+<em class="gesperrt">Kreutzwald</em> hat Herr <em class="gesperrt">L&ouml;we</em>, welcher sich w&auml;hrend seines Aufenthalts in
+Ehstland anerkennenswerthe Kenntnisse der ehstnischen Sprache erworben
+hat, vorliegende Uebersetzung unternommen, die sich durch sich selbst so
+sehr empfiehlt, da&szlig; eine Empfehlung von meiner Seite &uuml;berfl&uuml;ssig sein
+d&uuml;rfte. Die Leser dieser freundlichen Sch&ouml;pfungen der Volkspoesie werden
+es nicht minder als ich w&uuml;nschen, da&szlig; baldigst eine Fortsetzung der
+Uebersetzung erscheine.</p>
+
+<p>Schlie&szlig;lich kann ich die erfreuliche Nachricht mittheilen, da&szlig; in kurzer
+Zeit die Ver&ouml;ffentlichung mehrerer durch die Herren <em class="gesperrt">Hurt</em> und <em class="gesperrt">Jakobson</em>
+aus dem Volksmunde aufgezeichneter ehstnischer M&auml;rchen in den Schriften
+der gelehrten ehstnischen Gesellschaft in Dorpat zu erwarten ist.</p>
+
+<p><span style="margin-left: 2em;">St. Petersburg, den 8. (20.) Februar 1869.</span></p>
+
+<p><span style="margin-left: 6em;"><b>A. Schiefner.</b></span></p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_vii" id="Page_vii">[S vii]</a></span></p>
+<h2><em class="gesperrt">Inhalt.</em></h2>
+
+
+<div class='center'>
+<table border="0" cellpadding="4" cellspacing="0" summary="">
+<tr>
+ <td align='left'></td>
+ <td align='left'></td>
+ <td align='right'>Seite</td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>1.</td>
+ <td align='left'>Die Goldspinnerinnen</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_1'>1-24</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>2.</td>
+ <td align='left'>Die im Mondschein badenden Jungfrauen</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_25'>25-31</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>3.</td>
+ <td align='left'>Schnellfu&szlig;, Flinkhand und Scharfauge</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_32'>32-58</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>4.</td>
+ <td align='left'>Der Tontlawald</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_59'>59-76</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>5.</td>
+ <td align='left'>Der Waise Handm&uuml;hle</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_77'>77-81</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>6.</td>
+ <td align='left'>Die zw&ouml;lf T&ouml;chter</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_82'>82-91</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>7.</td>
+ <td align='left'>Wie eine Waise unverhofft ihr Gl&uuml;ck fand</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_92'>92-101</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>8.</td>
+ <td align='left'>Schlaukopf</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_102'>102-121</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>9.</td>
+ <td align='left'>Der Donnersohn</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_122'>122-132</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>10.</td>
+ <td align='left'>Pikne's Dudelsack</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_133'>133-140</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>11.</td>
+ <td align='left'>Der Zwerge Streit</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_141'>141-147</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>12.</td>
+ <td align='left'>Die Galgenm&auml;nnlein</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_148'>148-159</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>13.</td>
+ <td align='left'>Wie eine K&ouml;nigstochter sieben Jahre geschlafen</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_160'>160-173</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>14.</td>
+ <td align='left'>Der dankbare K&ouml;nigssohn</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_174'>174-202</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>15.</td>
+ <td align='left'>R&otilde;ugatajas Tochter</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_203'>203-211</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>16.</td>
+ <td align='left'>Die Meermaid</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_212'>212-229</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>17.</td>
+ <td align='left'>Die Unterirdischen</td>
+ <td align='left'><a href='#Page_230'>230-240</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>18.</td>
+ <td align='left'>Der Nordlands-Drache</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_241'>241-261</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>19.</td>
+ <td align='left'>Das Gl&uuml;cksei</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_262'>262-272</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'><span class='pagenum'><a name="Page_viii" id="Page_viii">[S viii]</a></span>20.</td>
+ <td align='left'>Der Frauenm&ouml;rder</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_273'>273-284</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>21.</td>
+ <td align='left'>Der herzhafte Riegenaufseher</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_285'>285-297</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>22.</td>
+ <td align='left'>Wie ein K&ouml;nigssohn als H&uuml;terknabe aufwuchs</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_298'>298-317</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>23.</td>
+ <td align='left'>Dudelsack-Tiidu</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_318'>318-340</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='right'>24.</td>
+ <td align='left'>Die aus dem Ei entsprossene K&ouml;nigstochter</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_341'>341-355</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='left'></td>
+ <td align='left'>Anmerkungen</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_356'>356-365</a></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='left'></td>
+ <td align='left'></td>
+ <td align='left'></td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='left' colspan="2">Berichtigungen und Zus&auml;tze</td>
+ <td align='right'><a href='#Page_366'>366</a></td>
+</tr>
+</table></div>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_1" id="Page_1">[S 1]</a></span></p>
+<h2>1. Die Goldspinnerinnen.<a name="FNanchor_1_1" id="FNanchor_1_1"></a><a href="#Footnote_1_1" class="fnanchor">[1]</a></h2>
+
+
+<p>Ich will euch eine sch&ouml;ne Geschichte aus dem Erbe der Vorzeit erz&auml;hlen,
+welche sich zutrug, als noch die Anger nach alter Weise von der
+Weisheit-Sprache der Vierf&uuml;&szlig;er und der Befiederten wiederhallten.</p>
+
+<p>Es lebte einmal vor Zeiten in einem tiefen Walde eine lahme Alte mit
+drei frischen T&ouml;chtern: ihre H&uuml;tte lag im Dickicht versteckt. Die
+T&ouml;chter bl&uuml;hten sch&ouml;nen Blumen gleich um der Mutter verdorrten Stumpf;
+besonders war die j&uuml;ngste Schwester sch&ouml;n und zierlich wie ein
+Bohnensch&ouml;tchen. Aber in dieser Einsamkeit gab es keine andern Beschauer
+als am Tage die Sonne, und bei Nacht den Mond und die Augen der Sterne.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Brennend hei&szlig; mit J&uuml;nglingsaugen<br /></span>
+<span class="i0">Schien die Sonn' auf ihren Kopfputz,<br /></span>
+<span class="i0">Gl&auml;nzte auf den bunten B&auml;ndern,<br /></span>
+<span class="i0">R&ouml;thete die bunten S&auml;ume.&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Die alte Mutter lie&szlig; die M&auml;dchen nicht m&uuml;&szlig;ig gehen, noch s&auml;umig sein,
+sondern hielt sie vom Morgen bis zum Abend zur Arbeit an; sie sa&szlig;en Tag
+f&uuml;r Tag am Spinn<span class='pagenum'><a name="Page_2" id="Page_2">[S 2]</a></span>rocken und spannen Goldflachs zu Garn. Den armen
+Dingern wurde weder Donnerstag noch Sonnabend<a name="FNanchor_2_2" id="FNanchor_2_2"></a><a href="#Footnote_2_2" class="fnanchor">[2]</a> Abend Mu&szlig;e geg&ouml;nnt, den
+Gabenkasten zu bereichern,<a name="FNanchor_3_3" id="FNanchor_3_3"></a><a href="#Footnote_3_3" class="fnanchor">[3]</a> und wenn nicht in der D&auml;mmerung oder im
+Mondenschein verstohlener Weise die Stricknadel zur Hand genommen wurde,
+so blieb der Kasten ohne Zuwachs. War die Kunkel abgesponnen, so wurde
+sofort eine neue aufgesetzt, und &uuml;berdies mu&szlig;te das Garn eben, drall und
+fein sein. Das fertige Garn verwahrte die Alte hinter Schlo&szlig; und Riegel
+in einer geheimen Kammer, wohin die T&ouml;chter ihren Fu&szlig; nicht setzen
+durften. Von wo der Goldflachs in's Haus gebracht wurde, oder zu was
+f&uuml;r<span class='pagenum'><a name="Page_3" id="Page_3">[S 3]</a></span> einem Gewebe die Garne gesponnen wurden, das war den Spinnerinnen
+nicht bekannt geworden; die Mutter gab auf solche Fragen niemals
+Antwort. Zwei oder drei Mal in jedem Sommer machte die Alte eine Reise,
+man wu&szlig;te nicht wohin, blieb zuweilen &uuml;ber eine Woche aus und kam immer
+bei n&auml;chtlicher Weile zur&uuml;ck, so da&szlig; die T&ouml;chter niemals erfuhren, was
+sie mitgebracht hatte. Ehe sie abreiste, theilte sie jedesmal den
+T&ouml;chtern auf so viel Tage Arbeit aus, als sie auszubleiben gedachte.</p>
+
+<p>Jetzt war wieder die Zeit gekommen, wo die Alte ihre Wanderung
+unternehmen wollte. Gespinnst auf sechs Tage wurde den M&auml;dchen
+ausgetheilt, und dabei abermals die alte Ermahnung eingesch&auml;rft:&raquo;Kinder
+la&szlig;t die Augen nicht schweifen und haltet die Finger geschickt, damit
+der Faden in der Spule nicht rei&szlig;t, sonst w&uuml;rde der Glanz des Goldgarns
+verschwinden und mit eurem Gl&uuml;cke w&uuml;rde es auch aus sein!&laquo; Die M&auml;dchen
+verlachten diese mit Nachdruck gegebene Ermahnung; ehe noch die Mutter
+auf ihrer Kr&uuml;cke zehn Schritte weit vom Hause gekommen war, fingen sie
+alle drei an zu h&ouml;hnen. &raquo;Dieses alberne Verbot, das immer wiederholt
+wird, h&auml;tten wir nicht n&ouml;thig gehabt,&laquo; sagte die j&uuml;ngste Schwester. &raquo;Der
+Goldgarnfaden rei&szlig;t nicht beim Zupfen, geschweige denn beim Spinnen.&laquo;
+Die andere Schwester setzte hinzu: &raquo;Eben so wenig ist es m&ouml;glich, da&szlig;
+der Goldglanz sich verliere.&laquo; Oft schon hat M&auml;dchen-Vorwitz Manches
+voreilig verspottet, woraus doch endlich nach vielem Jubel Thr&auml;nenjammer
+erwuchs.</p>
+
+<p>Am dritten Tage nach der Mutter Abreise ereignete sich ein unerwarteter
+Vorfall, der den T&ouml;chtern anfangs<span class='pagenum'><a name="Page_4" id="Page_4">[S 4]</a></span> Schrecken, dann Freude und Gl&uuml;ck, auf
+lange Zeit aber Kummer bereiten sollte. Ein Kalew-Spro&szlig;,<a name="FNanchor_4_4" id="FNanchor_4_4"></a><a href="#Footnote_4_4" class="fnanchor">[4]</a> eines K&ouml;nigs
+Sohn, war beim Verfolgen des Wildes von seinen Gef&auml;hrten abgekommen, und
+hatte sich im Walde so weit verirrt, da&szlig; weder das Gebell der Hunde noch
+das Blasen der H&ouml;rner ihm einen Wegweiser herbeischaffte. Alles Rufen
+fand nur sein eigenes Echo,<a name="FNanchor_5_5" id="FNanchor_5_5"></a><a href="#Footnote_5_5" class="fnanchor">[5]</a> oder fing sich im dichten Gestr&uuml;pp.
+Erm&uuml;det und verdrie&szlig;lich stieg der k&ouml;nigliche J&uuml;ngling endlich vom
+Pferde und warf sich nieder, um im Schatten eines Geb&uuml;sches auszuruhen,
+w&auml;hrend das Pferd sich nach Gefallen auf dem Rasen sein Futter suchen
+durfte. Als der K&ouml;nigssohn aus dem Schlaf erwachte, stand die Sonne
+schon niedrig. Als er jetzt von neuem in die Kreuz und in die Quer nach
+dem Wege suchte, entdeckte er endlich einen kleinen Fu&szlig;steig, der ihn
+zur H&uuml;tte der lahmen Alten brachte. Wohl erschracken die T&ouml;chter, als
+sie pl&ouml;tzlich den fremden Mann sahen, dessen Gleichen ihr Auge nie zuvor
+erblickt hatte. Inde&szlig; hatten sie sich nach Vollendung ihres Tagewerks in
+der Abendk&uuml;hle mit dem Fremden befreundet, so da&szlig; sie gar nicht einmal
+zur Ruhe gehen mochten. Und als endlich die &auml;lteren Schwestern sich
+schlafen gelegt hatten,<span class='pagenum'><a name="Page_5" id="Page_5">[S 5]</a></span> sa&szlig; die j&uuml;ngste noch mit dem Gaste auf der
+Th&uuml;rschwelle, und es kam ihnen diese Nacht kein Schlaf in die Augen.</p>
+
+<p>W&auml;hrend die Beiden im Angesicht des Mondes und der Sterne sich ihr Herz
+&ouml;ffnen und s&uuml;&szlig;e Gespr&auml;che f&uuml;hren, wollen wir uns nach den J&auml;gern
+umsehen, die ihren Anf&uuml;hrer im Walde verloren hatten. Unerm&uuml;dlich war
+der ganze Wald nach allen Seiten hin von ihnen durchsucht worden, bis
+das Dunkel der Nacht dem Suchen ein Ziel setzte. Dann wurden zwei M&auml;nner
+in die Stadt zur&uuml;ckgeschickt, um die traurige Botschaft zu &uuml;berbringen,
+w&auml;hrend die Uebrigen unter einer breiten &auml;stigen Fichte ihr Nachtlager
+aufschlugen, um am n&auml;chsten Morgen wieder weiter zu suchen. Der K&ouml;nig
+hatte gleich Befehl gegeben, am andern Morgen ein Regiment zu Pferde und
+eins zu Fu&szlig; ausr&uuml;cken zu lassen, um seinen verlorenen Sohn aufzusuchen.
+Der lange weite Wald dehnte die Nachforschungen bis zum dritten Tage
+aus; dann erst wurden in der Fr&uuml;he Fu&szlig;stapfen gefunden, die man
+verfolgte und dadurch den Fu&szlig;steig entdeckte, der zur H&uuml;tte f&uuml;hrte. Dem
+K&ouml;nigssohne war in Gesellschaft der M&auml;dchen die Zeit nicht lang
+geworden, noch weniger hatte er Sehnsucht nach Hause gehabt. Ehe er
+schied, gelobte er der J&uuml;ngsten heimlich, da&szlig; er in kurzer Zeit
+wiederkommen und dann, sei es im Guten oder mit Gewalt, sie mit sich
+nehmen und zu seiner Gemahlin machen wolle. Wenn gleich die &auml;ltern
+Schwestern von dieser Verabredung nichts geh&ouml;rt hatten, so kam die Sache
+doch heraus und zwar in einer Weise, die Niemand vermuthet h&auml;tte.</p>
+
+<p>Nicht gering war n&auml;mlich der j&uuml;ngsten Tochter Best&uuml;rzung, als sie,
+nachdem der K&ouml;nigssohn fortgegangen<span class='pagenum'><a name="Page_6" id="Page_6">[S 6]</a></span> war, sich an den Rocken setzte und
+fand, da&szlig; der Faden in der Spule gerissen war. Zwar wurden die Enden des
+Fadens im Kreuzknoten wieder zusammengekn&uuml;pft und das Rad in rascheren
+Gang gebracht, damit emsige Arbeit die im Kosen mit dem Br&auml;utigam
+verlorene Zeit wieder einbr&auml;chte. Allein ein unerh&ouml;rter und
+unerkl&auml;rlicher Umstand machte das Herz des M&auml;dchens beben: das Goldgarn
+hatte nicht mehr seinen vorigen Glanz. &mdash; Da half kein Scheuern, kein
+Seufzen und kein Benetzen mit Thr&auml;nen; die Sache war nicht wieder gut zu
+machen. Das Ungl&uuml;ck springt zur Th&uuml;r in's Haus, kommt durch's Fenster
+herein und kriecht durch jede Ritze, die es unverstopft findet, sagt ein
+altes weises Wort; so geschah es auch jetzt.</p>
+
+<p>Die Alte war in der Nacht nach Hause gekommen. Als sie am Morgen in die
+Stube trat, erkannte sie augenblicklich, da&szlig; hier etwas Unrechtes
+vorgegangen sei. Ihr Herz entbrannte in Zorn; sie lie&szlig; die T&ouml;chter eine
+nach der andern vor sich kommen und verlangte Rechenschaft. Mit Leugnen
+und Ausreden kamen die M&auml;dchen nicht weit, L&uuml;gen haben kurze Beine; die
+schlaue Alte brachte bald heraus, was der Dorfhahn hinter ihrem R&uuml;cken
+der j&uuml;ngsten Tochter in's Ohr gekr&auml;ht hatte. Das alte Weib fing nun an
+so gr&auml;ulich zu fluchen, als wollte sie Himmel und Erde mit ihren
+Verw&uuml;nschungen verfinstern. Zuletzt drohte sie, dem J&uuml;ngling den Hals zu
+brechen und sein Fleisch den wilden Thieren zur Speise vorzuwerfen, wenn
+er sich gel&uuml;sten lie&szlig;e, noch einmal wieder zu kommen. &mdash;Die j&uuml;ngste
+Tochter wurde roth wie ein gesottener Krebs, fand den ganzen Tag keine
+Ruhe und konnte auch die Nacht kein Auge zuthun; immer lag es ihr schwer
+auf<span class='pagenum'><a name="Page_7" id="Page_7">[S 7]</a></span> der Seele, da&szlig; der J&uuml;ngling, wenn er zur&uuml;ck k&auml;me, seinen Tod finden
+k&ouml;nnte. Fr&uuml;h am Morgen, als die Mutter und die T&ouml;chter noch im
+Morgenschlummer lagen, verlie&szlig; sie heimlich das Haus, um in der
+Thauesk&uuml;hle aufzuathmen. Zum Gl&uuml;ck hatte sie als Kind von der Alten die
+Vogelsprache gelernt, und das kam ihr jetzt zu Statten. In der N&auml;he sa&szlig;
+auf einem Fichtenwipfel ein Rabe, der mit dem Schnabel sein Gefieder
+zurechtzupfte. Das M&auml;dchen rief. &raquo;<em class="gesperrt">Lieber Lichtvogel, kl&uuml;gster</em> des
+Vogelgeschlechts! willst du mir zu H&uuml;lfe kommen?&laquo; &raquo;Was f&uuml;r H&uuml;lfe
+begehrst du?&laquo; fragte der Rabe. Das M&auml;dchen erwiederte: &raquo;Flieg' aus dem
+Walde heraus &uuml;ber Land, bis dir eine pr&auml;chtige Stadt mit einem
+K&ouml;uigssitz aufst&ouml;&szlig;t. Suche mit dem K&ouml;nigssohn zusammenzukommen und melde
+ihm, was f&uuml;r ein Ungl&uuml;ck mir widerfahren ist.&laquo; Darauf erz&auml;hlte sie dem
+Raben die Geschichte ausf&uuml;hrlich, vom Rei&szlig;en des Fadens an bis zu der
+gr&auml;&szlig;lichen Drohung der Mutter, und sprach die Bitte aus, da&szlig; der
+J&uuml;ngling nicht mehr zur&uuml;ckkommen m&ouml;chte. Der Rabe versprach, den Auftrag
+auszurichten, wenn er Jemand f&auml;nde, der seiner Sprache kundig w&auml;re und
+flog sogleich davon.</p>
+
+<p>Die Mutter lie&szlig; die j&uuml;ngste Tochter nicht mehr am Spinnrocken Platz
+nehmen, sondern hielt sie an, das gesponnene Garn abzuwickeln. Diese
+Arbeit w&auml;re dem M&auml;dchen leichter gewesen als die fr&uuml;here, aber das ewige
+Fluchen und Zanken der Mutter lie&szlig; ihr vom Morgen bis zum Abend keine
+Ruhe. Versuchte die Jungfrau, sich zu entschuldigen, so wurde die Sache
+noch &auml;rger. Wenn einem Weibe einmal die Galle &uuml;berl&auml;uft, und der Zorn<span class='pagenum'><a name="Page_8" id="Page_8">[S 8]</a></span>
+ihre Kinnladen ge&ouml;ffnet hat, so vermag keine Gewalt sie wieder zu
+schlie&szlig;en.</p>
+
+<p>Gegen Abend rief der Rabe vom Fichtenwipfel her kraa, kraa! und das
+gequ&auml;lte M&auml;dchen eilte hinaus, um den Bescheid zu h&ouml;ren. Der Rabe hatte
+gl&uuml;cklicherweise in des K&ouml;nigs Garten eines Windzauberers<a name="FNanchor_6_6" id="FNanchor_6_6"></a><a href="#Footnote_6_6" class="fnanchor">[6]</a> Sohn
+gefunden, der die Vogelsprache vollkommen verstand. Ihm meldete der
+schwarze Vogel die von der Jungfrau ihm anvertraute Botschaft, und bat
+ihn, die Sache dem K&ouml;nigssohn mitzutheilen. Als der G&auml;rtnerbursche dem
+K&ouml;nigssohn alles erz&auml;hlt hatte, wurde diesem das Herz schwer, doch pflog
+er mit seinen Freunden heimlich Rath &uuml;ber die Befreiung der Jungfrau.
+&raquo;Sage dem Raben,&laquo; so unterwies er dann des Windzauberer's Sohn &mdash; &raquo;da&szlig;
+er eilig zur&uuml;ckfliege und der Jungfrau melde: sei wach in der neunten
+Nacht, dann erscheint ein Retter, der das K&uuml;chlein den Klauen des
+Habichts entrei&szlig;en wird.&laquo; Zum Lohn f&uuml;r die Bestellung erhielt der Rabe
+ein St&uuml;ck Fleisch, um seine Fl&uuml;gel zu kr&auml;ftigen, und dann wurde er
+wieder zur&uuml;ck geschickt. Die Jungfrau dankte dem schwarzen Vogel f&uuml;r
+seine Besorgung, verbarg aber das Geh&ouml;rte in ihrem Herzen, damit die
+andern nichts davon erf&uuml;hren. Aber je n&auml;her der neunte Tag kam, desto
+schwerer wurde ihr das Herz, wenn sie bedachte, da&szlig; ein
+unvorhergesehenes Ungl&uuml;ck alles zu Schanden machen k&ouml;nnte.</p>
+
+<p>In der neunten Nacht, als die alte Mutter und die Schwestern sich zur
+Ruhe gelegt hatten, schlich die j&uuml;ngste<span class='pagenum'><a name="Page_9" id="Page_9">[S 9]</a></span> Schwester auf den Zehen aus dem
+Hause, und setzte sich unter einen Baum auf den Rasen, um des Br&auml;utigams
+zu harren. Hoffnung und Furcht erf&uuml;llten zugleich ihr Herz. Schon kr&auml;hte
+der Hahn zum zweiten Mal, aber vom Walde her war weder ein Ger&auml;usch von
+Tritten noch ein Rufen zu h&ouml;ren. Zwischen dem zweiten und dritten
+Hahnenschrei drang von weitem ein Ger&auml;usch wie leises Pferdegetrappel an
+ihr Ohr. Sie lie&szlig; sich durch dies Ger&auml;usch leiten und ging den Kommenden
+entgegen, damit deren Ann&auml;herung die im Hause Schlafenden nicht wecken
+m&ouml;chte. Bald erblickte sie die Kriegerschaar, an deren Spitze der
+K&ouml;nigssohn selbst als F&uuml;hrer ritt, denn er hatte, als er von hier
+fortgegangen war, an den B&auml;umen heimliche Zeichen gemacht, durch die er
+den rechten Weg erkannte. Als er die Jungfrau gewahr wurde, sprang er
+vom Pferde, half ihr in den Sattel, setzte sich selbst vor sie hin,
+damit sie sich an ihn lehne und dann ging es schleunig heimw&auml;rts. Der
+Mond gab zwischen den B&auml;umen so viel Licht, da&szlig; der bezeichnete Pfad
+ihnen nicht verloren ging. Das Fr&uuml;hroth hatte &uuml;berall der V&ouml;gel Zungen
+gel&ouml;st und ihr Gezwitscher geweckt. H&auml;tte die Jungfrau auf sie zu achten
+und aus ihrer Zwiesprach Belehrung zu sch&ouml;pfen gewu&szlig;t, es h&auml;tte den
+Beiden mehr gen&uuml;gt als die honigs&uuml;&szlig;e Schmeichelrede, welche aus des
+K&ouml;nigssohnes Munde flo&szlig; und das Einzige war, was in ihr Ohr drang. Sie
+h&ouml;rte und sah nichts Anderes als den Br&auml;utigam, der sie bat, alle eitle
+Furcht aufzugeben und dreist auf den Schutz der Krieger zu bauen. Als
+sie in's Freie kamen, stand die Sonne schon ziemlich hoch.<span class='pagenum'><a name="Page_10" id="Page_10">[S 10]</a></span></p>
+
+<p>Zum Gl&uuml;ck hatte die alte Mutter am Morgen fr&uuml;h der Tochter Flucht nicht
+gleich bemerkt; erst etwas sp&auml;ter, als sie die Garnwinde nicht
+abgewickelt fand, fragte sie, wohin die j&uuml;ngste Schwester gegangen sei.
+Darauf wu&szlig;te Niemand Antwort zu geben. Aus mancherlei Zeichen ersah
+jetzt die Mutter, da&szlig; die Tochter entflohen war; sofort fa&szlig;te sie den
+t&uuml;ckischen Vorsatz, der fl&uuml;chtigen die Strafe auf dem Fu&szlig;e nachzusenden.
+Sie holte vom Boden herunter eine Handvoll aus neunerlei Arten
+gemischter Hexenkr&auml;uter, sch&uuml;ttete Salz, das besprochen war, dazu und
+band Alles in ein L&auml;ppchen, da&szlig; es ein Quast wurde; dann hauchte sie
+Fl&uuml;che und Verw&uuml;nschungen darauf und lie&szlig; nun das Hexenkn&auml;uel mit dem
+Winde davon ziehen, w&auml;hrend sie sang:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Wirbelwind! verleihe Fl&uuml;gel!<br /></span>
+<span class="i0">Windesmutter! deinen Fittig!<br /></span>
+<span class="i0">Treibet dieses Kn&auml;ulchen vorw&auml;rts,<br /></span>
+<span class="i0">Da&szlig; es windesschnell dahin saust,<br /></span>
+<span class="i0">Da&szlig; es todverbreitend hinf&auml;hrt,<br /></span>
+<span class="i0">Seuchenbringend weiter fliege!&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Zwischen Mittmorgen und Mittag gelangte der K&ouml;nigssohn mit der
+Kriegerschaar an das Ufer eines breiten Flusses, &uuml;ber welchen eine
+schmale Br&uuml;cke geschlagen war, so da&szlig; die M&auml;nner nur einzeln her&uuml;ber
+konnten. Der K&ouml;nigssohn ritt eben mitten auf der Br&uuml;cke, als mit dem
+Winde das Hexenkn&auml;uel daher fuhr und wie eine Bremse auf das Pferd traf.
+Das Pferd schnaubte vor Schreck, stellte sich pl&ouml;tzlich hoch auf die
+Hinterbeine, und eh' noch jemand zu H&uuml;lfe kommen konnte, glitt die
+Jungfrau vom Sattel herab j&auml;hlings in den Flu&szlig;. Der K&ouml;nigs<span class='pagenum'><a name="Page_11" id="Page_11">[S 11]</a></span>sohn wollte
+ihr nachspringen, aber die Krieger verhinderten ihn daran, indem sie ihn
+festhielten; denn der Flu&szlig; war grundlos tief und menschliche H&uuml;lfe
+konnte dem Ungl&uuml;ck, das einmal geschehen war, doch nicht mehr abhelfen.</p>
+
+<p>Schrecken und tiefe Betr&uuml;bnis hatten den K&ouml;nigssohn ganz bet&auml;ubt; die
+Krieger f&uuml;hrten ihn gegen seinen Willen nach Hause zur&uuml;ck, wo er Wochen
+lang in stiller Kammer &uuml;ber das Ungl&uuml;ck trauerte, so da&szlig; er anfangs
+nicht einmal Speise noch Trank zu sich nahm. Der K&ouml;nig lie&szlig; aus allen
+Orten von nah und fern Zauberer zusammenrufen, aber keiner konnte die
+Krankheit erkl&auml;ren, noch wu&szlig;te einer ein Mittel dagegen anzugeben. Da
+sagte eines Tages des Windzauberers Sohn, der in des K&ouml;nigs Garten
+G&auml;rtnerbursch war: &raquo;Sendet nur nach Finnland, da&szlig; der uralte Zauberer
+komme, der versteht mehr als die Zauberer eures Landes.&laquo;</p>
+
+<p>Alsbald sandte der K&ouml;nig eine Botschaft an den alten Zauberer Finnlands,
+und dieser traf schon nach einer Woche auf Windesfl&uuml;geln ein. Er sagte
+zum K&ouml;nig: &raquo;Geehrter K&ouml;nig! die Krankheit ist vom Winde angeweht. Ein
+b&ouml;ses Hexen-Kn&auml;uel hat des J&uuml;nglings bessere Herzensh&auml;lfte hingerafft,
+und dar&uuml;ber gr&auml;mt er sich best&auml;ndig. Schicket ihn oft in den Wind, damit
+der Wind die Sorgen in den Wald treibt.&laquo;<a name="FNanchor_7_7" id="FNanchor_7_7"></a><a href="#Footnote_7_7" class="fnanchor">[7]</a><span class='pagenum'><a name="Page_12" id="Page_12">[S 12]</a></span></p>
+
+<p>So kam es auch wirklich; der K&ouml;nigssohn fing an sich zu erholen, Nahrung
+zu nehmen und Nachts zu schlafen. Zuletzt gestand er seinen Eltern
+seinen Herzenskummer; der Vater w&uuml;nschte, da&szlig; der Sohn wieder auf die
+Freite gehen und ein junges Weib nach seinem Sinne heim f&uuml;hren m&ouml;chte,
+aber der Sohn wollte nichts davon wissen.</p>
+
+<p>Schon &uuml;ber ein Jahr war dem J&uuml;ngling in Trauer verstrichen, als er eines
+Tages zuf&auml;llig an die Br&uuml;cke kam, wo seine Liebste ihr Ende gefunden
+hatte. Als er sich das Ungl&uuml;ck in's Ged&auml;chtni&szlig; zur&uuml;ckrief, traten ihm
+bittere Thr&auml;nen in die Augen. Mit einem Male h&ouml;rte er einen sch&ouml;nen
+Gesang anstimmen, obwohl nirgends ein menschliches Wesen zu sehen war.
+Die Stimme sang:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Durch der Mutter Fluch beschworen<br /></span>
+<span class="i0">Nahm das Wasser die Unsel'ge,<br /></span>
+<span class="i0">Barg das Wellengrab die Kleine,<br /></span>
+<span class="i0">Deckte Ahti's<a name="FNanchor_8_8" id="FNanchor_8_8"></a><a href="#Footnote_8_8" class="fnanchor">[8]</a> Fluth das Liebchen.&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Der K&ouml;nigssohn stieg vom Pferde und sp&auml;hte nach allen Seiten, ob nicht
+Jemand unter der Br&uuml;cke versteckt<span class='pagenum'><a name="Page_13" id="Page_13">[S 13]</a></span> sei, aber soweit sein Auge reichte,
+war nirgends ein S&auml;nger zu sehen. Auf der Wasserfl&auml;che schaukelte
+zwischen breiten Bl&auml;ttern ein Teichr&ouml;schen, das war der einzige
+Gegenstand, den er erblickte. Aber ein schaukelndes Bl&uuml;mchen konnte doch
+nicht singen, dahinter mu&szlig;te irgend ein wunderbares Geheimni&szlig; stecken.
+Er band sein Pferd am Ufer an einen Baumstumpf, setzte sich auf die
+Br&uuml;cke und lauschte, ob Auge oder Ohr n&auml;here Auskunft geben w&uuml;rden. Eine
+Zeitlang blieb Alles still, dann sang wieder der unsichtbare S&auml;nger:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Durch der Mutter Fluch beschworen<br /></span>
+<span class="i0">Nahm das Wasser die Unsel'ge,<br /></span>
+<span class="i0">Barg das Wellengrab die Kleine,<br /></span>
+<span class="i0">Deckte Ahti's Fluth das Liebchen.&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Wie dem Menschen nicht selten ein guter Gedanke unerwartet vom Winde
+zugeweht wird, so geschah es auch hier. Der K&ouml;nigssohn dachte: wenn ich
+unges&auml;umt zur Waldh&uuml;tte reite, wer wei&szlig;, ob mir nicht die
+Goldspinnerinnen diesen wunderbaren Fall deuten k&ouml;nnen. So stieg er zu
+Pferde und schlug den Weg zum Walde ein. An den fr&uuml;heren Zeichen hoffte
+er sich leicht zurecht zu finden, allein der Wald war gewachsen und er
+hatte &uuml;ber einen Tag lang zu suchen, ehe er auf den Fu&szlig;steig gelangte.
+In der N&auml;he der H&uuml;tte hielt er an, um zu warten, ob eine der Jungfrauen
+herauskommen w&uuml;rde. Fr&uuml;h Morgens kam die &auml;lteste Schwester zur Quelle,
+um sich das Gesicht zu waschen. Der J&uuml;ngling trat n&auml;her, erz&auml;hlte das
+Ungl&uuml;ck, welches sich voriges Jahr auf der Br&uuml;cke zugetragen, und was
+f&uuml;r einen Gesang er vor einigen Tagen dort<span class='pagenum'><a name="Page_14" id="Page_14">[S 14]</a></span> geh&ouml;rt habe. Die alte Mutter
+war gl&uuml;cklicher Weise gerade nicht daheim, de&szlig;wegen lud die Jungfrau den
+K&ouml;nigssohn in's Haus. Als die M&auml;dchen die ausf&uuml;hrliche Erz&auml;hlung
+angeh&ouml;rt hatten, begriffen sie ohne Weiteres, da&szlig; das Ungl&uuml;ck des
+vorigen Jahres durch ein Hexenkn&auml;uel der Mutter entstanden war, und da&szlig;
+die Schwester jetzt noch nicht gestorben sei, sondern in Zauberbanden
+liege. Die &auml;lteste Schwester fragte: &raquo;Ist euren Blicken auf dem
+Wasserspiegel nichts begegnet, was einen Gesang h&auml;tte k&ouml;nnen ert&ouml;nen
+lassen?&laquo; &raquo;Nichts,&laquo; erwiederte der K&ouml;nigssohn. &raquo;So weit mein Auge
+reichte, war auf dem Wasserspiegel nichts weiter zu sehen, als ein
+gelbes Teichr&ouml;schen zwischen breiten Bl&auml;ttern, aber Bl&uuml;mchen und Bl&auml;tter
+k&ouml;nnen doch nicht singen.&laquo; Die T&ouml;chter muthma&szlig;ten sogleich, da&szlig; das
+Teichr&ouml;schen nichts Anderes sein k&ouml;nne, als ihre in den Wellen
+versunkene und durch Hexenkunst in ein Bl&uuml;mchen verwandelte Schwester.
+Sie wu&szlig;ten, wie die alte Mutter das fluchbehaftete Hexenkn&auml;uel hatte
+fliegen lassen, welches die Schwester, wenn es sie nicht t&ouml;dtete, in
+jeglicher Weise verwandeln konnte. Von dieser Vermuthung sagten sie
+inde&szlig; dem K&ouml;nigssohne nichts, denn so lange sie noch nicht Rath wu&szlig;ten
+zu ihrer Befreiung, wollten sie keine eitle Hoffnung erwecken. Da die
+R&uuml;ckkehr der Mutter erst in einigen Tagen erwartet wurde, hatten sie
+Zeit sich zu berathen.</p>
+
+<p>Die &auml;lteste Schwester holte nun am Abend eine Handvoll geh&ouml;rig
+gemischter Zauberkr&auml;uter vom Boden herunter, zerrieb sie, machte daraus
+mit Mehl einen Teig, buck einen Kuchen und gab ihn dem J&uuml;ngling zu
+essen, ehe er sich am Abend zur Ruhe legte. Der K&ouml;nigssohn hatte<span class='pagenum'><a name="Page_15" id="Page_15">[S 15]</a></span> in der
+Nacht einen wunderbaren Traum, als ob er im Walde unter den V&ouml;geln lebte
+und die einem jeden derselben eigene Sprache verst&uuml;nde. Als er am Morgen
+seinen Traum den Jungfrauen erz&auml;hle, sagte die &auml;lteste Schwester: &raquo;Zur
+guten Stunde habt ihr euch zu uns aufgemacht, zur guten Stunde habt ihr
+den Traum gehabt, der euch auf eurem Heimwege zur Wirklichkeit werden
+wird. Mein Schweinefleischkuchen von gestern, den ich euch zum Frommen
+buck und zu essen gab, war mit Zauberkr&auml;utern gef&uuml;llt, welche euch in
+den Stand setzen, Alles zu verstehen, was die klugen V&ouml;gel unter
+einander reden. In diesen M&auml;nnlein im Federkleide steckt viel verborgene
+Weisheit, die den Menschen unbekannt ist, de&szlig;halb gebt scharf Acht, was
+die V&ouml;gelschn&auml;bel verk&uuml;nden. Und wenn dann eure Leidenszeit vor&uuml;ber ist,
+so denkt auch an uns arme Kinder, die wir hier wie in einem ewigen
+Kerker am Rocken sitzen.&laquo;</p>
+
+<p>Der K&ouml;nigssohn dankte den M&auml;dchen f&uuml;r ihre gute Gesinnung und versprach,
+sie sp&auml;ter aus ihrer Knechtschaft zu befreien, sei es f&uuml;r ein L&ouml;segeld
+oder mit Gewalt; nahm Abschied und trat eilig die R&uuml;ckreise an. Die
+M&auml;dchen freuten sich, als sie sahen, da&szlig; ihnen der Faden nicht gerissen
+und der Goldglanz nicht verblichen sei; die alte Mutter konnte, wenn sie
+heim kam, ihnen nichts vorwerfen.</p>
+
+<p>Um so spa&szlig;hafter ging die Sache mit dem K&ouml;nigssohne, der im Walde wie
+mitten in zahlreicher Gesellschaft dahin ritt, weil der Gesang und das
+Gezwitscher der V&ouml;gel ganz verst&auml;ndlich wie Worte an sein Ohr schlugen.
+Hier sah er voll Verwunderung, wie viel Weisheit dem Menschen<span class='pagenum'><a name="Page_16" id="Page_16">[S 16]</a></span> dadurch
+unbekannt bleibt, da&szlig; er die Vogelsprache nicht versteht. Von dem, was
+das Federvolk anfangs redete, konnte der Wanderer das Meiste nicht recht
+fassen; es wurde &uuml;ber vielerlei Menschen dies und jenes ausgeplaudert,
+aber diese Menschen und ihr Treiben waren ihm fremd. Da sah er pl&ouml;tzlich
+auf einem hohen F&ouml;hrenwipfel eine Elster und eine Drossel, deren
+Unterhaltung auf ihn gem&uuml;nzt war.</p>
+
+<p>&raquo;Die Dummheit der Menschen ist gro&szlig;,&laquo; sagte die Drossel. &raquo;Sie wissen
+auch die geringf&uuml;gigsten Dinge nicht recht anzufassen. Dort sitzt neben
+der Br&uuml;cke in Gestalt einer Teichrose des alten lahmen Weibes Pflegekind
+schon ein ganzes Jahr, klagt singend den Vor&uuml;bergehenden ihre Noth, aber
+Niemand kommt sie zu erl&ouml;sen. Vor einigen Tagen erst ritt ihr ehemaliger
+Br&auml;utigam &uuml;ber die Br&uuml;cke, und h&ouml;rte den sehns&uuml;chtigen Gesang der
+Jungfrau, war aber auch nicht kl&uuml;ger als die Andern.&laquo; Die Elster
+erwiederte: &raquo;Und gleichwohl mu&szlig; das M&auml;dchen um seinetwillen von der
+Mutter die Strafe erdulden. Wenn ihm keine gr&ouml;&szlig;ere Weisheit zu Theil
+wird, als die, welche er aus dem Munde der Menschen vernimmt, so bleibt
+das M&auml;dchen ewig ein Bl&uuml;mlein.&laquo; &raquo;Des M&auml;dchens Befreiung w&uuml;rde eine
+Kleinigkeit sein,&laquo; sagte die Drossel, &raquo;wenn die Sache dem alten Zauberer
+von Finnland gr&uuml;ndlich dargelegt w&uuml;rde. Er k&ouml;nnte die Jungfrau leicht
+aus ihrem nassen Kerker und ihrem Blumenzwang befreien.&laquo;</p>
+
+<p>Dieses Gespr&auml;ch machte den J&uuml;ngling nachdenklich; indem er weiter ritt,
+ging er mit sich zu Rathe, wo er wohl einen Boten hern&auml;hme, den er nach
+Finnland schicken k&ouml;nnte. Da h&ouml;rte er &uuml;ber seinem Haupte, wie eine<span class='pagenum'><a name="Page_17" id="Page_17">[S 17]</a></span>
+Schwalbe zur andern sagte: &raquo;Komm, la&szlig; uns nach Finnland ziehen, dort ist
+besser nisten als hier!&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Haltet, Freunde!&laquo; rief der K&ouml;nigssohn in der Vogelsprache. &raquo;Bringt dem
+alten Zauberer in Finnland tausend Gr&uuml;&szlig;e von mir und bittet ihn um
+Bescheid, wie es wohl m&ouml;glich w&auml;re, eine in eine Teichrose verwandelte
+Jungfrau wieder zu einem Menschenbilde zu machen.&laquo; Die Schwalben
+versprachen den Auftrag auszurichten und flogen davon.</p>
+
+<p>Als er an's Ufer des Flusses kam, lie&szlig; er sein Pferd verschnaufen und
+blieb auf der Br&uuml;cke stehen, um zu horchen, ob nicht der Gesang sich
+wieder h&ouml;ren lasse. Aber Schweigen herrschte ringsum und es war nichts
+zu h&ouml;ren, als das Rauschen der Wellen und das Sausen des Windes.
+Unmuthig setzte sich der J&uuml;ngling wieder zu Pferde, und ritt heim, sagte
+aber Niemanden ein Wort von dieser Wanderung und ihrem Abenteuer.</p>
+
+<p>Eine Woche sp&auml;ter sa&szlig; er eines Tages im Garten, und dachte, die
+Schwalben m&uuml;&szlig;ten seine Botschaft wohl vergessen haben, als ein gro&szlig;er
+Adler hoch in den L&uuml;ften &uuml;ber seinem Haupte kreiste. Allm&auml;hlich stieg
+der Vogel immer tiefer herunter, bis er sich endlich auf einem Lindenast
+in der N&auml;he des K&ouml;nigssohnes niederlie&szlig;. &raquo;Der alte Zauberer in
+Finnland,&laquo; so lie&szlig; der Adler sich vernehmen, &raquo;sendet euch viele Gr&uuml;&szlig;e,
+und bittet es ihm nicht zu ver&uuml;beln, da&szlig; er nicht fr&uuml;her Antwort
+ertheilt hat. Es war gerade Niemand zu finden, der hierher wollte. Um
+die Jungfrau aus ihrem Blumenzustande zu erl&ouml;sen, ist nur dies n&ouml;thig:
+Gehet an das Ufer des Flusses, werfet eure Kleider ab und schmiert euch
+den K&ouml;rper &uuml;ber und &uuml;ber<span class='pagenum'><a name="Page_18" id="Page_18">[S 18]</a></span> mit Schlamm ein, so da&szlig; kein wei&szlig;er Fleck
+bleibt; dann nehmt die Nasenspitze zwischen die Finger und rufet: &raquo;&raquo;Aus
+dem Mann ein Krebs!&laquo;&laquo; Augenblicklich werdet ihr zum Krebs, dann geht in
+die Tiefe des Flusses; Ertrinken habt ihr nicht zu bef&uuml;rchten. Dr&auml;ngt
+euch dreist unter die Wurzeln des Teichr&ouml;schens, und l&ouml;set sie von
+Schlamm und Schilf, so da&szlig; sie nirgends mehr fest sitzen. H&auml;ngt euch
+dann mit euren Scheeren an ein Zweiglein der Wurzel an, so wird euch das
+Wasser sammt dem Bl&uuml;mchen auf die Oberfl&auml;che heben. Dann treibet mit dem
+Strom so lange fort, bis euch links am Ufer eine Eberesche mit
+bebl&auml;tterten Zweigen zu Gesicht kommt. Nicht weit von der Eberesche
+steht ein Stein von der H&ouml;he einer kleinen Badstube. Beim Steine m&uuml;&szlig;t
+ihr die Worte aussto&szlig;en: &raquo;&raquo;Aus der Teichrose die Jungfrau, aus dem Krebs
+der Mann!&laquo;&laquo; In demselben Augenblick wird es so geschehen.&laquo; Als der Adler
+geendigt hatte, hob er die Fittige und flog davon. Der J&uuml;ngling sah ihm
+eine Weile nach und wu&szlig;te nicht, was er davon halten sollte.</p>
+
+<p>Unter zweifelnden Gedanken verstrich ihm &uuml;ber eine Woche; er hatte weder
+Muth noch Vertrauen genug, die Befreiung in dieser Weise zu versuchen.
+Da h&ouml;rte er eines Tages aus dem Munde einer Kr&auml;he: &raquo;Was z&ouml;gerst du, der
+Weisung des Alten nachzukommen? Der alte Zauberer hat noch nie falschen
+Bescheid geschickt, und auch die Vogelsprache hat noch nie getrogen.
+Eile an das Ufer des Flusses und trockne die Sehnsuchtsthr&auml;nen der
+Jungfrau.&laquo; Die Rede der Kr&auml;he machte dem J&uuml;nglinge Muth; er dachte:
+Gr&ouml;&szlig;eres Ungl&uuml;ck kann mir nicht widerfahren als der Tod, aber leichter
+ist der Tod als unaufh&ouml;rliches<span class='pagenum'><a name="Page_19" id="Page_19">[S 19]</a></span> Trauern. Er setzte sich zu Pferde und
+ritt den bekannten Weg zum Ufer des Flusses. Als er an die Br&uuml;cke kam,
+h&ouml;rte er den Gesang:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Durch der Mutter Fluch beschworen<br /></span>
+<span class="i0">Mu&szlig; ich hier im Schlummer liegen,<br /></span>
+<span class="i0">Mu&szlig; das junge Kind verwelken,<br /></span>
+<span class="i0">In der Wellen Schoos hinsiechen.<br /></span>
+<span class="i0">Feucht und kalt das tiefe Bette<br /></span>
+<span class="i0">Decket jetzt die zarte Jungfrau.&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Der K&ouml;nigssohn legte seinem Pferde die Fu&szlig;fessel an, damit es sich nicht
+zu weit von der Br&uuml;cke entfernen k&ouml;nnte, warf die Kleider ab, schmierte
+den K&ouml;rper &uuml;ber und &uuml;ber mit Schlamm, so da&szlig; nirgends ein wei&szlig;er Fleck
+blieb, fa&szlig;te sich dann an die Nasenspitze und sprang in's Wasser mit dem
+Rufe: &raquo;Aus dem Mann ein Krebs!&laquo; Einen Augenblick zischte das Wasser auf,
+dann war Alles wieder still wie zuvor.</p>
+
+<p>Das in einen Krebs verwandelte M&auml;nnlein begann die Wurzeln der Teichrose
+aus dem Flu&szlig;bette loszumachen, brauchte aber viel Zeit dazu. Die
+W&uuml;rzelchen sa&szlig;en im Schlamm und Schilf fest, so da&szlig; der Krebs sieben
+Tage schwere Arbeit hatte, bis die Sache von Statten ging. Als die
+Arbeit beendigt war, hakte das Krebsm&auml;nnlein seine Scheeren in ein
+Zweiglein der Wurzel ein, und das Wasser hob ihn sammt dem Bl&uuml;mchen auf
+die Oberfl&auml;che des Flusses. Die schaukelnden Wellen trieben Krebs und
+Teichrose nur allm&auml;hlich vorw&auml;rts, und wiewohl B&auml;ume und Str&auml;uche genug
+am Ufer sichtbar wurden, so kam doch immer die Eberesche mit dem gro&szlig;en
+Stein nicht zum Vorschein. Endlich sah er links am Ufer den Baum mit<span class='pagenum'><a name="Page_20" id="Page_20">[S 20]</a></span>
+seinem Laube und den rothen Beerenb&uuml;scheln, und etwas weiterhin stand
+auch der Fels, der die H&ouml;he einer kleinen Badstube hatte. Jetzt stie&szlig;
+das Krebsm&auml;nnlein die Worte aus: &raquo;Aus der Teichrose die Jungfrau, aus
+dem Krebse der Mann!&laquo; &mdash; Augenblicklich schwammen auf dem Wasser zwei
+Menschenh&auml;upter, ein m&auml;nnliches und ein weibliches, das Wasser trieb sie
+an's Ufer, aber Beide waren splitternackt, wie Gott sie geschaffen.</p>
+
+<p>Die versch&auml;mte Jungfrau bat nun: &raquo;Lieber J&uuml;ngling, ich habe keine
+Kleider anzuziehen, darum mag ich nicht aus dem Wasser steigen.&laquo; &mdash; Der
+J&uuml;ngling bat dagegen: &raquo;Tretet an's Ufer unter die Eberesche, ich mache
+so lange die Augen zu, bis ihr hinauf klettert und euch unter dem Baume
+berget. Dann eile ich zur Br&uuml;cke, wo ich mein Pferd und meine Kleider
+lie&szlig;, als ich in den Flu&szlig; sprang.&laquo; Die Jungfrau hatte sich unter der
+Eberesche verborgen, und der J&uuml;ngling eilte zur Br&uuml;cke, wo er Kleider
+und Pferd gelassen hatte; aber er fand dort weder das Eine noch das
+Andere. Da&szlig; sein Krebszustand so viele Tage gedauert hatte, wu&szlig;te er
+nicht, vielmehr glaubte er nur einige Stunden auf dem Grunde des Wassers
+gewesen zu sein. Siehe, da kommt ihm am Ufer eine pr&auml;chtige mit sechs
+Pferden bespannte Kutsche langsam entgegen. In der Kutsche fand er alles
+N&ouml;thige, sowohl f&uuml;r sich, wie f&uuml;r die aus dem Wasserkerker erl&ouml;ste
+Jungfrau; sogar ein Diener und eine Zofe waren mit der Kutsche
+angekommen. Den Diener behielt der K&ouml;nigssohn f&uuml;r sich, das M&auml;dchen
+schickte er mit der Kutsche und den Kleidern dahin, wo sein nacktes
+Liebchen unter der Eberesche harrte. Es verging &uuml;ber eine Stunde, da kam
+die hochzeitlich geschm&uuml;ckte<span class='pagenum'><a name="Page_21" id="Page_21">[S 21]</a></span> Jungfrau in der Kutsche an die Stelle, wo
+der K&ouml;nigssohn ihrer wartete. Er war gleichfalls pr&auml;chtig als Br&auml;utigam
+gekleidet und setzte sich zu ihr in die Kutsche. Sie fuhren gradeswegs
+zur Stadt und vor die Kirchenth&uuml;r. Der K&ouml;nig und die K&ouml;nigin sa&szlig;en in
+Trauerkleidern in der Kirche, denn sie trauerten &uuml;ber den theuren
+verlorenen Sohn, den man im Flusse ertrunken glaubte, da man Pferd und
+Kleider am Ufer gefunden hatte. Gro&szlig; war der Eltern Freude, als der f&uuml;r
+todt beweinte Sohn lebend an der Seite einer sch&ouml;nen Jungfrau vor sie
+trat, beide in Prunkgew&auml;ndern. Der K&ouml;nig f&uuml;hrte sie selbst zum Altar und
+sie wurden getraut. Dann wurde ein Hochzeitsfest veranstaltet, das in
+Saus und Braus sechs Wochen lang dauerte.</p>
+
+<p>Im Gange der Zeit ist zwar kein Stillstand und keine Ruhe, dennoch
+scheinen die Tage der Freude rascher dahin zu flie&szlig;en als die Stunden
+der Tr&uuml;bsal. Nach dem Hochzeitsfeste war der Herbst eingetreten, dann
+kam Frost und Schnee, so da&szlig; das junge Paar nicht viel Lust hatte, den
+Fu&szlig; aus dem Hause zu setzen. Als aber der Fr&uuml;hling wiederkehrte und neue
+Freuden brachte, ging der K&ouml;nigssohn mit seiner jungen Gattin im Garten
+spazieren. Da h&ouml;rten sie, wie eine Elster vom Wipfel eines Baumes herab
+rief: &raquo;O du undankbares Gesch&ouml;pf, das in den Tagen des Gl&uuml;cks seine
+h&uuml;lfreichen Freunde vergessen hat. Sollen die beiden armen Jungfrauen
+ihr Lebelang Goldgarn spinnen? Die lahme Alte ist nicht die Mutter der
+M&auml;dchen, sondern eine Zauberhexe, welche die Jungfrauen als Kinder aus
+fernen Landen gestohlen hat. Der Alten S&uuml;nden sind gro&szlig;, sie verdient
+keine Barmherzigkeit.<span class='pagenum'><a name="Page_22" id="Page_22">[S 22]</a></span> Gekochter Schierling w&auml;re f&uuml;r sie das beste
+Gericht; sonst w&uuml;rde sie wohl das gerettete Kind abermals mit einem
+Hexenkn&auml;uel verfolgen.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt fiel es dem K&ouml;nigssohne wieder ein und er bekannte seiner Gattin,
+wie er zur Waldh&uuml;tte gegangen sei, die Schwestern um Rath zu fragen,
+dort die Vogelsprache gelernt und den Jungfrauen versprochen habe, sie
+aus ihrer Gefangenschaft zu erl&ouml;sen. Die Gattin bat mit Thr&auml;nen in den
+Augen, den Schwestern zu H&uuml;lfe zu eilen. Als sie den andern Morgen
+erwachte, sagte sie: &raquo;Ich hatte einen bedeutungsvollen Traum. Die alte
+Mutter war von Hause gegangen und hatte die T&ouml;chter allein gelassen;
+jetzt w&auml;re gewi&szlig; die rechte Zeit ihnen zu H&uuml;lfe zu kommen.&laquo;</p>
+
+<p>Der K&ouml;nigssohn lie&szlig; sofort eine Kriegerschaar sich r&uuml;sten und zog mit
+ihnen zur Waldh&uuml;tte. Am andern Tage langten sie dort an. Die M&auml;dchen
+waren, wie der Traum geweissagt hatte, allein zu Hause und kamen mit
+Freudengeschrei den Errettern entgegen. Einem Kriegsmanne wurde Befehl
+gegeben, Schierlingswurzeln zu sammeln und daraus f&uuml;r die Alte ein
+Gericht zu kochen, so da&szlig;, wenn sie nach Hause k&auml;me und sich daran satt
+&auml;&szlig;e, ihr die Lust am Essen f&uuml;r immer verginge. Sie blieben zur Nacht in
+der Waldh&uuml;tte und machten sich am andern Morgen in der Fr&uuml;he mit den
+M&auml;dchen auf den Weg, so da&szlig; sie Abends die Stadt erreichten. Der
+Schwestern Freude war gro&szlig;, als sie sich hier nach zwei Jahren wieder
+vereinigt fanden.</p>
+
+<p>Die Alte war in derselben Nacht nach Hause gekommen; sie verzehrte mit
+gro&szlig;er Gier die Speise, welche sie<span class='pagenum'><a name="Page_23" id="Page_23">[S 23]</a></span> auf dem Tische fand und kroch dann
+in's Bett um zu ruhen, wachte aber nicht wieder auf: der Schierling
+hatte dem Leben des Unholds ein Ende gemacht. Als der K&ouml;nigssohn eine
+Woche sp&auml;ter einen zuverl&auml;ssigen Hauptmann hinschickte, sich die Sache
+anzusehen, fand man die Alte todt. In der heimlichen Kammer wurden
+funfzig Fuder Goldgarn aufgeh&auml;uft gefunden, welche unter die Schwestern
+vertheilt wurden. Als der Schatz weggef&uuml;hrt war, lie&szlig; der Hauptmann den
+Feuerhahn auf's Dach setzen. Schon streckte der Hahn seinen rothen Kamm
+zum Rauchloch<a name="FNanchor_9_9" id="FNanchor_9_9"></a><a href="#Footnote_9_9" class="fnanchor">[9]</a> heraus, als eine gro&szlig;e Katze mit gl&uuml;henden Augen vom
+Dache her an der Wand herunterkletterte. Die Kriegsleute jagten der
+Katze nach und wurden ihrer bald habhaft. Ein V&ouml;gelchen gab von einem
+Baumwipfel herab die Weisung: &raquo;Heftet der Katze eine Falle an den
+Schwanz, dann wird Alles an den Tag kommen!&laquo; Die M&auml;nner thaten es.</p>
+
+<p>&raquo;Peinigt mich nicht, ihr M&auml;nner!&laquo; bat nun die Katze. &raquo;Ich bin ein Mensch
+wie ihr, wenn ich auch jetzt durch Hexenzauber in Katzengestalt gebannt
+bin. Es war der Lohn f&uuml;r meine Schlechtigkeit, da&szlig; ich in eine Katze
+verwandelt wurde. Ich war weit von hier in einem reichen K&ouml;nigsschlosse
+Haush&auml;lterin, und die Alte war der K&ouml;nigin erste Kammerjungfer. Von
+Habgier getrieben machten wir mit einander den heimlichen Anschlag, des
+K&ouml;nigs drei T&ouml;chter und au&szlig;erdem einen gro&szlig;en Schatz zu stehlen und dann
+zu entfliehen. Nachdem wir allm&auml;hlich alle goldenen<span class='pagenum'><a name="Page_24" id="Page_24">[S 24]</a></span> Ger&auml;the bei Seite
+geschafft hatten, welche die Alte in goldenen Flachs verwandelte, nahmen
+wir die Kinder, deren &auml;ltestes drei Jahre, das j&uuml;ngste sechs Monate alt
+war. Die Alte f&uuml;rchtete dann, da&szlig; ich bereuen und anderen Sinnes werden
+m&ouml;chte, und verwandelte mich deshalb in eine Katze; zwar wurde mir in
+ihrer Todesstunde die Zunge gel&ouml;st, aber die fr&uuml;here Gestalt habe ich
+nicht wieder erhalten.&laquo; Der Kriegshauptmann sagte, als die Katze
+ausgesprochen hatte: &raquo;Du brauchst kein besseres Ende zu nehmen, als die
+Alte!&laquo; und lie&szlig; sie in's Feuer werfen.</p>
+
+<p>Die beiden K&ouml;nigst&ouml;chter aber bekamen bald, wie ihre j&uuml;ngste Schwester,
+K&ouml;nigss&ouml;hne zu M&auml;nnern, und das von ihnen in der Waldh&uuml;tte gesponnene
+Goldgarn war ihnen reiche Mitgift. Ihr Geburtsort und ihre Eltern
+blieben unbekannt. Man erz&auml;hlt sich, da&szlig; das alte Weib noch manches
+Fuder Goldgarn unter der Erde vergraben hatte, aber Niemand konnte die
+Stelle angeben.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_25" id="Page_25">[S 25]</a></span></p>
+<h2>2. Die im Mondschein badenden Jungfrauen.</h2>
+
+
+<p>Es lebte einmal ein J&uuml;ngling, der nirgends Ruhe hatte, sondern sich
+abm&uuml;hte, alle verborgenen Dinge zu erforschen, die andern Leuten
+unbekannt geblieben waren. Als er die Vogelsprache und andere geheime
+Weisheit genugsam erlernt hatte, h&ouml;rte er zuf&auml;llig, da&szlig; unter der Decke
+der Nacht sich Manches zutragen solle, was den Augen Sterblicher zu
+schauen verwehrt sei. Jetzt sehnte er sich darnach, solche
+Heimlichkeiten der Nacht zu ergr&uuml;nden, und mochte sich nicht eher
+zufrieden geben, als bis ihm diese verborgene Kunde geworden w&auml;re. Wohl
+ging er eine Zeit lang von einem Zauberer zum andern, und lag ihnen an,
+ihm zu seinem Zwecke die Augen zu sch&auml;rfen, aber keiner konnte helfen.
+Da kam er durch einen gl&uuml;cklichen Zufall endlich mit einem
+Mana-Zauberer<a name="FNanchor_10_10" id="FNanchor_10_10"></a><a href="#Footnote_10_10" class="fnanchor">[10]</a> aus<span class='pagenum'><a name="Page_26" id="Page_26">[S 26]</a></span> Finnland zusammen, der &uuml;ber diese verborgenen
+Dinge Auskunft zu geben wu&szlig;te. Als er diesem seinen Wunsch kund gethan
+hatte, sagte der Zauberer warnend: &raquo;S&ouml;hnlein! jage nicht allerlei leerer
+Weisheit nach, welche dir kein Gl&uuml;ck bringen kann, wohl aber Ungl&uuml;ck.
+Manches ist den Augen der Menschen verh&uuml;llt, weil es dem Frieden des
+Herzens ein Ende machen m&uuml;&szlig;te, wenn es erkannt w&uuml;rde. Wer alle geheimen
+Dinge schauen lernt, der findet keine Freude mehr an dem, was ihm die
+Alltagswelt vor Augen bringt. Dies bedenke, ehe du sp&auml;ter bereuest.
+&mdash;Dennoch will ich, falls du meiner Abmahnung nicht achtest und dein
+Ungl&uuml;ck w&uuml;nschest, dich unterweisen, wie du die unter der Decke der
+Nacht geschehenden Dinge gewahr werden kannst. Aber du mu&szlig;t mehr als
+Mannesmuth haben, sonst kannst du nie geheimer Weisheit inne werden.&laquo;
+Darauf gab ihm der Zauberer aus Finnland einen Ort an und nannte ihm
+die, zum Gl&uuml;ck nahe bevorstehende Nacht,<a name="FNanchor_11_11" id="FNanchor_11_11"></a><a href="#Footnote_11_11" class="fnanchor">[11]</a> wo der Schlangenk&ouml;nig immer
+nach sieben Jahren<span class='pagenum'><a name="Page_27" id="Page_27">[S 27]</a></span> mit seinem Hofstaat zusammenkommt, um ein gro&szlig;es
+Festgelage zu halten. &raquo;Der Schlangenk&ouml;nig hat ein Goldsch&uuml;sselchen mit
+Himmelsziegenmilch vor sich; wenn es dir nur gelingt, ein St&uuml;ckchen Brot
+in diese Milch zu tunken und den eingetunkten Bissen in den Mund zu
+stecken, ehe du dich wieder auf die Flucht begiebst, so kannst du alles
+Geheime schauen, was unter der Decke der Nacht geschieht, ohne da&szlig; die
+Menschen Kunde davon haben. Als einen gl&uuml;cklichen Zufall kannst du es
+ansehen, da&szlig; des Schlangenk&ouml;nigs Fest gerade in dieses Jahr f&auml;llt, sonst
+h&auml;ttest du sieben Jahre auf die Wiederkehr desselben warten m&uuml;ssen. Sei
+aber dreist, beherzt und rasch, sonst geht die Sache schief.&laquo; &mdash; Der
+J&uuml;ngling dankte f&uuml;r diese Belehrung und ging mit dem festen Vorsatz,
+derselben nachzukommen, und m&uuml;&szlig;te er auch dabei sein Leben einb&uuml;&szlig;en. Als
+nun die bezeichnete Nacht herangekommen war, ging er Abends auf ein
+gro&szlig;es Moor, wo der Schlangenk&ouml;nig mit seinen Unterthanen zusammenkommen
+sollte, um das Fest zu feiern. Obwohl aber der J&uuml;ngling seine Augen nach
+allen Seiten scharf umhergehen lie&szlig;, so sah er doch im Mondenschein
+nichts weiter, als eine Anzahl Rasenh&uuml;gel, die unbeweglich da lagen.
+Schon wurde ihm die Zeit lang, Mitternacht konnte nicht mehr fern sein,
+als pl&ouml;tzlich mitten auf dem Moor ein heller Feuerschein aufstieg, etwa
+wie wenn ein Stern des Himmels auf einem der Rasenh&uuml;gel schimmerte. In
+demselben Augenblicke, wo der Feuerschein aufgl&auml;nzte, fingen s&auml;mmtliche
+Rasenh&uuml;gelchen an zu krimmeln und zu wimmeln, und von jedem derselben
+kamen Hunderte von Schlangen herunter und krochen alle auf den
+Feuerschein zu &mdash; und<span class='pagenum'><a name="Page_28" id="Page_28">[S 28]</a></span> jetzt war nur noch flaches Moor vorhanden. Die
+vermeintlichen H&uuml;gelchen waren nichts weiter als Haufen lebendiger
+Schlangen gewesen, die hier ihren K&ouml;nig erwartet hatten. Als nun
+s&auml;mmtliche Schlangen sich an der Stelle, wo der Feuerschein gl&auml;nzte,
+versammelt und sich dort zu <em class="gesperrt">einem</em> Haufen zusammengekn&auml;ult hatten, war
+dieser so hoch und breit wie ein kleiner Heuschober geworden, und auf
+der Spitze desselben hielt sich der helle Feuerschein. Das Gewirre und
+Geschwirre in dem Schlangenhaufen war so gro&szlig;, da&szlig; der J&uuml;ngling vor
+Furcht keinen Schritt n&auml;her zu treten wagte, sondern lange von weitem
+stehen blieb, und das Wunder betrachtete. Allm&auml;hlich aber fa&szlig;te er sich
+ein Herz, und ging fein sachte Schritt vor Schritt auf den Zehen
+vorw&auml;rts. Was er da sah, war gr&auml;ulicher als gr&auml;ulich, und ging &uuml;ber alle
+Begriffe. Tausende von Schlangen, gro&szlig; und klein, von allen Farben,
+waren hier wie in einem Traubenb&uuml;ndel um eine gro&szlig;e Schlange gelagert,
+deren K&ouml;rper die Dicke eines t&uuml;chtigen Balkens zu haben schien, und die
+auf dem Kopfe eine pr&auml;chtige goldene Krone<a name="FNanchor_12_12" id="FNanchor_12_12"></a><a href="#Footnote_12_12" class="fnanchor">[12]</a> trug, von welcher jener
+Glanz ausstrahlte. Hunderte und Tausende von Schlangenh&auml;uptern, die aus
+dem Haufen hervorragten, z&uuml;ngelten und zischten wie b&ouml;se G&auml;nse und
+machten ein so arges Ger&auml;usch, da&szlig; es zum Taubwerden war. Der J&uuml;ngling
+hatte lange nicht das Herz, an den Schlangenhaufen heranzugehen, wo
+jeder Augenblick ihm Tod drohte; als er aber pl&ouml;tzlich das
+Goldsch&uuml;sselchen, von dem er<span class='pagenum'><a name="Page_29" id="Page_29">[S 29]</a></span> geh&ouml;rt hatte, vor dem Schlangenk&ouml;nig
+erblickte und an den daran gekn&uuml;pften Gewinn dachte, durfte er nicht
+l&auml;nger zaudern. Obwohl ihm die Haare zu Berge standen und das Blut im
+Herzen erstarrte, so stachelte ihn doch sein Verlangen und trieb ihn
+vorw&auml;rts. &mdash; O was f&uuml;r ein Gewirr und Geschwirr sich jetzt in dem
+Schlangenhaufen erhob! Alle die Tausend K&ouml;pfe sperrten die M&auml;uler weit
+auf und suchten den Mann zu stechen, aber zum Gl&uuml;ck konnten sie ihre
+Leiber nicht so schnell aus dem Kn&auml;uel los wickeln. Der J&uuml;ngling hatte
+mit Blitzesschnelle einen Bissen Brot in das Goldsch&uuml;sselchen getunkt,
+ihn in den Mund gesteckt und dann Fersengeld gegeben, als ob Feuer
+hinter ihm drein jagte. Aber der Verfolger war schlimmer als Feuer,
+darum lie&szlig; er sich nicht Zeit, hinter sich zu blicken, obgleich ihm war,
+als ob Tausende von Feinden ihm auf der Ferse w&auml;ren und er stets das
+Ger&auml;usch derselben zu h&ouml;ren glaubte. Endlich stockte ihm der Athem und
+seine Kraft erlahmte; er fiel ohne Bewu&szlig;tsein auf den Rasen und blieb
+starr wie ein Todter liegen. Wohl war er in Schlaf gefallen, aber
+schreckliche Traumbilder lie&szlig;en die Gefahr noch viel gr&ouml;&szlig;er erscheinen.
+So tr&auml;umte ihm, als w&auml;re der Schlangenk&ouml;nig mit der funkelnden Goldkrone
+auf ihn gefallen und wollte ihn verschlingen. Mit lautem Geschrei sprang
+er auf und zur Seite, um dem Feinde zu entkommen und sah, da&szlig; der Strahl
+der aufgehenden Sonne ihn geweckt hatte. Er ri&szlig; die Augen weit auf, sah
+aber nirgends die n&auml;chtlichen Feinde, und das Moor, wo er in so gro&szlig;er
+Gefahr gewesen, mu&szlig;te zum mindesten eine Meile weit entfernt sein.
+Sicherlich hatte die Himmelsziegenmilch seine Kraft gest&auml;hlt, da&szlig; er<span class='pagenum'><a name="Page_30" id="Page_30">[S 30]</a></span> so
+weit hatte laufen k&ouml;nnen. Als er dann seine Gliedma&szlig;en pr&uuml;fte, fand er
+sie unversehrt; und nun war seine Freude gro&szlig;, da&szlig; er mit heiler Haut
+davon gekommen war.</p>
+
+<p>Nach Mittag ruhte er mehrere Stunden vom Schrecken und der Erm&uuml;dung der
+vergangenen Nacht aus, dann beschlo&szlig; er, noch in dieser Nacht in den
+Wald zu gehen, um den Nutzen der Himmelsziegenmilch zu erproben, ob ihm
+nun wirklich verborgene Dinge offenbar werden w&uuml;rden. Im Walde sah er
+alsbald, was noch kein sterbliches Auge gesehen hatte und auch gewi&szlig;
+nicht wieder sehen wird. Unter den Baumwipfeln zeigten sich goldene,
+r&ouml;thlich schimmernde Badeb&auml;nke, silberne Qu&auml;ste und silberne Eimer
+fehlten nicht, aber nirgends waren lebende Wesen sichtbar, welche h&auml;tten
+baden wollen. Der Vollmond gl&auml;nzte und gab so viel Licht, da&szlig; der Mann
+Alles deutlich sehen konnte. Nach einiger Zeit h&ouml;rte er ein Ger&auml;usch im
+Laube, als ob ein Wind sich erhoben h&auml;tte, dann kamen von allen Seiten
+nackte Jungfrauen, viel sch&ouml;ner und stattlicher anzuschauen, als sie
+irgendwo in unsern D&ouml;rfern aufwachsen. Sie waren alle des Waldelfen und
+der Rasenmutter<a name="FNanchor_13_13" id="FNanchor_13_13"></a><a href="#Footnote_13_13" class="fnanchor">[13]</a> T&ouml;chter und kamen, um zu baden. Der hinter dem
+Geb&uuml;sch sp&auml;hende J&uuml;ngling h&auml;tte sich diese Nacht hundert Augen
+gew&uuml;nscht, denn seine zwei konnten all' die Sch&ouml;nheit nicht erschauen.
+Endlich, als es schon gegen Morgen ging, verlor der Schauende
+Badeger&uuml;ste und badende Jungfrauen aus dem Gesichte, als w&auml;ren sie in
+Nebel verschwommen. Er blieb noch, bis die Sonne<span class='pagenum'><a name="Page_31" id="Page_31">[S 31]</a></span> aufging; dann erst
+ging er wieder heim. Wohl dehnte sich seinem Sehnen der Tag l&auml;nger als
+ein Jahr, bis wieder Abend und Nacht hereinbrachen, wo er hoffte, der im
+Mondschein badenden Jungfrauen abermals ansichtig zu werden; doch
+endlich war auch diese Zeit des Sehnens verstrichen. Aber im Walde fand
+er nichts mehr, weder Badeger&uuml;st noch Jungfrauen. Dennoch wurde er nicht
+m&uuml;de, Nacht f&uuml;r Nacht hinzugehen, aber jeder Gang war vergeblich. Jetzt
+nagte der Kummer an ihm, es gab nichts mehr auf der Welt, was ihm h&auml;tte
+Freude machen k&ouml;nnen; er nahm weder Speise noch Trank zu sich, sondern
+verzehrte sich vor Sehnsucht. Gewi&szlig; ist es f&uuml;r den Menschen ein Gl&uuml;ck,
+wenn er dergleichen Geheimnisse nimmer schaut.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_32" id="Page_32">[S 32]</a></span></p>
+<h2>3. Schnellfu&szlig;, Flinkhand und Scharfauge.</h2>
+
+
+<p>Es lebte einmal ein wohlhabender Bauerwirth mit seinem Weibe; es
+mangelte ihnen an Nichts, vielmehr hatte Gott sie mit Allem reichlich
+gesegnet, so da&szlig; sie in den Augen der Menschen als gl&uuml;cklich galten.
+Aber eins fehlte ihnen doch, was kein Reichthum geben konnte, sie waren
+kinderlos, wiewohl ihre Ehe schon &uuml;ber zehn Jahre dauerte.</p>
+
+<p>Da geschah es eines Abends, als der Mann von Hause gegangen war und die
+Frau allein im Zimmer sa&szlig;, da&szlig; ihr die Zeit lang wurde und Unmuth sie
+&uuml;berfiel. &raquo;Da sind doch die Nachbarweiber viel gl&uuml;cklicher als ich,&laquo;
+dachte die Frau. &raquo;Sie haben das Zimmer voll Kinder, um sich die Zeit zu
+vertreiben; ist auch der Mann einmal von Hause, so brauchen sie doch
+nicht allein zu sitzen. Ich aber habe Niemand weiter, den ich mein
+nenne, wie ein verdorrter Baumstamm mu&szlig; ich allein im leeren Gemache
+hausen.&laquo; W&auml;hrend sie so dachte, traten ihr die Thr&auml;nen in die Augen, und
+ich wei&szlig; nicht, wie lange die Frau schon so kummervoll da gesessen
+hatte, ohne zu bemerken, da&szlig; ein unerwarteter Gast in's Zimmer getreten
+war. Pl&ouml;tzlich f&uuml;hlte sie, da&szlig; etwas ihre Fu&szlig;kn&ouml;chel kitzele und meinte,
+es sei die Katze, als sie aber die Augen an den Boden heftete, sah sie
+einen zierlichen Zwerg<span class='pagenum'><a name="Page_33" id="Page_33">[S 33]</a></span> zu ihren F&uuml;&szlig;en. &raquo;Ach!&laquo; rief sie erschreckt und
+wollte aufspringen und fliehen, aber des Zwergleins H&auml;nde hielten sie
+fest wie mit eisernen Zangen, so da&szlig; sie nicht von der Stelle konnte.
+&raquo;Erschrick nicht, liebes junges Weib!&laquo; sagte der Zwerg freundlich &mdash;
+&raquo;da&szlig; ich ungerufen kam deinen Sinn zu erheitern und deinen Gram zu
+stillen; du bist allein, der lange Abend schleicht dem Menschen so tr&auml;ge
+hin, dein Mann ist verreist und kommt erst nach einigen Tagen zur&uuml;ck.
+Liebes junges Weib.&laquo; &mdash; Die Frau unterbrach ihn unwillig: &raquo;Spotte nur
+nicht, die Haube, welche ich bei der Hochzeit trug, schimmelt schon &uuml;ber
+zehn Jahre in der Truhe und beweint, verwaist, die fr&uuml;here bessere
+Zeit.&laquo;<a name="FNanchor_14_14" id="FNanchor_14_14"></a><a href="#Footnote_14_14" class="fnanchor">[14]</a> &raquo;Was thut's,&laquo; erwiederte der Zwerg, &raquo;Wenn die Frau noch
+keinen Schweif hinter sich hat, und noch jugendlich und frisch ist wie
+du, dann ist sie immer noch &raquo;junges Weib&laquo;, und du hast ja bis jetzt
+keine Kinder gehabt, darfst dich also auch so nennen lassen.&laquo; &raquo;Ja,&laquo;
+sagte die Frau, &raquo;das ist es eben, was mich oft so bek&uuml;mmert, da&szlig; mein
+Mann mich schon l&auml;ngst gering achtet, da er mich fruchtlos umarmt wie
+einen d&uuml;rren Stamm, der keine Zweige mehr treibt.&laquo; Der Zwerg aber sagte
+tr&ouml;stend: &raquo;Sorge nicht, du stehst noch nicht am Abend deiner Tage, und
+ehe du ein Jahr &auml;lter geworden bist, werden deinem Stamm, den du f&uuml;r
+vertrocknet h&auml;ltst, drei Zweige entsprie&szlig;en und den Eltern zur Freude
+aufwachsen. Du mu&szlig;t nun aber Alles so machen, wie ich dir jetzt anzeigen
+werde. Wenn dein Mann wieder nach Hause<span class='pagenum'><a name="Page_34" id="Page_34">[S 34]</a></span> kommt, so mu&szlig;t du ihm drei Eier
+von einer schwarzen Henne sieden und Abends zu essen geben. Wenn er dann
+schlafen geht, so mache dir etwas auf dem Hofe zu schaffen und verweile
+dort einige Zeit, bevor du an die Seite deines Mannes ins Bette
+schl&uuml;pfst. Wenn die Zeit da ist, da&szlig; meine Worte in Erf&uuml;llung gehen, so
+komme ich wieder. Bis dahin bleibe mein heutiger Besuch Allen ein
+Geheimni&szlig;. Leb' wohl, liebes junges Weib, bis ich wiederkehre und:
+Mutter! sage.&laquo; Darauf entschwand der Zwerg den Blicken der Frau, als
+w&auml;re er in die Erde gesunken. Das junge Weib &mdash; ihr war der Name
+kr&auml;nkend &mdash; rieb sich lange die Augen, als ob sie hinter die Wahrheit
+kommen und sehen wollte, ob es Wirklichkeit oder Traum gewesen sei.
+Wonach der Mensch sich sehnt, das h&auml;lt er meist f&uuml;r wahr, und so war es
+auch mit der Frau. Der seltsame Vorfall mit dem Zwerge kam ihr nicht
+mehr aus dem Sinn, und als der Mann nach einigen Tagen heimkehrte, sott
+die Frau drei Eier von einer schwarzen Henne gab sie ihm am Abend zu
+essen und that sonst, wie ihr vorgeschrieben war.</p>
+
+<p>Nach einigen Wochen traf ein, was der Zwerg vorausgesagt hatte. Mann und
+Frau waren froh und konnten zuletzt kaum die lange Frist abwarten,
+binnen welcher sich ihr Verlangen erf&uuml;llen sollte. Zur rechten Zeit kam
+die Frau in die Wochen und brachte Drillinge zur Welt, lauter Knaben,
+sch&ouml;n und gesund. Als die W&ouml;chnerin schon wieder in der Genesung und der
+Mann eines Tages von Hause gegangen war, um Taufg&auml;ste und Gevattern
+zusammen zu bitten, kam der gl&uuml;ckbringende Zwerg, die W&ouml;chnerin zu
+besuchen. &raquo;Guten Tag, Goldmutter!&laquo;<span class='pagenum'><a name="Page_35" id="Page_35">[S 35]</a></span> rief der Zwerg in's Zimmer tretend.
+&raquo;Siehst du jetzt, wie Gott deinen Herzenswunsch mit einem Male erf&uuml;llt
+hat? Du bist Mutter dreier Knaben geworden. Da siehst du, da&szlig; meine
+Prophezeiung keine leere war, und du kannst jetzt um so leichter
+glauben, was ich dir heute sagen werde. Deine S&ouml;hne werden weltber&uuml;hmte
+M&auml;nner werden und werden dir noch viele Freude machen vor deinem Tode.
+Zeige mir doch deine B&uuml;bchen!&laquo; Mit diesen Worten war er wie eine Katze
+auf den Rand der Wiege geklettert, nahm ein Kn&auml;ulchen rothen Garns aus
+der Tasche und band dem einen Knaben einen Faden um beide Fu&szlig;kn&ouml;chel,
+dem andern wieder um die Handgelenke und dem dritten &uuml;ber die
+Augenlieder um die Schl&auml;fen herum. &raquo;Diese F&auml;den,&laquo; so lautete des Zwerges
+Vorschrift, mu&szlig;t du so lange an ihrer Stelle belassen, bis die Kinder
+zur Taufe gef&uuml;hrt werden; dann verbrenne die F&auml;den, sammle die Asche in
+einem kleinen L&ouml;ffel und netze sie, wenn die Kinder nach Hause gebracht
+werden, mit etwas Milch aus deiner Brust. Von dieser st&auml;rkenden
+Aschenmilch mu&szlig;t du jedem Knaben ein Paar Tropfen auf die Zunge gie&szlig;en,
+ehe du ihm die Brust reichst. Dadurch wird jeder von ihnen da stark
+werden, wo der Faden haftete, der eine an den F&uuml;&szlig;en, der andere an den
+H&auml;nden und der dritte an den Augen, so da&szlig; ihres Gleichen nicht sein
+wird auf der Welt. Jeder wird schon mit seiner eigenen Gl&uuml;cksgabe Ehre
+und Reichthum finden, wenn sie aber selbdritt etwas unternehmen, so
+k&ouml;nnen sie Dinge ausrichten, die man nicht f&uuml;r m&ouml;glich halten w&uuml;rde,
+wenn man sie nicht vor Augen s&auml;he. Mich wirst du nicht mehr wiedersehen,
+aber du wirst dich wohl noch manches Mal<span class='pagenum'><a name="Page_36" id="Page_36">[S 36]</a></span> dankbar meiner erinnern, wenn
+deine Kn&auml;blein zu M&auml;nnern herangewachsen sind und dir Freude machen
+werden. Und jetzt sage ich dir zum letzten Male Lebewohl, liebe junge
+Mutter! &mdash; Mit diesen Worten war der Zwerg wieder, wie das erste Mal,
+pl&ouml;tzlich verschwunden.</p>
+
+<p>Die W&ouml;chnerin that sorgf&auml;ltig Alles, was ihr in Betreff der Kinder
+vorgeschrieben war. Sie verbrannte am Tauftage die rothen F&auml;den zu
+Asche, lie&szlig;, als die Kinder aus der Kirche nach Hause gebracht wurden,
+Milch aus ihrer Brust auf die Asche flie&szlig;en und go&szlig; von dieser
+Kraftmilch jedem Kinde ein Paar Tropfen auf die Zunge, ehe sie ihm die
+Brust reichte. Doch sagte sie Anfangs weder ihrem Manne noch sonst
+jemanden ein Wort von den wunderbaren Dingen, die ihr mit dem Zwerge
+begegnet waren.</p>
+
+<p>Die Kinder wuchsen alle drei bl&uuml;hend heran und gaben, als sie fest auf
+ihren F&uuml;&szlig;en standen, Proben gro&szlig;er Klugheit. Doch zeigte sich schon von
+fr&uuml;h auf, da&szlig; bei jedem die durch den Wunderfaden gekr&auml;ftigten Glieder
+am t&uuml;chtigsten waren: bei dem einen die Augen, bei dem andern die H&auml;nde
+und bei'm dritten die F&uuml;&szlig;e. De&szlig;halb nannten die Eltern sie sp&auml;ter je
+nach ihrer Hauptst&auml;rke, den ersten <em class="gesperrt">Scharfauge</em>, den zweiten <em class="gesperrt">Flinkhand</em> und
+den dritten <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em>. Als nach einigen Jahren die Br&uuml;der in's
+J&uuml;nglingsalter getreten waren, beschlossen sie, im Einvernehmen mit
+ihren Eltern, in die Fremde zu ziehen, wo jeder durch seine St&auml;rke und
+Geschicklichkeit Dienste und Lohn zu finden hoffte. Und zwar wollte
+jeder der Br&uuml;der f&uuml;r sich allein den Weg zum Gl&uuml;cke antreten, der eine
+gen Morgen, der andere gen Mittag<span class='pagenum'><a name="Page_37" id="Page_37">[S 37]</a></span> und der dritte gen Abend; nach drei
+Jahren aber wollten sie alle drei wieder zu den Eltern zur&uuml;ckkommen und
+melden, wie es ihnen in fremden Landen ergangen sei.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> nahm den Weg gen Morgen, von ihm m&uuml;ssen wir nun zuerst
+erz&auml;hlen. Da&szlig; er mit seinen m&auml;chtigen Schritten viel rascher vorw&auml;rts
+kam als seine Br&uuml;der, das kann Jeder leicht ermessen, denn wo die Meilen
+einem Manne unter den F&uuml;&szlig;en schwinden, ohne da&szlig; diese erm&uuml;den, da wird
+ihm das Wandern nicht beschwerlich. Gleichwohl sollte er die Erfahrung
+machen, da&szlig; flinke Beine wohl &uuml;berall einen Menschen aus einer Gefahr
+befreien k&ouml;nnen, aber nicht so leicht zu Amt und Brod verhelfen: denn
+H&auml;nde sind aller Orten n&ouml;thiger als F&uuml;&szlig;e. <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> fand erst nach
+geraumer Zeit bei einem K&ouml;nige in Ostland einen festen Dienst. Der K&ouml;nig
+besa&szlig; gro&szlig;e Ro&szlig;herden, unter denen viele st&auml;tische Renner waren, die
+kein Mensch fangen konnte, auch nicht einmal zu Ro&szlig;. Aber mit <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em>
+konnte kein Pferd Schritt halten, der Mann war immer schneller als das
+Ro&szlig;. Was fr&uuml;her funfzig Pferdehirten zusammen nicht ausrichten konnten,
+das besorgte er ganz allein und lie&szlig; nie ein Pferd von der Herde
+wegkommen. Darum zahlte ihm der K&ouml;nig unweigerlich den Lohn von funfzig
+Hirten, und machte ihm au&szlig;erdem noch Geschenke. Die fl&uuml;chtigen Schritte
+des neuen Ro&szlig;hirten hatten Windesschnelle, und wenn er vom Abend bis zum
+Morgen die ganze Nacht durch oder vom Morgen bis zum Abend den Tag &uuml;ber
+gelaufen war, ohne auszuruhen, so war er doch nicht m&uuml;de, sondern konnte
+am andern und am dritten Tage wieder eben so viel laufen. Es geschah
+oft, da&szlig; die Rosse, bei hei&szlig;em Wetter von<span class='pagenum'><a name="Page_38" id="Page_38">[S 38]</a></span> Bremsen gestochen, nach allen
+Seiten hin auseinander fuhren und viele Meilen weit rannten: aber
+dennoch war am Abend die ganze Herde wieder beisammen. Da gab einst der
+K&ouml;nig ein gro&szlig;es Gastmahl, zu welchem viele vornehme Herren und F&uuml;rsten
+geladen waren. W&auml;hrend des Festes hatte der K&ouml;nig seinen G&auml;sten viel von
+seinem schnellf&uuml;&szlig;igen Ro&szlig;hirten erz&auml;hlt, so da&szlig; alle den Wundermann zu
+sehen begehrten. Manche meinten, es d&uuml;rfe wohl nicht Wunder nehmen, wenn
+die in der Herde aufgezogenen und an den Hirten gew&ouml;hnten Rosse sich
+einfangen lie&szlig;en; das allerst&ouml;rrigste Pferd h&ouml;re auf des Herrn Wort und
+komme auf dessen Ruf. Aber gebt ihm einmal ein Pferd aus einem fremden
+Stalle, das ihn nicht kennt, dann werden wir sehen, wie weit die
+Schnelligkeit des Mannes gegen die des Rosses kommt. Da lie&szlig;en einige
+fremde Herren die bestgef&uuml;tterten und feurigsten Rosse aus ihren St&auml;llen
+herf&uuml;hren und dann ins Freie treiben, auf da&szlig; <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> sie einfange.
+Das war dem Hirten mit den befl&uuml;gelten F&uuml;&szlig;en eine Kleinigkeit, denn auch
+ein gestandennes, wohlgen&auml;hrtes Pferd kann doch nicht mit Einem um die
+Wette laufen, der wie ein Vogel des Waldes gewohnt ist, Nacht und Tag
+sich zu r&uuml;hren. Die fremden Herrschaften priesen die Schnellf&uuml;&szlig;igkeit
+des Mannes und schenkten ihm viel goldene und silberne M&uuml;nzen,
+versprachen auch daheim von ihm zu reden, damit man erfahre, wo solch'
+ein Mann zu finden sei. Bald darauf war im ganzen Ostlande der Name
+<em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> ber&uuml;hmt geworden, und wenn irgend ein K&ouml;nig einmal einen
+schnellen Boten brauchte, so wurde <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> gemiethet, der dann
+reichen Lohn und au&szlig;erdem noch Geschenke erhielt, damit er sich ein
+anderes Mal<span class='pagenum'><a name="Page_39" id="Page_39">[S 39]</a></span> wieder willig finden lie&szlig;e. Als er nach drei Jahren sich
+aufmachte um in die Heimath zur&uuml;ckzukehren, hatte er soviel Geld und
+Sch&auml;tze gesammelt, da&szlig; er zwanzig Pferde damit beladen konnte, welche
+ihm der K&ouml;nig geschenkt hatte.</p>
+
+<p>Der zweite Bruder, <em class="gesperrt">Flinkhand</em>, der gen Mittag gezogen war, fand aller
+Orten lohnenden Dienst; alle Meister brauchten seine Arbeit, weil kein
+anderer Gesell so geschickt war und so viel fertig machte wie er. Obwohl
+er nicht in einer Zunft ein bestimmtes Handwerk erlernt hatte, so
+gerieth in seiner geschickten Hand doch jegliche Arbeit; er war
+Schneider, Schuster, Tischler, Drechsler, Gold- und Grobschmied, oder
+was sonst dergleichen, und es war auf der Welt kein Meister zu finden,
+dem er nicht zum Gesellen getaugt h&auml;tte. Einmal war er bei einem
+Schneidermeister auf St&uuml;cklohn in Arbeit und n&auml;hte in einem Tage zwanzig
+Paar Hosen, ein anderes Mal machte er f&uuml;r einen Schuster in eben der
+Zeit ebensoviel Paar Stiefel fertig. Dabei war Alles, was er machte, so
+vollkommen, da&szlig;, wer einmal seine Arbeit kennen gelernt hatte, von
+derjenigen anderer Meister und Gesellen nichts mehr wissen wollte.
+<em class="gesperrt">Flinkhand</em> h&auml;tte bei jedem Handwerk ein reicher Mann werden k&ouml;nnen, wenn
+er irgendwo l&auml;ngere Zeit h&auml;tte aushalten k&ouml;nnen, allein er sehnte sich
+darnach, die weite Welt zu sehen und streifte de&szlig;halb gew&ouml;hnlich von
+einem Ort zum andern. So kam er auch einmal in eine K&ouml;nigsstadt, wo er
+Alles in gro&szlig;er Bewegung fand. Es sollten Truppen gegen den Feind
+ausgesandt werden, aber es mangelte an Kleidern, an Fu&szlig;- und
+Kopfbedeckung und auch an Waffen. Und obgleich &uuml;berall Meister und
+Gesellen von fr&uuml;h Morgens bis Mitternacht eifrig arbeiteten<span class='pagenum'><a name="Page_40" id="Page_40">[S 40]</a></span> und sogar
+Sonntags und Montags nicht feierten, so konnten sie doch in der kurzen
+Zeit nicht soviel anfertigen, wie der K&ouml;nig wollte. Zwar wurde nah und
+fern nach Gesellen gesucht, die helfen sollten, aber des Fehlenden war
+so viel, da&szlig; all' die Arbeit nicht hinreichend schien, es herzustellen.</p>
+
+<p>Eines Tages nun trat <em class="gesperrt">Flinkhand</em> in des K&ouml;nigs Schlo&szlig; und w&uuml;nschte den
+K&ouml;nig zu sprechen. Dann sagte er: &raquo;Geehrter K&ouml;nig! ich h&ouml;re von den
+Leuten, da&szlig; ihr sehr eilige Arbeiten braucht. Ich bin ein weitgereister
+Meister und kann vielleicht die Arbeiten &uuml;bernehmen, wenn wir Handels
+einig werden und ihr mir die Frist nennt, binnen welcher sie fertig sein
+m&uuml;ssen.&laquo; Als der K&ouml;nig die Frist genannt hatte, sagte <em class="gesperrt">Flinkhand</em>: &raquo;Lasset
+alle Meister der Stadt zusammenrufen und befragt sie, ob sie bis zu dem
+genannten Tage mit den Arbeiten fertig werden k&ouml;nnen, wenn das nicht der
+Fall ist, so &uuml;bernehme ich Alles, aber den Arbeitslohn habt ihr dann mir
+allein zu zahlen.&laquo; &mdash; &raquo;Das w&auml;re schon recht,&laquo; erwiederte der K&ouml;nig,
+&raquo;wenn ihr so viele Gesellen bekommen k&ouml;nntet, aber das ist ja eben, was
+unsern st&auml;dtischen Meistern fehlt, sie finden nicht genug Arbeiter.&laquo; &mdash;
+&raquo;Das sei meine Sorge,&laquo; erwiederte <em class="gesperrt">Flinkhand</em>. Den andern Tag wurden alle
+Meister der Stadt in das Schlo&szlig; gerufen und gefragt, wann Jeder mit
+seiner Arbeit fertig zu werden glaube, worauf einige vier und f&uuml;nf
+Monate, andere noch mehr Zeit verlangten. &raquo;Nun,&laquo; sagte <em class="gesperrt">Flinkhand</em> zum
+K&ouml;nige, &raquo;wenn ihr mir f&uuml;r drei Monate den doppelten Lohn versprecht, so
+will ich allein all' die Arbeit &uuml;bernehmen, mit der die Andern wohl erst
+in einem halben Jahre zu Stande k&auml;men.&laquo;<span class='pagenum'><a name="Page_41" id="Page_41">[S 41]</a></span> Das schien inde&szlig; dem K&ouml;nige so
+wunderbar und so unglaublich, da&szlig; er besorgte, man wolle ihm einen
+Possen spielen und de&szlig;halb fragte: &raquo;Was f&uuml;r eine B&uuml;rgschaft kannst du
+mir geben, da&szlig; du deine Versprechungen erf&uuml;llen wirst?&laquo; <em class="gesperrt">Flinkhand</em>
+erwiederte: &raquo;Geld und Kostbarkeiten, die ich als Schadenersatz bieten
+k&ouml;nnte, habe ich freilich nicht, aber wenn ihr mein Leben zum Pfande
+wollt, so ist unser Handel bald geschlossen. Damit ihr aber auch nicht
+die Katze im Sack zu kaufen braucht, will ich euch morgen eine
+Probearbeit bringen.&laquo; Das war der K&ouml;nig zufrieden. Die Gesellen aber
+meinten untereinander, wenn er doppelte Zahlung erh&auml;lt, so mu&szlig; er uns
+auch doppelten Arbeitslohn geben, sonst werden wir ihm nicht helfen. Als
+der K&ouml;nig am folgenden Tage die Probearbeit gesehen hatte, war er sehr
+zufrieden damit, und obwohl alle &uuml;brigen Meister vor Neid bersten
+wollten, konnte doch keiner die Arbeit tadeln. Jetzt machte sich
+<em class="gesperrt">Flinkhand</em> wie ein Mann an's Werk. War ihm auch fr&uuml;her schon alle Arbeit
+von der Hand geflogen, so war doch die Hurtigkeit, die er jetzt von fr&uuml;h
+bis sp&auml;t entfaltete, mehr als wunderbar; kaum nahm er sich soviel Zeit,
+um zu essen und in der Nacht ein wenig, wie ein Vogel auf dem Ast, zu
+ruhen. Zwei Wochen vor der bedungenen Frist war aller Bedarf f&uuml;r die
+Soldaten fertig und dem K&ouml;nige abgeliefert. Der K&ouml;nig zahlte den f&uuml;r
+drei Monate bedungenen Preis doppelt, und f&uuml;gte fast eben soviel noch
+als Geschenk hinzu. Dann sagte er: &raquo;Lieber kluger Meister! ich m&ouml;chte
+mich von dir nicht so schnell trennen. Hast du nicht Lust mit dem Heere
+gegen die Feinde zu ziehen? Wer so geschickt alle Arbeiten anzufer<span class='pagenum'><a name="Page_42" id="Page_42">[S 42]</a></span>tigen
+wei&szlig;, aus dem kann sicher auch der allerbeste Kriegsmann werden.&laquo;
+<em class="gesperrt">Flinkhand</em> erwiederte: &raquo;Vielleicht verh&auml;lt sich die Sache so, wie ihr,
+geehrter K&ouml;nig, meint, aber aufrichtig gesagt: ich habe, so lang ich
+lebe, das Kriegshandwerk noch nicht versucht, sondern bis jetzt nur
+unblutige Arbeit gethan. Ueberdie&szlig; r&uuml;ckt auch die Zeit heran, wo die
+Eltern mich zu Hause erwarten; nehmt es darum nicht &uuml;bel, wenn ich eurem
+Verlangen diesmal nicht entsprechen kann.&laquo; So schied er von der
+K&ouml;nigsstadt, wo er in kurzer Zeit zum reichen Manne geworden war. Er
+hatte noch &uuml;ber ein halbes Jahr bis zur Heimreise, darum streifte er von
+einem Orte zum andern und wenn er sich irgendwo l&auml;nger aufhielt, so
+arbeitete er, um das Reisegeld zusammenzubringen, denn er wollte sein
+angesammeltes Verm&ouml;gen nicht angreifen.</p>
+
+<p>Der dritte Bruder, <em class="gesperrt">Scharfauge</em>, der seinen Weg gen Abend genommen hatte,
+schweifte lange von einem Orte zum andern, ohne einen passenden und
+lohnenden Dienst zu finden. Als geschickter Sch&uuml;tze konnte er zwar
+allenthalben soviel erwerben, um seinen t&auml;glichen Unterhalt zu
+bestreiten, aber was hatte er dann bei der Heimkehr mit nach Hause zu
+bringen? Mit der Zeit war er auf seiner Wanderung in eine gro&szlig;e Stadt
+gerathen, wo man nur von dem Ungl&uuml;ck sprach, das den K&ouml;nig schon drei
+Mal getroffen hatte, und das Niemand zu begreifen, geschweige zu
+verh&uuml;ten vermochte. Die Sache verhielt sich so. Der K&ouml;nig hatte in
+seinem Garten einen kostbaren Baum, der wie ein Apfelbaum aussah, aber
+goldene Aepfel trug, von denen manche so gro&szlig; waren wie ein gro&szlig;es
+Kn&auml;uel Garn, und viele tausend Rubel werth sein<span class='pagenum'><a name="Page_43" id="Page_43">[S 43]</a></span> mochten. Es l&auml;&szlig;t sich
+denken, da&szlig; ein solches Obst nicht ungez&auml;hlt blieb, und da&szlig; Nacht und
+Tag Wachen rings umher standen, um jeden Diebstahl zu verh&uuml;ten. Trotzdem
+war schon drei N&auml;chte hintereinander immer einer der gr&ouml;&szlig;eren Aepfel
+gestohlen worden; man sch&auml;tzte den Werth eines solchen auf sechstausend
+Rubel. Die Wachen hatten weder den Dieb gesehen noch seine Spur
+gefunden. <em class="gesperrt">Scharfauge</em> dachte sich gleich, da&szlig; hier eine ganz besondere
+List obwalte, die er mit seinem durchdringenden Blick wohl herausbringen
+k&ouml;nnte. Er meinte, wenn der Dieb nicht k&ouml;rperlos und unsichtbar zum
+Baume kommt, so wird er meinem scharfen Auge nicht entgehen. Er bat
+de&szlig;halb den K&ouml;nig um die Erlaubni&szlig;, sich in den Garten begeben zu
+d&uuml;rfen, um ohne Vorwissen der W&auml;chter seine Beobachtungen anzustellen.
+Als er die Erlaubni&szlig; erhalten hatte, machte er sich im Wipfel eines
+hohen Baumes, der nicht weit von dem Goldapfelbaume stand, ein Versteck
+zurecht, wo Niemand ihn gewahr werden konnte, w&auml;hrend sein scharfes Auge
+&uuml;berall hin reichte und Alles, was vorging, sehen konnte. &mdash; Brotsack
+und Milchf&auml;&szlig;chen nahm er mit sich, damit er nicht gen&ouml;thigt w&auml;re seinen
+Schlupfwinkel zu verlassen, falls das Wachen sich in die L&auml;nge z&ouml;ge. Den
+Goldapfelbaum und was rings um denselben vorging, behielt er nun
+unausgesetzt im Auge. Die Wachtsoldaten hatten um den Baum herum drei so
+dichte Kreise geschlossen, da&szlig; kein M&auml;uslein unbemerkt h&auml;tte
+durchschl&uuml;pfen k&ouml;nnen. Wenn der Dieb nicht etwa Fl&uuml;gel hatte, auf dem
+Boden konnte er nicht an den Baum gelangen. Den ganzen Tag &uuml;ber bemerkte
+Scharfauge nichts, was einem Diebe &auml;hnlich gesehen h&auml;tte. Bei<span class='pagenum'><a name="Page_44" id="Page_44">[S 44]</a></span>
+Sonnenuntergang flatterte ein kleiner gelber Schmetterling um den
+Apfelbaum herum, bis er sich endlich auf einen seiner Zweige niederlie&szlig;,
+an welchem gerade ein sehr sch&ouml;ner Apfel hing. Da&szlig; ein kleiner
+Schmetterling keinen goldenen Apfel vom Baume fortbringen konnte,
+begreift Jeder so gut wie <em class="gesperrt">Scharfauge</em>, allein da dieser nichts Gr&ouml;&szlig;eres
+gewahr wurde, so verwandte er kein Auge von dem gelben Schmetterling.
+Die Sonne war l&auml;ngst untergegangen und auch die Abendr&ouml;the verschwand
+allm&auml;hlich vom Horizont, aber die um den Baum herum aufgestellten
+Laternen gaben so viel Licht, da&szlig; man Alles sehen konnte. Der gelbe
+Schmetterling sa&szlig; immer noch unbeweglich auf seinem Zweige. Es mochte um
+Mitternacht sein, als dem W&auml;chter auf dem Baume die Augen ein wenig
+zufielen. Wie lange er geschlummert hatte, wu&szlig;te er nicht, als aber
+seine Augen wieder auf den Apfelbaum fielen, sah er, da&szlig; der gelbe
+Schmetterling nicht mehr auf dem Zweige sa&szlig;, &mdash; noch mehr erschrak er,
+als er entdeckte, da&szlig; auch der herrliche Goldapfel von diesem Zweige
+verschwunden war. Ein Diebstahl war geschehen, daran war nicht zu
+zweifeln, allein wenn der geheime W&auml;chter die Sache erz&auml;hlt h&auml;tte, so
+w&uuml;rden die Leute ihn f&uuml;r verr&uuml;ckt gehalten haben, denn soviel konnte ein
+Kind einsehen, da&szlig; ein Schmetterling nicht im Stande war, den Goldapfel
+weg zu tragen. Am Morgen gab es wieder gro&szlig;en L&auml;rm, als man fand, da&szlig;
+ein Apfel fehle, ohne da&szlig; einer der W&auml;chter eine Spur vom Diebe gesehen
+h&auml;tte. Da trat <em class="gesperrt">Scharfauge</em> abermals vor den K&ouml;nig und sagte: &raquo;Ich habe
+zwar den Apfeldieb ebensowenig gesehen wie eure Wachen, aber wenn ihr in
+der Stadt oder in der N&auml;he derselben einen<span class='pagenum'><a name="Page_45" id="Page_45">[S 45]</a></span> zauberkundigen Mann habt, so
+weiset mich zu ihm, mit seiner H&uuml;lfe hoffe ich k&uuml;nftige Nacht des Diebes
+habhaft zu werden.&laquo; Als er erfahren hatte, wo der Zauberer zu finden
+sei, ging er unverz&uuml;glich zu ihm. Die M&auml;nner rathschlagten dann, wie sie
+die Sache wohl am besten anfangen k&ouml;nnten. Nach einiger Zeit rief
+<em class="gesperrt">Scharfauge</em> &raquo;Ich habe einen Plan! kannst du durch Zauber einem
+Spinngewebe solche Festigkeit geben, da&szlig; die F&auml;den auch das st&auml;rkste
+Gesch&ouml;pf festhalten, dann legen wir den Dieb in Fesseln, so da&szlig; er uns
+nicht wieder entrinnt.&laquo; Der Zauberer sagte, das sei m&ouml;glich; nahm drei
+gro&szlig;e Kreuzspinnen, machte sie durch Hexenkraft so stark, da&szlig; kein
+Gesch&ouml;pf sich aus ihrem Gewebe losmachen konnte, that sie in ein
+Sch&auml;chtelchen und gab sie dem <em class="gesperrt">Scharfauge</em>. &raquo;Setze diese Spinnen, wohin du
+willst, und zeige ihnen mit dem Finger an, wie sie ihr Netz ziehen
+sollen, so spinnen sie alsbald einen K&auml;fig um den Gefangenen, aus
+welchem nur Mana's<a name="FNanchor_15_15" id="FNanchor_15_15"></a><a href="#Footnote_15_15" class="fnanchor">[15]</a> Weisheit erl&ouml;sen kann; &uuml;brigens eile ich dir zu
+H&uuml;lfe, wenn es dessen bedarf.&laquo;</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Scharfauge</em> schl&uuml;pfte mit dem Sch&auml;chtelchen im Busen wieder auf seinen
+Baum, um den Verlauf der Sache zu &uuml;berwachen. Zu derselben Zeit wie
+gestern sah er den gelben Falter wieder um den Apfelbaum her schweben,
+aber es dauerte heute viel l&auml;nger als gestern, ehe sich der
+Schmetterling auf einen Zweig setzte, an welchem ein gro&szlig;er Goldapfel
+hing. Sofort lie&szlig; sich Scharfauge von seinem Baume herunter, n&auml;herte
+sich dem Goldapfel<span class='pagenum'><a name="Page_46" id="Page_46">[S 46]</a></span>baum, lie&szlig; eine Leiter anlegen, kletterte sachte
+hinauf, um den Schmetterling nicht zu scheuchen, und setzte seine
+kleinen Weber je auf drei Zweige. Eine Spinne kam so einige Spannen &uuml;ber
+dem Schmetterling, die andere zu seiner Rechten, die dritte zu seiner
+Linken zu sitzen; dann beschrieb Scharfauge mit dem Finger eine Linie in
+die Kreuz und die Quer um den Schmetterling herum. Dieser sa&szlig; mit
+aufgerichteten Fl&uuml;geln unbeweglich da. Mit Sonnenuntergang war der
+W&auml;chter wieder in seinem Baumversteck. Von da aus sah er zu seiner
+Freude, wie die drei Gesellen um den Schmetterling her von allen Seiten
+ein Gehege machten, aus welchem das M&auml;nnlein nicht hoffen durfte zu
+entkommen, wenn anders die Kraft, deren der Zauberer sich ger&uuml;hmt hatte,
+sich bew&auml;hren w&uuml;rde. Wohl suchte unser Mann auf seinem Baume sich vor
+dem Einschlummern zu h&uuml;ten, aber dennoch waren ihm mit einem Male die
+Augen zugefallen. Wie lange er geschlummert hatte, wu&szlig;te er nicht, aber
+ein gro&szlig;er L&auml;rm hatte ihn pl&ouml;tzlich aufgeweckt. Als er hinsah, nahm er
+wahr, da&szlig; die Wachtsoldaten wie die Ameisen um den Goldapfelbaum herum
+liefen und tobten; auf dem Baume aber sa&szlig; ein alter graub&auml;rtiger Mann,
+einen Goldapfel in der Faust, in einem eisernen Netze. Hurtig stieg
+<em class="gesperrt">Scharfauge</em> von seinem Wipfel herunter, aber ehe er den Goldapfelbaum
+erreicht hatte, war auch schon der K&ouml;nig da, der bei dem L&auml;rm der Wachen
+aus dem Bette gesprungen und herbeigeeilt war, um zu sehen, was sich
+Unerwartetes in seinem Garten zutrug. Da sa&szlig; nun der Dieb im Eisenk&auml;fig
+und konnte nirgends hin &raquo;Geehrter K&ouml;nig,&laquo; sagte dann <em class="gesperrt">Scharfauge</em>: &raquo;jetzt
+k&ouml;nnt ihr euch<span class='pagenum'><a name="Page_47" id="Page_47">[S 47]</a></span> ruhig niederlegen und bis zum hellen Morgen schlafen,
+der Dieb entkommt uns nicht mehr. W&auml;re er auch noch so stark, so kann er
+doch die durch Hexenkraft entstandenen Maschen seines K&auml;figs nicht
+zerrei&szlig;en.&laquo; Der K&ouml;nig dankte und befahl dem Haupthaufen der
+Wachtsoldaten ebenfalls schlafen zu gehen, so da&szlig; nur noch einige unter
+dem Baume auf Wache blieben; <em class="gesperrt">Scharfauge</em>, der zwei N&auml;chte und zwei Tage
+gewacht hatte, ging ebenfalls um auszuschlafen.</p>
+
+<p>Am andern Morgen ging er mit dem Zauberer in des K&ouml;nigs Schlo&szlig;. Der
+Zauberer war froh, als er den Dieb im K&auml;fig fand und wollte ihn auch
+nicht eher herauslassen, als bis das M&auml;nnlein seine wahre Gestalt
+gezeigt haben w&uuml;rde. Zu dem Ende schnitt er ihm den halben Bart unter
+dem Kinne ab, lie&szlig; Feuer bringen und fing an die Barthaare zu sengen. O
+der Pein und Qual, welche der Vogel im Eisenk&auml;fig jetzt auszustehen
+hatte!<a name="FNanchor_16_16" id="FNanchor_16_16"></a><a href="#Footnote_16_16" class="fnanchor">[16]</a> Er schrie j&auml;mmerlich und &uuml;berschlug sich vor Schmerz, aber
+der Zauberer lie&szlig; nicht ab, sondern sengte immer mehr Haare, um den Dieb
+m&uuml;rber zu machen. Dann rief er: &raquo;Bekenne, wer du bist?&laquo; Das M&auml;nnlein
+antwortete: &raquo;Ich bin des Hexenmeisters <em class="gesperrt">Piirisilla</em> Knecht, den sein Herr
+ausgeschickt hat zu stehlen.&laquo; Der Zauberer begann wieder die Barthaare
+zu sengen. &raquo;Au, au!&laquo; schrie der Hexenmeister, &raquo;la&szlig;t mir Zeit, ich will
+bekennen! Ich bin nicht der Knecht, ich bin des Hexenmeisters Sohn.&laquo;
+Abermals wurden Haare gesengt, da rief der Gefangene heulend: &raquo;Ich bin
+der Hexenmeister Piirisilla selbst.&laquo;<span class='pagenum'><a name="Page_48" id="Page_48">[S 48]</a></span> &raquo;Zeige uns deine nat&uuml;rliche
+Gestalt &mdash; oder ich senge wiederum,&laquo; befahl der m&auml;chtige Zauberer. Da
+begann das M&auml;nnlein im K&auml;fig sich zu strecken und auszudehnen, und war
+in wenig Augenblicken zu einem gew&ouml;hnlichen Manne angewachsen, der die
+Entwendung der Gold&auml;pfel ohne Umschweife eingestand. Jetzt wurde er
+sammt dem K&auml;fige vom Baume heruntergenommen und gefragt, wo das
+Gestohlene versteckt sei? Er versprach die Stelle selbst zu zeigen, aber
+<em class="gesperrt">Scharfauge</em> bat den K&ouml;nig, den Dieb ja nicht aus dem K&auml;fig zu lassen,
+denn sonst k&ouml;nnte er sich wieder in einen Schmetterling verwandeln und
+ihnen entkommen. Ehe er aber alle Diebsl&ouml;cher angab, mu&szlig;te er noch
+manches Mal gesengt werden, und als endlich alle Gold&auml;pfel
+herbeigeschafft waren, wurde der b&ouml;se Dieb im K&auml;fig verbrannt und seine
+Asche in die Luft gestreut.</p>
+
+<p>Als der K&ouml;nig seinen Schatz wieder hatte, zahlte er dem <em class="gesperrt">Scharfauge</em> einen
+sehr gro&szlig;en Lohn, so da&szlig; er auf ein Mal wohl noch reicher ward als seine
+beiden Br&uuml;der. Der K&ouml;nig h&auml;tte ihn gern in seine Dienste genommen, aber
+<em class="gesperrt">Scharfauge</em> sagte: &raquo;Ich kann jetzt keinen Dienst mehr annehmen, sondern
+mu&szlig; nach Hause, um meine Eltern zu sehen.&laquo; Darauf schenkte ihm der K&ouml;nig
+Pferde, Wagen und Diener, welche ihm seine Reichth&uuml;mer nach Hause
+brachten.</p>
+
+<p>Als nun die Br&uuml;der im elterlichen Hause wieder beisammen waren, fanden
+sie sich so reich, da&szlig; sie mehr als ein halbes K&ouml;nigreich h&auml;tten kaufen
+k&ouml;nnen. Die Mutter erinnerte sich jetzt, wie der gl&uuml;ckbringende Zwerg
+das Alles zu Wege gebracht hatte, aber sie verschwieg den wunderbaren
+Vorfall. Reichthum war jetzt in solchem Ma&szlig;e vor<span class='pagenum'><a name="Page_49" id="Page_49">[S 49]</a></span>handen, da&szlig; die S&ouml;hne
+gewi&szlig; nicht n&ouml;thig gehabt h&auml;tten sich einen neuen Dienst zu suchen; aber
+wo f&auml;nde man wohl auf der Welt den Reichen, der mit seiner Habe
+zufrieden w&auml;re und dieselbe nicht immer noch zu mehren suchte? Als die
+Br&uuml;der sp&auml;ter erfuhren, da&szlig; eines &uuml;beraus reichen K&ouml;nigs Tochter im
+Nordlande demjenigen zu Theil werden sollte, der drei besonders
+schwierige Dinge ausf&uuml;hren k&ouml;nnte, die bis dahin noch keinem m&ouml;glich
+gewesen waren &mdash; beschlossen sie einm&uuml;thig, die Sache zu versuchen. Es
+waren schon Leute genug von weit und breit erschienen, um sich daran zu
+versuchen, aber Keiner war im Stande gewesen die Aufgaben zu l&ouml;sen,
+denen ihre Kr&auml;fte nicht gewachsen waren. Einem Einzelnen zumal war es
+ganz unm&ouml;glich das Verlangte zu vollbringen. Als die Br&uuml;der den
+Entschlu&szlig; gefa&szlig;t hatten, machten sie sich selbdritt auf den Weg, und
+damit sie rascher vorw&auml;rts k&auml;men, trug <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> die beiden Andern von
+Zeit zu Zeit auf seinem R&uuml;cken weiter. Weil nun aber die Arbeit von
+<em class="gesperrt">einem</em> Manne gethan werden sollte, so konnten sie nicht alle drei
+zugleich vor den K&ouml;nig treten. <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> wurde ausgesandt,
+Erkundigungen einzuziehen. Die drei Probest&uuml;cke, welche der k&uuml;nftige
+Schwiegersohn des K&ouml;nigs ausf&uuml;hren sollte, waren folgende: Erstens
+sollte er einen Tag mit einer gro&szlig;en Rennthierkuh auf die Weide gehen
+und Sorge tragen, da&szlig; ihm das windschnelle Thier nicht davon laufe;
+Abends mit Sonnenuntergang sollte er es wieder in den Stall bringen.
+Zweitens sollte er Abends das Schlo&szlig;thor verschlie&szlig;en. Das dritte
+Probest&uuml;ck erschien als das schwerste. Er sollte n&auml;mlich mit seinem
+Bogen einen Apfel wegschie&szlig;en, dessen Stiel ein Mann auf<span class='pagenum'><a name="Page_50" id="Page_50">[S 50]</a></span> einem hohen
+Berge im Munde hielt, ohne da&szlig; der Mann Schaden n&auml;hme, und so, da&szlig; der
+Pfeil mitten durch den Apfel ginge. Die beiden ersten Arbeiten schienen
+wohl nicht so schwer, doch hatte Niemand sie bisher ausf&uuml;hren k&ouml;nnen,
+und zwar de&szlig;halb, weil es nicht mit rechten Dingen zuging. Die
+Rennthierkuh besa&szlig; n&auml;mlich eine so wunderbare Schnelligkeit, da&szlig; sie in
+einem Tage von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang durch die ganze Welt
+h&auml;tte laufen k&ouml;nnen. Wie konnte ein Mensch mit ihr aushalten? Bei dem
+zweiten Probest&uuml;ck war Hexerei im Spiel. Eine Hexe hatte sich in den
+eisernen Pfortenriegel verwandelt, und wenn der Mann die Leiter
+hinanstieg, um den Riegel anzufassen, so packte sie mit h&ouml;llischer Kraft
+die Hand des Ungl&uuml;cklichen, und keine Gewalt konnte sie befreien, bis
+die Hexe selber los lie&szlig;. Das war aber noch nicht Alles &mdash; in demselben
+Augenblicke, wo die Hand festgeklemmt war, fing der Pfortenfl&uuml;gel an,
+wie vom Winde gesch&uuml;ttelt hin und her zu tanzen. So mu&szlig;te der an der
+Hand festgehaltene Mann bis zum Morgen wie ein Glockenschwengel hin und
+her baumeln, und wenn er endlich losgelassen wurde, war er mehr todt als
+lebendig. Obendrein lachten der K&ouml;nig und die Leute &uuml;ber sein Ungl&uuml;ck
+und er mu&szlig;te mit Schande abziehen; auch hatten sich Viele die Schultern
+so verrenkt, da&szlig; sie zeitlebens nicht mehr arbeiten konnten. Die dritte
+Aufgabe konnte nur einem geschickten Sch&uuml;tzen gelingen, dessen Hand und
+Auge gleich fest und sicher waren. Als Schnellfu&szlig; dies Alles erfahren
+hatte, ging er nicht gleich zum K&ouml;nige, sondern suchte erst seine Br&uuml;der
+wieder auf, die ihn vor der Stadt erwarteten. Nachdem sich die M&auml;nner
+berathen hatten, fanden sie, da&szlig; sie zu Dreien<span class='pagenum'><a name="Page_51" id="Page_51">[S 51]</a></span> diese Dinge wohl zu
+Stande bringen k&ouml;nnten, das Verdrie&szlig;liche war nur, da&szlig; sie in den Augen
+des K&ouml;nigs als Einer erscheinen mu&szlig;ten, wenn sie den versprochenen
+Kampflohn erringen wollten. Die schlauen<a name="FNanchor_17_17" id="FNanchor_17_17"></a><a href="#Footnote_17_17" class="fnanchor">[17]</a> Br&uuml;der beschnitten also
+ihre B&auml;rte auf gleiche Weise, so da&szlig; keinem weder auf der Oberlippe noch
+unter dem Kinn die Haare dichter standen als dem andern; und da sie als
+S&ouml;hne einer Mutter und als Drillinge an K&ouml;rperbildnug und Geberde wenig
+verschieden waren, so konnte ein fremdes Auge den Betrug nicht
+herausfinden. Sie lie&szlig;en sich dann einen gar pr&auml;chtigen f&uuml;rstlichen
+Anzug machen, der aus Seide und dem kostbarsten Sammet bestand und mit
+Gold und blitzenden Edelsteinen verziert war, so da&szlig; Alles gl&auml;nzte und
+schimmerte, wie der Sternenhimmel in einer klaren Winternacht. Ehe sie
+sich anschickten, die Probearbeiten zu unternehmen, gelobten sich die
+Br&uuml;der mit einem Eide, da&szlig; nur das Loos entscheiden solle, wer von ihnen
+des K&ouml;nigs Schwiegersohn werden sollte. Da nun die starken Br&uuml;der auf
+diese Weise allen k&uuml;nftigen Mi&szlig;helligkeiten vorgebeugt hatten,
+schm&uuml;ckten sie eines Tages <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> mit den pr&auml;chtigen Kleidern und
+schickten ihn zum K&ouml;nige, damit er die Rennthierkuh auf die Weide f&uuml;hre.
+Ging die Sache nach Wunsch, so war der erste gro&szlig;e Stein hinweggew&auml;lzt,
+der bis jetzt alle dreier verhindert hatte, die Brautkammer zu betreten.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> trat so stolz vor den K&ouml;nig hin, als w&auml;re er ein geborener
+K&ouml;nigssohn, gr&uuml;&szlig;te mit Anstand<span class='pagenum'><a name="Page_52" id="Page_52">[S 52]</a></span> und bat um Erlaubni&szlig;, das Probest&uuml;ck am
+andern Morgen zu versuchen. Der K&ouml;nig gab sie, f&uuml;gte aber hinzu: &raquo;Gut
+w&auml;re es, wenn ihr schlechtere Kleider anz&ouml;get, denn unsere Rennthierkuh
+l&auml;uft unbek&uuml;mmert durch Sumpf und Moor, immer gerade aus, da k&ouml;nntet ihr
+die theuren Kleider verderben.&laquo; <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> erwiederte: &raquo;Wer eure Tochter
+freien will, was macht sich der aus Kleidern?&laquo; und ging dann zur Ruhe,
+um den andern Tag desto munterer zu sein. Des K&ouml;nigs Tochter, die
+heimlich durch eine Th&uuml;rspalte nach dem stattlichen Manne gesp&auml;ht hatte,
+sagte seufzend: &raquo;Wenn ich doch dem Rennthier Fu&szlig;fesseln anlegen k&ouml;nnte,
+ich th&auml;te es, um diesen Mann zum Gemahle zu erhalten.&laquo;</p>
+
+<p>Als den andern Morgen die Sonne aufgegangen war, band <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> der
+Rennthierkuh einen Halfterstrang<a name="FNanchor_18_18" id="FNanchor_18_18"></a><a href="#Footnote_18_18" class="fnanchor">[18]</a> um den Hals und nahm das andere
+Ende in die Faust, damit die Kuh sich nicht zu weit entfernen k&ouml;nnte.
+Als die Stallth&uuml;r ge&ouml;ffnet wurde, scho&szlig; die Kuh wie der Wind davon, der
+Hirte aber lief den Halfter festhaltend neben ihr her, und blieb keinen
+Schritt zur&uuml;ck. Der K&ouml;nig und die Zuschauer aus der Stadt erstaunten
+&uuml;ber die wunderbare Schnelligkeit des Mannes, denn bis hierzu hatte noch
+Keiner auch nur ein paar hundert Schritt weit neben der Kuh herlaufen
+k&ouml;nnen. Wiewohl <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> sobald keine Erm&uuml;dung zu f&uuml;rchten hatte, so
+hielt er es doch f&uuml;r gerathen, die Kuh zu besteigen, sobald er den
+Leuten aus den Augen war. Er sprang auf den R&uuml;cken des Thieres,<span class='pagenum'><a name="Page_53" id="Page_53">[S 53]</a></span> hielt
+sich am Halfter fest und lie&szlig; sich weiter tragen. Es war noch fr&uuml;h am
+Morgen, als die Rennthierkuh schon merkte, da&szlig; von diesem Hirten nicht
+loszukommen sei; sie hielt den Schritt an und rupfte das Gras vom Boden.
+<em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> sprang ab und warf sich unter einen Busch, um auszuruhen,
+hielt aber den Halfter fest, damit die Kuh nicht davon liefe. Als die
+Sonne um Mittag brannte, legte sich auch die Kuh neben ihn in den
+Schatten und fing an wiederzuk&auml;uen. Nach Mittag versuchte das Thier noch
+einige Mal die Schnelligkeit seiner Beine, um dem Hirten zu entkommen,
+aber dieser war wie der Wind wieder auf dem R&uuml;cken der Kuh, so da&szlig; er
+seine Beine nicht anzustrengen brauchte. Sehr gro&szlig; war das Erstaunen des
+K&ouml;nigs und der Leute, als sie bei Sonnenuntergang sahen, wie die
+st&ouml;rrige Rennthierkuh gleich dem fr&ouml;mmsten Lamme mit ihrem Hirten heim
+kehrte. <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> f&uuml;hrte sie in den Stall, verschlo&szlig; die Th&uuml;r und
+speiste dann auf Einladung des K&ouml;nigs an dessen Tafel. Nach dem
+Abendessen verabschiedete er sich, indem er sagte, er wollte zeitig zur
+Ruhe gehen, um die Erm&uuml;dung des Tages los zu werden.</p>
+
+<p>Allein er ging nicht zur Ruhe, sondern begab sich zu seinen Br&uuml;dern, die
+seiner im Walde harrten. Den anderen Tag sollte <em class="gesperrt">Flinkhand</em> die pr&auml;chtigen
+Kleider anziehen und zum K&ouml;nige gehen, um das zweite Probest&uuml;ck
+auszuf&uuml;hren. Der K&ouml;nig, welcher ihn f&uuml;r den Mann von gestern hielt,
+lobte seine Hirtenarbeit und w&uuml;nschte ihm Gl&uuml;ck zu seiner heutigen
+Aufgabe, n&auml;mlich am Abend die Pforte zu verschlie&szlig;en. Des K&ouml;nigs Tochter
+hatte wieder durch die Th&uuml;rspalte nach dem stattlichen<span class='pagenum'><a name="Page_54" id="Page_54">[S 54]</a></span> Manne gesp&auml;ht
+und sagte seufzend: &raquo;Wenn ich k&ouml;nnte, ich schaffte die b&ouml;se Hexe von der
+Pforte fort, damit diesem theuren J&uuml;nglinge kein Leid gesch&auml;he, den ich
+mir zum Gemahl w&uuml;nsche.&laquo;</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Flinkhand</em>, der genau wu&szlig;te, wie es sich mit dem Pfortenriegel verhielt,
+ging vom K&ouml;nige gerades Wegs zum Schmied und lie&szlig; sich eine starke
+eiserne Hand machen. Als am Abend alle Welt im Schlosse zur Ruhe
+gegangen war, machte er Feuer an und lie&szlig; darin die Eisenhand
+rothgl&uuml;hend werden. Darauf stellte er eine Leiter gegen die Pforte, denn
+seine K&ouml;rperl&auml;nge reichte nicht hinan. Von der Leiter aus legte er die
+gl&uuml;hende Eisenhand an den Riegel, und in demselben Augenblick hatte die
+Hexe, die darin steckte, zugepackt und die Hand ergriffen, welche sie
+f&uuml;r eine nat&uuml;rliche hielt. Als sie aber den brennenden Schmerz f&uuml;hlte,
+fing sie so an zu br&uuml;llen, da&szlig; alle W&auml;nde bebten und viele Schl&auml;fer im
+Schlo&szlig; durch den L&auml;rm aufgeweckt wurden. Aber <em class="gesperrt">Flinkhand</em> hatte in
+demselben Augenblick, wo die Eisenhand ihn selbst vor dem Griffe der
+Hexe gesch&uuml;tzt hatte, den Riegel vorgeschoben, so da&szlig; die Pforte
+verschlossen war. Gleichwohl blieb er wach, bis der K&ouml;nig am Morgen
+aufstand und die Sache selbst in Augenschein nahm. Die Pforte war noch
+verriegelt. Der K&ouml;nig lobte die Geschicklichkeit des J&uuml;nglings, der
+schon zwei schwierige Arbeiten ausgef&uuml;hrt hatte und lud ihn zu Mittag zu
+Gaste. <em class="gesperrt">Flinkhand</em> a&szlig; sich an des K&ouml;nigs Tafel satt und wu&szlig;te sich auch
+angenehm zu unterhalten, bis er endlich um Erlaubni&szlig; bat, nach Hause zu
+gehen, und auszuruhen, da er die ganze vorige Nacht kein Auge zugethan,
+auch noch mancherlei Vorbereitungen f&uuml;r den<span class='pagenum'><a name="Page_55" id="Page_55">[S 55]</a></span> kommenden Tag zu treffen
+habe. Er ging dann in den Wald, wo die Br&uuml;der ihn l&auml;ngst erwarteten und
+wissen wollten, wie das Probest&uuml;ck abgelaufen w&auml;re. Da nun die starken
+Br&uuml;der sich einander nicht beneideten und keiner voraus wissen konnte,
+wen endlich das Gl&uuml;ck treffen w&uuml;rde, Schwiegersohn des K&ouml;nigs zu werden,
+so freuten sie sich gemeinschaftlich des gelungenen Werkes.</p>
+
+<p>Am folgenden Morgen wurde <em class="gesperrt">Scharfauge</em> mit dem pr&auml;chtigen k&ouml;niglichen
+Anzuge bekleidet und ausgeschickt, um das dritte Probest&uuml;ck auszuf&uuml;hren.
+Nicht minder stolz und anmuthig wie die beiden andern Br&uuml;der trat er vor
+den K&ouml;nig, und bat um die Erlaubni&szlig;, das letzte Probest&uuml;ck zu
+unternehmen. Der K&ouml;nig sagte: &raquo;Ich freue mich sehr, da&szlig; es euch m&ouml;glich
+gewesen ist zwei Arbeiten zu vollbringen, welche bis auf den heutigen
+Tag noch Keiner ausf&uuml;hren konnte, so viel ihrer auch von allen Seiten
+zusammenstr&ouml;mten, um den Versuch zu machen. Dennoch f&uuml;rchte ich, da&szlig; ihr
+die dritte Arbeit nicht zu Stande bringen werdet, denn das Ziel, welches
+ihr treffen m&uuml;&szlig;t, steht sehr hoch und ist ein kleiner K&ouml;rper.&laquo;
+<em class="gesperrt">Scharfauge</em> erwiederte: &raquo;Wer euer Schwiegersohn werden will, der darf
+nichts f&uuml;r schwer achten, denn so gro&szlig;es Gl&uuml;ck f&auml;llt Niemanden im
+Schlafe zu.&laquo; Darauf gab der K&ouml;nig die Erlaubni&szlig;, am folgenden Morgen das
+Probest&uuml;ck zu unternehmen. Aber des K&ouml;nigs Tochter, welche wiederum
+durch die Th&uuml;rspalte nach dem J&uuml;ngling gesp&auml;ht hatte, seufzte mit
+Thr&auml;nen in den Augen: &raquo;K&ouml;nnte ich etwas f&uuml;r diesen J&uuml;ngling thun, da&szlig; er
+morgen zum dritten Male Sieger bliebe, ich g&auml;be Hab' und Gut daf&uuml;r &mdash;um
+ihn zum Gemahl zu erhalten.&laquo;<span class='pagenum'><a name="Page_56" id="Page_56">[S 56]</a></span></p>
+
+<p>War schon das erste und zweite Mal eine gro&szlig;e Menge Volks von allen
+Seiten herbei gekommen, um die Wunderwerke zu sehen, so waren heute die
+Tausende gar nicht mehr zu z&auml;hlen. Auf dem Gipfel eines Berges stand der
+Apfeltr&auml;ger, der in solcher H&ouml;he nicht viel gr&ouml;&szlig;er aussah als eine
+Kr&auml;he, und ihm sollte <em class="gesperrt">Scharfauge</em> den Apfel vom Munde weg schie&szlig;en, so
+da&szlig; der Pfeil ihn in der Mitte spaltete. Niemand hielt die Sache f&uuml;r
+m&ouml;glich. Gleichwohl f&uuml;rchtete der Mann oben, der den Apfel am Stiele im
+Munde zu halten hatte, der Sch&uuml;tze k&ouml;nnte doch vielleicht in's Ziel
+treffen, darum beschlo&szlig; er in seinem mi&szlig;g&uuml;nstigen Sinne, dem Sch&uuml;tzen
+die an sich schwere Aufgabe noch schwerer zu machen. Er fa&szlig;te nicht, wie
+vorgeschrieben war, den Apfel mit den Z&auml;hnen am Stiele, sondern steckte
+den halben Apfel in den Mund und dachte: je kleiner ich den Gegenstand
+mache, auf den er zielen mu&szlig;, desto weniger kann er sehen und treffen.
+Aber f&uuml;r <em class="gesperrt">Scharfauge</em> war der halbe Apfel nicht minder deutlich als der
+ganze. Er zielte einige Augenblicke mit seinem durchdringenden Blicke,
+schnellte den Pfeil vom Bogen und o Wunder! der Apfel war mitten
+durchgespalten, so da&szlig; beide H&auml;lften genau gleiche Gr&ouml;&szlig;e hatten. Der
+neidische Apfelh&uuml;ter hatte zugleich den verdienten Lohn f&uuml;r seine
+Bosheit erhalten, denn da <em class="gesperrt">Scharfauge</em> gerade auf die Mitte des Apfels
+gezielt hatte, der Mann aber dessen gr&ouml;&szlig;ere H&auml;lfte im Munde hielt, so
+hatte der Pfeil von beiden Seiten des Mundes ein St&uuml;ck Fleisch mit
+weggerissen. Als der entzwei geschossene Apfel dem K&ouml;nige zum Beweise
+&uuml;berreicht wurde, brach die Menge in ein Freudengeschrei aus. Ein
+solches Wunder hatte sich noch<span class='pagenum'><a name="Page_57" id="Page_57">[S 57]</a></span> nicht begeben. Des K&ouml;nigs Tochter vergo&szlig;
+Freudenthr&auml;nen, da ihres Herzens Wunsch in Erf&uuml;llung gegangen war; der
+K&ouml;nig aber lud <em class="gesperrt">Scharfauge</em> ein, zu ihm zu kommen, damit er ihn sofort
+seiner Tochter verloben k&ouml;nne. Scharfauge lehnte es ehrfurchtsvoll ab
+mit den Worten: &raquo;Verg&ouml;nnt mir, den heutigen Tag mich nach der Arbeit zu
+erholen! morgen wollen wir uns der Freude ergeben!&laquo; Er wollte sich
+n&auml;mlich keines Fehls gegen seine Br&uuml;der schuldig machen, welche gleich
+ihm ihren Theil der Arbeit gethan h&auml;tten: das Loos mu&szlig;te entscheiden,
+welchem von ihnen der Lohn zufallen sollte.</p>
+
+<p>Als Scharfauge zu seinen Br&uuml;dern kam, erz&auml;hlte er ihnen den Hergang, und
+sie freuten sich erst noch mit einander wie die Kinder, ehe sie das Loos
+warfen. Nach Gottes F&uuml;gung brachte das Loos dem <em class="gesperrt">Scharfauge</em> Gl&uuml;ck; er
+sollte nun des K&ouml;nigs Schwiegersohn werden. Noch einmal schliefen die
+Br&uuml;der beisammen, dann schlug die bittere Trennungsstuude, <em class="gesperrt">Scharfauge</em>
+begab sich in die K&ouml;nigsstadt, <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> und <em class="gesperrt">Flinkhand</em> machten sich in
+die Heimath zu ihren Eltern auf.</p>
+
+<p>Nach ihrer R&uuml;ckkehr kauften die beiden reichen Br&uuml;der sich viele G&uuml;ter
+und L&auml;ndereien, so da&szlig; ihr Gebiet bald einem kleinen K&ouml;nigreiche glich.
+<em class="gesperrt">Scharfauge</em> hatte Alles seinen Eltern und Br&uuml;dern geschenkt, da er, als
+Schwiegersohn des K&ouml;nigs, seines eigenen Verm&ouml;gens nicht mehr bedurfte.
+Die Eltern freuten sich &uuml;ber das Gl&uuml;ck ihrer Kinder, nur war der Mutter
+das Herz oft schwer, weil ihr dritter Sohn so weit von ihnen in der
+Fremde lebte, da&szlig; sie nicht hoffen durfte ihn wieder zu sehen. Als aber
+die Eltern sp&auml;ter gestorben waren, da hatten <em class="gesperrt">Schnellfu&szlig;</em> und<span class='pagenum'><a name="Page_58" id="Page_58">[S 58]</a></span> <em class="gesperrt">Flinkhand</em>
+keine Ruhe mehr in der Heimath, sie verpachteten ihre Besitzungen und
+streiften wieder in fremden Landen umher, um neue Reichth&uuml;mer und
+Sch&auml;tze durch ihre Gaben zu erwerben. Wie weit ihre Wanderung reichte,
+was f&uuml;r Thaten sie auf derselben verrichteten und ob sie sp&auml;ter wieder
+in die Heimath zur&uuml;ckkehrten, dar&uuml;ber kann ich euch nichts weiter
+melden. Aber <em class="gesperrt">Scharfauge's</em> Geschlecht mu&szlig; noch heutiges Tages in dem
+Lande wohnen, wo der Stammvater einst das Gl&uuml;ck hatte, Schwiegersohn des
+K&ouml;nigs zu werden.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_59" id="Page_59">[S 59]</a></span></p>
+<h2>4. Der Tontlawald.</h2>
+
+
+<p>Zu alten Zeiten stand in Allentacken<a name="FNanchor_19_19" id="FNanchor_19_19"></a><a href="#Footnote_19_19" class="fnanchor">[19]</a> ein sch&ouml;ner Hain, der
+Tontlawald hie&szlig;, den aber kein Mensch zu betreten wagte. Dreistere, die
+zuf&auml;llig einmal n&auml;her gekommen waren und gesp&auml;ht hatten, erz&auml;hlten, sie
+h&auml;tten unter dichten B&auml;umen ein verfallenes Haus gesehen und um dasselbe
+herum menschen&auml;hnliche Wesen, von denen der Rasen wie von einem
+Ameisenhaufen wimmelte. Die Gesch&ouml;pfe h&auml;tten ru&szlig;ig und zerlumpt
+ausgesehen wie die Zigeuner, und es w&auml;ren namentlich viel alte Weiber
+und halbnackte Kinder darunter gewesen. Als einst ein Bauer, der in
+finsterer Nacht von einem Schmause nach Hause ging, etwas tiefer in den
+Tontlawald hineingerathen war, hatte er seltsame Dinge gesehen. Um ein
+helles Feuer war eine Unzahl Weiber und Kinder versammelt, einige sa&szlig;en
+am Boden, die andern tanzten auf dem Plan. Ein altes Weib hatte einen
+breiten eisernen Sch&ouml;pfl&ouml;ffel in der Hand, mit welchem sie von Zeit zu
+Zeit die gl&uuml;hende Asche &uuml;ber den Rasen hinstreute, worauf die Kinder mit
+Geschrei in die Luft hinauf fuhren und wie<span class='pagenum'><a name="Page_60" id="Page_60">[S 60]</a></span> Nachteulen um den
+aufsteigenden Rauch flatterten, bis sie zuletzt wieder herabkamen. Dann
+trat aus dem Walde ein kleiner alter langb&auml;rtiger Mann, der auf dem
+R&uuml;cken einen Sack trug, der l&auml;nger war als er selbst. Weiber und Kinder
+liefen dem M&auml;nnlein l&auml;rmend entgegen, tanzten um ihn herum und suchten
+ihm den Sack vom R&uuml;cken zu rei&szlig;en, aber der Alte machte sich von ihnen
+los. Jetzt sprang eine schwarze Katze, so gro&szlig; wie ein Fohlen, die mit
+gl&uuml;henden Augen auf der Th&uuml;rschwelle gesessen, auf des Alten Sack und
+verschwand dann in der H&uuml;tte. Weil aber dem Zuschauer schon der Kopf
+brannte und es ihm vor den Augen flimmerte, so blieb auch seine
+Erz&auml;hlung unsicher, und man konnte nicht recht dahinter kommen, was
+daran wahr und was falsch sei. Auffallend war es, da&szlig; von Geschlecht zu
+Geschlecht solche Dinge vom Tontlawalde erz&auml;hlt wurden; aber Niemand
+wu&szlig;te genauere Auskunft zu geben. Der Schwedenk&ouml;nig hatte mehr als
+einmal befohlen, den gef&uuml;rchteten Wald zu f&auml;llen, aber die Leute wagten
+es nicht den Befehl zu vollziehen. Einmal hieb ein dreister Mann mit
+einer Axt in einige B&auml;ume, da flo&szlig; sogleich Blut und man h&ouml;rte
+Jammergeschrei wie von gequ&auml;lten Menschen.<a name="FNanchor_20_20" id="FNanchor_20_20"></a><a href="#Footnote_20_20" class="fnanchor">[20]</a> Der erschreckte
+Holzf&auml;ller nahm zitternd und bebend die Flucht; seitdem war kein noch so
+strenger Befehl, kein noch so reichlicher Lohn im Stande,<span class='pagenum'><a name="Page_61" id="Page_61">[S 61]</a></span> wieder einen
+Holzf&auml;ller in den Tontlawald zu locken. &mdash;Sehr wunderbar erschien es
+auch, da&szlig; weder ein Weg aus dem Walde heraus noch einer hinein f&uuml;hrte;
+auch sah man das ganze Jahr durch keinen Rauch aufsteigen, der das
+Dasein menschlicher Wohnst&auml;tten verrathen h&auml;tte. Gro&szlig; war der Wald
+nicht, und rings um ihn her war flaches Feld, so da&szlig; man freien Ausblick
+auf den Wald hatte. Hausten wirklich hier von Alters her lebende Wesen,
+so konnten sie doch nicht anders in dem Walde ein- und ausgehen als auf
+unterirdischen Schlupfwegen, oder sie mu&szlig;ten auch wie die Hexen bei
+n&auml;chtlicher Weile, wo Alles ringsum schlief, durch die Luft fahren. Das
+Letztere ist, dem Erz&auml;hlten zufolge, das Wahrscheinlichere. Vielleicht
+erhalten wir &uuml;ber diese Wunderv&ouml;gel mehr Auskunft, wenn wir den Wagen
+der Erz&auml;hlung etwas weiterlenken und im n&auml;chsten Dorfe ausruhen.</p>
+
+<p>Einige Werst vom Tontlawalde lag ein gro&szlig;es Dorf. Ein verwittweter Bauer
+hatte unl&auml;ngst wieder ein junges Weib genommen und, wie das wohl oft
+vorkommt, ein rechtes Sch&uuml;reisen in's Haus gebracht, so da&szlig; Verdru&szlig; und
+Zank kein Ende nahmen. Das von der ersten Frau nachgebliebene
+siebenj&auml;hrige M&auml;dchen, mit Namen Else, war ein kluges sinniges Gesch&ouml;pf.
+Dieser Armen machte aber die b&ouml;se Stiefmutter das Leben &auml;rger als die
+H&ouml;lle, sie puffte und knuffte das Kind vom Morgen bis zum Abend und gab
+ihm schlechteres Essen als den Hunden. Da die Frau die Hosen anhatte, so
+konnte die Tochter sich auf ihren Vater nicht st&uuml;tzen: der Hansdampf
+mu&szlig;te ja selbst nach des Weibes Pfeife tanzen. L&auml;nger als zwei Jahre
+hatte Else dieses schwere Leben ertragen und hatte viele Thr&auml;nen
+vergossen. Da ging sie eines<span class='pagenum'><a name="Page_62" id="Page_62">[S 62]</a></span> Sonntags mit andern Dorfkindern aus, um
+Beeren zu pfl&uuml;cken. Schlendernd, nach Kinderart, waren sie unvermerkt an
+den Rand des Tontlawaldes gekommen, wo sehr sch&ouml;ne Erdbeeren wuchsen, so
+da&szlig; der Rasen ganz roth davon war. Die Kinder a&szlig;en von den s&uuml;&szlig;en Beeren
+und pfl&uuml;ckten noch soviel in ihre K&ouml;rbchen, als jedes konnte. Pl&ouml;tzlich
+rief ein &auml;lterer Knabe, der die gef&uuml;rchtete Stelle erkannt hatte:
+&raquo;Fliehet, fliehet! wir sind im Tontlawalde!&laquo; Dies Wort war schlimmer als
+Donner und Blitz, alle Kinder nahmen Rei&szlig;aus, als w&auml;ren ihnen die
+Tontla-Unholde schon auf den Fersen. Else, welche etwas weiter gegangen
+war als die Andern, und unter den B&auml;umen sehr sch&ouml;ne Beeren gefunden
+hatte, h&ouml;rte wohl das Rufen des Knaben, mochte sich aber nicht von dem
+Beerenfleck trennen. Sie dachte wohl: Die Tontla-Bewohner k&ouml;nnen doch
+nicht schlimmer sein als meine Stiefmutter daheim. Da kam ein kleiner
+schwarzer Hund mit einem silbernen Gl&ouml;cklein um den Hals bellend auf sie
+zu. Auf dies Gebell eilte ein kleines M&auml;dchen in pr&auml;chtigen seidenen
+Kleidern herbei, verwies den Hund zur Ruhe und sagte dann zur Else:
+&raquo;Sehr gut, da&szlig; du nicht mit den andern Kindern davongelaufen bist.
+Bleibe mir zur Gesellschaft hier, dann wollen wir gar sch&ouml;ne Spiele
+spielen und alle Tage miteinander gehen Beeren zu pfl&uuml;cken; die Mutter
+wird es mir gewi&szlig; nicht abschlagen, wenn ich sie darum bitte. Komm, la&szlig;
+uns sogleich zu ihr gehen!&laquo; Damit fa&szlig;te das pr&auml;chtige fremde Kind Else
+bei der Hand und f&uuml;hrte sie tiefer in den Wald hinein. Der kleine
+schwarze Hund bellte jetzt vor Vergn&uuml;gen, sprang an Elsen herauf und
+leckte ihr die Hand, als w&auml;ren sie alte Bekannte.<span class='pagenum'><a name="Page_63" id="Page_63">[S 63]</a></span></p>
+
+<p>Ach du liebe Zeit, was f&uuml;r Wunder und Herrlichkeit tauchten jetzt vor
+Else's Augen auf. Sie glaubte sich im Himmel zu befinden. Ein pr&auml;chtiger
+Garten, mit Obstb&auml;umen und Beerenstr&auml;uchern angef&uuml;llt, stand vor ihnen;
+auf den Zweigen der B&auml;ume sa&szlig;en V&ouml;gel, bunter als die sch&ouml;nsten
+Schmetterlinge, manche mit Gold- und Silberfedern bedeckt. Und die V&ouml;gel
+waren nicht scheu, die Kinder konnten sie nach Belieben in die Hand
+nehmen. Mitten im Garten stand das Wohnhaus, aus Glas und Edelsteinen
+aufgef&uuml;hrt, so da&szlig; W&auml;nde und Dach gl&auml;nzten wie die Sonne. Eine Frau in
+pr&auml;chtigen Kleidern sa&szlig; vor der Th&uuml;r auf einer Bank und fragte die
+Tochter: &raquo;Was bringst du da f&uuml;r einen Gast?&laquo; Die Tochter antwortete:
+&raquo;Ich fand sie allein im Walde und nahm sie mir zur Gesellschaft mit.
+Erlaubst du, da&szlig; sie hier bleibt?&laquo; Die Mutter l&auml;chelte, sagte aber kein
+Wort, sondern musterte Else mit scharfem Blick vom Kopf bis zu den
+F&uuml;&szlig;en. Dann hie&szlig; sie Else n&auml;her treten, streichelte ihre Wangen und
+fragte freundlich, wo sie zu Hause sei, ob ihre Eltern noch lebten, und
+ob sie den Wunsch habe, hier zu bleiben? Else k&uuml;&szlig;te der Frau die Hand,
+fiel vor ihr nieder, umfa&szlig;te ihre Kniee und erwiederte dann unter
+Thr&auml;nen: &raquo;Die Mutter ruht schon lange unter dem Rasen.</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">Mutter ward hinweg getragen<br /></span>
+<span class="i0">Liebe zog mit ihr von dannen!<a name="FNanchor_21_21" id="FNanchor_21_21"></a><a href="#Footnote_21_21" class="fnanchor">[21]</a><br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Der Vater lebt wohl noch, aber was hilft mir das, die Stiefmutter ha&szlig;t
+mich und schl&auml;gt mich unbarmherzig alle Tage. Nichts kann ich ihr recht
+machen. Bitte,<span class='pagenum'><a name="Page_64" id="Page_64">[S 64]</a></span> Goldfrauchen, la&szlig;t mich hier bleiben! La&szlig;t mich die
+Herde h&uuml;ten, oder gebt mir andere Arbeit, ich will Alles thun und euch
+gehorchen, aber schickt mich nur nicht zur Stiefmutter zur&uuml;ck! Sie
+schl&uuml;ge mich halb todt, weil ich nicht mit den anderen Dorfkindern
+gekommen bin.&laquo; Die Frau l&auml;chelte und sagte: &raquo;Wir wollen sehen, was mit
+dir zu machen ist.&laquo; Dann erhob sie sich von der Bank und trat in's Haus.
+Die Tochter aber sagte zur Else: &raquo;Sei getrost, meine Mutter ist
+freundlich! Ich sah an ihrem Blicke, da&szlig; sie unsere Bitte gew&auml;hren wird,
+wenn sie die Sache n&auml;her &uuml;berlegt hat.&laquo; Sie ging dann ihrer Mutter nach
+und hie&szlig; Else warten. Diese bebte zwischen Furcht und Hoffnung, und
+ungeduldig harrte sie des Bescheides, den die Tochter bringe w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Nach einer Weile kam die Tochter mit einem Sch&auml;chtelchen in der Hand
+zur&uuml;ck und sagte: &raquo;Die Mutter will, da&szlig; wir heute mit einander spielen,
+derweil sie deinetwegen Weiteres beschlie&szlig;en wird. Ich hoffe, du bleibst
+uns, ich m&ouml;chte dich nicht mehr von mir lassen. Bist du schon zur See
+gefahren?&laquo; Else machte gro&szlig;e Augen und fragte dann: &raquo;Zur See? was ist
+das? davon habe ich noch nie etwas geh&ouml;rt.&laquo; &raquo;Du sollst es sogleich
+sehen,&laquo; erwiederte das Fr&auml;ulein und nahm den Deckel vom Sch&auml;chtelchen.
+Da lagen ein Blatt von Frauenmantel, eine Muschelschale und zwei
+Fischgr&auml;ten; auf dem Blatte schimmerten ein Paar Tropfen, diese
+sch&uuml;ttete das Kind auf den Rasen. Augenblicklich waren Garten, Rasen und
+was sonst noch da gestanden hatte, verschwunden, als h&auml;tte die Erde es
+verschlungen: und soweit das Auge reichte, war nur Wasser sichtbar, das
+in der Ferne mit dem<span class='pagenum'><a name="Page_65" id="Page_65">[S 65]</a></span> Himmel zusammenzusto&szlig;en schien. Nur unter ihren
+F&uuml;&szlig;en war ein kleiner Fleck trocken geblieben. Jetzt setzte das Fr&auml;ulein
+die Muschelschale auf's Wasser und nahm die Fischgr&auml;ten zur Hand. Die
+Muschelschale schwoll an, und dehnte sich zu einem h&uuml;bschen Nachen aus,
+worin ein Duzend Kinder und wohl noch mehr Platz gehabt h&auml;tten. Die
+Kinder setzten sich nun selbander in den Nachen, Else mit Zagen, das
+Fr&auml;ulein aber lachte; die Gr&auml;ten, welche sie hielt, wurden zu Rudern.
+Von den Wellen wurden die M&auml;dchen fortgeschaukelt, wie in einer Wiege;
+nach und nach kamen andere K&auml;hne in ihre N&auml;he, in jedem sa&szlig;en Menschen,
+welche sangen und fr&ouml;hlich waren. &raquo;Wir m&uuml;ssen ihren Gesang beantworten,&laquo;
+sagte das Fr&auml;ulein, aber Else verstand nicht zu singen. Um so sch&ouml;ner
+sang das Fr&auml;ulein. Von dem, was die andern sangen, konnte Else nicht
+viel verstehen, nur ein Wort kehrte immer wieder, n&auml;mlich &raquo;Kiisike.&laquo;
+Else fragte, was es bedeute, und das Fr&auml;ulein antwortete: &raquo;Das ist mein
+Name.&laquo; Ich wei&szlig; nicht, wie lange sie so spazieren gefahren waren, da
+h&ouml;rten sie rufen: &raquo;Kinder, kommt nach Hause, es wird Abend.&laquo; Kiisike
+nahm ihr K&ouml;rbchen aus der Tasche, in welchem das Blatt lag, und tauchte
+es in's Wasser, so da&szlig; einige Tropfen daran h&auml;ngen blieben, &mdash;
+augenblicklich waren sie in der N&auml;he des pr&auml;chtigen Hauses, mitten im
+Garten; Alles ringsum erschien trocken und fest wie zuvor, Wasser war
+nirgends. Die Muschelschale und die Fischgr&auml;ten wurden sammt dem Blatte
+in's K&ouml;rbchen gelegt, und die Kinder gingen in's Haus.</p>
+
+<p>In einem gro&szlig;en Gemache sa&szlig;en um einen E&szlig;tisch vier und zwanzig Frauen,
+alle in pr&auml;chtigen Kleidern,<span class='pagenum'><a name="Page_66" id="Page_66">[S 66]</a></span> als w&auml;ren sie auf einer Hochzeit. Oben am
+Tische sa&szlig; die Herrin auf einem goldenen Stuhle.</p>
+
+<p>Else wu&szlig;te nicht, woher die Augen nehmen, um all die Herrlichkeit zu
+betrachten, die ihr hier entgegenschimmerte. Auf dem Tische standen
+dreizehn Gerichte, alle in goldenen und silbernen Sch&uuml;sseln; ein Gericht
+aber blieb unber&uuml;hrt und wurde abgetragen, wie es aufgetragen war, ohne
+da&szlig; man den Deckel gel&uuml;ftet h&auml;tte. Else a&szlig; von den k&ouml;stlichen Speisen,
+die noch besser schmeckten als Kuchen, und es kam ihr wieder vor, als
+m&uuml;&szlig;te sie im Himmel sein; auf Erden konnte sie sich dergleichen nicht
+denken. Bei Tische wurde leise gesprochen, aber in einer fremden
+Sprache, von der Else kein Wort verstand. Die Frau sagte jetzt einige
+Worte zu einer Magd, die hinter ihrem Stuhle stand; die Magd eilte
+hinaus und kam bald mit einem kleinen alten Manne wieder, dessen Bart
+l&auml;nger war als er selber. Der Alte machte einen B&uuml;ckling und blieb am
+Th&uuml;rpfosten stehen. Die Frau deutete mit dem Finger auf Else und sagte:
+&raquo;Betrachte dir dieses Bauerm&auml;dchen, ich will es als Pflegekind annehmen.
+Forme mir ein Abbild von ihr, welches wir morgen statt ihrer in's Dorf
+schicken k&ouml;nnen.&laquo; Der Alte sah Else scharf an, als wolle er das Maa&szlig;
+nehmen, verbeugte sich dann wieder vor der Frau und verlie&szlig; das Gemach.
+Nach Tische sagte die Frau freundlich zu Else: &raquo;Kiisike hat mich
+gebeten, ich m&ouml;chte dich ihr zur Gesellschaft hier behalten und du
+selbst sagtest, du h&auml;ttest Lust hier zu bleiben. Ist dem nun wirklich
+so?&laquo; Else fiel auf die Kniee, und k&uuml;&szlig;te der Frau H&auml;nde und F&uuml;&szlig;e zum Dank
+f&uuml;r die barmherzige Rettung aus den Klauen der b&ouml;sen<span class='pagenum'><a name="Page_67" id="Page_67">[S 67]</a></span> Stiefmutter. Die
+Frau aber hob sie vom Boden auf, streichelte ihr den Kopf und die
+thr&auml;nenfeuchten Wangen und sagte: &raquo;Wenn du immer ein folgsames gutes
+Kind bleibst, so wird es dir gut gehen, ich will f&uuml;r dich sorgen und dir
+allen n&ouml;thigen Unterricht geben lassen, bis du erwachsen bist und dich
+selbst fortbringen kannst. Meine Fr&auml;ulein, welche Kiisike unterrichten,
+werden auch dir behilflich sein, alle feinen Handarbeiten zu erlernen
+und dir andere Kenntnisse zu erwerben.&laquo;</p>
+
+<p>Nach einem Weilchen kam der Alte zur&uuml;ck mit einer langen mit Lehm
+gef&uuml;llten Mulde auf der Schulter, und einem kleinen Deckelk&ouml;rbchen in
+der linken Hand. Er setzte Mulde und K&ouml;rbchen an die Erde, nahm ein
+St&uuml;ck Lehm und machte daraus eine Puppe, welche Menschengestalt hatte.
+In den Leib, der hohl geblieben war, legte der Alte drei gesalzene
+Str&ouml;mlinge und ein St&uuml;ckchen Brot. Dann machte er in der Brust der Puppe
+ein Loch, nahm aus dem Korbe einen ellenlangen schwarzen Wurm und lie&szlig;
+ihn durch das Loch hineinkriechen. Die Schlange zischte und wand sich
+mit dem Schwanze, als str&auml;ubte sie sich, aber sie mu&szlig;te doch hinein.
+Nachdem die Frau die Puppe von allen Seiten betrachtet hatte, sagte der
+Alte: &raquo;Jetzt brauchen wir nichts weiter als ein Tr&ouml;pflein von dem Blute
+des Bauerm&auml;dchens.&laquo; Else wurde bla&szlig; vor Schrecken, als sie das h&ouml;rte;
+sie meinte ihre Seele damit dem B&ouml;sen zu verkaufen.<a name="FNanchor_22_22" id="FNanchor_22_22"></a><a href="#Footnote_22_22" class="fnanchor">[22]</a> Aber die Frau
+tr&ouml;stete sie:<span class='pagenum'><a name="Page_68" id="Page_68">[S 68]</a></span> &raquo;F&uuml;rchte nichts! Wir wollen dein Blut nicht zu etwas
+B&ouml;sem sondern lediglich zu etwas Gutem und zu deinem k&uuml;nftigen Gl&uuml;cke.&laquo;
+Dann nahm sie eine kleine goldene Nadel, stach damit der Else in den Arm
+und gab die Nadel dem Alten, der sie in das Herz der Puppe bohrte.
+Darauf legte er diese in den Korb, damit sie darin wachse und versprach,
+am n&auml;chsten Morgen der Frau zu zeigen, was f&uuml;r ein Werk aus seinen
+H&auml;nden hervorgegangen sei. Man ging hernach zur Ruhe, und auch Else
+wurde von einer Stubenmagd in ihre Schlafkammer gebracht, wo ihr ein
+weiches Bett bereitet wurde.</p>
+
+<p>Als sie am andern Morgen in dem seidenen Bette auf weichem Pf&uuml;hl
+erwachte und ihre Augen weit auf machte, fand sie sich mit einem feinen
+Hemde bekleidet und sah reiche Gew&auml;nder auf einem Stuhle vor dem Bette
+liegen. Dann trat ein M&auml;dchen in's Zimmer und hie&szlig; Else sich waschen und
+k&auml;mmen, worauf es sie vom Kopf bis zum Fu&szlig; mit den sch&ouml;nen Kleidern
+schm&uuml;ckte, als w&auml;re sie das stolzeste deutsche Kind. Nichts machte Elsen
+so viel Freude als die Schuhe. Sie war ja bis jetzt fast immer barfu&szlig;
+gegangen. Nach Else's Meinung konnten auch des K&ouml;nigs T&ouml;chter keine
+sch&ouml;neren Schuhe haben. In ihrer Freude &uuml;ber die Schuhe hatte sie nicht
+Zeit die &uuml;brigen St&uuml;cke des Anzugs zu beachten, obschon Alles prachtvoll
+war. Die Bauernkleider, welche sie mitgebracht hatte, waren in der Nacht
+fortgenommen worden, weshalb? das sollte sie sp&auml;ter erfahren. Ihre
+Kleider<span class='pagenum'><a name="Page_69" id="Page_69">[S 69]</a></span> waren n&auml;mlich der Lehmpuppe angelegt worden, welche an ihrer
+Statt in's Dorf gehen sollte. Die Puppe war in der Nacht in ihrem
+Beh&auml;lter angeschwollen und am Morgen ein vollst&auml;ndiges Ebenbild der Else
+geworden, und ging einher wie ein von Gott geschaffenes Wesen. Else
+erschrack, als sie die Puppe erblickte, die ganz so aussah, wie sie
+selbst gestern ausgesehen hatte. Als die Frau Else's Erschrecken
+bemerkte, sagte sie: &raquo;F&uuml;rchte dich nicht, Kind! Das Lehmbild kann dir
+keinen Schaden zuf&uuml;gen, wir jagen es zu deiner Stiefmutter, damit es ihr
+als Pr&uuml;gelklotz diene! Mag sie es schlagen, so viel sie will, das
+steinharte Lehmbild f&uuml;hlt keinen Schmerz. Aber wenn das b&ouml;se Weib nicht
+andern Sinnes wird, so kann dein Ebenbild einmal die verdiente Strafe an
+ihr vollziehen.&laquo;</p>
+
+<p>Von diesem Tage an lebte Else so gl&uuml;cklich wie ein verw&ouml;hntes deutsches
+Kind, das in goldener Wiege geschaukelt worden; sie hatte weder Sorge
+noch M&uuml;he; das Lernen wurde ihr von Tag zu Tage leichter und das vorige
+harte Leben im Dorfe erschien ihr nur noch wie ein b&ouml;ser Traum. Aber je
+tiefer sie das Gl&uuml;ck dieses Lebens empfand, desto wunderbarer erschien
+ihr auch Alles. Auf nat&uuml;rliche Weise konnte es nicht zugehen &mdash; es mu&szlig;te
+eine unbekannte unerkl&auml;rliche Macht hier walten. Auf dem Hofe stand ein
+Granitblock etwa zwanzig Schritt vom Hause. Wenn die Essenszeit
+heranr&uuml;ckte, ging der Alte mit dem langen Barte an den Block, zog ein
+silbernes St&auml;bchen aus dem Busen und klopfte damit dreimal an, so da&szlig; es
+hell wiederklang. Dann sprang ein gro&szlig;er goldener Hahn heraus und setzte
+sich auf den Block. So oft er in dieser Stellung mit den Fl&uuml;geln schlug
+und<span class='pagenum'><a name="Page_70" id="Page_70">[S 70]</a></span> kr&auml;hte, kam aus dem Block etwas hervor, zuerst ein langer gedeckter
+Tisch, auf dem so viel Teller standen als essende Personen waren; der
+Tisch ging von selbst in's Haus, als tr&uuml;gen ihn des Windes Fl&uuml;gel. Wenn
+der Hahn zum zweiten Male kr&auml;hte, kamen St&uuml;hle dem Tische nachgegangen;
+darauf eine Sch&uuml;ssel mit Speise nach der andern &mdash; Alles sprang aus dem
+Block heraus und flog wie der Wind zum E&szlig;tisch. Desgleichen
+Methflaschen, Aepfel und Beeren; Alles schien beseelt, so da&szlig; Niemand zu
+heben noch zu tragen brauchte. Wenn Alle sich satt gegessen hatten,
+klopfte der Alte zum zweiten Male mit dem Silberst&auml;bchen an den Block,
+und dann kr&auml;hte der goldene Hahn Flaschen, Sch&uuml;sseln, Teller, St&uuml;hle und
+Tisch wieder in den Block hinein. Wenn aber die dreizehnte Sch&uuml;ssel kam,
+aus welcher niemals gegessen wurde, so lief eine gro&szlig;e schwarze Katze
+der Sch&uuml;ssel nach, und beide blieben auf dem Block neben dem Hahn, bis
+der Alte sie forttrug. Er nahm die Sch&uuml;ssel in die Hand, die Katze in
+den Arm und den goldenen Hahn auf die Schulter, und verschwand mit ihnen
+unter dem Block. Nicht nur Speisen und Getr&auml;nke, sondern auch alle
+&uuml;brigen Bed&uuml;rfnisse des Haushalts, selbst Kleider kamen auf das Kr&auml;hen
+des Hahns aus dem Block hervor. &mdash; Obwohl bei Tische wenig und immer in
+einer fremden Sprache gesprochen wurde, welche Else nicht verstand, so
+wurde daf&uuml;r desto mehr geredet und gesungen, wenn die Frau mit ihren
+Fr&auml;ulein in Zimmer und Garten weilte. Allm&auml;hlich lernte Else auch die
+Sprache ihrer Gef&auml;hrtinnen auffassen; sie verstand fast Alles, was
+gesagt wurde, aber Jahre verstrichen, ehe ihre eigne Zunge sich den
+fremden<span class='pagenum'><a name="Page_71" id="Page_71">[S 71]</a></span> Lauten gew&ouml;hnte. Einst hatte Else die Kiisike gefragt, warum
+die dreizehnte Sch&uuml;ssel t&auml;glich auf den Tisch komme, da doch Niemand
+daraus esse, aber Kiisike konnte es ihr nicht erkl&auml;ren. Sie mu&szlig;te es
+aber ihrer Mutter gesagt haben, denn nach einigen Tagen lie&szlig; diese Elsen
+zu sich rufen und sprach zu ihr mit ernstem Ausdruck: &raquo;Beschwere dein
+Herz nicht mit unn&uuml;tzen Gr&uuml;beleien. Du m&ouml;chtest wissen, warum wir
+niemals aus der dreizehnten Sch&uuml;ssel essen. Sieh, liebes Kind, das ist
+die Sch&uuml;ssel <em class="gesperrt">verborgenen</em> Segens; wir d&uuml;rfen sie nicht anr&uuml;hren, sonst
+w&uuml;rde es mit unserem gl&uuml;cklichen Leben zu Ende sein. Auch mit den
+Menschen w&uuml;rde es auf dieser Welt viel besser stehn, wenn sie nicht in
+ihrer Habsucht alle Gaben an sich rissen, ohne dem himmlischen
+Segenspender irgend etwas zum Danke zu lassen.<a name="FNanchor_23_23" id="FNanchor_23_23"></a><a href="#Footnote_23_23" class="fnanchor">[23]</a> Habsucht ist der
+Menschen gr&ouml;&szlig;ter Fehler!&laquo;</p>
+
+<p>Die Jahre verstrichen Elsen in ihrem Gl&uuml;cke pfeilgeschwind, sie war zur
+bl&uuml;henden Jungfrau herangewachsen und hatte Vieles gelernt, womit sie in
+ihrem Dorfe ihr Leben lang nicht bekannt geworden w&auml;re. Kiisike aber war
+immer noch dasselbe kleine Kind wie an dem Tage, wo sie das erste Mal
+mit Elsen im Walde zusammen getroffen war. Die Fr&auml;ulein, welche bei der
+Frau vom Hause lebten, mu&szlig;ten Kiisike und Else t&auml;glich einige Stun<span class='pagenum'><a name="Page_72" id="Page_72">[S 72]</a></span>den
+im Lesen und Schreiben und in allerlei feinen Handarbeiten unterweisen.
+Else begriff Alles gut, aber Kiisike hatte mehr Sinn f&uuml;r kindliche
+Spiele als f&uuml;r n&uuml;tzliche Besch&auml;ftigung. Wenn ihr die Laune kam, so warf
+sie die Arbeit weg, nahm ihr Sch&auml;chtelchen und lief in's Freie, um See
+zu spielen, was ihr Niemand &uuml;bel nahm. Manchmal sagte sie zu Elsen:
+&raquo;Schade, da&szlig; du so gro&szlig; geworden bist, du kannst nun nicht mehr mit mir
+spielen.&laquo;</p>
+
+<p>Als jetzt neun Jahre in dieser Weise verflossen waren, lie&szlig; die Frau
+eines Abends Else in ihr Schlafzimmer rufen. Else wunderte sich dar&uuml;ber,
+denn um diese Zeit hatte die Frau sie noch niemals zu sich kommen
+lassen. Das Herz schlug ihr so heftig, da&szlig; es zu springen drohte. Als
+sie &uuml;ber die Schwelle trat, sah sie, da&szlig; die Wangen der Frau ger&ouml;thet
+waren, ihre Augen voll Thr&auml;nen standen, welche sie rasch trocknete, als
+wollte sie dieselben vor Elsen verbergen. &raquo;Liebes Pflegkind,&laquo; begann die
+Frau, &raquo;die Zeit ist gekommen, wo wir scheiden m&uuml;ssen.&laquo; &raquo;<em class="gesperrt">Scheiden</em>?&laquo; rief
+Else und warf sich schluchzend der Frau zu F&uuml;&szlig;en. &raquo;Nein, theure Frau,
+das kann nimmermehr geschehen, bis uns einst der Tod trennt. Ihr habt
+mich einmal huldreich aufgenommen, darum versto&szlig;t mich nicht wieder!&laquo;
+Die Frau sagte beschwichtigend: &raquo;Kind, sei ruhig! Du wei&szlig;t ja noch gar
+nicht, was ich f&uuml;r dein Gl&uuml;ck thun will. Du bist herangewachsen und ich
+darf dich hier nicht l&auml;nger in Haft halten. Du mu&szlig;t wieder unter
+Menschen gehen, wo Gl&uuml;ckspfade deiner warten.&laquo; Else aber bat
+flehentlich: &raquo;Theure Frau, versto&szlig;et mich nicht. Ich sehne mich nach
+keinem anderen Gl&uuml;cke, als bei euch zu leben und zu sterben. Macht mich
+zur Stubenmagd oder gebt mir<span class='pagenum'><a name="Page_73" id="Page_73">[S 73]</a></span> andere Arbeit, nach eurem Belieben, aber
+schickt mich nicht fort in die weite Welt. Da w&auml;re es besser gewesen,
+ihr h&auml;ttet mich bei der Stiefmutter im Dorfe gelassen, als da&szlig; ihr mich
+auf so viele Jahre in den Himmel brachtet, um mich jetzt wieder in die
+H&ouml;lle zu sto&szlig;en.&laquo; &raquo;Still, liebes Kind!&laquo; sagte die Frau &mdash; &raquo;du begreifst
+nicht, was ich zu deinem Gl&uuml;cke zu thun verpflichtet bin, wie sehr es
+mich auch schmerzt. Aber Alles mu&szlig; so sein, wie ich es mache. Du bist
+ein sterbliches Menschenkind, deine Jahre nehmen zu ihrer Zeit ein Ende
+und deshalb darfst du nicht l&auml;nger hier bleiben. Ich und die mich
+umgeben haben wohl Menschengestalt, aber wir sind nicht Menschen, wie
+ihr, sondern Gesch&ouml;pfe h&ouml;herer Art und euch unbegreiflich. Du wirst in
+der Ferne einen lieben Gemahl finden, der f&uuml;r dich geschaffen ist, und
+wirst gl&uuml;cklich mit ihm sein, bis eure Tage sich zu Ende neigen. Die
+Trennung von dir wird mir nicht leicht, aber es mu&szlig; sein, und de&szlig;halb
+mu&szlig;t du dich ruhig darein f&uuml;gen.&laquo; Dann strich sie mit ihrem goldenen
+Kamme durch Elsens Haar und hie&szlig; sie zu Bette gehen; aber wo sollte die
+arme Else in dieser Nacht den Schlaf hernehmen? Das Leben kam ihr vor
+wie ein dunkler sternenloser Nachthimmel.</p>
+
+<p>W&auml;hrend wir Else ihrem Kummer &uuml;berlassen, wollen wir uns ins Dorf
+begeben, um zu sehen, wie die Sachen auf dem v&auml;terlichen Hofe gehen, wo
+das <em class="gesperrt">Lehmbild</em> an ihrer Statt der Pr&uuml;gelklotz ihrer Stiefmutter war. Da&szlig;
+ein b&ouml;ses Weib im Alter nicht besser wird, ist eine bekannte Sache; man
+erf&auml;hrt wohl, da&szlig; aus einem hitzigen J&uuml;nglinge im Alter ein frommes Lamm
+wird, aber kommt ein M&auml;dchen, das kein gutes Herz hat, unter die Haube,<span class='pagenum'><a name="Page_74" id="Page_74">[S 74]</a></span>
+so wird sie auf die alten Tage wie ein rei&szlig;ender Wolf. Wie ein
+H&ouml;llenbrand qu&auml;lte die Stiefmutter das Lehmbild Tag und Nacht, aber dem
+starren Gesch&ouml;pfe, dessen K&ouml;rper keinen Schmerz empfand, schadete es
+nicht. Wollte der Mann einmal dem Kinde zu H&uuml;lfe kommen, so setzte es
+f&uuml;r ihn gleichfalls Pr&uuml;gel, zum Lohn f&uuml;r seinen Versuch Frieden zu
+stiften. Eines Tages hatte die Stiefmutter ihre Lehmtochter wieder
+f&uuml;rchterlich geschlagen und drohte ihr dann, sie umzubringen. W&uuml;thend
+packte sie das Lehmbild mit beiden H&auml;nden an der Gurgel, um es zu
+erw&uuml;rgen, siehe, da fuhr eine schwarze Schlange zischend aus des Kindes
+Munde, und stach der Stiefmutter in die Zunge, so da&szlig; sie todt
+niederfiel, ohne einen Laut von sich zu geben. Als der Mann Abends nach
+Hause kam, fand er die todte Frau dick aufgeschwollen am Boden liegen;
+die Tochter war nirgends zu finden. Auf sein Geschrei kamen die
+Dorfbewohner herbei. Die Nachbarn hatten wohl um Mittag einen gro&szlig;en
+L&auml;rm im Hause geh&ouml;rt, aber da so etwas fast t&auml;glich dort vorfiel, war
+Niemand hingegangen. Nachmittags war Alles still geblieben, aber Niemand
+hatte die Tochter erblickt. Der K&ouml;rper der todten Frau wurde nun
+gewaschen und gekleidet, und es wurden f&uuml;r die Todtenw&auml;chter zur Nacht
+Erbsen in Salz gekocht. Der m&uuml;de Mann ging in seine Kammer, um zu ruhen,
+und dankte sicherlich seinem Gl&uuml;cke, da&szlig; er diesen H&ouml;llenbrand los war.
+Auf dem Tische fand er drei gesalzene Str&ouml;mlinge und einen Bissen Brot,
+verzehrte Beides und legte sich zu Bette. Am andern Morgen wurde er todt
+auf dem Platze gefunden, und zwar ebenso aufgeschwollen wie die Frau.
+Nach einigen Tagen wurden<span class='pagenum'><a name="Page_75" id="Page_75">[S 75]</a></span> beide in ein Grab gelegt, wo sie einander
+kein Leid mehr anthun konnten. Von der verschwundenen Tochter erfuhren
+die Bauern seitdem nichts weiter.</p>
+
+<p>Else hatte die ganze Nacht kein Auge zugethan, sie weinte und beklagte
+die harte Notwendigkeit, so schnell und unerwartet von ihrem Gl&uuml;cke
+scheiden zu m&uuml;ssen. Am Morgen steckte ihr die Frau einen goldenen
+Siegelring an den Finger und hing ihr eine kleine goldene Schachtel an
+einem seidenen Bande um den Hals, rief dann den Alten, zeigte mit der
+Hand auf Else, und nahm darauf mit betr&uuml;bter Miene von ihr Abschied.
+Eben wollte Else danken, als der Alte dreimal mit seinem Silberst&auml;bchen
+sanft ihren Kopf ber&uuml;hrte. Else f&uuml;hlte alsbald, da&szlig; sie zum Vogel
+geworden war; aus den Armen wurden Fl&uuml;gel und aus den Beinen Adlerf&uuml;&szlig;e
+mit langen Klauen, aus der Nase ein krummer Schnabel, Federn bedeckten
+den ganzen Leib. Dann hob sie sich pl&ouml;tzlich in die Luft und schwebte
+ganz wie ein aus dem Ei gebr&uuml;teter Adler unter den Wolken dahin. So war
+sie schon mehrere Tage gen S&uuml;den geflogen und hatte wohl zuweilen
+gerastet, wenn die Fl&uuml;gel ermatteten, aber Hunger hatte sie nicht
+gef&uuml;hlt. Da geschah es, da&szlig; sie eines Tages &uuml;ber einem niedrigen Walde
+schwebte, wo Jagdhunde sie anbellten, die freilich dem Vogel nichts
+anhaben konnten, weil ihnen Fl&uuml;gel fehlten. Mit einem Male f&uuml;hlte sie
+ihr Gefieder von einem scharfen Pfeile durchbohrt und fiel zu Boden. Vor
+Schrecken war sie ohnm&auml;chtig geworden.</p>
+
+<p>Als Else aus ihrer Ohnmacht erwachte und die Augen weit &ouml;ffnete, fand
+sie sich in menschlicher Gestalt unter einem Geb&uuml;sche. Wie sie dahin
+gekommen und was<span class='pagenum'><a name="Page_76" id="Page_76">[S 76]</a></span> ihr sonst Seltsames begegnet war, lag wie ein Traum
+hinter ihr. Da kam ein stolzer junger K&ouml;nigssohn daher geritten, sprang
+vom Pferde und bot Elsen freundlich die Hand, indem er sagte: &raquo;Zur
+gl&uuml;cklichen Stunde bin ich heute Morgen ausgeritten! Von euch, theures
+Fr&auml;ulein, tr&auml;umte mir ein halbes Jahr lang jede Nacht, da&szlig; ich euch hier
+im Walde finden w&uuml;rde. Obschon ich den Weg wohl hundert Mal umsonst
+gemacht hatte, lie&szlig; doch meine Sehnsucht und meine Hoffnung nicht nach.
+Heute scho&szlig; ich einen gro&szlig;en Adler, der hierher gefallen sein mu&szlig;te; ich
+ging der erlegten Beute nach und fand statt des Adlers &mdash; euch.&laquo; Dann
+half er Elsen auf's Pferd und ritt mit ihr zur Stadt, wo der alte K&ouml;nig
+sie freudig empfing. Einige Tage sp&auml;ter ward eine prachtvolle Hochzeit
+gefeiert; am Morgen des Hochzeitstages waren funfzig Fuder mit
+Kostbarkeiten angekommen, welche die liebe Pflegemutter Elsen geschickt
+hatte. Nach des alten K&ouml;nigs Tode wurde Else K&ouml;nigin und hat dann im
+Alter die Ereignisse ihrer Jugend selbst erz&auml;hlt. Aber vom Tontlawald
+hat man seitdem Nichts mehr gesehen noch geh&ouml;rt.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_77" id="Page_77">[S 77]</a></span></p>
+<h2>5. Der Waise Handm&uuml;hle.</h2>
+
+
+<p>Ein armes elternloses M&auml;dchen war allein nachgeblieben wie ein Lamm, und
+dann als Pflegekind in eine b&ouml;se Wirthschaft gekommen, wo es keinen
+andern Freund hatte als den Hofhund, dem es zuweilen eine Brotrinde gab.
+Das M&auml;dchen mu&szlig;te vom Morgen bis zum Abend f&uuml;r die Wirthin auf der
+Handm&uuml;hle mahlen, und stand einmal die M&uuml;hle stille, weil die m&uuml;de Hand
+ausruhen wollte, so war gleich der Stock da, um das arme Kind
+anzutreiben. Des Abends waren die Hande der Waise so starr wie die
+Kl&ouml;tze. Das Gnadenbrot, welches die Waisen essen, mu&szlig; fast immer mit
+Schwei&szlig; und Blut bezahlt werden. Gott im Himmel allein h&ouml;rt die Seufzer
+der Waisen und z&auml;hlt die Thr&auml;nen, die von ihren Wangen rollen! &mdash; Eines
+Tages, als das schwache M&auml;dchen wieder die schwere M&uuml;hle drehte und
+voller Unmuth war, weil die Wirthin sie den Morgen n&uuml;chtern gelassen
+hatte, kam ein hinkender ein&auml;ugiger Bettler in zerlumpten Kleidern
+heran. Es war aber kein wirklicher Bettler, sondern ein ber&uuml;hmter
+Zauberer aus Finnland, der sich, um nicht erkannt zu werden, in einen
+Bettler verwandelt hatte. Der Bettler setzte sich auf die Schwelle, sah
+sich die schwere Arbeit des Kindes an, nahm ein St&uuml;ck Brot aus seinem<span class='pagenum'><a name="Page_78" id="Page_78">[S 78]</a></span>
+Schultersack, steckte es dem Kinde in den Mund und sagte: &raquo;Mittag ist
+noch weit, i&szlig; etwas Brot zur St&auml;rkung.&laquo; Die Waise nahm den trockenen
+Bissen und er schmeckte ihr besser als Wei&szlig;brot, auch f&uuml;hlte sie gleich
+ihre Kr&auml;fte wieder zunehmen. Der Bettler sagte dann: &raquo;Dir Armen m&uuml;ssen
+wohl von dem ewigen Umdrehen der schweren M&uuml;hle die H&auml;nde recht m&uuml;de
+sein?&laquo; Das M&auml;dchen sah den Alten ungewi&szlig; an, wie um zu forschen, ob
+seine Frage ernsthaft oder sp&ouml;ttisch gemeint sei. Da sie aber fand, da&szlig;
+sein Antlitz einen liebreichen und ernsthaften Ausdruck hatte, so
+erwiederte sie: &raquo;Wer k&uuml;mmert sich um die H&auml;nde einer Waise? Das Blut
+dringt mir immer unter die N&auml;gel, und der Stock f&auml;hrt mir &uuml;ber den
+R&uuml;cken, wenn ich nicht so viel arbeiten kann, als die Wirthin verlangt.&laquo;
+Der Bettler lie&szlig; sich nun ausf&uuml;hrlich erz&auml;hlen, was f&uuml;r ein Leben das
+Kind f&uuml;hre. Als die Waise geendigt hatte, nahm der Alte aus seinem Sacke
+ein altes Tuch, gab es ihr und sagte: &raquo;Wenn du dich heut Abend schlafen
+legst, so binde dies Tuch um deinen Kopf und seufze aus der Tiefe des
+Herzens: &raquo;S&uuml;&szlig;er Traum, trage mich dahin, wo ich eine Handm&uuml;hle finde,
+welche von selbst mahlt, so da&szlig; ich mich nicht mehr abm&uuml;hen darf!&laquo; Die
+Waise steckte das Tuch in ihren Busen und dankte dem Alten, der sich
+sogleich entfernte. Als sich das Waisenkind Abends schlafen legte, that
+es nach Vorschrift des Bettlers, band das Tuch um den Kopf und stie&szlig;
+unter Seufzern und Thr&auml;nen seinen Wunsch aus, obgleich es selber nicht
+viel Hoffnung darauf setzte. Dennoch schlief es leichteren Herzens ein,
+als sonst. Ein wunderbarer Traum f&uuml;hrte das M&auml;dchen in weite Fernen und
+lie&szlig; es<span class='pagenum'><a name="Page_79" id="Page_79">[S 79]</a></span> auf seiner Wanderung viel seltsame Dinge erleben. Zuletzt kam
+es tief unter die Erde, und da mochte wohl die H&ouml;lle sein, denn alles
+sah schauerlich und fremd aus. Die Hofthore standen weit offen und kein
+lebendes Wesen r&uuml;hrte sich. Als das M&auml;dchen weiter ging, lie&szlig; sich ein
+Ger&auml;usch vernehmen, wie wenn eine Handm&uuml;hle gemahlen w&uuml;rde. Dem Ger&auml;usch
+folgend ging das Waisenkind sch&uuml;chternen Schrittes vorw&auml;rts, bis es
+unter dem Abschauer einer Klete<a name="FNanchor_24_24" id="FNanchor_24_24"></a><a href="#Footnote_24_24" class="fnanchor">[24]</a> einen gro&szlig;en Kasten fand, aus
+welchem das Ger&auml;usch einer M&uuml;hle an sein Ohr drang. Das Kind war nicht
+stark genug den Kasten zu r&uuml;hren, geschweige denn von der Stelle zu
+bringen. Da sah es im Stalle ein wei&szlig;es Pferd an der Krippe und kam auf
+den guten Einfall, das Pferd aus dem Stalle zu ziehen, es mit Stricken
+vor den Kasten zu spannen, und ihn so fortzuf&uuml;hren. Gedacht, gethan: die
+Waise schirrte das Pferd an, setzte sich auf den Deckel des Kastens,
+ergriff eine lange Ruthe und jagte in vollem Galop nach Hause.</p>
+
+<p>Als sie am andern Morgen erwachte, fiel ihr der bedeutsame Traum wieder
+ein, und zwar stand er so lebendig vor ihr, als w&auml;re sie wirklich eine
+Strecke weit auf dem Deckel gefahren. Als sie die Augen aufri&szlig;,
+erblickte sie den Kasten an ihrem Lager. Sie sprang auf, nahm ein halbes
+Loof (Scheffel) Gerste, das vom Abend nachgeblieben war, sch&uuml;ttete es in
+die Oeffnung, die sie im Deckel des Kastens fand und siehe das freudige
+Wunder: die Steine fingen augenblicklich an zu l&auml;rmen. Es dauerte<span class='pagenum'><a name="Page_80" id="Page_80">[S 80]</a></span> nicht
+lange, so war das fertige Mehl im Sacke.<a name="FNanchor_25_25" id="FNanchor_25_25"></a><a href="#Footnote_25_25" class="fnanchor">[25]</a> Jetzt hatte die Waise einen
+leichten Stand; die M&uuml;hle im Kasten mahlte Alles, was man ihr bot, und
+das M&auml;dchen hatte weiter keine M&uuml;he, als das Getraide oben
+hineinzusch&uuml;tten und das Mehl unten herauszunehmen. Den Deckel des
+Kastens durfte sie aber nicht &ouml;ffnen, der Bettler hatte es ihr streng
+verboten, indem er hinzuf&uuml;gte: das w&uuml;rde dein Tod sein!</p>
+
+<p>Die Wirthin kam bald dahinter, da&szlig; der Kasten dem Waisenkinde beim
+Mahlen half, sie beschlo&szlig; daher das M&auml;dchen aus dem Hause zu jagen und
+daf&uuml;r den Mahlkasten zu behalten, der kein Futter verlangen w&uuml;rde.
+Zuerst wollte sie sich aber mit dem Dinge n&auml;her bekannt machen, um zu
+sehen, wo denn der Wunderm&uuml;ller eigentlich stecke. Die Begierde, das
+Geheimni&szlig; herauszubringen, stachelte das Weib Tag und Nacht. An einem
+Sonntag Morgen schickte sie das Waisenkind zur Kirche, und sagte, sie
+selbst wolle da bleiben, um das Haus zu h&uuml;ten. Ein so freundliches
+Anerbieten hatte die Waise noch niemals vernommen; vergn&uuml;gt zog sie ein
+reines Hemd und etwas bessere Kleider an, und machte sich eilig auf den
+Weg. Die Wirthin lauerte so lange hinter der Th&uuml;r, bis ihr das M&auml;dchen
+aus dem Gesichte war, dann nahm sie aus<span class='pagenum'><a name="Page_81" id="Page_81">[S 81]</a></span> der Klete ein halb Loof
+Getraide und sch&uuml;ttete es auf den Deckel, damit der Kasten es mahle,
+aber der Kasten that es nicht. Erst als eine Hand voll in das Loch des
+Deckels kam, machten sich die Steine an's Werk; aber nun kostete es dem
+Weibe noch viel M&uuml;he und Arbeit, den schweren Kastendeckel los zu
+machen. Endlich ging er so weit auf, da&szlig; die Alte den Kopf
+hineinzustecken wagte, &mdash; aber o weh! eine lichte Lohe schlug aus dem
+Kasten heraus und verbrannte die Wirthin, als w&auml;r's eine Hedekunkel; es
+blieb nichts weiter von ihr &uuml;brig als eine Handvoll Asche.</p>
+
+<p>Als der Wittwer sp&auml;terhin eine andere Frau nehmen wollte, fiel ihm ein,
+da&szlig; sein Pflegekind, die Waise, vollst&auml;ndig erwachsen war, so da&szlig; er
+nicht erst anderswo auf die Freite zu gehen brauche. Die Hochzeit wurde
+still gefeiert, und als sich die Nachbaren am Abend entfernt hatten,
+ging der Mann mit seiner jungen Frau zu Bette. Als diese den andern
+Morgen in die Klete ging, war der Kasten mit der Handm&uuml;hle verschwunden,
+ohne da&szlig; man die Spuren eines Diebes fand. Obgleich nun &uuml;berall gesucht
+und nah und fern angefragt wurde, ob der vermi&szlig;te Gegenstand irgend
+Jemanden zu Gesicht gekommen sei, so hat man doch bis auf den heutigen
+Tag nichts entdeckt. Der wunderbare Handm&uuml;hlen-Kasten, den einst ein
+Traum aus der Tiefe der Erde herausgeholt hatte, mu&szlig;te wohl in eben so
+wunderbarer Weise dahin zur&uuml;ckgekehrt sein.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_82" id="Page_82">[S 82]</a></span></p>
+<h2>6. Die zw&ouml;lf T&ouml;chter.</h2>
+
+
+<p>Es war einmal ein armer K&auml;thner, der zw&ouml;lf T&ouml;chter hatte, unter ihnen
+zwei Paar Zwillinge. Die h&uuml;bschen M&auml;dchen waren alle gesund und frisch
+und von zierlichem Wesen. Da die Eltern es so knapp hatten, mochte es
+manchem unbegreiflich sein, wie sie den vielen Kindern Nahrung und
+Kleidung schaffen konnten; die Kinder waren t&auml;glich gewaschen und
+gek&auml;mmt und trugen immer reine Hemden, wie deutsche Kinder. Einige
+meinten, der K&auml;thner habe einen heimlichen Schatztr&auml;ger,<a name="FNanchor_26_26" id="FNanchor_26_26"></a><a href="#Footnote_26_26" class="fnanchor">[26]</a> Andere
+hielten ihn f&uuml;r einen Hexenmeister, wieder Andere f&uuml;r einen
+Windzauberer,<a name="FNanchor_27_27" id="FNanchor_27_27"></a><a href="#Footnote_27_27" class="fnanchor">[27]</a> der im Wirbelwinde einen verborgenen Schatz zusammen
+zu raffen wu&szlig;te. In Wahrheit aber verhielt sich die Sache ganz anders.
+Die Frau des K&auml;thners hatte eine heimliche Gegenspenderin, welche die
+Kinder n&auml;hrte, s&auml;uberte und k&auml;mmte. Als sie n&auml;mlich noch als<span class='pagenum'><a name="Page_83" id="Page_83">[S 83]</a></span> M&auml;dchen
+aus einem fremden Bauerhofe diente, sah sie drei N&auml;chte hinter einander
+im Traume eine stattliche Frau, welche zu ihr trat und ihr befahl,<a name="FNanchor_28_28" id="FNanchor_28_28"></a><a href="#Footnote_28_28" class="fnanchor">[28]</a>
+in der Johannisnacht zur Quelle des Dorfes zu gehen. Sie h&auml;tte nun wohl
+auf diesen Traum nicht weiter geachtet, wenn nicht am Johannisabend ein
+Stimmchen ihr immerw&auml;hrend wie eine M&uuml;cke in's Ohr gesummt h&auml;tte: &raquo;Geh
+zur Quelle, geh zur Quelle, wo deines Gl&uuml;ckes Wasseradern rieseln!&laquo;
+Obgleich sie den heimlichen Rathschlag nicht ohne Schrecken vernahm,
+fa&szlig;te sie sich doch endlich ein Herz, verlie&szlig; die andern M&auml;dchen, die
+bei der Fiedel um das Feuer herum l&auml;rmten und schritt auf die Quelle zu.
+Aber je n&auml;her sie kam, desto b&auml;nger wurde ihr um's Herz; sie w&auml;re
+umgekehrt, wenn ihr das M&uuml;ckenstimmchen Ruhe gelassen h&auml;tte;
+unwillk&uuml;rlich ging sie weiter. Als sie hinkam, sah sie eine Frau in
+wei&szlig;en Kleidern, die auf einem Steine an der Quelle sa&szlig;. Als die Frau
+des M&auml;dchens Furcht gewahrte, ging sie demselben einige Schritte
+entgegen, bot ihm die Hand zum Gru&szlig; und sagte: &raquo;F&uuml;rchte dich nicht,
+liebes Kind, ich thue dir ja nichts zu Leide! Merke auf und behalte
+genau, was ich dir sage. Auf den Herbst wird man um dich freien; der
+Mann ist so arm wie du, aber mach' dir deshalb keine Sorge, sondern nimm
+seinen Branntwein an.<a name="FNanchor_29_29" id="FNanchor_29_29"></a><a href="#Footnote_29_29" class="fnanchor">[29]</a> Da ihr beide gut seid, will ich euch Gl&uuml;ck
+bringen und euch forthelfen; aber<span class='pagenum'><a name="Page_84" id="Page_84">[S 84]</a></span> lasset darum Sorgsamkeit und Arbeit
+nicht dahinten, sonst kann kein Gl&uuml;ck Dauer haben. Nimm dieses S&auml;ckchen
+und stecke es in die Tasche, es sind nur einige Steinchen darin.<a name="FNanchor_30_30" id="FNanchor_30_30"></a><a href="#Footnote_30_30" class="fnanchor">[30]</a>
+Nachdem du das erste Kind zur Welt gebracht hast, wirf ein Steinchen in
+den Brunnen, damit ich komme dich zu sehen. Wenn das Kind zur Taufe
+gef&uuml;hrt wird, will ich zu Gevatter stehen. Von unserer n&auml;chtlichen
+Zusammenkunft la&szlig; gegen Niemanden etwas verlauten &mdash; f&uuml;r dieses Mal sage
+ich dir Lebe wohl!&laquo; Mit diesen Worten war die wunderbare Fremde dem
+M&auml;dchen entschwunden, als w&auml;re sie unter die Erde gesunken. Vielleicht
+h&auml;tte das M&auml;dchen auch diesen Vorfall f&uuml;r einen Traum gehalten, wenn
+nicht das S&auml;ckchen in ihrer Hand das Gegentheil bezeugt h&auml;tte; sie fand
+darin zw&ouml;lf Steinchen.</p>
+
+<p>Die Prophezeiung traf ein, das M&auml;dchen wurde im Herbst verheirathet und
+der Mann war ein armer Knecht. Im folgenden Jahre brachte die junge Frau
+die erste Tochter zur Welt, besann sich auf das, was ihr in der
+Johannisnacht begegnet war, stand heimlich aus dem Bette auf, ging an
+den Brunnen und warf ein Steinchen hinein. Plumps fiel es in's Wasser!
+Sofort stand die freundliche Frau wei&szlig; gekleidet vor ihr und sagte: &raquo;Ich
+danke dir, da&szlig; du mich nicht vergessen hast. Sonntag &uuml;ber vierzehn Tage
+la&szlig; das Kind zur Taufe bringen, dann komme ich<span class='pagenum'><a name="Page_85" id="Page_85">[S 85]</a></span> auch in die Kirche und
+will beim Kinde Gevatter stehen.&laquo; Als an dem bezeichneten Tage das Kind
+in die Kirche gebracht wurde, trat eine fremde Dame hinzu, nahm es auf
+den Schoos und lie&szlig; es taufen. Als dies geschehen war, band sie einen
+silbernen Rubel in die Windel des Kindes und sandte es der Mutter
+zur&uuml;ck. Ganz ebenso geschah es sp&auml;ter bei jeder neuen Taufe, bis das
+Dutzend voll war. Bei der Geburt des letzten Kindes hatte die Frau zur
+Mutter gesagt: &raquo;Von heute an wird dein Auge mich nicht mehr schauen,
+obwohl ich ungesehen t&auml;glich um dich und deine Kinder sein werde. Das
+Wasser des Brunnens wird den Kindern mehr Gedeihen bringen als die beste
+Kost. Wenn die Zeit herankommt, da&szlig; deine T&ouml;chter heirathen, so mu&szlig;t du
+einer Jeden den Rubel mitgeben, den ich zum Pathengeschenk brachte. So
+lange sie ledig sind, sollen sie keinen gr&ouml;&szlig;eren Staat machen, als da&szlig;
+sie Alltags und Sonntags saubere Hemden und T&uuml;cher tragen.&laquo;</p>
+
+<p>Die Kinder wuchsen und gediehen, da&szlig; es eine Lust war anzusehen; Brot
+gab es im Hause zur Gen&uuml;ge, auch zuweilen d&uuml;nne Zukost, doch am meisten
+wurden Eltern und Kinder offenbar durch das Brunnenwasser gest&auml;rkt. Die
+&auml;lteste Tochter wurde dann an einen wohlhabenden Wirthssohn
+verheirathet. Wiewohl sie ihm au&szlig;er der nothd&uuml;rftigsten Kleidung nichts
+zubrachte, so wurde doch ein Brautkasten gemacht und Kleider und
+Pathen-Rubel hineingelegt. Als die M&auml;nner den Kasten auf den Wagen
+hoben, fanden sie ihn so schwer, da&szlig; sie glaubten es seien Steine darin,
+denn der arme K&auml;thner hatte doch seiner Tochter sonst nichts Werthvolles
+mitzugeben. Weit<span class='pagenum'><a name="Page_86" id="Page_86">[S 86]</a></span> mehr aber war die junge Frau erstaunt, als sie im
+Hause des Br&auml;utigam's den Kasten &ouml;ffnete, und ihn mit St&uuml;cken Leinewand
+angef&uuml;llt und auf dem Grunde einen ledernen Beutel mit hundert
+Silberrubeln fand. Dasselbe wiederholte sich nachher bei jeder neuen
+Verheirathung; und die T&ouml;chter wurden bald alle weggeholt, als es
+bekannt geworden war, welch' einen Brautschatz eine jede mitbekam.</p>
+
+<p>Einer der Schwiegers&ouml;hne war aber sehr habs&uuml;chtig und mochte sich mit
+der Mitgift seiner Frau nicht zufrieden geben. Er dachte n&auml;mlich: die
+Eltern m&uuml;ssen wohl selbst noch vielen Reichthum besitzen, wenn sie schon
+jeder Tochter so viel mitgeben konnten. Er ging daher eines Tages zu
+seinem Schwiegervater und suchte ihm den Schatz abzuzwacken. Der K&auml;thner
+sagte ganz der Wahrheit gem&auml;&szlig;: &raquo;Ich habe Nichts hinter Leib und Seele,
+und auch meinen T&ouml;chtern konnte ich nichts weiter mitgeben als den
+Kasten. Was jede in ihrem Kasten gefunden hat, das r&uuml;hrt nicht von mir
+her, sondern war die Pathengabe der Taufmutter, welche jedem Kinde an
+seinem Tauftage einen Rubel schenkte. Diese Liebesgabe hat sich im
+Kasten vervielf&auml;ltigt.&laquo; Der habs&uuml;chtige Schwiegersohn glaubte indessen
+den Worten des Schwiegervaters nicht, sondern drohte vor Gericht die
+Anklage zu erheben, da&szlig; der Alte ein Hexenmeister und ein Windbeschw&ouml;rer
+sei, der mit H&uuml;lfe des B&ouml;sen einen gro&szlig;en Schatz zusammengebracht habe.
+Da der K&auml;thner ein reines Gewissen hatte, so fl&ouml;&szlig;te ihm die Drohung
+seines Schwiegersohnes keine Furcht ein. Dieser aber klagte wirklich.
+Das Gericht lie&szlig; darauf die andern Schwiegers&ouml;hne des K&auml;thners
+vorfordern und befragte sie, ob jeder von ihnen dieselbe Mitgift
+erhalten habe. Die M&auml;nner sagten aus,<span class='pagenum'><a name="Page_87" id="Page_87">[S 87]</a></span> da&szlig; Jeder einen Kasten voll
+Leinewand und hundert Silberrubel erhalten habe. Das erregte gro&szlig;e
+Verwunderung, denn die ganze Nachbarschaft wu&szlig;te recht gut, da&szlig; der
+K&auml;thner arm war und keinen andern Schatz hatte als zw&ouml;lf h&uuml;bsche
+T&ouml;chter. Da&szlig; diese T&ouml;chter von klein auf stets reine wei&szlig;e Hemden
+getragen hatten, wu&szlig;ten die Leute wohl, aber Niemand hatte sonst einen
+Prunk an ihnen bemerkt, weder Brustspangen noch bunte Halst&uuml;cher. Die
+Richter beschlossen jetzt, die wunderliche Sache n&auml;her zu untersuchen,
+um herauszubringen, ob der Alte wirklich ein Hexenmeister sei.</p>
+
+<p>Eines Tages verlie&szlig;en die Richter, von einer H&auml;scherschaar begleitet,
+die Stadt. Sie wollten das Haus des K&auml;thners mit Wachen umstellen, damit
+Niemand heraus und kein Schatz auf die Seite gebracht werden k&ouml;nne. Der
+habs&uuml;chtige Schwiegersohn machte den F&uuml;hrer. Als sie an den Wald
+gekommen waren, in welchem die H&uuml;tte des K&auml;thners stand, wurden von
+allen Seiten Wachen aufgestellt, die keinen Menschen durchlasse sollten,
+bis die Sache aufgekl&auml;rt sei. Man lie&szlig; hier die Pferde zur&uuml;ck und schlug
+den Fu&szlig;steig zur H&uuml;tte ein. Der Schwiegersohn mahnte zu leisem Auftreten
+und zum Schweigen, damit der Hexenmeister nicht aufmerksam werde und
+sich auf Windesfl&uuml;geln davon mache. Schon waren sie nahe bei der H&uuml;tte,
+als pl&ouml;tzlich ein wunderbarer Glanz sie blendete, der durch die B&auml;ume
+drang. Als sie weiter gingen, wurde ein gro&szlig;es sch&ouml;nes Haus sichtbar; es
+war ganz von Glas und viele hundert Kerzen brannten darin, obgleich die
+Sonne schien und Helligkeit genug gab. Vor der Th&uuml;r standen zwei Krieger
+Wache, die ganz in Erz<span class='pagenum'><a name="Page_88" id="Page_88">[S 88]</a></span> geh&uuml;llt waren und lange blo&szlig;e Schwerter in der
+Hand hielten. Die Gerichtsherrn wu&szlig;ten nicht, was sie denken sollten,
+Alles schien ihnen mehr Traum als Wirklichkeit zu sein. Da &ouml;ffnete sich
+die Th&uuml;r: ein schmucker J&uuml;ngling in seidenen Kleidern trat heraus und
+sagte: &raquo;Unsere K&ouml;nigin hat befohlen, da&szlig; der oberste Gerichtsherr vor
+ihr erscheine.&laquo; Obgleich dieser einige Furcht empfand, folgte er doch
+dem J&uuml;ngling in's Haus.</p>
+
+<p>Wer beschriebe die Pracht und Herrlichkeit, die sich vor seinen Augen
+aufthat. In der pr&auml;chtigen Halle, welche die Gr&ouml;&szlig;e einer Kirche hatte,
+sa&szlig; auf einem Throne eine mit Seide, Sammet und Gold geschm&uuml;ckte Frau.
+Einige Fu&szlig; tiefer sa&szlig;en auf kleineren goldenen Sesseln zw&ouml;lf sch&ouml;ne
+Fr&auml;ulein, ebenso pr&auml;chtig geschm&uuml;ckt wie die K&ouml;nigin, nur da&szlig; sie keine
+goldene Krone trugen. Zu beiden Seiten standen zahlreiche Diener, alle
+in hellen seidenen Kleidern, mit goldenen Ketten um den Hals. Als der
+oberste Gerichtsherr unter Verbeugungen n&auml;her trat, fragte die K&ouml;nigin:
+&raquo;We&szlig;halb seid ihr heute mit einer Schaar von H&auml;schern gekommen, als
+h&auml;ttet ihr Uebelth&auml;ter einzufangen?&laquo; Der Gerichtsherr wollte antworten,
+aber der Schrecken band ihm die Zunge, so da&szlig; er kein W&ouml;rtchen
+vorbringen konnte. &raquo;Ich kenne die boshafte und l&uuml;gnerische Anklage,&laquo;
+fuhr die Frau fort, &raquo;denn meinen Augen bleibt nichts verborgen. Lasset
+den falschen Kl&auml;ger hereinkommen, aber legt ihm zuvor H&auml;nde und F&uuml;&szlig;e in
+Ketten, dann will ich ihm Recht sprechen. Auch die &uuml;brigen Richter und
+die Diener sollen eintreten, damit die Sache offenkundig wird und sie
+bezeugen k&ouml;nnen, da&szlig; hier Niemanden Unrecht geschieht.&laquo; Einer ihrer
+Diener eilte hinaus, um den<span class='pagenum'><a name="Page_89" id="Page_89">[S 89]</a></span> Befehl zu vollziehen. Nach einiger Zeit
+wurde der Kl&auml;ger vorgef&uuml;hrt, an H&auml;nden und F&uuml;&szlig;en gefesselt und von sechs
+Geharnischten bewacht. Die anderen Gerichtsherren und deren Diener
+folgten. Dann begann die K&ouml;nigin also:</p>
+
+<p>&raquo;Bevor ich &uuml;ber das Unrecht die verdiente Strafe verh&auml;nge, mu&szlig; ich euch
+kurz erkl&auml;ren, wie die Sache zusammenh&auml;ngt. Ich bin die oberste
+Wasserbeherrscherin,<a name="FNanchor_31_31" id="FNanchor_31_31"></a><a href="#Footnote_31_31" class="fnanchor">[31]</a> alle Wasseradern, welche aus der Erde quillen,
+stehen unter meiner Botm&auml;&szlig;igkeit. Des Windk&ouml;nigs &auml;ltester Sohn war mein
+Liebster, aber da sein Vater ihm nicht erlaubte eine Frau zu nehmen, so
+mu&szlig;ten wir unsere Ehe geheim halten, so lange der Vater lebte. Da ich
+nun meine Kinder nicht zu Hause aufziehen konnte, so vertauschte ich
+jedesmal, wenn des K&auml;thners Frau niederkam, sein Kind gegen das meinige.
+Des K&auml;thners Kinder aber wuchsen als Pfleglinge auf dem Hofe meiner
+Tante auf. Kam die Zeit, da&szlig; eine von den T&ouml;chtern des K&auml;thners
+heirathen wollte, so wurde ein abermaliger Tausch vorgenommen. Jedesmal
+lie&szlig; ich die Nacht vor der Hoch<span class='pagenum'><a name="Page_90" id="Page_90">[S 90]</a></span>zeit meine Tochter wegholen und daf&uuml;r
+des K&auml;thners Kind hinbringen. Der alte Windk&ouml;nig lag schon lange krank
+darnieder, so da&szlig; er von unserem Betruge nichts merkte. Am Tauftage
+schenkte ich jedem Kinde ein Rubelst&uuml;ck, welches die Mitgift im Kasten
+hecken sollte. Die Schwiegers&ouml;hne waren denn auch alle mit ihren jungen
+Frauen und dem, was sie mitbrachten, zufrieden, nur dieser habgierige
+Frevler, den ihr hier in Ketten seht, unterfing sich, falsche Klage
+gegen seinen Schwiegervater zu f&uuml;hren, in der Hoffnung sich dadurch zu
+bereichern. Vor zwei Wochen ist nun der alte Windk&ouml;nig gestorben und
+mein Gemahl zur Herrschaft gelangt. Jetzt brauchen wir unsere Ehe und
+unsere Kinder nicht l&auml;nger zu verheimlichen. Hier vor euch sitzen meine
+zw&ouml;lf T&ouml;chter, deren Pflegeeltern, der K&auml;thner und sein Weib, bis an
+ihren Tod bei mir das Gnadenbrot essen werden. Aber du verworfener
+B&ouml;sewicht, den ich habe fesseln lassen, sollst sogleich den verdienten
+Lohn erhalten. In deinen Ketten sollst du in einem Goldberge gefangen
+sitzen, damit deine gierigen Augen das Gold best&auml;ndig sehen, ohne da&szlig;
+dir ein K&ouml;rnchen davon zu Theil wird. Siebenhundert Jahre sollst du
+diese Qual erdulden, ehe der Tod Macht erh&auml;lt dich zur Ruhe zu bringen.
+Das ist mein Richterspruch.&laquo;</p>
+
+<p>Als die K&ouml;nigin bis dahin gesprochen hatte, entstand ein Gekrach wie ein
+starker Donnerschlag, so da&szlig; die Erde bebte und die Richter sammt ihren
+Dienern bet&auml;ubt niederfielen. Als sie wieder zu sich kamen, fanden sie
+sich zwar in dem Walde, zu welchem der F&uuml;hrer sie geleitet hatte, aber
+da, wo eben noch das gl&auml;serne Haus in aller Pracht gestanden hatte,
+sprudelte jetzt aus einer<span class='pagenum'><a name="Page_91" id="Page_91">[S 91]</a></span> kleinen Quelle klares kaltes Wasser hervor.
+&mdash; &raquo;Von dem K&auml;thner, seiner Frau und dem habs&uuml;chtigen Schwiegersohne ist
+sp&auml;ter nie mehr etwas vernommen worden; des letzteren Wittwe hatte im
+Herbst einen anderen Mann geheirathet, mit dem sie gl&uuml;cklich lebte bis
+an ihr Ende.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_92" id="Page_92">[S 92]</a></span></p>
+<h2>7. Wie eine Waise unverhofft ihr Gl&uuml;ck fand.</h2>
+
+
+<p>Einmal lebte ein armer Tagel&ouml;hner, der sich mit seiner Frau k&uuml;mmerlich
+von einem Tage zum andern durchbrachte. Von drei Kindern war ihnen das
+j&uuml;ngste, ein Sohn, geblieben, der neun Jahr alt war, als man erst den
+Vater und dann die Mutter begrub. Dem Knaben blieb nichts &uuml;brig, als vor
+den Th&uuml;ren guter Menschen sein Brot zu suchen. Nach Jahresfrist gerieth
+er auf den Hof eines wohlhabenden Bauerwirths, wo man gerade einen
+H&uuml;terknaben brauchte. Der Wirth war nicht eben b&ouml;se, aber das Weib hatte
+die Hosen an und regierte im Hause wie ein b&ouml;ser Drache (&raquo;Sch&uuml;reisen&laquo;).
+Wie es dem armen Waisenknaben da erging, l&auml;&szlig;t sich denken. Die Pr&uuml;gel,
+die er alle Tage bekam, w&auml;ren dreimal mehr als genug gewesen, Brot aber
+wurde nie soviel gereicht, da&szlig; er satt geworden w&auml;re. Da aber das
+Waisenkind nichts Besseres zu hoffen hatte, mu&szlig;te es sein Elend
+ertragen. Zum Ungl&uuml;ck verlor sich eines Tages eine Kuh von der Herde;
+wohl lief der Knabe bis Sonnenuntergang den Wald entlang, von einer
+Stelle zur andern, aber er fand die verlorene Kuh nicht wieder. Obwohl
+er wu&szlig;te, was seinem R&uuml;cken zu Hause bevorstand, mu&szlig;te er doch jetzt
+nach Sonnenuntergang die Herde zusammentreiben. Die<span class='pagenum'><a name="Page_93" id="Page_93">[S 93]</a></span> Sonne war noch
+nicht lange unter dem Horizont, da h&ouml;rte er schon der Wirthin Stimme:
+&raquo;Fauler Hund! wo bleibst du mit der Herde?&laquo; Da half kein Zaudern, nur
+rasch nach Hause unter den Stock. Zwar d&auml;mmerte es schon, als die Herde
+zur Pforte hereinkam, aber das scharfe Auge der Wirthin hatte sogleich
+entdeckt, da&szlig; eine Kuh fehle. Ohne ein Wort zu sagen, ri&szlig; sie den
+n&auml;chsten Staken aus dem Zaun und begann damit den R&uuml;cken des Knaben zu
+bearbeiten, als wollte sie ihn zu Brei stampfen. In der Wuth h&auml;tte sie
+ihn auch zu Tode gepr&uuml;gelt oder ihn auf Zeit Lebens zum Kr&uuml;ppel gemacht,
+wenn der Wirth, der das Schreien und Schluchzen h&ouml;rte, dem Armen nicht
+mitleidig zu H&uuml;lfe gekommen w&auml;re. Da er die Gem&uuml;thsart des t&uuml;ckischen
+Weibes genau kannte, so wollte er sich nicht geradezu dazwischen legen,
+sondern suchte zu vermitteln. Er sagte halb in bittendem Tone: &raquo;Brich
+ihm lieber die Beine nicht entzwei, damit er doch die verlorene Kuh
+suchen kann. Davon werden wir mehr Nutzen haben, als wenn er umkommt.&laquo;
+&raquo;Wahr,&laquo; sagte die Wirthin, &raquo;das Aas kann auch die theure Kuh nicht
+ersetzen,&laquo; &mdash; z&auml;hlte ihm noch ein Paar t&uuml;chtige Hiebe auf und schickte
+ihn dann fort, die Kuh zu suchen. &raquo;Wenn du ohne die Kuh zur&uuml;ckkommst,&laquo;
+&mdash; setzte sie drohend hinzu, &mdash;&raquo;so schlage ich dich todt.&laquo; Weinend und
+st&ouml;hnend ging der Knabe zur Pforte hinaus und geradeswegs in den Wald,
+wo er Tages mit der Herde gewesen war, suchte die ganze Nacht, fand aber
+nirgends eine Spur von der Kuh. Als am andern Morgen die Sonne sich aus
+dem Scho&szlig;e der Morgenr&ouml;the erhoben hatte, war des Knaben Entschlu&szlig;
+gefa&szlig;t. &raquo;Werde aus mir, was da wolle, nach Hause<span class='pagenum'><a name="Page_94" id="Page_94">[S 94]</a></span> gehe ich nicht
+wieder.&laquo; Mit diesen Worten nahm er Rei&szlig;aus und lief in einem Athem
+vorw&auml;rts, so da&szlig; er das Haus bald weit hinter sich hatte. Wie lange und
+wie weit er so gelaufen war, wu&szlig;te er selber nicht, als ihm aber zulegt
+die Kraft ausging und er wie todt niederfiel, stand die Sonne fast schon
+in Mittagsh&ouml;he. Als er aus einem langen schweren Schlafe erwachte, kam
+es ihm vor, als ob er etwas Fl&uuml;ssiges im Munde gehabt habe, und er sah
+einen kleinen alten Mann mit langem grauen Barte vor sich stehen, der
+eben im Begriffe war, den Spund wieder auf den L&auml;gel (Milchf&auml;&szlig;chen) zu
+setzen. &raquo;Gieb mir noch zu trinken!&laquo; bat der Knabe. &raquo;F&uuml;r heute hast du
+genug,&laquo; erwiederte der alte Vater, &raquo;wenn mein Weg mich nicht zuf&auml;llig
+hierher gef&uuml;hrt h&auml;tte, so w&auml;re es sicher dein letzter Schlaf gewesen,
+denn als ich dich fand, warst du schon halb todt.&laquo; Dann befragte der
+Alte den Knaben, wer er w&auml;re und wohin er wollte. Der Knabe erz&auml;hlte
+Alles, was er erlebt hatte so lange er sich erinnern konnte, bis zu den
+Schl&auml;gen von gestern Abend. Schweigend und nachdenklich hatte der Alte
+die Erz&auml;hlung angeh&ouml;rt, und nachdem der Knabe schon eine Weile verstummt
+war, sagte jener ernsthaft: &raquo;Mein liebes Kind! dir ist es nicht besser
+noch schlimmer ergangen als so Manchen, deren liebe Pfleger und Tr&ouml;ster
+im Sarge unter der Erde ruhen. Zur&uuml;ckkehren kannst du nicht mehr. Da du
+einmal fortgegangen bist, so mu&szlig;t du dir ein neues Gl&uuml;ck in der Welt
+suchen. Da ich weder Haus noch Hof, weder Weib noch Kind habe, so kann
+ich auch nicht weiter f&uuml;r dich sorgen, aber einen guten Rath will ich
+dir umsonst geben. Schlafe diese Nacht hier ruhig aus; wenn morgen die<span class='pagenum'><a name="Page_95" id="Page_95">[S 95]</a></span>
+Sonne aufgeht, so merke dir genau die Stelle, wo sie emporstieg. In
+dieser Richtung mu&szlig;t du wandern, so da&szlig; dir die Sonne jeden Morgen in's
+Gesicht und jeden Abend in den Nacken scheint. Deine Kraft wird von Tage
+zu Tage wachsen. Nach sieben Jahren wird ein m&auml;chtiger Berg vor dir
+stehen, der so hoch ist, da&szlig; sein Gipfel bis an die Wolken reicht. Dort
+wird dein k&uuml;nftiges Gl&uuml;ck bl&uuml;hen. Nimm meinen Brotsack und mein F&auml;&szlig;chen,
+du wirst darin t&auml;glich soviel Speise und Trank finden, als du bedarfst.
+Aber h&uuml;te dich davor, jemals ein Kr&uuml;mchen Brot oder ein Tr&ouml;pfchen vom
+Trank unn&uuml;tz zu vergeuden, sonst k&ouml;nnte deine Nahrungsquelle leicht
+versiegen. Einem hungrigen Vogel und einem durstigen Thiere darfst du
+reichlich geben: Gott sieht es gern, wenn ein Gesch&ouml;pf dem andern Gutes
+thut. Auf dem Grunde des Brotsacks wirst du ein zusammengerolltes
+Klettenblatt finden; das mu&szlig;t du sehr sorgf&auml;ltig in Acht nehmen. Wenn du
+auf deinem Wege an einen Flu&szlig; oder einen See kommst, so breite das
+Klettenblatt auf dem Wasser aus, es wird sich sofort in einen Nachen
+verwandeln und dich &uuml;ber die Flut tragen. Dann wickele das Blatt wieder
+zusammen und stecke es in deinen Brotsack.&laquo; Nach dieser Unterweisung gab
+er dem Knaben Sack und F&auml;&szlig;chen und rief: &raquo;Gott befohlen!&laquo; Im n&auml;chsten
+Augenblick war er den Augen des Knaben entschwunden.</p>
+
+<p>Der Knabe h&auml;tte Alles f&uuml;r einen Traum gehalten, wenn nicht Sack und
+F&auml;&szlig;chen in seiner Hand die Wirklichkeit des Geschehenen bezeugt h&auml;tten.
+Er ging jetzt daran, den Brotsack zu pr&uuml;fen und fand darin: ein halbes
+Brot, ein Sch&auml;chtelchen voll gesalzener Str&ouml;mlinge, ein anderes<span class='pagenum'><a name="Page_96" id="Page_96">[S 96]</a></span> mit
+Butter und dazu noch ein h&uuml;bsches St&uuml;ckchen Speckschwarte. Als der Knabe
+sich satt gegessen hatte, legte er sich schlafen, Sack und F&auml;&szlig;chen unter
+dem Kopfe, damit kein Dieb sie wegnehmen k&ouml;nne. Den andern Morgen wachte
+er mit der Sonne auf, st&auml;rkte seinen K&ouml;rper durch Speise und Trank und
+machte sich dann auf die Wanderung. Wunderbarer Weise f&uuml;hlte er gar
+keine M&uuml;digkeit in seinen Beinen; erst der leere Magen mahnte ihn daran,
+da&szlig; die Mittagszeit gekommen war. Er s&auml;ttigte sich mit der guten Kost,
+that ein Schl&auml;fchen und wanderte weiter. Da&szlig; er den rechten Weg
+eingeschlagen hatte, sagte ihm die untergehende Sonne, die ihm gerade im
+Nacken stand. So war er viele Tage in derselben Richtung vorw&auml;rts
+gegangen, als er einen kleinen See vor sich erblickte. Hier konnte er
+die Kraft seines Klettenblattes pr&uuml;fen. Wie es der alte Mann
+vorausgesagt hatte, so geschah es: ein kleines Boot mit Rudern lag vor
+ihm auf dem Wasser. Er stieg ein, und einige t&uuml;chtige Ruderschl&auml;ge
+f&uuml;hrten ihn an's andere Ufer. Dort verwandelte sich das Boot wieder in
+ein Klettenblatt, und dieses ward in den Sack gesteckt.<a name="FNanchor_32_32" id="FNanchor_32_32"></a><a href="#Footnote_32_32" class="fnanchor">[32]</a></p>
+
+<p>So war der Knabe schon manches Jahr gewandert, ohne da&szlig; die Nahrung im
+Brotsack und im F&auml;&szlig;chen abgenommen h&auml;tte. Sieben Jahre konnten recht gut
+verstrichen sein, denn er war zu einem kr&auml;ftigen J&uuml;ngling
+herangewachsen; da sah er eines Tages von weitem einen hohen Berg, der
+bis in die Wolken hinein zu ragen schien. Es verging aber noch eine
+Woche, ehe er den Berg<span class='pagenum'><a name="Page_97" id="Page_97">[S 97]</a></span> erreichte. Dann setzte er sich am Fu&szlig;e des
+Berges nieder, um auszuruhen und zu sehen, ob die Prophezeiungen des
+alten Mannes in Erf&uuml;llung gehen w&uuml;rden. Er hatte noch nicht lange
+gesessen, als ein eigent&uuml;mliches Zischen sein Ohr ber&uuml;hrte: gleich
+darauf wurde eine gro&szlig;e Schlange sichtbar, welche mindestens zw&ouml;lf
+Klafter lang war und sich dicht bei dem jungen Manne vorbeiwand.
+Schrecken l&auml;hmte seine Glieder, so da&szlig; er nicht fliehen konnte; aber im
+Nu war auch die Schlange vor&uuml;ber. Dann blieb ein Weilchen Alles still.
+Darauf schien es ihm, als k&auml;me aus der Ferne ein schwerer K&ouml;rper in
+einzelnen S&auml;tzen herangeh&uuml;pft. Es war eine gro&szlig;e Kr&ouml;te, so gro&szlig; wie ein
+zweij&auml;hriges F&uuml;llen. Auch dieses h&auml;&szlig;liche Gesch&ouml;pf zog an dem J&uuml;ngling
+vor&uuml;ber, ohne ihn gewahr zu werden. Sodann vernahm er in der H&ouml;he ein
+starkes Rauschen, als wenn ein schweres Gewitter sich erhebe. Als er
+hinauf sah, flog hoch &uuml;ber seinem Haupte ein gro&szlig;er Adler in derselben
+Richtung, welche vorher die Schlange und die Kr&ouml;te genommen hatten. &raquo;Das
+sind wunderbare Dinge, die mir Gl&uuml;ck bringen sollen!&laquo; dachte der
+J&uuml;ngling. Da sieht er pl&ouml;tzlich einen Mann auf einem schwarzen Pferde
+auf sich zu kommen. Das Pferd schien Fl&uuml;gel an den F&uuml;&szlig;en zu haben, denn
+es flog mit Windesschnelle. Als der Mann den J&uuml;ngling am Berge sitzen
+sah, hielt er sein Pferd an und fragte, &raquo;Wer ist hier vor&uuml;bergekommen?&laquo;
+Der J&uuml;ngling erwiederte: &raquo;Erstens eine gro&szlig;e Schlange, wohl zw&ouml;lf
+Klafter lang, dann eine gro&szlig;e Kr&ouml;te von der Gr&ouml;&szlig;e eines zweij&auml;hrigen
+F&uuml;llens und endlich ein gro&szlig;er Adler hoch &uuml;ber meinem Kopfe. Wie gro&szlig; er
+war, konnte ich nicht absch&auml;tzen, aber sein Fl&uuml;gelschlag rauschte wie<span class='pagenum'><a name="Page_98" id="Page_98">[S 98]</a></span>
+ein Gewitter daher.&laquo; &mdash; &raquo;Du hast recht gesehen,&laquo; sagte der Fremde, &raquo;es
+sind meine schlimmsten Feinde, und ich jage ihnen jetzt eben nach. Dich
+k&ouml;nnte ich in meinem Dienste brauchen, wenn du nichts Besseres vor hast.
+Klettere &uuml;ber den Berg, so kommst du gerade in mein Haus. Ich werde dort
+mit dir zugleich anlangen, wenn nicht noch fr&uuml;her.&laquo; &mdash; Der junge Mann
+versprach zu kommen, worauf der Fremde wie der Wind davon ritt.</p>
+
+<p>Es war nicht leicht, den Berg zu erklimmen. Unser Wanderer brauchte drei
+Tage, ehe er den Gipfel erreichte, und dann wieder drei Tage, ehe er auf
+der andern Seite an den Fu&szlig; des Berges gelangte. Der Wirth stand schon
+vor seinem Hause und erz&auml;hlte, da&szlig; er Schlange und Kr&ouml;te gl&uuml;cklich
+erschlagen habe, des Adlers aber nicht habhaft geworden sei. Dann fragte
+er den jungen Mann, ob er Lust habe, als Knecht bei ihm einzutreten.
+&raquo;Gutes Essen bekommst du t&auml;glich, soviel du willst, und auch mit dem
+Lohne will ich nicht geizen, wenn du dein Amt getreulich verwaltest.&laquo;
+Der Vertrag wurde abgeschlossen und der Wirth f&uuml;hrte den neuen Knecht im
+Hause umher, und zeigte ihm, was er zu thun habe. Es war dort ein Keller
+im Felsen angebracht und durch dreifache Eisenth&uuml;ren verschlossen. &raquo;In
+diesem Keller sind meine b&ouml;sen Hunde angekettet,&laquo; sagte der Wirth, &raquo;du
+mu&szlig;t daf&uuml;r sorgen, da&szlig; sie sich nicht unterhalb der Th&uuml;r mit den Pfoten
+herausgraben. Denn wisse: wenn auch nur einer dieser Hunde frei w&uuml;rde,
+so w&auml;re es nicht mehr m&ouml;glich, die beiden anderen fest zu halten,
+sondern sie w&uuml;rden nacheinander dem F&uuml;hrer folgen und alles Lebendige
+auf Erden vertilgen. Wenn endlich der letzte Hund ausbr&auml;che, so w&auml;re<span class='pagenum'><a name="Page_99" id="Page_99">[S 99]</a></span>
+das Ende der Welt da, und die Sonne h&auml;tte zum letzten Male geschienen.&laquo;
+Darauf f&uuml;hrte er den Knecht an einen Berg, den Gott nicht geschaffen
+hatte, sondern der von Menschenh&auml;nden aus m&auml;chtigen Felsbl&ouml;cken
+aufgeth&uuml;rmt war. &raquo;Diese Steine&laquo; &mdash; sagte der Wirth &mdash; &raquo;sind de&szlig;wegen
+zusammengetragen, damit immer wieder ein neuer Stein hingew&auml;lzt werden
+kann, so oft die Hunde ein Loch ausgraben. Die Ochsen, welche den Stein
+f&uuml;hren sollen, will ich dir im Stalle zeigen, und dir auch alles Uebrige
+mittheilen, was du dabei zu beobachten hast.&laquo;</p>
+
+<p>Im Stalle fanden sie an hundert schwarze Ochsen, deren jeder sieben
+H&ouml;rner hatte; sie waren reichlich zwei Mal so gro&szlig; wie die gr&ouml;&szlig;esten
+Ukrainer Ochsen. &raquo;Sechs Paar Ochsen vor die Steinfuhre gespannt, f&uuml;hren
+einen Stein mit Leichtigkeit weg. Ich werde dir eine Brechstange geben,
+wenn du den Stein damit ber&uuml;hrst, rollt er von selbst auf den Wagen. Du
+siehst, deine Arbeit ist so m&uuml;hsam nicht, desto gr&ouml;&szlig;er mu&szlig; deine
+Wachsamkeit sein. Drei Mal bei Tage und ein Mal bei Nacht mu&szlig;t du nach
+der Th&uuml;r sehen, damit kein Ungl&uuml;ck geschieht, der Schade k&ouml;nnte sonst
+gr&ouml;&szlig;er sein, als du vor mir verantworten k&ouml;nntest.&laquo;</p>
+
+<p>Bald hatte unser Freund Alles begriffen und sein neues Amt war ganz nach
+seinem Sinne: alle Tage das beste Essen und Trinken, wie es ein Mensch
+nur begehren konnte. Nach zwei bis drei Monaten hatten die Hunde ein
+Loch unter der Th&uuml;r gekratzt, gro&szlig; genug, um die Schnauze
+durchzustecken, aber sogleich wurde ein Stein davor gestemmt, und die
+Hunde mu&szlig;ten ihre Arbeit von neuem beginnen.<span class='pagenum'><a name="Page_100" id="Page_100">[S 100]</a></span></p>
+
+<p>So waren viele Jahre verstrichen und unser Knecht hatte sich ein
+h&uuml;bsches St&uuml;ck Geld gesammelt. Da erwachte in ihm das Verlangen, ein Mal
+wieder unter andere Menschen zu kommen; er hatte so lange in kein
+anderes Menschenantlitz gesehen, als in das seines Herrn. War der Herr
+auch gut, so wurde dem Knecht doch die Zeit entsetzlich lang, zumal wenn
+den Herrn die Lust anwandelte, einen langen Schlaf zu halten. Dann
+schlief er immer sieben Wochen lang ohne Unterbrechung und ohne sich
+sehen zu lassen.</p>
+
+<p>Wieder war einmal eine solche Schlaflaune &uuml;ber den Wirth gekommen, als
+eines Tages ein gro&szlig;er Adler sich auf dem Berge niederlie&szlig; und so zu
+sprechen anhub: &raquo;Bist du nicht ein gro&szlig;er Thor, da&szlig; du dein sch&ouml;nes
+Leben f&uuml;r gute Kost hinopferst? Dein zusammengespartes Geld n&uuml;tzt dir
+nichts, denn es sind ja keine Menschen hier, die es brauchen. Nimm des
+Wirthes windschnelles Ro&szlig; aus dem Stalle, binde ihm deinen Geldsack um
+den Hals, setze dich auf und reite in der Richtung fort, wo die Sonne
+untergeht, so kommst du nach wenig Wochen wieder unter Menschen. Du mu&szlig;t
+aber das Pferd an einer eisernen Kette fest binden, damit es nicht davon
+laufen kann, sonst kehrt es zu seiner gewohnten St&auml;tte zur&uuml;ck und der
+Wirth kann kommen, um dich anzufechten. Wenn er aber das Pferd nicht
+hat, so kann er nicht von der Stelle.&laquo; &raquo;Wer soll denn hier die Hunde
+bewachen, wenn ich weggehe, w&auml;hrend der Wirth schl&auml;ft?&laquo; fragte der
+Knecht. &raquo;Ein Thor bist du, und ein Thor bleibst du!&laquo; erwiederte der
+Adler. &raquo;Hast du denn noch nicht begriffen, da&szlig; der liebe Gott ihn dazu
+geschaffen hat, da&szlig; er die H&ouml;llenhunde<span class='pagenum'><a name="Page_101" id="Page_101">[S 101]</a></span> bewache? Es ist reine Faulheit,
+da&szlig; er sieben Wochen schl&auml;ft. Wenn er keinen fremden Knecht mehr hat, so
+wird er sich aufraffen und seines Amtes selber warten.&laquo;</p>
+
+<p>Der Rath gefiel dem Knechte sehr. Er that, wie der Adler gesagt hatte,
+nahm das Pferd, band ihm den Geldsack um, setzte sich auf und ritt
+davon. Noch war er nicht gar weit vom Berge, als er schon hinter sich
+den Wirth rufen h&ouml;rte: &raquo;Halt an! Halt an! Geh' in Gottes Namen mit
+deinem Gelde, aber la&szlig; mir mein Pferd.&laquo; Der Knecht h&ouml;rte nicht darauf,
+sondern ritt immer weiter, bis er nach einigen Wochen wieder zu
+sterblichen Menschen kam. Dort baute er sich ein h&uuml;bsches Haus, freite
+ein junges Weib, und lebte gl&uuml;cklich als reicher Mann. Wenn er nicht
+gestorben ist, so mu&szlig; er noch heute leben; aber das windschnelle Ro&szlig; ist
+schon l&auml;ngst verschieden.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_102" id="Page_102">[S 102]</a></span></p>
+<h2>8. Schlaukopf.<a name="FNanchor_33_33" id="FNanchor_33_33"></a><a href="#Footnote_33_33" class="fnanchor">[33]</a></h2>
+
+
+<p>In den Tagen des Kalew-Sohnes lebte im Kungla-Lande<a name="FNanchor_34_34" id="FNanchor_34_34"></a><a href="#Footnote_34_34" class="fnanchor">[34]</a> ein sehr reicher
+K&ouml;nig, der seinen Unterthanen alle sieben Jahre in der Mitte des Sommers
+ein gro&szlig;es Gelage gab, das jedesmal zwei, auch drei Wochen
+hintereinander dauerte. Das Jahr eines solchen Festes war wieder
+herangekommen und man erwartete den Beginn desselben binnen einigen
+Monaten; aber die Leute schienen dies Mal noch unsicher in ihren
+Hoffnungen, weil ihnen n&auml;mlich schon zwei Mal, vor vierzehn und vor
+sieben<span class='pagenum'><a name="Page_103" id="Page_103">[S 103]</a></span> Jahren, die erwartete Freude zu Wasser geworden war. Von Seiten
+des K&ouml;nigs war beide Male hinl&auml;nglich f&uuml;r die n&ouml;thigen Vorr&auml;the gesorgt
+worden, aber keines Menschen Zunge war dazu gekommen, sie zu kosten.
+Wohl schien die Sache wunderbar und unglaublich, aber es fanden sich
+aller Orten viele Menschen, welche die Wahrheit derselben als
+Augenzeugen bekr&auml;ftigten. Beide Male, &mdash; so wurde erz&auml;hlt &mdash; als die
+G&auml;ste der hergerichteten Speisen und Getr&auml;nke warteten, war ein
+unbekannter fremder Mann zum Oberkoch gekommen und hatte ihn gebeten,
+von Speise und Trank ein paar Mundvoll kosten zu d&uuml;rfen; aber das blo&szlig;e
+Eintunken des L&ouml;ffels in den Suppenkessel und das Heben der Bierkanne
+zum Munde hatte hingereicht, um mit wunderbarer Gewalt alle
+Vorrathskammern, Schaffereien und Keller leer zu machen, so da&szlig; auch
+kein K&ouml;rnchen und kein Tr&ouml;pfchen &uuml;brig blieb.<a name="FNanchor_35_35" id="FNanchor_35_35"></a><a href="#Footnote_35_35" class="fnanchor">[35]</a> K&ouml;che und K&uuml;chenjungen
+hatten alle den Vorfall gesehen<span class='pagenum'><a name="Page_104" id="Page_104">[S 104]</a></span> und beschworen; gleichwohl war des
+Volkes Zorn &uuml;ber die zerst&ouml;rte Festfreude so gro&szlig;, da&szlig; der K&ouml;nig, um die
+Leute zu bes&auml;nftigen, vor sieben Jahren den Oberkoch hatte aufh&auml;ngen
+lassen, weil er dem Fremden die verlangte Erlaubnis gegeben hatte. Damit
+nun jetzt nicht abermals ein solches Aergerni&szlig; entst&uuml;nde, war von Seiten
+des K&ouml;nigs demjenigen, der die Herstellung des Festes &uuml;bern&auml;hme, eine
+reiche Belohnung zugesichert worden: und als gleichwohl Niemand die
+Verantwortlichkeit auf sich nehmen wollte, versprach der K&ouml;nig endlich
+dem Uebernehmer seine j&uuml;ngste Tochter zur Gemahlin; wenn aber die Sache
+ungl&uuml;cklich ausfiele, sollte er mit seinem Leben f&uuml;r den Schaden b&uuml;&szlig;en.</p>
+
+<p>An der Grenze des Reichs, weit von der K&ouml;nigsstadt, wohnte ein
+wohlhabender Bauer mit drei S&ouml;hnen, von denen der j&uuml;ngste schon von
+klein auf einen scharfen Verstand zeigte, weil die Rasenmutter<a name="FNanchor_36_36" id="FNanchor_36_36"></a><a href="#Footnote_36_36" class="fnanchor">[36]</a> ihn
+aufgezogen und ihn gar oft heimlich an ihrer Brust ges&auml;ugt hatte. Der<span class='pagenum'><a name="Page_105" id="Page_105">[S 105]</a></span>
+Vater nannte diesen Sohn deshalb <em class="gesperrt">Schlaukopf</em>. Er pflegte zu seinen S&ouml;hnen
+zu sagen: &raquo;Ihr, die beiden &auml;lteren Br&uuml;der, m&uuml;sset durch K&ouml;rperkraft und
+H&auml;ndearbeit euch das t&auml;gliche Brod verdienen; du, kleiner Schlaukopf,
+kannst durch deinen Verstand in der Welt fortkommen und dich einmal &uuml;ber
+deine Br&uuml;der emporschwingen.&laquo; &mdash; Vor seinem Tode teilte er Aecker und
+Wiesen zu gleichen Theilen unter seine beiden &auml;lteren S&ouml;hne. Dem
+j&uuml;ngsten gab er so viel Reisegeld, da&szlig; er in die weite Welt gehen
+konnte, um sein Gl&uuml;ck zu versuchen. Noch war des Vaters Leiche auf dem
+Tische nicht kalt geworden, als auch die &auml;lteren Br&uuml;der ihrem j&uuml;ngsten
+Alles bis auf den letzten Kopeken wegnahmen, dann warfen sie ihn zur
+Th&uuml;r hinaus und riefen ihm h&ouml;hnisch nach: &raquo;Du schlauer Kopf sollst dich
+&uuml;ber uns erheben und blos durch deinen Verstand in der Welt fortkommen,
+drum k&ouml;nnte das Geld dir l&auml;stig sein!&laquo;</p>
+
+<p>Der j&uuml;ngste Bruder schlug sich die Mi&szlig;gunst seiner beiden Br&uuml;der aus dem
+Sinne und machte sich sorglos auf den Weg. &raquo;Gott giebt wohl schon
+Gl&uuml;ck!&laquo; den Spruch hatte er sich zum Trost und Begleiter aus dem
+Vaterhause mitgenommen; er pfiff die tr&uuml;ben Gedanken fort und ging
+leichten Schrittes weiter. Als er anfing Hunger zu versp&uuml;ren, traf er
+zuf&auml;llig mit zwei reisenden Handwerksgesellen zusammen. Sein angenehmes
+Wesen und seine Scherzreden gefielen den Gesellen, sie gaben ihm, als
+Rast gehalten wurde, von ihrer Kost ab, und so brachte Schlaukopf den
+ersten Tag gl&uuml;cklich zu Ende. Er trennte sich vor Abend von den Gesellen
+und ging vergn&uuml;gt f&uuml;rba&szlig;, denn das Gef&uuml;hl der S&auml;ttigung lie&szlig; keine Sorge
+f&uuml;r den n&auml;chsten Tag aufkommen. Ein Nachtlager bot sich ihm &uuml;berall,<span class='pagenum'><a name="Page_106" id="Page_106">[S 106]</a></span> wo
+der gr&uuml;ne Rasen die Diele unter ihm und der blaue Himmel das Dach &uuml;ber
+ihm bildete; ein Stein unter dem Haupte diente als weiches Schlafkissen.
+Am folgenden Tage kam er Vormittags an ein einsames Geh&ouml;ft. Vor der Th&uuml;r
+sa&szlig; eine junge Frau und weinte kl&auml;glich. Schlaukopf fragte, was sie so
+sehr bek&uuml;mmere, und erfuhr Folgendes: &raquo;Ich habe einen schlimmen Mann,
+der mich alle Tage schl&auml;gt, wenn ich seine tollen Launen nicht
+befriedigen kann. Heute befahl er mir, ihm zur Nacht einen Fisch zu
+kochen, der kein Fisch sein d&uuml;rfe, und der wohl Augen, aber nicht am
+Kopfe habe. Wo auf der Welt soll ich ein solches Thier finden?&laquo; &mdash;
+&raquo;Weine nicht, junges Weibchen&laquo; &mdash; tr&ouml;stete sie Schlaukopf: &raquo;dein Mann
+will einen Krebs, der zwar im Wasser lebt, aber kein Fisch ist, und der
+auch Augen hat, aber nicht im Kopfe.&laquo;<a name="FNanchor_37_37" id="FNanchor_37_37"></a><a href="#Footnote_37_37" class="fnanchor">[37]</a> Die Frau dankte f&uuml;r die gute
+Belehrung, gab ihm zu essen und noch einen Brotsack mit auf die Reise,
+von dem er manchen Tag leben konnte. Da ihm nun diese unvermuthete H&uuml;lfe
+geworden war, beschlo&szlig; er sogleich in die K&ouml;nigsstadt zu gehen, wo
+Klugheit am Meisten werth sein m&uuml;sse, und wo er sicher sein Gl&uuml;ck zu
+finden hoffte.</p>
+
+<p>Ueberall, wohin er kam, h&ouml;rte er von nichts Anderem sprechen, als von
+dem Sommerfeste des K&ouml;nigs. Als er erfuhr, was f&uuml;r ein Lohn demjenigen
+verhei&szlig;en war, der das Fest herstellen werde, ging er mit sich zu Rathe,
+ob es nicht m&ouml;glich sei, die Sache zu &uuml;bernehmen. Gelingt<span class='pagenum'><a name="Page_107" id="Page_107">[S 107]</a></span> es &mdash; so
+sprach er zu sich selbst &mdash; so bin ich mit einem Male auf dem Wege zum
+Gl&uuml;cke. Was sollte ich wohl f&uuml;rchten? Im allerschlimmsten Falle w&uuml;rde
+ich mein Leben verlieren, allein sterben m&uuml;ssen wir doch einmal, sei es
+fr&uuml;her oder sp&auml;ter. Wenn ich's beim rechten Ende anfange, warum sollte
+es nicht gehen? Vielleicht habe ich mehr Gl&uuml;ck als die Andern. Und g&auml;be
+mir dann auch der K&ouml;nig seine Tochter nicht, so mu&szlig; er mir doch den
+versprochenen Lohn an Gelde auszahlen, der mich zum reichen Manne macht.
+Unter diesen Gedanken schritt er vorw&auml;rts, sang und pfiff wie eine
+Lerche, ruhte zuweilen im Schatten eines Busches von des Tages Hitze
+aus, schlief die Nacht unter einem Baume oder im Freien, und langte
+gl&uuml;cklich an einem Abend in der K&ouml;nigsstadt an, nachdem er am Morgen
+seinen Brotsack bis auf den Grund geleert hatte. Am folgenden Tage erbat
+er sich Zutritt zum K&ouml;nige. Dieser sah, da&szlig; er es mit einem gescheuten
+und unternehmenden Menschen zu thun hatte und so wurde man leicht
+Handels einig. Dann fragte der K&ouml;nig: &raquo;Wie hei&szlig;t du?&laquo; Der Mann von Kopf
+erwiederte: &raquo;Mein Taufname ist Nikodemus, aber zu Hause wurde ich immer
+<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> genannt, um anzudeuten, da&szlig; ich nicht auf den Kopf gefallen
+bin.&laquo; &raquo;Ich will dir diesen Namen lassen,&laquo; &mdash; sagte der K&ouml;nig, &mdash; &raquo;denn
+dein Kopf mu&szlig; mir f&uuml;r allen Schaden einstehen, wenn die Sache schief
+geht!&laquo;</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Schlaukopf</em> bat sich vom K&ouml;nige siebenhundert Arbeiter aus und machte
+sich unges&auml;umt an die Vorbereitungen zum Feste. Er lie&szlig; zwanzig gro&szlig;e
+Riegen<a name="FNanchor_38_38" id="FNanchor_38_38"></a><a href="#Footnote_38_38" class="fnanchor">[38]</a> auff&uuml;hren, die<span class='pagenum'><a name="Page_108" id="Page_108">[S 108]</a></span> nach Art gutsherrlicher Viehst&auml;lle im Viereck
+zu stehen kamen, so da&szlig; ein weiter Hofraum in der Mitte blieb, zu
+welchem eine einzige gro&szlig;e Pforte hineinf&uuml;hrte. In den heizbaren R&auml;umen
+lie&szlig; er gro&szlig;e Kochgrapen und Kessel einmauern, und die Oefen mit
+Eisenrosten versehen, um darauf Fleisch, Blutkl&ouml;&szlig;e und W&uuml;rste zu braten.
+Andere Riegen wurden mit Kesseln und gro&szlig;en Kufen zum Bierbrauen
+versehen, so da&szlig; oben die Kessel, unten die Kufen standen. Noch andere
+H&auml;user ohne Feuerstellen wurden aufgef&uuml;hrt, um zu Schaffereien f&uuml;r kalte
+Speisen zu dienen, die eine um Schwarzbrot, die andere um Hefenbrot<a name="FNanchor_39_39" id="FNanchor_39_39"></a><a href="#Footnote_39_39" class="fnanchor">[39]</a>,
+die dritte um Wei&szlig;brot u. s. w. aufzubewahren. Alle n&ouml;thigen Vorr&auml;the,
+wie Mehl, Gr&uuml;tze, Fleisch, Salz, Fett. Butter u. dgl. wurden auf dem
+Hofraum aufgestapelt, und dann wurden funfzig Soldaten als Wache vor die
+Pforte gestellt, damit kein Diebesfinger etwas antasten k&ouml;nnte. Der
+K&ouml;nig besichtigte alle Tage die Zur&uuml;stungen und r&uuml;hmte <em class="gesperrt">Schlaukopfs</em>
+Geschick und Klugheit. Au&szlig;er dem wurden noch einige Dutzend Back&ouml;fen im
+Freien erbaut, und vor jedem Ofen eine eigene Abtheilung Wachtsoldaten
+aufgestellt. F&uuml;r das Fest wurden geschlachtet tausend Mastochsen,
+zweihundert K&auml;lber, f&uuml;nfhundert Schweine und Ferkel, zehntausend Schafe
+und noch viel anderes Kleinvieh, das herdenweise von allen Seiten
+zusammengetrieben wurde. Auf den Fl&uuml;ssen sah man K&auml;hne und B&ouml;te, auf den
+Landstra&szlig;en Frachtwagen unauf<span class='pagenum'><a name="Page_109" id="Page_109">[S 109]</a></span>h&ouml;rlich Proviant zuf&uuml;hren, und zwar waren
+die Fuhren nun schon seit Wochen in Bewegung. An Bier allein wurden
+siebentausend Ahm gebraut. Wiewohl die siebenhundert Geh&uuml;lfen von fr&uuml;h
+bis sp&auml;t arbeiteten, und ab und zu auch noch Tagel&ouml;hner angenommen
+wurden, so lastete doch die meiste Sorge und M&uuml;he auf <em class="gesperrt">Schlaukopf</em>, weil
+seine Einsicht die Andern in allen St&uuml;cken leiten mu&szlig;te. Den K&ouml;chen,
+B&auml;ckern und Brauern hatte er aufs strengste eingesch&auml;rft, nicht
+zuzulassen, da&szlig; ein fremder Mund von den Speisen und Getr&auml;nken koste;
+wer gegen diesen Befehl handle, dem war der Galgen angedroht. Sollte
+sich aber irgendwo so ein naschhafter Fremder zeigen, so m&uuml;sse derselbe
+augenblicklich vor den obersten Anordner des Festes gebracht werden.</p>
+
+<p>Am Morgen des ersten Festtages erhielt <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> Nachricht, da&szlig; ein
+unbekannter alter Mann in eine K&uuml;che gekommen sei und den Koch um
+Erlaubni&szlig; gebeten habe, aus dem Suppengrapen mit dem Sch&ouml;pfl&ouml;ffel ein
+wenig zu kosten, was ihm der Koch nun also auf eigene Hand nicht
+gestatten durfte. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> befahl, den Fremden vorzuf&uuml;hren, und bald
+erschien ein kleiner alter Mann mit grauen Haaren, welcher dem&uuml;thig um
+Erlaubni&szlig; bat, die Festspeisen und das Getr&auml;nk schmecken zu d&uuml;rfen.
+<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> hie&szlig; ihn in eine der K&uuml;chen mitkommen, dort wolle er, wenn es
+m&ouml;glich sei, den ausgesprochenen Wunsch erf&uuml;llen. W&auml;hrend sie gingen,
+sah er scharf hin, ob an dem Alten nicht irgend etwas Absonderliches zu
+entdecken sei. Da erblickte er einen gl&auml;nzenden goldenen Ring an dem
+Ringfinger der linken Hand des Alten. Als sie in die K&uuml;che getreten
+waren, fragte <em class="gesperrt">Schlaukopf</em>: &raquo;Was f&uuml;r<span class='pagenum'><a name="Page_110" id="Page_110">[S 110]</a></span> ein Pfand kannst du mir geben, da&szlig;
+kein Schaden entsteht, wenn ich dich die Speise kosten lasse?&laquo; &raquo;Gn&auml;diger
+Herr,&laquo; &mdash; erwiederte der Fremde &mdash; &raquo;ich habe dir nichts zum Pfande zu
+geben.&laquo; <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> zeigte auf den sch&ouml;nen goldenen Ring und verlangte
+ihn zum Pfande.<a name="FNanchor_40_40" id="FNanchor_40_40"></a><a href="#Footnote_40_40" class="fnanchor">[40]</a> Dagegen str&auml;ubte sich der alte Schelm, indem er
+versicherte, der Ring sei ein Andenken seiner verstorbenen Frau und er
+d&uuml;rfe ihn einem Gel&uuml;bde zufolge niemals aus der Hand geben, weil sonst
+Ungl&uuml;ck kommen k&ouml;nnte. &raquo;Dann ist es mir auch nicht m&ouml;glich, dein
+Verlangen zu erf&uuml;llen,&laquo; sagte <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> &mdash; &raquo;ohne Pfand kann ich
+Niemanden weder Festes noch Fl&uuml;ssiges schmecken lassen.&laquo; Den Alten
+stachelte die L&uuml;sternheit so sehr, da&szlig; er endlich seinen Ring zum Pfande
+gab. Als er jetzt den L&ouml;ffel in den Kessel tunken wollte, versetzte ihm
+<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> von hinten mit dem R&uuml;cken eines Beiles einen so gewaltigen
+Schlag auf den Kopf, da&szlig; der st&auml;rkste Mastochse davon umgefallen w&auml;re,
+aber der alte Schelm sank nicht, sondern taumelte nur ein Bischen.
+<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> packte ihn jetzt mit beiden H&auml;nden am Barte und lie&szlig; starke
+Stricke bringen, mit denen dem Alten H&auml;nde und F&uuml;&szlig;e festgebunden wurden,
+worauf er bei den Beinen an einem Balken in die H&ouml;he gezogen wurde.
+<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> rief ihm spottend zu: &raquo;Da warte nun,<span class='pagenum'><a name="Page_111" id="Page_111">[S 111]</a></span> bis die Festtage
+vor&uuml;ber sind, dann wollen wir weiter miteinander abrechnen. Der Ring, in
+welchem deine Kraft steckt, bleibt mir inzwischen als Pfand.&laquo; Der Alte
+mu&szlig;te sich wohl oder &uuml;bel zufrieden geben; er konnte, gefesselt wie er
+war, nicht Hand noch Fu&szlig; bewegen.</p>
+
+<p>Jetzt begann das Gelage, zu welchem die Leute zu Tausenden von allen
+Seiten herbeigestr&ouml;mt waren. Obwohl die Gasterei volle drei Wochen
+dauerte, so mangelte es doch weder an Speise noch an Trank, vielmehr
+blieb von Allem noch ein gut Theil &uuml;brig.</p>
+
+<p>Das Volk war voll Dank und Preis f&uuml;r den K&ouml;nig und den Hersteller des
+Festes. Als der K&ouml;nig diesem den bedungenen Lohn ausbezahlen wollte,
+sagte <em class="gesperrt">Schlaukopf</em>: &raquo;Ich habe noch mit dem Fremden ein kleines Gesch&auml;ft
+abzumachen, ehe ich meinen Lohn in Empfang nehme.&laquo; Dann nahm er sieben
+starke M&auml;nner mit sich, die er mit t&uuml;chtigen Kn&uuml;tteln versorgen lie&szlig;,
+und f&uuml;hrte sie dahin, wo er den Alten vor drei Wochen an einen Balken
+aufgeh&auml;ngt hatte. &raquo;Ihr M&auml;nner! Fasset die Kn&uuml;ttel fest in die Faust und
+verarbeitet mir den Alten, da&szlig; er dieses Bad und unser Gastgebot in
+seinem Leben nicht vergesse!&laquo; &mdash; Die M&auml;nner begannen nun alle sieben den
+Alten greulich durchzugerben, so da&szlig; sie ihm fast das Leben genommen
+h&auml;tten; aber von ihren harten Schl&auml;gen ri&szlig; endlich der Strick. Das
+M&auml;nnlein fiel herunter und verschwand im Nu unter der Erde, hinterlie&szlig;
+aber eine breite Oeffnung. Schlaukopf sagte: &raquo;Ich habe ein Pfand, mit
+welchem ich ihm folgen mu&szlig;. Bringet dem K&ouml;nige viele tausend Gr&uuml;&szlig;e und
+saget ihm, er m&ouml;ge, wenn ich nicht zur&uuml;ck kommen sollte, meinen Lohn
+unter die Armen vertheilen.&laquo;<span class='pagenum'><a name="Page_112" id="Page_112">[S 112]</a></span></p>
+
+<p>Er kroch nun durch dasselbe Schlupfloch, durch welches der Alte
+verschwunden war, in die Tiefe. Anfangs fand er den Weg sehr eng, aber
+einige Klafter tiefer wurde er viel breiter, so da&szlig; man leicht vorw&auml;rts
+kommen konnte. Eingehauene Stufen bewahrten den Fu&szlig; davor, da&szlig; er trotz
+der Finsterni&szlig; nicht glitt. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> war eine Weile gegangen, als er
+an eine Th&uuml;r kam. Er lugte durch eine kleine Oeffnung und sah drei junge
+M&auml;dchen sitzen und den ihm wohlbekannten Alten, dessen Kopf dem einen
+der M&auml;dchen im Schoo&szlig;e lag. Das M&auml;dchen sagte: &raquo;Wenn ich noch ein Paar
+Mal die Beule mit der Klinge presse, so vergeht Geschwulst und Schmerz.&laquo;
+<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> dachte, das ist gewi&szlig; die Stelle, die ich vor drei Wochen mit
+dem R&uuml;cken des Beils gezeichnet habe. Er nahm sich vor, so lange hinter
+der Th&uuml;r zu warten, bis der Hausherr sich schlafen gelegt habe und das
+Feuer ausgel&ouml;scht sei. Der Alte bat: &raquo;Helft mir in die Kammer, da&szlig; ich
+mich zu Bette lege, mein K&ouml;rper ist ganz aus den Gelenken, ich kann
+nicht Hand noch Fu&szlig; regen.&laquo; Darauf wurde er in die Schlafkammer gef&uuml;hrt.
+W&auml;hrend der D&auml;mmerung, als die M&auml;dchen das Gemach verlassen hatten,
+schlich <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> herein und fand ein Versteck hinter dem
+Biert&ouml;nnchen.<a name="FNanchor_41_41" id="FNanchor_41_41"></a><a href="#Footnote_41_41" class="fnanchor">[41]</a></p>
+
+<p>Die M&auml;dchen kamen bald zur&uuml;ck und sprachen leise miteinander, um den
+alten Papa nicht aufzuwecken. &raquo;Die Kopfbeule h&auml;tte nichts zu sagen,&laquo;
+meinte die eine, <span class='pagenum'><a name="Page_113" id="Page_113">[S 113]</a></span>&mdash; &raquo;und der verrenkte K&ouml;rper w&uuml;rde sich auch schon
+wieder herstellen, aber der verlorene Kraftring ist ein unersetzlicher
+Schade, und der qu&auml;lt den Alten wohl mehr als sein k&ouml;rperlicher
+Schmerz.&laquo; Als man sp&auml;ter den Alten schnarchen h&ouml;rte, trat <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> aus
+seinem Versteck hervor und befreundete sich mit den M&auml;dchen. Anfangs
+sahen diese wohl erschrocken drein, aber der verschlagene J&uuml;ngling wu&szlig;te
+ihre Furcht zu beschwichtigen, so da&szlig; sie ihn zur Nacht da bleiben
+lie&szlig;en. Er hatte von den M&auml;dchen herausgebracht, da&szlig; der Alte zwei ganz
+besondere Dinge besitze, ein ber&uuml;hmtes Schwert und eine Gerte vom
+Ebereschenbaum,<a name="FNanchor_42_42" id="FNanchor_42_42"></a><a href="#Footnote_42_42" class="fnanchor">[42]</a> und er gedachte beides mit zu nehmen. Die Gerte
+schuf auf dem Meere eine Br&uuml;cke vor ihrem Besitzer her, und mit dem
+Schwerte lie&szlig; sich das zahlreichste Heer vernichten. Den folgenden Abend
+hatte sich <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> richtig des Schwertes und der Gerte bem&auml;chtigt,
+und war vor Tagesanbruch mit H&uuml;lfe des j&uuml;ngsten M&auml;dchens entkommen. Aber
+vor der Th&uuml;r fand er das alte Schlupfloch nicht mehr, sondern einen
+gro&szlig;en Hofplatz und weiterhin wogte das Meer hinter der Koppel.</p>
+
+<p>Unter den M&auml;dchen hatte sich nach seinem Scheiden ein Wortwechsel
+erhoben, der so heftig wurde, da&szlig; der Alte von dem L&auml;rm erwachte. Aus
+ihrem Zanke wurde ihm klar, da&szlig; ein Fremder hier verkehrt hatte, er
+stand zornig auf und fand Schwert und Gerte entwendet. &raquo;Mein<span class='pagenum'><a name="Page_114" id="Page_114">[S 114]</a></span> bester
+Schatz ist mir geraubt!&laquo; br&uuml;llte er, verga&szlig; allen K&ouml;rperschmerz und
+st&uuml;rmte hinaus. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> sa&szlig; noch immer am Meeresufer und sann
+dar&uuml;ber, ob er die Kraft der Gerte erproben oder sich einen trockenen
+Weg suchen solle. Pl&ouml;tzlich h&ouml;rt er hinter sich ein Sausen wie von einer
+Windsbraut. Als er sich umsieht, erblickt er den Alten, der wie toll
+gerade auf ihn los rennt. Er springt auf und hat eben noch Zeit, mit der
+Gerte auf die Wellen zu schlagen und zu rufen: &raquo;Br&uuml;cke vorn, Wasser
+hinten!&laquo;<a name="FNanchor_43_43" id="FNanchor_43_43"></a><a href="#Footnote_43_43" class="fnanchor">[43]</a> Kaum hat er das Wort gesprochen, so befindet er sich auf
+einer Br&uuml;cke im Meere, schon eine Strecke vom Ufer entfernt.</p>
+
+<p>Der Alte kommt &auml;chzend und keuchend an's Ufer und bleibt stehen, als er
+den Dieb auf der Br&uuml;cke &uuml;ber dem Meere sieht. Schnaufend ruft er:<a name="FNanchor_44_44" id="FNanchor_44_44"></a><a href="#Footnote_44_44" class="fnanchor">[44]</a>
+&raquo;Nikodemus, S&ouml;hnchen! wo willst du hin?&laquo; &mdash; &raquo;Nach Hause, Papachen!&laquo; war
+die Antwort. &raquo;Nikodemus, S&ouml;hnchen! du hast mir mit dem Beil auf den Kopf
+geschlagen und mich bei den Beinen am Balken ausgeh&auml;ngt?&laquo; &mdash; &raquo;Ja,
+Papachen.&laquo; &raquo;Nikodemus, S&ouml;hnchen! hast du mich von sieben Mann<span class='pagenum'><a name="Page_115" id="Page_115">[S 115]</a></span>
+durchpr&uuml;geln lassen und meinen goldenen Ring geraubt?&laquo; &mdash; &raquo;Ja,
+Papachen!&laquo; &raquo;Nikodemus, S&ouml;hnchen! hast du dich mit meinen T&ouml;chtern
+befreundet?&laquo; &mdash; &raquo;Ja, Papachen.&laquo; &raquo;Nikodemus, S&ouml;hnchen! hast du das
+Schwert und die Gerte gestohlen?&laquo; &mdash; &raquo;Ja, Papachen.&laquo; &raquo;Nikodemus,
+S&ouml;hnchen! willst du zur&uuml;ck kommen?&laquo; &mdash; &raquo;Ja, Papachen!&laquo; gab <em class="gesperrt">Schlaukopf</em>
+wieder zur Antwort. Inzwischen war er auf der Br&uuml;cke so weit gekommen,
+da&szlig; er des Alten Rede nicht mehr h&ouml;ren konnte. Als er &uuml;ber das Meer
+hin&uuml;bergelangt war, erfragte er den n&auml;chsten Weg zur Stadt des K&ouml;nigs
+und eilte dahin, um seinen Lohn zu fordern.</p>
+
+<p>Aber siehe da! er fand hier Alles ganz anders als er gehofft hatte.
+Seine Br&uuml;der standen beide im Dienste des K&ouml;nigs, der eine als Kutscher,
+der andere als Kammerdiener. Beide lebten gar lustig: sie waren reiche
+Leute. Als Schlaukopf sich vom K&ouml;nige seinen Lohn ausbat, sagte dieser:
+&raquo;Ich hatte dich ein ganzes Jahr lang erwartet, da aber nichts von dir zu
+h&ouml;ren noch zu sehen war, so hielt ich dich f&uuml;r todt, und wollte deinen
+Lohn unter die Armen vertheilen lassen nach deinem Gehei&szlig;. Da kamen aber
+eines Tages deine &auml;lteren Br&uuml;der, um diesen Lohn zu erben. Ich &uuml;bergab
+die Sache dem Gericht, welches ihnen den Lohn zuerkannte, wie sich's
+auch geb&uuml;hrte, weil man glaubte, du seiest nicht mehr am Leben. Sp&auml;ter
+traten deine Br&uuml;der in meinen Dienst, und stehen noch darin.&laquo; Als
+<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> diese Rede des K&ouml;nigs h&ouml;rte, glaubte er zu tr&auml;umen, denn
+seines Bed&uuml;nkens war er nicht l&auml;nger als zwei N&auml;chte in der
+unterirdischen Behausung des Alten gewesen, und hatte dann einige Tage
+gebraucht, um heim<span class='pagenum'><a name="Page_116" id="Page_116">[S 116]</a></span>zukehren; jetzt zeigte sich's aber, da&szlig; jede Nacht
+Jahresl&auml;nge gehabt hatte. Er wollte seine Br&uuml;der nicht verklagen, lie&szlig;
+ihnen das Geld, dankte Gott, da&szlig; er mit dem Leben davon gekommen war und
+sah sich nach einem neuen Dienste um. Der k&ouml;nigliche Koch nahm ihn als
+K&uuml;chenjungen an, und er mu&szlig;te jetzt alle Tage den Braten am Spie&szlig;e
+drehen. Seine Br&uuml;der verachteten ihn wegen dieser geringen Handthierung
+und mochten nicht mit ihm umgehen, er aber hatte sie doch lieb. So hatte
+er ihnen auch eines Abends Manches von dem erz&auml;hlt, was er in der
+Unterwelt gesehen hatte, wo die G&auml;nse und Enten goldenes und silbernes
+Gefieder trugen. Die Br&uuml;der hinterbrachten das Geh&ouml;rte dem K&ouml;nige und
+baten ihn, er m&ouml;ge ihren j&uuml;ngsten Bruder doch hinschicken, damit er die
+seltenen V&ouml;gel herbringe. Der K&ouml;nig lie&szlig; den K&uuml;chenjungen rufen und
+befahl ihm, sich am n&auml;chsten Morgen aufzumachen, um die V&ouml;gel mit dem
+kostbaren Gefieder zu holen.</p>
+
+<p>Mit schwerem Herzen machte sich <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> auf den Weg, nahm aber Ring,
+Gerte und Schwert, die er heimlich bewahrt hatte, mit sich. Nach einigen
+Tagen kam er an den Meeresstrand und sah an der Stelle, wo er auf seiner
+Flucht an's Land gestiegen war, einen alten Mann an einem Steine sitzen.
+Als er n&auml;her trat, fragte ihn der Mann, der einen langen grauen Bart
+hatte: &raquo;We&szlig;halb bist du so verdrie&szlig;lich, Freundchen?&laquo; <em class="gesperrt">Schlaukopf</em>
+erz&auml;hlte ihm den schlimmen Handel. Der Alte hie&szlig; ihn gutes Muths und
+ohne Sorge sein und sagte: &raquo;So lange der Kraftring in deiner Hand ist,
+kann dir nichts B&ouml;ses geschehen.&laquo; Dann erhielt <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> eine Muschel<span class='pagenum'><a name="Page_117" id="Page_117">[S 117]</a></span>
+von ihm und wurde bedeutet, mit der Zaubergerte die Br&uuml;cke bis in die
+Mitte des Meeres zu schlagen; alsdann solle er mit dem linken Fu&szlig;e auf
+die Muschel treten, so werde er dadurch in die Unterwelt gelangen, wo
+das Gesinde gerade schlafen werde. Weiter hie&szlig; er ihn aus
+Spinnegewebe<a name="FNanchor_45_45" id="FNanchor_45_45"></a><a href="#Footnote_45_45" class="fnanchor">[45]</a> einen Sack n&auml;hen, um die silber- und goldgefiederten
+Schwimmv&ouml;gel hineinzuthun; dann solle er unverz&uuml;glich zur&uuml;ck kommen.
+<em class="gesperrt">Schlaukopf</em> dankte f&uuml;r die erw&uuml;nschte Anleitung und eilte fort. Die Sache
+ging so, wie vorhergesagt war; aber kaum war er mit seiner Beute bis
+an's Meeresufer gelangt, so h&ouml;rte er den alten Burschen hinterdrein
+keuchen und vernahm auch, wie er auf die Br&uuml;cke trat, wieder dieselben
+Fragen als das erste Mal: &raquo;Nikodemus, S&ouml;hnchen! Du hast mir mit dem
+R&uuml;cken des Beils auf den Kopf geschlagen und hast mich bei den Beinen am
+Balken aufgeh&auml;ngt?&laquo; u. s. w. bis zuletzt noch die Frage hinzukam, welche
+den an den Schwimmv&ouml;geln ver&uuml;bten Diebstahl betraf. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em>
+antwortete auf jede Frage &raquo;ja&laquo; und eilte weiter.</p>
+
+<p>So wie ihm der Freund mit dem grauen Barte vorausgesagt hatte, kam er am
+Abend mit seiner kostbaren Vogellast in der Stadt des K&ouml;nigs an; der
+Sack aus Spinnegewebe hielt die Thiere so fest, da&szlig; keines heraus
+konnte. Der K&ouml;nig schenkte ihm ein Trinkgeld und befahl ihm, am
+folgenden Tage wieder hinzugehen, denn er hatte von den &auml;lteren Br&uuml;dern
+geh&ouml;rt, der Herr der Unterwelt besitze sehr viele goldene und silberne
+Hausger&auml;the, und diese begehrte der K&ouml;nig f&uuml;r sich. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> wagte
+nicht<span class='pagenum'><a name="Page_118" id="Page_118">[S 118]</a></span> sich dem Befehle zu widersetzen, aber er ging unmuthig von
+dannen, weil er nicht vorher wissen konnte, wie die Sache ablaufen
+w&uuml;rde. Am Meeresufer aber kam ihm der Mann mit dem grauen Barte
+freundlich entgegen und fragte ihn nach der Ursache seiner Betr&uuml;bni&szlig;.
+Alsdann erhielt <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> wiederum eine Muschel und noch eine Handvoll
+kleiner Steinchen nebst folgender Anweisung: &raquo;Wenn du nach Mittag hin
+kommst, so liegt der Wirth im Bette, um zu verdauen, die T&ouml;chter spinnen
+in der Stube, und die Gro&szlig;mutter scheuert in der K&uuml;che die goldenen und
+silbernen Gef&auml;&szlig;e blank. Klettere dann behend auf den Schornstein, wirf
+die in ein L&auml;ppchen eingebundenen Steinchen der Alten an den Hals, folge
+selbst schleunigst nach, stecke die kostbaren Ger&auml;the in den Sack von
+Spinnegewebe und dann lauf', was die Beine halten wollen.&laquo; <em class="gesperrt">Schlaukopf</em>
+dankte und machte es ganz, wie vorgeschrieben war. Als er aber das
+L&auml;ppchen mit den Steinchen fahren lie&szlig;, dehnte es sich zu einem
+sechsl&ouml;figen mit Kieselsteinen gef&uuml;llten Sacke aus, der die Alte zu
+Boden schmetterte. Flugs hatte <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> alle goldenen und silbernen
+Gef&auml;&szlig;e in den Sack von Spinnegewebe gepackt und war davon gejagt.<a name="FNanchor_46_46" id="FNanchor_46_46"></a><a href="#Footnote_46_46" class="fnanchor">[46]</a>
+Der &raquo;alte Bursche&laquo; meinte, als er das Gepolter des Sackes h&ouml;rte, der
+Schornstein sei eingest&uuml;rzt und getraute sich nicht gleich nachzusehen.
+Als er aber die Gro&szlig;mutter lange vergeblich gerufen hatte, mu&szlig;te er
+endlich selbst gehen. Als er das Ungl&uuml;ck entdeckte, eilte er, dem Diebe
+nachzusetzen, der noch nicht weit sein konnte. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> war schon auf
+dem Meere, als<span class='pagenum'><a name="Page_119" id="Page_119">[S 119]</a></span> der Verfolger &auml;chzend und keuchend an's Ufer kam.
+&raquo;Nikodemus, S&ouml;hnchen!&laquo; u. s. w. wiederholte der alte Bursche alle
+fr&uuml;heren fragen der Reihe nach. Die letzte Frage war: &raquo;Nikodemus,
+S&ouml;hnchen! hast du mir mein Gold- und Silberger&auml;th gestohlen?&laquo; &raquo;Freilich,
+Papachen!&laquo; war die Antwort. &raquo;Nikodemus, S&ouml;hnchen! versprichst du noch
+wiederzukommen?&laquo; &mdash; &raquo;Nein, Papachen!&laquo; antwortete <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> und lief auf
+der Br&uuml;cke vorw&auml;rts. Obwohl der alte Bursche hinter dem Diebe her
+schimpfte und fluchte, so konnte er seiner doch nicht habhaft werden,
+weil alle Zauberwerkzeuge in den H&auml;nden des Diebes waren.</p>
+
+<p><em class="gesperrt">Schlaukopf</em> fand den Alten mit dem grauen Barte wieder am Strande, warf
+den schweren Sack mit den Gold- und Silbersachen, den er nur mit H&uuml;lfe
+des Kraftringes hatte fortbringen k&ouml;nnen, ab, und setzte sich dann, um
+die m&uuml;den Glieder auszuruhen. Im Gespr&auml;ch erfuhr er nun von dem alten
+Manne Manches, was ihn erschreckte. Der Alte sagte: &raquo;Die Br&uuml;der hassen
+dich und trachten, dir auf alle Weise das Garaus zu machen, &mdash; wenn du
+ihrem b&ouml;sen Anschlag nicht zuvorkommst. Sie werden den K&ouml;nig hetzen, dir
+solche Arbeit aufzutragen bei der du leicht den Tod finden kannst. Wenn
+du nun heute Abend mit der reichen Last vor den K&ouml;nig trittst, so wird
+er freundlich gegen dich sein, dann erbitte dir als einzigen Gnadenlohn,
+da&szlig; die Tochter des K&ouml;nigs Abends heimlich hinter die Th&uuml;r gebracht
+werde, um zu h&ouml;ren, was deine Br&uuml;der untereinander sprechen.&laquo;</p>
+
+<p>Als <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> darnach mit der reichen Habe, die man wenigstens auf zehn
+Pferdelasten sch&auml;tzen konnte, vor den K&ouml;nig trat, fand er diesen sehr
+freundlich und g&uuml;tig.<span class='pagenum'><a name="Page_120" id="Page_120">[S 120]</a></span> <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> bat nun um den von dem Alten
+angegebenen Gnadenlohn. Der K&ouml;nig war froh, da&szlig; der Schatzbringer keinen
+gr&ouml;&szlig;eren Lohn verlangte und befahl seiner Tochter, sich Abends heimlich
+hinter die Th&uuml;r zu begeben, um zu h&ouml;ren, was der Kutscher und der
+Kammerdiener miteinander spr&auml;chen. Durch das Wohlleben &uuml;berm&uuml;thig
+geworden, prahlten die Br&uuml;der mit ihrem Gl&uuml;cke, und was noch einf&auml;ltiger
+war, sie beschimpften dabei l&uuml;genhafter Weise des K&ouml;nigs Tochter. Der
+Kutscher sagte: &raquo;Sie ist viele Mal des Nachts zu mir gekommen, um bei
+mir zu schlafen.&laquo; Der Kammerdiener erwiederte lachend: &raquo;Das kam daher,
+weil ich sie nicht mehr wollte und meine Th&uuml;r vor ihr zuschlo&szlig;, sonst
+w&uuml;rde sie jede Nacht in meinem Bette sein.&laquo; Roth vor Scham und Zorn kam
+die Tochter zu ihrem Vater, erz&auml;hlte weinend, welche eine schamlose L&uuml;ge
+sie mit ihren eigenen Ohren von den Dienern hatte aussprechen h&ouml;ren, und
+bat, die Frevler zu bestrafen. Der K&ouml;nig lie&szlig; die Beiden alsbald in's
+Gef&auml;ngni&szlig; werfen und am andern Tage, nachdem sie vor Gericht ihre Schuld
+eingestanden hatten, hinrichten. <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> wurde zum Rathgeber des
+K&ouml;nigs erhoben.</p>
+
+<p>Nach einiger Zeit fiel ein fremder K&ouml;nig mit einem gro&szlig;en Heere in's
+Land, und <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> ward gegen den Feind in's Feld geschickt. Da zog er
+sein aus der Unterwelt geholtes Schwert<a name="FNanchor_47_47" id="FNanchor_47_47"></a><a href="#Footnote_47_47" class="fnanchor">[47]</a> zum ersten Mal aus der
+Scheide<span class='pagenum'><a name="Page_121" id="Page_121">[S 121]</a></span> und begann das feindliche Heer niederzum&auml;hen, bis nach kurzer
+Zeit Alle auf der blutigen Wahlstatt den Tod gefunden hatten. Der K&ouml;nig
+freute sich &uuml;ber diesen Sieg so sehr, da&szlig; er <em class="gesperrt">Schlaukopf</em> zum
+Schwiegersohn nahm.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_122" id="Page_122">[S 122]</a></span></p>
+<h2>9. Der Donnersohn.<a name="FNanchor_48_48" id="FNanchor_48_48"></a><a href="#Footnote_48_48" class="fnanchor">[48]</a></h2>
+
+
+<p>Der Donnersohn schlo&szlig; mit dem Teufel einen Vertrag auf sieben Jahre,
+laut dessen der Teufel ihm als<span class='pagenum'><a name="Page_123" id="Page_123">[S 123]</a></span> Knecht dienen und unweigerlich in allen
+St&uuml;cken des Herrn Willen erf&uuml;llen sollte; zum Lohn f&uuml;r treue Dienste
+versprach<span class='pagenum'><a name="Page_124" id="Page_124">[S 124]</a></span> ihm der Donnersohn seine Seele zu geben. Der Teufel that
+seine Schuldigkeit gegen seinen Herrn, er scheute nicht die schwerste
+Arbeit und murrte nimmer &uuml;ber das Essen, denn er wu&szlig;te ja, was f&uuml;r einen
+Lohn er nach sieben Jahren von Rechtswegen erhalten sollte. Sechs Jahre
+waren vor&uuml;ber, und das siebente hatte begonnen, aber der Donnersohn
+hatte durchaus keine Lust, dem b&ouml;sen Geist seine Seele so wohlfeilen
+Kaufes zu &uuml;berlassen, und hoffte deshalb durch irgend eine List den
+Klauen des Feindes zu entrinnen. Schon beim Abschlu&szlig; des Vertrages hatte
+er dem alten Burschen den Streich gespielt, da&szlig; er ihm statt des eigenen
+Blutes Hahnenblut<a name="FNanchor_49_49" id="FNanchor_49_49"></a><a href="#Footnote_49_49" class="fnanchor">[49]</a> zur Besiegelung gab, und der kurzsichtige hatte
+den Betrug nicht gemerkt. Und doch war eben dadurch das Band, welches
+die Seele des Donnersohns unaufl&ouml;slich verstricken sollte ganz locker
+geworden.<span class='pagenum'><a name="Page_125" id="Page_125">[S 125]</a></span> Obgleich inde&szlig; das Ende der Dienstzeit immer n&auml;her r&uuml;ckte,
+hatte der Donnersohn sich immer noch keinen Kunstgriff ersonnen, der ihn
+frei machen konnte. Da traf es sich, da&szlig; an einem hei&szlig;en Tage von Mittag
+her eine schwarze Wetterwolke aufstieg, die den Ausbruch eines schweren
+Gewitters drohte. Der alte Bursche verkroch sich sogleich in der Tiefe
+der Erde, zu welchem Behuf er immer ein Schlupfloch unter einem Steine
+bereit hatte. &raquo;Komm Br&uuml;derchen, und leiste mir Gesellschaft, bis das
+Ungewitter vor&uuml;ber ist!&laquo; bat der Teufel seinen Herrn mit honigs&uuml;&szlig;er
+Zunge. &raquo;Was versprichst du mir, wenn ich deine Bitte erf&uuml;lle?&laquo; fragte
+der Donnersohn. Der Teufel meinte, dar&uuml;ber k&ouml;nne man sich unten einigen,
+denn hier oben mochte er die Bedingungen nicht mehr besprechen, da die
+Wolke ihm jeden Augenblick &uuml;ber den Hals zu kommen drohte. Der
+Donnersohn dachte: heute hat die Furcht den alten Burschen ganz m&uuml;rbe
+gemacht; wer wei&szlig;, ob es mir nicht gl&uuml;ckt, mich von ihm los zu machen.
+So ging er denn mit ihm in die H&ouml;hle. Das Gewitter dauerte sehr lange,
+Krach folgte auf Krach, da&szlig; die Erde zitterte und die Felsen erbebten.
+Bei jeder Ersch&uuml;tterung dr&uuml;ckte sich der alte Bursche die F&auml;uste gegen
+die Ohren und kniff die Augen fest zu; kalter Schwei&szlig; bedeckte seine
+zitternden Glieder, und er konnte kein Wort hervorbringen. Gegen Abend,
+als das Gewitter vor&uuml;ber war, sagte er zum Donnersohn: &raquo;Wenn der alte
+Vater nicht dann und wann so viel L&auml;rm und Get&ouml;se<a name="FNanchor_50_50" id="FNanchor_50_50"></a><a href="#Footnote_50_50" class="fnanchor">[50]</a> machte, so k&ouml;nnte
+ich mit ihm<span class='pagenum'><a name="Page_126" id="Page_126">[S 126]</a></span> schon durchkommen und k&ouml;nnte ruhig leben, da mir seine
+Pfeile unter der Erde nicht schaden k&ouml;nnen. Aber sein gr&auml;&szlig;liches Get&ouml;se
+greift mich so an, da&szlig; ich gleich die Besinnung verliere und nicht mehr
+wei&szlig;, was ich thue. Denjenigen, der mich von diesem Drangsal befreite,
+w&uuml;rde ich reichlich belohnen.&laquo; Der Donnersohn erwiederte: &raquo;Da ist kein
+besserer Rath, als dem alten Papa das Donnerger&auml;th heimlich
+wegzunehmen.&laquo; &raquo;Ich w&uuml;rde es schon entwenden,&laquo; antwortete der Teufel,
+&raquo;wenn die Sache m&ouml;glich w&auml;re, aber der alte <em class="antiqua">K&otilde;u</em><a name="FNanchor_51_51" id="FNanchor_51_51"></a><a href="#Footnote_51_51" class="fnanchor">[51]</a> ist stets wachsam,
+er l&auml;&szlig;t weder Tag noch Nacht das Donnerwerkzeug aus den Augen, wie w&auml;re
+da ein Entwenden m&ouml;glich?&laquo; Der Donnersohn blieb aber dabei, da&szlig; sich die
+Sache wohl machen lie&szlig;e. &raquo;Ja, wenn du mir helfen w&uuml;rdest,&laquo; rief der
+Teufel, &raquo;dann k&ouml;nnte der Anschlag vielleicht gelingen, ich allein komme
+damit nicht zu Gange.&laquo; Der Donnersohn versprach nun sein Helfershelfer
+zu werden, verlangte aber daf&uuml;r keinen geringeren Lohn, als da&szlig; der
+Teufel den Seelenkauf r&uuml;ckg&auml;ngig mache. &raquo;Meinethalben nimm drei Seelen,
+wenn du mich von dieser gr&auml;&szlig;lichen Noth und Angst befreist!&laquo; rief der
+Teufel vergn&uuml;gt. Nun setzte ihm der<span class='pagenum'><a name="Page_127" id="Page_127">[S 127]</a></span> Donnersohn auseinander, in welcher
+Weise er die Entwendung f&uuml;r m&ouml;glich halte, wenn sie sich Beide einm&uuml;thig
+und mit vereinten Kr&auml;ften an's Werk machten. &raquo;Aber,&laquo; so schlo&szlig; er, &raquo;wir
+m&uuml;ssen so lange warten, bis der alte Papa sich wieder einmal so sehr
+erm&uuml;det, da&szlig; er in tiefen Schlaf f&auml;llt, denn gew&ouml;hnlich schl&auml;ft er ja
+wie der Hase mit offenen Augen.&laquo;</p>
+
+<p>Einige Zeit nach dieser Berathung brach ein schweres Gewitter aus, das
+lange anhielt. Der Teufel sa&szlig; wieder mit dem Donnersohn in seinem
+Schlupfwinkel unter dem Steine. Die Furcht hatte den alten Burschen so
+bet&auml;ubt, da&szlig; er kein Wort von dem h&ouml;rte, was sein Gef&auml;hrte sprach. Am
+Abend aber erstiegen Beide einen hohen Berg, wo der alte Bursche den
+Donnersohn auf seine Schultern hob und sich dann selber durch Zauber
+immer weiter in die H&ouml;he reckte,<a name="FNanchor_52_52" id="FNanchor_52_52"></a><a href="#Footnote_52_52" class="fnanchor">[52]</a> wobei er sang:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Recke, Br&uuml;derchen, dich aufw&auml;rts,<br /></span>
+<span class="i0">Wachse, Freundchen, in die H&ouml;he!&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>bis er zur Wolkengrenze hinaufgewachsen war. Als der Donnersohn &uuml;ber den
+Wolkenrand<a name="FNanchor_53_53" id="FNanchor_53_53"></a><a href="#Footnote_53_53" class="fnanchor">[53]</a> hin&uuml;ber sp&auml;hte, sah er den Papa <em class="antiqua">K&otilde;u</em> ruhig schlafen, den
+Kopf auf zusammen<span class='pagenum'><a name="Page_128" id="Page_128">[S 128]</a></span>geballte Wolken gest&uuml;tzt, aber die rechte Hand lag
+quer &uuml;ber das Donnerger&auml;th ausgestreckt. Man konnte das Instrument nicht
+fortnehmen, weil das Ber&uuml;hren der Hand den Schlafenden geweckt haben
+w&uuml;rde. Der Donnersohn kroch nun von der Schulter des alten Burschen in
+die Wolken hinein, schlich leise wie eine Katze n&auml;her und suchte sich
+durch List zu helfen. Er holte hinter seinem Ohre eine Laus hervor und
+setzte sie dem Papa <em class="antiqua">K&otilde;u</em> zum Kitzeln auf die Nase. Der Alte nahm alsbald
+die Hand, um seine Nase zu kratzen, in demselben Augenblick aber packte
+der Donnersohn das frei gewordene Donnerwerkzeug und sprang vom
+Wolkenrand auf den Nacken des Teufels zur&uuml;ck, der mit ihm den Berg
+hinunter rannte, als h&auml;tte er Feuer hinter sich. Der alte Bursche hielt
+auch nicht eher an, als bis er die H&ouml;lle erreicht hatte. Hier verschlo&szlig;
+er seinen Raub in eiserner Kammer hinter sieben Schl&ouml;ssern, dankte dem
+Donnersohn f&uuml;r die treffliche H&uuml;lfe und leistete auf dessen Seele v&ouml;llig
+Verzicht.</p>
+
+<p>Jetzt aber brach &uuml;ber die Welt und die Menschen ein Ungl&uuml;ck herein,
+welches der Donnersohn nicht hatte vorhersehen k&ouml;nnen: die Wolken
+spendeten keinen Tropfen Feuchtigkeit mehr, und Alles welkte in der
+D&uuml;rre hin. &mdash; Habe ich leichtsinniger Weise dieses unerwartete Elend
+&uuml;ber die Leute gebracht, so mu&szlig; ich suchen, die Sache, soweit m&ouml;glich,
+wieder gut zu machen, &mdash; dachte der Donnersohn und &uuml;berlegte, wie der
+Noth abzuhelfen sei. Er zog gen Norden an die finnische Grenze, wo ein
+ber&uuml;hmter Zauberer wohnte, entdeckte ihm den Raub und gab auch an, wo
+das Donnerwerkzeug gegenw&auml;rtig versteckt sei. Da sagte der Zauberer:
+&raquo;Zun&auml;chst mu&szlig; dem alten<span class='pagenum'><a name="Page_129" id="Page_129">[S 129]</a></span> Vater <em class="antiqua">K&otilde;u</em> Kunde werde, wo sein Donnerger&auml;th
+festgehalten wird, er findet dann selbst wohl Mittel und Wege, wieder zu
+seinem Eigenthume zu gelangen.&laquo; Und er schickte dem alten Wolkenvater
+Botschaft durch den Adler des Nordens. Gleich am folgenden Morgen kam
+<em class="antiqua">K&otilde;u</em> zum Zauberer, um ihm daf&uuml;r zu danken, da&szlig; er die Spur des Diebstahls
+nachgewiesen hatte. Sodann verwandelte sich der Donnerer in einen
+Knaben, suchte einen Fischer auf und verdingte sich bei demselben als
+Sommerarbeiter. Er wu&szlig;te n&auml;mlich, da&szlig; der Teufel h&auml;ufig an den See kam,
+um Fische zu raffen, und hoffte ihn dort einmal zu treffen. Wiewohl nun
+der Knabe <em class="antiqua">Pikker</em><a name="FNanchor_54_54" id="FNanchor_54_54"></a><a href="#Footnote_54_54" class="fnanchor">[54]</a> Tag und Nacht kein Auge von seinen Netzen
+verwandte, so verging doch eine Weile, ehe er des Feindes ansichtig
+wurde. Dem Fischer war es l&auml;ngst aufgefallen, da&szlig; oftmals die bei Nacht
+in den See gelassenen Netze am Morgen leer heraufgezogen wurden, aber er
+konnte die Ursache nicht erkl&auml;ren. Sein Knabe wu&szlig;te freilich recht gut,
+wer der Fischdieb sei, aber er wollte nicht fr&uuml;her sprechen, als bis er
+seinem Herrn den Dieb auch zeigen k&ouml;nnte.</p>
+
+<p>In einer mondhellen Nacht, als er mit seinem Herrn an den See kam, um
+nach den Netzen zu sehen, traf es sich, da&szlig; der Dieb gerade bei der
+Arbeit war. Als sie &uuml;ber den Rand ihres Kahnes in's Wasser blickten,
+sahen sie Beide, wie der alte Bursche aus den Maschen des Netzes Fische
+heraus holte und in seinen Schultersack stopfte. Am folgenden Tage ging
+der Fischer einen ber&uuml;hmten Zauberer um H&uuml;lfe an und bat ihn, den Dieb
+durch seine<span class='pagenum'><a name="Page_130" id="Page_130">[S 130]</a></span> Kunst derma&szlig;en an das Netz zu bannen, da&szlig; er ohne Willen
+des Besitzers sich nicht los machen k&ouml;nne. Das geschah denn auch ganz
+nach des Fischers Wunsch. Als man am folgenden Tage das Netz aus dem See
+herauf wand, kam auch der alte Bursche mit an die Oberfl&auml;che und wurde
+an's Ufer gebracht. Hei! was er da vom Fischer und Fischerknaben
+durchgegerbt wurde! Da er ohne Willen des Zauberers vom Netze nicht
+loskommen konnte, so mu&szlig;te er alle Hiebe ruhig hinnehmen. Die Fischer
+zerschlugen ihm wohl ein Fuder Pr&uuml;gelstecken auf dem Leibe, ohne
+hinzusehen auf welchen K&ouml;rpertheil die Schl&auml;ge fielen. Des alten
+Burschen Kopf blutete und war dick aufgeschwollen, die Aug&auml;pfel traten
+aus ihren H&ouml;hlen, &mdash; es war ein gr&auml;&szlig;licher Anblick &mdash; aber der Fischer
+und sein Knabe hatten kein Erbarmen mit dem gemarterten Teufel, sondern
+ruhten nur von Zeit zu Zeit aus, um von neuem darauf los zu dreschen.
+Als kl&auml;gliches Bitten nicht half, bot der alte Bursche endlich ein hohes
+L&ouml;segeld, ja er versprach dem Fischer die H&auml;lfte seiner Habe und noch
+mehr, wenn der Bann gel&ouml;st w&uuml;rde. Der erz&uuml;rnte Fischer lie&szlig; sich aber
+nicht eher auf den Handel ein, als bis ihm die letzte Kraft ausging, so
+da&szlig; er keinen Stock mehr r&uuml;hren konnte. Endlich kam, nachdem ein Vertrag
+geschlossen worden, der alte Bursche mit H&uuml;lfe des Zauberers vom Netze
+los, worauf er den Fischer bat, er m&ouml;ge nebst seinem Knaben mit ihm
+kommen, um das L&ouml;segeld abzuholen. Wer wei&szlig;, ob er nicht hoffte, sie
+noch durch irgend eine List zu betr&uuml;gen.</p>
+
+<p>Im H&ouml;llenhofe wurde den G&auml;sten ein pr&auml;chtiges Fest bereitet, das &uuml;ber
+eine Woche dauerte und bei welchem es<span class='pagenum'><a name="Page_131" id="Page_131">[S 131]</a></span> an nichts fehlte. Der alte Wirth
+zeigte den G&auml;sten seine Schatzkammern und geheimnisvollen Ger&auml;the, und
+lie&szlig; von seinen Spielleuten dem Fischer zur Erheiterung die sch&ouml;nsten
+Weisen aufspielen. Eines Morgens sprach der Knabe <em class="antiqua">Pikker</em> heimlich zum
+Fischer: &raquo;Wenn du heute wieder bewirthet und geehrt wirst, so bitte dir
+aus, da&szlig; man das Instrument bringe, welche in der Eisenkammer hinter
+sieben Schl&ouml;ssern liegt.&laquo; Bei Tische, als die M&auml;nner schon einen halben
+Rausch hatten, bat der Fischer, man m&ouml;ge ihm das Instrument aus der
+geheimen Kammer zeigen. Der Teufel zeigte sich willig, holte das
+Instrument herbei und fing selbst an darauf zu spielen. Allein obgleich
+er aus Leibeskr&auml;ften hineinblies und die Finger an der R&ouml;hre auf und ab
+bewegte, so war der Ton, den er herausbrachte, doch nicht besser als das
+Geschrei einer Katze, die in den Schwanz gekniffen wird, oder das
+Gequieke eines Ferkels, das man auf die Wolfsjagd nimmt.<a name="FNanchor_55_55" id="FNanchor_55_55"></a><a href="#Footnote_55_55" class="fnanchor">[55]</a> Lachend
+sagte der Fischer: &raquo;Qu&auml;let euch nicht umsonst ab! ich sehe wohl, da&szlig; aus
+euch doch kein Dudelsackbl&auml;ser mehr wird. Mein H&uuml;terknabe wurde es
+besser machen.&laquo; &raquo;Oho!&laquo; rief der Teufel. &mdash; &raquo;Ihr meint vielleicht, das
+Blasen auf dem Dudelsack sei ungef&auml;hr wie das Fl&ouml;ten auf einem
+Weidenrohr, und haltet es f&uuml;r ein Kinderspiel? Komm, Freundchen,
+versuch' es erst, und wenn du oder dein H&uuml;terknabe etwas wie einen Ton
+auf dem Instrumente hervorbringen k&ouml;nnt, so will ich nicht l&auml;nger der
+H&ouml;llenwirth hei&szlig;en.&laquo; &raquo;Da versuch's!&laquo; rief er und reichte das<span class='pagenum'><a name="Page_132" id="Page_132">[S 132]</a></span> Instrument
+dem Knaben hin. Der Knabe <em class="antiqua">Pikker</em> nahm es, als er aber den Mund an die
+R&ouml;hre setzte und hineinblies, da erbebten die W&auml;nde der H&ouml;lle, der
+Teufel und sein Gesinde fielen ohnm&auml;chtig hin und lagen wie todt da.
+Pl&ouml;tzlich stand an Stelle des Knaben der alte Vater Donnerer selbst
+neben dem Fischer, dankte f&uuml;r geleistete H&uuml;lfe und sagte: &raquo;K&uuml;nftig, wenn
+mein Instrument wieder aus den Wolken ert&ouml;nt, soll deinen Netzen reiche
+Gabe beschieden sein.&laquo; Dann trat er eilig die Heimkehr an.</p>
+
+<p>Unterwegs kam ihm der Donnersohn entgegen, fiel auf die Knie, bereute
+seine Schuld und bat dem&uuml;thig um Verzeihung. Der Vater <em class="antiqua">K&otilde;u</em> sagte: &raquo;Oft
+genug vergeht sich des Menschen Leichtsinn gegen die Weisheit des
+Himmels; danke drum deinem Gl&uuml;cke, S&ouml;hnchen, da&szlig; ich wieder Macht habe,
+die Spuren des Elends zu vertilgen, welches deine Thorheit &uuml;ber die
+Leute gebracht hat.&laquo; Mit diesen Worten setzte er sich auf einen Stein
+und blies das Donnerinstrument, bis die Regenpforten sich aufthaten und
+die Erde tr&auml;nkten. Den Donnersohn nahm der alte <em class="antiqua">K&otilde;u</em> als Knecht zu sich,
+und da mu&szlig; er noch sein.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_133" id="Page_133">[S 133]</a></span></p>
+<h2>10. Pikne's Dudelsack.</h2>
+
+
+<p>In der Urzeit hatte Altvater gar viel zu thun, die Welt in Ordnung zu
+bringen, und das nahm ihm vom Morgen bis zum Abend alle seine Zeit, so
+da&szlig; er Manches nicht beachtete, was hier und da hinter seinem R&uuml;cken
+vorging. Riesen standen schon von Anbeginn der Welt wider einander, was
+gar oft die Ruhe st&ouml;rte. So hatten Pikne und der alte T&uuml;hi<a name="FNanchor_56_56" id="FNanchor_56_56"></a><a href="#Footnote_56_56" class="fnanchor">[56]</a> eine
+Zeitlang ihre Kraft aneinander versucht und darum gek&auml;mpft, wer von
+Beiden die Oberhand gew&auml;nne. Obwohl die M&auml;nner Tag und Nacht einander
+auflauerten und sich schier die K&ouml;pfe zerbrachen, ob sie einen
+Gewaltstreich ver&uuml;ben oder List anwenden sollten &mdash; so hatten sie doch
+noch nicht den passenden Augenblick zur Ausf&uuml;hrung ihrer Anschl&auml;ge
+gefunden. Da traf es sich einmal, da&szlig; Pikne, von dem best&auml;ndigen Wachen
+m&uuml;de geworden, eingenickt war und bald wie ein Sack schlief;
+ungl&uuml;cklicherweise hatte er vergessen, sich seinen Dudelsack zu H&auml;upten
+zu legen, wo das Instrument sonst immer seinen Platz fand. Der tiefe
+Schlaf verschlo&szlig; ihm Augen und Ohren so fest, da&szlig; der Mann weder sah
+noch<span class='pagenum'><a name="Page_134" id="Page_134">[S 134]</a></span> h&ouml;rte, was in seiner N&auml;he vorging. Der alte T&uuml;hi, der dem Feinde
+fast immer auf Schritt und Tritt nachsp&uuml;rte, fand den Pikne schlafend,
+trat sachte auf den Zehen heran, nahm den Dudelsack von der Seite des
+Schlafenden und machte sich mit seinem Raube auf die Socken. Dadurch
+hoffte er jetzt des Donnerer's Vater am meisten zu &auml;rgern und die Macht
+desselben zu schw&auml;chen, da&szlig; er das Werkzeug versteckte, welches bis
+dahin das schlimmste Z&uuml;chtigungsmittel f&uuml;r die Bewohner der H&ouml;lle
+gewesen war. Als nun Pikne, aus dem Schlafe erwachend, die Augen weit
+aufsperrte, sah er alsbald, welch einen Verlust ihm, derweil er schlief,
+der Feind verursacht hatte. Da&szlig; kein Andrer als der alte T&uuml;hi den
+Dudelsack hatte stehlen k&ouml;nnen, das war ihm gleich klar; allein wie
+sollte er es anfangen, das ihm gestohlene Eigenthum den Klauen des
+Diebes wieder zu entrei&szlig;en? Wohl h&auml;tte er Altvater die Sache mit den
+Diebstahl klagen und ihn um H&uuml;lfe bitten k&ouml;nnen, aber dadurch h&auml;tte er
+seine eigene Sorglosigkeit verrathen, und Altvater h&auml;tte ihn im Zorn
+noch obendrein gez&uuml;chtigt. Diese Gedanken machten dem Pikne eine
+Zeitlang viel Sorge, und er fl&uuml;chtete sich meist an einsame Orte, wo
+Niemand ihn zu Gesicht bekam. Der alte T&uuml;hi nun, der sonst ungeschlacht
+wie ein Kalb und in allen St&uuml;cken einf&auml;ltig war, hatte doch seine Haut
+immer vor Pikne zu wahren gewu&szlig;t. Sonst f&uuml;rchtete er Pikne's Dudelsack
+wie die Pest, so da&szlig; er schon von weitem davon lief; jetzt aber konnte
+er schon etwas mehr wagen. Er kannte manches heimliche Schlupfloch, wo
+Pikne's Pfeile ihm nichts anhaben konnten: auf dem Meeresgrunde konnte
+er vor Pikne ohne Sorge sein. Pikne dachte gleich, als er des<span class='pagenum'><a name="Page_135" id="Page_135">[S 135]</a></span> alten
+T&uuml;hi Tagelang nicht ansichtig wurde, da&szlig; er irgendwo unter dem Wasser
+versteckt s&auml;&szlig;e, doch fand er immer keinen zweckm&auml;&szlig;igen Plan, wie er des
+Feindes habhaft werden und ihm den Dudelsack wieder abnehmen k&ouml;nnte. Da
+hatte er eines Tages pl&ouml;tzlich einen pr&auml;chtigen Einfall, mit dessen
+Ausf&uuml;hrung er auch nicht s&auml;umte. Er nahm die Gestalt eines kleinen
+Knaben an, ging fr&uuml;h Morgens in ein Dorf am Strande und forschte dort
+nach, ob es nicht m&ouml;glich sei, irgendwo bei einem Fischer in Dienst zu
+treten.</p>
+
+<p>Ein wohlhabender Fischer, Namens Lijon, sagte, nachdem er des feinen
+Knaben Rede angeh&ouml;rt: &raquo;Eine Viehherde habe ich nun zwar nicht, wo ich
+deinesgleichen brauchen k&ouml;nnte, aber ich will dich auf Probe nehmen, ob
+man aus dir nicht mit der Zeit einen Geh&uuml;lfen beim Fischfang machen
+kann. Du siehst mir ganz aus wie ein Gesch&ouml;pf von klugem Geiste, wenn du
+nun auch flei&szlig;ig und folgsam sein wirst, so k&ouml;nnen wir leicht Handels
+einig werden.&laquo; Als er am folgenden Morgen an den See ging, nahm er den
+Knaben mit, und lehrte ihn mit Angel und Netzen umzugehen und alle
+&uuml;brigen Obliegenheiten eines Fischers zu besorgen. Schon nach einigen
+Tagen fand er, da&szlig; ihm der muntere Lehrling von Nutzen war, der alle
+Handgriffe leicht auffa&szlig;te und seinem Herrn auf jedem Schritt beh&uuml;lflich
+zu sein wu&szlig;te. Allm&auml;lig wurde der Knabe gleichsam seine rechte Hand, so
+da&szlig; der Fischer gar nicht mehr allein auf den Fischfang ging. Die
+anderen Fischer nannten den Knaben sp&ouml;ttisch Lijon's Pudel. Der Knabe
+aber nahm den Spitznamen gar nicht &uuml;bel, sondern freute sich des
+unverhofften Gl&uuml;ckes, da&szlig; er jetzt t&auml;glich vom Morgen bis zum Abend auf
+dem Wasser fahren konnte,<span class='pagenum'><a name="Page_136" id="Page_136">[S 136]</a></span> wo der Feind sich doch sicher irgendwo auf
+dem Grunde versteckt hielt.</p>
+
+<p>Jetzt traf es sich, da&szlig; der alte T&uuml;hi seinem Sohne Hochzeit machen und
+den Hochzeitsg&auml;sten pr&auml;chtige Feste geben wollte, so da&szlig; die Leute noch
+lange von seinem Reichthum zu erz&auml;hlen h&auml;tten; &mdash; Eitelkeit ist f&uuml;r den
+Teufel der schlimmste Kitzel! Der alte H&ouml;llenvater streckte die Pfoten
+&uuml;berall hin, wo er einen Fang zu thun hoffte, am meisten aber trachtete
+er, das Getreide von solchen Feldern zu schneiden, auf welchen Andere
+ges&auml;et hatten, so da&szlig; er keine weitere M&uuml;he hatte, als den Flei&szlig; Anderer
+einzusacken. So gerieth er eines Tages auch an den See, dahin, wo der
+Fischer in der Nacht seine Netze ausgelegt hatte. Er holte sich eben
+gem&auml;chlich die Fische aus den Maschen heraus, als der Fischer mit dem
+Knaben kam, um die Netze herauszuziehen. Des Knaben Luchsauge hatte mit
+Blitzesschnelle schon von weitem den Feind unter dem Wasser erblickt. Er
+zog seinen Herrn bei Seite und fl&uuml;sterte ihm in's Ohr, woran es l&auml;ge,
+da&szlig; ihr Fang in den letzten Tagen so schlecht ausgefallen sei. &raquo;Eine
+Diebshand fuschelt jetzt eben am Netze herum&laquo; &mdash; sagte er, indem er mit
+ausgestrecktem Finger des Wirths Auge auf den Dieb lenkte, der eben auf
+dem Grunde des See's bei der Arbeit war und die Kommenden nicht
+bemerkte. Aber Lijon war ein gewiegter Zauberk&uuml;nstler, der eine
+Diebspfote auf frischer That zu bannen wu&szlig;te, so da&szlig; der Dieb nicht
+hoffen konnte, ohne ihn wieder loszukommen. Als er alle geheimen Br&auml;uche
+der Ordnung nach vollzogen hatte, ging er mit dem Knaben wieder heim und
+sagte scherzend: &raquo;Mag er bis morgen<span class='pagenum'><a name="Page_137" id="Page_137">[S 137]</a></span> fr&uuml;h die Fische zahlen, wie viel
+ihrer in's Netz gegangen sind!&laquo; Als man am andern Morgen an den See kam,
+um die Netze herauszuziehen, wurde Altv&auml;terchen T&uuml;hi in der Schlinge
+festgemacht gefunden, und konnte sich nicht losmachen, sondern war
+gen&ouml;tigt, dem Fischer unter die Augen zu treten. Als nun sein Kopf mit
+dem Netze auf die Oberfl&auml;che des Wassers stieg, versetzte ihm der
+Fischer mit dem Ruder von Ebereschenholz gleich einige Hiebe zum Gru&szlig;,
+da&szlig; dem M&auml;nnlein die Ohren sausten. Am Ufer nahmen dann Beide, der
+Fischer und sein Knabe, die Kn&uuml;ttel zur Hand und machten sich daran, dem
+Diebe seinen Lohn auszuzahlen. Obgleich der Knabe von schm&auml;chtigem
+K&ouml;rperbau zu sein schien, so schmeckten doch seine Hiebe so bitter, da&szlig;
+sie dem alten T&uuml;hi durch Mark und Bein gingen und ihm den Athem zu
+benehmen drohten. Da begann T&uuml;hi zu schreien und zu flehen: &raquo;Vergieb mir
+diesmal, Br&uuml;derchen, und h&ouml;re nur meine Entschuldigung an. Noth treibt
+den Ochsen an den Brunnen, und Noth trieb auch mich Armen jetzt an dein
+Netz. Mir steht zu Hause des Sohnes Hochzeit bevor, die, wie du wohl
+wei&szlig;t, sich ohne Fische nicht ausrichten l&auml;&szlig;t. Und da ich selbst keine
+Netze hatte, mu&szlig;te ich schon einige Fische aus deinen Netzen auf Borg
+nehmen. Dies war mein erstes Vergehen gegen dich und soll auch mein
+letztes bleiben. Ich will mein Lebtag das Bad nicht vergessen, das ihr
+mir heute eingeheizt habt. Dein Knabe hat mich so wacker gequ&auml;stet, da&szlig;
+ich meine Knochen nicht f&uuml;hle und nicht Hand noch Fu&szlig; regen kann.&laquo; Der
+Fischer erwiederte: &raquo;Mag denn unser Handel diesmal abgemacht sein. Du
+kennst jetzt meine Netze und wirst dich sicherlich ein ander Mal vor
+ihnen zu h&uuml;ten<span class='pagenum'><a name="Page_138" id="Page_138">[S 138]</a></span> wissen. Nimm den Fischsack auf den R&uuml;cken, und dann geh
+mir flink aus den Augen, da&szlig; ich deine Fersen nicht mehr sehe, oder aber
+&mdash;!&laquo; Bei diesen Worten zeigte er ihm den Stock. Der alte T&uuml;hi k&uuml;&szlig;te dem
+Fischer die F&uuml;&szlig;e zum Dank daf&uuml;r, da&szlig; er so leichten Kaufes losgekommen
+war. Obwohl er aber schon &uuml;ber ein Fuder fremder Fische im Sacke hatte,
+so gel&uuml;stete es ihn doch, noch einen Fisch zu fangen, den er f&uuml;r das
+allerk&ouml;stlichste Gericht hielt. Mit Honigworten begann er den Fischer zu
+bitten, auf seines Sohnes Hochzeit zu Gast zu kommen, denn er hoffte
+dort mit Gewalt oder mit List der Seele des Fischers habhaft zu werden.
+Der Fischer versprach zu kommen, wenn er auch den Knaben mitbringen
+k&ouml;nnte. Der alte T&uuml;hi dachte: &raquo;Vortrefflich, das Gl&uuml;ck scheint mir
+g&uuml;nstiger zu sein, als ich mir vorstellte, hier werden mir zwei f&uuml;r
+einen geboten.&laquo; &raquo;Meinethalben bringe den Bengel mit, wenn du allein
+nicht kommen willst!&laquo; rief er Abschied nehmend und schleppte seine vor
+Schmerz steif gewordenen Glieder weiter.</p>
+
+<p>Obwohl der alte T&uuml;hi nun gew&ouml;hnlich durch und durch ein Filz ist, so
+richtete er doch seinem Sohne eine pr&auml;chtige Hochzeit aus, wo es an
+Nichts fehlte, sondern Ueberflu&szlig;, Glanz und Jubel auf Schritt und Tritt
+sich vor den Augen der G&auml;ste entfalteten. T&uuml;hi zeigte ihnen seinen
+unerme&szlig;lichen Reichthum an Geld und Sch&auml;tzen, womit in seinen Speichern
+Kisten und Kasten bis zum Rande angef&uuml;llt waren. Er lie&szlig; auch mancherlei
+wundersame Instrumente spielen und noch wundersamere T&auml;nze auff&uuml;hren,
+wie es Niemand sonst verstand, als eben nur sein Hausgesinde. &raquo;Bitte ihn
+doch, da&szlig; er den Dudelsack<span class='pagenum'><a name="Page_139" id="Page_139">[S 139]</a></span> herausnimmt, der hinter sieben Schl&ouml;ssern
+liegt, und uns darauf eine Weise vorspielen l&auml;&szlig;t!&laquo; sagte der Knabe
+heimlich zu seinem Herrn. Der Fischer kam seinem Wunsche nach und begann
+sofort dem H&ouml;llenvater anzuliegen, da&szlig; er ihnen seinen wunderbaren
+Dudelsack zeige und den Hochzeitsg&auml;sten zur Lust ein St&uuml;cklein darauf
+spielen lasse.</p>
+
+<p>Der alte T&uuml;hi ging, ohne etwas zu ahnen, zum zweitenmal in die Halle. Er
+holte des Himmelsdonnerers Dudelsack hinter sieben Schl&ouml;ssern hervor,
+legte seine f&uuml;nf Finger an den Hals desselben und fing an aus
+Leibeskr&auml;ften zu blasen. Aber sein Spiel gab einen gr&auml;ulichen Klang.
+&raquo;Werdet nicht b&ouml;se und nehmt es nicht &uuml;bel, wenn ich euch geradeaus
+sage, da&szlig; aus euch kein Meister auf dem Dudelsack mehr wird; mein
+Hirtenknabe k&ouml;nnte es wohl besser machen. Ja ihr k&ouml;nntet bei ihm noch
+alle Tage in die Lehre gehen.&laquo; T&uuml;hi, der keinen Betrug witterte, gab dem
+Knaben den Dudelsack in die Hand. Ob man da ein Wunder sah! Statt des
+Knaben steht pl&ouml;tzlich der alte Pikne selber da und bl&auml;st den Dudelsack
+so gewaltig, da&szlig; der b&ouml;se Geist mit sammt seinem Gesinde zu Boden
+st&uuml;rzt. Pikne eilte darauf mit dem Fischer von dannen, sehr erfreut, da&szlig;
+ihnen die List so vortrefflich gelungen war.</p>
+
+<p>Als sie eine Strecke Weges zur&uuml;ckgelegt hatten, setzten sie sich Beide
+auf den Rand eines breiten Steines, um auszuruhen. Hier begann Pikne zur
+Lust den Dudelsack zu blasen, worauf er dann dem Fischer erz&auml;hlte, was
+f&uuml;r Listen er angewandt, um seinen Dudelsack dem alten T&uuml;hi wieder
+abzunehmen. W&auml;hrend des Gespr&auml;ches fiel pl&ouml;tzlich Regen, welcher die
+ausgetrocknete Erde nach sieben<span class='pagenum'><a name="Page_140" id="Page_140">[S 140]</a></span> Monden wieder erfrischte. Pikne dankte,
+als er schied, seinem gewesenen Brotherrn und versprach, dessen Gebet
+immer zu erh&ouml;ren. Von der Zeit an ist Lijon der Mittelsmann zwischen
+G&ouml;ttern und Menschen geworden und bis auf diesen Tag in diesem Ehrenamte
+geblieben.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_141" id="Page_141">[S 141]</a></span></p>
+<h2>11. Der Zwerge<a name="FNanchor_57_57" id="FNanchor_57_57"></a><a href="#Footnote_57_57" class="fnanchor">[57]</a> Streit.</h2>
+
+
+<p>Es ging einmal ein Mann durch einen Wald und stie&szlig; auf eine kleine
+Lichtung, wo drei Zwerge in argem Streite miteinander begriffen waren.
+Sie schlugen, stie&szlig;en, bissen einander, traten sich mit F&uuml;&szlig;en und
+packten sich an den Haaren, da&szlig; es gr&auml;ulich anzusehen war. Der Mann trat
+n&auml;her und fragte, wor&uuml;ber ihr Zank sich entsponnen. &raquo;Sehr gut, Bauer,
+da&szlig; du gekommen bist,&laquo; schrieen die Zwerge &mdash; &raquo;du kannst Richter sein
+und unsern Zank schlichten!&laquo; Der Mann sagte: &raquo;Erst erz&auml;hlt mir die
+Ursache eures Streites, damit ich Recht sprechen kann. Aber schreit
+nicht Alle zugleich, sondern Einer rede zur Zeit und deutlich, damit ich
+aus dem, was ihr vorbringt, klug werde.&laquo; &mdash; &raquo;Sehr wohl,&laquo; erwiederte
+Einer der Zwerge. &raquo;Ich will dir den Ursprung unserer Streitigkeit
+erkl&auml;ren. Sieh! Gestern starb unser Vater und wir drei Br&uuml;der wollten
+jetzt seine Erbschaft untereinander theilen; und daraus entstand der
+Zank.&laquo; Der Mann fragte: &raquo;Was f&uuml;r eine Erbschaft hinterlie&szlig; euch denn der
+Vater?&laquo; &mdash; &raquo;Hier ist seine ganze Verlassenschaft,&laquo; erwiederte der<span class='pagenum'><a name="Page_142" id="Page_142">[S 142]</a></span>
+wortf&uuml;hrende Zwerg, und zeigte dem Manne einen alten Filzhut, ein Paar
+Bastschuhe und einen t&uuml;chtigen Kn&uuml;ttel.</p>
+
+<p>&raquo;Seid doch nicht unvern&uuml;nftig,&laquo; sagte der Mann, &raquo;sind denn diese
+unn&uuml;tzen Dinge des Zankes werth? Ein Kl&uuml;gerer w&uuml;rde sie alle zusammen
+auf einen Misthaufen werfen. Da ihr das aber nicht wollt, so theilt
+denn. Ihr seid eurer drei und drei Dinge hat der Vater hinterlassen,
+also nehme Einer den Hut, der Andere die Bastschuhe und der Dritte den
+Stock, so ist die Sache in Ordnung.&laquo; &raquo;Das geht nicht!&laquo; schrieen die
+Zwerge. &raquo;Diese Dinge darf Niemand theilen, sonst schwindet die geheime
+Kraft daraus; die Dinge m&uuml;ssen ungetrennt bleiben.&laquo; Der Mann erkundigte
+sich nun weiter, warum man diese unn&uuml;tzen Dinge nicht trennen d&uuml;rfe, und
+Einer der Zwerge gab ihm folgenden Bescheid:</p>
+
+<p>&raquo;Der alte unscheinbare verknitterte Hut, den ihr da sehet, ist f&uuml;r den,
+der ihn tr&auml;gt, der gr&ouml;&szlig;te Schatz.<a name="FNanchor_58_58" id="FNanchor_58_58"></a><a href="#Footnote_58_58" class="fnanchor">[58]</a> Wenn er den Hut auf hat, so sieht
+er Alles, was auf der Welt vorgeht, es sei nah oder fern, sichtbar oder
+unsichtbar; &mdash; ja der Besitzer des Hutes erkennt dann sogar die Gedanken
+der Menschen. Legt er dann noch die Bastschuhe an und sagt: Ich will
+nach Kurland oder Polen, so braucht er nichts weiter zu thun, als den
+Fu&szlig; aufzuheben: augenblicklich gelangt er an die gew&uuml;nschte St&auml;tte.
+Nimmt der Tr&auml;ger des Hutes und der Bastschuhe dann den Stock in die Hand
+und schl&auml;gt damit durch die Luft, so mu&szlig; Alles vor ihm schmelzen, es sei
+Freund oder Feind. Ja starre Felsen, Berge und selbst<span class='pagenum'><a name="Page_143" id="Page_143">[S 143]</a></span> b&ouml;se Geister
+m&uuml;ssen vor diesem Stocke schwinden, denn er ist noch m&auml;chtiger als der
+Donnerkeil, Pikne's Pfeil. Ihr sehet nun selbst, da&szlig; man diese drei
+Dinge nicht trennen darf, sondern wir m&uuml;ssen uns ihrer der Reihe nach
+bedienen, der Eine heute, der Andere morgen und der Dritte &uuml;bermorgen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Die Sache scheint spa&szlig;haft genug,&laquo; sagte der Mann, dem beim Anh&ouml;ren
+dieser Erz&auml;hlung ein guter Gedanke aufstieg. &raquo;Wenn ich aber euren
+Erbschaftsstreit schlichten soll, so mu&szlig; ich erst probiren, ob auch
+Alles wahr ist, was ihr sagt.&laquo; &mdash; &raquo;Das kannst du thun,&laquo; riefen die
+Zwerge wie aus einem Munde, &raquo;aber beeile dich. Heute wird in Kurland
+gerade eine pr&auml;chtige Hochzeit gefeiert, und unsere ganze Freundschaft
+und Sippschaft hat sich dort versammelt. Wir m&ouml;chten auch dahin.&laquo; Der
+Mann erwiederte: &raquo;Das k&ouml;nnt ihr ja leicht machen, wenn die ger&uuml;hmte
+Zauberkraft wirklich in den Dingen steckt.&laquo; Darauf nahm er zuerst den
+alten verknitterten Hut zur Hand, und sah, da&szlig; derselbe nicht aus Filz
+gemacht war, sondern vielmehr aus menschlichen N&auml;gelschnitzeln<a name="FNanchor_59_59" id="FNanchor_59_59"></a><a href="#Footnote_59_59" class="fnanchor">[59]</a>
+bestand.<span class='pagenum'><a name="Page_144" id="Page_144">[S 144]</a></span> Als er den Hut aufsetzte, ward er die pr&auml;chtige Hochzeit in
+Kurland gewahr und Alles, was sonst noch in der weiten Welt geschah.
+Drauf sagte er zu den Zwergen: &raquo;Legt mir nun die Bastschuhe an und gebt
+mir den Stock, dann stellt euch alle drei in eine Reihe, den R&uuml;cken zu
+mir und das Gesicht gegen Morgen gewendet, aber seht euch nicht eher um,
+als bis ich euch den Bescheid ertheile, wie ihr eure Zauberdinge dem
+Willen des Vaters gem&auml;&szlig; theilen m&uuml;sset.&laquo; &mdash; Die einf&auml;ltigen Zwerge
+erf&uuml;llten ohne Widerrede des Richters Gehei&szlig;, kehrten das Gesicht nach
+Morgen und wandten ihm den R&uuml;cken zu. Als der Mann den Hut auf dem Kopfe
+und die Bastschuhe an den F&uuml;&szlig;en hatte, schwang er den Kn&uuml;ttel ein paar
+Mal in der Luft um und lie&szlig; ihn dann hart auf die Zwerge fallen.
+Augenblicklich waren diese wie weggefegt, und es war keine Spur weiter
+von ihnen geblieben, als drei Tropfen Wasser auf<span class='pagenum'><a name="Page_145" id="Page_145">[S 145]</a></span> dem
+Frauenmantel-Blatt,<a name="FNanchor_60_60" id="FNanchor_60_60"></a><a href="#Footnote_60_60" class="fnanchor">[60]</a> auf welchem die M&auml;nnlein gestanden hatten.</p>
+
+<p>Da ihm das erste Probest&uuml;ck so gut gelungen war, beschlo&szlig; der Mann sich
+nach Kurland zur Hochzeit zu begeben. Mit diesem Wunsche hob er den Fu&szlig;
+auf und rief: &raquo;Zur kurischen Hochzeit!&laquo; und war in demselben Augenblicke
+auf dem Feste angekommen. Da fand er eine gro&szlig;e Menge Menschen
+versammelt, Hohe und Niedere, denn der Hochzeitgeber war ein
+vielgenannter reicher Wirth. Da der Mann mit dem Zauberhute Verborgenes
+eben so gut gewahrte, wie Offenbares, so sah er, als er die Augen zur
+Decke emporhob, da&szlig; sich an derselben und auf den D&ouml;rrstangen<a name="FNanchor_61_61" id="FNanchor_61_61"></a><a href="#Footnote_61_61" class="fnanchor">[61]</a> ein
+Schwarm kleiner G&auml;ste befand, deren Menge viel gr&ouml;&szlig;er zu sein schien,
+als die der eingeladenen G&auml;ste unten. Au&szlig;er ihm aber konnte niemand das
+kleine Volk sehen. Die Kleinen fl&uuml;sterten: &raquo;Seht doch! der alte Ohm ist
+auch zur Hochzeit gekommen.&laquo; &mdash; &raquo;Nein!&laquo; riefen andere dagegen, &mdash; &raquo;der
+fremde Mann hat wohl des Ohms Hut, Bastschuhe und Stock, aber der Ohm
+selbst ist nicht hier.&laquo; Inzwischen wurden die Sch&uuml;sseln mit den Speisen
+aufgetragen, und zwar lagen Deckel darauf. Da sah der Allsichtige, was
+von den Uebrigen niemand bemerkte, da&szlig; mit einer wunderbaren
+Geschwindigkeit die guten Speisen aus den Sch&uuml;sseln herausgenom<span class='pagenum'><a name="Page_146" id="Page_146">[S 146]</a></span>men und
+schlechtere daf&uuml;r hineingethan wurden.<a name="FNanchor_62_62" id="FNanchor_62_62"></a><a href="#Footnote_62_62" class="fnanchor">[62]</a> Eben so ging es mit den
+Kannen und Flaschen. Jetzt fragte der Allsichtige nach dem Hausherrn,
+trat mit schicklichem Gru&szlig; zu ihm und sagte: &raquo;Nehmt es nicht &uuml;bel, da&szlig;
+ich als unbekannter Fremder unerwartet zu eurem Feste gekommen bin.&laquo;
+&raquo;Seid willkommen,&laquo; entgegnete der Wirth &mdash;&raquo;Speise und Trank haben wir
+genug, so da&szlig; uns ein und der andere ungeladene Gast nicht l&auml;stig fallen
+kann.&laquo; Der Allsichtige versetzte: &raquo;Ich will es glauben, da&szlig; ein Gast
+mehr oder weniger hier nicht l&auml;stig f&auml;llt, wenn aber die Zahl der
+ungebetenen G&auml;ste die der gebetenen &uuml;bersteigt, da kann doch auch der
+reichste Wirth zu kurz kommen.&laquo; &raquo;Ich verstehe eure Rede nicht,&laquo; sagte
+der Wirth. Der Fremde gab ihm seinen Hut und sagte: &raquo;Setzet meinen Hut
+auf und hebt die Augen zur Decke hinauf, da werdet ihr schon sehen.&laquo; Der
+Wirth that es, und als er sah, was f&uuml;r Streiche die kleinen G&auml;ste mit
+der Mahlzeit ver&uuml;bten, wurde er todtenbleich und rief mit zitternder
+Stimme: &raquo;Ei, Freundchen! von diesen G&auml;sten hat meine Seele nichts
+gewu&szlig;t; und da ich euren Hut wieder abnehme, sind sie verschwunden. Wie
+k&ouml;nnte ich sie wohl los werden?&laquo; Der Eigner des Hutes erwiederte: &raquo;Ich
+will euch die kleinen G&auml;ste bald vom Halse schaffen, wenn ihr die
+geladenen G&auml;ste auf kurze Zeit hinausf&uuml;hren, Th&uuml;ren und Fenster
+sorgf&auml;ltig verschlie&szlig;en und daf&uuml;r sorgen wollt, da&szlig; nirgends ein Astloch
+oder ein Spalt in der Wand unver<span class='pagenum'><a name="Page_147" id="Page_147">[S 147]</a></span>stopft bleibt.&laquo; Obwohl der Festgeber
+dem Dinge nicht recht traute, so that er doch was der Fremde gew&uuml;nscht
+hatte, und bat ihn, die kleinen Windbeutel hinauszujagen.</p>
+
+<p>Nach einer kleinen Weile war das Gemach von den geladenen G&auml;sten
+ger&auml;umt, Th&uuml;ren, Fenster und andere Oeffnungen sorgf&auml;ltig verschlossen,
+und der Allsichtige war mit den kleinen G&auml;sten allein. Da begann er
+seinen Kn&uuml;ttel gegen die Decke und in den Zimmerecken zu schwingen, da&szlig;
+es eine Lust war zu sehen! In wenigen Augenblicken war die ganze Schaar
+der kleinen G&auml;ste vernichtet, und an der Diele lagen so viele
+Wassertropfen, als wenn es stark geregnet h&auml;tte. Nur ein Bohrloch war
+zuf&auml;llig unverstopft geblieben, dahinaus schl&uuml;pfte eins der Zwerglein,
+wiewohl der Kn&uuml;ttel den Fl&uuml;chtling noch gestreift hatte. Dieser st&ouml;hnte
+auf dem Hofe: &raquo;Ai, ai, was f&uuml;r ein Schmerz! Schon manches Mal habe ich
+die Pfeile des alten Papa Pikne geschmeckt, aber das war nichts gegen
+diesen Kn&uuml;ttel.&laquo;</p>
+
+<p>Als der Wirth mit H&uuml;lfe des Wunderhutes sich &uuml;berzeugt hatte, da&szlig; das
+Gemach von den Zwerglein gereinigt war, bat er die G&auml;ste wieder
+einzutreten. Bei Tische durchschaute der Allsichtige die geheimen
+Gedanken der Hochzeitsg&auml;ste, und erfuhr Manches, wovon die Andern nichts
+ahndeten. Der Br&auml;utigam trug mehr Verlangen nach der Habe seines
+Schwiegervaters, als nach seiner jungen Frau; diese, welche als M&auml;dchen
+mit dem Junker des Gutes zu thun gehabt hatte, hoffte durch ihren Mann
+und ihre Haube ihre Schande zu bedecken. &mdash; Jammerschade, da&szlig; in unsern
+Tagen solche H&uuml;te nirgends mehr zu finden sind.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_148" id="Page_148">[S 148]</a></span></p>
+<h2>12. Die Galgenm&auml;nnlein.</h2>
+
+
+<p>Ein Prediger suchte schon seit einiger Zeit einen Knecht, der neben
+seinen andern Gesch&auml;ften auch die Verpflichtung &uuml;bernehmen sollte,
+allmittern&auml;chtlich die Kirchenglocke zu l&auml;uten. Zwar hatten schon viele
+und zum Theil sehr brauchbare M&auml;nner den Dienst angenommen, allein
+sobald sie sich aufgemacht hatten, um das n&auml;chtliche L&auml;uten zu besorgen,
+waren sie pl&ouml;tzlich wie in die Erde gesunken; kein Glockenschlag war zu
+h&ouml;ren, und kein Gl&ouml;ckner kam zur&uuml;ck. Der Prediger hielt die Sache sehr
+geheim, aber das pl&ouml;tzliche Verschwinden so vieler Menschen wurde doch
+allm&auml;hlich ruchbar, und es wollte Niemand mehr bei ihm dienen.</p>
+
+<p>Je bekannter die Sache wurde, desto bedenklicher sch&uuml;ttelten die Leute
+den Kopf, und es fehlte auch nicht an b&ouml;sen Zungen, welche aussprengten,
+da&szlig; der Prediger selber die Knechte umgebracht habe. Nothgedrungen hatte
+er jetzt verdoppelten Lohn nebst guter Kost angeboten. Monate lang hatte
+er jeden Sonntag nach der Predigt von der Kanzel herab verk&uuml;ndet: &raquo;Ich
+brauche einen t&uuml;chtigen Knecht, verspreche reichlichen Lohn, gute
+Nahrung u. s. w.&laquo; &mdash; es war aber<span class='pagenum'><a name="Page_149" id="Page_149">[S 149]</a></span> immer erfolglos geblieben. Da kommt
+eines Tages der schlaue Hans und bietet sich an; er hatte zuletzt bei
+einem geizigen Herrn gedient, darum zog ihn das Versprechen guter
+Nahrung zu dem Geistlichen, und er wollte den Dienst gleich antreten.
+&raquo;Ganz wohl, mein Sohn,&laquo; sagte der Prediger: &raquo;wenn es dir an Muth und
+Gottvertrauen nicht fehlt, so kannst du schon diese Nacht dein
+Probest&uuml;ck ablegen. Morgen wollen wir dann den Dienstvertrag
+abschlie&szlig;en.&laquo;</p>
+
+<p>Hans war damit zufrieden, ging in die Gesinde-Stube und machte sich um
+seinen neuen Dienst keine Sorge. Der Prediger war ein Geizhals und ward
+immer verdrie&szlig;lich, wenn das Gesinde zu viel a&szlig;, de&szlig;halb kam er meist
+w&auml;hrend der Mahlzeit herein, weil er hoffte, die Leute w&uuml;rden in seiner
+Gegenwart weniger dreist zulangen. Er ermahnte das Gesinde, zwischen dem
+Essen recht oft zu trinken, denn er meinte, je mehr Fl&uuml;ssiges Einer im
+Magen habe, desto weniger Platz werde f&uuml;r Brot und Zukost &uuml;brig bleiben.
+Hans aber war schlauer als sein Herr, er leerte den Krug auf einen Zug
+und sagte: &raquo;Das macht noch einmal so viel Platz f&uuml;r die Speise.&laquo; Der
+Prediger w&auml;hnte, da&szlig; sich die Sache wirklich so verhalte, und forderte
+seitdem seine Leute nicht mehr zum Trinken auf. Hans aber lachte
+innerlich, da&szlig; ihm das Schelmst&uuml;ck gelungen war.</p>
+
+<p>Etwa eine Stunde vor Mitternacht ging Hans in die Kirche. Er fand sie
+inwendig erleuchtet und war ein wenig verwundert, als er beim Eintreten
+eine zahlreiche Gesellschaft vorfand, welche nicht die Andacht hier
+zusammengef&uuml;hrt hatte. Die Leute sa&szlig;en um einen langen Tisch<span class='pagenum'><a name="Page_150" id="Page_150">[S 150]</a></span> und
+spielten Karten. Hans empfand keine Furcht, oder, wenn er etwas davon
+versp&uuml;rte, so war er doch klug genug, es sich nicht merken zu lassen. Er
+ging dreist an den Tisch und setzte sich zu den Spielern. Einer
+derselben bemerkte ihn und fragte: &raquo;Freundchen, was hast du hier zu
+suchen?&laquo; Hans sah ihn eine Weile gro&szlig; an und sagte dann lachend: &raquo;Du
+Naseweis solltest dir lieber das Maul stopfen! Wenn Jemand hier ein
+Recht hat zu fragen, so meine ich es zu sein. Wenn ich mich meines
+Rechtes nicht bediene, so w&auml;re es f&uuml;r euch gewi&szlig; das Gescheuteste, euer
+vorlautes Maul zu stopfen!&laquo;</p>
+
+<p>Darauf nahm Hans Karten zur Hand und spielte mit den unbekannten
+M&auml;nnern, als w&auml;ren es seine besten Freunde. Er hatte viel Gl&uuml;ck, denn
+sein Einsatz verdoppelte sich ihm, und dadurch wurden manchem seiner
+Mitspieler die Taschen geleert. Da h&ouml;rte man einen Hahnenschrei,
+Mitternacht mu&szlig;te angebrochen sein, pl&ouml;tzlich erloschen die Lichter und
+im Nu waren die Spieler sammt Tisch und B&auml;nken verschwunden. Hans mu&szlig;te
+in der dunklen Kirche eine Zeitlang herumtappen, bis er endlich den
+Eingang zur Thurmtreppe fand.</p>
+
+<p>Als er den ersten Absatz hinauf geklettert war, sah er auf der obersten
+Stufe ein M&auml;nnlein sitzen, dem der Kopf fehlte. &raquo;Hoho, mein Kleiner, was
+hast du hier zu suchen?&laquo; fragte Hans, und versetzte ihm, ohne die
+Antwort abzuwarten, einen so derben Fu&szlig;tritt in den Nacken, da&szlig; das
+M&auml;nnlein die lange Treppe hinunter rollte. Auf der zweiten, dritten und
+vierten Treppe fand er eben solche stumme W&auml;chter, und lie&szlig; sie einen
+nach dem andern hinunterpurzeln, da&szlig; ihnen alle Knochen im Leibe
+knackten.<span class='pagenum'><a name="Page_151" id="Page_151">[S 151]</a></span></p>
+
+<p>Endlich war Hans ungehindert zur Glocke gelangt. Als er hinauf sah, um
+sich zu &uuml;berzeugen, da&szlig; Alles in geh&ouml;rigem Stande sei, erblickte er noch
+ein kopfloses M&auml;nnlein, das zusammengekauert in der Glocke sa&szlig;. Es hatte
+den Glockenkl&ouml;ppel losgemacht und schien darauf zu warten, da&szlig; Hans den
+Glockenstrang anz&ouml;ge, um ihm dann den schweren Kl&ouml;ppel auf den Kopf zu
+schmei&szlig;en, was dem Gl&ouml;ckner sicher den Tod gebracht h&auml;tte.</p>
+
+<p>&raquo;Halt, Freundchen!&laquo; rief Hans &mdash; &raquo;so haben wir nicht gewettet. Du hast
+wohl gesehen, wie ich deine kleinen Kameraden, ohne ihre eigenen
+Beinchen zu bem&uuml;hen, die Treppe habe hinunter rollen lassen? Gleich
+sollst du hinter ihnen her fliegen. Aber weil du am h&ouml;chsten sitzest,
+sollst du auch die stolzeste Fahrt machen, ich will dich zur Luke
+hinauswerfen, da&szlig; dir die Lust vergehen soll, wiederzukommen.&laquo;</p>
+
+<p>Mit diesen Worten setzte er die Leiter an, um den Kleinen aus der Glocke
+heraus zu holen und seine Drohung wahr zu machen. Das M&auml;nnlein erkannte
+die Gefahr, in der es schwebte, und fing an zu bitten: &raquo;Br&uuml;derchen!
+schone mein armes Leben! Daf&uuml;r will ich dir fest versprechen, da&szlig; weder
+ich noch meine Kameraden dich je wieder beim n&auml;chtlichen L&auml;uten st&ouml;ren
+sollen. Wohl bin ich klein und unansehnlich, allein wer wei&szlig;, ob es sich
+nicht einmal f&uuml;gt, da&szlig; ich dir f&uuml;r deine Wohlthat mehr erstatten kann,
+als einen Bettlerdank.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Du winziger Knirps!&laquo; lachte Hans. &raquo;Deine Dankesgabe wird eine M&uuml;cke auf
+ihrem Schwanze fortbringen k&ouml;nnen! Aber da ich heute gerade bei guter
+Laune bin, so magst du am Leben bleiben. Doch h&uuml;te dich, mir<span class='pagenum'><a name="Page_152" id="Page_152">[S 152]</a></span> wieder in
+die Quere zu kommen, ich m&ouml;chte sonst ein zweites Mal nicht mit dir
+spa&szlig;en.&laquo; Das kopflose M&auml;nnlein dankte dem&uuml;thig, kletterte wie ein
+Eichh&ouml;rnchen an dem Glockenstrang herab und lief die Thurmtreppe
+herunter, als h&auml;tte es Feuer in der Tasche. Hans l&auml;utete jetzt nach
+Herzenslust.</p>
+
+<p>Als der Pfarrer um Mitternacht die Kirchenglocke h&ouml;rte, verwunderte er
+sich und war froh, da&szlig; er doch endlich einen Knecht gefunden, der das
+Probest&uuml;ck gl&uuml;cklich zu Stande gebracht hatte. Hans ging nach gethaner
+Arbeit auf den Heuboden und legte sich schlafen.</p>
+
+<p>Der Pfarrer pflegte fr&uuml;h am Morgen aufzustehen, um nachzusehen, ob die
+Leute bei ihrer Arbeit seien. Alle waren an ihrem Platze, nur der neue
+Knecht fehlte, und keiner wollte ihn gesehen haben. Als nun
+Mittmorgen<a name="FNanchor_63_63" id="FNanchor_63_63"></a><a href="#Footnote_63_63" class="fnanchor">[63]</a> vor&uuml;ber war, und es eilf Uhr wurde und Hans noch immer
+nicht erschien, da ward dem Pfarrer bange und er glaubte nicht anders,
+als da&szlig; der Gl&ouml;ckner sein Ende gefunden habe, wie seine Vorg&auml;nger. Als
+aber das Gesinde durch das Klopfbrett zum Mittagessen zusammengerufen
+wurde, kam auch Hans zum Vorschein. &raquo;Wo bist du den ganzen Vormittag
+gewesen?&laquo; fragte der Pfarrer. &raquo;Ich habe geschlafen,&laquo; antwortete Hans
+g&auml;hnend.</p>
+
+<p>&raquo;Geschlafen!&laquo; rief der Pfarrer erstaunt. &raquo;Du wirst doch nicht meinen,
+da&szlig; du alle Tage bis Mittag schlafen kannst?&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Ich meine,&laquo; erwiederte Hans, &raquo;das ist so klar wie Quellwasser. Niemand
+kann zweien Herren dienen. Wer<span class='pagenum'><a name="Page_153" id="Page_153">[S 153]</a></span> Nachts arbeitet, der mu&szlig; am Tage
+schlafen, so wie f&uuml;r den Tagarbeiter die Nacht zur Ruhe gemacht ist.
+Nehmt mir das n&auml;chtliche Glockenl&auml;uten ab, so bin ich bereit, mit
+Sonnenaufgang an die Arbeit zu gehen. Wenn ich aber Nachts die Glocke
+l&auml;uten soll, so mu&szlig; ich am Tage schlafen, zum allermindesten bis
+Mittag.&laquo;</p>
+
+<p>Nachdem sie lange hin und her gestritten hatten, wurden sie endlich &uuml;ber
+folgende Bedingungen einig. Hans sollte von dem n&auml;chtlichen L&auml;uten
+befreit werden, und von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten, nach
+Mittmorgen eine halbe und nach dem Mittagsessen eine ganze Stunde
+schlafen; den Sonntag aber ganz frei sein. &raquo;Aber,&laquo; sagte der Pfarrer,
+&raquo;bisweilen k&ouml;nnten doch noch Kleinigkeiten vorfallen, besonders im
+Winter, wo die Tage kurz sind, und die Arbeit w&uuml;rde dann l&auml;nger dauern.&laquo;
+&mdash;&raquo;Mit nichten,&laquo; rief Hans, &mdash; &raquo;daf&uuml;r sind im Sommer die Tage wieder
+lang.<a name="FNanchor_64_64" id="FNanchor_64_64"></a><a href="#Footnote_64_64" class="fnanchor">[64]</a> Ich werde nicht mehr thun, als wozu ich verpflichtet bin,
+n&auml;mlich an Werkeltagen von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang arbeiten.&laquo;</p>
+
+<p>Einige Zeit darauf wurde der Pfarrer gebeten, zu einer gro&szlig;en Kindtaufe
+zur Stadt zu kommen. Die Stadt war nur einige Stunden weit vom Pfarrhof,
+dennoch nahm Hans den Brotsack mit. &raquo;Weswegen thust du das?&laquo; fragte der
+Prediger, &raquo;wir werden ja zum Abend in der Stadt sein.&laquo; Hans antwortete:
+&raquo;Wer kann Alles vorher wissen?<span class='pagenum'><a name="Page_154" id="Page_154">[S 154]</a></span> unterwegs kann so Manches vorfallen, was
+unsere Fahrt verz&ouml;gert, und ihr kennt unsern Contract, nach welchem ich
+nur bis Sonnenuntergang verpflichtet bin, euch zu bedienen. Sollte die
+Sonne untergehen, ehe wir die Stadt erreichen, so m&uuml;&szlig;tet ihr schon
+allein weiter fahren.&laquo;</p>
+
+<p>Da der Pfarrer diese Rede f&uuml;r Scherz hielt, gab er ihm keine Antwort,
+und sie fuhren ab. Kurz vorher war frischer Schnee gefallen, den der
+Wind zusammengeweht hatte, so da&szlig; der Weg stellenweise versch&uuml;ttet war
+und schnelles Fahren unm&ouml;glich machte. Unweit der Stadt mu&szlig;ten sie durch
+einen gro&szlig;en Wald. Als sie ihn erreicht hatten, lag die Sonne schon auf
+den Wipfeln der B&auml;ume. Die Pferde schleppten sich langsam Schritt f&uuml;r
+Schritt durch den tiefen Schnee, und Hans drehte sich &ouml;fter nach der
+Sonne um. &raquo;Warum siehst du so oft hinter dich?&laquo; fragte der Pfarrer.
+&raquo;Weil ich im Nacken keine Augen habe,&laquo; erwiederte Hans. &raquo;La&szlig; jetzt deine
+Narrenspossen,&laquo; sagte der Pfarrer, &raquo;und sieh' zu, da&szlig; wir in die Stadt
+kommen, ehe es ganz finster wird.&laquo; Hans fuhr weiter, ohne ein Wort zu
+verlieren, unterlie&szlig; aber nicht, von Zeit zu Zeit die Sonne zu
+beobachten.</p>
+
+<p>Sie mochten etwa in der Mitte des Waldes sein, als die Sonne unterging.
+Hans hielt die Pferde an, nahm seinen Brotsack und stieg aus dem
+Schlitten. &raquo;Nun Hans, bist du toll geworden? was machst du?&laquo; fragte der
+Seelenhirt. Aber Hans gab ruhig zur Antwort: &raquo;Ich will mir hier ein
+Nachtlager zurecht machen, die Sonne ist untergegangen, und meine
+Arbeitszeit ist um.&laquo; Sein Brotherr that alles M&ouml;gliche, er bat und
+drohte abwechselnd, als aber Alles nichts half, versprach er ihm
+zuletzt<span class='pagenum'><a name="Page_155" id="Page_155">[S 155]</a></span> ein gutes Trinkgeld und eine Zulage zum Jahreslohn. &raquo;Sch&auml;mt ihr
+euch nicht, Herr Pastor!&laquo; sagte Hans &mdash;&raquo;wollt ihr der Versucher sein und
+mich vom rechten Wege abbringen, so da&szlig; ich gegen die Abmachung handle?
+Alle Sch&auml;tze der Welt k&ouml;nnen mich dazu nicht verlocken; man fa&szlig;t den
+Mann beim Wort, wie den Ochsen beim Horn. Wollt ihr noch heut Abend zur
+Stadt, so fahret in Gottes Namen allein, ich kann nicht weiter mit euch
+kommen, denn meine Dienst-Stunden sind abgelaufen.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Mein lieber Hans, Goldjunge!&laquo; sagte jetzt der Pfarrer, &raquo;ich darf dich
+hier nicht allein lassen. Blick' nur um dich, so wirst du sehen, in
+welche Gefahr du dich muthwillig begiebst. Dort ist der Richtplatz mit
+dem Galgen, es h&auml;ngen zwei Misseth&auml;ter daran, deren Seelen in der H&ouml;lle
+brennen. Du wirst doch nicht in der N&auml;he solcher Gesellen die Nacht
+zubringen wollen?&laquo; &raquo;Warum denn nicht?&laquo; fragte Hans. &raquo;Die Galgenv&ouml;gel
+h&auml;ngen oben in der Luft, ich nehme mein Nachtlager unten auf der Erde,
+da k&ouml;nnen wir uns einander nichts anhaben.&laquo; Mit diesen Worten kehrte er
+seinem Herrn den R&uuml;cken und ging mit seinem Brotsack davon.</p>
+
+<p>Wollte der Pfarrer die Taufgeb&uuml;hren nicht einb&uuml;&szlig;en, so mu&szlig;te er allein
+zur Stadt fahren. Hier war man nicht wenig erstaunt, ihn ohne Kutscher
+ankommen zu sehen; als er aber seine wunderliche Unterhaltung mit Hans
+erz&auml;hlt hatte, wu&szlig;ten die Leute nicht, wen sie f&uuml;r den gr&ouml;&szlig;ten Thoren
+halten sollten, ob den Herrn oder den Diener.</p>
+
+<p>Hansen war es gleichg&uuml;ltig, was die Leute von ihm dachten oder sagten.
+Mit H&uuml;lfe seines Brotsacks hatte er<span class='pagenum'><a name="Page_156" id="Page_156">[S 156]</a></span> die Forderungen seines Magens
+befriedigt, dann z&uuml;ndete er sich seinen Nasenw&auml;rmer (Pfeife) an, machte
+unter einer breiten &auml;stigen Fichte sein Lager zurecht, wickelte sich in
+seinen warmen Pelz und schlief ein. Einige Stunden mochte er geschlafen
+haben, als ein pl&ouml;tzlicher L&auml;rm ihn aufweckte. Die Nacht war mondhell.
+Dicht neben seinem Lager standen zwei kopflose M&auml;nnlein unter der Fichte
+und f&uuml;hrten zornige Reden. Hans richtete sich in die H&ouml;he, um besser zu
+sehen, aber in demselben Augenblick riefen die M&auml;nnlein: &raquo;Er ist es, er
+ist es!&laquo; Der eine trat dann n&auml;her an Hansen's Lager und sagte: &raquo;Alter
+Freund! ein gl&uuml;cklicher Zufall f&uuml;hrt uns zusammen. Meine Knochen thun
+mir noch weh von der Thurmtreppe her in der Kirche, du hast wohl die
+Geschichte nicht vergessen? daf&uuml;r sollen heute deine Knochen derma&szlig;en
+bearbeitet werden, da&szlig; du Wochenlang an unser Zusammentreffen denken
+sollst. He! Gesellen! Holt aus und macht euch dran!&laquo;</p>
+
+<p>Wie ein dichter M&uuml;ckenschwarm sprangen nun von allen Seiten die
+kopflosen M&auml;nnlein herbei, Alle mit t&uuml;chtigen pr&uuml;geln bewaffnet, die
+gr&ouml;&szlig;er waren als ihre Tr&auml;ger. Die Masse dieser kleinen Feinde drohte
+Gefahr, denn ihre Schl&auml;ge fielen so hart, da&szlig; ein starker Mann kaum
+bessere h&auml;tte f&uuml;hren k&ouml;nnen. Hans glaubte, sein letztes St&uuml;ndlein sei
+gekommen; einem so zahlreichen Feindeshaufen konnte er keinen Widerstand
+leisten. Sein Gl&uuml;ck war es, da&szlig; gerade, als das Pr&uuml;geln im besten Gange
+war, noch ein M&auml;nnlein dazu kam. &raquo;Haltet ein, haltet ein, Kameraden!&laquo;
+rief er den Seinigen zu. &raquo;Dieser Mann war einst mein Wohlth&auml;ter und ich
+bin sein Schuldner. Er schenkte mir<span class='pagenum'><a name="Page_157" id="Page_157">[S 157]</a></span> das Leben, als ich in seiner Gewalt
+war. Hat er einige von euch unsanft die Treppe hinunter geworfen, so ist
+doch gl&uuml;cklicher Weise keiner lahm geworden. Das warme Bad hat die
+zerschlagenen Glieder l&auml;ngst wieder geschmeidigt, darum verzeiht ihm und
+geht nach Hause.&laquo;</p>
+
+<p>Die kopflosen M&auml;nnlein lie&szlig;en sich leicht durch ihren Kameraden
+beschwichtigen und gingen still fort. Hans erkannte jetzt in seinem
+Retter den n&auml;chtlichen Geist in der Kirchenglocke. Dieser setzte sich
+nun unter der Fichte neben Hans nieder und sagte: &raquo;Damals verlachtest du
+mich, als ich dir sagte, vielleicht komme einmal eine Zeit, wo ich dir
+n&uuml;tzlich werden k&ouml;nnte. Heute ist ein solcher Augenblick nun
+eingetreten, und daraus lerne, da&szlig; man auch das kleinste Gesch&ouml;pf auf
+der Welt nicht verachten darf.&laquo; &raquo;Ich danke dir von Herzen,&laquo; sagte Hans
+&mdash; &raquo;meine Knochen sind von ihren Schl&auml;gen wie zermalmt, und ich h&auml;tte
+das Bad leicht mit dem Leben bezahlen k&ouml;nnen, wenn du nicht zu rechter
+Zeit dazu gekommen w&auml;rest.&laquo;</p>
+
+<p>Das kopflose M&auml;nnlein fuhr fort: &raquo;Meine Schuld w&auml;re jetzt getilgt; aber
+ich will mehr thun und dir f&uuml;r die erhaltenen Schl&auml;ge noch
+Schmerzensgeld zahlen. Du brauchst dich nicht l&auml;nger als Knecht bei
+einem geizigen Pastor zu qu&auml;len. Wenn du morgen nach Hause kommst, so
+geh' gleich zur n&ouml;rdlichen Kirchenecke, da wirst du einen gro&szlig;en Stein
+eingemauert finden, der nicht wie die andern mit Kalk get&uuml;ncht ist.
+Uebermorgen Nacht haben wir Vollmond: dann brich um Mitternacht den
+bezeichneten Stein mit der Brechstange aus der Mauer heraus. Unter dem
+Steine wirst du einen unerme&szlig;lichen Schatz finden, an dem viele
+Geschlechter gesammelt haben: goldenes und silbernes<span class='pagenum'><a name="Page_158" id="Page_158">[S 158]</a></span> Kirchenger&auml;the und
+sehr viel baares Geld wurde hier, als einst eine Kriegsnoth herrschte,
+vergraben. Diejenigen, welche den Schatz hier verbargen, sind schon vor
+mehr als hundert Jahren alle gestorben, und keine Seele wei&szlig; jetzt um
+die Sache. Ein Drittel des Geldes mu&szlig;t du unter die Kirchspiels-Armen
+vertheilen, alles Andere ist von Rechtswegen dein Eigenthum, womit du
+verfahren kannst, wie es dir beliebt.&laquo; In diesem Augenblicke h&ouml;rte man
+aus dem fernen Dorfe den Hahnenschrei und pl&ouml;tzlich war das kopflose
+M&auml;nnlein wie weggefegt. Hans konnte lange vor Schmerz in den Gliedern
+nicht einschlafen und dachte viel &uuml;ber den verborgenen Schatz; erst
+gegen Morgen verfiel er in Schlummer.</p>
+
+<p>Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sein Brotherr aus der Stadt
+zur&uuml;ckkam. &raquo;Hans, du warst gestern ein gro&szlig;er Thor, da&szlig; du nicht mit mir
+fuhrst,&laquo; sagte der Pfarrer. &raquo;Sieh', ich habe gut gegessen und getrunken
+und &uuml;berdies noch Geld in der Tasche.&laquo; Indem er so sprach, klapperte er
+mit dem Gelde, um dem Knecht das Herz noch schwerer zu machen. Hans aber
+erwiederte ruhig: &raquo;Ihr, geehrter Herr Pastor, habt f&uuml;r das Bischen Geld
+die Nacht wachen m&uuml;ssen, w&auml;hrend ich im Schlafe hundertmal mehr verdient
+habe.&laquo; &raquo;Zeige mir doch, was hast du verdient?&laquo; fragte der Prediger. Aber
+Hans antwortete: &raquo;Die Narren prahlen mit ihren Kopeken, aber die Klugen
+verstecken ihre Rubel.&laquo;</p>
+
+<p>Zu Hause angelangt, besorgte Hans rasch, was ihm oblag, spannte die
+Pferde aus und warf ihnen Futter vor, ging dann um die Kirche herum und
+fand an der bezeichneten Stelle den nicht get&uuml;nchten Mauerstein.<span class='pagenum'><a name="Page_159" id="Page_159">[S 159]</a></span></p>
+
+<p>In der ersten Nacht des Vollmonds, als die Andern alle schliefen,
+verlie&szlig; er heimlich mit einer Brechstange das Haus, brach mit vieler
+M&uuml;he den Stein heraus und fand in der That die Grube mit dem Gelde, ganz
+wie das M&auml;nnlein gesagt hatte. Am Sonntage vertheilte er den dritten
+Theil unter die Armen des Kirchspiels, k&uuml;ndigte dann dem Prediger auf,
+und da er f&uuml;r die kurze Zeit keinen Lohn verlangte, so wurde er ohne
+Widerrede entlassen. Hans aber zog weit weg, kaufte sich einen sch&ouml;nen
+Bauerhof, nahm ein junges Weib und lebte dann noch viele Jahre gl&uuml;cklich
+und in Frieden.</p>
+
+<p>Zu der Zeit, als mein Gro&szlig;vater H&uuml;terknabe war, lebten in unserm Dorfe
+noch viele alte Leute, welche den Hans gekannt hatten und die Wahrheit
+dieser Geschichte bezeugen konnten.</p>
+
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_160" id="Page_160">[S 160]</a></span></p>
+<h2>13. Wie eine K&ouml;nigstochter sieben Jahre geschlafen.</h2>
+
+
+<p>Einmal war eines gro&szlig;en K&ouml;nigs Tochter pl&ouml;tzlich gestorben, und Trauer
+und Wehklagen erf&uuml;llte das ganze Land. An dem Tage, wo die Todte
+eingesargt werden sollte, kam aus fernen Landen ein weiser Mann
+(Zauberer) in die trauernde K&ouml;nigsstadt. Er schlo&szlig; aus der allgemeinen
+Bek&uuml;mmerni&szlig;, da&szlig; hier etwas Besonderes vorgefallen sein m&uuml;sse und
+fragte, was denn die Bewohner so sehr dr&uuml;cke. Als er Auskunft erhalten
+hatte, begab er sich in den k&ouml;niglichen Palast, nannte sich einen weisen
+Arzt und bat um Zutritt zum K&ouml;nige. Schon auf der Schwelle rief er mit
+starker Stimme: &raquo;Die Jungfrau ist nicht todt, sondern nur m&uuml;de, la&szlig;t sie
+eine Zeitlang ruhen.&laquo; Als der K&ouml;nig diesen Ausspruch geh&ouml;rt hatte,
+befahl er dem Fremden, n&auml;her zu treten. Der Zauberer aber sagte: &raquo;Die
+Jungfrau darf nicht zu Grabe gebracht werden. Ich werde einen Glaskasten
+machen, darin wollen wir sie betten und ruhig schlafen lassen, bis die
+Zeit des Erwachens heran kommt.&laquo;</p>
+
+<p>Der K&ouml;nig war h&ouml;chlich erfreut &uuml;ber diese Rede und versprach dem
+Zauberer reichen Lohn, wenn seine Ver<span class='pagenum'><a name="Page_161" id="Page_161">[S 161]</a></span>hei&szlig;ung sich erf&uuml;llen w&uuml;rde.
+Dieser machte darauf einen gro&szlig;en Glaskasten, legte seidene Kissen
+hinein, bettete die K&ouml;nigstochter darauf, schlo&szlig; den Deckel und lie&szlig; den
+Kasten in ein gro&szlig;es Gemach tragen, jedoch Wachen vor die Th&uuml;r stellen,
+damit Niemand die Schlafende wecke.</p>
+
+<p>Nachdem dies geschehen war, sagte der Zauberer zum K&ouml;nige: &raquo;Sendet jetzt
+&uuml;berall hin und lasset allen Glasvorrath aufkaufen, dann werde ich einen
+Ofen bauen, der gr&ouml;&szlig;er sein wird als eure K&ouml;nigsstadt, und in welchem
+wir unser Glas zu einem Berge zusammenschmelzen wollen. Wenn sechs Jahre
+verstrichen sind, und der Lerchensang den siebenten Sommer ank&uuml;ndigt,
+dann sendet Boten nach allen Richtungen hin, und lasset bekannt machen,
+da&szlig; es jedem jungen Manne erlaubt sei, sich als Bewerber um eure Tochter
+einzufinden. Wer von den Freiern dann, sei es zu Pferde, oder auf seinen
+eigenen F&uuml;&szlig;en, des Glasberges Gipfel erklimmt, der mu&szlig; euer
+Schwiegersohn werden. Wenn n&auml;mlich der auserkorene Mann kommt, was
+binnen sieben Jahren und sieben Tagen geschehen wird, dann wird eure
+Tochter aus dem Schlafe erwachen und dem J&uuml;ngling einen goldenen Ring
+geben. Wer euch diesen Ring bringt, und w&auml;re es der geringste eurer
+Unterthanen, ja auch eines Tagel&ouml;hner's Sohn, dem m&uuml;&szlig;t ihr eure Tochter
+zur Gemahlin geben, sonst wird sie in ewigen Schlaf versinken.&laquo;</p>
+
+<p>Der K&ouml;nig versprach, sich in allen St&uuml;cken nach dieser Vorschrift zu
+richten, und gab sofort Befehl, in allen angr&auml;nzenden L&auml;ndern den
+Glasvorrath anzukaufen. Als das sechste Jahr ablief, war so viel Glas
+beisammen, da&szlig; es eine Fl&auml;che von einer Meile sieben Klafter hoch
+bedeckte.<span class='pagenum'><a name="Page_162" id="Page_162">[S 162]</a></span></p>
+
+<p>Inzwischen hatte der Zauberer seinen Schmelzofen fertig, der so hoch
+war, da&szlig; er fast an die unterste Wolkenschicht reichte. Der K&ouml;nig
+stellte ihm zweitausend Arbeiter zur Verf&uuml;gung, welche das Glas in den
+Ofen thaten. Hier schmolz es, und die Hitze wurde so stark, da&szlig; S&uuml;mpfe,
+Fl&uuml;sse und kleine Seen austrockneten, ja selbst in Quellen und tiefen
+Brunnen eine Abnahme des Wassers zu bemerken war.</p>
+
+<p>W&auml;hrend nun der Zauberer seinen Glasberg zusammenschmilzt, wollen wir in
+eine Bauernh&uuml;tte treten, die nicht weit von der K&ouml;nigsstadt liegt, und
+wo ein alter Vater mit seinen drei S&ouml;hnen wohnt. Die beiden &auml;lteren
+Br&uuml;der waren gescheute, gewiegte Bursche, der j&uuml;ngste aber etwas
+einf&auml;ltig. Als der Vater erkrankte und sein Ende herannahen f&uuml;hlte, lie&szlig;
+er seine S&ouml;hne vor sein Lager treten und sprach folgenderma&szlig;en: &raquo;Ich
+f&uuml;hle, da&szlig; mein Heimgang herannaht, de&szlig;halb will ich euch meinen letzten
+Willen kund thun. Ihr, meine lieben &auml;lteren S&ouml;hne, sollt
+gemeinschaftlich Haus und Acker bestellen, so lange ihr nicht beide
+heirathet. Die Herrschaft zweier Herdesk&ouml;niginnen w&uuml;rde einen Ri&szlig; in's
+Hauswesen bringen. Denn ein altes wahres Wort sagt: &raquo;Wo sieben
+unbeweibte Br&uuml;der friedlich bei einander leben, da wird es zweien Frauen
+zu eng; sie m&uuml;ssen sich zausen.&laquo; Tritt aber dieser Fall ein, so sollt
+ihr Haus und Felder unter einander theilen. Euer j&uuml;ngster Bruder aber,
+der weder zum Wirth noch zum Knecht taugt, soll bei euch Obdach und
+Nahrung finden, so lange er lebt. Zu diesem Behufe vermache ich euch
+beiden meinen Geldkasten. Euer j&uuml;ngster Bruder ist zwar etwas kurz von
+Verstande, aber er hat<span class='pagenum'><a name="Page_163" id="Page_163">[S 163]</a></span> ein gutes Herz, und wird euch eben so willig
+gehorchen, wie er mir immer gehorcht hat.&laquo; Die &auml;lteren Br&uuml;der
+versprachen mit trockenem Auge und gel&auml;ufiger Zunge des Vaters Willen zu
+erf&uuml;llen, der j&uuml;ngste sprach kein Wort und weinte bitterlich. &raquo;Noch Eins
+will ich sagen,&laquo; fuhr der Vater fort &mdash; &raquo;wenn ich todt bin und ihr mich
+begraben habt, so erweiset mir als letzten kleinen Liebesdienst, da&szlig;
+jeder von euch eine Nacht an meinem Grabe wacht.&laquo; Beide &auml;lteren Br&uuml;der
+versprachen mit trockenem Auge und gel&auml;ufiger Zunge, des Vaters Willen
+zu erf&uuml;llen, der j&uuml;ngste sagte kein Wort und weinte bitterlich. Bald
+nach dieser Unterredung hatte der Vater seine Augen auf immer
+geschlossen.</p>
+
+<p>Die beiden &auml;lteren Br&uuml;der richteten ein gro&szlig;es Gastmahl an und luden
+viele G&auml;ste ein, damit der todte Vater mit allen Ehren bestattet werde.
+Sie selbst waren guter Dinge und a&szlig;en und tranken wie auf einer
+Hochzeit, w&auml;hrend ihr dritter Bruder still weinend am Sarge des Vaters
+stand; als der Sarg dann weggetragen und in's Grab gesenkt wurde, da war
+dem j&uuml;ngsten Sohne zu Muthe, als w&auml;ren nun alle Freuden abgestorben und
+mit dem Vater begraben.</p>
+
+<p>Sp&auml;t am Abend, als die letzten G&auml;ste fortgegangen waren, fragte der
+j&uuml;ngste Bruder, wer die erste Nacht am Grabe des Vaters wachen w&uuml;rde.
+Die andern sagten: &raquo;Wir sind m&uuml;de von der Besorgung des Begr&auml;bnisses,
+wir k&ouml;nnen heute Nacht nicht wachen, aber du hast nichts Besseres zu
+thun, also geh du und halte Wache.&laquo;</p>
+
+<p>Der j&uuml;ngste Bruder ging ohne ein Wort zu sagen zum Grabe des Vaters, wo
+Alles still war und nur die<span class='pagenum'><a name="Page_164" id="Page_164">[S 164]</a></span> Grille zirpte. Um nicht einzuschlafen, ging
+er leisen Schrittes auf und ab. Es mochte um Mitternacht sein, als es
+wie von einer klagenden Stimme aus dem Grabe t&ouml;nte:<a name="FNanchor_65_65" id="FNanchor_65_65"></a><a href="#Footnote_65_65" class="fnanchor">[65]</a></p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Wessen Schritt ist's, der da sch&uuml;ttet<br /></span>
+<span class="i0">Groben Kiessand auf die Augen,<br /></span>
+<span class="i0">Schwarze Erde auf die Brauen.&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Der Sohn verstand die Frage und antwortete:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Das ist ja dein j&uuml;ngster Knabe,<br /></span>
+<span class="i0">Dessen Schritt ist's, der da sch&uuml;ttet<br /></span>
+<span class="i0">Groben Kiessand auf die Augen,<br /></span>
+<span class="i0">Schwarze Erde auf die Brauen.&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Die Stimme fragte weiter, warum die &auml;lteren Br&uuml;der nicht zuerst zur
+Wacht gekommen seien, worauf der j&uuml;ngste sie entschuldigte, sie h&auml;tten,
+erm&uuml;det von der Beerdigung, heute nicht kommen k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Wieder hob des Vaters Stimme an: &raquo;Jeder Arbeiter ist seines Lohnes
+werth, darum will ich dir auch deinen Lohn nicht vorenthalten. Es wird
+bald eine Zeit kommen, wo du dir bessere Kleider w&uuml;nschen wirst, um in
+die Gesellschaft vornehmer Leute kommen zu k&ouml;nnen. Dann tritt an mein
+Grab, stampfe mit deiner linken Ferse dreimal auf den Grabh&uuml;gel und
+sprich: &raquo;Lieber Vater, ich bitte um meinen Lohn f&uuml;r die <em class="gesperrt">erste</em> n&auml;chtliche
+Wacht.&laquo;<span class='pagenum'><a name="Page_165" id="Page_165">[S 165]</a></span> Dann wirst du einen Anzug und ein Pferd erhalten. Aber sage
+deinen Br&uuml;dern nichts davon.&laquo;</p>
+
+<p>Mit Tagesanbruch ging der Grabesw&auml;chter heim, fr&uuml;hst&uuml;ckte etwas, um sich
+zu st&auml;rken, und legte sich dann nieder, um zu ruhen.</p>
+
+<p>Als am Abend die Zeit herankam, fragte er bei den Br&uuml;dern an, wer von
+ihnen die Nacht am Grabe des Vaters wachen w&uuml;rde. Die Br&uuml;der antworteten
+sp&ouml;ttisch: &raquo;Nun es wird wohl Niemand kommen, um den Vater aus dem Grabe
+zu stehlen. Wenn du aber Lust hast, so kannst du ja auch diese Nacht
+dort wachen. Aber mit all deinem Wachen wirst du den Vater nicht wieder
+ins Leben zur&uuml;ckrufen.&laquo; Der j&uuml;ngste Bruder wurde &uuml;ber diese lieblose
+Rede noch betr&uuml;bter und verlie&szlig; mit Thr&auml;nen in den Augen das Gemach.</p>
+
+<p>Auf dem Grabe des Vaters war Alles ruhig, wie gestern Nacht, nur die
+Grille zirpte im Grase. Damit er nicht einschliefe, ging er leisen
+Schrittes auf und ab. Es mochte wohl Mitternacht sein, die H&auml;hne hatten
+schon zweimal gekr&auml;ht, als eine klagende Stimme aus dem Grabe sich
+vernehmen lie&szlig;:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Wessen Schritt ist's, der da sch&uuml;ttet<br /></span>
+<span class="i0">Groben Kiessand auf die Augen,<br /></span>
+<span class="i0">Schwarze Erde auf die Brauen?&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Der Sohn verstand die Frage und erwiederte:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Das ist ja dein j&uuml;ngster Knabe,<br /></span>
+<span class="i0">Dessen Schritt ist's, der da sch&uuml;ttet<br /></span>
+<span class="i0">Groben Kiessand auf die Augen,<br /></span>
+<span class="i0">Schwarze Erde auf die Brauen.&laquo;<br /></span>
+<span class='pagenum'><a name="Page_166" id="Page_166">[S 166]</a></span></div></div>
+
+<p>Die Stimme fragte weiter, warum keiner der &auml;lteren Br&uuml;der gekommen sei,
+und der j&uuml;ngste entschuldigte sie, sie seien von dem Tagewerk zu
+erm&uuml;det, um zu wachen.</p>
+
+<p>Wieder hob des Vaters Stimme an: &raquo;Jeder Arbeiter ist seines Lohnes
+werth, darum werde ich dir auch deinen Lohn nicht vorenthalten. Bald
+wird eine Zeit kommen, wo du dir einen noch besseren Anzug w&uuml;nschen
+wirst, als den, welchen du dir gestern verdient hast. Dann tritt nur
+dreist an mein Grab, stampfe mit deiner linken Ferse dreimal auf den
+Grabh&uuml;gel und sprich: &raquo;Lieber Vater, ich bitte um meinen Lohn f&uuml;r die
+<em class="gesperrt">zweite</em> n&auml;chtliche Wacht!&laquo; Sofort wirst du einen pr&auml;chtigeren Anzug und
+ein sch&ouml;neres Pferd erhalten, so da&szlig; die Leute ihre Augen nicht von dir
+wegwenden m&ouml;gen. Aber sage deinen Br&uuml;dern nichts davon.&laquo;</p>
+
+<p>Mit Tagesanbruch ging er von der Grabeswacht nach Hause, fand die beiden
+&auml;lteren Br&uuml;der noch schlafend, fr&uuml;hst&uuml;ckte etwas, um sich zu st&auml;rken,
+streckte sich dann auf die Ofenbank hin und schlief, bis die Sonne schon
+etwas &uuml;ber Mittag stand.</p>
+
+<p>Als am Abend die Zeit wieder herannahte, fragte er die Br&uuml;der, wer von
+ihnen die Nacht am Grabe des Vaters wachen w&uuml;rde? Sie lachten und
+antworteten sp&ouml;ttisch: &raquo;Wer die wohlfeile Arbeit zwei N&auml;chte gethan hat,
+der kann sie auch die dritte Nacht thun. Der Vater wird aus seinem Grabe
+nicht davonlaufen, und noch weniger werden die Leute kommen, ihn zu
+stehlen. W&auml;re er noch bei vollem Verstande gewesen, so h&auml;tte er einen
+Wunsch dieser Art gar nicht ge&auml;u&szlig;ert.&laquo; Der j&uuml;ngste Bruder war sehr
+betr&uuml;bt &uuml;ber<span class='pagenum'><a name="Page_167" id="Page_167">[S 167]</a></span> ihre lieblose Rede, und ging wieder mit thr&auml;nenden Augen
+davon.</p>
+
+<p>Auf dem Grabe des Vaters war Alles still, wie die beiden N&auml;chte zuvor,
+nur die Grille zirpte im Grase, und die Schnepfe<a name="FNanchor_66_66" id="FNanchor_66_66"></a><a href="#Footnote_66_66" class="fnanchor">[66]</a> meckerte unter
+hohem Himmel. Um nicht einzuschlafen, ging der Grabesw&auml;chter leisen
+Schrittes auf und ab. Es mochte Mitternacht sein, die H&auml;hne hatten schon
+zweimal gekr&auml;ht, da rief wieder die klagende Stimme aus dem Grabe:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Wessen Schritt ist's, der da sch&uuml;ttet<br /></span>
+<span class="i0">Groben Kiessand auf die Augen,<br /></span>
+<span class="i0">Schwarze Erde auf die Brauen?&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Der Sohn verstand die Frage und erwiederte:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Das ist ja dein j&uuml;ngster Knabe,<br /></span>
+<span class="i0">Dessen Schritt ist's, der da sch&uuml;ttet<br /></span>
+<span class="i0">Groben Kiessand auf die Augen,<br /></span>
+<span class="i0">Schwarze Erde auf die Brauen.&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Die Stimme fragte wieder, we&szlig;wegen die &auml;lteren Br&uuml;der nicht gekommen
+seien, und erhielt dieselbe Antwort wie gestern.</p>
+
+<p>Aber des Vaters Stimme hob wieder an: &raquo;Jeder Arbeiter ist seines Lohnes
+werth, ich will dir den deinigen nicht vorenthalten. Bald wird eine Zeit
+kommen, wo du an dir selbst erfahren wirst, da&szlig; der Mensch, je mehr er
+hat, desto mehr begehrt. Einem guten Sohne aber, der seinem Vater auch
+nach dem Tode noch Liebe erwies, m&uuml;ssen alle W&uuml;nsche erf&uuml;llt werden.
+Anfangs wollte ich meine verborgenen Sch&auml;tze unter deine Br&uuml;der theilen,
+jetzt bist du mein einziger Erbe. Wenn dir deine pr&auml;chtigen<span class='pagenum'><a name="Page_168" id="Page_168">[S 168]</a></span> Kleider und
+Pferde, die ich dir f&uuml;r die erste und zweite n&auml;chtliche Wacht zum Lohne
+versprach, nicht mehr gefallen, so tritt dreist an mein Grab, stampfe
+mit deiner linken Ferse dreimal auf den Grabh&uuml;gel und sprich: &raquo;Lieber
+Vater, ich bitte um meinen Lohn f&uuml;r die <em class="gesperrt">dritte</em> n&auml;chtliche Wacht!&laquo; und
+augenblicklich wirst du die allerpr&auml;chtigsten Kleider und die
+allerkostbarsten Pferde erhalten. Alle Welt wird mit Bewunderung auf
+dich blicken, deine &auml;lteren Br&uuml;der werden dich beneiden und ein gro&szlig;er
+K&ouml;nig wird dich zum Schwiegersohne w&auml;hlen. Aber sage deinen Br&uuml;dern
+nichts davon.&laquo;</p>
+
+<p>Mit Tagesanbruch ging der Grabesw&auml;chter nach Hause und dachte bei sich
+selbst: so eine Zeit wird f&uuml;r mich Armen wohl niemals kommen. Als er
+dann ein wenig gefr&uuml;hst&uuml;ckt hatte, um sich zu st&auml;rken, streckte er sich
+auf die Ofenbank, schlief ein und erwachte erst, als die Sonne schon in
+den Wipfeln des Waldes stand.</p>
+
+<p>W&auml;hrend er schlief, sprachen die &auml;lteren Br&uuml;der untereinander: &raquo;Dieser
+Nachtwacher und Tagschl&auml;fer wird uns nie zu was n&uuml;tzen, wozu f&uuml;ttern wir
+ihn? Wir th&auml;ten besser, das Futter einem Schweine zu geben, das wir zu
+Weihnacht schlachten k&ouml;nnen.&laquo; Der &auml;lteste Bruder setzte hinzu: &raquo;Werfen
+wir ihn aus dem Hause, er kann vor fremder Leute Th&uuml;ren sein Brod
+betteln.&laquo; Da meinte aber der andere, das w&uuml;rde doch nicht gut angehen,
+und w&uuml;rde ihnen selber Schande bringen, wenn sie, als wohlhabende Leute,
+den Bruder betteln gehen lie&szlig;en. &raquo;Lieber wollen wir ihm die Brosamen von
+unserm Tische hinwerfen, satt soll er nicht dabei werden, aber auch
+nicht Hungers sterben.&laquo;<span class='pagenum'><a name="Page_169" id="Page_169">[S 169]</a></span></p>
+
+<p>Inzwischen hatte der Zauberer seinen Glasberg fertig geschmolzen, und
+der K&ouml;nig hatte &uuml;berall bekannt machen lassen, da&szlig; jeder junge Mann
+kommen d&uuml;rfe, sich um seine Tochter zu bewerben, da&szlig; aber nur demjenigen
+die Jungfrau ihre Hand reichen w&uuml;rde, der zu Pferde oder auf eigenen
+F&uuml;&szlig;en den Gipfel des Glasberges erklimmen w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Der K&ouml;nig lie&szlig; nun ein gro&szlig;es Gelage anrichten f&uuml;r alle die G&auml;ste, die
+sich einfinden w&uuml;rden. Das Gelage sollte drei Tage w&auml;hren; f&uuml;r jeden Tag
+wurden hundert Ochsen und siebenhundert Schweine geschlachtet, und
+f&uuml;nfhundert F&auml;sser Bier gebraut. Die aufgestapelten W&uuml;rste ragten gleich
+W&auml;nden, die Hefenbr&ouml;te<a name="FNanchor_67_67" id="FNanchor_67_67"></a><a href="#Footnote_67_67" class="fnanchor">[67]</a> und Kuchen bildeten Haufen, so hoch wie die
+gr&ouml;&szlig;ten Heuschober.</p>
+
+<p>Die schlafende K&ouml;nigstochter wurde in ihrem Glaskasten auf den Gipfel
+des Glasberges getragen. Von allen Seiten str&ouml;mten Fremde herbei, theils
+um das Wagest&uuml;ck zu versuchen, theils um das Wunder mit anzusehen. Der
+gl&auml;nzende Berg strahlte wie eine zweite Sonne, so da&szlig; man ihn schon
+viele Meilen weit aus der Ferne erblickte.</p>
+
+<p>Unsere alten Bekannten, die beiden &auml;lteren Br&uuml;der, hatten sich
+Festkleider machen lassen und gingen auch zum Gastmahl. Der j&uuml;ngste
+mu&szlig;te zu Hause bleiben, damit er in seinem elenden Aufzuge den schmucken
+Br&uuml;dern keine Schande mache. Aber kaum hatten sich die &auml;lteren Br&uuml;der
+auf den Weg gemacht, so ging der j&uuml;ngste an des Vaters Grab, that, wie
+die Stimme ihn gelehrt hatte, und sprach:<span class='pagenum'><a name="Page_170" id="Page_170">[S 170]</a></span> &raquo;Lieber Vater, ich bitte um
+meinen Lohn f&uuml;r die <em class="gesperrt">erste</em> n&auml;chtliche Wacht!&laquo; &mdash; In dem n&auml;mlichen
+Augenblicke, wo die Bitte &uuml;ber seine Lippen kam, stand ein ehernes Ro&szlig;
+da mit ehernem Zaum, und auf dem Sattel lag die sch&ouml;nste gl&auml;nzende
+R&uuml;stung, vollst&auml;ndig vom Scheitel bis zur Sohle, und Alles pa&szlig;te so gut,
+als w&auml;re es auf seinen Leib gemacht.</p>
+
+<p>Um Mittag kam der eherne Mann auf seinem ehernen Pferde an den Glasberg,
+wo Hunderte und Tausende standen, aber kein Einziger war im Stande, auch
+nur einige Schritte den glatten Berg hinauf zu kommen. Der eherne Reiter
+dr&auml;ngte sich durch die Menge, ritt ein Drittel des Berges hinauf, als
+w&auml;re es geschwendetes Land, kehrte dann um, gr&uuml;&szlig;te den K&ouml;nig und
+verschwand wieder. Manche Zuschauer wollten bemerkt haben, da&szlig; die
+schlafende K&ouml;nigstochter ihre Hand regte, als der eherne Mann
+hinaufritt.</p>
+
+<p>Beide Br&uuml;der konnten am Abend nicht genug von der wunderbaren That des
+ehernen Mannes und seines ehernen Pferdes erz&auml;hlen. Der j&uuml;ngste Bruder
+h&ouml;rte ihre Reden schweigend an, lie&szlig; sich aber nicht merken, da&szlig; er
+selber der Mann gewesen war.</p>
+
+<p>Am andern Morgen gingen die Br&uuml;der mit Sonnenaufgang wieder fort, um die
+Gasterei nicht zu vers&auml;umen. Die Sonne stand in S&uuml;dost, als der j&uuml;ngste
+Bruder an das Grab des Vaters kam; er that nach der Vorschrift und
+sagte: &raquo;Lieber Vater, ich bitte um meinen Lohn f&uuml;r die <em class="gesperrt">zweite</em> n&auml;chtliche
+Wacht!&laquo; In dem n&auml;mlichen Augenblicke, wo die Bitte &uuml;ber seine Lippen
+kam, stand ein silbernes Pferd da mit silbernem Zaum und Sattel, und<span class='pagenum'><a name="Page_171" id="Page_171">[S 171]</a></span>
+auf dem Sattel lag die pr&auml;chtigste gl&auml;nzendste silberne R&uuml;stung,
+vollst&auml;ndig vom Scheitel bis zur Sohle, und Alles pa&szlig;te so gut, als w&auml;re
+es auf seinen Leib gemacht.</p>
+
+<p>Am Mittag kam der silberne Mann mit seinem Silberpferde an den Glasberg,
+wo Hunderte und Tausende standen; aber kein Einziger war im Stande, auch
+nur einige Schritte auf den glatten Berg hinaufzukommen. Der silberne
+Reiter dr&auml;ngte sich durch die Menge, ritt ein gut St&uuml;ck &uuml;ber die H&auml;lfte
+den Glasberg hinauf, der f&uuml;r die Hufe seines Pferdes wie geschwendetes
+Land zu sein schien, kehrte um, gr&uuml;&szlig;te den K&ouml;nig und war gleich darauf
+wieder verschwunden. Heute hatten die Leute deutlich gesehen, da&szlig; die
+schlafende K&ouml;nigstochter bei der Ann&auml;herung des silbernen Mannes ihren
+Kopf bewegt hatte.</p>
+
+<p>Die Br&uuml;der waren am Abend nach Hause gekommen, und konnten nicht genug
+R&uuml;hmens machen von des silbernen Mannes und seines Silberpferdes
+wunderbarer That, meinten aber doch zuletzt, es k&ouml;nne kein wirklicher
+Mensch sein, sondern Alles sei nur ein Zauberblendwerk. Der j&uuml;ngste
+Bruder h&ouml;rte ihren Reden still zu, lie&szlig; sich aber nichts davon merken,
+da&szlig; er selbst der Mann gewesen war.</p>
+
+<p>Am andern Morgen waren beide &auml;lteren Br&uuml;der mit Tagesanbruch wieder
+fortgegangen. An diesem Tage hatte sich noch mehr Volks versammelt, weil
+heute die sieben Jahre und sieben Tage um waren, nach deren Ablauf die
+K&ouml;nigstochter aus ihrem langen Schlafe erwachen sollte. Die Sonne stand
+schon ziemlich hoch, als der j&uuml;ngste Bruder an des Vaters Grab ging. Er
+that nach der Vorschrift und sprach: &raquo;Lieber Vater, ich bitte um meinen
+Lohn f&uuml;r die <em class="gesperrt">dritte</em> n&auml;chtliche Wacht.&laquo; In demselben<span class='pagenum'><a name="Page_172" id="Page_172">[S 172]</a></span> Augenblicke, wo
+diese Bitte &uuml;ber seine Lippen kam, stand ein goldenes Pferd da mit
+goldenem Zaum und Sattel, und auf dem Sattel lag die sch&ouml;nste goldene
+R&uuml;stung, vollst&auml;ndig vom Scheitel bis zur Sohle, und Alles pa&szlig;te so gut,
+als w&auml;re es auf seinen Leib gemacht.</p>
+
+<p>Um Mittag kam der goldene Mann mit seinem Goldpferde an den Glasberg, wo
+Hunderte und Tausende standen, doch kein Einziger war im Stande, auch
+nur einige Schritte den glatten Berg hinaufzukommen. Weder der eherne
+Reiter noch der silberne hatten Spuren auf dem Berge zur&uuml;ckgelassen, der
+glatt geblieben war wie zuvor. Der goldene Reiter dr&auml;ngte sich durch die
+Menge, ritt den Berg hinauf bis zum Gipfel, und der Berg schien f&uuml;r die
+Hufe seines Pferdes wie geschwendetes Land zu sein. Als er oben
+angekommen war, sprang der Deckel des Kastens von selbst auf, die
+schlafende K&ouml;nigstochter richtete sich empor, zog einen goldenen Ring
+von ihrem Finger und gab ihn dem goldenen Reiter. Dieser aber hob die
+Jungfrau auf sein Goldpferd und ritt mit ihr langsam den Berg hinunter.
+Dann legte er sie in des K&ouml;nigs Arme, gr&uuml;&szlig;te anmuthig und war im
+n&auml;chsten Augenblick verschwunden, als w&auml;re er in die Erde gesunken.</p>
+
+<p>Des K&ouml;nigs Freude k&ouml;nnt ihr euch leicht vorstellen. Am andern Tage hatte
+er, dem Rathe des weisen Mannes zufolge, &uuml;berall bekannt machen lassen,
+da&szlig; der, welcher der Prinzessin goldenen Ring zur&uuml;ckbringen w&uuml;rde, sein
+Schwiegersohn werden sollte. Von den G&auml;sten waren die meisten zur Nacht
+dageblieben, um zu sehen, wie die Sache ablaufen werde. Auch unsere
+alten Freunde, die &auml;lteren Br&uuml;der, waren darunter und lie&szlig;en sich die
+Bewir<span class='pagenum'><a name="Page_173" id="Page_173">[S 173]</a></span>thung trefflich munden. Aber ihr Erstaunen war nicht gering, als
+sie sahen, wie ein schlecht gekleideter Mann, in dem sie bald ihren
+verschm&auml;hten Bruder erkannten, an den K&ouml;nig herantrat. Dieser Bettler
+trug in der That den Ring der K&ouml;nigstochter an seiner Hand. Da bereute
+der K&ouml;nig seine Zusage, denn so etwas hatte er nicht ahnden k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>Aber der Zauberer sagte zum K&ouml;nige: &raquo;Der J&uuml;ngling, den ihr seines
+schlechten Auszuges wegen f&uuml;r einen Bettler haltet, ist der Sohn eines
+m&auml;chtigen K&ouml;nigs, dessen Land weit entfernt liegt. Er wurde drei Tage
+nach seiner Geburt von einer b&ouml;sen Frau des R&otilde;ugutaja<a name="FNanchor_68_68" id="FNanchor_68_68"></a><a href="#Footnote_68_68" class="fnanchor">[68]</a> mit einem
+Bauernsohne vertauscht; dieser starb jedoch schon im ersten Monate,
+w&auml;hrend der gestohlene K&ouml;nigssohn in einer Bauernh&uuml;tte aufwuchs und
+seinem vermeintlichen Vater immer gehorsam war.&laquo;</p>
+
+<p>Der K&ouml;nig war durch diese Auskunft zufriedengestellt, und lie&szlig; einen
+gro&szlig;en Hochzeitsschmaus anrichten, der vier Wochen dauerte. Sp&auml;ter
+vererbte er alle seine Reiche auf seinen Schwiegersohn. Sobald dieser
+nur die Bauernkleider abgelegt hatte, benahm er sich gar nicht mehr
+einf&auml;ltig, sondern seinem Stande gem&auml;&szlig; und als kluger Herr. Seine
+Einfalt war ihm ja nicht angeboren, sondern das b&ouml;se Weib hatte sie ihm
+angethan. Sonntags zeigte er sich dem Volke in seiner Goldr&uuml;stung auf
+seinem goldenen Ro&szlig;. Seine vermeintlichen Br&uuml;der waren vor Neid und Wuth
+gestorben.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_174" id="Page_174">[S 174]</a></span></p>
+<h2>14. Der dankbare K&ouml;nigssohn.</h2>
+
+
+<p>Einmal hatte sich ein K&ouml;nig des Goldlandes<a name="FNanchor_69_69" id="FNanchor_69_69"></a><a href="#Footnote_69_69" class="fnanchor">[69]</a> im Walde verirrt und
+konnte, trotz alles Suchens und hin und her Streifens, den Ausweg nicht
+finden. Da trat ein fremder Mann zu ihm und fragte: &raquo;Was suchst du,
+Br&uuml;derchen, hier im dunklen Walde, wo nur wilde Thiere hausen?&laquo; Der
+K&ouml;nig erwiederte: &raquo;Ich habe mich verirrt und suche den Weg nach Hause.&laquo;
+&raquo;Versprecht mir zum Eigenthum, was euch zuerst auf eurem Hofe
+entgegenkommen wird, so will ich euch den rechten Weg zeigen,&laquo; sagte der
+Fremde.</p>
+
+<p>Der K&ouml;nig sann eine Weile nach und erwiederte dann: &raquo;Warum soll ich wohl
+meinen guten Jagdhund einb&uuml;&szlig;en? Ich finde mich wohl auch noch selbst
+nach Hause.&laquo; Da ging der fremde Mann fort, der K&ouml;nig aber irrte noch
+drei Tage im Walde umher, bis sein Speisevorrath zu Ende ging; dem
+rechten Wege konnte er nicht auf die Spur kommen. Da kam der Fremde zum
+zweiten Mal zu ihm und sagte: &raquo;Versprecht ihr mir zum Eigenthum, was
+euch auf eurem Hofe zuerst entgegenkommt?&laquo; Da der<span class='pagenum'><a name="Page_175" id="Page_175">[S 175]</a></span> K&ouml;nig aber sehr
+halsstarrig war, wollte er auch dies Mal noch nichts versprechen.
+Unmuthig durchstreifte er wieder den Wald in die Kreuz und die Quer, bis
+er zuletzt ersch&ouml;pft unter einem Baume niedersank und seine Todesstunde
+gekommen glaubte. Da erschien der Fremde &mdash; es war kein anderer als der
+&raquo;alte Bursche&laquo; selber &mdash; zum dritten Male vor dem K&ouml;nige und sagte:
+&raquo;Seid doch nur kein Thor! Was kann euch an einem Hunde so viel gelegen
+sein, da&szlig; ihr ihn nicht hingeben m&ouml;gt, um euer Leben zu retten?
+Versprecht mir den geforderten F&uuml;hrerlohn, und ihr sollt eurer Noth
+ledig werden und am Leben bleiben.&laquo; &raquo;Mein Leben ist mehr werth, als
+tausend Hunde!&laquo; entgegnete der K&ouml;nig. &raquo;Es h&auml;ngt daran ein ganzes Reich
+mit Land und Leuten. Sei es denn, ich will dein Verlangen erf&uuml;llen,
+f&uuml;hre mich nach Hause!&laquo; Kaum hatte er das Versprechen &uuml;ber die Zunge
+gebracht, so befand er sich auch schon am Saum des Waldes und konnte in
+der Ferne sein Schlo&szlig; sehen. Er eilte hin und das Erste, was ihm an der
+Pforte entgegen kam, war die Amme mit dem k&ouml;niglichen S&auml;ugling, der dem
+Vater die Arme entgegenstreckte. Der K&ouml;nig erschrack, schalt die Amme
+und befahl, das Kind eiligst hinweg zu bringen. Darauf kam sein treuer
+Hund wedelnd angelaufen, wurde aber zum Lohn f&uuml;r seine Anh&auml;nglichkeit
+mit dem Fu&szlig;e fortgesto&szlig;en. So m&uuml;ssen schuldlose Untergebene gar oft
+ausbaden, was die oberen in tollem Wahne Verkehrtes gethan haben.</p>
+
+<p>Als des K&ouml;nigs Zorn etwas verraucht war, lie&szlig; er sein Kind, einen
+schmucken Knaben, gegen die Tochter eines armen Bauern vertauschen, und
+so wuchs der K&ouml;nigs<span class='pagenum'><a name="Page_176" id="Page_176">[S 176]</a></span>sohn am Herde armer Leute auf, w&auml;hrend des Bauern
+Tochter in der k&ouml;niglichen Wiege in seidenen Kleidern schlief. Nach
+Jahresfrist kam der alte Bursche, um seine Forderung einzuziehen und
+nahm das kleine M&auml;dchen mit sich, welches er f&uuml;r das echte Kind des
+K&ouml;nigs hielt, weil er von der betr&uuml;gerischen Vertauschung der Kinder
+nichts erfahren hatte. Der K&ouml;nig aber freute sich seiner gelungenen
+List, lie&szlig; ein gro&szlig;es Freudenmahl anrichten, und den Eltern des
+geraubten Kindes ansehnliche Geschenke zukommen, damit es seinem Sohne
+in der H&uuml;tte an Nichts fehlen m&ouml;ge. Den Sohn wieder zu sich zu nehmen,
+getraute er sich nicht, weil er f&uuml;rchtete, der Betrug k&ouml;nnte dann heraus
+kommen. Die Bauernfamilie war mit dem Tausche sehr zufrieden; sie hatten
+einen Esser weniger am Tische und Brot und Geld im Ueberflu&szlig;.</p>
+
+<p>Inzwischen war der K&ouml;nigssohn zum J&uuml;ngling herangewachsen, und f&uuml;hrte im
+Hause seiner Pflege-Eltern ein herrliches Leben. Aber er konnte dessen
+doch nicht recht froh werden. Denn als er vernommen hatte, wie es
+gelungen war, ihn zu befreien, war er sehr unwillig dar&uuml;ber, da&szlig; ein
+armes unschuldiges M&auml;dchen statt seiner b&uuml;&szlig;en mu&szlig;te, was seines Vaters
+Leichtsinn verschuldet hatte. Er nahm sich daher fest vor, entweder,
+wenn irgend m&ouml;glich, das arme M&auml;dchen frei zu machen, oder mit demselben
+umzukommen. Auf Kosten einer Jungfrau K&ouml;nig zu werden, war ihm zu
+dr&uuml;ckend. Eines Tages legte er heimlich die Tracht eines Bauernknechtes
+an, lud einen Sack Erbsen auf die Schulter und ging in jenen Wald, wo
+sein Vater sich vor achtzehn Jahren verirrt hatte.<span class='pagenum'><a name="Page_177" id="Page_177">[S 177]</a></span></p>
+
+<p>Im Walde fing er laut an zu jammern. &raquo;O ich Armer, wie bin ich irre
+gegangen! Wer wird mir den Weg aus diesem Walde zeigen? Hier ist ja weit
+und breit keine Menschenseele zu treffen!&laquo; Bald darauf kam ein fremder
+Mann mit langem grauen Barte und einem Lederbeutel am G&uuml;rtel, wie ein
+Tatar, gr&uuml;&szlig;te freundlich und sagte: &raquo;Mir ist die Gegend hier bekannt,
+und ich kann euch dahin f&uuml;hren, wohin euch verlangt, wenn ihr mir eine
+gute Belohnung versprecht.&laquo; &raquo;Was kann ich armer Schlucker euch wohl
+versprechen,&laquo; erwiederte der schlaue K&ouml;nigssohn, &raquo;ich habe nichts weiter
+als mein junges Leben, sogar der Rock auf meinem Leibe geh&ouml;rt meinem
+Brotherrn, dem ich f&uuml;r Nahrung und Kleidung dienen mu&szlig;.&laquo; Der Fremde
+bemerkte den Erbsensack auf der Schulter des Andern und sagte: &raquo;Ohne
+alle Habe m&uuml;&szlig;t ihr doch nicht sein, ihr tragt ja da einen Sack, der
+recht schwer zu sein scheint.&laquo; &raquo;In dem Sacke sind Erbsen,&laquo; war die
+Antwort. &raquo;Meine alte Tante ist vergangene Nacht gestorben und hat nicht
+so viel hinterlassen, da&szlig; man den Todtenw&auml;chtern nach Landesbrauch
+gequollene Erbsen vorsetzen kann. Ich habe mir die Erbsen von meinem
+Wirthe um Gottes Lohn ausgebeten, und wollte sie eben hinbringen; um den
+Weg abzuk&uuml;rzen, schlug ich einen Waldpfad ein, der mich nun, wie ihr
+seht, irre gef&uuml;hrt hat.&laquo; &raquo;Also bist du, aus deinen Reden zu schlie&szlig;en,
+eine Waise,&laquo; sagte der Fremde grinsend. &raquo;M&ouml;chtest du nicht in meinen
+Dienst treten, ich suche gerade einen flinken Knecht f&uuml;r mein kleines
+Hauswesen, und du gef&auml;llst mir.&laquo; &raquo;Warum nicht, wenn wir Handels einig
+werden,&laquo; antwortete der K&ouml;nigssohn. Zum Knecht bin ich geboren, fremdes
+Brot schmeckt &uuml;berall<span class='pagenum'><a name="Page_178" id="Page_178">[S 178]</a></span> bitter, da ist es mir denn ziemlich einerlei,
+welchem Wirth ich gehorchen mu&szlig;. Welchen Jahreslohn versprecht ihr mir?&laquo;
+&raquo;Nun,&laquo; sagte der Fremde, &raquo;alle Tage frisches Essen, zwei Mal w&ouml;chentlich
+Fleisch, wenn au&szlig;er Hause gearbeitet wird, Butter oder Str&ouml;mlinge als
+Zukost, vollst&auml;ndige Sommer- und Winterkleidung, und au&szlig;erdem noch zwei
+K&uuml;limit<a name="FNanchor_70_70" id="FNanchor_70_70"></a><a href="#Footnote_70_70" class="fnanchor">[70]</a>-Theil Land zu eigener Nutznie&szlig;ung.&laquo; &raquo;Damit bin ich
+zufrieden,&laquo; sagte der schlaue K&ouml;nigssohn. &raquo;Die Tante k&ouml;nnen auch Andere
+in die Erde bringen, ich gehe mit euch.&laquo;</p>
+
+<p>Der alte Bursche schien mit diesem vorteilhaften Handel sehr zufrieden
+zu sein, er drehte sich wie ein Kreisel auf einem Fu&szlig;e herum, und
+tr&auml;llerte so laut, da&szlig; der Wald davon wiederhallte. Alsdann machte er
+sich mit seinem neuen Knechte auf den Weg, wobei er bem&uuml;ht war, die Zeit
+durch angenehme Plaudereien zu verk&uuml;rzen, ohne zu bemerken, da&szlig; sein
+Gef&auml;hrte je nach zehn und funfzehn Schritten immer eine Erbse aus dem
+Sack fallen lie&szlig;. Ihr Nachtlager hielten die Wanderer im Walde unter
+einer breiten Fichte, und setzten am andern Morgen ihre Reise fort. Als
+die Sonne schon hoch stand, gelangten sie an einen gro&szlig;en Stein. Hier
+machte der Alte Halt, sp&auml;hte &uuml;berall scharf umher, pfiff in den Wald
+hinein und stampfte dann mit dem Hacken des linken Fu&szlig;es dreimal gegen
+den Boden. Pl&ouml;tzlich that sich unter dem Stein eine geheime Pforte auf,
+und es wurde ein Eingang sicht<span class='pagenum'><a name="Page_179" id="Page_179">[S 179]</a></span>bar, welcher der M&uuml;ndung einer H&ouml;hle
+glich. Jetzt fa&szlig;te der alte Bursche den K&ouml;nigssohn beim Arm und befahl
+in strengem Tone: &raquo;Folge mir!&laquo;</p>
+
+<p>Dicke Finsterni&szlig; umgab sie hier, doch kam es dem K&ouml;nigssohne vor, als ob
+ihr Weg immer weiter in die Tiefe f&uuml;hre. Nach einer guten Weile zeigte
+sich wieder ein Schimmer, aber das Licht war weder dem der Sonne, noch
+dem des Mondes zu vergleichen. Scheu erhob der K&ouml;nigssohn den Blick,
+aber er sah weder einen Himmel noch eine Sonne; nur eine leuchtende
+Nebelwolke schwebte &uuml;ber ihnen und schien diese neue Welt zu bedecken,
+in der Alles ein fremdartiges Gepr&auml;ge trug. Erde und Wasser, B&auml;ume und
+Kr&auml;uter, Thiere und V&ouml;gel, Alles erschien anders, als er es fr&uuml;her
+gesehen hatte. Was ihn aber am meisten befremdete, war die wunderbare
+Stille ringsum; nirgends war eine Stimme oder ein Ger&auml;usch zu vernehmen.
+Alles war still wie im Grabe; nicht einmal seine eigenen Schritte
+verursachten ein Ger&auml;usch. Man sah wohl hie und da einen Vogel auf dem
+Aste sitzen mit lang gerecktem Halse und aufgebl&auml;hter Kehle, als ob ein
+Laut heraus komme, aber das Ohr vernahm ihn nicht. Die Hunde sperrten
+die M&auml;uler auf, wie zum Bellen, die Ochsen hoben, wie sie pflegen, den
+Kopf in die H&ouml;he, als ob sie br&uuml;llten, aber weder Gebell noch Gebr&uuml;ll
+wurde h&ouml;rbar. Das Wasser flo&szlig; ohne zu rauschen &uuml;ber die Kiesel des
+flachen Grundes, der Wind bog die Wipfel des Waldes, ohne da&szlig; man ein
+S&auml;useln h&ouml;rte, Fliege und K&auml;fer flogen ohne zu summen. Der alte Bursche
+sprach kein Wort, und wenn sein Gef&auml;hrte zuweilen zu sprechen<span class='pagenum'><a name="Page_180" id="Page_180">[S 180]</a></span>
+versuchte, so f&uuml;hlte er gleich, da&szlig; ihm die Stimme im Munde erstarb.<a name="FNanchor_71_71" id="FNanchor_71_71"></a><a href="#Footnote_71_71" class="fnanchor">[71]</a></p>
+
+<p>So waren sie, wer wei&szlig; wie lange, in dieser unheimlichen stillen Welt
+dahin gezogen, die Angst schn&uuml;rte dem K&ouml;nigssohne das Herz zu und
+str&auml;ubte sein Haar wie Borsten empor, Schauerfrost sch&uuml;ttelte seine
+Glieder &mdash; als endlich, o Wonne! das erste Ger&auml;usch sein lauschendes Ohr
+traf, und dieses Schattenleben zu einem wirklichen zu machen schien. Es
+kam ihm vor, als ob eine gro&szlig;e Ro&szlig;herde sich durch Moorgruud
+durcharbeitete. Nun that auch der alte Bursche seinen Mund auf und
+sagte, indem er sich die Lippen leckte: &raquo;Der Breikessel siedet, man
+erwartet uns zu Hause!&laquo; Wieder waren sie eine Weile weiter gegangen, als
+der K&ouml;nigssohn das Dr&ouml;hnen einer S&auml;gem&uuml;hle zu h&ouml;ren glaubte, in der
+mindestens ein Paar Dutzend S&auml;gen zu arbeiten schienen, der Wirth aber
+sagte: &raquo;Die alte Gro&szlig;mutter schl&auml;ft schon, sie schnarcht.&laquo;</p>
+
+<p>Sie erreichten dann den Gipfel eines H&uuml;gels, und der K&ouml;nigssohn
+entdeckte in einiger Entfernung den Hof seines Wirthes; der Geb&auml;ude
+waren so viele, da&szlig; man das Ganze eher f&uuml;r ein Dorf oder eine kleine
+Vorstadt h&auml;tte halten k&ouml;nnen, als f&uuml;r die Wohnung <em class="gesperrt">eines</em> Besitzers.
+Endlich kamen sie an, und fanden an der Pforte ein leeres<span class='pagenum'><a name="Page_181" id="Page_181">[S 181]</a></span>
+Hundeh&auml;uschen. &raquo;Krieche hinein,&laquo; herrschte der Wirth, &raquo;und verhalte dich
+ruhig, bis ich mit der Gro&szlig;mutter deinetwegen gesprochen habe. Sie ist,
+wie die alten Leute fast alle, sehr eigensinnig, und duldet keinen
+Fremden im Hause.&laquo; Der K&ouml;nigssohn kroch zitternd in's Hundeh&auml;uschen und
+begann schon seine Ueberk&uuml;hnheit, die ihn in diese Klemme gebracht
+hatte, zu bereuen.</p>
+
+<p>Erst nach einer Weile kam der Wirth wieder, rief ihn aus seinem
+Schlupfwinkel heraus und sagte mit verdrie&szlig;lichem Gesicht: &raquo;Merke dir
+jetzt genau unsere Hausordnung und h&uuml;te dich, dagegen zu versto&szlig;en,
+sonst k&ouml;nnte es dir hier recht schlecht gehen:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Augen, Ohren halte offen,<br /></span>
+<span class="i0">Mundes Pforte stets verriegelt!<br /></span>
+<span class="i0">Ohne Weigerung gehorche,<br /></span>
+<span class="i0">Hege, wie du willst, Gedanken,<br /></span>
+<span class="i0">Rede nimmer, wenn gefragt nicht.&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Als der K&ouml;nigssohn &uuml;ber die Schwelle trat, erblickte er ein junges
+M&auml;dchen von gro&szlig;er Sch&ouml;nheit, mit braunen Augen und lockigem Haar. Er
+dachte in seinem Sinne: Wenn der Alte solcher T&ouml;chter viele h&auml;tte, so
+m&ouml;chte ich gern sein Eidam werden! Das M&auml;dchen ist ganz nach meinem
+Geschmack.&laquo; Die sch&ouml;ne Maid ordnete nun, ohne ein Wort zu sprechen, den
+Tisch, trug die Speisen auf und nahm dann bescheiden ihren Sitz am Herde
+ein, als ob sie den fremden Mann gar nicht bemerkt h&auml;tte. Sie nahm Garn
+und Nadeln und fing an, ihren Strumpf zu stricken. Der Wirth setzte sich
+allein zu Tisch, und lud weder Knecht noch Magd dazu, auch die alte
+Gro&szlig;mutter war nirgends zu sehen. Des alten Burschen Appetit war<span class='pagenum'><a name="Page_182" id="Page_182">[S 182]</a></span>
+grenzenlos; binnen Kurzem machte er reine Bahn mit Allem, was er auf dem
+Tische fand, und davon h&auml;tten doch wenigstens ein Dutzend Menschen satt
+werden k&ouml;nnen. Nachdem er endlich seinen Kinnladen Ruhe geg&ouml;nnt hatte,
+sagte er zur Jungfrau: &raquo;Kehre jetzt aus, was auf dem Boden der Kessel
+und Grapen ist, und s&auml;ttiget euch mit den Resten, die Knochen aber
+werfet dem Hunde vor.&laquo;<a name="FNanchor_72_72" id="FNanchor_72_72"></a><a href="#Footnote_72_72" class="fnanchor">[72]</a></p>
+
+<p>Der K&ouml;nigssohn verzog wohl den Mund &uuml;ber das angek&uuml;ndigte
+Kesselbodenkehrichtsmahl, welches er mit dem h&uuml;bschen M&auml;dchen und dem
+Hunde zusammen verzehren sollte. Aber bald erheiterte sich sein Gesicht
+wieder, als er fand, da&szlig; die Reste ein ganz leckeres Mahl auf den Tisch
+lieferten. W&auml;hrend des Essens sah er unverwandt das M&auml;dchen verstohlener
+Weise an, und h&auml;tte wer wei&szlig; wie viel darum gegeben, wenn er einige
+Worte mit ihr h&auml;tte sprechen d&uuml;rfen. Aber sobald er nur den Mund zum
+Sprechen &ouml;ffnen wollte, begegnete ihm der flehende Blick des M&auml;dchens,
+der zu sagen schien: &raquo;Schweige!&laquo; So lie&szlig; denn der J&uuml;ngling seine Augen
+reden, und gab dieser stummen Sprache durch seinen guten Appetit
+Nachdruck, denn die Jungfrau hatte ja doch die Speisen bereitet, und es
+mu&szlig;te ihr angenehm sein, wenn der Gast brav zulangte und ihre K&uuml;che
+nicht verschm&auml;hte. Der Alte hatte sich auf der Ofenbank ausgestreckt und
+machte<span class='pagenum'><a name="Page_183" id="Page_183">[S 183]</a></span> seinem vollen Magen derma&szlig;en Luft, da&szlig; die W&auml;nde davon dr&ouml;hnten.</p>
+
+<p>Nach der Abend-Mahlzeit sagte der Alte zum K&ouml;nigssohn: &raquo;Zwei Tage kannst
+du von der langen Reise ausruhen, und dich im Hause umsehen. Uebermorgen
+Abend aber mu&szlig;t du zu mir kommen, damit ich dir die Arbeit f&uuml;r den
+folgenden Tag anweisen kann; denn mein Gesinde mu&szlig; immer fr&uuml;her bei der
+Arbeit sein, als ich selber aufstehe. Das M&auml;dchen wird dir deine
+Schlafst&auml;tte zeigen.&laquo; Der K&ouml;nigssohn nahm einen Ansatz zum Sprechen,
+aber o weh! der alte Bursche fuhr wie ein Donnerwetter auf ihn los und
+schrie: &raquo;Du Hund von einem Knecht! Wenn du die Hausordnung &uuml;bertrittst,
+so kannst du ohne Weiteres um einen Kopf k&uuml;rzer gemacht werden. Halt das
+Maul und jetzt scher' dich zur Ruhe!&laquo;</p>
+
+<p>Das M&auml;dchen winkte ihm, mitzukommen, schlo&szlig; dann eine Th&uuml;r auf und
+bedeutete ihn, hineinzutreten. Der K&ouml;nigssohn glaubte eine Thr&auml;ne in dem
+Auge des M&auml;dchens quillen zu sehen und w&auml;re gar zu gern noch auf der
+Schwelle stehen geblieben, aber er f&uuml;rchtete den Alten und wagte nicht
+l&auml;nger zu z&ouml;gern. &raquo;Das sch&ouml;ne M&auml;dchen kann doch unm&ouml;glich seine Tochter
+sein,&laquo; dachte der K&ouml;nigssohn, denn sie hat ein gutes Herz. Sie ist am
+Ende gar dasselbe arme M&auml;dchen, welches statt meiner hierhergethan
+wurde, und um dessen willen ich das tolle Wagst&uuml;ck unternahm.&laquo; Es
+dauerte lange, ehe er den Schlaf auf seinem Lager fand, und dann lie&szlig;en
+ihm bange Tr&auml;ume keine Ruhe; er tr&auml;umte von allerlei Gefahr, die ihn
+umstrickte, und &uuml;berall war es die Gestalt der sch&ouml;nen Jungfrau, die ihm
+zu H&uuml;lfe eilte.<span class='pagenum'><a name="Page_184" id="Page_184">[S 184]</a></span></p>
+
+<p>Als er am andern Morgen erwachte, war sein erster Gedanke, da&szlig; er Alles
+thun wolle, was er der Sch&ouml;nen an den Augen absehen k&ouml;nnte. Er fand das
+flei&szlig;ige M&auml;dchen schon bei der Arbeit, half ihr Wasser aus dem Brunnen
+heraufwinden und in's Haus tragen, Holz spalten, das Feuer unter den
+Grapen sch&uuml;ren, und ging ihr bei allen andern Arbeiten zur Hand.
+Nachmittags trat er hinaus, um seine neue Wohnst&auml;tte n&auml;her in
+Augenschein zu nehmen, und wunderte sich sehr, da&szlig; er die alte
+Gro&szlig;mutter nirgends zu Gesicht bekam. Im Stalle fand er ein wei&szlig;es
+Pferd,<a name="FNanchor_73_73" id="FNanchor_73_73"></a><a href="#Footnote_73_73" class="fnanchor">[73]</a> im Pfahlland eine schwarze Kuh mit einem wei&szlig;k&ouml;pfigen Kalbe,
+in andern verschlossenen St&auml;llen glaubte er G&auml;nse, Enten, H&uuml;hner und
+anderes Fasel zu h&ouml;ren. Fr&uuml;hst&uuml;ck und Mittagsessen waren eben so
+schmackhaft gewesen, als Abends zuvor, und er h&auml;tte mit seiner Lage ganz
+zufrieden sein k&ouml;nnen, wenn es ihm nicht so sehr schwer geworden w&auml;re,
+dem M&auml;dchen gegen&uuml;ber seine Zunge im Zaume zu halten. Am Abend des
+zweiten Tages ging er zum Wirth, um die Arbeit f&uuml;r den kommenden Tag zu
+erfahren.</p>
+
+<p>Der Alte sagte: &raquo;F&uuml;r morgen will ich dir eine leichte Arbeit geben. Nimm
+die Sense zur Hand, m&auml;he so viel Gras, als das wei&szlig;e Pferd zu seinem
+Tagesfutter braucht,<span class='pagenum'><a name="Page_185" id="Page_185">[S 185]</a></span> und miste den Stall aus. Wenn ich hin k&auml;me und die
+Krippe leer oder auf der Diele Mist f&auml;nde, so k&ouml;nnte es dir bitterb&ouml;s
+bekommen. H&uuml;te dich davor!&laquo;</p>
+
+<p>Der K&ouml;nigssohn war ganz vergn&uuml;gt, denn er dachte in seinem Sinn: &raquo;Mit
+dem Bischen Arbeit komme ich schon zu Gange; wenn ich auch bis jetzt
+weder Pflug noch Sense gef&uuml;hrt habe, so sah ich doch oft, wie leicht die
+Landleute mit diesen Werkzeugen umgehen, und Kraft genug habe ich.&laquo; Als
+er sich eben auf's Lager hinstrecken wollte, kam das M&auml;dchen leise
+hereingeschlichen, und fragte ihn mit ged&auml;mpfter Stimme: &raquo;Was f&uuml;r eine
+Arbeit hast du bekommen?&laquo; &raquo;Morgen&laquo; &mdash; erwiederte der K&ouml;nigssohn &mdash; &raquo;habe
+ich eine leichte Arbeit; ich soll f&uuml;r das wei&szlig;e Pferd Futtergras m&auml;hen
+und den Stall s&auml;ubern, das ist Alles.&laquo; &raquo;Ach du ungl&uuml;ckseliges Gesch&ouml;pf!&laquo;
+seufzte das M&auml;dchen: &raquo;wie k&ouml;nntest du die Arbeit vollbringen? Das wei&szlig;e
+Pferd, des Wirthes Gro&szlig;mutter, ist ein uners&auml;ttliches Gesch&ouml;pf, welchem
+zwanzig M&auml;her kaum das t&auml;gliche Futter liefern k&ouml;nnten, und andere
+zwanzig h&auml;tten vom Morgen bis Abend zu thun, den Mist aus dem Stalle zu
+f&uuml;hren. Wie w&uuml;rdest du denn allein mit Beidem zu Stande kommen? Merke
+auf meinen Rath und befolge ihn genau. Wenn du dem Pferde einige Schoo&szlig;
+voll Gras in die Krippe gesch&uuml;ttet hast, so mu&szlig;t du aus Weidenreisern
+einen starken Reif flechten, und aus festem Holze einen Keil schnitzen,
+und zwar so, da&szlig; das Pferd sieht, was du thust. Es wird dich sogleich
+fragen, wozu die Dinge dienen sollen, und dann mu&szlig;t du ihm also
+antworten: Mit diesem Reifen binde ich dir das Maul fest, wenn du mehr
+fressen wolltest, als ich dir hinsch&uuml;tte,<span class='pagenum'><a name="Page_186" id="Page_186">[S 186]</a></span> und mit diesem Pflock werde
+ich dir den After verkeilen, wenn du mehr solltest fallen lassen, als
+ich Lust h&auml;tte fortzuschaffen.&laquo; Nachdem das M&auml;dchen dies gesprochen,
+schlich es auf den Zehen eben so leise wieder hinaus, wie es gekommen
+war, ohne dem J&uuml;ngling Zeit zum Dank zu lassen. Er pr&auml;gte sich des
+M&auml;dchens Worte ein, wiederholte sich Alles noch einmal, um nichts zu
+vergessen, und legte sich dann schlafen.</p>
+
+<p>Fr&uuml;h am andern Morgen machte er sich an die Arbeit. Er lie&szlig; die Sense
+wacker im Grase tanzen und hatte zu seiner Freude nach kurzer Zeit so
+viel gem&auml;ht, da&szlig; er einige Schoo&szlig; voll zusammenharken konnte. Als er dem
+Pferde den ersten Schoo&szlig; voll hingeworfen hatte, und gleich darauf mit
+dem zweiten Schoo&szlig; voll in den Stall trat, fand er zu seinem Schrecken
+die Krippe schon leer, und &uuml;ber ein halbes Fuder Mist auf der Diele.
+Jetzt sah er ein, da&szlig; er ohne des M&auml;dchens klugen Rath verloren gewesen
+w&auml;re, und beschlo&szlig;, denselben sogleich zu benutzen. Er begann den Reifen
+zu flechten: das Pferd wandte den Kopf nach ihm hin und fragte
+verwundert: &raquo;S&ouml;hnchen, was willst du mit diesem Reifen machen?&laquo; &raquo;Gar
+nichts,&laquo; entgegnete der K&ouml;nigssohn,&raquo;ich flechte ihn nur, um dir die
+Kinnladen damit fest zu klemmen, falls es dir in den Sinn k&auml;me, mehr zu
+fressen, als ich Lust habe dir aufzusch&uuml;tten.&laquo; Das wei&szlig;e Pferd seufzte
+tief auf und hielt augenblicklich mit Kauen inne.</p>
+
+<p>Der J&uuml;ngling reinigte jetzt den Stall, und dann machte er sich daran,
+den Keil zu schnitzen. &raquo;Was willst du mit diesem Keil machen?&laquo; fragte
+das Pferd wieder. &raquo;Gar nichts,&laquo; war die Antwort. &raquo;Ich mache ihn nur<span class='pagenum'><a name="Page_187" id="Page_187">[S 187]</a></span>
+fertig, um ihn im Nothfalle als Spunt f&uuml;r die Ausleerungspforte zu
+gebrauchen, damit dir das Futter nicht zu rasch durch die Knochen
+schie&szlig;t.&laquo; Das Pferd sah ihn wieder seufzend an, und hatte ihn sicher
+verstanden, denn als Mittag l&auml;ngst vor&uuml;ber war, hatte das wei&szlig;e Pferd
+noch Futter in der Krippe, und die Diele war rein geblieben. Da kam der
+Wirth, um nachzusehen, und als er Alles in bester Ordnung fand, fragte
+er etwas erstaunt: &raquo;Bist du selber so klug, oder hast du kluge
+Rathgeber?&laquo; Der schlaue K&ouml;nigssohn erwiederte schnell: &raquo;Ich habe
+Niemand, als meinen schwachen Kopf und einen m&auml;chtigen Gott im Himmel.&laquo;
+Der Alte warf unwillig die Lippen auf und verlie&szlig; brummend den Stall;
+der K&ouml;nigssohn aber freute sich, da&szlig; Alles gelungen war.</p>
+
+<p>Am Abend sagte der Wirth: &raquo;Morgen hast du keine eigentliche Arbeit, da
+aber die Magd manches Andere im Hause zu besorgen hat, so mu&szlig;t du unsere
+schwarze Kuh melken. H&uuml;te dich aber, da&szlig; keine Milch im Euter
+zur&uuml;ckbleibt. F&auml;nde ich das, so k&ouml;nnte es dir das Leben kosten.&laquo; Der
+K&ouml;nigssohn dachte, als er hinausging: &raquo;wenn dahinter nicht etwa wieder
+eine T&uuml;cke steckt, so kann mir die Arbeit nicht schwer werden; ich habe,
+Gottlob, starke Finger, und will die Zitzen schon so pressen, da&szlig; kein
+Tropfen Milch darin bleiben soll.&laquo; Als er sich eben zur Ruhe legen
+wollte, kam das M&auml;dchen wieder zu ihm und fragte: &raquo;Was f&uuml;r eine Arbeit
+hast du morgen?&laquo; &raquo;Morgen habe ich Gesellentag&laquo; &mdash; antwortete der
+K&ouml;nigssohn. &raquo;Ich bin morgen den ganzen Tag frei, und habe nichts weiter
+zu thun, als die schwarze Kuh zu melken, so da&szlig; kein Tropfen Milch im
+Euter zur&uuml;ckbleibt.&laquo; &raquo;O du ungl&uuml;ckseliges<span class='pagenum'><a name="Page_188" id="Page_188">[S 188]</a></span> Gesch&ouml;pf! wie wolltest du das
+zu Stande bringen,&laquo; sagte das M&auml;dchen seufzend. &raquo;Du mu&szlig;t wissen, lieber
+unbekannter J&uuml;ngling, da&szlig;, wenn du auch vom Morgen bis zum Abend
+ununterbrochen melken w&uuml;rdest, du doch nimmer das Euter der schwarzen
+Kuh leeren k&ouml;nntest; die Milch str&ouml;mt gleich einer Wasserader
+ununterbrochen. Ich sehe wohl, da&szlig; der Alte dich verderben will. Aber
+sei unbesorgt, so lange ich am Leben bin, soll dir kein Haar gekr&uuml;mmt
+werden. Achte auf meinen Rath und befolge ihn p&uuml;nktlich, so wirst du der
+Gefahr entgehen. Wenn du zum Melken gehst, so nimm einen Topf voll
+gl&uuml;hender Kohlen und eine Schmiedezange mit. Im Stalle lege die Zange in
+die Kohlen und blase diese zu heller Flamme an. Wenn die schwarze Kuh
+dich dann fragt, we&szlig;halb du das thust, so antworte ihr, was im dir jetzt
+in's Ohr sagen werde.&laquo; Das M&auml;dchen fl&uuml;sterte ihm einige Worte in's Ohr,
+und schlich dann auf den Zehen, wie sie gekommen war, aus dem Zimmer.
+Der K&ouml;nigssohn legte sich schlafen.</p>
+
+<p>Kaum strahlte die Morgenr&ouml;the am Himmel, als er sich schon von seinem
+Lager erhob, den Melkk&uuml;bel in die eine und den Kohlentopf in die andere
+Hand nahm und in den Stall ging. Er machte Alles so, wie das M&auml;dchen am
+Abend zuvor angegeben hatte. Befremdet sah die schwarze Kuh seinem
+Treiben eine Weile zu, dann fragte sie: &raquo;Was machst du da, S&ouml;hnchen?&laquo;
+&raquo;Gar nichts,&laquo; war die Antwort. &raquo;Ich will die Zange nur rothgl&uuml;hend
+machen, weil manche Kuh die niedertr&auml;chtige Gewohnheit hat, nach dem
+Melken noch Milch im Euter zu behalten, und da ist kein besserer Rath,
+als ihr die Zitzen mit einer<span class='pagenum'><a name="Page_189" id="Page_189">[S 189]</a></span> gl&uuml;henden Zange zusammenzukneifen, damit
+sich die Milch nicht unn&uuml;tz in's Euter ergie&szlig;e.&laquo; Die schwarz Kuh seufzte
+tief auf und sah den Melkenden scheu an. Der K&ouml;nigssohn nahm den K&uuml;bel,
+melkte das Euter aus, und als er es nach einer Weile wieder anzog, fand
+er nicht einen Tropfen Milch. Sp&auml;ter kam der Wirth in den Stall, zog und
+dr&uuml;ckte wiederholt an den Zitzen, fand aber keine Milch, und fragte mit
+b&ouml;ser Miene: &raquo;Bist du selbst so klug, oder hast du kluge Rathgeber?&laquo; Der
+K&ouml;nigssohn antwortete: &raquo;Ich habe Niemand, als meinen schwachen Kopf und
+einen m&auml;chtigen Gott im Himmel.&laquo; Der Alte ging aufgebracht fort.</p>
+
+<p>Als der K&ouml;nigssohn sich am Abend beim Wirth nach seiner Arbeit
+erkundigte, sagte dieser: &raquo;Ich habe noch ein Schoberchen Heu auf der
+Wiese stehen, das ich bei trockener Witterung unter Dach bringen m&ouml;chte.
+F&uuml;hre mir morgen das Heu ein, aber h&uuml;te dich, da&szlig; nicht das Mindeste
+zur&uuml;ckbleibt, sonst k&ouml;nntest du dein Leben einb&uuml;&szlig;en.&laquo; Der K&ouml;nigssohn
+verlie&szlig; vergn&uuml;gt das Zimmer und dachte: &raquo;Heu f&uuml;hren ist keine gro&szlig;e
+Arbeit, ich habe weiter keine M&uuml;he, als aufzuladen, das Pferd mu&szlig;
+ziehen. Ich werde die Gro&szlig;mutter dieses Wirths nicht schonen.&laquo; Abends
+kam das M&auml;dchen wieder zu ihm geschlichen, und fragte ihn nach seiner
+Arbeit f&uuml;r morgen. Der K&ouml;nigssohn sagte lachend: &raquo;Hier lerne ich alle
+Arten von Bauernarbeit, morgen soll ich ein Schoberchen Heu einf&uuml;hren,
+und nur darauf achten, da&szlig; nicht das Mindeste zur&uuml;ckbleibt; das ist mein
+ganzes Tagewerk.&laquo; &raquo;Ach du ungl&uuml;ckseliges Gesch&ouml;pf,&laquo; seufzte das M&auml;dchen:
+&raquo;wie k&ouml;nntest du das vollbringen? Wolltest du auch mit allen Leuten
+eines noch<span class='pagenum'><a name="Page_190" id="Page_190">[S 190]</a></span> so gro&szlig;en Gebiets eine ganze Woche lang Heu f&uuml;hren, so
+w&uuml;rdest du doch dieses Schoberchen nicht fortschaffen. Was von oben her
+weggenommen wird, das w&auml;chst vom Grunde auf wieder nach. Merke wohl, was
+ich dir sage: du mu&szlig;t morgen vor Tagesanbruch aufstehen, das wei&szlig;e Pferd
+aus dem Stalle ziehen, und einige starke Stricke mitnehmen. Dann geh an
+den Heuschober, lege die Stricke herum, und schirre das Pferd an die
+Stricke. Wenn du damit fertig bist, so klettere auf den Schober hinauf,
+und fang' an zu z&auml;hlen: eins, zwei, drei, vier, f&uuml;nf, sechs und so
+weiter. Das Pferd wird dich sogleich fragen, was du da z&auml;hlst, dann mu&szlig;t
+du antworten, was ich dir in's Ohr sage.&laquo; Das M&auml;dchen fl&uuml;sterte ihm das
+Geheimni&szlig; zu, und verlie&szlig; das Zimmer; der K&ouml;nigssohn wu&szlig;te nichts
+Besseres zu thun, als zu Bette zu gehen.</p>
+
+<p>Als er den andern Morgen erwachte, fiel ihm sogleich des M&auml;dchens guter
+Rath von gestern ein; er nahm starke Stricke, eilte in den Stall, f&uuml;hrte
+das wei&szlig;e Pferd heraus, schwang sich darauf und ritt zum Heuschober, der
+aber mindestens an funfzig Fuder hielt, also kein &raquo;Schoberchen&laquo; zu
+nennen war. Der K&ouml;nigssohn that Alles, was ihm das M&auml;dchen gehei&szlig;en
+hatte, und als er endlich, oben auf dem Heuschober sitzend, bis zwanzig
+gez&auml;hlt hatte, fragte das wei&szlig;e Pferd verwundert: &raquo;Was z&auml;hlst du da,
+S&ouml;hnchen?&laquo; &raquo;Gar nichts,&laquo; war die Antwort. &raquo;Ich machte mir nur den Spa&szlig;,
+die Wolfsherde dort am Walde zu z&auml;hlen, aber es sind ihrer so viel, da&szlig;
+ich nicht damit fertig werde.&laquo; Kaum hatte er das Wort &raquo;Wolfsherde&laquo;
+heraus, als auch das wei&szlig;e Pferd wie der Wind davon scho&szlig;, so da&szlig; es in
+einigen Augenblicken mit<span class='pagenum'><a name="Page_191" id="Page_191">[S 191]</a></span> dem Schober zu Hause war. Des Wirths Erstaunen
+war nicht gering, als er nach dem Fr&uuml;hst&uuml;ck hinauskam, und das Tagewerk
+des Knechts schon gethan fand. &raquo;Bist du selber so klug, oder hast du
+kluge Rathgeber?&laquo; fragte der Alte, worauf der K&ouml;nigssohn erwiederte:
+&raquo;Ich habe Niemand, als meinen schwachen Kopf und einen m&auml;chtigen Gott im
+Himmel.&laquo; Der Alte ging kopfsch&uuml;ttelnd und fluchend von dannen.</p>
+
+<p>In der Abendd&auml;mmerung ging der K&ouml;nigssohn wieder zu ihm, nach seiner
+Arbeit zu fragen. Der Wirth sagte: &raquo;Morgen mu&szlig;t du mir das wei&szlig;k&ouml;pfige
+Kalb auf die Weide f&uuml;hren, doch h&uuml;te dich, da&szlig; es sich nicht verl&auml;uft,
+sonst k&ouml;nntest du leicht dein Leben einb&uuml;&szlig;en.&laquo; Der K&ouml;nigssohn dachte bei
+sich: &raquo;mancher zehnj&auml;hrige Bauerbursch mu&szlig; eine ganze Herde h&uuml;ten, da
+kann mir doch die Hut eines einzigen Kalbes nicht schwer werden.&laquo; Als er
+sich eben schlafen legen wollte, kam das M&auml;dchen wieder in seine Kammer
+geschlichen und fragte, was f&uuml;r eine Arbeit er morgen habe. &raquo;Morgen habe
+ich Faullenzerarbeit,&laquo; sagte der K&ouml;nigssohn, &raquo;ich soll mit dem
+wei&szlig;k&ouml;pfigen Kalbe auf die Weide gehen.&laquo; &raquo;O du ungl&uuml;ckseliges Gesch&ouml;pf,&laquo;
+seufzte das M&auml;dchen: &raquo;damit wirst du wohl nimmer durchkommen. Du mu&szlig;t
+wissen, da&szlig; dieses Kalb eine solche Rennwuth hat, da&szlig; es an einem Tage
+dreimal um die Welt laufen k&ouml;nnte. Merke dir genau, was ich dir jetzt
+sagen will. Nimm diesen Seidenfaden, binde das eine Ende an das linke
+Vorderbein des Kalbes, und das andere Ende an den kleinen Zeh deines
+linken Fu&szlig;es, dann wird das Kalb keinen Schritt von deiner Seite
+weichen, gleichviel ob du gehst, stehst oder liegst.&laquo;<span class='pagenum'><a name="Page_192" id="Page_192">[S 192]</a></span> Darauf ging das
+M&auml;dchen fort, und der K&ouml;nigssohn legte sich schlafen, aber es &auml;rgerte
+ihn, da&szlig; er wieder vergessen hatte, f&uuml;r den guten Rath zu danken.</p>
+
+<p>Den andern Morgen that er p&uuml;nktlich, was ihm das gute M&auml;dchen
+vorgeschrieben hatte, und f&uuml;hrte das Kalb an dem seidenen Faden auf die
+Weide, wo es, wie ein treues H&uuml;ndlein, keinen Schritt von seiner Seite
+wich. Bei Sonnenuntergang f&uuml;hrte er es wieder in den Stall, als ihm der
+Wirth auch schon entgegenkam und mit zornfunkelndem Blick fragte: &raquo;Bist
+du selber so klug, oder hast du kluge Rathgeber?&laquo; Der K&ouml;nigssohn
+erwiderte: &raquo;Ich habe Niemand, als meinen schwachen Kopf und einen
+m&auml;chtigen Gott im Himmel.&laquo; Wieder ging der Alte w&uuml;thend davon, und der
+K&ouml;nigssohn glaubte nun dar&uuml;ber im Reinen zu sein, da&szlig; die Nennung des
+g&ouml;ttlichen Namens den alten Burschen jedesmal in Harnisch brachte.</p>
+
+<p>Sp&auml;t Abends ging er wieder zum Wirth, um dessen Befehle f&uuml;r den
+folgenden Tag einzuholen. Der Wirth gab ihm ein S&auml;ckchen mit Gerste und
+sagte: &raquo;Morgen hast du einen Feiertag und kannst ausschlafen, aber daf&uuml;r
+mu&szlig;t du dich heute Nacht brav r&uuml;hren. S&auml;e mir sogleich diese Gerste aus,
+sie wird rasch wachsen und reifen; dann schneidest du sie, drischst sie
+und windigest sie, so da&szlig; du sie m&auml;lzen und mahlen kannst. Aus dem
+erhaltenen Malzmehl mu&szlig;t du mir Bier brauen, und morgen fr&uuml;h, wenn ich
+erwache, mir eine Kanne frischen Biers zum Morgentrunk bringen. Hab'
+Acht, da&szlig; meine Befehle genau befolgt werden, sonst k&ouml;nntest du leicht
+das Leben einb&uuml;&szlig;en.&laquo;</p>
+
+<p>Niedergeschlagen, mit sorgenschwerem Herzen verlie&szlig; der K&ouml;nigssohn das
+Gemach, blieb drau&szlig;en stehen und<span class='pagenum'><a name="Page_193" id="Page_193">[S 193]</a></span> weinte bitterlich. Er sprach zu sich
+selbst: &raquo;Die heutige Nacht ist meine letzte, solch' eine Arbeit kann
+kein Sterblicher vollbringen, und ebensowenig kann mir des klugen
+M&auml;dchens Rath hier helfen. O ich ungl&uuml;ckseliges Gesch&ouml;pf! warum habe ich
+leichtsinnig das K&ouml;nigsschlo&szlig; verlassen und mich in Gefahren verstrickt.
+Nicht einmal den Sternen des Himmels kann ich mein bitteres Leid klagen,
+denn hier sieht man weder Himmel noch Sterne, doch haben wir einen Gott,
+der &uuml;berall ist.&laquo; Als er mit seinem Gerstens&auml;cklein dastand, &ouml;ffnete
+sich die Hausth&uuml;r und das liebe M&auml;dchen trat zu ihm heraus. Sie fragte,
+was ihn so betr&uuml;be, und der J&uuml;ngling antwortete mit Thr&auml;nen in den
+Augen: &raquo;Ach, meine letzte Stunde ist gekommen, wir m&uuml;ssen auf immer
+scheiden. Vernimm denn noch Alles, ehe ich scheide: ich bin eines
+m&auml;chtigen K&ouml;nigs einziger Sohn, dem der Vater einst ein gro&szlig;es Reich
+hinterlassen sollte; aber nun ist Alles hin, Gl&uuml;ck und Hoffnung.&laquo; Dann
+erz&auml;hlte er ihr unter h&auml;ufigen Thr&auml;nen, was f&uuml;r eine Arbeit der Wirth
+ihm f&uuml;r die Nacht aufgegeben habe, aber es verdro&szlig; ihn, zu sehen, da&szlig;
+das M&auml;dchen sich aus seiner Betr&uuml;bni&szlig; nicht viel machte. Als er endlich
+seinen langen Bericht geschlossen hatte, sagte die Jungfrau lachend:
+&raquo;Heute Nacht kannst du denn, mein lieber K&ouml;nigssohn, ganz ruhig
+schlafen, und morgen den ganzen Tag feiern. Merke genau auf meinen Rath
+und verschm&auml;he ihn nicht, weil er aus dem Munde einer niedrig geborenen
+Magd kommt. Nimm diesen kleinen Schl&uuml;ssel, er schlie&szlig;t den dritten
+Faselstall auf, worin des Alten dienende Geister wohnen. Wirf den
+Gerstensack in den Stall und sch&auml;rfe ihnen Wort f&uuml;r Wort den Befehl ein,
+den dir der Wirth<span class='pagenum'><a name="Page_194" id="Page_194">[S 194]</a></span> f&uuml;r die Nacht gegeben hat; f&uuml;ge aber hinzu: Wenn ihr
+ein Haar breit von meiner Vorschrift abweicht, so m&uuml;&szlig;t ihr allesammt
+sterben; solltet ihr aber H&uuml;lfe brauchen, so wird heut' Nacht die Th&uuml;r
+des siebenten Stalles offen stehen, in welchem des Wirths m&auml;chtigste
+Geister wohnen.&laquo;</p>
+
+<p>Der K&ouml;nigssohn richtete Alles nach Vorschrift aus, und legte sich
+schlafen. Als er am folgenden Morgen aufwachte und in der Brauk&uuml;che
+nachsah, fand er die Bierkufen in voller G&auml;hrung, so da&szlig; der Schaum &uuml;ber
+den Rand flo&szlig;. Er kostete das Bier, f&uuml;llte dann eine gro&szlig;e Kanne mit dem
+sch&auml;umenden Trank an, und brachte sie dem Wirthe, der sich eben auf
+seinem Lager aufrichtete. Aber statt des erwarteten Dankes sagte der
+Wirth ungehalten: &raquo;Das kommt nicht aus deinem Kopfe! Ich merke, du hast
+gute Freunde und Rathgeber gefunden. Schon gut, heut' Abend wollen wir
+weiter sprechen.&laquo;</p>
+
+<p>Am Abend sagte der Alte: &raquo;Morgen habe ich dir keine Arbeit aufzutragen,
+du mu&szlig;t nur, wenn ich erwache, vor mein Bett treten, und mir zum Gru&szlig;e
+die Hand reichen.&laquo; Der K&ouml;nigssohn spottete innerlich &uuml;ber des Alten
+wunderliche Grille, und lachend setzte er das M&auml;dchen davon in Kenntni&szlig;.
+Dieses aber wurde sehr ernst und sagte: &raquo;Wahre deine Haut! Der Alte will
+dich morgen fr&uuml;h auffressen. Nur Eins kann dich retten. Du mu&szlig;t eine
+eiserne Schaufel im Ofen rothgl&uuml;hend machen, und ihm statt deiner Hand
+das gl&uuml;hende Eisen zum Morgengru&szlig; darbieten.&laquo;<a name="FNanchor_74_74" id="FNanchor_74_74"></a><a href="#Footnote_74_74" class="fnanchor">[74]</a> Damit eilte sie davon,
+und der K&ouml;nigs<span class='pagenum'><a name="Page_195" id="Page_195">[S 195]</a></span>sohn ging zu Bette. Am Morgen hatte er die Schaufel schon
+rothgl&uuml;hend gemacht, ehe noch der alte Bursche aufwachte. Endlich h&ouml;rte
+er ihn rufen: &raquo;Fauler Knecht, wo bleibst du? komm' und gr&uuml;&szlig;e!&laquo; Als
+darauf der K&ouml;nigssohn mit der gl&uuml;henden Schaufel eintrat, rief der Alte
+ihm mit kl&auml;glicher Stimme zu: &raquo;Ich bin heute sehr krank und kann deine
+Hand nicht fassen. Aber komm' heute Abend wieder, damit ich dir meine
+Befehle geben kann.&laquo;</p>
+
+<p>Der K&ouml;nigssohn schlenderte nun den ganzen Tag umher, und ging dann am
+Abend zum Wirth, um sich von ihm die Arbeit f&uuml;r den folgenden Tag
+auftragen zu lassen. Der Wirth war sehr freundlich und sagte
+schmunzelnd: Ich bin mit dir sehr zufrieden! komm Morgen fr&uuml;h mit dem
+M&auml;dchen zu mir, ich wei&szlig;, da&szlig; ihr euch schon l&auml;ngst lieb habt, und will
+euch als Mann und Frau zusammengeben!&laquo;</p>
+
+<p>Der K&ouml;nigssohn h&auml;tte vor Freude jauchzen und in die H&ouml;he springen m&ouml;gen,
+aber gl&uuml;cklicher Weise fiel ihm noch zu rechter Zeit die strenge
+Hausordnung ein, de&szlig;halb blieb er ruhig. Als er vor Schlafengehen der
+Geliebten von seinem Gl&uuml;cke erz&auml;hlte und von ihr eine gleiche Freude
+erwartete, sah er zu seinem gro&szlig;en Erstaunen, da&szlig; das M&auml;dchen vor
+Schrecken bleich wurde wie eine get&uuml;nchte Wand, und ihr die Zunge wie
+gel&auml;hmt war. Als sie sich wieder erholt hatte, sagte sie. &raquo;Der alte
+Bursche ist dahinter gekommen, da&szlig; ich deine Rathgeberin gewesen bin,
+und will uns Beide verderben. Wir m&uuml;ssen noch diese Nacht die Flucht
+ergreifen, sonst sind wir verloren. Nimm ein Beil, geh' in den Stall und
+schlage dem wei&szlig;k&ouml;pfigen Kalbe mit einem kr&auml;ftigen Hiebe den Kopf ab,<span class='pagenum'><a name="Page_196" id="Page_196">[S 196]</a></span>
+mit einem zweiten Hiebe spalte den Sch&auml;del entzwei. Im Hirn des Kalbes
+findest du ein gl&auml;nzend rothes Kn&auml;ulchen, das bringe mir, Alles was
+sonst n&ouml;thig ist, werde ich selbst besorgen. Der K&ouml;nigssohn dachte:
+&raquo;lieber t&ouml;dte ich ein unschuldiges Kalb, als da&szlig; ich mich selbst und das
+liebe M&auml;dchen umbringen lasse; gelingt uns die Flucht, so sehe ich meine
+Heimath wieder. Die Erbsen, welche ich ausstreute, m&uuml;ssen jetzt
+aufgegangen sein, so da&szlig; wir den Weg nicht verfehlen werden.&laquo;</p>
+
+<p>Darauf ging er in den Stall. Die Kuh lag neben dem Kalbe hingestreckt,
+und beide schliefen so fest, da&szlig; sie ihn nicht kommen h&ouml;rten. Als er
+aber dem Kalbe den Kopf abhieb, st&ouml;hnte die Kuh so schauerlich, als
+h&auml;tte sie einen schweren Traum. Rasch f&uuml;hrte er den zweiten Hieb, der
+den Sch&auml;del spaltete. Siehe! da wurde der Stall pl&ouml;tzlich hell, wie am
+Tage. Das rothe Kn&auml;ulchen fiel aus dem Gehirn heraus und leuchtete wie
+eine kleine Sonne. Der K&ouml;nigssohn wickelte das Kn&auml;ulchen behutsam in ein
+Tuch und steckte es in seinen Busen. Es war ein Gl&uuml;ck, da&szlig; die Kuh nicht
+aufwachte, sonst h&auml;tte sie angefangen zu br&uuml;llen, und dadurch h&auml;tte auch
+der Wirth geweckt werden k&ouml;nnen.</p>
+
+<p>An der Pforte fand der K&ouml;nigssohn das M&auml;dchen schon reisefertig, ein
+B&uuml;ndelchen am Arme. &raquo;Wo ist dein Kn&auml;ulchen?&laquo; fragte sie. &raquo;Hier!&laquo;
+antwortete der J&uuml;ngling, und gab es ihr. &raquo;Wir m&uuml;ssen schnell fliehen!&laquo;
+sagte sie, und wickelte einen kleinen Theil des Kn&auml;ulchens aus dem Tuche
+heraus, damit der leuchtende Schein gleich einer Laterne das n&auml;chtliche
+Dunkel ihres Pfades erhelle. Die Erbsen waren, wie der K&ouml;nigssohn
+vermuthet hatte, alle<span class='pagenum'><a name="Page_197" id="Page_197">[S 197]</a></span> aufgegangen, so da&szlig; sie sicher waren, den Weg
+nicht zu verfehlen. Unterwegs erz&auml;hlte ihm die Jungfrau, da&szlig; sie einmal
+ein Gespr&auml;ch zwischen dem Alten und seiner Gro&szlig;mutter belauscht und
+daraus erfahren habe, da&szlig; sie eine K&ouml;nigstochter sei, welche der alte
+Bursche ihren Eltern mit List abgenommen habe. Der K&ouml;nigssohn wu&szlig;te
+freilich die Sache besser, schwieg aber und war nur von Herzen froh, da&szlig;
+es ihm gelungen war, das arme M&auml;dchen zu befreien. So mochten die
+Wanderer eine gute Strecke zur&uuml;ckgelegt haben, als es begann zu tagen.</p>
+
+<p>Der alte Bursche erwachte erst sp&auml;t am Morgen und rieb sich lange die
+Augen, bis der Schlaf abfiel, dann weidete er sich im Voraus an dem
+Gedanken, da&szlig; er die Beiden bald verzehren w&uuml;rde. Nachdem er ziemlich
+lange auf sie gewartet hatte, sagte er f&uuml;r sich: &raquo;Sie sind wohl noch
+nicht mit ihrem Hochzeitsstaat fertig!&laquo; Als ihm aber das Warten doch zu
+lange dauerte, rief er: &raquo;Knecht und Magd, he! wo bleibt ihr?&laquo; Fluchend
+und schreiend wiederholte er den Ruf noch einige Mal, aber weder Knecht
+noch Magd lie&szlig;en sich sehen. Endlich kletterte er zornig aus dem Bette
+und ging die S&auml;umigen zu suchen. Aber er fand das Haus menschenleer, und
+bemerkte auch, da&szlig; diese Nacht die Lagerst&auml;tten unber&uuml;hrt geblieben
+waren. Jetzt st&uuml;rzte er in den Stall ... als er hier das Kalb get&ouml;dtet
+und das Zauberkn&auml;ulchen entwendet fand, begriff er Alles. Er fluchte,
+da&szlig; Alles schwarz wurde, &ouml;ffnete rasch den dritten Geisterstall und
+schickte seine Geh&uuml;lfen aus, die Entflohenen zu suchen. &raquo;Bringt sie mir,
+wie ihr sie findet, ich mu&szlig; ihrer habhaft werden!&laquo; So sprach der alte
+Bursche und seine Geister stoben wie der Wind davon.<span class='pagenum'><a name="Page_198" id="Page_198">[S 198]</a></span></p>
+
+<p>Die Fl&uuml;chtlinge befanden sich gerade auf einer gro&szlig;en Fl&auml;che, als das
+M&auml;dchen den Schritt anhielt und sagte: &raquo;Es ist nicht Alles, wie es sein
+sollte. Das Kn&auml;ulchen bewegt sich in meiner Hand, gewi&szlig; werden wir
+verfolgt!&laquo; Als sie hinter sich sahen, erblickten sie eine schwarze
+Wolke, welche mit gro&szlig;er Geschwindigkeit n&auml;her kam. Das M&auml;dchen drehte
+das Kn&auml;ulchen dreimal in der Hand um und sprach:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;H&ouml;re Kn&auml;ulchen, h&ouml;re Kn&auml;ulchen!<br /></span>
+<span class="i0">W&uuml;rde gern alsbald zum B&auml;chlein,<br /></span>
+<span class="i0">Mein Gef&auml;hrte auch zum Fischlein!&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Augenblicklich waren beide verwandelt. Das M&auml;dchen flo&szlig; als B&auml;chlein
+dahin, und der K&ouml;nigssohn schwamm als Fischlein im Wasser. Die Geister
+sausten vor&uuml;ber, kehrten nach einer Weile um, und flogen wieder heim,
+aber B&auml;chlein und Fischlein lie&szlig;en sie unangetastet. Sobald die
+Verfolger fort waren, verwandelte sich das B&auml;chlein wieder in ein
+M&auml;dchen und machte das Fischlein zum J&uuml;ngling, und dann setzten sie in
+menschlicher Gestalt ihre Reise fort.</p>
+
+<p>Als die Geister m&uuml;de und mit leeren H&auml;nden zur&uuml;ckkehrten, fragte sie der
+alte Bursche, ob ihnen denn beim Suchen nichts Besonderes aufgefallen
+w&auml;re? &raquo;Gar nichts!&laquo; war die Antwort: &raquo;nur ein B&auml;chlein flo&szlig; in der
+Ebene, und ein einziges Fischlein schwamm darin.&laquo; W&uuml;thend br&uuml;llte der
+Alte: &raquo;Schafsk&ouml;pfe. Das waren sie ja, das waren sie ja!&laquo; Schnell ri&szlig; er
+die Th&uuml;ren des f&uuml;nften Stalles auf, lie&szlig; die Geister heraus und befahl
+ihnen, des B&auml;chleins Wasser auszutrinken und das Fischlein zu fangen.
+Die Geister stoben wie der Wind von dannen.<span class='pagenum'><a name="Page_199" id="Page_199">[S 199]</a></span></p>
+
+<p>Unsere Wanderer n&auml;herten sich eben dem Saum eines Waldes, da blieb das
+M&auml;dchen stehen und sagte: &raquo;Es ist nicht Alles, wie es sein soll. Das
+Kn&auml;ulchen bewegt sich wieder in meiner Hand.&laquo; Als sie sich umsahen,
+erblicken sie abermals eine Wolke am Himmel, dunkler als die erste und
+mit rothen R&auml;ndern. &raquo;Das sind unsere Verfolger!&laquo; rief die Jungfrau und
+drehte das Kn&auml;ulchen dreimal in der Hand um, indem sie sprach:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;H&ouml;re Kn&auml;ulchen, h&ouml;re Kn&auml;ulchen!<br /></span>
+<span class="i0">Wandele uns alle Beide:<br /></span>
+<span class="i0">Mich zum wilden Rosenstrauche,<br /></span>
+<span class="i0">Ihn zur Bl&uuml;the an dem Strauche.&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Augenblicklich waren sie verwandelt. Aus dem M&auml;dchen ward ein wilder
+Rosenstrauch, und der J&uuml;ngling hing als Rose am Stock. Sausend zogen die
+Geister &uuml;ber ihnen hin und kehrten erst nach einer guten Weile wieder
+um; da sie weder B&auml;chlein noch Fischlein gefunden hatten, k&uuml;mmerten sie
+sich nicht um den Rosenstrauch. Sobald die Verfolger vor&uuml;ber waren,
+verwandelten sich Strauch und Blume wieder in M&auml;dchen und J&uuml;ngling,
+welche nach der kurzen Ruhe rasch weiter eilten.</p>
+
+<p>&raquo;Habt ihr sie gefunden?&laquo; fragte der Alte, als er seine Gesellen keuchend
+wiederkehren sah. &raquo;Nein,&laquo; antwortete der Anf&uuml;hrer der Geister. &raquo;Wir
+fanden weder B&auml;chlein noch Fischlein in der Ebene.&laquo; &raquo;Habt ihr denn sonst
+nichts Besonderes unterwegs gesehen?&laquo; fuhr der Alte auf. Der Anf&uuml;hrer
+antwortete: &raquo;Dicht am Saume des Waldes stand ein wilder Rosenstrauch an
+dem eine Rose hing.&laquo; Schafsk&ouml;pfe!&laquo; schrie der Alte, &raquo;das waren sie ja,
+das waren sie ja!&laquo; Er schlo&szlig; darauf den siebenten Stall auf<span class='pagenum'><a name="Page_200" id="Page_200">[S 200]</a></span> und
+schickte seine m&auml;chtigsten Geister aus, sie zu suchen. &raquo;Bringt sie mir,
+wie ihr sie findet, todt oder lebendig! ich mu&szlig; ihrer habhaft werden.
+Rei&szlig;t den verfluchten Rosenstrauch mit den Wurzeln heraus, und nehmt
+Alles mit, was euch Befremdliches aufst&ouml;&szlig;t.&laquo; Wie der Sturmwind flogen
+die Geister davon.</p>
+
+<p>Die Fl&uuml;chtlinge ruhten eben im Schatten eines Waldes aus, und st&auml;rkten
+die erm&uuml;deten Glieder durch Speise und Trank. Pl&ouml;tzlich rief das
+M&auml;dchen. &raquo;Alles ist nicht, wie es sein soll; das Kn&auml;ulchen will mit
+Gewalt aus meinem Busen. Gewi&szlig; verfolgt man uns wieder, und die Gefahr
+ist nahe, aber der Wald verbirgt uns unsere Feinde noch.&laquo; Dann nahm sie
+das Kn&auml;ulchen aus dem Busen, drehte es dreimal in der Hand herum und
+sprach:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;H&ouml;re Kn&auml;ulchen, h&ouml;re Kn&auml;ulchen!<br /></span>
+<span class="i0">Mache mich alsbald zum L&uuml;ftchen,<br /></span>
+<span class="i0">Den Gef&auml;hrten mein zum M&uuml;cklein!&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Augenblicklich waren beide verwandelt. Das M&auml;dchen l&ouml;ste sich in Luft
+aus, der K&ouml;nigssohn aber schwebte darin als M&uuml;cklein. Die m&auml;chtige
+Geisterschaar brauste wie ein Sturm &uuml;ber sie hin, und kehrte nach
+einiger Zeit wieder um, weil sie weder einen Rosenstrauch noch sonst
+etwas Befremdliches gefunden hatten. Aber kaum waren die Geister
+vor&uuml;ber, so verwandelte der Lufthauch sich wieder in das M&auml;dchen, und
+machte aus der M&uuml;cke den J&uuml;ngling. &raquo;Jetzt m&uuml;ssen wir eilen,&laquo; rief das
+Holdchen, &raquo;bevor der Alte selber kommt zu suchen &mdash; der wird uns in
+jeder Verwandlung erkennen.&laquo;</p>
+
+<p>Sie liefen nun eine gute Strecke vorw&auml;rts, bis sie den dunklen Gang
+erreichten, in welchem sie bei dem hellen<span class='pagenum'><a name="Page_201" id="Page_201">[S 201]</a></span> Schein des Kn&auml;ulchens
+ungehindert emporstiegen. Ersch&ouml;pft und athemlos kamen sie endlich an
+den gro&szlig;en Stein. Hier wurde das Kn&auml;ulchen wiederum dreimal gedreht,
+wobei die kluge Jungfrau sprach:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;H&ouml;re Kn&auml;ulchen, h&ouml;re Kn&auml;ulchen!<br /></span>
+<span class="i0">La&szlig; den Stein empor sich heben,<br /></span>
+<span class="i0">Eine Pforte sich bereiten!&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Augenblicklich hob sich der Stein weg, und sie waren gl&uuml;cklich wieder
+auf der Erde. &raquo;Gott sei Dank!&laquo; rief das M&auml;dchen aus: &raquo;wir sind gerettet.
+Hier hat der alte Bursche keine Macht mehr &uuml;ber uns, und vor seiner List
+wollen wir uns h&uuml;ten. Aber jetzt, Freund, m&uuml;ssen wir uns trennen. Du
+gehst zu deinen Eltern, und ich will die meinigen aufsuchen.&laquo; &mdash; &raquo;Mit
+nichten,&laquo; erwiederte der K&ouml;nigssohn: &raquo;ich kann mich nicht mehr von dir
+trennen, du mu&szlig;t mit mir kommen und mein Weib werden. Du hast
+Leidenstage mit mir ertragen, darum ist es billig, da&szlig; du nun auch
+Freudentage mit mir theilst.&laquo; Zwar str&auml;ubte sich das M&auml;dchen Anfangs,
+aber endlich ging sie doch mit dem J&uuml;ngling.</p>
+
+<p>Im Walde trafen sie einen Holzhacker, von dem sie erfuhren, da&szlig; im
+Schlosse, wie im ganzen Lande, gro&szlig;e Trauer herrsche &uuml;ber das
+unbegreifliche Verschwinden des K&ouml;nigssohnes, von dem seit Jahren jede
+Spur verloren sei. Mit H&uuml;lfe des Zauberkn&auml;ulchens schaffte das M&auml;dchen
+dem heimkehrenden Sohne seine fr&uuml;heren Kleider wieder, damit er vor
+seinem Vater erscheinen k&ouml;nne. Sie selbst aber blieb einstweilen in
+einer Bauernh&uuml;tte zur&uuml;ck, bis der K&ouml;nigssohn Alles mit seinem Vater
+besprochen h&auml;tte.<span class='pagenum'><a name="Page_202" id="Page_202">[S 202]</a></span></p>
+
+<p>Aber der alte K&ouml;nig war noch vor dem Eintreffen seines Sohnes dahin
+geschieden: der Kummer &uuml;ber den Verlust des einzigen Sohnes hatte sein
+Ende beschleunigt. Noch auf seinem Todbette hatte er sein leichtsinniges
+Versprechen und seinen Betrug bereut, da&szlig; er dem alten Burschen ein
+armes unschuldiges M&auml;dchen &uuml;berlieferte, wof&uuml;r Gott ihn durch den
+Verlust des Sohnes gez&uuml;chtigt habe. Der K&ouml;nigssohn beweinte, wie es
+einem guten Sohne geziemt, den Tod seines Vaters und lie&szlig; ihn mit gro&szlig;en
+Ehren bestatten. Dann trauerte er drei Tage, ohne Speise und Trank zu
+sich zu nehmen. Am vierten Morgen aber zeigte er sich dem Volke als
+neuer Herrscher, versammelte seine R&auml;the und theilte ihnen mit, was f&uuml;r
+wunderbare Dinge er in des alten Burschen Behausung gesehen und ertragen
+habe, verga&szlig; auch nicht zu erz&auml;hlen, wie die kluge Jungfrau seine
+Lebensretterin geworden.</p>
+
+<p>Da riefen die R&auml;the wie aus einem Munde: &raquo;Sie mu&szlig; eure Gemahlin und
+unsere Herrscherin werden.&laquo;</p>
+
+<p>Als der junge K&ouml;nig sich nun aufmachte, um seine Braut einzuholen,
+erstaunte er sehr, als ihm die Jungfrau in k&ouml;niglicher Pracht
+entgegenkam. Mit H&uuml;lfe des Zauberkn&auml;ulchens hatte sie sich alles N&ouml;thige
+verschafft, we&szlig;halb auch das ganze Land glaubte, da&szlig; sie die Tochter
+eines unerme&szlig;lich reichen K&ouml;nigs und aus fernen Landen gekommen sei.
+Darauf wurde die Hochzeit ausgerichtet, welche vier Wochen dauerte, und
+sie lebten darnach gl&uuml;cklich und zufrieden noch manches liebe Jahr.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_203" id="Page_203">[S 203]</a></span></p>
+<h2>15. R&otilde;ugatajas Tochter.</h2>
+
+
+<p>Es lebte einmal vor Zeiten in einer breiten Waldlichtung der alte
+R&otilde;ugataja<a name="FNanchor_75_75" id="FNanchor_75_75"></a><a href="#Footnote_75_75" class="fnanchor">[75]</a> mit seinem Weibe. Sie hatten auch<span class='pagenum'><a name="Page_204" id="Page_204">[S 204]</a></span> eine Tochter, die nicht
+in nat&uuml;rlicher Beschaffenheit zur Welt gekommen war, dennoch bem&uuml;hte
+sich die Mutter, sie nach Art der Menschenkinder aufzuziehen, um
+sp&auml;terhin einen Schwiegersohn zu bekommen. Es ging die Rede, da&szlig; das
+M&auml;gdlein, so viel davon sichtbar wurde, wohl menschliche Haut hatte, da&szlig;
+aber unter dem Gewande Tannenrinde statt der Haut den K&ouml;rper deckte.
+Nichtsdestoweniger hoffte die Mutter, sie mit der Zeit an den Mann zu
+bringen, und schickte de&szlig;halb das M&auml;dchen &uuml;berall hin unter die Leute,
+wo nur in den D&ouml;rfern eine Gasterei oder Festlichkeit vorkam. Der
+Tochter sch&ouml;ne Kleider, vielfach gewundene Perlenschn&uuml;re, Halsgeschmeide
+von vergoldeten M&uuml;nzen, gro&szlig;e Brustspange und Seidenb&auml;nder stachen den
+jungen Burschen wohl in die Augen, aber Freier zogen sie doch nicht in's
+Haus. Die Burschen lachten und spotteten: oben h&uuml;bsch und glatt,
+unterhalb rauh wie Kr&ouml;tenhaut.</p>
+
+<p>Damit nun das T&ouml;chterchen nicht zuletzt daheim als alte Jungfer
+verschimmele, suchte die Mutter bei einer Hexenmutter H&uuml;lfe und lie&szlig; von
+ihr einen geheimni&szlig;vollen Trank bereiten, der, sobald ein Junggeselle
+unversehens<span class='pagenum'><a name="Page_205" id="Page_205">[S 205]</a></span> davon kostete, ihn unfehlbar trieb, dem M&auml;dchen
+nachzugehen, er mochte nun wollen oder nicht. Die Mutter gab der alten
+Hexe ein B&uuml;ndelchen mit Achselhaaren nebst andern Heimlichkeiten von
+ihrer Tochter, womit die Hexe das Reizmittel f&uuml;r die Burschen bereiten
+sollte. Als der Wundertrank gekocht war, sagte die Hexe: &raquo;Von diesem Na&szlig;
+sieben Tropfen, in Speise oder Trank getr&auml;ufelt, beth&ouml;ren jeden
+Burschen, der davon kostet.&laquo;</p>
+
+<p>Darnach wurde auf dem Hofe des R&otilde;ugataja ein gro&szlig;er Gastschmaus
+angerichtet, zu welchem von allen Seiten Mengen zusammengebeten wurden,
+besonders zahlreich aber Junggesellen, damit die Jungfer aus der Schaar
+derselben einen w&auml;hlen k&ouml;nnte, der vor allen andern nach ihrem Geschmack
+w&auml;re. Als das Gelage nun schon zwei Tage im Gange war, zeigte die
+Tochter ihrer Mutter einen jungen Mann, den sie sich gar sehr zum
+Ehgemahl ersehnte. Die schlaue Mutter that heimlich sieben Tropfen vom
+Zaubertrank in einen Kuchen und gab ihn dem Burschen zu essen, worauf
+der arme Schelm nirgends mehr seines Bleibens fand, sondern, wie das
+K&auml;tzchen nach dem Strohhalm, der Tochter R&otilde;ugataja's nachlaufen mu&szlig;te,
+da er sonst weder Tag noch Nacht Ruhe hatte. Bald darauf erschien er als
+Freier, und sein Branntwein wurde freundlich angenommen. Einige Wochen
+sp&auml;ter wurde ein pr&auml;chtiges Hochzeitsmahl angerichtet, so da&szlig; noch
+Kinder und Kindeskinder der Pracht und Herrlichkeit gedachten. Aber was
+half das Alles? Als das junge Paar Abends in die Kammer gef&uuml;hrt wurde,
+um zu Bette zu gehen, fand der Br&auml;utigam unter der Decke so viel
+Unheimliches, da&szlig; ihm das Blut im Herzen gerann; noch in derselben<span class='pagenum'><a name="Page_206" id="Page_206">[S 206]</a></span>
+Nacht nahm er die Flucht und lie&szlig; die junge Frau als Wittwe zur&uuml;ck.
+Mutter und Tochter warteten wohl noch eine Zeitlang, da&szlig; der Liebestrank
+der Hexenmutter den jungen Mann wieder herlocken w&uuml;rde; aber wer nicht
+kam, war der entwichene Br&auml;utigam. Als noch eine Woche verstrichen war,
+und der Mann gleichwohl ausblieb, regten sich allerdings Zweifel in
+ihnen. Endlich kam die Nachricht, da&szlig; der entwichene Mann eine andere
+Frau gefreit hatte, und damit nahm denn ihr Harren und Hoffen ein Ende.</p>
+
+<p>Ein Jahr sp&auml;ter h&ouml;rte die alte Frau des R&otilde;ugataja, da&szlig; ihres vormaligen
+Schwiegersohnes Frau einen Knaben geboren hatte. Da reizte ein b&ouml;ser
+Anschlag ihr Herz, da&szlig; sie nirgends mehr Ruhe fand, bis mit H&uuml;lfe der
+Hexe des Kindes Mutter in einen W&auml;rwolf verwandelt war. Sodann schaffte
+sie heimlich ihre Tochter an Stelle der W&ouml;chnerin in's Bett. Da aber die
+Tochter keine Brust hatte, wie Frauen sie sonst haben, so konnte sie
+auch das Kind nicht s&auml;ugen. Wohl go&szlig; sie Kuhmilch in die k&uuml;nstlich aus
+Bork geformte Brust, allein das Kind nahm sie nicht in den Mund, sondern
+schrie Tag und Nacht vor Hunger, da&szlig; der Zeter kein Ende nahm. Es wurden
+zwar Kindesbaderinnen und Thr&auml;nenstillerinnen von nah und fern
+zusammengeholt, allein was konnte es helfen? Das Kind lie&szlig; nicht ab zu
+schreien. Eines Tages rief der Vater in zornigem Muthe: &raquo;Tragt den
+Schreihals aus der Stube, sonst sprengt er mir die Ohren: ich kann sein
+Geschrei nicht l&auml;nger aushalten.&laquo; Die W&auml;rterin ging mit dem Kinde
+hinaus, da kam auf dessen Geschrei aus einem Erlenbusch eine W&ouml;lfin
+hervor,<span class='pagenum'><a name="Page_207" id="Page_207">[S 207]</a></span> entri&szlig; der W&auml;rterin das Kind mit Gewalt, that aber weder ihr
+noch dem Kinde ein Leides, sondern legte fein s&auml;uberlich das Kleine sich
+an die Brust und s&auml;ugte es. Als das Kind darauf s&uuml;&szlig; eingeschlummert war,
+brachte die W&auml;rterin es nach Haus und legte es in die Wiege, wo es bis
+zum andern Tage ganz ruhig lag. Die W&auml;rterin lie&szlig; nichts verlauten von
+dem Vorfall mit der W&ouml;lfin, ging aber den folgenden Tag wieder auf's
+Feld, wo sich Alles ganz so begab, wie Tags zuvor. Dabei war die
+W&auml;rterin guter Laune, denn sie hatte es jetzt leicht, und auch der Vater
+des Kindes war seines Lebens wieder froher geworden, weil kein Geschrei
+mehr im Hause war, wiewohl die W&ouml;chnerin noch immer schwer krank zu
+Bette lag und vorgab, weder Hand noch Fu&szlig; r&uuml;hren zu k&ouml;nnen. Als nun am
+dritten Tage die W&auml;rterin wieder ging, dem Kinde seine Amme zu suchen,
+sagte die W&ouml;lfin. &raquo;Ich darf nicht jeden Tag so &ouml;ffentlich in's Freie
+kommen, das Kind zu s&auml;ugen. Wenn du es aber alle Morgen an den
+Erlenbusch am Ukkofelsen bringst, so will ich es s&auml;ugen; doch mu&szlig;t du,
+so lang' ich es s&auml;uge, am Rande des Busches Wache halten, damit nicht
+Jemand pl&ouml;tzlich dazu komme und sehe, wie ich das Kind s&auml;uge. Und auch
+du selbst darfst nicht eher nach dem Kinde kommen, als bis ich dich
+rufe.&laquo; Die W&auml;rterin that, wie geboten war, und die Sache ging &uuml;ber eine
+Woche lang vortrefflich; das Kind gedieh zusehends, schlief ruhig ohne
+Geschrei, und erwachte aus dem Schlafe mit freundlich l&auml;chelndem
+Antlitz.</p>
+
+<p>Eines Tages d&uuml;nkte der W&auml;rterin das S&auml;ugen der W&ouml;lfin allzulange zu
+dauern, und das Verbot &uuml;bertretend ging sie heimlich zu sp&auml;hen, was wohl
+die Amme mit<span class='pagenum'><a name="Page_208" id="Page_208">[S 208]</a></span> dem Kinde machen m&ouml;chte. Ein wunderbares Ding war es denn
+freilich, was sie da erblickte. Am Ukkofels sa&szlig; eine junge nackte Frau,
+das Kind auf ihrem Schoo&szlig;e, welches sie z&auml;rtlich liebkoste und auf den
+Armen schaukelte. Endlich nahm sie eine Wolfshaut vom Felsen, schl&uuml;pfte
+hinein und rief dann die W&auml;rterin, da&szlig; sie k&auml;me, das Kind zu nehmen. Als
+die W&auml;rterin drei Tage nach der Reihe diese wunderbare S&auml;ugung des
+Kindes beobachtet hatte, konnte sie zu Hause nicht mehr reinen Mund
+halten, sondern that dem Vater Alles kund, was bisher t&auml;glich mit dem
+Kinde geschehen war, sowohl das S&auml;ugen durch die W&ouml;lfin, als auch die
+Gestalt der Frau, die aus der Wolfshaut herausgeschl&uuml;pft war. Der Mann
+schlo&szlig; sofort, da&szlig; es hier nicht mit rechten Dingen zugehen k&ouml;nne; er
+verbot der W&auml;rterin das Geheimni&szlig; irgend Jemand weiter zu sagen, und
+eilte selbst zu einem ber&uuml;hmten weisen Manne, um Rath und H&uuml;lfe zu
+suchen.</p>
+
+<p>Der weise Mann sagte, als er die Erz&auml;hlung geh&ouml;rt hatte: &raquo;Hier scheint
+einer b&ouml;sen Hexe Werk dahinter zu stecken, was ich sofort ganz
+aufzukl&auml;ren nicht im Stande bin; aber wir m&uuml;ssen versuchen, durch List
+die Wolfshaut zu erlangen und zu vernichten, dann werden wir schon
+sehen, was f&uuml;r ein Betrug hier ver&uuml;bt ist.&laquo; Dann befahl er dem Manne, in
+der Nacht den Ukkofels gl&uuml;hend hei&szlig; zu machen, damit, wenn die W&ouml;lfin
+die Haut wieder auf den Fels werfen w&uuml;rde, diese versengt und zum
+Anziehen untauglich gemacht w&uuml;rde. Der Mann f&uuml;hrte den andern Tag, als
+des Kindes S&auml;ugerin sich in den Wald zur&uuml;ckgezogen hatte, ein Paar Fuder
+Holz um den Fels her und auf denselben, und z&uuml;ndete dann in der Nacht
+das<span class='pagenum'><a name="Page_209" id="Page_209">[S 209]</a></span> Holz an, wodurch der Ukkofels gluthroth wurde, wie die Gl&uuml;hsteine
+eines Badstubenofens. Als dann die Zeit herannahte, wo des Kindes
+S&auml;ugerin zu kommen pflegte, r&auml;umte er Br&auml;nde und Asche bei Seite und
+schl&uuml;pfte selbst hinter das Geb&uuml;sch in ein Versteck, wo er Alles sehen
+konnte, ohne selbst gesehen zu werden. Auf des Kindes Geschrei kam die
+W&ouml;lfin aus dem Walde gerufen, nahm der W&auml;rterin das Kind ab, und legte
+es dann so lange in's Gras, bis sie die Wolfshaut abgezogen und auf den
+Felsrand geworfen hatte. Dann nahm sie das Kind auf den Schoo&szlig; und
+begann es zu s&auml;ugen. Je sch&auml;rfer der Mann die S&auml;ugende ansah, desto
+bekannter wurden ihm Gesicht und Gestalt der Frau. Ja &mdash; er erkannte in
+der S&auml;ugerin des Kindes sein Weib und begriff jetzt, we&szlig;halb die
+W&ouml;chnerin noch immer zu Hause im dunkeln Zimmer sa&szlig;. Er sprang nun aus
+dem Geb&uuml;sch hervor und eilte auf die Frau zu. Diese schrie vor Schrecken
+auf, legte das Kind in's Gras und wollte ihre Wolfshaut wieder vom
+Felsen nehmen und anziehen, aber das Fell war ganz verbrannt, und nur
+ein zusammengeschrumpftes Ende davon nachgeblieben. Auch dieses warf
+jetzt der Mann auf die allerhei&szlig;este Stelle, wo nun die letzten Fetzen
+zu Asche verbrannten. Dann zog er seinen Rock aus, gab ihn der Frau,
+sich damit zu bedecken, und bat sie, so lange mit dem Kinde da zu
+bleiben, bis er nach Hause ginge, die Badstube zu heizen. Zu Hause ging
+er mit freundlicher Ansprache zur W&ouml;chnerin und sagte: &raquo;Du mu&szlig;t heute in
+die Badstube gehn, Liebchen, dann wirst du schneller gesund werden.&laquo; Die
+Frau str&auml;ubte sich zwar mit aller Macht dagegen; sie k&ouml;nne den Luftzug
+nicht<span class='pagenum'><a name="Page_210" id="Page_210">[S 210]</a></span> vertragen; wie k&ouml;nne sie so &uuml;ber den Hof in die Badstube gehn.
+&raquo;Wenn ich so &uuml;ber den Hof ginge, so w&uuml;rde ich drau&szlig;en ohnm&auml;chtig werden
+und mir den Tod holen.&laquo; Der Mann erwiederte: &raquo;Das hat gar nichts zu
+sagen, wir wickeln dir Mund und Augen in eine wollene Decke, so da&szlig; der
+Luftzug deinem zarten K&ouml;rper nicht schaden kann.&laquo; Damit war die Frau
+ganz zufrieden, denn sie f&uuml;rchtete nicht den Luftzug, sondern des Mannes
+Auge, der den Betrug gleich erkannt haben w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Als die in die Decke gewickelte W&ouml;chnerin mit H&uuml;lfe des Mannes in die
+Badstube gebracht worden war, machte der Mann die Th&uuml;r so fest zu, da&szlig;
+keine lebende Seele herein noch heraus kommen konnte, setzte sich dann
+zu Pferde und jagte im Galopp nach R&otilde;ugataja's Hof. In die Stube tretend
+rief er mit freundlicher Stimme: &raquo;Guten Tag, liebe Schwiegermutter. Ich
+komme euch zu danken, da&szlig; ihr mir ein gutes Weib erzogen und mich von
+der Ofengabel von Frau losgemacht habt, die ich in meinem einf&auml;ltigen
+Sinn gefreit hatte. Wir leben gl&uuml;cklich mit einander, und de&szlig;halb
+w&uuml;nscht die Tochter euch zu sehen, damit ihr euch selbst von unserer
+Zufriedenheit &uuml;berzeugen k&ouml;nnt.&laquo; R&otilde;ugatajas Frau merkte den Betrug
+nicht, sondern freute sich, da&szlig; die Sache so gut gegangen war. Der
+Schwiegersohn spannte an, setzte sich mit der Schwiegermutter auf den
+Wagen und fuhr nach Haus. Hier sagte er: &raquo;Die junge Frau ist in die
+Badstube gegangen, sich zu baden, habt ihr nicht auch Lust
+hineinzugehen, um den Staub der Fahrt abzuwaschen?&laquo; &raquo;Warum nicht!&laquo;
+erwiederte die Mutter. Der Mann lie&szlig; sie in die Badstube treten,
+verschlo&szlig; die Th&uuml;r und warf dann den rothen<span class='pagenum'><a name="Page_211" id="Page_211">[S 211]</a></span> Hahn auf's Dach. Da
+verbrannte denn die Badstube sammt R&otilde;ugataja's Frau und ihrer Tochter.
+&mdash; Da jetzt das Haus von der b&ouml;sen Sippschaft gereinigt war, nahm der
+Mann Weib und Kind zu sich, und sie lebten ungest&ouml;rt bis an ihr Ende.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_212" id="Page_212">[S 212]</a></span></p>
+<h2>16. Die Meermaid</h2>
+
+
+<p>In der alten gl&uuml;cklichen Zeit gab es auf Erden viel bessere Menschen als
+jetzt, darum lie&szlig; ihnen der himmlische Vater auch manche Wunder offenbar
+werden, welche heut' zu Tage entweder ganz verborgen bleiben, oder nur
+selten einmal einem Gl&uuml;ckskinde erscheinen. Zwar die V&ouml;gel singen nach
+alter Weise, und die Thiere tauschen ihre Laute aus, aber leider
+verstehen wir ihre Sprache nicht, und was sie sagen, bringt uns weder
+Lehre noch Nutzen.</p>
+
+<p>In der <em class="gesperrt">Wiek</em> wohnte vor Zeiten am Strande eine sch&ouml;ne Meermaid, die sich
+den Leuten oftmals zeigte; noch meines Gro&szlig;vaters Vetter, der in dieser
+Gegend aufwuchs, hatte sie zuweilen auf einem Steine sitzen sehen, aber
+das B&uuml;rschlein hatte nicht gewagt n&auml;her zu treten. Die Jungfrau erschien
+in mancherlei Gestalten, bald als F&uuml;llen oder F&auml;rse, bald wieder als ein
+anderes Thier; manchen Abend mischte sie sich unter die Kinder, und lie&szlig;
+es sich gefallen, da&szlig; sie mit ihr spielten, da&szlig; sich die Kn&auml;blein ihr
+auf den R&uuml;cken setzten &mdash; dann war sie pl&ouml;tzlich wie unter die Erde
+gesunken!</p>
+
+<p>Wie die alten Leute jener Zeit erz&auml;hlten, konnte man die Jungfrau in
+fr&uuml;heren Tagen fast jeden sch&ouml;nen Som<span class='pagenum'><a name="Page_213" id="Page_213">[S 213]</a></span>merabend am Meeresufer sehen, wo
+sie auf einem Steine sitzend ihr langes blondes Haar mit goldenem Kamme
+gl&auml;ttete, und so sch&ouml;ne Lieder sang, da&szlig; den H&ouml;rern das Herz hinschmolz.
+Die Ann&auml;herung der Menschen aber duldete sie nicht, sondern entschwand
+ihren Blicken, oder entwich in's Meer, wo sie als Schwan sich auf den
+Wellen schaukelte. Warum sie vor den Menschen floh, und nicht mehr das
+fr&uuml;here Zutrauen zu ihnen hatte, dar&uuml;ber wollen wir jetzt das n&auml;here
+melden.</p>
+
+<p>In alten Tagen, lange vor der Schwedenzeit, lebte am Strande der Wiek
+ein wohlhabender Bauer mit seiner Frau und vier S&ouml;hnen; ihren t&auml;glichen
+Unterhalt gewannen sie mehr der See als dem Acker ab, weil der Fischfang
+zu ihrer Zeit gar reich gesegnet war. Ihr j&uuml;ngster Sohn zeigte sich von
+klein auf in allen St&uuml;cken anders als seine Br&uuml;der, er mied die
+Gesellschaft der Menschen, schlenderte am Meeresufer und im Walde umher,
+sprach mit sich selbst, mit den V&ouml;geln oder mit Wind und Wellen, aber
+wenn er unter die Leute kam, &ouml;ffnete er den Mund nicht viel, sondern
+stand wie tr&auml;umend. Wenn im Herbst die St&uuml;rme aus dem Meere tobten, die
+Wellen sich haushoch th&uuml;rmten und sich sch&auml;umend am Ufer brachen, dann
+lie&szlig; es dem Knaben zu Hause keine Ruhe mehr, er lief wie besessen, oft
+halb nackend, an den Strand. Wind und Wetter scheute sein abgeh&auml;rteter
+K&ouml;rper nicht. Er sprang in den Kahn, ergriff die Ruder und fuhr, gleich
+einer wilden Gans, auf dem Kamme der tobenden Wellen weit in die See
+hinaus, ohne da&szlig; seine Verwegenheit ihm jemals Gefahr gebracht h&auml;tte. Am
+Morgen, wenn der Sturm ausgetobt hatte, fand man ihn am Meeresufer in<span class='pagenum'><a name="Page_214" id="Page_214">[S 214]</a></span>
+s&uuml;&szlig;em Schlafe. Schickte man ihn irgend wohin, um ein Gesch&auml;ft zu
+besorgen, z. B. im Sommer das Vieh zu h&uuml;ten, oder sonst kleine Arbeiten
+zu &uuml;bernehmen, so machte er seinen Eltern nur Verdru&szlig;. Er warf sich
+irgendwo in den Schatten eines Busches, ohne der Thiere zu achten, die
+sich zerstreuten, Wiesen oder Kornfelder betraten, und sich auch
+theilweise verliefen, so da&szlig; die Br&uuml;der Stunden lang zu thun hatten, bis
+sie der verlorenen Thiere wieder habhaft wurden. Wohl hatte der Vater
+den Knaben die Ruthe bitter genug f&uuml;hlen lassen, aber das wirkte nicht
+mehr, als Wasser auf eine Gans gegossen. Als der Knabe zum J&uuml;ngling
+herangewachsen war, ging es auch nicht besser, keine Arbeit gedieh unter
+seinen l&auml;ssigen H&auml;nden; er zerschlug und zerbrach das Arbeitsger&auml;t,
+mattete die Arbeitsthiere ab, und schaffte doch nichts Rechtes.</p>
+
+<p>Der Vater gab ihn nun auf fremde Bauerh&ouml;fe in Dienst, weil er hoffte,
+da&szlig; vielleicht die fremde Peitsche den Lotterer bessern und zum
+ordentlichen Menschen machen m&ouml;chte; aber wer den Burschen eine Woche
+lang auf Probe gehabt hatte, schickte ihn auch in der n&auml;chsten Woche
+wieder zur&uuml;ck. Die Eltern schalten ihn einen Tagedieb, und die Br&uuml;der
+hie&szlig;en ihn &raquo;<em class="gesperrt">Schlaf-T&ouml;nnis</em>;&laquo; binnen kurzem war dieser Spitzname in aller
+Munde, wiewohl er auf den Namen <em class="gesperrt">J&uuml;rgen</em> getauft war. Weil nun der
+Schlaf-T&ouml;nnis keinem Menschen Nutzen brachte, vielmehr Eltern und
+Geschwistern nur zur Last fiel und im Wege war, so h&auml;tten sie gern ein
+St&uuml;ck Geld hingegeben, wenn jemand sie von dem Faullenzer befreit h&auml;tte.
+Als der Schlaf-T&ouml;nnis nirgends mehr aushielt, und auch Niemand ihn
+behalten wollte, verdingte ihn endlich der<span class='pagenum'><a name="Page_215" id="Page_215">[S 215]</a></span> Vater bei einem fremden
+Schiffer als Knecht, weil er doch auf der See nicht davon laufen konnte,
+und weil der Bursche auch das Meer von klein auf geliebt hatte. Trotzdem
+war er nach einigen Wochen, ich wei&szlig; nicht wie? von dem Schiffe
+entkommen, und hatte seine tr&auml;gen F&uuml;&szlig;e wieder auf den heimischen Boden
+gesetzt. Nur sch&auml;mte er sich, das Haus seiner Eltern zu betreten, wo er
+auf keinen freundlichen Empfang hoffen durfte, er trieb sich von einem
+Orte zum andern herum, und suchte sein Leben zu fristen, wie es ging,
+ohne zu arbeiten. Er war ein h&uuml;bscher starker Bursche, und konnte ganz
+angenehm sprechen, wenn er wollte, obschon er im elterlichen Hause
+seinen Mund nie viel zum Reden gebraucht hatte. Jetzt mu&szlig;ten ihn sein
+schmuckes Aussehen und seine glatte Rede erhalten, denn er wu&szlig;te sich
+damit bei Frauen und M&auml;dchen einzuschmeicheln.</p>
+
+<p>Da geschah es, als er an einem sch&ouml;nen Sommerabend nach Sonnenuntergang
+allein am Strande sich erging, da&szlig; der Meermaid holder Gesang an sein
+Ohr drang. Schlaf-T&ouml;nnis dachte alsbald: &raquo;Sie ist auch ein Weib, und
+wird mir nichts zu Leide thun!&laquo; Er z&ouml;gerte also nicht, dem Gesange
+nachzugehen, um den sch&ouml;nen Vogel in Augenschein zu nehmen. Er bestieg
+den h&ouml;chsten H&uuml;gel, und gewahrte von da &uuml;ber einige Felder weg die
+Meermaid, die auf einem Steine sa&szlig;, wo sie mit goldenem Kamme ihr Haar
+gl&auml;ttete und ein herrliches Lied sang. Der J&uuml;ngling h&auml;tte sich mehr
+Ohren gew&uuml;nscht, um den Gesang zu h&ouml;ren, der ihm in's Herz schlug wie
+eine Flamme; als er aber n&auml;her kam, sah er, da&szlig; hier eben so viele Augen
+Noth th&auml;ten, die Sch&ouml;nheit der Jung<span class='pagenum'><a name="Page_216" id="Page_216">[S 216]</a></span>frau zu fassen. Gewi&szlig; hatte die
+Meermaid den Kommenden bemerkt, aber sie floh nicht vor ihm, was sie
+doch sonst immer that, wenn sich Menschen ihr n&auml;herten. Schlaf-T&ouml;nnis
+mochte etwa noch zehn Schritte von ihr sein, als er pl&ouml;tzlich still
+stand, unentschlossen, ob er warten oder n&auml;her treten solle. Und
+wunderbar! Die Meermaid erhob sich vom Steine und kam ihm mit
+freundlicher Miene entgegen. Gr&uuml;&szlig;end bot sie dem J&uuml;ngling die Hand und
+sagte: &raquo;Ich habe dich hier schon manchen Tag erwartet, weil ein
+bedeutsamer Traum mir deine Ankunft k&uuml;ndete. Du hast unter den Menschen
+nirgends Haus noch Heim, wohin du gehen k&ouml;nntest, oder wo Leute deines
+Schlages taugten. Warum solltest du auch von Fremden abh&auml;ngig sein, wenn
+die Eltern dir in ihrem Hause keine St&auml;tte bieten? Ich kenne dich von
+klein auf und besser, als die Menschen dich kennen, weil ich ungesehen
+oft um dich war und dich sch&uuml;tzte, wenn dein verwegener Uebermuth dich
+h&auml;tte verderben k&ouml;nnen. Ja, meine H&auml;nde haben oft dein schwankes Boot
+geh&uuml;tet, da&szlig; es nicht in die Tiefe sank! Komm mit mir, du sollst
+Herrentage haben, und es soll dir an nichts mangeln, was dein Herz nur
+begehrt, sollst du kosten. Ich will dich warten und h&uuml;ten wie meinen
+Augapfel, da&szlig; weder Wind noch Regen noch Frost dir etwas anhaben
+sollen.&laquo; Schlaf-T&ouml;nnis stand noch immer im Zweifel, er kratzte sich
+hinter den Ohren und &uuml;berlegte, was er antworten solle; obgleich jedes
+Wort der Jungfrau ihm wie ein Feuerpfeil in's Herz gedrungen war.
+Endlich fragte er sch&uuml;chtern, ob ihre Behausung weit von hier sei. &raquo;Wir
+k&ouml;nnen mit Windesschnelle dahin kommen, wenn du festes Vertrauen zu mir<span class='pagenum'><a name="Page_217" id="Page_217">[S 217]</a></span>
+hast,&laquo; erwiederte die Meermaid. Da fielen dem Schlaf-T&ouml;nnis pl&ouml;tzlich
+mancherlei Reden ein, die er fr&uuml;her von den Leuten &uuml;ber die Meermaid
+geh&ouml;rt hatte, das Herz bangte ihm, und er bat sich drei Tage Bedenkzeit
+aus. &raquo;Ich will deinen Wunsch erf&uuml;llen,&laquo; sagte die Meermaid, &raquo;aber damit
+du nicht wieder unsicher werdest, will ich dir, bevor wir scheiden,
+meinen goldenen Ring an deinen Finger stecken, auf da&szlig; du das
+Wiederkommen nicht vergessest. Wenn wir dann n&auml;her mit einander bekannt
+werden, so kann vielleicht aus diesem Pfande ein Verlobungsring werden.&laquo;
+Mit diesen Worten zog sie den Ring ab, steckte ihn dem J&uuml;ngling an den
+kleinen Finger und verschwand dann, als w&auml;re sie in Luft zerflossen.
+Schlaf-T&ouml;nnis blieb mit offenen Augen stehen, und h&auml;tte das Vorgefallene
+f&uuml;r einen Traum gehalten, wenn nicht der gl&auml;nzende Ring an seinem Finger
+das Gegentheil dargethan h&auml;tte. &mdash; Aber mit diesem Ringe schien wie ein
+fremder Geist in ihn gefahren zu sein, der ihm nirgends mehr Rast noch
+Ruhe lie&szlig;. Er streifte die ganze Nacht unstet am Strande umher und kam
+immer wieder zu dem Steine zur&uuml;ck, auf welchem die Jungfrau gesessen
+hatte &mdash; aber der Stein war kalt und leer. Am Morgen legte er sich ein
+wenig nieder, aber unruhige Tr&auml;ume st&ouml;rten seinen Schlaf. Als er
+erwachte, f&uuml;hlte er weder Hunger noch Durst, all sein Sinnen stand nur
+auf den Abend, da hoffte er die Meermaid wieder zu sehen. Der Tag neigte
+sich endlich, es wurde Abend, der Wind legte sich, die V&ouml;gel im
+Erlenbusch h&ouml;rten auf zu singen, und steckten die m&uuml;den Schn&auml;bel unter
+die Fl&uuml;gel &mdash; aber die Meermaid sah er an dem Abend nirgends.<span class='pagenum'><a name="Page_218" id="Page_218">[S 218]</a></span></p>
+
+<p>Sorge und Leid pre&szlig;ten ihm schwere Thr&auml;nen aus, in seinem Unmuth h&auml;tte
+er sich die bitterste Qual anthun m&ouml;gen &mdash; warum hatte er am gestrigen
+Abend das dargebotene Gl&uuml;ck verschm&auml;ht und sich eine Bedenkzeit
+ausbedungen, wo ein kl&uuml;gerer als er das Gl&uuml;ck mit beiden H&auml;nden bei den
+H&ouml;rnern gepackt haben w&uuml;rde. Nun half keine Reue noch Klage. Nicht
+minder tr&uuml;bselig verstrich ihm die Nacht und der folgende Tag; unter der
+Last des Kummers f&uuml;hlte er nicht einmal den Hunger. Gegen
+Sonnenuntergang setzte er sich zerknirschten Herzens auf eben den Stein,
+auf welchem die Meermaid vorgestern gesessen hatte, fing an bitterlich
+zu weinen und sagte &auml;chzend: &raquo;Wenn sie heute nicht kommt, so will ich
+nicht l&auml;nger mehr leben, sondern entweder hier auf dem Steine Hungers
+sterben, oder mich j&auml;hlings in die Wellen st&uuml;rzen und in der Tiefe des
+Meeres mein elendes Leben enden!&laquo; &mdash; Ich wei&szlig; nicht, wie lange er so in
+Gram versunken gesessen hatte, als er eine weiche warme Hand auf seiner
+Stirne f&uuml;hlte. Als er die Augen aufschlug, sah er die Jungfrau vor sich,
+die ihn liebreich anredete: &raquo;Ich sah deine herbe Qual, h&ouml;rte dein
+sehns&uuml;chtiges Seufzen und mochte nicht l&auml;nger z&ouml;gern, obgleich deine
+Bedenkzeit erst morgen Abend abl&auml;uft.&laquo;</p>
+
+<p>&raquo;Vergebt mir, vergebt mir, theure Jungfrau!&laquo; bat Schlaf-T&ouml;nnis
+schluchzend. &raquo;Vergebt mir! ich war ein sinnloser Thor, da&szlig; ich das
+unverhoffte Gl&uuml;ck nicht festzuhalten wu&szlig;te. Der Teufel wei&szlig;, was f&uuml;r
+eine Tollheit mir vorgestern in den Kopf kam. Bringt mich, wohin ihr
+wollt, ich widerstrebe nicht, ja ich w&uuml;rde mit Freuden mein Leben f&uuml;r
+euch hingeben.&laquo;<span class='pagenum'><a name="Page_219" id="Page_219">[S 219]</a></span></p>
+
+<p>Die Meermaid erwiederte lachend: &raquo;Mich verlangt nicht nach deinem Tode,
+sondern ich will dich lebend als lieben Genossen zu mir nehmen.&laquo; Dann
+nahm sie den J&uuml;ngling bei der Hand, f&uuml;hrte ihn einige Schritte n&auml;her
+an's Meer, verband ihm mit einem seidenen Tuche die Augen, und in
+demselben Augenblicke f&uuml;hlte sich Schlaf-T&ouml;nnis von zwei starken Armen
+umfa&szlig;t, welche ihn wie im Fluge emporhoben und dann j&auml;hlings in die Flut
+st&uuml;rzten. Als die kalte Flut seinen Leib ber&uuml;hrte, verlor er das
+Bewu&szlig;tsein, so da&szlig; er nicht mehr wu&szlig;te, was mit ihm und um ihn vorging.
+Er konnte also sp&auml;terhin auch nicht sagen, wie lange seine Ohnmacht
+gedauert hatte.</p>
+
+<p>Als er erwachte, sollte er noch Seltsameres erfahren.</p>
+
+<p>Er fand sich auf weichem Kissen in seidenem Bette, das in einem
+pr&auml;chtigen Gemache stand, dessen W&auml;nde von Glas und von innen mit rothen
+Sammetdecken verh&uuml;llt waren, damit das grelle Licht den Schl&auml;fer nicht
+wecke. Eine Zeit lang wu&szlig;te er selbst nicht recht, ob er noch lebe oder
+sich nach dem Tode an einem unbekannten Orte befinde. Er reckte seine
+Glieder hin und her, nahm seine Nasenspitze zwischen die Finger, und
+siehe! &mdash; es war Alles, wie es sein mu&szlig;te. Angethan war er mit einem
+feinen wei&szlig;en Hemde, und sch&ouml;ne Kleider lagen auf einem Stuhl vor seinem
+Bette. Nachdem er sich eine Zeit lang im Bette gedehnt und sich
+handgreiflich &uuml;berzeugt hatte, da&szlig; er wirklich am Leben sei, stand er
+endlich auf und zog sich an. &mdash; Zuf&auml;llig hustete er, und augenblicklich
+traten zwei M&auml;dchen ein, gr&uuml;&szlig;ten ehrerbietig und baten, der &raquo;<em class="gesperrt">gn&auml;dige
+Herr</em>&laquo; m&ouml;ge ihnen sagen, was er fr&uuml;hst&uuml;cken wolle. W&auml;hrend die eine den
+Tisch deckte, ging<span class='pagenum'><a name="Page_220" id="Page_220">[S 220]</a></span> die andere die Speisen zu bereiten. Es dauerte nicht
+lange, so standen Sch&uuml;sseln mit Schweinefleisch, Wurst, Blutkl&ouml;&szlig;en und
+Scheibenhonig, nebst Bier- und Methkannen auf dem Tische &mdash; gerade als
+ob eine pr&auml;chtige Hochzeit gefeiert w&uuml;rde. Schlaf-T&ouml;nnis, der mehrere
+Tage ohne Nahrung geblieben war, setzte seine Kinnladen in Bewegung und
+a&szlig;, was der Magen fassen wollte, dann streckte er sich aufs Bett, um zu
+verdauen. Als er wieder aufstand, kamen die Dienerinnen zur&uuml;ck und baten
+den &raquo;gn&auml;digen Herrn&laquo;, im Garten spazieren zu gehen, w&auml;hrend die gn&auml;dige
+Frau sich ankleiden lasse. Es wurden ihm von allen Seiten so viel
+&raquo;gn&auml;dige Herren&laquo; an den Hals geworfen, da&szlig; er schon anfing, sich f&uuml;r
+einen solchen zu halten, und seines fr&uuml;heren Standes verga&szlig;.</p>
+
+<p>Ich Garten fand er auf Schritt und Tritt Sch&ouml;nheit und Zierde; im gr&uuml;nen
+Laube gl&auml;nzten goldene und silberne Aepfel, sogar die Fichten- und
+Tannenzapfen waren golden und goldgefiederte V&ouml;gel h&uuml;pften in den
+Wipfeln und auf den Zweigen. Zwei M&auml;dchen traten hinter einem Geb&uuml;sche
+hervor, sie hatten Auftrag, den &raquo;gn&auml;digen Herrn&laquo; im Garten herum zu
+f&uuml;hren und ihm alle Sch&ouml;nheiten desselben zu zeigen. Weiter gehend
+gelangten sie an den Rand eines Teiches, auf welchem silbergefiederte
+G&auml;nse und Schw&auml;ne schwammen. Ueberall schimmerte Morgenroth, doch
+nirgends sah man die Sonne. Die mit Bl&uuml;then bedeckten Geb&uuml;sche hauchten
+s&uuml;&szlig;en Duft aus, und Bienen, gro&szlig; wie Bremsen, flogen um die Bl&uuml;then
+herum. Alles, was unser Freund hier von B&auml;umen und Gew&auml;chsen erblickte,
+war viel herrlicher, als wir es jemals schauen. Sodann erschienen zwei
+pr&auml;chtig gekleidete M&auml;dchen, um<span class='pagenum'><a name="Page_221" id="Page_221">[S 221]</a></span> den &raquo;gn&auml;digen Herrn&laquo; zur gn&auml;digen Frau
+einzuladen, welche ihn erwarte. Ehe man ihn zu ihr f&uuml;hrte, wurde ihm
+noch ein blauseidener Shawl<a name="FNanchor_76_76" id="FNanchor_76_76"></a><a href="#Footnote_76_76" class="fnanchor">[76]</a> um die Schultern gelegt. Wer h&auml;tte in
+diesem Aufzuge den fr&uuml;heren Schlaf-T&ouml;nnis wieder erkannt?</p>
+
+<p>In einer pr&auml;chtigen Halle, die so gro&szlig; wie eine Kirche und auch, wie das
+Schlafgemach, aus Glas gegossen war, sa&szlig;en zw&ouml;lf scheue Jungfrauen auf
+silbernen St&uuml;hlen. Hinter ihnen auf einer Erh&ouml;hung unweit der Wand
+standen zwei goldene St&uuml;hle, auf deren einem die hehre K&ouml;nigin sa&szlig;,
+w&auml;hrend der andere noch leer war. Als Schlaf-T&ouml;nnis &uuml;ber die Schwelle
+trat, erhoben sich alle Jungfrauen von ihren Sitzen und gr&uuml;&szlig;ten den
+Ank&ouml;mmling ehrerbietig, setzen sich auch nicht eher wieder, als bis es
+ihnen gehei&szlig;en worden. Die Herrin selber blieb auf ihrem Stuhle sitzen,
+nickte dem J&uuml;nglinge ihren Gru&szlig; zu und winkte befehlend mit dem Finger,
+worauf die F&uuml;hrerinnen den Schlaf-T&ouml;nnis in die Mitte nahmen und zur
+Herrin geleiteten. Der J&uuml;ngling ging sch&uuml;chternen Schrittes vorw&auml;rts,
+und wagte nicht die Augen aufzuschlagen, denn all' die unerwartete
+Pracht und Herrlichkeit blendete ihn. Man wies ihm seinen Platz auf dem
+goldenen Stuhle neben der Herrin an, und diese sagte: &raquo;Dieser J&uuml;ngling
+ist mein lieber Br&auml;utigam, dem ich mich verlobt und den ich mir zu
+meinem Gemahl erkoren<span class='pagenum'><a name="Page_222" id="Page_222">[S 222]</a></span> habe. Ihr m&uuml;&szlig;t ihm jegliche Ehre erweisen und ihm
+eben so gehorchen wie mir. Jedes Mal, da&szlig; ich das Haus verlasse, m&uuml;&szlig;t
+ihr ihm die Zeit vertreiben und ihn pflegen und h&uuml;ten wie meinen
+Augapfel. Schwere Strafe w&uuml;rde den treffen, der meinen Willen nicht
+p&uuml;nktlich erf&uuml;llt.&laquo;</p>
+
+<p>Schlaf-T&ouml;nnis sah wie verbr&uuml;ht drein, weil er gar nicht wu&szlig;te, was er
+von der Sache halten solle; die Erlebnisse dieser Nacht schienen
+wunderbarer als Wunder. Er mu&szlig;te sich in Gedanken immer wieder fragen,
+ob er wache oder tr&auml;ume. Die Herrin errieth, was in ihm vorging, erhob
+sich von ihrem Stuhle, nahm ihn bei der Hand und f&uuml;hrte ihn aus einem
+Zimmer in's andere; alle waren menschenleer. So waren sie in das zw&ouml;lfte
+Gemach gelangt, das etwas kleiner aber noch pr&auml;chtiger war, als die
+andern. Hier nahm die Herrin ihre Krone vom Haupte, warf den
+goldverbr&auml;mten seidenen Mantel ab, und als Schlaf-T&ouml;nnis jetzt die Augen
+aufzuschlagen wagte, sah er keine fremde Herrin, sondern die Meermaid an
+seiner Seite. O du liebe Zeit! jetzt wuchs ihm pl&ouml;tzlich der Muth und
+seine Hoffnung erbl&uuml;hte. Freudig rief er: &raquo;O theure Meermaid!&laquo; &mdash; aber
+in demselben Augenblick schlo&szlig; die Hand der Jungfrau ihm den Mund; sie
+sprach in ernstem Tone: &raquo;Wenn dir mein und dein eigenes Gl&uuml;ck lieb ist,
+so nenne nie mehr diesen Namen, den man mir zum Schimpf beigelegt hat.
+Ich bin der Wasser-Mutter<a name="FNanchor_77_77" id="FNanchor_77_77"></a><a href="#Footnote_77_77" class="fnanchor">[77]</a> Tochter, und unserer sind viele
+Schwestern, wenn wir auch alle einsam,<span class='pagenum'><a name="Page_223" id="Page_223">[S 223]</a></span> jede an ihrem Ort, im Meere, in
+Seeen und Fl&uuml;ssen wohnen, und uns nur selten einmal durch einen
+gl&uuml;cklichen Zufall zu sehen bekommen.&laquo; Dann erkl&auml;rte sie ihm, sie habe
+bis jetzt jungfr&auml;ulich gelebt, m&uuml;sse aber als verordnete Herrscherin
+Namen und W&uuml;rde einer k&ouml;niglichen Frau aufrecht erhalten. Schlaf-T&ouml;nnis
+war durch sein unverhofftes Gl&uuml;ck wie von Sinnen gekommen, er wu&szlig;te
+nicht, was er in seiner Freude beginnen sollte, aber die Zunge war ihm
+wie gebunden, und er brachte nicht viel mehr heraus als <em class="gesperrt">Ja</em> oder <em class="gesperrt">Nein</em>.
+Als er sich aber beim Mittagsmahl die leckeren Speisen schmecken lie&szlig;,
+und als die k&ouml;stlichen Getr&auml;nke ihm warm machten, da l&ouml;ste sich auch
+seine Zunge, und er wu&szlig;te sich nicht blo&szlig; wie sonst gut zu unterhalten,
+sondern auch manchen artigen Scherz anzubringen.</p>
+
+<p>Am folgenden und am dritten Tage ging dieses gl&uuml;ckliche Leben eben so
+fr&ouml;hlich weiter; Schlaf-T&ouml;nnis glaubte sich bei lebendigem Leibe in den
+Himmel versetzt. Vor Schlafengehen sagte die Meermaid zu ihm: &raquo;Morgen
+haben wir Donnerstag,<a name="FNanchor_78_78" id="FNanchor_78_78"></a><a href="#Footnote_78_78" class="fnanchor">[78]</a> und allw&ouml;chentlich mu&szlig; ich, einem Gel&uuml;bde
+gem&auml;&szlig; an diesem Tage fasten und einsam von allen Andern getrennt leben.
+Donnerstags kannst du mich nicht fr&uuml;her sehen, als bis der Hahn Abends
+drei Mal gekr&auml;ht hat. Meine Dienerinnen werden inzwischen f&uuml;r dich
+sorgen, da&szlig; dir die Zeit nicht lang werde, und es dir an Nichts fehle.&laquo;</p>
+
+<p>Am andern Morgen fand Schlaf-T&ouml;nnis seine Genossin nirgends &mdash; er
+gedachte dessen, was sie ihm<span class='pagenum'><a name="Page_224" id="Page_224">[S 224]</a></span> am Abend zuvor angek&uuml;ndigt hatte, n&auml;mlich,
+da&szlig; er heute und jeden k&uuml;nftigen Donnerstag ohne seine Gemahlin
+zubringen m&uuml;sse. Die Dienerinnen bem&uuml;hten sich, ihm auf alle Weise die
+Zeit zu vertreiben, sie sangen, spielten und f&uuml;hrten heitere T&auml;nze auf;
+dann setzten sie ihm wieder Speise und Trank vor, wie ein geborener
+K&ouml;nigssohn sie nicht besser haben konnte, und der Tag verging ihm
+schneller als er geglaubt hatte. Nach dem Abendessen begab er sich zur
+Ruhe, und als der Hahn das dritte Mal gekr&auml;ht hatte, kam die Sch&ouml;ne
+wieder zu ihm. Ebenso ging es an jedem folgenden Donnerstage. Oft zwar
+hatte er die Geliebte gebeten, am Donnerstage mit ihr zusammen fasten zu
+d&uuml;rfen, aber vergebens. Als er nun einst wieder an einem Mittwoch seine
+Gemahlin mit dieser Bitte qu&auml;lte und ihr keine Ruhe lie&szlig;, sagte die
+Meermaid mit thr&auml;nenden Augen: &raquo;Nimm mein Leben, wenn du willst, ich
+gebe es gerne hin, aber deinen Wunsch, dich zu meinem Fasttage
+mitzunehmen, kann und darf ich nicht erf&uuml;llen.&laquo;</p>
+
+<p>Ein Jahr oder dar&uuml;ber mochte ihnen so verflossen sein, als sich Zweifel
+im Herzen des Schlaf-T&ouml;nnis regten, die immer qu&auml;lender wurden, so da&szlig;
+er keine Ruhe mehr fand. Das Essen wollte ihm nicht munden, und der
+Schlaf erquickte ihn nicht. Er f&uuml;rchtete n&auml;mlich, da&szlig; die Meermaid au&szlig;er
+ihm noch einen heimlichen Geliebten habe, in dessen Armen sie jeden
+Donnerstag ruhe, w&auml;hrend er die Zeit mit ihren Dienerinnen hinbringen
+m&uuml;sse. Die Kammer, in welcher die Meermaid sich Donnerstags verborgen
+hielt, kannte er l&auml;ngst, aber was half es? Die Th&uuml;r war immer
+verschlossen und die Fenster waren von<span class='pagenum'><a name="Page_225" id="Page_225">[S 225]</a></span> innen durch doppelte Vorh&auml;nge so
+dicht verh&uuml;llt, da&szlig; nirgends eine Oeffnung wenn auch nur von der Breite
+eines Nadel&ouml;hrs blieb, durch welche ein Sonnenstrahl, geschweige denn
+ein menschliches Auge, h&auml;tte eindringen k&ouml;nnen. Aber je unm&ouml;glicher die
+Aufhellung dieses Geheimnisses schien, desto heftiger wurde sein
+Verlangen, der Sache auf den Grund zu kommen. Wenngleich er von dem, was
+ihm auf dem Herzen lastete, der Meermaid kein W&ouml;rtchen verrieth, so
+merkte sie doch an seinem unsteten Wesen, da&szlig; die Sachen nicht mehr
+standen wie sie sollten. Wiederholt bat sie ihn mit Thr&auml;nen in den
+Augen, er m&ouml;ge sie und sich selbst doch nicht mit verkehrten Gedanken
+plagen. &raquo;Ich bin,&laquo; sagte sie, &raquo;frei von aller Schuld gegen dich, ich
+habe keine heimliche Liebe noch irgend eine andere S&uuml;nde gegen dich auf
+dem Gewissen. Aber dein falscher Argwohn macht uns Beide ungl&uuml;cklich,
+und wird unsern Herzensfrieden zerst&ouml;ren. Mit Freuden w&uuml;rde ich jeden
+Augenblick mein Leben f&uuml;r dich hingeben, wenn du es w&uuml;nschen w&uuml;rdest,
+aber an meinem Fasttage kann ich dich nicht in meine N&auml;he lassen. Es
+darf nicht sein, und w&uuml;rde unserer Liebe und unserem Gl&uuml;cke f&uuml;r immer
+den Untergang bringen. Wir leben ja sechs Tage in der Woche in ruhigem
+Gl&uuml;cke mit einander, wie kann uns die Trennung <em class="gesperrt">eines</em> Tages so schwer
+fallen, da&szlig; du sie nicht ertragen solltest.&laquo;</p>
+
+<p>Sechs Tage hielt solch' ein verst&auml;ndiger Zuspruch immer wieder vor, aber
+wenn der n&auml;chste Donnerstag kam, und die Meermaid nicht erschien, dann
+verlor er den Kopf und geberdete sich wie ein halb Verr&uuml;ckter. Er hatte
+keine Ruhe mehr, zuletzt wollte er am Donnerstage<span class='pagenum'><a name="Page_226" id="Page_226">[S 226]</a></span> Niemand um sich
+haben, die Dienerinnen durften nur die Speisen und Getr&auml;nke auftragen
+und mu&szlig;ten sich dann gleich entfernen, damit er allein hausen k&ouml;nne wie
+ein Gespenst.</p>
+
+<p>Diese g&auml;nzliche Verwandlung nahm Alle Wunder, und als die Meermaid die
+Sache erfuhr, wollte sie sich die Augen aus dem Kopfe weinen; doch
+&uuml;berlie&szlig; sie sich ihrem Schmerze nur, wenn Niemand dabei war.
+Schlaf-T&ouml;nnis hoffte, wenn er allein gelassen w&uuml;rde, bessere Gelegenheit
+zur Untersuchung der geheimni&szlig;vollen Fastenkammer zu finden &mdash;
+vielleicht entdeckte er doch irgendwo ein Sp&auml;ltchen, durch welches er
+sp&auml;hen und beobachten k&ouml;nnte, was dort vorginge. Je mehr er sich aber
+abqu&auml;lte, desto unmuthiger wurde auch die Meermaid, und wenn sie noch
+ein freundliches Antlitz zeigte, so kam ihr doch die Freundlichkeit
+nicht mehr von Herzen wie sonst.</p>
+
+<p>So vergingen einige Wochen, und die Sache wurde nicht besser und nicht
+schlechter; da fand Schlaf-T&ouml;nnis eines Donnerstags neben dem Fenster
+eine kleine Stelle, wo die Vorh&auml;nge sich zuf&auml;llig verschoben hatten, so
+da&szlig; der Blick in die Kammer dringen konnte. Was er da sah, machte sein
+Herz &auml;rger als Februark&auml;lte gerinnen. Das geheimni&szlig;volle Gemach hatte
+keinen Fu&szlig;boden, sondern sah aus wie ein gro&szlig;er viereckiger K&uuml;bel, der
+viele Fu&szlig; hoch mit Wasser gef&uuml;llt war. Darin schwamm seine geliebte
+Meermaid. Vom Kopf bis zum Bauch hatte sie noch die Sch&ouml;nheit des
+weiblichen K&ouml;rpers, aber die untere H&auml;lfte vom Nabel abw&auml;rts war ganz
+Fisch, mit Schuppen bedeckt und mit Flossen versehen. Mit dem breiten
+Fischschwanz pl&auml;tscherte sie zuweilen im Wasser, da&szlig; es<span class='pagenum'><a name="Page_227" id="Page_227">[S 227]</a></span> hoch
+aufspritzte. &mdash; Der Sp&auml;her wich wie bet&auml;ubt zur&uuml;ck, und ging betr&uuml;bt
+hinweg. Wie viel h&auml;tte er darum gegeben, wenn er diesen Anblick aus
+seinem Ged&auml;chtnisse h&auml;tte ausl&ouml;schen k&ouml;nnen! Er dachte hin und her,
+wu&szlig;te aber nicht, was er anfangen sollte.</p>
+
+<p>Der Hahn hatte am Abend wie gew&ouml;hnlich drei Mal gekr&auml;ht, aber die
+Meermaid kam nicht zu ihm zur&uuml;ck. Er durchwachte die ganze Nacht, aber
+die Sch&ouml;ne erschien immer noch nicht. Erst am Margen kam sie in
+schwarzen Trauerkleidern, das Gesicht mit einem d&uuml;nnen Seidentuch
+verh&uuml;llt, und sprach mit weinender Stimme: &raquo;O, du Unseliger, der du
+durch deine Torheit unserem gl&uuml;cklichen Leben ein Ende gemacht hast! Du
+siehst mich heute zum letzten Male und mu&szlig;t nun wieder in deinen
+fr&uuml;heren Zustand zur&uuml;ckkehren, was du dir selber zuzuschreiben hast.
+Leb' wohl zum letzten Male!&laquo;</p>
+
+<p>Ein pl&ouml;tzlicher Krach und ein starkes Get&ouml;se, als ob der Boden unter den
+F&uuml;&szlig;en weg rollte, warf den Schlaf-T&ouml;nnis nieder, und in seiner Bet&auml;ubung
+h&ouml;rte und sah er nicht mehr, was mit ihm und um ihn her vorging.</p>
+
+<p>Als er endlich, wer wei&szlig; wie lange nachher, aus seiner Ohnmacht
+erwachte, fand er sich am Meeresstrande, dicht bei demselben Steine, auf
+welchem die sch&ouml;ne Meermaid gesessen hatte, als sie den
+Freundschaftsbund mit ihm schlo&szlig;. Statt der pr&auml;chtigen Kleider, die er
+in der Behausung der Meermaid t&auml;glich getragen hatte, fand er seinen
+alten Anzug, der aber viel &auml;lter und zerlumpter aussah, als es nach
+seiner Annahme der Fall sein konnte. Die Gl&uuml;ckstage unseres guten
+Freundes waren vor&uuml;ber, und keine noch so bittere Reue konnte sie
+zur&uuml;ckbringen.<span class='pagenum'><a name="Page_228" id="Page_228">[S 228]</a></span></p>
+
+<p>Als er weiter ging, stie&szlig; er auf die ersten Geh&ouml;fte seines Dorfs. Sie
+standen wohl an der alten Stelle, aber sahen doch anders aus. Was ihm
+aber, als er sich umsah, noch viel wunderbarer d&uuml;nkte, war, da&szlig; die
+Menschen ihm ganz fremd waren, und nicht ein einziges bekanntes Gesicht
+ihm begegnete.</p>
+
+<p>Auch ihn sahen Alle befremdet an, als ob sie ein Wunderthier vor sich
+h&auml;tten. Schlaf-T&ouml;nnis ging nun zum Hofe seiner Eltern; auch hier kamen
+ihm fremde Menschen entgegen, die ihn nicht kannten, und die er nicht
+kannte. Erstaunt fragte er nach seinem Vater und seinen Br&uuml;dern, aber
+Niemand konnte ihm Bescheid geben. Endlich kam ein gebrechlicher Alter
+auf einen Stock gest&uuml;tzt aus dem Hause und sagte: &raquo;Bauer, der Wirth,
+nach welchem du dich erkundigst, schl&auml;ft schon &uuml;ber drei&szlig;ig Jahre in der
+Erde; auch seine S&ouml;hne m&uuml;ssen todt sein. Wo kommst du denn her,
+Alterchen, um solchen vergessenen Dingen nachzuforschen?&laquo; Das Wort
+&raquo;Alterchen&laquo; hatte den Schlaf-T&ouml;nnis derma&szlig;en erschreckt, da&szlig; er nichts
+weiter fragen konnte. Er f&uuml;hlte seine Glieder zittern, wandte den
+fremden Menschen den R&uuml;cken, und eilte zur Pforte hinaus. Die Anrede
+&raquo;Alterchen&laquo; lie&szlig; ihm keine Ruhe; dies Wort war ihm centnerschwer auf die
+Seele gefallen &mdash; die F&uuml;&szlig;e versagten ihm den Dienst.</p>
+
+<p>An der n&auml;chsten Quelle besah er seine Gestalt im Wasserspiegel: die
+bleichen zusammengeschrumpften Wangen, die eingefallenen Augen, der
+lange graue Bart und die grauen Haare best&auml;tigten, was er vernommen
+hatte. Diese vergilbte, verwelkte Gestalt hatte keine Aehnlichkeit mehr
+mit dem J&uuml;ngling, den die Meermaid sich zum Br&auml;utigam<span class='pagenum'><a name="Page_229" id="Page_229">[S 229]</a></span> erkoren hatte.
+Jetzt erst ward der Ungl&uuml;ckliche inne, da&szlig; die vermeintlichen paar Jahre
+ihm den gr&ouml;&szlig;ten Theil seines Lebens hinweggenommen hatten, denn als
+bl&uuml;hender J&uuml;ngling war er in das Haus der Meermaid eingezogen, und als
+gespenstischer Alter war er zur&uuml;ckgekommen. Dort hatte er weder den Flu&szlig;
+der Zeit noch das Hinschwinden des K&ouml;rpers gesp&uuml;rt, und er konnte es
+sich nicht erkl&auml;ren, wie die B&uuml;rde des Alters ihm so pl&ouml;tzlich, gleich
+einer Vogelschlinge, &uuml;ber den Hals gekommen war. Was sollte er jetzt
+beginnen, da er als Fremder unter Fremde verschneit war? &mdash; Einige Tage
+lang streifte er am Strande von einem Bauerhofe zum andern umher, und
+gute Menschen gaben ihm aus Barmherzigkeit ein St&uuml;ck Brot. Da traf er
+einst mit einem munteren Burschen zusammen, dem er seinen Lebenslauf
+ausf&uuml;hrlich erz&auml;hlte, aber in derselben Nacht war er auch verschwunden.
+Nach einigen Tagen w&auml;lzten die Wellen seinen Leichnam an's Ufer. Ob er
+vors&auml;tzlich oder zuf&auml;llig im Meere ertrunken war, ist nicht bekannt
+geworden.</p>
+
+<p>Von dieser Zeit an hat sich das Wesen der Meermaid den Menschen
+gegen&uuml;ber g&auml;nzlich ver&auml;ndert; nur Kindern erscheint sie zuweilen, fast
+immer in anderer Gestalt, erwachsene Menschen aber l&auml;&szlig;t sie nicht an
+sich heran kommen, sondern scheut sie wie das Feuer.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_230" id="Page_230">[S 230]</a></span></p>
+<h2>17. Die Unterirdischen.<a name="FNanchor_79_79" id="FNanchor_79_79"></a><a href="#Footnote_79_79" class="fnanchor">[79]</a></h2>
+
+
+<p>In einer st&uuml;rmigen Nacht zwischen Weihnacht und Neujahr war ein Mann vom
+Wege abgekommen; w&auml;hrend er sich durch die tiefen Schneetriften
+durchzuarbeiten suchte,<span class='pagenum'><a name="Page_231" id="Page_231">[S 231]</a></span> erlahmte seine Kraft, so da&szlig; er von Gl&uuml;ck sagen
+konnte, als er unter einem dichten Wachholderbusch Schutz vor dem Winde
+fand. Hier wollte er &uuml;bernachten, in der Hoffnung, am hellen Morgen den
+Weg leichter zu finden. Er zog seine Glieder zusammen wie ein Igel,
+wickelte sich in seinen warmen Pelz und schlief bald ein. Ich wei&szlig;
+nicht, wie lange er so gelegen hatte, als er f&uuml;hlte, da&szlig; Jemand ihn
+r&uuml;ttele. Als er aus dem Schlafe auffuhr, schlug eine fremde Stimme an
+sein Ohr: &raquo;Bauer, ohe! steh auf! sonst begr&auml;bt dich der Schnee, und du
+kommst nicht wieder heraus.&laquo; Der Schl&auml;fer steckte den Kopf aus dem Pelze
+hervor und sperrte die noch schlaftrunkenen Augen weit auf. Da sah er
+einen Mann von langem schlanken Wuchse vor sich; der Mann trug als Stock
+einen jungen Tannenbaum, der doppelt so hoch war wie sein Tr&auml;ger. &raquo;Komm
+mit mir,&laquo; sagte der Mann mit dem Tannenstock &mdash; &raquo;f&uuml;r uns ist im Walde
+unter B&auml;umen ein Feuer gemacht, wo sich's<span class='pagenum'><a name="Page_232" id="Page_232">[S 232]</a></span> besser ruht, als hier auf
+freiem Felde.&laquo; Ein so freundliches Anerbieten mochte der Mann nicht
+ausschlagen, vielmehr stand er sogleich auf, und schritt r&uuml;stig mit dem
+fremden Manne vorw&auml;rts. Der Schneesturm tobte so heftig, da&szlig; man auf
+drei Schritt nicht sehen konnte, aber wenn der fremde Mann seinen
+Tannenstock aufhob und mit strenger Stimme rief: &raquo;Hoho!
+St&uuml;mesmutter!<a name="FNanchor_80_80" id="FNanchor_80_80"></a><a href="#Footnote_80_80" class="fnanchor">[80]</a> mach' Platz!&laquo; so bildete sich vor ihnen ein breiter
+Pfad, wohin auch kein Schneefl&ouml;ckchen drang. Zu beiden Seiten und im
+R&uuml;cken tobte wildes Schneegest&ouml;ber, aber die Wanderer focht es nicht an.
+Es war, als ob auf beiden Seiten eine unsichtbare Wand das Gest&uuml;m
+abwehrte. Bald kamen die M&auml;nner an den Wald, aus dem schon von fern der
+Schein eines Feuers ihnen entgegen leuchtete. &raquo;Wie hei&szlig;t du?&laquo; fragte der
+Mann mit dem Tannenstock, und der Bauer erwiederte: &raquo;Des langen Hans
+Sohn Hans.&laquo;</p>
+
+<p>Am Feuer sa&szlig;en drei M&auml;nner mit wei&szlig;en leinenen Kleidern angethan, als
+w&auml;re es mitten im Sommer. Auch sah man in einem Umkreise von drei&szlig;ig
+oder mehr Schritten nur Sommersch&ouml;ne: das Moos war trocken, die Pflanzen
+gr&uuml;n, und der Rasen wimmelte von Ameisen und K&auml;ferchen. Von fern aber
+h&ouml;rte des langen Hans Sohn den Wind sausen und den Schnee brausen. Noch
+verwunderlicher war das brennende Feuer, welches hellen Glanz
+verbreitete, ohne da&szlig; ein Rauchw&ouml;lkchen aufstieg. &raquo;Was meinst du, Sohn
+des langen Hans, ist dies nicht ein besserer Ruheplatz f&uuml;r die Nacht,
+als da auf freiem Felde unter dem Wachholderbusch?&laquo; Hans mu&szlig;te dies
+zugeben,<span class='pagenum'><a name="Page_233" id="Page_233">[S 233]</a></span> und dem fremden Manne daf&uuml;r danken, da&szlig; er ihn so gut gef&uuml;hrt
+hatte. Dann warf er seinen Pelz ab, wickelte ihn zu einem Kopfkissen
+zusammen, und legte sich im Scheine des Feuers nieder. Der Mann mit dem
+Tannenstock nahm sein F&auml;&szlig;chen aus einem Busche und bot Hansen einen
+Labetrunk, der schmeckte vortrefflich und erfreute ihm das Herz. Der
+Mann mit dem Tannenstock streckte sich nun auch auf den Boden hin und
+redete mit seinen Genossen in einer fremden Sprache, von der unser Hans
+kein W&ouml;rtchen verstand; er schlief darum bald ein.</p>
+
+<p>Als er aufwachte, fand er sich allein an einem fremden Orte, wo weder
+Wald noch Feuer mehr war. Er rieb sich die Augen und rief sich das
+Erlebni&szlig; der Nacht zur&uuml;ck, meinte aber getr&auml;umt zu haben; doch konnte er
+nicht begreifen, wie er denn hierher an einen ganz fremden Ort gerathen
+war. Aus der Ferne drang ein starkes Ger&auml;usch an sein Ohr, und er f&uuml;hlte
+den Boden unter seinen F&uuml;&szlig;en zittern. Hans horchte eine Zeit lang, von
+wo der L&auml;rm komme, und beschlo&szlig; dann, dem Schalle nachzugehen, weil er
+hoffte, auf Menschen zu treffen. So kam er an die M&uuml;ndung einer
+Felsengrotte, aus welcher der L&auml;rm erscholl, und ein Feuer hervorschien.
+Als er in die Grotte trat, sah er eine ungeheure Schmiede vor sich mit
+einer Menge von Blaseb&auml;lgen und Ambosen; an jedem Ambos standen sieben
+Arbeiter. N&auml;rrischere Schmiede konnten auf der Welt nicht zu finden
+sein. Die einem Manne bis zum Knie reichenden M&auml;nnlein hatten K&ouml;pfe, die
+gr&ouml;&szlig;er waren als ihre winzigen Leiber, und f&uuml;hrten H&auml;mmer, die mehr als
+doppelt so gro&szlig; waren, als ihre Tr&auml;ger. Aber sie h&auml;mmerten mit ihren
+schweren Eisen<span class='pagenum'><a name="Page_234" id="Page_234">[S 234]</a></span>keulen so wacker auf den Ambos los, da&szlig; die kr&auml;ftigsten
+M&auml;nner keine wuchtigeren Schl&auml;ge h&auml;tten f&uuml;hren k&ouml;nnen. Bekleidet waren
+die kleinen Schmiede nur mit Ledersch&uuml;rzen, die vom Halse bis zu den
+F&uuml;&szlig;en reichten; auf der R&uuml;ckseite waren die K&ouml;rper nackend, wie Gott sie
+geschaffen hatte. Im Hintergrund an der Wand sa&szlig; der Hansen wohlbekannte
+Mann mit dem Tannenstocke auf einem hohen Block, und gab scharf Acht auf
+die Arbeit der kleinen Gesellen. Zu seinen F&uuml;&szlig;en stand eine gro&szlig;e Kanne,
+aus welcher die Arbeiter ab und zu einen Trunk thaten. Der Herr der
+Schmiede hatte nicht mehr die wei&szlig;en Kleider von gestern an, sondern
+trug einen schwarzen ru&szlig;igen Rock und um die H&uuml;ften einen Lederg&uuml;rtel
+mit gro&szlig;er Schnalle; mit seinem Tannenstocke gab er den Gesellen von
+Zeit zu Zeit einen Wink, denn das Menschenwort w&auml;re bei dem Get&ouml;se
+unvernehmlich gewesen. Ob Jemand den Hans bemerkt hatte, blieb diesem
+unklar, sintemal Meister und Gesellen ihre Arbeit hurtig f&ouml;rderten, ohne
+den fremden Mann zu beachten. Nach einigen Stunden wurde den kleinen
+Schmieden eine Rast geg&ouml;nnt; die B&auml;lge wurden angehalten, und die
+schweren H&auml;mmer zu Boden geworfen. Jetzt, da die Arbeiter die Grotte
+verlie&szlig;en, erhob sich der Wirth vom Blocke und rief den Hans zu sich:
+&raquo;Ich habe deine Ankunft wohl bemerkt,&laquo; sagte er, &raquo;aber da die Arbeit
+dr&auml;ngte, konnte ich nicht fr&uuml;her mit dir reden. Heute mu&szlig;t du mein Gast
+sein, um meine Lebensweise und Haushaltung kennen zu lernen. Verweile
+hier so lange, bis ich die schwarzen Kleider ablege.&laquo; Mit diesen Worten
+zog er einen Schl&uuml;ssel aus der Tasche, schlo&szlig; eine Th&uuml;r in der
+Grottenwand auf, und lie&szlig; Hans hineintreten.<span class='pagenum'><a name="Page_235" id="Page_235">[S 235]</a></span></p>
+
+<p>O was f&uuml;r Sch&auml;tze und Reichth&uuml;mer Hans hier erblickte! Ringsum lagen
+Gold- und Silberbarren aufgestapelt und schimmerten und flimmerten ihm
+vor den Augen. Hans wollte zum Spa&szlig;e die Goldbarren eines Haufens
+&uuml;berz&auml;hlen und war gerade bis f&uuml;nfhundert und siebzig gekommen, als der
+Wirth zur&uuml;ckkehrte und lachend rief: &raquo;La&szlig; nur das Z&auml;hlen, es w&uuml;rde dir
+zu viel Zeit kosten. Nimm dir lieber einige Barren vom Haufen, ich will
+sie dir zum Andenken verehren.&laquo; Nat&uuml;rlich lie&szlig; sich Hans so etwas nicht
+zweimal sagen; mit beiden H&auml;nden erfa&szlig;te er einen Goldbarren, konnte ihn
+aber nicht einmal von der Stelle r&uuml;hren, geschweige denn aufheben. Der
+Wirth lachte und sagte: &raquo;Du winziger Floh vermagst nicht das kleinste
+meiner Geschenke fortzubringen, begn&uuml;ge dich denn mit der Augenweide.&laquo;
+Mit diesen Worten f&uuml;hrte er Hans in eine andere Kammer, von da in eine
+dritte, vierte und so fort, bis sie endlich in die siebente
+Grottenkammer kamen, die von der Gr&ouml;&szlig;e einer gro&szlig;en Kirche und gleich
+den anderen vom Fu&szlig;boden bis zur Decke mit Gold- und Silberhaufen
+angef&uuml;llt war. Hans wunderte sich &uuml;ber die unerme&szlig;lichen Sch&auml;tze, womit
+man s&auml;mmtliche K&ouml;nigreiche der Welt h&auml;tte zu erb und eigen kaufen
+k&ouml;nnen, und die hier nutzlos unter der Erde lagen. Er fragte den Wirth:
+&raquo;We&szlig;wegen h&auml;uft ihr hier einen so ungeheuren Schatz an, wenn doch kein
+lebendes Wesen von dem Gold und Silber Vortheil zieht? K&auml;me dieser
+Schatz in die H&auml;nde der Menschen, so w&uuml;rden sie alle reich werden, und
+Niemand brauchte zu arbeiten oder Noth zu leiden.&laquo; &raquo;Gerade de&szlig;halb,&laquo;
+erwiederte der Wirth &mdash; &raquo;darf ich den Schatz nicht an die Menschen
+&uuml;berliefern; die ganze Welt w&uuml;rde<span class='pagenum'><a name="Page_236" id="Page_236">[S 236]</a></span> vor Faulheit zu Grunde gehen, wenn
+Niemand mehr f&uuml;r das t&auml;gliche Brot zu sorgen brauchte. Der Mensch ist
+dazu geschaffen, da&szlig; er sich durch Arbeit und Sorgfalt erhalten soll.&laquo;
+Hans wollte das durchaus nicht wahr haben und bestritt nachdr&uuml;cklich die
+Ansicht des Wirths. Endlich bat er, ihm doch zu erkl&auml;ren was es fromme,
+da&szlig; hier all' das Gold und Silber als Besitzthum eines Mannes lagere und
+schimmele, und da&szlig; der Herr des Goldes unabl&auml;ssig bem&uuml;ht sei, seinen
+Schatz zu vergr&ouml;&szlig;ern, da er schon einen so &uuml;berschwenglichen Ueberflu&szlig;
+habe? Der Wirth gab zur Antwort: &raquo;Ich bin kein Mensch, wenn ich gleich
+Gestalt und Gesicht eines solchen habe, sondern eines jener h&ouml;heren
+Gesch&ouml;pfe, welche nach der Anordnung des Allvaters geschaffen sind, der
+Welt zu walten. Nach seinem Gebot mu&szlig; ich mit meinen kleinen Gesellen
+ohne Unterla&szlig; hier unter der Erde Gold und Silber bereiten, von welchem
+allj&auml;hrlich ein kleiner Theil zum Bedarf der Menschen herausgegeben
+wird, nur knapp soviel als sie brauchen, um ihre Angelegenheiten zu
+betreiben. Aber Niemand soll sich die Gabe ohne M&uuml;he zueignen. Wir
+m&uuml;ssen de&szlig;halb das Gold erst fein stampfen, und dann die K&ouml;rnlein mit
+Erde, Lehm und Sand vermischen; sp&auml;ter werden sie, wo das Gl&uuml;ck will, in
+diesem Grant gefunden, und m&uuml;ssen m&uuml;hsam herausgesucht werden. Aber,
+Freund, wir m&uuml;ssen unsere Unterhaltung abbrechen, denn die Mittagsstunde
+naht heran. Hast du Lust, meinen Schatz noch l&auml;nger zu betrachten, so
+bleib hier, erfreue dein Herz an dem Glanze des Goldes, bis ich komme
+dich zum Essen zu rufen.&laquo; Damit trennte er sich von Hans.<span class='pagenum'><a name="Page_237" id="Page_237">[S 237]</a></span></p>
+
+<p>Hans schlenderte nun wieder aus einer Schatzkammer in die andere, und
+versuchte hie und da ein kleineres St&uuml;ck Gold aufzuheben, aber es war
+ihm ganz unm&ouml;glich. Er hatte zwar schon fr&uuml;her von klugen Leuten sagen
+h&ouml;ren, wie schwer Gold sei, aber er hatte es niemals glauben wollen &mdash;
+jetzt lehrten es ihn seine eigenen Versuche. Nach einer Weile kam der
+Wirth zur&uuml;ck, aber so verwandelt, da&szlig; Hans ihn im ersten Augenblick
+nicht erkannte. Er trug rothe feuerfarbene Seidengew&auml;nder, reich
+verziert mit goldenen Tressen und goldenen Franzen, ein breiter goldener
+G&uuml;rtel umschlo&szlig; seine H&uuml;ften und auf seinem Kopfe schimmerte eine
+goldene Krone, aus welcher Edelsteine funkelten, wie Sterne in einer
+klaren Winternacht. Statt des Tannenstockes hielt er ein kleines aus
+feinem Golde gearbeitetes St&auml;bchen in der Hand, an welchem sich
+Ver&auml;stelungen befanden, so da&szlig; das St&auml;bchen aussah wie ein Spro&szlig; des
+gro&szlig;en Tannenstockes.</p>
+
+<p>Nachdem der k&ouml;nigliche Besitzer des Schatzes die Th&uuml;ren der
+Schatzkammern verschlossen und die Schl&uuml;ssel in die Tasche gesteckt
+hatte, nahm er Hans bei der Hand und f&uuml;hrte ihn aus der
+Schmiedewerkstatt in ein anderes Gemach, wo f&uuml;r sie das Mittagsmahl
+angerichtet war. Tische und Sitze waren von Silber; in der Mitte der
+Stube stand ein pr&auml;chtiger E&szlig;tisch, zu beiden Seiten desselben ein
+silberner Stuhl. E&szlig;- und Trinkgeschirr, als da sind Schalen, Sch&uuml;sseln,
+Teller, Kannen und Becher, waren von Gold. Nachdem sich der Wirth mit
+seinem Gaste am Tische niedergelassen hatte, wurden zw&ouml;lf Gerichte nach
+einander aufgetragen; die Diener waren ganz wie die M&auml;nnlein in der
+Schmiede, nur da&szlig; sie nicht nackt gingen<span class='pagenum'><a name="Page_238" id="Page_238">[S 238]</a></span> sondern helle reine Kleider
+trugen. Sehr wunderbar kam Hansen ihre Behendigkeit und Geschicklichkeit
+vor; denn obgleich man keine Fl&uuml;gel an ihnen wahrnahm, so bewegten sie
+sich doch so leicht, als w&auml;ren sie gefedert. Da sie n&auml;mlich nicht bis
+zur H&ouml;he des Tisches hinanreichten, so mu&szlig;ten sie wie die Fl&ouml;he immer
+vom Boden auf den Tisch h&uuml;pfen. Dabei hielten sie die gro&szlig;en mit Speisen
+angef&uuml;llten Schalen und Sch&uuml;sseln in der Hand, und wu&szlig;ten sich doch so
+in Acht zu nehmen, da&szlig; nicht ein Tropfen versch&uuml;ttet ward. W&auml;hrend des
+Essens gossen die kleinen Diener Meth und k&ouml;stlichen Wein aus den Kannen
+in die Becher und reichten diese den Speisenden. Der Wirth unterhielt
+sich freundlich und erl&auml;uterte Hansen mancherlei Geheimnisse. So sagte
+er, als auf sein n&auml;chtliches Zusammentreffen mit Hans die Rede kam:
+&raquo;Zwischen Weihnacht und Neujahr streife ich oft zum Vergn&uuml;gen auf der
+Erde umher, um das Treiben der Menschen zu beobachten und einige von
+ihnen kennen zu lernen. Von dem, was ich bis jetzt gesehen und erfahren
+habe, kann ich nicht viel R&uuml;hmens machen. Die Mehrzahl der Menschen lebt
+einander zum Schaden und zum Verdru&szlig;. Jeder klagt mehr oder weniger &uuml;ber
+den Andern, Niemand sieht seine eigene Schuld und Verfehlung, sondern
+w&auml;lzt auf Andere, was er sich selbst zugezogen hat.&laquo; Hans suchte nach
+M&ouml;glichkeit die Wahrheit dieser Worte abzuleugnen, aber der freundliche
+Wirth lie&szlig; ihm reichlich einschenken, so da&szlig; ihm endlich die Zunge so
+schwer wurde, da&szlig; er kein Wort mehr entgegnen, und auch nicht verstehen
+konnte, was der Hausherr sagte. Binnen kurzem schlief er auf seinem
+Stuhle ein, und wu&szlig;te nicht mehr, was mit ihm vorging.<span class='pagenum'><a name="Page_239" id="Page_239">[S 239]</a></span></p>
+
+<p>In seinem schlaftrunkenen Zustande hatte er wunderbare bunte Tr&auml;ume, in
+welchen ihm unaufh&ouml;rlich die Goldbarren vorschwebten. Da er sich im
+Traume viel st&auml;rker f&uuml;hlte, nahm er ein paar Goldbarren auf den R&uuml;cken
+und trug sie mit Leichtigkeit davon. Endlich ging ihm aber doch unter
+der schweren Last die Kraft aus, er mu&szlig;te sich niedersetzen und Athem
+sch&ouml;pfen. Da h&ouml;rte er sch&auml;kernde Stimmen, er hielt es f&uuml;r den Gesang der
+kleinen Schmiede; auch das helle Feuer von ihren Blaseb&auml;lgen traf sein
+Auge. Als er blinzelnd aufschaute, sah er um sich her gr&uuml;nen Wald, er
+lag auf blumigem Rasen und kein Feuer von Blaseb&auml;lgen, sondern der
+Sonnenstrahl war es, was ihm freundlich in's Gesicht schien. Er ri&szlig; sich
+nun vollends aus den Banden des Schlafes los, aber es dauerte eine Zeit
+lang, ehe er sich auf das besinnen konnte, was ihm in der Zwischenzeit
+begegnet war.</p>
+
+<p>Als endlich seine Erinnerungen wieder wach wurden, schien ihm Alles so
+seltsam und so wunderbar, da&szlig; er es mit dem nat&uuml;rlichen Lauf der Dinge
+nicht zu reimen wu&szlig;te. Hans besann sich, wie er im Winter einige Tage
+nach Weihnacht in einer st&uuml;rmigen Nacht vom Wege abgekommen war, und
+auch was sich sp&auml;ter zugetragen hatte, tauchte wieder in seiner
+Erinnerung auf. Er hatte die Nacht mit einem fremden Manne an einem
+Feuer geschlafen, war am andern Tage zu diesem Manne, der einen
+Tannenstock f&uuml;hrte, zu Gast gegangen, hatte dort zu Mittag gegessen und
+sehr viel getrunken &mdash; kurz er hatte ein paar Tage in Saus und Braus
+verlebt. Aber jetzt war doch rings um ihn her vollst&auml;ndiger Sommer, es
+konnte also nur Zauberei im Spiele sein. Als er sich erhob,<span class='pagenum'><a name="Page_240" id="Page_240">[S 240]</a></span> fand er
+ganz in der N&auml;he eine alte Feuerstelle, welche in der Sonne wunderbar
+gl&auml;nzte. Als er die St&auml;tte sch&auml;rfer in's Auge fa&szlig;te, sah er, da&szlig; der
+vermeintliche Aschenhaufe feiner Silberstaub und die &uuml;brig gebliebenen
+Br&auml;nde lichtes Gold waren. O dieses Gl&uuml;ck. Woher nun einen Sack nehmen,
+um den Schatz nach Hause zu tragen? Die Noth macht erfinderisch. Hans
+zog seinen Winterpelz aus, fegte die Silberasche zusammen, da&szlig; auch kein
+St&auml;ubchen &uuml;brig blieb, that die Goldbr&auml;nde und das Zusammengefegte in
+den Pelz und band dann die Zipfel desselben mit seinem G&uuml;rtel zusammen,
+so da&szlig; nichts herausfallen konnte. Obwohl die B&uuml;rde nicht gro&szlig; war, so
+wurde sie ihm doch geh&ouml;rig schwer, so da&szlig; er wie ein Mann zu schleppen
+hatte, ehe er einen passenden Platz fand, um seinen Schatz zu
+verstecken.</p>
+
+<p>Auf diese Weise war Hans durch ein unverhofftes Gl&uuml;ck pl&ouml;tzlich zum
+reichen Manne geworden, der sich wohl ein Landgut h&auml;tte kaufen k&ouml;nnen.
+Als er aber mit sich zu Rathe ging, hielt er es zuletzt f&uuml;r das Beste,
+seinen alten Wohnort zu verlassen, und sich weiter weg einen neuen
+auszusuchen, wo die Leute ihn nicht kannten. Dort kaufte er sich denn
+ein h&uuml;bsches Grundst&uuml;ck, und es blieb ihm noch ein gut St&uuml;ck Geld &uuml;brig.
+Dann nahm er eine Frau und lebte als reicher Mann gl&uuml;cklich bis an sein
+Ende. Vor seinem Tode hatte er seinen Kindern das Geheimni&szlig; entdeckt,
+wie es der Unterirdischen Wirth gewesen, der ihn reich gemacht. Aus dem
+Munde der Kinder und Kindeskinder verbreitete sich dann die Geschichte
+weiter.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_241" id="Page_241">[S 241]</a></span></p>
+<h2>18. Der Nordlands-Drache</h2>
+
+
+<p>Vormals lebte, der Erz&auml;hlung alter Leute zufolge, ein gr&auml;uliches
+Unthier, das aus Nordland gekommen war, schon gro&szlig;e Landstriche von
+Menschen und Thieren entbl&ouml;&szlig;t hatte, und allm&auml;hlich, wenn Niemand
+Abh&uuml;lfe gebracht h&auml;tte, alles Lebendige vom Erdboden vertilgt haben
+w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Es hatte einen Leib wie ein Ochs und Beine wie ein Frosch, n&auml;mlich zwei
+kurze vorn und zwei lange hinten, ferner einen schlangenartigen zehn
+Klafter langen Schweif; es bewegte sich wie ein Frosch, legte aber mit
+jedem Sprunge eine halbe Meile zur&uuml;ck. Zum Gl&uuml;cke blieb es an dem Orte,
+wo es sich einmal niedergelassen hatte, mehrere Jahre, und zog nicht
+eher weiter, als bis die ganze Umgegend kahl gefressen war. Der Leib war
+&uuml;ber und &uuml;ber mit Schuppen bedeckt, welche fester waren als Stein und
+Erz, so da&szlig; Nichts ihn besch&auml;digen konnte. Die beiden gro&szlig;en Augen
+funkelten bei Nacht und bei Tage wie die hellsten Kerzen, und wer einmal
+das Ungl&uuml;ck hatte, in ihren Glanz hinein zu blicken, der war wie
+bezaubert, und mu&szlig;te von selbst dem Ungeheuer in den<span class='pagenum'><a name="Page_242" id="Page_242">[S 242]</a></span> Rachen laufen. So
+kam es, da&szlig; sich ihm Thiere und Menschen selber zum Fra&szlig;e lieferten,
+ohne da&szlig; es sich von der Stelle zu r&uuml;hren brauchte. Die K&ouml;nige der
+Umgegend hatten demjenigen &uuml;beraus reichen Lohn verhei&szlig;en, der durch
+Zauber oder durch andere Gewalt das Ungeheuer vertilgen k&ouml;nnte, und
+Viele hatten schon ihr Heil versucht, aber ihre Unternehmungen waren
+alle gescheitert. So wurde einst ein gro&szlig;er Wald, in welchem das
+Ungeheuer hauste, in Brand gesteckt; der Wald brannte nieder, aber dem
+sch&auml;dlichen Thiere konnte das Feuer nicht das Mindeste anhaben.
+Allerdings sagten Ueberlieferungen, die im Munde alter Leute waren, da&szlig;
+Niemand auf andere Weise des Ungeheuers Herr werden k&ouml;nne, als durch des
+K&ouml;nigs Salomo Siegelring; auf diesem sei eine Geheimschrift eingegraben,
+aus welcher man erfahre, wie das Unthier umgebracht werden k&ouml;nne. Allein
+Niemand wisse zu melden, wo jetzt der Ring verborgen sei, und eben so
+wenig sei ein Zauberer zu finden, der die Schrift deuten k&ouml;nne.</p>
+
+<p>Endlich entschlo&szlig; sich ein junger Mann, der Herz und Kopf auf dem
+rechten Flecke hatte, auf gut Gl&uuml;ck den Spuren des Ringes
+nachzuforschen. Er schlug den Weg gen Morgen ein, allwo vornehmlich die
+Weisheit der Vorzeit zu finden ist. Erst nach einigen Jahren traf er mit
+einem ber&uuml;hmten Zauberer des Ostens zusammen und fragte ihn um Rath. Der
+Zauberer erwiederte: &raquo;Das Bischen Klugheit der Menschen kann dir hier
+nichts helfen, aber Gottes V&ouml;gel unter dem Himmel werden dir die besten
+F&uuml;hrer sein, wenn du ihre Sprache erlernen willst. Ich kann dir dazu
+verhelfen, wenn du<span class='pagenum'><a name="Page_243" id="Page_243">[S 243]</a></span> einige Tage bei mir bleiben willst.&laquo; Der J&uuml;ngling
+nahm das freundliche Anerbieten mit Dank an und sagte: &raquo;F&uuml;r jetzt bin
+ich freilich nicht im Stande, dich f&uuml;r deine Wohlthat zu beschenken,
+f&auml;llt aber mein Unternehmen gl&uuml;cklich aus, so werde ich dir deine M&uuml;he
+reichlich vergelten.&laquo; Nun kochte der Zauberer aus neunerlei Kr&auml;utern,
+die er heimlich bei Mondenschein gesammelt hatte, einen kr&auml;ftigen Trank
+und gab davon dem J&uuml;nglinge drei Tage hintereinander neun L&ouml;ffel t&auml;glich
+zu trinken, was zur Folge hatte, da&szlig; ihm die Vogelsprache verst&auml;ndlich
+wurde. Beim Abschiede sagte der Zauberer: &raquo;Solltest du das Gl&uuml;ck haben,
+Salomonis Ring zu entdecken und desselben habhaft zu werden, so komm zu
+mir zur&uuml;ck, damit ich dir die Schrift auf dem Ringe deute, denn es lebt
+jetzt au&szlig;er mir Keiner, der das verm&ouml;chte.&laquo;</p>
+
+<p>Schon am n&auml;chsten Tage fand der J&uuml;ngling die Welt wie verwandelt, er
+ging nirgends mehr allein, sondern hatte &uuml;berall Gesellschaft, weil er
+die Vogelsprache verstand, durch welche ihm Vieles offenbar wurde, was
+menschliche Einsicht ihn nicht h&auml;tte lehren k&ouml;nnen. Aber geraume Zeit
+verflo&szlig;, ohne da&szlig; er von dem Ringe etwas geh&ouml;rt h&auml;tte. Da geschah es
+eines Abends, als er vom Gang und der Hitze erm&uuml;det, sich zeitig im
+Walde unter einem Baume niedergelassen hatte, um sein Abendbrot zu
+verzehren, da&szlig; auf hohem Wipfel zwei buntgefiederte fremde V&ouml;gel ein
+Gespr&auml;ch mit einander f&uuml;hrten, welches ihn betraf. Der erste Vogel
+sagte: &raquo;Ich kenne den windigen Herumtreiber unter dem Baume da, der
+schon so lange wandert, ohne die Spur zu finden. Er sucht den verlorenen
+Ring des K&ouml;nigs Salomo.&laquo; Der andere Vogel<span class='pagenum'><a name="Page_244" id="Page_244">[S 244]</a></span> erwiederte: &raquo;Ich glaube, er
+m&uuml;&szlig;te bei der H&ouml;llenjungfrau H&uuml;lfe suchen, die w&auml;re gewi&szlig; im Stande ihm
+auf die Spur zu helfen. Wenn sie den Ring auch nicht selbst hat, so wei&szlig;
+sie doch ganz genau, wer das Kleinod jetzt besitzt.&laquo; Der erste Vogel
+versetzte: &raquo;Das w&auml;re schon recht, aber wo soll er die H&ouml;llenjungfrau
+auffinden, die nirgends eine bleibende St&auml;tte hat, sondern heute hier
+und morgen dort wohnt: eben so gut k&ouml;nnte er die Luft fest halten!&laquo; Der
+andere Vogel erwiederte: &raquo;Ihren gegenw&auml;rtigen Aufenthalt wei&szlig; ich zwar
+nicht anzugeben, aber heute binnen drei Tagen kommt sie zur Quelle, ihr
+Gesicht zu waschen, wie sie jeden Monat in der Nacht des Vollmonds thut,
+damit die Jugendsch&ouml;ne nie von ihren Wangen schwinde und die Runzeln des
+Alters ihr Antlitz nicht zusammenziehen.&laquo; Der erste Vogel sagte: &raquo;Nun,
+die Quelle ist nicht weit von hier; wollen wir des Spa&szlig;es halber ihr
+Treiben mit ansehen?&laquo; &raquo;Meinethalben, wenn du willst,&laquo; gab der andere
+Vogel zur Antwort. &mdash; Der J&uuml;ngling war gleich entschlossen, den V&ouml;geln
+zu folgen und die Quelle aufzusuchen, doch machte ihn zweierlei besorgt,
+erstens, da&szlig; er die Zeit verschlafen k&ouml;nne, wo die V&ouml;gel aufbr&auml;chen, und
+zweitens, da&szlig; er keine Fl&uuml;gel hatte, um dicht hinter ihnen zu bleiben.
+Er war zu sehr erm&uuml;det, um die ganze Nacht wach zu bleiben, die Augen
+fielen ihm zu. Aber die Sorge lie&szlig; ihn doch nicht ruhig schlafen, er
+wachte &ouml;fters auf, um den Aufbruch der V&ouml;gel nicht zu verpassen. Darum
+freute er sich sehr, als er bei Sonnenaufgang zum Wipfel hinauf blickte
+und die buntgefiederten Gesellen noch sah, wie sie unbeweglich sa&szlig;en,
+mit den Schn&auml;beln unter den Federn. Er verzehrte sein Fr&uuml;hst&uuml;ck und
+war<span class='pagenum'><a name="Page_245" id="Page_245">[S 245]</a></span>tete dann, da&szlig; die V&ouml;gel aufbrechen sollten. Aber sie schienen
+diesen Morgen nirgends hin zu wollen, sie flatterten, wie zur Kurzweil
+oder um Nahrung zu suchen, von einem Wipfel zum andern und trieben das
+so fort bis zum Abend, wo sie sich an der alten Stelle zur Ruhe begaben.
+Eben so ging es noch den folgenden Tag. Erst am Mitmorgen des dritten
+Tages sagte der eine Vogel zum andern. &raquo;Heute m&uuml;ssen wir zur Quelle, um
+zu sehen, wie sich die H&ouml;llenjungfrau ihr Antlitz w&auml;scht.&laquo; Bis Mittag
+blieben sie noch, dann flogen sie davon und nahmen ihren Weg gerade gen
+S&uuml;den. Dem J&uuml;ngling klopfte das Herz vor Furcht, seine F&uuml;hrer aus dem
+Gesicht zu verlieren. Aber die V&ouml;gel waren nicht weiter geflogen, als
+sein Gesichtskreis reichte, und hatten sich dann auf einem Baumwipfel
+niedergelassen. Der J&uuml;ngling rannte ihnen nach, da&szlig; seine Haut dampfte
+und ihm der Athem zu stocken drohte. Nach dreimaligem Ausruhen kamen die
+V&ouml;gel auf eine kleine Fl&auml;che, an deren Rande sie sich auf einem hohen
+Baumwipfel niederlie&szlig;en. Als der J&uuml;ngling nach ihnen dort anlangte,
+gewahrte er mitten in der Fl&auml;che eine Quelle; er setzte sich nun unter
+denselben Baum, auf dessen Wipfel die V&ouml;gel sich aufhielten. Dann
+spitzte er seine Ohren, um zu vernehmen, was die gefiederten Gesch&ouml;pfe
+miteinander redeten.</p>
+
+<p>&raquo;Die Sonne ist noch nicht unter&laquo; &mdash; sagte der eine Vogel &mdash; &raquo;wir m&uuml;ssen
+noch eine Weile warten, bis der Mond aufgeht, und die Jungfrau zur
+Quelle kommt. Wollen doch sehen, ob sie den J&uuml;ngling unter dem Baume
+bemerkt?&laquo; Der andere Vogel erwiderte: &raquo;Ihrem Auge entgeht wohl Nichts,
+was nach einem jungen Manne riecht,<span class='pagenum'><a name="Page_246" id="Page_246">[S 246]</a></span> Sollte der J&uuml;ngling verschlagen
+genug sein, um nicht in ihr Garn zu gehen?&laquo; Worauf der erste Vogel
+sagte: &raquo;Wir werden ja sehen, wie sie miteinander fertig werden.&laquo;</p>
+
+<p>Der Abend war schon vorger&uuml;ckt, der Vollmond stand schon hoch &uuml;ber dem
+Walde, da h&ouml;rte der J&uuml;ngling ein leises Ger&auml;usch: nach einigen
+Augenblicken trat aus dem Walde eine Maid hervor, und schritt fl&uuml;chtigen
+Fu&szlig;es, so da&szlig; ihre Sohlen den Boden nicht zu ber&uuml;hren schienen, &uuml;ber den
+Rasen zur Quelle. Der J&uuml;ngling mu&szlig;te sich gestehen, da&szlig; er in seinem
+Leben noch kein sch&ouml;neres Weib gesehen habe, und mochte kein Auge mehr
+von der Jungfrau verwenden.</p>
+
+<p>Diese ging, ohne seiner zu achten, zur Quelle, hob die Augen zum Monde
+empor, fiel auf die Knie, tauchte neun Mal ihr Antlitz in die Quelle,
+blickte nach jedem Male den Mond an und rief: &raquo;Vollwangig und hell, wie
+du jetzt bist, m&ouml;ge auch meine Sch&ouml;nheit bl&uuml;hen unverg&auml;nglich!&laquo; Dann
+ging sie neun Mal um die Quelle und sang nach jedem Gange:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Nicht der Jungfrau Antlitz welke,<br /></span>
+<span class="i0">Nie der Wangen Roth erbleiche,<br /></span>
+<span class="i0">Ob der Mond auch wieder schwinde,<br /></span>
+<span class="i0">M&ouml;ge ich doch immer wachsen,<br /></span>
+<span class="i0">Mir das Gl&uuml;ck stets neu erbl&uuml;hen!&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Darauf trocknete sie sich mit ihren langen Haaren das Gesicht ab, und
+wollte von dannen gehen, als ihre Augen pl&ouml;tzlich auf die Stelle fielen,
+wo der J&uuml;ngling unter dem Baume sa&szlig;. Sogleich wandte sie ihre Schritte
+dahin. Der junge Mann erhob sich und blieb in Erwartung stehen. Die
+sch&ouml;ne Maid kam n&auml;her und sagte:<span class='pagenum'><a name="Page_247" id="Page_247">[S 247]</a></span> &raquo;Eigentlich m&uuml;&szlig;test du einer schweren
+Strafe verfallen, da&szlig; du der Jungfrau heimliches Thun im Mondschein
+belauscht hast; aber da du fremd bist und zuf&auml;llig herkamst, so will ich
+dir verzeihen. Doch mu&szlig;t du mir wahrheitsgetreu bekennen, woher du bist
+und wie du hierher kamst, wohin bisher noch kein Sterblicher seinen Fu&szlig;
+gesetzt hat?&laquo; Der J&uuml;ngling antwortete mit vielem Anstande: &raquo;Vergebet,
+theure Jungfrau, wenn ich ohne Wissen und Willen gegen euch gefehlt
+habe. Da ich nach langer Wanderung hierher gerieth, fand ich den sch&ouml;nen
+Platz unter dem Baume, und wollte da mein Nachtlager nehmen. Eure
+Ankunft lie&szlig; mich z&ouml;gern, so blieb ich sitzen, weil ich glaubte, da&szlig;
+stilles Schauen euch nicht nachtheilig werden k&ouml;nne.&laquo; Die Jungfrau
+versetzte liebreich: &raquo;Komm zur Nacht zu uns! Auf Kissen ruht es sich
+besser als hier auf k&uuml;hlem Moose.&laquo; Der J&uuml;ngling stand ein Weilchen
+zweifelnd, und wu&szlig;te nicht, was er thun solle, ob das freundliche
+Anerbieten annehmen oder zur&uuml;ckweisen. Da sprach auf dem Baumwipfel ein
+Vogel zum andern. &raquo;Er w&auml;re ein Thor, wenn er sich das Anerbieten nicht
+gefallen lie&szlig;e.&laquo; Die Jungfrau, die der Vogelsprache wohl nicht kundig
+war, sagte mit freundlicher Mahnung: &raquo;F&uuml;rchte nichts, mein Freund! ich
+lade dich nicht in b&ouml;ser Absicht ein, ich w&uuml;nsche dir von ganzem Herzen
+Gutes.&laquo; Die V&ouml;gel sagten hinterdrein: &raquo;geh', wohin man dich ruft, aber
+h&uuml;te dich, Blut zu geben, um deine Seele nicht zu verkaufen.&laquo;</p>
+
+<p>Nun ging der J&uuml;ngling mit ihr. Nicht weit von der Quelle kamen sie in
+einen sch&ouml;nen Garten, in welchem ein pr&auml;chtiges Wohnhaus stand, das im
+Mondschein<span class='pagenum'><a name="Page_248" id="Page_248">[S 248]</a></span> schimmerte, als w&auml;ren Dach und W&auml;nde aus Gold und Silber
+gegossen. Als der J&uuml;ngling hineintrat, fand er viele prachtvolle
+Gem&auml;cher, eins immer sch&ouml;ner als das andere; viele hundert Kerzen
+brannten auf goldenen Leuchtern und verbreiteten &uuml;berall eine Helligkeit
+wie die des Tages. Darauf gelangten sie in ein Gemach, wo eine mit
+k&ouml;stlichen Speisen besetzte Tafel sich befand; an der Tafel standen zwei
+St&uuml;hle, der eine von Silber, der andere von Gold; die Jungfrau lie&szlig; sich
+auf den goldenen Stuhl nieder, und bat den J&uuml;ngling, sich auf den
+silbernen zu setzen. Wei&szlig;gekleidete M&auml;dchen trugen die Speisen auf und
+r&auml;umten sie wieder ab, wobei aber kein Wort gesprochen wurde, auch
+traten die M&auml;dchen so leise auf, als gingen sie auf Katzenpfoten. Nach
+Tisch, als der J&uuml;ngling mit der k&ouml;niglichen Jungfrau allein geblieben
+war, wurde ein anmuthiges Gespr&auml;ch gef&uuml;hrt, bis endlich ein Frauenzimmer
+in rother Kleidung erschien, um zu erinnern, da&szlig; es Zeit sei, sich
+schlafen zu legen.</p>
+
+<p>Da f&uuml;hrte die Jungfrau den J&uuml;ngling in eine andere Kammer, wo ein
+seidenes Bett mit Daunenkissen stand; sie wies es ihm und entfernte
+sich. Der J&uuml;ngling meinte bei lebendigem Leibe im Himmel zu sein, auf
+Erden sei solch' ein Leben nicht zu finden. Nur dar&uuml;ber wu&szlig;te er sp&auml;ter
+keine Rechenschaft zu geben, ob ihn Tr&auml;ume get&auml;uscht, oder ob er
+wirklich Stimmen an seinem Bette vernommen h&auml;tte, welche ihm ein Wort
+zuriefen, das sein Herz erschreckte: &raquo;Gieb kein Blut!&laquo;</p>
+
+<p>Am andern Morgen fragte ihn die Jungfrau, ob er nicht Lust habe hier zu
+bleiben, wo die ganze Woche aus lauter Feiertagen bestehe. Und als der
+J&uuml;ngling auf<span class='pagenum'><a name="Page_249" id="Page_249">[S 249]</a></span> die Frage nicht gleich Antwort gab, setzte sie hinzu: &raquo;Ich
+bin, wie du selbst siehst, jung und bl&uuml;hend, und ich stehe unter
+Niemandes Botm&auml;&szlig;igkeit, sondern kann thun, was mir beliebt. Bisher ist
+es mir noch nie in den Sinn gekommen zu heiraten, aber von dem
+Augenblicke an, wo ich dich erblickte, stiegen mir pl&ouml;tzlich andere
+Gedanken auf, denn du gef&auml;llst mir. Sollten nun unsere Gedanken
+&uuml;bereinstimmen, so k&ouml;nnte ein Paar aus uns werden. Hab' und Gut besitze
+ich unendlich viel, wie du dich selber auf Schritt und Tritt &uuml;berzeugen
+kannst, und so kann ich Tag f&uuml;r Tag k&ouml;niglich leben. Was dein Herz nur
+begehrt, kann ich dir gew&auml;hren.&laquo; Wohl drohte die Schmeichelrede der
+sch&ouml;nen Maid des J&uuml;nglings Sinn zu verwirren, aber zu seinem Gl&uuml;cke fiel
+ihm ein, da&szlig; die V&ouml;gel sie die H&ouml;llenjungfrau genannt und ihn gewarnt
+hatten, da&szlig; er ihr Blut gebe, und da&szlig; er auch in der Nacht, sei es
+tr&auml;umend oder wachend, dieselbe Warnung vernommen habe. Darum erwiederte
+er: &raquo;Theure Jungfrau, verargt es mir nicht, wenn ich euch ganz
+aufrichtig gestehe, da&szlig; man das Freien nicht abmachen kann wie einen
+Ro&szlig;kauf, sondern da&szlig; es dazu l&auml;ngerer Ueberlegung bedarf. Verg&ouml;nnt mir
+deshalb einige Tage Bedenkzeit, dann wollen wir uns dar&uuml;ber
+verst&auml;ndigen.&laquo; &raquo;Warum nicht,&laquo; erwiederte die sch&ouml;ne Maid &mdash; meinethalben
+kannst du dich einige Wochen bedenken und mit deinem Herzen zu Rathe
+gehen.&laquo;</p>
+
+<p>Damit nun dem J&uuml;nglinge inzwischen die Zeit nicht lang w&uuml;rde, f&uuml;hrte ihn
+die Jungfrau von einer Stelle ihres pr&auml;chtigen Hauses zur andern, und
+zeigte ihm all' die reichen Schatzkammern und Truhen, welche sein Herz
+erweichen<span class='pagenum'><a name="Page_250" id="Page_250">[S 250]</a></span> sollten. All' diese Sch&auml;tze waren aber durch Zauberei
+entstanden, denn die Jungfrau konnte mit H&uuml;lfe des Salomonischen
+Siegelringes alle Tage und an jedem Orte eine solche Wohnung nebst allem
+Zubeh&ouml;r hervorbringen, aber das Alles hatte keine Dauer, es war vom
+Winde hergeweht, und ging auch wieder in den Wind, ohne eine Spur
+zur&uuml;ckzulassen.<a name="FNanchor_81_81" id="FNanchor_81_81"></a><a href="#Footnote_81_81" class="fnanchor">[81]</a> Da der J&uuml;ngling das aber nicht wu&szlig;te, so hielt er
+das Blendwerk f&uuml;r Wirklichkeit. Eines Tages f&uuml;hrte ihn die Jungfrau in
+eine verborgene Kammer, wo auf einem silbernen Tische ein goldenes
+Sch&auml;chtelchen stand. Auf das Sch&auml;chtelchen zeigend sagte sie: &raquo;Hier
+steht mein theuerster Schatz, dessen Gleichen auf der ganzen Welt nicht
+zu finden ist, es ist ein kostbarer goldener Ring. Wenn du mich freien
+solltest, so w&uuml;rde ich dir diesen Ring zum Mahlschatz geben, und er
+w&uuml;rde dich zum gl&uuml;cklichsten aller Menschen machen. Damit aber das Band
+unserer Liebe ewige Dauer erhalte, mu&szlig;t du mir dann f&uuml;r den Ring drei
+Tropfen Blut von dem kleinen Finger deiner linken Hand geben.&laquo;</p>
+
+<p>Als der J&uuml;ngling diese Rede h&ouml;rte, &uuml;berlief es ihn kalt; da&szlig; sie sich
+Blut ausbedang, erinnerte ihn daran, da&szlig; er seine Seele aufs Spiel
+setze. Er war aber schlau genug, sich nichts merken zu lassen, und auch
+keine Einwendung zu machen, vielmehr fragte er, wie beil&auml;ufig, was es
+f&uuml;r eine Bewandni&szlig; mit dem Ringe habe. Die Jungfrau erwiederte: &raquo;Kein
+Lebendiger ist bis jetzt im Stande gewesen, die Kraft dieses Ringes ganz
+zu ergr&uuml;nden, weil keiner die geheimen Zeichen desselben vollst&auml;ndig<span class='pagenum'><a name="Page_251" id="Page_251">[S 251]</a></span> zu
+deuten wu&szlig;te. Aber schon mit dem halben Verst&auml;ndni&szlig; vermag ich Wunder zu
+verrichten, welche mir kein anderes Wesen nachmachen kann. Stecke ich
+den Ring auf den kleinen Finger meiner linken Hand, so kann ich mich wie
+ein Vogel in die Luft schwingen, und hinfliegen wohin ich will. Stecke
+ich den Ring auf den Ringfinger meiner linken Hand, so bin ich sogleich
+f&uuml;r Alle unsichtbar, mich selbst und Alles, was mich umgiebt, sehe ich,
+aber die Andern sehen mich nicht. Stecke ich den Ring an den
+Mittelfinger meiner linken Hand, dann kann mir kein scharfes Werkzeug,
+noch Wasser und Feuer etwas anhaben. Stecke ich den Ring an den
+Zeigefinger meiner linken Hand, dann kann ich mir mit seiner H&uuml;lfe alle
+Dinge schaffen, die ich begehre; ich kann in einem Augenblicke H&auml;user
+aufbauen und sonstige Gegenst&auml;nde hervorbringen. So lange endlich der
+Ring am Daumen der linken Hand sitzt, ist die Hand so stark, da&szlig; sie
+Felsen und Mauern brechen kann.<a name="FNanchor_82_82" id="FNanchor_82_82"></a><a href="#Footnote_82_82" class="fnanchor">[82]</a> Au&szlig;erdem tr&auml;gt der Ring noch andere
+geheime Zeichen, welche, wie gesagt, bis heute noch Niemand zu deuten
+wu&szlig;te; doch l&auml;&szlig;t sich denken, da&szlig; sie noch viele wichtige Geheimnisse
+enthalten. Der Ring war vor Alters Eigenthum des K&ouml;nigs Salomo, des
+weisesten der K&ouml;nige, unter dessen Regierung die weisesten M&auml;nner
+lebten. Doch ist es bis auf den heutigen Tag nicht kund geworden, ob der
+Ring durch g&ouml;ttliche Kraft oder durch Menschenh&auml;nde entstanden ist; es
+wird behauptet, da&szlig; ein Engel dem weisen K&ouml;nige den Ring geschenkt
+habe.&laquo; Als der J&uuml;ngling die Sch&ouml;ne so reden h&ouml;rte, war sein erster<span class='pagenum'><a name="Page_252" id="Page_252">[S 252]</a></span>
+Gedanke, sich des Ringes durch List zu bem&auml;chtigen, er that deshalb, als
+ob er das Geh&ouml;rte durchaus nicht f&uuml;r wahr halten k&ouml;nne. So hoffte er die
+Jungfrau zu bewegen, da&szlig; sie den Ring aus dem Sch&auml;chtelchen nehme und
+ihm zeige &mdash; wobei er dann vielleicht Gelegenheit f&auml;nde, sich des
+Wunderringes zu bem&auml;chtigen. Er wagte aber nicht, die Jungfrau geradezu
+darum zu bitten, da&szlig; sie ihm den Ring zeige. Er umschmeichelte sie und
+geberdete sich z&auml;rtlich, aber sein Herz sann nur darauf, in den Besitz
+des Ringes zu gelangen. Schon nahm die Jungfrau den Schl&uuml;ssel zum
+K&auml;stchen aus dem Busen, um es aufzuschlie&szlig;en, aber sie steckte ihn
+wieder zu sich und sagte: &raquo;Dazu haben wir k&uuml;nftig noch Zeit genug.&laquo; Ein
+Paar Tage darauf kam die Rede wieder auf den Wunderring, und der
+J&uuml;ngling sagte: &raquo;Nach meinem Daf&uuml;rhalten sind solche Dinge, wie ihr sie
+mir von der Kraft eures Ringes erz&auml;hlt, schlechterdings nicht m&ouml;glich.&laquo;
+Da &ouml;ffnete die Jungfrau das Sch&auml;chtelchen und nahm den Ring heraus, der
+zwischen ihren Fingern blitzte wie der hellste Sonnenstrahl. Dann
+steckte sie ihn zum Spa&szlig;e an den Mittelfinger ihrer linken Hand und
+sagte dem J&uuml;ngling, er solle ein Messer nehmen und damit auf sie
+losstechen wohin er wolle, denn es k&ouml;nne ihr doch nicht schaden. Der
+J&uuml;ngling str&auml;ubte sich gegen dies bedenkliche Beginnen, als aber die
+Jungfrau nicht ablie&szlig;, mu&szlig;te er sich f&uuml;gen. Obwohl er nun, anfangs mehr
+spielend, dann aber ernsthaft, auf alle Weise die Jungfrau mit dem
+Messer zu treffen suchte, so war es doch, als ob eine unsichtbare Wand
+von Eisen zwischen Beiden st&uuml;nde; die Schneide konnte nicht eindringen,
+und die Jungfrau<span class='pagenum'><a name="Page_253" id="Page_253">[S 253]</a></span> stand lachend und unbewegt vor ihm. Darauf steckte sie
+den Ring an ihren Ringfinger, und war im Nu den Blicken des J&uuml;nglings
+entschwunden, so da&szlig; dieser durchaus nicht begreifen konnte, wohin sie
+gekommen war. Bald stand sie wieder lachend vor ihm auf der alten
+Stelle, den Ring zwischen den Fingern haltend. &raquo;La&szlig;t doch sehen&laquo; &mdash; bat
+der J&uuml;ngling &mdash; &raquo;ob es mir auch m&ouml;glich ist, so seltsame Dinge mit dem
+Ringe zu machen?&laquo; Die Jungfrau, welche keinen Betrug ahndete, gab ihm
+den Wunderring.</p>
+
+<p>Der J&uuml;ngling that, als wisse er noch nicht recht Bescheid, und fragte:
+&raquo;An welchen Finger mu&szlig; ich den Ring stecken, damit mir ein scharfes
+Werkzeug nicht schaden k&ouml;nne?&laquo; &mdash; Worauf die Jungfrau lachend
+erwiederte: &raquo;An den Mittelfinger der linken Hand!&laquo; Sie nahm dann selbst
+das Messer und suchte damit zu sto&szlig;en, konnte aber dem J&uuml;ngling keinen
+Schaden thun. Darauf nahm dieser das Messer und versuchte sich selber zu
+besch&auml;digen, aber es war auch ihm unm&ouml;glich. Darauf bat er die Jungfrau,
+ihm zu zeigen, wie er mit dem Ringe Steine und Felsen spalten k&ouml;nne. Sie
+f&uuml;hrte ihn in den Hof, wo ein klafterhoher Kiesel lag. &raquo;Jetzt stecke den
+Ring&laquo; &mdash; so unterwies ihn die Jungfrau &mdash; &raquo;an den Daumen deiner linken
+Hand, und schlage dann mit der Faust auf den Stein, und du wirst sehen,
+welche Kraft in deiner Hand liegt.&laquo; Der J&uuml;ngling that es und sah zu
+seinem Erstaunen, wie der Stein unter dem Schlage seiner Hand in tausend
+Tr&uuml;mmer barst. Da dachte der J&uuml;ngling, wer das Gl&uuml;ck nicht bei den
+H&ouml;rnern zu fassen wei&szlig;, der ist ein Thor, denn einmal entflohen, kehrt
+es nicht zur&uuml;ck.<span class='pagenum'><a name="Page_254" id="Page_254">[S 254]</a></span> W&auml;hrend er noch &uuml;ber die Zertr&uuml;mmerung des Steines
+scherzte, steckte er wie spielend den Ring an den Ringfinger seiner
+linken Hand. Da rief die Jungfrau: &raquo;Jetzt bist du f&uuml;r mich so lange
+unsichtbar, bis du den Ring abziehst.&laquo; Aber das zu thun war der J&uuml;ngling
+nicht gesonnen, vielmehr ging er rasch einige Schritte weiter, steckte
+dann den Ring an den kleinen Finger der linken Hand, und schwang sich in
+die H&ouml;he wie ein Vogel. Als die Jungfrau ihn davon fliegen sah, hielt
+sie Anfangs auch diesen Versuch f&uuml;r blo&szlig;en Scherz, und rief: &raquo;Komm
+zur&uuml;ck, mein Freund! Jetzt hast du gesehen, da&szlig; ich dir die Wahrheit
+gesagt habe!&laquo; Aber wer nicht zur&uuml;ckkam, war der J&uuml;ngling; da merkte die
+Jungfrau den Betrug, und brach in bittere Klagen aus &uuml;ber ihr Ungl&uuml;ck.</p>
+
+<p>Der J&uuml;ngling hielt seinen Flug nicht eher an, als bis er nach einigen
+Tagen wieder zu dem ber&uuml;hmten Zauberer gekommen war, bei welchem er die
+Vogelsprache gelernt hatte. Der Zauberer war au&szlig;erordentlich froh, da&szlig;
+des Mannes Wanderung so guten Erfolg gehabt hatte. Er machte sich
+sogleich daran, die geheime Schrift auf dem Ringe zu deuten, er brauchte
+aber sieben Wochen ehe er damit zu Stande kam. Darauf gab er dem
+J&uuml;nglinge folgende Auskunft, wie der Nordlands-Drache zu vertilgen sei:
+&raquo;Du mu&szlig;t dir ein eisernes Pferd gie&szlig;en lassen, das unter jedem Fu&szlig;e
+kleine R&auml;der hat, so da&szlig; man es vorw&auml;rts und r&uuml;ckw&auml;rts schieben kann.
+Dann mu&szlig;t du aufsitzen und dich mit einem eisernen zwei Klafter langen
+Speere bewaffnen, den du freilich nur f&uuml;hren kannst, wenn der Wunderring
+am Daumen deiner linken Hand steckt. Der Speer mu&szlig; in der Mitte die
+Dicke einer m&auml;&szlig;igen<span class='pagenum'><a name="Page_255" id="Page_255">[S 255]</a></span> Birke haben und seine beiden Enden m&uuml;ssen gleich
+scharf sein. In der Mitte des Speeres mu&szlig;t du zwei starke zehn Klafter
+lange Ketten befestigen, die stark genug sind, den Drachen zu halten.
+Sobald der Drache sich in den Speer fest gebissen hat, so da&szlig; dieser ihm
+die Kinnlade durchbohrt, mu&szlig;t du wie der Wind vom Eisenro&szlig; herunter
+springen, um dem Unthier nicht in den Rachen zu fallen, und mu&szlig;t die
+Enden der Ketten mit eisernen Pfl&ouml;cken dergestalt in die Erde rammen,
+da&szlig; keine Gewalt sie herausziehen kann. Nach drei oder vier Tagen ist
+die Kraft des Unthiers so weit ersch&ouml;pft, da&szlig; du dich ihm n&auml;hern kannst,
+dann stecke Salomos Kraftring an den Daumen deiner linken Hand, und
+schlage es vollends todt. Bis du aber herangekommen bist, mu&szlig; der Ring
+am Ringfinger deiner linken Hand stecken, damit das Unthier dich nicht
+sehen kann, sonst w&uuml;rde es dich mit seinem langen Schwanze todt
+schlagen. Wenn du Alles vollbracht hast, trage Sorge, da&szlig; du den Ring
+nicht verlierst, und da&szlig; dir auch Niemand mit List das Kleinod
+entwende.&laquo;</p>
+
+<p>Unser Freund dankte dem Zauberer f&uuml;r die Belehrung und versprach, ihn
+sp&auml;ter f&uuml;r seine M&uuml;he zu belohnen. Aber der Zauberer erwiederte: &raquo;Ich
+habe aus der Entzifferung der Geheimschrift des Ringes so viel
+Zauberweisheit gesch&ouml;pft, da&szlig; ich keines anderen Gutes weiter bedarf.&laquo;
+So trennten sie sich, und der J&uuml;ngling eilte nach Hause, was ihm nicht
+mehr schwer wurde, da er wie ein Vogel fliegen konnte wohin er wollte.</p>
+
+<p>Als er nach einigen Wochen in der Heimath anlangte, h&ouml;rte er von den
+Leuten, da&szlig; der gr&auml;uliche Nordlands-Drache schon in der N&auml;he sei, so da&szlig;
+er jeden Tag &uuml;ber<span class='pagenum'><a name="Page_256" id="Page_256">[S 256]</a></span> die Grenze kommen k&ouml;nne. Der K&ouml;nig lie&szlig; &uuml;berall
+bekannt machen, da&szlig; er demjenigen, der dem Unthier das Garaus machen
+w&uuml;rde, nicht nur einen Theil seines K&ouml;nigreiches schenken, sondern auch
+seine Tochter zur Frau geben wolle. Nach einigen Tagen trat unser
+J&uuml;ngling vor den K&ouml;nig und erkl&auml;rte, er hoffe das Unthier zu vernichten,
+wenn der K&ouml;nig Alles wolle anfertigen lassen, was dazu erforderlich sei.
+Der K&ouml;nig ging mit Freuden darauf ein. Es wurden nun s&auml;mmtliche
+geschickte Meister aus der Umgegend zusammenberufen, die mu&szlig;ten erst das
+Eisenpferd gie&szlig;en, dann den gro&szlig;en Speer schmieden, und endlich auch die
+eisernen Ketten, deren Ringe zwei Zoll Dicke hatten. Als aber Alles
+fertig war, fand es sich, da&szlig; das eiserne Pferd so schwer war, da&szlig;
+hundert M&auml;nner es nicht von der Stelle bringen konnten. Da blieb dem
+J&uuml;ngling nichts &uuml;brig, als mit H&uuml;lfe seines Kraftringes das Pferd allein
+fort zu bewegen.</p>
+
+<p>Der Drache war keine Meile mehr entfernt, so da&szlig; er mit ein Paar
+Spr&uuml;ngen &uuml;ber die Grenze setzen konnte. Der J&uuml;ngling &uuml;berlegte nun, wie
+er allein mit dem Unthier fertig werden solle, denn da er das schwere
+Eisenpferd von hinten her schieben mu&szlig;te, so konnte er sich nicht
+aufsetzen, wie es der Zauberer vorgeschrieben hatte. Da belehrte ihn
+unerwartet eines Raben Schnabel: &raquo;Setze dich auf das Eisenpferd, und
+stemme den Speer gegen den Boden, als wolltest du einen Kahn vom Ufer
+absto&szlig;en.&laquo; Der J&uuml;ngling machte es so und fand, da&szlig; er auf diese Weise
+vorw&auml;rts kommen k&ouml;nne. Das Ungeheuer sperrte schon von Weitem den Rachen
+auf, um die erwartete Beute zu vertilgen. Noch einige Klafter, so w&auml;ren<span class='pagenum'><a name="Page_257" id="Page_257">[S 257]</a></span>
+Mann und Eisenro&szlig; im Rachen des Unthiers gewesen. Der J&uuml;ngling bebte vor
+Entsetzen und das Herz erstarrte ihm zu Eis, allein er lie&szlig; sich nicht
+verwirren, sondern stie&szlig; mit aller Kraft zu, so da&szlig; der eiserne Speer,
+den er aufrecht in der Hand hielt, den Rachen des Unthiers durchbohrte.
+Dann sprang er vom Eisenro&szlig; und wandte sich schnell wie der Blitz, als
+das Unthier die Kinnladen zusammenklappte. Ein gr&auml;&szlig;liches Gebr&uuml;ll, das
+viele Meilen weit erscholl, gab den Beweis, da&szlig; der Nordlands-Drache
+sich festgebissen hatte. Als der J&uuml;ngling sich umwandte, sah er eine
+Spitze des Speers Fu&szlig; lang aus der oberen Kinnlade hervorragen, und
+schlo&szlig; daraus, da&szlig; die andere im Boden fest steckte. Das Eisenro&szlig; aber
+hatte der Drache mit seinen Z&auml;hnen zermalmt. Jetzt eilte der J&uuml;ngling,
+die Ketten am Boden zu befestigen, wozu starke Eisenpfl&ouml;cke von mehreren
+Klaftern L&auml;nge in Bereitschaft gesetzt waren.</p>
+
+<p>Der Todeskampf des Ungeheuers dauerte drei Tage und drei N&auml;chte: wenn es
+sich b&auml;umte, schlug es so gewaltig mit dem Schwanze gegen den Boden, da&szlig;
+die Erde auf zehn Meilen weit bebte. Als es endlich den Schwanz nicht
+mehr r&uuml;hren konnte, hob der J&uuml;ngling mit H&uuml;lfe des Ringes einen Stein
+auf, den zwanzig M&auml;nner nicht h&auml;tten bewegen k&ouml;nnen, und schlug damit
+dem Thiere so lange auf den Kopf, bis es kein Lebenszeichen mehr von
+sich gab.</p>
+
+<p>Grenzenlos war &uuml;berall der Jubel, als die Botschaft kam, da&szlig; der
+schlimme Feind sein Ende gefunden. &mdash;Der Sieger wurde in der K&ouml;nigsstadt
+mit gro&szlig;en Ehrenbezeugungen empfangen, als w&auml;re er der m&auml;chtigste
+K&ouml;nig.<span class='pagenum'><a name="Page_258" id="Page_258">[S 258]</a></span> Der alte K&ouml;nig brauchte auch seine Tochter nicht zur Heirath zu
+zwingen, sondern diese verlangte selber, sich dem starken Manne zu
+verm&auml;hlen, der allein ausgerichtet hatte, was die Andern auch mit einer
+ganzen Armee nicht vermochten. Nach einigen Tagen wurde eine prachtvolle
+Hochzeit gefeiert, welche vier Wochen lang dauerte, und zu welcher alle
+K&ouml;nige der Nachbarl&auml;nder sich versammelt hatten, um dem Manne zu danken,
+der die Welt von ihrem schlimmsten Feinde befreit hatte. Allein &uuml;ber dem
+Hochzeitsjubel und der allgemeinen Freude hatte man vergessen, da&szlig; des
+Ungeheuers Leichnam unbegraben liegen geblieben war, und da er jetzt in
+Verwesung &uuml;berging, so verbreitete er einen solchen Gestank, da&szlig; Niemand
+sich in die N&auml;he wagte. Es entstanden Seuchen, welche viele Menschen
+hinrafften. Deshalb beschlo&szlig; der Schwiegersohn des K&ouml;nigs, H&uuml;lfe bei dem
+Zauberer im Osten zu suchen, was ihm mit seinem Ringe nicht schwer fiel,
+weil er auf Vogelschwingen hin fliegen konnte.</p>
+
+<p>Aber das Sprichwort sagt, unrecht Gut gedeiht nicht, und wie gewonnen,
+so zerronnen. Diese Erfahrung sollte auch des K&ouml;nigs Schwiegersohn mit
+dem entwendeten Ringe machen. Der H&ouml;llenjungfrau lie&szlig; es weder Tag noch
+Nacht Ruhe, ihrem Ringe wieder auf die Spur zu kommen. Als sie mit H&uuml;lfe
+von Zauberk&uuml;nsten erfahren hatte, da&szlig; des K&ouml;nigs Schwiegersohn sich in
+Vogelgestalt zu dem Zauberer aufmache, verwandelte sie sich in einen
+Adler, und kreiste so lange in den L&uuml;ften, bis ihr der Vogel, auf den
+sie wartete, zu Gesicht kam &mdash; sie erkannte ihn sogleich an dem Ringe,
+der ihm an einem Bande um den Hals hing. Da scho&szlig; der Adler auf den
+Vogel nieder und in dem<span class='pagenum'><a name="Page_259" id="Page_259">[S 259]</a></span>selben Augenblick, wo seine Klauen ihn packten,
+hatte er ihm auch mit dem Schnabel den Ring vom Halse gerissen, ehe noch
+der Mann in Vogelgestalt etwas dagegen thun konnte. Jetzt lie&szlig; der Adler
+sich mit seiner Beute zur Erde nieder, und beide standen in ihrer
+fr&uuml;heren Menschengestalt neben einander. &raquo;Jetzt bist du in meiner Hand,
+Frevler!&laquo; rief die H&ouml;llenjungfrau. &mdash; &raquo;Ich nahm dich als meinen
+Geliebten auf, und du &uuml;btest Betrug und Diebstahl: ist das mein Lohn? Du
+nahmst mir mein kostbarstes Kleinod durch List, und hofftest, als
+Schwiegersohn des K&ouml;nigs ein gl&uuml;ckliches Leben zu f&uuml;hren, aber jetzt hat
+sich das Blatt gewandt. Du bist in meiner Gewalt und sollst mir f&uuml;r
+allen Frevel b&uuml;&szlig;en.&laquo; &raquo;Vergebt, vergebt,&laquo; bat des K&ouml;nigs Schwiegersohn,
+ich wei&szlig; wohl, da&szlig; ich mich schwer gegen euch vergangen habe, und bereue
+meine Schuld von ganzem Herren.&laquo; Die Jungfrau erwiederte: &raquo;Deine Bitten
+und deine Reue kommen zu sp&auml;t, und Nichts kann dir mehr helfen. Ich darf
+dich nicht schonen, das br&auml;chte mir Schande und machte mich zum Gesp&ouml;tt
+der Leute. Zwiefach hast du dich an mir vers&uuml;ndigt, erst hast du meine
+Liebe verschm&auml;ht, und dann meinen Ring entwendet, daf&uuml;r mu&szlig;t du Strafe
+leiden.&laquo; Mit diesen Worten steckte sie den Ring an den Daumen ihrer
+linken Hand, nahm den Mann wie eine Hedekunkel auf den Arm und ging mit
+ihm von dannen. Diesmal f&uuml;hrte ihr Weg nicht in jene pr&auml;chtige
+Behausung, sondern in eine Felsenh&ouml;hle, wo Ketten von der Wand herunter
+hingen. Die Jungfrau ergriff die Enden der Ketten, und fesselte damit
+dem Manne H&auml;nde und F&uuml;&szlig;e, so da&szlig; Entkommen unm&ouml;glich<span class='pagenum'><a name="Page_260" id="Page_260">[S 260]</a></span> war; dann sagte
+sie mit Zorn: &raquo;Hier sollst du bis an dein Ende gefangen bleiben. Ich
+werde dir t&auml;glich so viel Nahrung bringen lassen, da&szlig; du nicht Hungers
+sterben kannst, aber auf Befreiung darfst du nimmer hoffen.&laquo; Damit
+verlie&szlig; sie ihn.</p>
+
+<p>Der K&ouml;nig und seine Tochter verlebten eine schwere Zeit des Kummers, als
+Woche auf Woche verging, und der Schwiegersohn weder zur&uuml;ck kam, noch
+auch Nachricht von sich gab. Oftmals tr&auml;umte der K&ouml;nigstochter, da&szlig; ihr
+Gemahl schwere Pein leiden m&uuml;sse, sie bat de&szlig;halb ihren Vater, von allen
+Seiten her Zauberer zusammenrufen zu lassen, damit sie vielleicht
+Auskunft dar&uuml;ber g&auml;ben, wo der Verschwundene lebe, und wie er zu
+befreien sei. Aber s&auml;mmtliche Zauberer konnten nichts weiter berichten,
+als da&szlig; er noch lebe und schwere Pein leide, keiner wu&szlig;te den Ort zu
+nennen, wo er sich befinde, noch anzugeben, wie man ihn auffinden k&ouml;nne.
+Endlich wurde ein ber&uuml;hmter Zauberer aus Finnland vor den K&ouml;nig gef&uuml;hrt,
+der den weiteren Bescheid ertheilen konnte, da&szlig; des K&ouml;nigs Schwiegersohn
+im Ostlande gefangen gehalten werde, und zwar nicht durch Menschen,
+sondern durch ein m&auml;chtigeres Wesen. Also schickte der K&ouml;nig seine Boten
+in der genannten Richtung aus, um den verlorenen Schwiegersohn
+aufzusuchen. Gl&uuml;cklicherweise kamen sie zu dem alten Zauberer, der die
+Schrift auf Salomonis Siegelring gedeutet und daraus eine Weisheit
+gesch&ouml;pft hatte, die allen Uebrigen verborgen blieb. Dieser Zauberer
+fand bald heraus, was er wissen wollte, und sagte: &raquo;Den Mann h&auml;lt man
+durch Zaubermacht da und da gefangen, aber ohne meine H&uuml;lfe k&ouml;nnt ihr
+ihn nicht befreien, ich mu&szlig; selbst mit euch gehen.&laquo;<span class='pagenum'><a name="Page_261" id="Page_261">[S 261]</a></span></p>
+
+<p>Sie machten sich also auf und kamen, von V&ouml;geln gef&uuml;hrt, nach einigen
+Tagen in die Felsenh&ouml;hle, wo des K&ouml;nigs Schwiegersohn jetzt schon beinah
+sieben Jahre die schwere Kerkerhaft erduldet hatte. Er erkannte den
+Zauberer augenblicklich, dieser aber erkannte ihn nicht, weil er sehr
+abgemagert war. Der Zauberer l&ouml;ste durch seine Kunst die Ketten, nahm
+den Befreiten zu sich, und pflegte und heilte ihn, bis er wieder kr&auml;ftig
+genug war, um die Reise anzutreten. Er langte an demselben Tage an, wo
+der alte K&ouml;nig gestorben war, und wurde nun zum K&ouml;nige erhoben. Jetzt
+kamen nach langen Leidenstagen die Freudentage, welche bis an sein Ende
+w&auml;hrten; den Wunderring aber erhielt er nicht wieder, &mdash; auch hat ihn
+nachmals keines Menschen Auge mehr gesehen.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_262" id="Page_262">[S 262]</a></span></p>
+<h2>19. Das Gl&uuml;cksei.</h2>
+
+
+<p>Einmal lebte in einem gro&szlig;en Walde ein armer Mann mit seinem Weibe; Gott
+hatte ihnen acht Kinder gegeben, von denen die &auml;ltesten schon ihr Brod
+bei fremden Leuten verdienten, und so machte es den Eltern gerade nicht
+viel Freude, als ihnen im sp&auml;ten Alter noch ein neuntes S&ouml;hnlein geboren
+wurde. Aber Gott hatte es ihnen einmal geschenkt, und so mu&szlig;ten sie es
+nehmen, und ihm nach Christenbrauch die Taufe geben lassen. Nun wollte
+aber Niemand zu dem Kinde Gevatter stehen, weil Jeder besorgte: wenn die
+Eltern sterben, so f&auml;llt mir das Kind zur Last. Da dachte der Vater: ich
+nehme das Kind, und trage es am Sonntag in die Kirche, und sage, da&szlig; ich
+nirgends Gevattern habe finden k&ouml;nnen, mag dann der Prediger thun, was
+er will, mag er das Kind taufen oder nicht, auf meine Seele kann keine
+S&uuml;nde fallen. Als er sich am Sonntag aufmachte, fand er nicht weit von
+seinem Hause einen Bettler am Wege sitzen, der ihn um ein Almosen bat.
+Der Mann sagte: &raquo;Ich habe dir nichts zu geben, Br&uuml;derchen, die wenigen
+Kopeken, die ich in der Tasche habe, mu&szlig; ich f&uuml;r die Kindtaufe<span class='pagenum'><a name="Page_263" id="Page_263">[S 263]</a></span>
+ausgeben; willst du mir aber einen Gefallen thun, so komm und steh bei
+meinem Kinde Gevatter, nachher gehen wir nach Hause und nehmen vorlieb
+mit dem, was uns die Hausfrau zum Taufschmaus beschert hat.&laquo; Der
+Bettler, den bis dahin noch niemand zu Gevatter gebeten hatte, erf&uuml;llte
+mit Freuden die Bitte des Mannes, und ging mit ihm zur Kirche. Als sie
+eben dort angekommen waren, fuhr eine pr&auml;chtige Kutsche mit vier Pferden
+vor, und eine junge vornehme Dame stieg aus. Der arme Mann dachte, hier
+will ich zum letzten Male mein Gl&uuml;ck versuchen, trat mit dem&uuml;thigem
+Gru&szlig;e vor die Frau oder das Fr&auml;ulein, was sie nun sein mochte, und
+sagte: &raquo;Geehrtes Fr&auml;ulein, oder was ihr sonst sein m&ouml;gt! w&uuml;rdet ihr euch
+nicht der M&uuml;he unterziehen, bei meinem Kinde Gevatter zu stehen?&laquo; Das
+Fr&auml;ulein sagte zu.</p>
+
+<p>Als nun nach der Predigt das Kind zur Taufe gebracht wurde, verwunderten
+sich Prediger und Gemeinde sehr dar&uuml;ber, da&szlig; ein armseliger Bettelmann
+und eine stolze vornehme Dame zusammen bei dem Kinde Gevatter standen.
+Das Kind erhielt in der Taufe den Namen P&auml;rtel. Die reiche Pathe
+bezahlte das Taufgeld und machte noch ein Pathengeschenk von drei
+Rubeln, wor&uuml;ber der Vater des Kindes h&ouml;chlich erfreut war. Der Bettler
+ging dann mit zum Taufschmause. Ehe er am Abend fortging, nahm er ein in
+einen kleinen Lappen gewickeltes Sch&auml;chtelchen aus der Tasche, gab es
+der Mutter des Kindes, und sagte: &raquo;Mein Pathengeschenk ist zwar
+unbedeutend, aber verschm&auml;het es dennoch nicht, vielleicht erw&auml;chst
+eurem S&ouml;hnlein einmal Gl&uuml;ck daraus. Ich hatte eine sehr kluge Tante, die
+sich auf vielerlei Zauberk&uuml;nste<span class='pagenum'><a name="Page_264" id="Page_264">[S 264]</a></span> verstand, die gab mir vor ihrem Tode
+das Vogelei in diesem Sch&auml;chtelchen, indem sie sagte: &raquo;Wenn dir einmal
+etwas ganz Unerwartetes begegnet, was du niemals ahnden konntest, dann
+ent&auml;u&szlig;ere dich dieses Eies; wenn es demjenigen zu Theil wird, f&uuml;r den es
+bestimmt ist, so kann es ihm gro&szlig;es Gl&uuml;ck bringen. Aber h&uuml;te das Ei wie
+deinen Augapfel, damit es nicht zerbricht, denn die Gl&uuml;cksschale ist
+zart.&laquo; Nun ist mir bis auf den heutigen Tag, obwohl ich nahe an sechzig
+Jahre alt bin, noch nichts so Unerwartetes begegnet, als da&szlig; ich heute
+morgen zu Gevatter gebeten wurde, und es war gleich mein erster Gedanke:
+Du mu&szlig;t dem Kinde das Ei zum Pathengeschenk geben.&laquo;</p>
+
+<p>Der kleine P&auml;rtel gedieh vortrefflich, und wuchs seinen Eltern zur
+Freude auf, bis er im Alter von zehn Jahren in ein anderes Dorf zu einem
+wohlhabenden Wirthe als H&uuml;terknabe kam. Alle im Hause waren mit dem
+H&uuml;terknaben sehr zufrieden, da er ein frommer stiller Bursche war, der
+seiner Brotherrschaft niemals Verdru&szlig; machte. Die Mutter hatte ihm beim
+Abschied das Pathengeschenk in die Tasche gesteckt, und ihm empfohlen,
+es sorgsamlich zu h&uuml;ten, wie seinen Augapfel, was P&auml;rtel auch befolgte.
+Auf dem Weideplatz stand ein alter Lindenbaum, und unter diesem lag ein
+gro&szlig;er Kieselstein; diesen Ort hatte der Knabe sehr lieb, so da&szlig; den
+Sommer &uuml;ber kein Tag verging, an dem er nicht unter der Linde auf dem
+Steine gesessen h&auml;tte. Auf diesem Steine verzehrte er auch gew&ouml;hnlich
+das Brot, welches ihm alle Morgen mitgegeben wurde, und seinen Durst
+stillte eine kleine Quelle in der N&auml;he des Steines. Mit den anderen<span class='pagenum'><a name="Page_265" id="Page_265">[S 265]</a></span>
+Hirtenknaben, die viel Muthwillen trieben, hielt P&auml;rtel keine
+Freundschaft. Wunderbar war es, da&szlig; ringsum nirgends so sch&ouml;nes Gras
+anzutreffen war, als zwischen dem Stein und der Quelle; obwohl die Herde
+jeden Tag hier weidete, so hatte doch am andern Morgen der Rasen mehr
+das Ansehen einer geschonten Wiese als das einer Weide.</p>
+
+<p>Wenn P&auml;rtel zuweilen an einem hei&szlig;en Tage auf dem Steine ein wenig
+einschlummerte, so erfreuten ihn jedesmal wunderbare Tr&auml;ume, und noch
+beim Erwachen klangen ihm Spiel und Gesang in den Ohren, so da&szlig; er mit
+offenen Augen weiter tr&auml;umte. Der Stein war ihm wie ein theurer Freund,
+von dem er t&auml;glich mit schwerem Herzen schied, und zu dem er den andern
+Morgen voll Sehnsucht zur&uuml;ckeilte. So war P&auml;rtel funfzehn Jahre alt
+geworden, und sollte nun nicht l&auml;nger mehr H&uuml;terknabe bleiben. Der Wirth
+nahm ihn zum Knecht, ohne ihm jedoch schwerere Arbeit aufzulegen, als er
+zu leisten vermochte. Am Sonntage oder an Sommerabenden, wenn die
+anderen Bursche mit den Dirnen sch&auml;kerten, gesellte sich P&auml;rtel nicht zu
+ihnen, sondern ging still sinnend auf den Weideplatz an seinen lieben
+Lindenbaum, unter welchem er nicht selten die halbe Nacht zubrachte. So
+sa&szlig; er einmal wieder an einem Sonntag Abend auf dem Steine und schlug
+die Maultrommel, da kroch eine milchwei&szlig;e Schlange unter dem Steine
+hervor, hob den Kopf, als wollte sie zuh&ouml;ren, und blickte den P&auml;rtel mit
+ihren klaren Augen an, die wie feurige Funken gl&auml;nzten. Dies wiederholte
+sich in der Folge, we&szlig;halb P&auml;rtel, sobald er nur freie Zeit hatte, immer
+nach seinem Steine eilte, um<span class='pagenum'><a name="Page_266" id="Page_266">[S 266]</a></span> die sch&ouml;ne wei&szlig;e Schlange zu sehen, die
+sich zuletzt so an ihn gew&ouml;hnt hatte, da&szlig; sie sich oftmals um seine
+Beine wand.</p>
+
+<p>P&auml;rtel war nun in das J&uuml;nglingsalter getreten, seine beide Eltern waren
+gestorben, und seine Br&uuml;der und Schwestern lebten alle weit entfernt, so
+da&szlig; sie nicht viel von einander h&ouml;rten, geschweige denn einander sahen.
+Aber lieber als Br&uuml;der und Schwestern war ihm die wei&szlig;e Schlange
+geworden; bei Tage waren seine Gedanken auf sie gerichtet, und fast jede
+Nacht tr&auml;umte er von ihr. De&szlig;halb wurde ihm die Winterzeit sehr lange,
+wo tiefer Schnee lag und der Boden gefroren war. Als im Fr&uuml;hling die
+Sonnenstrahlen den Schnee geschmolzen und den Boden aufgethaut hatten,
+war P&auml;rtels erster Gang wieder zum Steine unter der Linde, obwohl noch
+kein Bl&auml;ttchen am Baume zu sehen war. O die Freude! Sobald er seine
+Sehnsucht in den T&ouml;nen der Maultrommel ausgehaucht hatte, kroch die
+wei&szlig;e Schlange unter dem Stein hervor und spielte zu seinen F&uuml;&szlig;en, aber
+dem P&auml;rtel schien es heute, als wenn die Schlange Thr&auml;nen vergossen
+h&auml;tte, und das that seinem Herzen weh. Er lie&szlig; nun keinen Abend mehr
+hingehen, ohne zum Steine zu kommen, und die Schlange wurde immer
+dreister, so da&szlig; sie sich schon streicheln lie&szlig;, aber wenn P&auml;rtel sie
+festhalten wollte, schl&uuml;pfte sie ihm durch die Finger und kroch wieder
+unter den Stein.</p>
+
+<p>Am Abend des Johannistages, da alle Dorfbewohner, alt und jung, mit
+einander zum Johannisfeuer gingen, durfte doch auch P&auml;rtel nicht
+zur&uuml;ckbleiben, obwohl sein Herz ihn auf einen andern Weg lockte. Aber
+mitten in<span class='pagenum'><a name="Page_267" id="Page_267">[S 267]</a></span> der Lustbarkeit, als die andern sangen, tanzten und andere
+Kurzweil trieben, schlich er sich von ihnen fort zum Lindenbaum, denn
+das war der einzige Ort, wo sein Herz Ruhe fand. Als er n&auml;her kam,
+gl&auml;nzte ihm vom Steine her ein helles kleines Feuer entgegen, was ihn
+sehr in Verwunderung setzte, da, so viel er wu&szlig;te, Menschen sich um
+diese Zeit dort nicht aufhielten. Als er ankam, war das Feuer erloschen,
+und hatte weder Asche noch Funken zur&uuml;ckgelassen. Er setzte sich auf den
+Stein und fing an, wie gew&ouml;hnlich, die Maultrommel zu r&uuml;hren. Mit einem
+Male tauchte das Feuer wieder auf, und es war nichts anderes als das
+funkelnde Augenpaar der wei&szlig;en Schlange. Diese spielte wieder zu seinen
+F&uuml;&szlig;en, lie&szlig; sich streicheln, und sah ihn so durchdringend an, als wollte
+sie sprechen. Mitternacht konnte nicht weit sein, als die Schlange unter
+den Stein in ihr Nest schl&uuml;pfte, und auch auf Bartels Spiel nicht wieder
+zum Vorschein kam. Als er sein Instrument vom Munde nahm, in die Tasche
+steckte, und sich anschickte, nach Hause zu gehen, da s&auml;uselte das Laub
+der Linde im Hauch des Windes so wunderbar, da&szlig; es wie eine
+Menschenstimme an sein Ohr schlug, und er mehrmals die Worte zu h&ouml;ren
+glaubte:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Zarte Schale hat das Gl&uuml;cksei,<br /></span>
+<span class="i0">Z&auml;hen Kernes ist die Tr&uuml;bsal;<a name="FNanchor_83_83" id="FNanchor_83_83"></a><a href="#Footnote_83_83" class="fnanchor">[83]</a><br /></span>
+<span class="i0">Zaudre nicht das Gl&uuml;ck zu haschen.&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>Da f&uuml;hlte er ein so schmerzliches Verlangen, da&szlig; ihm das Herz zu brechen
+drohte, und doch wu&szlig;te er selber<span class='pagenum'><a name="Page_268" id="Page_268">[S 268]</a></span> nicht, wonach er sich sehnte. Bittre
+Thr&auml;nen rannen ihm von den Wangen, und er klagte: &raquo;Was hilft mir
+Ungl&uuml;cklichem das Gl&uuml;cksei, da mir auf dieser Welt doch kein Gl&uuml;ck
+beschieden ist! Von klein auf f&uuml;hle ich, da&szlig; ich f&uuml;r die Menschen nicht
+passe, sie verstehen mich nicht, und ich sie nicht: was ihnen Freude
+macht, das schafft mir Qual, was mich aber gl&uuml;cklich machen k&ouml;nnte, das
+wei&szlig; ich selbst nicht, wie sollten es Andere wissen. Der Reichthum und
+die Armuth haben beide bei mir zu Gevatter gestanden, darum habe ich
+auch zu nichts Rechtem kommen k&ouml;nnen.&laquo; Da wurde es pl&ouml;tzlich so hell um
+ihn her, als ob Linde und Stein von der vollen Sonne beschienen w&uuml;rden,
+so da&szlig; er eine Weile die Augen nicht &ouml;ffnen konnte, sondern sich erst an
+die Helligkeit gew&ouml;hnen mu&szlig;te. Da sah er neben sich auf dem Steine ein
+sch&ouml;nes Frauenbild stehen, in schneewei&szlig;en Kleidern, wie wenn ein Engel
+vom Himmel herunter gestiegen w&auml;re. Aus dem Munde der Jungfrau aber
+t&ouml;nte eine Stimme, die ihm s&uuml;&szlig;er klang, als der Gesang der Nachtigall,
+und die Stimme sprach: &raquo;Lieber J&uuml;ngling, f&uuml;rchte dich nicht, sondern
+erh&ouml;re die Bitte eines ungl&uuml;cklichen M&auml;dchens! Ich Arme lebe in einem
+tr&uuml;bseligen Kerker, und wenn du dich meiner nicht erbarmst, so habe ich
+nimmer Hoffnung auf Erl&ouml;sung. O, lieber J&uuml;ngling, habe Mitleid mit mir,
+und weise mich nicht ab. Ich bin eines m&auml;chtigen K&ouml;nigs Tochter aus dem
+Ostlande, unendlich reich an Gold und Sch&auml;tzen, aber das kann mir nichts
+helfen, weil ein Zauber mich zwang, in Gestalt einer Schlange hier unter
+dem Felsen zu leben, wo ich schon viele hundert Jahre weile, ohne je
+&auml;lter zu werden. Obwohl ich noch<span class='pagenum'><a name="Page_269" id="Page_269">[S 269]</a></span> nie einem Menschenkinde B&ouml;ses zugef&uuml;gt
+habe, so fliehen doch Alle vor meiner Gestalt, so wie sie mich
+erblicken. Du bist das einzige lebende Wesen, das meine Ann&auml;herung nicht
+scheute; ja, ich durfte zu deinen F&uuml;&szlig;en spielen, und deine Hand hat mich
+oftmals freundlich gestreichelt. Darum erwachte in meinem Herzen die
+Hoffnung, da&szlig; du mein Retter werden k&ouml;nntest. Dein Herz ist rein, wie
+das eines Kindes, in welchem Lug und Trug noch nicht wohnen. Auch trifft
+bei dir Alles zu, was zu meiner Rettung erforderlich ist: eine vornehme
+Dame und ein Bettler standen zusammen Gevatter bei dir, und das Gl&uuml;cksei
+wurde dein Pathengeschenk. Nur einmal nach je f&uuml;nf und zwanzig Jahren in
+der Johannisnacht ist es mir verg&ouml;nnt, in Menschengestalt eine Stunde
+lang auf der Erde zu wandeln, und wenn dann ein J&uuml;ngling reinen Herzens,
+der diese besonderen Gaben besitzt, kommen und meine Bitte erh&ouml;ren
+w&uuml;rde, so k&ouml;nnte ich aus meiner langen Gefangenschaft erl&ouml;st werden.
+Rette, o rette mich aus der endlosen Kerkerhaft, ich bitte dich in aller
+Engel Namen.&laquo; So sprechend fiel sie dem P&auml;rtel zu F&uuml;&szlig;en, umfa&szlig;te seine
+Knie und weinte bitterlich.</p>
+
+<p>Dem P&auml;rtel schmolz das Herz bei diesem Anblick und bei dieser Rede, er
+bat die Jungfrau aufzustehen und ihm zu sagen, wie die Rettung m&ouml;glich
+sei. &raquo;Ich w&uuml;rde ja ohne Z&ouml;gern durch Feuer und Wasser gehen,&laquo; sagte er,
+&raquo;wenn dadurch deine Rettung m&ouml;glich w&uuml;rde, und h&auml;tte ich zehn Leben zu
+verlieren, ich w&uuml;rde sie alle f&uuml;r deine Rettung hingeben! Eine nie
+gekannte Sehnsucht l&auml;&szlig;t mir keine Ruhe mehr, aber wonach ich mich sehne,
+wei&szlig; ich selbst nicht.&laquo;<span class='pagenum'><a name="Page_270" id="Page_270">[S 270]</a></span></p>
+
+<p>Die Jungfrau sagte: &raquo;Komm morgen Abend gegen Sonnenuntergang wieder
+hierher, und wenn ich dir dann als Schlange entgegen komme, und mich wie
+einen G&uuml;rtel um deinen Leib winde, und dich dreimal k&uuml;sse, so erschrick
+nicht, und bebe nicht zur&uuml;ck, sonst mu&szlig; ich wieder weiter seufzen unter
+dem Fluche der Verzauberung, und wer wei&szlig; auf wie viel hundert Jahre.&laquo;
+Mit diesen Worten war die Jungfrau den Blicken des J&uuml;nglings
+entschwunden, und wieder s&auml;uselte es aus dem Laube der Linde:</p>
+
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Zarte Schale hat das Gl&uuml;cksei,<br /></span>
+<span class="i0">Z&auml;hen Kernes ist die Tr&uuml;bsal;<br /></span>
+<span class="i0">Zaudre nicht das Gl&uuml;ck zu haschen!&laquo;<br /></span>
+</div></div>
+
+<p>P&auml;rtel war nach Hause gekommen und hatte sich vor Tages Anbruch schlafen
+gelegt, aber wunderbar bunte Tr&auml;ume, theils freundliche, theils
+h&auml;&szlig;liche, scheuchten die Ruhe von seinem Lager. Mit einem Schrei sprang
+er auf, weil ein Traum ihm vorgespiegelt hatte, da&szlig; die wei&szlig;e Schlange
+sich um seine Brust schlang und ihn erstickte. Zwar achtete er nicht
+weiter auf dieses Schreckbild, vielmehr war er fest entschlossen, die
+K&ouml;nigstochter aus den Banden der Verzauberung zu erl&ouml;sen, und wenn er
+selber dar&uuml;ber zu Grunde gehen sollte &mdash; aber dennoch wurde ihm das Herz
+immer schwerer, je n&auml;her die Sonne dem Horizonte kam. Zur festgesetzten
+Zeit stand er am Steine unter der Linde, und blickte seufzend zum Himmel
+empor, den er um Muth und Kraft anflehte, damit er nicht vor Schw&auml;che
+zittere, wenn sich die Schlange um seinen Leib winden und ihn k&uuml;ssen
+werde. Da fiel ihm pl&ouml;tzlich das Gl&uuml;cksei ein; er zog das Sch&auml;chtelchen
+aus<span class='pagenum'><a name="Page_271" id="Page_271">[S 271]</a></span> der Tasche, wickelte es los, und nahm das kleine Ei, das nicht
+gr&ouml;&szlig;er war, als das Ei einer Grasm&uuml;cke, zwischen die Finger.</p>
+
+<p>In demselben Augenblicke war die schneewei&szlig;e Schlange unter dem Steine
+hervorgeschl&uuml;pft, hatte sich um seinen Leib gewunden, und richtete eben
+ihren Kopf empor, um ihn zu k&uuml;ssen, da &mdash; der Mann wu&szlig;te selbst nicht
+wie es geschah &mdash; hatte er der Schlange das Gl&uuml;cksei in den Mund
+gesteckt. Er stand, ob auch mit frierendem Herzen, ohne zu beben, bis
+die Schlange ihn dreimal gek&uuml;&szlig;t hatte. Jetzt erfolgte ein Krachen und
+Leuchten, als h&auml;tte der Blitz in den Stein geschlagen, und schwerer
+Donner machte die Erde erzittern, so da&szlig; P&auml;rtel wie todt zu Boden fiel,
+und nicht mehr wu&szlig;te, was mit ihm oder um ihn her geschah.</p>
+
+<p>Aber in diesem furchtbaren Augenblicke waren die Bande des Zaubers
+gebrochen, und die k&ouml;nigliche Jungfrau war aus ihrer langen Haft erl&ouml;st.
+Als P&auml;rtel aus seiner schweren Ohnmacht erwachte, fand er sich auf
+weichen Seidenkissen, in einem pr&auml;chtigen Glasgemach von himmelblauer
+Farbe. Das sch&ouml;ne M&auml;dchen kniete vor seinem Bette, streichelte seine
+Wangen, und rief, als er die Augen aufschlug: &raquo;Dank dem himmlischen
+Vater, der mein Gebet erh&ouml;rt hat! und tausend, tausend Dank auch dir,
+theurer J&uuml;ngling, der du mich aus der langen Verzauberung erl&ouml;st hast.
+Nimm jetzt zum Lohne mein Reich, dieses prachtvolle K&ouml;nigsschlo&szlig; mit
+allen seinen Sch&auml;tzen, und wenn du willst, auch mich als Gemahlin mit in
+den Kauf. Du sollst fortan hier gl&uuml;cklich leben, wie es dem Herrn des
+Gl&uuml;cksei's geb&uuml;hrt. Bis heute war dein Loos<span class='pagenum'><a name="Page_272" id="Page_272">[S 272]</a></span> wie das deines <em class="gesperrt">Taufvaters</em>,
+jetzt harrt deiner ein besseres Loos, ein solches, wie es deiner
+<em class="gesperrt">Taufmutter</em> zugefallen war.&laquo;</p>
+
+<p>P&auml;rtel's Gl&uuml;ck und Freude verm&ouml;chte wohl Niemand zu schildern; alle
+unbegriffene Sehnsucht seines Herzens, die ihn ruhelos immer wieder
+unter die Linde trieb, war jetzt gestillt. Von der Welt geschieden lebte
+er mit seiner theuren Gemahlin im Schoo&szlig;e des Gl&uuml;ckes bis an sein Ende.
+&mdash; In dem Dorfe aber und auf dem Bauerhofe, wo er gedient hatte, und wo
+man ihn um seines frommen Wesens willen lieb hatte, erregte sein
+Verschwinden gro&szlig;e Betr&uuml;bni&szlig;. Darum machten sich Alle auf, ihn zu
+suchen, und ihr erster Gang war zur Linde, welche P&auml;rtel so h&auml;ufig zu
+besuchen pflegte, und wohin man ihn auch Abends zuvor noch hatte gehen
+sehn. Gro&szlig; war das Erstaunen der Leute, als sie dort weder den P&auml;rtel,
+noch die Linde, noch den Stein mehr vorfanden; auch die kleine Quelle in
+der N&auml;he war vertrocknet, und keines Menschen Auge hat selbige Dinge
+jemals wieder erblickt.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_273" id="Page_273">[S 273]</a></span></p>
+<h2>20. Der Frauenm&ouml;rder.</h2>
+
+
+<p>Es lebte einmal ein reicher hochadliger Gutsherr, unter dessen
+Botm&auml;&szlig;igkeit ausgedehnte Gebiete, Landg&uuml;ter und eine Unzahl von Leuten
+standen. Seinen Wohnsitz hatte er auf einem einsamen festen Schlosse,
+das hinter W&auml;ldern und S&uuml;mpfen versteckt lag wie eine B&auml;renh&ouml;hle, und
+rings mit Mauern und Gr&auml;ben umgeben war, so da&szlig; Feinde nicht leicht
+eindringen konnten. Man meinte, der gro&szlig;e Herr habe den einsamen Ort
+de&szlig;wegen zu seinem Wohnsitz gew&auml;hlt, damit seine unerme&szlig;liche Habe den
+Leuten nicht in die Augen steche und ihre Habsucht reize. Es sollten da
+n&auml;mlich gro&szlig;e Felsenkeller mit Gold und Silber angef&uuml;llt sein, womit der
+Besitzer, wenn er gewollt h&auml;tte, ganze K&ouml;nigreiche h&auml;tte kaufen k&ouml;nnen.
+An Geld und Sch&auml;tzen hatte er also Ueberflu&szlig;, aber mit seinen Frauen
+hatte er kein Gl&uuml;ck. Sie starben ihm alle binnen kurzer Frist, eine nach
+der andern; doch hielt sich der Wittwer nie mit langem Trauern auf,
+sondern ritt jedesmal ohne Zeitverlust von neuem auf die Freite. Obschon
+er noch im mittleren Mannesalter stand, sollte er doch schon eilf Frauen
+auf der Bahre gesehen haben, als<span class='pagenum'><a name="Page_274" id="Page_274">[S 274]</a></span> er auszog, um die zw&ouml;lfte zu freien.
+Man wei&szlig;, da&szlig; es einem reichen Manne nie schwer wird, zu einer Frau zu
+kommen, denn mit dem Goldnetze kann man die M&auml;dchen zu Dutzenden fangen.
+Trotzdem stellten sich unserem reichen Freier, als er jetzt die zw&ouml;lfte
+Frau nehmen wollte, Hindernisse in den Weg, so da&szlig; er wie ein geringer
+Mann an mancher Th&uuml;re anklopfen mu&szlig;te, ehe er eine Braut unter die Haube
+bringen konnte. Das rasche Wegsterben seiner vielen Frauen hatte den
+jungen Damen der Umgegend Schrecken eingefl&ouml;&szlig;t; es konnte doch wohl
+nicht mit rechten Dingen zugehen, da&szlig; die jungen bl&uuml;henden Frauen so
+rasch dahin welkten. Ein Geheimni&szlig; mu&szlig;te hier obwalten &mdash; aber es blieb
+Allen ein R&auml;thsel.</p>
+
+<p>Als nun der stolze reiche Freier lange Zeit vergebliche Wege gemacht
+hatte, beschlo&szlig; er endlich, sein Gl&uuml;ck auf einem Edelhofe zu versuchen,
+wo ein armer Edelmann mit seinen drei bl&uuml;henden T&ouml;chtern lebte. Sie
+waren alle drei sch&ouml;n und glichen k&ouml;stlichen Aepfeln, aber die j&uuml;ngste
+&uuml;berstrahlte die beiden andern, so da&szlig; sie recht gut auch die Gemahlin
+eines K&ouml;nigs h&auml;tte werden k&ouml;nnen. Der vornehme Freier hatte sein Auge
+alsbald auf das j&uuml;ngste Fr&auml;ulein geworfen; zwar schien des Fr&auml;uleins
+Herz anfangs kalt gegen ihn zu sein, aber seine reichen Geschenke,
+seidene Kleider, goldene Ketten und sonstiger Schmuck, &uuml;bten eine so
+erw&auml;rmende Wirkung, da&szlig; es dem Vater und den beiden Schwestern gelang,
+das M&auml;dchen zu &uuml;berreden. Der Vater hoffte an dem reichen Schwiegersohne
+eine St&uuml;tze zu finden, und auch die T&ouml;chter erwarteten, da&szlig; ihnen der
+Schwager n&uuml;tzlich sein werde, der schon versprochen hatte, ihnen auf
+seine Kosten pr&auml;chtige<span class='pagenum'><a name="Page_275" id="Page_275">[S 275]</a></span> Hochzeitskleider machen zu lassen. Da die
+Schwestern sich sehr lieb hatten, so waren die &auml;lteren nicht im
+mindesten neidisch dar&uuml;ber, da&szlig; die j&uuml;ngste zuerst heirathen sollte. Der
+Br&auml;utigam hatte seinen k&uuml;nftigen Schwiegervater darum gebeten, die
+Hochzeit nicht auszurichten, da er sie auf seinem Schlosse zu feiern und
+alle Kosten selbst zu tragen w&uuml;nsche.</p>
+
+<p>So weit war es mit der Werbung gut gegangen, und der Br&auml;utigam war schon
+wieder abgereist, um sein Haus f&uuml;r die Hochzeit herzurichten, und hatte
+auch schon den Tag f&uuml;r die Hochzeit angesetzt. Da ereignete sich ein
+Vorfall, der dem alten Herrn Verdru&szlig; bereitete, und das Herz der Braut
+mit Betr&uuml;bni&szlig; erf&uuml;llte. Auf dem Edelhofe lebte ein armer Knabe, den die
+Herrschaft nach dem Tode seiner Eltern, als er erst zwei Jahr alt war,
+zu sich genommen hatte; man hatte ihn sp&auml;ter zum G&auml;nsejungen gebraucht,
+seit l&auml;nger als einem Jahre aber war er Aufw&auml;rter. Die Gutsleute nannten
+ihn immer noch den G&auml;nse-T&ouml;nnis. Er war ein halbes Jahr j&uuml;nger als das
+j&uuml;ngste Fr&auml;ulein, und hatte als Kind mit ihr gespielt; dadurch war eine
+Freundschaft zwischen ihnen entstanden, und das Fr&auml;ulein war immer sehr
+liebreich gegen den T&ouml;nnis gewesen. T&ouml;nnis verehrte auf der ganzen Welt
+kein lebendes Wesen so sehr, wie sein theures Fr&auml;ulein. Was er dem
+Fr&auml;ulein nur an den Augen absehen konnte, das that er ungehei&szlig;en, und er
+w&auml;re ohne Zagen durch Feuer und Wasser gegangen, wenn das Fr&auml;ulein es
+befohlen h&auml;tte. Als er h&ouml;rte, da&szlig; das Fr&auml;ulein sich mit einem Wittwer
+verm&auml;hlen w&uuml;rde, erschrack er so heftig, da&szlig; er verzweifeln wollte;
+mehrere Tage nahm er keine<span class='pagenum'><a name="Page_276" id="Page_276">[S 276]</a></span> Nahrung zu sich, noch kam Nachts Schlaf in
+sein Auge. Er ging umher wie eine wandelnde Leiche, und Alle glaubten,
+da&szlig; er schwer krank sei. Als T&ouml;nnis den Br&auml;utigam zum erstenmal gesehen
+hatte, war ihm dieser Anblick wie ein schneidendes Schwert durchs Herz
+gegangen. &raquo;Mein theures Fr&auml;ulein rennt in ihr Verderben,&laquo; dachte er. Er
+wartete jetzt immer nur auf einen Augenblick, wo er mit dem Fr&auml;ulein
+sprechen k&ouml;nnte. Als sie nun eines Tages in den Gem&uuml;segarten gegangen
+war, trat ihr T&ouml;nnis dem&uuml;thig entgegen: &raquo;Gn&auml;diges theures Fr&auml;ulein,
+h&ouml;ret auf meine Bitte! Werdet nicht die Gattin eines M&ouml;rders, der euch
+ebenso umbringen w&uuml;rde, wie die eilf, die ihn vor euch geheirathet
+haben.&laquo; Das Fr&auml;ulein erschrack, als sie diese Rede h&ouml;rte, und fragte,
+woher er denn wissen k&ouml;nne, da&szlig; die fr&uuml;heren Frauen dieses Herrn einen
+gewaltsamen Tod gefunden. T&ouml;nnis antwortete: &raquo;Mein Herz sagte es mir,
+als ich den Br&auml;utigam zum erstenmale erblickte, und mein Herz hat mich
+noch niemals betrogen.&laquo; Als das Fr&auml;ulein ihren Schwestern und ihrem
+Vater erz&auml;hlte, was sie vernommen, gerieth der alte Herr in so heftigen
+Zorn, da&szlig; er drohte, den T&ouml;nnis halb todt zu schlagen, und dann mit den
+Hunden vom Hofe jagen zu lassen. Wer wei&szlig;, ob er die Drohung nicht
+ausgef&uuml;hrt h&auml;tte, wenn die Fr&auml;ulein sich nicht mit Bitten dazwischen
+gelegt und sich bem&uuml;ht h&auml;tten, seinen Zorn zu bes&auml;nftigen. Die Fr&auml;ulein
+sagten: &raquo;Der Bursche hat es ja doch nicht b&ouml;se gemeint, vielmehr w&uuml;nscht
+er uns nur Gutes.&laquo; Nach einigen Tagen lie&szlig; der alte Herr den T&ouml;nnis
+rufen, schalt ihn wegen seines th&ouml;richten Geschw&auml;tzes und sagte endlich:
+&raquo;Wenn du dem Fr&auml;ulein noch einmal<span class='pagenum'><a name="Page_277" id="Page_277">[S 277]</a></span> mit solchem leeren Gerede in den
+Ohren liegst, so lasse ich dich wie einen tollen Hund niederschie&szlig;en.&laquo;
+Um seine T&ouml;chter zu beruhigen, sagte ihnen der alte Herr, da&szlig; der T&ouml;nnis
+durch eine Krankheit schwachsinnig geworden sei. Gleichwohl waren im
+Herzen des j&uuml;ngsten Fr&auml;uleins Zweifel aufgestiegen, und sie h&auml;tte sich
+gern von ihrem Br&auml;utigam losgemacht, wenn sich nur irgend eine
+M&ouml;glichkeit gezeigt h&auml;tte. Aber Vater und Schwestern widersetzten sich
+diesem Vorhaben einm&uuml;thig, indem sie sagten: &raquo;Sto&szlig;e dein Gl&uuml;ck nicht
+leichtsinnig von dir. Du wirst eines reichen Mannes Frau, wirst dort ein
+Leben haben wie im Himmel, und auch uns helfen k&ouml;nnen.&laquo; Je n&auml;her der
+Hochzeitstag heranr&uuml;ckte, desto schwerer wurde dem Fr&auml;ulein das Herz,
+ihr schmeckte kein Essen mehr und kein Schlaf kam Nachts in ihr Auge.
+Endlich lie&szlig; sie eines Tages heimlich den T&ouml;nnis rufen, und fragte ihn,
+was sie thun solle, da der alte Herr von einem Zur&uuml;cktreten durchaus
+nichts wissen wolle. Darauf antwortete T&ouml;nnis mit der Bitte, ihn
+mitzunehmen: &raquo;So lange ich euch nahe bin,&laquo; &mdash; sagte er, &mdash; &raquo;soll Niemand
+es wagen, Hand an euch zu legen.&laquo; Darauf bat das Fr&auml;ulein ihren Vater um
+Erlaubni&szlig;, den T&ouml;nnis mitzunehmen. &raquo;Meinethalben,&laquo; &mdash; sagte der alte
+Herr, &mdash; &raquo;wenn dein Br&auml;utigam nichts dagegen einzuwenden hat.&laquo; Der
+Br&auml;utigam verzog zwar ein wenig das Gesicht, als er den Wunsch seiner
+Braut vernahm, aber da er die Braut nicht fahren lassen wollte, so mu&szlig;te
+er ihrem Begehren willfahren.</p>
+
+<p>Der Hochzeitstag wurde im Hause des Br&auml;utigams mit Jubel und gro&szlig;er
+Pracht begangen, &uuml;ber eine Woche<span class='pagenum'><a name="Page_278" id="Page_278">[S 278]</a></span> blieben s&auml;mmtliche Hochzeitsg&auml;ste, und
+jeder mu&szlig;te, als er heimkehrte, bekennen, da&szlig; er in seinem Leben noch
+keine sch&ouml;nere Hochzeit gesehen habe. Der Schwiegervater und die
+Schw&auml;gerinnen blieben noch einige Wochen l&auml;nger, und f&uuml;hrten ein Leben
+wie im Himmel. Beim Abschiede hatte ihnen der Schwiegersohn noch viele
+kostbare Geschenke mitgegeben, und das junge Paar war allein auf dem
+stolzen Edelhofe zur&uuml;ckgeblieben.</p>
+
+<p>Einige Wochen sp&auml;ter sagte der Herr zu seiner Gemahlin: &raquo;Ich mu&szlig; nun,
+mein Herzchen, auf drei Wochen verreisen, um meine entlegeneren G&uuml;ter
+und Besitzungen zu besichtigen, de&szlig;halb habe ich eine Botschaft nach dem
+Hause deines Vaters abgefertigt, um eine deiner Schwestern
+herzubescheiden, die dir Gesellschaft leisten soll, bis ich wiederkomme.
+Die Schwester kann heute Abend oder morgen Mittag hier eintreffen.
+W&auml;hrend meiner Abwesenheit wird hier das Ganze unter deiner Leitung
+stehen, sorge daf&uuml;r, da&szlig; Alles so fortgeht, wie ich es angeordnet habe.
+Hier sind meine Schl&uuml;ssel, vertraue sie Niemanden an; du selbst hast
+&uuml;berall Zutritt. Nur in diesem K&auml;stchen hier liegt ein einzelner
+goldener Schl&uuml;ssel; in dasjenige Zimmer, welches er aufschlie&szlig;t, darfst
+du deinen Fu&szlig; nicht setzen, noch auch die Th&uuml;r &ouml;ffnen, um hineinzusehen.
+Ich bitte dich, Liebchen, h&uuml;te dich vor solchem Vorwitz, denn dein und
+mein Gl&uuml;ck w&uuml;rde zerst&ouml;rt, sobald du mein Verbot &uuml;bertrittst. Solltest
+du absichtlich oder von ungef&auml;hr die verbotene Kammer betreten &mdash; und
+mir w&uuml;rde das nicht unbekannt bleiben &mdash;, so m&uuml;&szlig;te ich dir mit eigener
+Hand das Haupt vom Rumpfe abschlagen.&laquo; Die Frau weigerte sich, den
+unheimlichen Schl&uuml;ssel in<span class='pagenum'><a name="Page_279" id="Page_279">[S 279]</a></span> Verwahrung zu nehmen, aber der Herr lie&szlig;
+nicht ab, sondern drang so lange in sie, bis sie den goldenen Schl&uuml;ssel
+empfing. Beim Abschiede sprach sie noch zum Schlo&szlig;herrn: &raquo;Meinetwegen
+kannst du unbesorgt sein, ich will deine Geheimnisse nicht sehen, wenn
+du sie mir nicht selbst zeigen magst.&laquo;</p>
+
+<p>Am Tage nach der Abreise des Herrn traf die mittlere Schwester ein, um
+der jungen Frau die Zeit zu vertreiben. Die Schwestern unterhielten
+sich, und scherzten mit einander, und manches Mal kam auch die Rede
+darauf, da&szlig; des T&ouml;nnis b&ouml;se Ahnung ihnen ganz unn&uuml;tze Angst eingefl&ouml;&szlig;t
+habe. Dennoch wurde die junge Frau wieder unruhiger, als ihr eines
+Morgens gemeldet wurde, da&szlig; T&ouml;nnis in der Nacht verschwunden sei, und
+Niemand wisse, wo er hingekommen. Den Abend zuvor hatte er zur Frau
+gesagt: &raquo;Ich wei&szlig; nicht, wie es kommt, da&szlig; ich euretwegen in schwerer
+Sorge bin, es k&ouml;nne euch irgend ein Ungl&uuml;ck zusto&szlig;en. Jede Nacht tr&auml;ume
+ich von euch, wie wenn ein b&ouml;ser Mensch hinter euch steht, der euch das
+Garaus machen will. Und des Morgens weckt mich gew&ouml;hnlich ein h&auml;&szlig;licher
+Traum, wo ihr mit blutigem Kopfe vor meinem Bette steht.&laquo; Die Frau hatte
+sich jeder Besorgni&szlig; vor diesen Tr&auml;umen als einer leeren Furcht zu
+erwehren gesucht, aber als sie des Burschen Verschwinden erfuhr, fiel
+ihr dessen Rede von gestern Abend doch schwer auf's Herz. Sie schickte
+Leute nach allen Richtungen aus, um ihn aufzusuchen; die Leute kehrten
+am Abend zur&uuml;ck, aber keiner von ihnen hatte eine Spur des
+Verschwundenen gefunden. Der Frau kam es vor, als w&auml;re mit T&ouml;nnis ihr
+bester Besch&uuml;tzer und ihr treuester Freund<span class='pagenum'><a name="Page_280" id="Page_280">[S 280]</a></span> von ihr geschieden. Wiewohl
+das Fr&auml;ulein sich auf alle Weise bem&uuml;hte, den Kummer der Schwester zu
+mildern, so fand die arme Frau doch keinen Trost.</p>
+
+<p>Eines Tages wollte sie ihrer Schwester alle R&auml;ume und Schatzkammern des
+Schlosses zeigen, sie gingen von einem Gemach zum andern, musterten
+Alles, und befriedigten ihre Schaulust. Zuletzt kamen sie auch vor die
+Th&uuml;r, welche der goldene Schl&uuml;ssel &ouml;ffnete, allein das war die Kammer,
+welche die Frau nicht betreten durfte &mdash;sollte sie doch nicht einmal an
+der Schwelle nach den Geheimnissen dieser Kammer sp&auml;hen. Das Fr&auml;ulein
+hatte gro&szlig;e Lust, sich diese geheimni&szlig;volle Kammer anzusehen, und bat
+ihre Schwester, die Th&uuml;r aufzuschlie&szlig;en. Die Frau mochte wohl kein
+geringeres Verlangen danach empfinden, allein sie rief sich das Verbot
+ihres Gemahls in's Ged&auml;chtni&szlig; zur&uuml;ck, und sagte, es sei ihr nicht
+erlaubt, diese Kammer zu betreten. Die Schwester spottete ihrer Furcht:
+&raquo;Schl&uuml;ssel und Schlo&szlig;&laquo; &mdash; meinte sie &mdash; &raquo;haben keine Zunge, mit der sie
+dem Herrn verrathen k&ouml;nnten, da&szlig; sich Jemand ihrer bedient hat. Was kann
+hier auch weiter versteckt sein, als allerlei Kostbarkeiten, die er dir,
+wer wei&szlig; aus welcher Laune, nicht zeigen will. Wenn die M&auml;nner aus Laune
+vor ihren Frauen etwas verbergen, so d&uuml;rfen auch die Frauen aus Laune
+dem Verbote der M&auml;nner zuwider handeln. Wenn du dich f&uuml;rchtest zu
+&ouml;ffnen, so gieb mir den Schl&uuml;ssel, ich werde dir die Th&uuml;r aufschlie&szlig;en.&laquo;
+Obwohl die Frau sich mit dem Munde noch gegen das Verlangen der
+Schwester str&auml;ubte, so war sie doch im Herzen schon l&auml;ngst eines Sinnes
+mit ihr. Sie nahm den Schl&uuml;ssel aus dem K&auml;stchen und steckte ihn<span class='pagenum'><a name="Page_281" id="Page_281">[S 281]</a></span> in's
+Schlo&szlig;. Noch ehe sie Zeit gehabt hatte, den Schl&uuml;ssel im Schlosse
+umzudrehen, sprang die Th&uuml;r mit gro&szlig;em Ger&auml;usch auf, wobei Zauberk&uuml;nste
+im Spiele gewesen sein mu&szlig;ten. Aber wer verm&ouml;chte das Entsetzen zu
+beschreiben, welches jetzt die Beiden &uuml;berfiel, als ihr Blick &uuml;ber die
+Schwelle in das Innere der geheimni&szlig;vollen Kammer drang. In der Mitte
+derselben stand ein Eichenblock, und auf diesem lag ein breites Beil;
+der ganze Fu&szlig;boden war mit geronnenem Blute bedeckt! Was aber das
+Gr&auml;&szlig;lichste war, und den letzten Blutstropfen in ihren Herzen erstarren
+machte: hinten an der Wand standen in einer Reihe auf einem langen
+Tische die blutigen K&ouml;pfe der fr&uuml;heren eilf Frauen! Diese ungl&uuml;cklichen
+Gesch&ouml;pfe hatten alle in dieser Mordkammer den Tod gefunden
+&mdash;wahrscheinlich weil auch sie in ihrem Vorwitze des Mannes Verbot
+&uuml;bertreten hatten.</p>
+
+<p>Derselbe gr&auml;&szlig;liche Tod drohte auch jetzt der zw&ouml;lften Frau, denn sie
+sagte sich sogleich, da&szlig; der teuflische Mann, der die andern umgebracht
+habe, ihr auch keine Barmherzigkeit schenken werde. Schon sah sie ihren
+Hals auf dem blutigen Blocke, f&uuml;hlte die Schneide des Beils in ihrem
+Nacken, als sie voll Entsetzen &uuml;ber die Schwelle zur&uuml;ckschwankte. Den
+Schl&uuml;ssel hatte sie beim Einstecken auf den Boden fallen lassen; als sie
+ihn jetzt aufhob, fand sie blutige Rostflecken daran, die kein Wischen
+und kein Scheuern vertilgen konnte. Als sie dann versuchten, die Th&uuml;r
+zuzuschlie&szlig;en, fanden sie es unm&ouml;glich; die Th&uuml;r klaffte eine Hand breit
+auseinander, als ob zwischen Th&uuml;r und Pfosten ein unsichtbarer Keil sich
+bef&auml;nde. Jetzt fehlte es nicht an Jammer und Reue, aber was konnte es<span class='pagenum'><a name="Page_282" id="Page_282">[S 282]</a></span>
+fruchten? Zum Gl&uuml;ck hatten sie noch eine Woche bis zur R&uuml;ckkehr des
+Herrn, w&auml;hrend dieser Frist wollten sie auf Mittel sinnen, die Sache wo
+m&ouml;glich wieder gut zu machen.</p>
+
+<p>Schlaflos verging den Schwestern die Nacht; so oft ihnen die Augen
+zufielen, stand gleich der blutige Block mit dem Beile wieder vor ihnen,
+und scheuchte allen Schlummer. Am Morgen trat die Kammerjungfer bei der
+Frau ein und meldete, der Herr halte schon vor der Pforte. Die Frau
+erbebte am ganzen Leibe, und war unf&auml;hig, sich von ihrem Sitze zu
+erheben. Kaum war der Herr vom Pferde gestiegen, so fragte er nach der
+Frau, und ging rasch die Treppe hinauf. Als er in's Zimmer trat,
+brannten seine Augen wie zwei Feuer; die vor Angst erbleichende Frau
+wollte aufstehen, sank aber wieder auf ihren Stuhl zur&uuml;ck. Der Herr sah
+augenblicklich, was hier vorgegangen war, und fragte, wo der goldene
+Schl&uuml;ssel sei. Mit zitternder Hand zog die Frau das K&auml;stchen aus ihrer
+Tasche, und &uuml;berreichte es dem Herrn, der beim Oeffnen sogleich die
+Rostflecke am Schl&uuml;ssel fand. Da schwoll sein Gesicht blauroth an, und
+seine Augen rollten wie Feuerr&auml;der, so da&szlig; die Frau ihn nicht ansehen
+konnte. &raquo;Ruchloses Gesch&ouml;pf!&laquo; &mdash; schrie er mit f&uuml;rchterlicher Stimme &mdash;
+&raquo;du mu&szlig;t ohne Gnade von meiner Hand sterben, weil du mein Gebot
+&uuml;bertreten hast. Gott im Himmel mag dir vergeben, ich kann deinen
+Vorwitz nicht ungestraft lassen. Hatte ich dir doch das Regiment und
+alle meine Habe anvertraut, und du hast mich betrogen! Mit den
+Reichth&uuml;mern, die ich dir gegeben, konntest du wie eine K&ouml;nigin in Gl&uuml;ck
+und Freude<span class='pagenum'><a name="Page_283" id="Page_283">[S 283]</a></span> leben! Warum hast du mein Gebot &uuml;bertreten?! Bereite dich
+zum Tode, denn deine Tage sind zu Ende!&laquo;</p>
+
+<p>Die Frau versuchte einige Worte zu ihrer Entschuldigung vorzubringen,
+aber der Herr tobte noch &auml;rger: &raquo;Bereite dich zum Tode, denn deine
+Augenblicke sind gez&auml;hlt!&laquo; Die Schwester der Frau hatte sich gleich, als
+der L&auml;rm begann, gefl&uuml;chtet, und wagte nicht mehr sich zu zeigen, denn
+sie war bange, sich ebenfalls den Tod zuzuziehen. Die Frau fiel vor dem
+Herrn auf die Knie, betete zu Gott, und versuchte dazwischen wieder
+ihres Gatten Herz zu erweichen.</p>
+
+<p>&raquo;Des Geschw&auml;tzes ist genug!&laquo; schrie der Herr. &raquo;Lege deinen Kopf auf den
+Block!&laquo; Als die Frau diesem Befehle nicht gleich Folge leistete,
+schleppte er sie bei den Haaren an den Block, dr&uuml;ckte mit der linken
+Hand den Kopf nieder und ergriff mit der rechten das Beil, um sie zu
+t&ouml;dten.</p>
+
+<p>Aber in demselben Augenblicke, wo er das Beil emporhob, fiel von hinten
+ein schwerer Kn&uuml;ttel auf seinen Kopf, so da&szlig; ihm das Beil aus der Hand
+fiel, und er selbst hinst&uuml;rzte. In seiner Wuth hatte der M&ouml;rder nicht
+bemerkt, da&szlig; ein Mann mit einem Kn&uuml;ttel hinter ihm her schritt, als er
+die Frau in die Mordkammer schleppte. Dieser Mann war T&ouml;nnis. Die Frau
+war vor Angst und Schrecken in Ohnmacht gefallen, so da&szlig; sie nichts mehr
+von dem wu&szlig;te, was um sie her vorging. T&ouml;nnis band dem Herrn H&auml;nde und
+F&uuml;&szlig;e mit starken Stricken, und als derselbe sich wieder von seiner
+Bet&auml;ubung erholte, konnte er sich nicht mehr los machen, und Niemanden
+B&ouml;ses zuf&uuml;gen. Dann eilte T&ouml;nnis der ohnm&auml;chtigen Frau zu H&uuml;lfe, die
+erst nach einigen Stunden aus ihrer Ohnmacht erwachte.<span class='pagenum'><a name="Page_284" id="Page_284">[S 284]</a></span></p>
+
+<p>Jetzt setzte man das Gericht in Kenntni&szlig;, und schickte sogleich eine
+Botschaft an den Vater der Frau, da&szlig; er her k&auml;me. Die Untersuchung
+brachte an den Tag, da&szlig; der M&ouml;rder eilf Frauen umgebracht hatte, und
+auch die letzte gemordet haben w&uuml;rde, wenn T&ouml;nnis nicht zu H&uuml;lfe
+gekommen w&auml;re; der M&ouml;rder wurde deshalb vor das peinliche Gericht
+gestellt, und zum Tode verurtheilt. Da er keine n&auml;heren Verwandten
+hatte, denen ein Erbrecht zustand, so wurden alle Edelh&ouml;fe und
+Besitzungen der Wittwe zugesprochen; nur ein Theil des Verm&ouml;gens wurde
+unter die Armen vertheilt.</p>
+
+<p>Bei der reichen Wittwe meldeten sich Freier von allen Seiten, aber sie
+heirathete keinen derselben, sondern nahm nach einem Jahre den T&ouml;nnis
+zum Gemahl, und Beide f&uuml;hrten ein gl&uuml;ckliches Leben bis an ihr Ende.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_285" id="Page_285">[S 285]</a></span></p>
+<h2>21. Der herzhafte Riegenaufseher.<a name="FNanchor_84_84" id="FNanchor_84_84"></a><a href="#Footnote_84_84" class="fnanchor">[84]</a></h2>
+
+
+<p>Einmal lebte ein Riegenaufseher, der an Herzhaftigkeit nicht viele
+seines Gleichen hatte. Von ihm hatte der &raquo;alte Bursche&laquo; selber ger&uuml;hmt,
+ein herzhafterer Mann sei ihm auf der ganzen Welt noch nicht
+vorgekommen. Der Alte ging de&szlig;halb h&auml;ufig an den Abenden, wo die
+Drescher nicht in der Scheune waren, zum Aufseher zu Gast, und unter
+angenehmen Gespr&auml;chen wurde ihnen die Zeit niemals lang. Der alte
+Bursche meinte zwar, der Aufseher kenne ihn nicht, sondern halte ihn f&uuml;r
+einen einfachen Bauer, allein der Aufseher kannte ihn recht gut, wenn er
+sich auch nichts merken lie&szlig;, und hatte sich vorgenommen, den (alten
+H&ouml;rnertr&auml;ger) Teufel wo m&ouml;glich einmal &uuml;ber's Ohr zu hauen. Als der alte
+Bursche eines Abends &uuml;ber sein Junggesellen-Leben klagte, und da&szlig; er
+Niemanden habe, der ihm einen Strumpf stricke oder einen Handschuh n&auml;he,
+fragte der Aufseher: &raquo;Warum gehst du denn nicht auf<span class='pagenum'><a name="Page_286" id="Page_286">[S 286]</a></span> die Freite,
+Br&uuml;derchen?&laquo; Der alte Bursche erwiederte: &raquo;Ich habe schon manchmal mein
+Heil versucht, aber die M&auml;dchen wollen mich nicht. Je j&uuml;nger und
+bl&uuml;hender sie waren, desto &auml;rger spotteten sie meiner.&laquo; Der Aufseher
+rieth ihm, um &auml;ltere M&auml;dchen oder Wittwen zu freien, die viel eher kirre
+zu machen seien, und nicht leicht einen Freier verschm&auml;hen w&uuml;rden. Nach
+einigen Wochen heirathete denn auch der alte Bursche ein bejahrtes
+M&auml;dchen; es dauerte aber nicht gar lange, so kam er wieder zum
+Riegenaufseher, ihm seine Noth zu klagen, da&szlig; die junge Frau voller
+T&uuml;cke sei; sie lasse ihm weder bei Nacht noch bei Tage Ruhe, sondern
+qu&auml;le ihn ohne Unterla&szlig;. &raquo;Was bist du denn f&uuml;r ein Mann,&laquo; lachte der
+Aufseher, &raquo;da&szlig; dein Weib die Hosen hat anziehen d&uuml;rfen! Nahmst du einmal
+ein Weib, so mu&szlig;test du auch deines Weibes Herr werden!&laquo; Der alte
+Bursche erwiederte: &raquo;Ich werde mit ihr nicht fertig. Hole sie der und
+jener, ich setze meinen Fu&szlig; nicht mehr in's Haus.&laquo; Der Riegenaufseher
+suchte ihm Trost einzusprechen, und sagte, er solle sein Heil noch
+einmal versuchen, aber der alte Bursche meinte, es sei an der ersten
+Probe genug, und hatte nicht Lust, seinen Nacken zum zweiten Male in das
+Joch eines Weibes zu legen.</p>
+
+<p>Im Herbste des n&auml;chsten Jahres, als das Dreschen wieder begonnen hatte,
+machte der alte Bekannte dem Aufseher einen neuen Besuch. Der Aufseher
+merkte gleich, da&szlig; dem Bauer etwas auf dem Herzen brannte, er fragte
+aber nicht, sondern wollte abwarten, da&szlig; der Andere selber mit der Sache
+herausk&auml;me. Er erfuhr denn auch bald des alten Burschen Mi&szlig;geschick. Im
+Sommer hatte<span class='pagenum'><a name="Page_287" id="Page_287">[S 287]</a></span> derselbe die Bekanntschaft einer jungen Wittwe gemacht,
+die wie ein T&auml;ubchen girrte, so da&szlig; dem M&auml;nnlein abermals
+Freiersgedanken aufstiegen. Er heirathete sie auch, fand aber sp&auml;ter,
+da&szlig; sie der &auml;rgste Hausdrache war, den es geben konnte, und da&szlig; sie ihm
+gern die Augen aus dem Kopfe gerissen h&auml;tte, so da&szlig; er endlich seinem
+Gl&uuml;cke dankte, als er sich von der b&ouml;sen Sieben losgemacht hatte. Der
+Riegenaufseher sagte: &raquo;Ich sehe wohl, da&szlig; du zum Ehemann nicht taugst,
+denn du bist ein Hasenfu&szlig;, und verstehst nicht, ein Weib zu regieren.&laquo;
+Darin mu&szlig;te ihm denn der alte Bursche Recht geben. Nachdem sie dann noch
+eine Weile &uuml;ber Weiber und Heirathen geplaudert hatten, sagte der alte
+Bursche: &raquo;Wenn du denn wirklich ein so herzhafter Mann bist, da&szlig; du dir
+getraust, den schlimmsten H&ouml;llendrachen unter dem Weibervolk zahm zu
+machen, so will ich dir eine Bahn zeigen, auf welcher deine
+Herzhaftigkeit bessern Lohn finden wird, als bei der Z&auml;hmung eines b&ouml;sen
+Weibes. Du kennst doch die Ruinen des alten Schlosses auf dem Berge?
+dort liegt ein gro&szlig;er Schatz aus alten Zeiten, der noch Niemandem zu
+Theil geworden ist, weil eben noch keiner Muth genug hatte, ihn zu
+heben.&laquo; Der Riegenaufseher gab lachend zur Antwort: &raquo;Wenn hier nichts
+weiter n&ouml;thig ist, als Muth, so habe ich den Schatz schon so gut wie in
+der Tasche!&laquo; Darauf theilte der alte Bursche dem Aufseher mit, da&szlig; er in
+k&uuml;nftiger Donnerstags-Nacht, wo der Mond voll werde, hingehen m&uuml;sse, um
+den vergrabenen Schatz zu heben, und f&uuml;gte hinzu: &raquo;H&uuml;te dich aber, da&szlig;
+nicht die geringste Furcht dich anwandle, denn wenn dir das Herz bangen,
+oder auch nur eine Faser an deinem Leibe zittern<span class='pagenum'><a name="Page_288" id="Page_288">[S 288]</a></span> sollte, so verlierst
+du nicht nur den gehofften Schatz, sondern kannst auch dein Leben
+einb&uuml;&szlig;en, wie viele Andere, die vor dir ihr Gl&uuml;ck versuchten. Wenn du
+mir nicht glaubst, so gehe nur in irgend einen Bauerhof und la&szlig; die
+Leute erz&auml;hlen, was sie &uuml;ber das Gem&auml;uer des alten Schlosses geh&ouml;rt &mdash;
+Manche auch wohl mit eigenen Augen gesehen haben. Noch einmal: wenn dir
+dein Leben lieb ist, und du des Schatzes habhaft werden willst, so h&uuml;te
+dich vor aller Furcht.&laquo;</p>
+
+<p>Am Morgen des bezeichneten Donnerstags machte sich der Riegenaufseher
+auf den Weg, und obgleich er nicht die geringste Furcht empfand, so
+kehrte er doch in der Dorfschenke ein, in der Hoffnung, dort auf
+Menschen zu sto&szlig;en, die ihm Eins oder das Andere &uuml;ber die alten
+Schlo&szlig;mauern berichten k&ouml;nnten. Er fragte den Wirth, was das f&uuml;r alte
+Mauern w&auml;ren auf dem Berge, und ob die Leute noch etwas dar&uuml;ber w&uuml;&szlig;ten,
+wer sie aufgef&uuml;hrt, und wer sie dann wieder zerst&ouml;rt habe. Ein alter
+Bauer, der die Frage des Riegenaufsehers geh&ouml;rt hatte, gab folgenden
+Bescheid: &raquo;Der Sage nach hat vor vielen hundert Jahren ein steinreicher
+Gutsherr dort gewohnt, der &uuml;ber weite L&auml;ndereien und zahlreiches Volk
+gebot. Dieser Herr f&uuml;hrte ein eisernes Regiment, und behandelte seine
+Unterthanen grausam, aber mit dem Schwei&szlig; und Blut derselben hatte er
+unerme&szlig;lichen Reichthum zusammengescharrt, so da&szlig; Gold und Silber
+fuderweise von allen Seiten her auf's Schlo&szlig; kam, wo es in tiefen
+Kellern vor Dieben und R&auml;ubern verwahrt wurde. Auf welche Weise der
+reiche B&ouml;sewicht zuletzt seinen Tod fand, hat Niemand erfahren. Die
+Diener fanden eines<span class='pagenum'><a name="Page_289" id="Page_289">[S 289]</a></span> Morgens sein Bett leer, drei Blutstropfen auf dem
+Boden, und eine gro&szlig;e schwarze Katze zu H&auml;upten des Bettes, die man
+vorher nie gesehen hatte und nachher nie wieder sah. Man meinte daher,
+die Katze sei der b&ouml;se Geist selber gewesen, der in dieser Gestalt den
+Herrn in seinem Bette erw&uuml;rgt, und dann zur H&ouml;lle gebracht habe, wo er
+f&uuml;r seine Frevel b&uuml;&szlig;en m&uuml;sse. &mdash; Als sp&auml;ter auf die Nachricht von dem
+Todesfall die Verwandten des Schlo&szlig;herrn sich einfanden, um dessen
+Schatz in Besitz zu nehmen, fand sich nirgends ein Kopek Geld vor.
+Anfangs hielt man die Diener f&uuml;r die Diebe, und stellte sie vor Gericht;
+allein da sie sich ihrer Unschuld bewu&szlig;t waren, so bekannten sie auch
+auf der Folter Nichts. Inzwischen hatten viele Menschen Nachts ein
+Geklapper, wie mit Geld, tief unter der Erde, vernommen, und machten dem
+Gericht davon Anzeige, und als dieses eine Untersuchung anstellte und
+die Aussage best&auml;tigt fand, wurden die Diener freigelassen. Das seltsame
+n&auml;chtliche Geldgeklapper wurde sp&auml;ter noch oft geh&ouml;rt, auch fanden sich
+Manche, die dem Schatze nachgruben, aber es kam nichts zu Tage, und von
+den Schatzgr&auml;bern kehrte keiner zur&uuml;ck; sicher hatte eben Der sie
+geholt, der dem Herrn des Geldes ein so gr&auml;&szlig;liches Ende bereitet hatte.
+Soviel sah Jeder, da&szlig; hier Etwas nicht geheuer war, &mdash; darum getraute
+sich auch Niemand in dem alten Schlosse zu wohnen, bis endlich das Dach
+und die W&auml;nde durch Wind und Regen verfielen, und nichts weiter &uuml;brig
+blieb, als die alten Ruinen. Kein Mensch wagt sich bei n&auml;chtlicher Weile
+in die N&auml;he, noch weniger erk&uuml;hnt sich Einer, dort nach alten Sch&auml;tzen
+zu suchen.&laquo; &mdash;So sprach der alte Bauer.<span class='pagenum'><a name="Page_290" id="Page_290">[S 290]</a></span></p>
+
+<p>Als der Riegenaufseher seine Erz&auml;hlung vernommen hatte, &auml;u&szlig;erte er wie
+halb im Scherze: &raquo;Ich h&auml;tte Lust, mein Heil zu versuchen! Wer geht
+k&uuml;nftige Nacht mit mir?&laquo; Die M&auml;nner schlugen ein Kreuz und betheuerten
+einhellig, da&szlig; ihnen ihr Leben viel lieber sei, als alle Sch&auml;tze der
+Welt, die doch Niemand erlangen k&ouml;nne, ohne seine Seele zu verderben.
+Dann baten sie den Fremden, er m&ouml;ge den eitlen Gedanken fahren lassen,
+und sein Leben nicht dem Teufel &uuml;berantworten. Allein der k&uuml;hne
+Riegenaufseher achtete weder Bitten noch Einsch&uuml;chterungen, sondern war
+entschlossen, sein Heil auf eigene Hand zu versuchen. Er bat sich am
+Abend von dem Schenkwirth ein Bund Kienspan aus, um nicht im Dunkeln zu
+bleiben, und erkundigte sich dann nach dem k&uuml;rzesten Wege zu den alten
+Schlo&szlig;ruinen.</p>
+
+<p>Einer der Bauern, der etwas mehr Muth zu haben schien als die Andern,
+ging ihm eine Strecke weit mit einer brennenden Laterne als F&uuml;hrer
+voran, kehrte aber um, als sie noch &uuml;ber eine halbe Werst weit von dem
+Gem&auml;uer entfernt waren. Da der bew&ouml;lkte Nachthimmel Nichts erkennen
+lie&szlig;, so mu&szlig;te der Riegenaufseher seinen Weg tastend verfolgen. Das
+Pfeifen des Windes und das Geschrei der Nachteulen schlug schauerlich an
+sein Ohr, konnte aber sein tapferes Herz nicht schrecken. Sobald er im
+Stande war, unter dem Schutze des Mauerwerks Feuer zu machen, z&uuml;ndete er
+einen Span an, und sp&auml;hte nach einer Th&uuml;r oder einer Oeffnung umher,
+durch die er unter die Erde hinabsteigen k&ouml;nnte. Nachdem er eine Weile
+vergebens gesucht hatte, sah er endlich am Fu&szlig;e der Mauer ein Loch,
+welches abw&auml;rts f&uuml;hrte. Er steckte<span class='pagenum'><a name="Page_291" id="Page_291">[S 291]</a></span> den brennenden Span in eine
+Mauerspalte, und r&auml;umte mit den H&auml;nden soviel Ger&ouml;ll und Schutt fort,
+da&szlig; er hineinkriechen konnte. Nachdem er eine Strecke weit gekommen war,
+fand er eine steinerne Treppe, und der Raum wurde weit genug, da&szlig; er
+aufrecht gehen konnte. Das Kienspan-Bund auf der Schulter und einen
+brennenden Span in der Hand, stieg er die Stufen hinunter, und kam
+endlich an eine eiserne Th&uuml;r, die nicht verschlossen war. Er stie&szlig; die
+schwere Th&uuml;r auf und wollte eben eintreten, als eine gro&szlig;e schwarze
+Katze mit feurigen Augen windschnell durch die Th&uuml;r und zur Treppe
+hinauf scho&szlig;. Der Riegenaufseher dachte: die hat gewi&szlig; den Herrn des
+Geldes erw&uuml;rgt, stie&szlig; die Th&uuml;r zu, warf das Kienspan-Bund zu Boden, und
+sah sich dann den Ort n&auml;her an. Es war ein gro&szlig;er breiter Saal, an
+dessen W&auml;nden &uuml;berall Th&uuml;ren angebracht waren; er z&auml;hlte deren zw&ouml;lf,
+und &uuml;berlegte, welche von ihnen er zuerst versuchen sollte. &raquo;Sieben ist
+doch eine Gl&uuml;ckszahl!&laquo; sagte er, und z&auml;hlte dann von der Eingangsth&uuml;r
+bis zur siebenten; aber diese war verschlossen und wollte nicht
+aufgehen. Als er sich inde&szlig; mit aller Leibeskraft gegen die Th&uuml;r
+stemmte, gab das verrostete Schlo&szlig; nach, und die Th&uuml;r sprang auf. Als
+der Riegenaufseher hineintrat, fand er ein Gemach von mittlerer Gr&ouml;&szlig;e,
+welches an einer Wand einen langen Tisch nebst einer Bank, an der andern
+Wand einen Ofen und vor demselben einen Herd enthielt; neben dem Herde
+lagen auch Scheite Holz am Boden. Der Mann machte nun Feuer an, und sah
+beim Scheine desselben, da&szlig; ein kleiner Grapen und eine Schale mit Mehl
+auf dem Ofen standen, auch fand er etwas Salz im Salzfa&szlig;. &raquo;Sieh'<span class='pagenum'><a name="Page_292" id="Page_292">[S 292]</a></span> doch!&laquo;
+rief der Aufseher. &raquo;Hier finde ich ja unerwartet Mundvorrath, Wasser
+habe ich mir im F&auml;&szlig;chen mitgebracht, jetzt kann ich mir eine warme Suppe
+kochen.&laquo; Damit stellte er den Grapen auf's Feuer, that Mehl und Wasser
+hinein, streute Salz darauf, r&uuml;hrte mit einem Splitter um, und kochte
+die Suppe gar; dann go&szlig; er sie in die Schale, und setzte sie auf den
+Tisch. Das helle Feuer des Herdes erleuchtete die Stube, so da&szlig; er
+keinen Span anzuz&uuml;nden brauchte. Der muthige Riegenaufseher setzte sich
+nun an den Tisch, nahm den L&ouml;ffel und fing an, sich mit der warmen Suppe
+den leeren Magen zu f&uuml;llen. Pl&ouml;tzlich sah er, als er aufblickte, die
+schwarze Katze mit den feurigen Augen auf dem Ofen sitzen; er konnte
+nicht begreifen, wie das Thier dahin gekommen sei, da er doch mit
+eigenen Augen gesehen hatte, wie die Katze die Treppe hinauf gerannt
+war. Darauf wurden drau&szlig;en drei laute Schl&auml;ge an die Th&uuml;r gethan, so da&szlig;
+W&auml;nde und Fu&szlig;boden sch&uuml;tterten, aber der Riegenaufseher verlor den Muth
+nicht, sondern rief mit strenger Stimme: &raquo;Wer einen Kopf auf dem Rumpfe
+hat, soll eintreten!&laquo; Augenblicklich prallte die Th&uuml;r weit auf, die
+schwarze Katze sprang vom Ofen herunter und scho&szlig; durch die Th&uuml;r, wobei
+ihr aus Maul und Augen Feuerfunken spr&uuml;hten. Als die Katze davon
+gelaufen war, traten vier lange M&auml;nner ein in langen wei&szlig;en R&ouml;cken und
+mit feuerrothen M&uuml;tzen, welche derma&szlig;en funkelten, da&szlig; sich Tageshelle
+im Gemach verbreitete. Die M&auml;nner trugen eine Bahre auf den Schultern,
+und auf der Bahre stand ein Sarg; das fl&ouml;&szlig;te aber dem beherzten
+Riegenaufseher keine Furcht ein. Ohne ein Wort zu sagen, stellten die
+M&auml;nner den Sarg auf den<span class='pagenum'><a name="Page_293" id="Page_293">[S 293]</a></span> Boden, gingen dann einer nach dem andern zur
+Th&uuml;r hinaus und zogen sie hinter sich zu. Die Katze miaute und kratzte
+an der Th&uuml;r, als ob sie herein wollte, aber der Riegenaufseher k&uuml;mmerte
+sich nicht darum, sondern verzehrte ruhig seine warme Suppe. Als er satt
+war, stand er auf und besah sich den Sarg; er brach den Deckel auf und
+erblickte einen kleinen Mann mit langem wei&szlig;en Barte. Der Riegenaufseher
+hob ihn heraus, und brachte ihn zum Herde an's Feuer, um ihn zu
+erw&auml;rmen. Es dauerte auch nicht lange, so fing das alte M&auml;nnchen an,
+sich zu erholen und H&auml;nde und F&uuml;&szlig;e zu regen. Der muthige Riegenaufseher
+hatte nicht die geringste Furcht; er nahm die Suppensch&uuml;ssel und den
+L&ouml;ffel vom Tische, und fing an, den Alten zu f&uuml;ttern. Diesem aber
+dauerte das zu lange, drum fa&szlig;te er die Sch&uuml;ssel mit beiden H&auml;nden und
+schl&uuml;rfte hastig alle Suppe hinunter. Dann sagte er: &raquo;Dank dir,
+S&ouml;hnchen! da&szlig; du dich &uuml;ber mich Armen erbarmt, und meinen von Hunger und
+K&auml;lte erstarrten Leib wieder aufgerichtet hast. F&uuml;r diese Wohlthat will
+ich dir so f&uuml;rstlichen Lohn spenden, da&szlig; du mich Zeit Lebens nicht
+vergessen sollst. &mdash; Da hinter dem Ofen findest du Pechfackeln, z&uuml;nde
+eine derselben an, und komm mit mir. Vorher aber mach die Th&uuml;r fest zu,
+damit die w&uuml;thige Katze nicht herein kann, die dir den Hals brechen
+w&uuml;rde. Sp&auml;ter wollen wir sie so kirre machen, da&szlig; sie Niemanden mehr
+Schaden zuf&uuml;gen kann.&laquo;</p>
+
+<p>Mit diesen Worten hob der Alte eine viereckige Fliese von der Breite
+einer halben Klafter aus dem Boden, und es zeigte sich, da&szlig; der Stein
+den Eingang zu einem Keller bedeckt hatte. Der Alte stieg zuerst die
+Stufen<span class='pagenum'><a name="Page_294" id="Page_294">[S 294]</a></span> hinunter, und furchtlos folgte ihm der Riegenaufseher mit der
+brennenden Pechfackel auf dem Fu&szlig;e, bis sie in eine schauerliche tiefe
+H&ouml;hle gelangten.</p>
+
+<p>In dieser gro&szlig;en kellerartig gew&ouml;lbten H&ouml;hle lag ein gewaltiger
+Geldhaufe, so hoch wie der gr&ouml;&szlig;te Heuschober, halb Silber, halb Gold.
+Das alte M&auml;nnchen nahm jetzt aus einem Wandschranke eine Handvoll
+Wachslichter, drei Flaschen Wein, einen ger&auml;ucherten Schinken und ein
+Brotlaib heraus, und sagte dann zum Riegenaufseher: &raquo;Ich gebe dir drei
+Tage Zeit, diesen Geldklumpen zu z&auml;hlen und zu sondern. Du mu&szlig;t den
+Haufen in zwei Theile theilen, so da&szlig; beide ganz gleich werden und kein
+Rest bleibt. W&auml;hrend du mit dieser Theilung dich besch&auml;ftigst, will ich
+mich an der Wand schlafen legen, aber h&uuml;te dich, da&szlig; du dabei nicht das
+geringste Versehen machst, sonst erw&uuml;rge ich dich.&laquo; Der Riegenaufseher
+machte sich sogleich an die Arbeit, und der Alte streckte sich nieder.
+Damit kein Versehen vorkommen k&ouml;nne, theilte der Riegenaufseher so, da&szlig;
+er immer zwei gleichartige Geldst&uuml;cke nahm, es mochten Thaler oder
+Rubel, Gold- oder Silberm&uuml;nzen sein; das eine Geldst&uuml;ck legte er dann
+links und das andere rechts, so da&szlig; zwei Haufen entstanden. Wenn ihm die
+Kraft auszugehen drohte, so erquickte er sich durch einen Schluck aus
+der Flasche, geno&szlig; etwas Brot und Fleisch, und setzte dann neugest&auml;rkt
+seine Arbeit fort. Weil er sich die Nacht nur einen kurzen Schlaf
+g&ouml;nnte, um die Arbeit rasch zu f&ouml;rdern, wurde er schon am Abend des
+zweiten Tages mit der Theilung fertig, aber ein kleines Silberst&uuml;ck war
+&uuml;brig geblieben. Was jetzt thun? Das machte dem<span class='pagenum'><a name="Page_295" id="Page_295">[S 295]</a></span> braven Riegenaufseher
+keine Noth, er zog sein Messer aus der Tasche, legte die Schneide auf
+die Mitte des Geldst&uuml;cks, und schlug dann mit einem Steine so kr&auml;ftig
+auf des Messers R&uuml;cken, da&szlig; das Geldst&uuml;ck in zwei H&auml;lften gespalten
+wurde. Die eine H&auml;lfte legte er dann zu dem Haufen rechts, und die
+andere zu dem Haufen links; darauf weckte er den Alten auf und lud ihn
+ein, die Arbeit in Augenschein zu nehmen. Als der Alte die beiden
+H&auml;lften des &uuml;brig gebliebenen Geldst&uuml;cks je rechts und links erblickte,
+fiel er mit einem Freudengeschrei dem Riegenaufseher um den Hals,
+streichelte lange seine Wangen und sagte endlich: &raquo;Tausend und aber
+tausend Dank dir, k&uuml;hner J&uuml;ngling, der du mich aus meiner langen, langen
+Gefangenschaft erl&ouml;st hast. Ich habe schon viele hundert Jahre meinen
+Schatz hier bewachen m&uuml;ssen, weil sich kein Mensch fand, der Muth oder
+Verstand genug hatte, das Geld so zu theilen, da&szlig; Nichts &uuml;brig blieb.
+Ich mu&szlig;te deshalb, einem eidlichen Gel&ouml;bnisse zufolge, Einen nach dem
+Andern erw&uuml;rgen, und da Keiner wiederkehrte, so wagte in den letzten
+zweihundert Jahren Niemand mehr her zu kommen, obgleich ich keine Nacht
+verstreichen lie&szlig;, ohne mit dem Gelde zu klappern. Dir, du Gl&uuml;ckskind!
+war es beschieden, mein Retter zu werden, als mir schon alle Hoffnung
+schwinden wollte, und ich ewige Gefangenschaft f&uuml;rchten mu&szlig;te. Dank,
+tausend Dank dir f&uuml;r deine Wohlthat! Den einen Geldhaufen bekommst du
+jetzt zum Lohn f&uuml;r deine M&uuml;he, den andern aber mu&szlig;t du unter die Armen
+vertheilen, zur S&uuml;hne f&uuml;r meine schweren S&uuml;nden; denn ich war, als ich
+auf Erden lebte und diesen Schatz anh&auml;ufte, ein gro&szlig;er Frevler und
+B&ouml;sewicht. Noch<span class='pagenum'><a name="Page_296" id="Page_296">[S 296]</a></span> eine Arbeit hast du zu meinem und deinem Nutzen zu
+vollbringen. Wenn du wieder hinaufgehst, und die gro&szlig;e schwarze Katze
+dir auf der Treppe entgegenkommt, dann packe sie und h&auml;nge sie auf. Hier
+ist eine Schlinge, aus der sie sich nicht wieder herausziehen soll.&laquo;
+Damit zog er eine aus feinem Golddraht geflochtene Schnur von der Dicke
+eines Schuhbandes aus dem Busen, gab sie dem Riegenaufseher und
+verschwand, als w&auml;re er in den Boden gesunken. Aber in demselben
+Augenblicke entstand ein Gekrach, als ob die Erde unter den F&uuml;&szlig;en des
+Riegenaufsehers bersten wollte. Das Licht erlosch, und um ihn her
+herrschte tiefe Finsterni&szlig;, allein auch dieses unerwartete Ereigni&szlig;
+machte ihn nicht muthlos. Er suchte tappend seinen Weg, bis er an die
+Treppe kam, kletterte die Stufen hinan, und kam in die erste Stube, wo
+er sich die Suppe gekocht hatte. Das Feuer auf dem Herde war l&auml;ngst
+ausgegangen, aber er fand in der Asche noch Funken, die er zur Flamme
+anblasen konnte. Der Sarg stand noch auf der Bahre, aber statt des Alten
+schlief die gro&szlig;e schwarze Katze darin. Der Riegenaufseher packte sie am
+Kopfe, schlang die Goldschnur um ihren Hals, hing sie an einem starken
+eisernen Nagel in der Wand auf, und legte sich auf den Boden zur Ruhe.</p>
+
+<p>Erst am andern Morgen kam er aus dem Gem&auml;uer heraus, und nahm den
+n&auml;chsten Weg zur Schenke, in der er vorher eingekehrt war. Als der Wirth
+sah, da&szlig; der Fremde unversehrt entronnen sei, kannten seine Freude und
+sein Erstaunen keine Grenzen. Der Riegenaufseher aber sagte: &raquo;Besorge
+mir f&uuml;r gute Bezahlung ein paar Dutzend S&auml;cke von Tonnengehalt und
+miethe Pferde, damit ich<span class='pagenum'><a name="Page_297" id="Page_297">[S 297]</a></span> meinen Schatz wegf&uuml;hren kann.&laquo; Daran merkte
+der Schenkwirth, da&szlig; des Fremden Gang kein fruchtloser gewesen war, und
+erf&uuml;llte sogleich des reichen Mannes Verlangen. Als darauf der
+Riegenaufseher von den Leuten erkundet hatte, was f&uuml;r Gebiete vor Alters
+unter der Herrschaft des damaligen Schlo&szlig;besitzers gestanden hatten,
+wies er den dritten Theil des den Armen bestimmten Geldes jenen Gebieten
+zu, &uuml;bergab die beiden andern Drittel dem Gericht zur Vertheilung und
+siedelte sich mit seinem eigenen Gelde in einem fernen Lande an, wo ihn
+Niemand kannte. Dort m&uuml;ssen noch heutigen Tags seine Verwandten als
+reiche Leute leben, und die K&uuml;hnheit ihres Ahnherrn preisen, der diesen
+Schatz errungen hatte.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_298" id="Page_298">[S 298]</a></span></p>
+<h2>22. Wie ein K&ouml;nigssohn als H&uuml;terknabe aufwuchs.</h2>
+
+
+<p>Es war einmal ein K&ouml;nig, der seine Unterthanen milde und liebreich
+regierte, so da&szlig; Niemand im K&ouml;nigreiche war, der ihn nicht gesegnet, und
+den himmlischen Vater um die Verl&auml;ngerung seiner Lebenstage angefleht
+h&auml;tte.</p>
+
+<p>Der K&ouml;nig lebte schon manches Jahr in gl&uuml;cklicher Ehe, aber kein Kind
+war den Ehegatten geschenkt worden. Gro&szlig; war daher seine und s&auml;mmtlicher
+Unterthanen Freude, als die K&ouml;nigin ein S&ouml;hnlein zur Welt brachte, aber
+die Mutter sollte dieses Gl&uuml;ck nicht lange genie&szlig;en. Drei Tage nach des
+Sohnes Geburt schlossen sich ihre Augen f&uuml;r immer &mdash; der Sohn war Waise,
+und der K&ouml;nig Wittwer. Schweren Kummer empfand der K&ouml;nig &uuml;ber den Tod
+seiner theuren Gemahlin, und mit ihm trauerten die Unterthanen; man sah
+nirgends mehr ein fr&ouml;hliches Antlitz. Zwar nahm der K&ouml;nig, auf Andringen
+seiner Unterthanen, drei Jahre sp&auml;ter eine andere Gemahlin, aber bei der
+neuen Wahl war ihm das Gl&uuml;ck nicht wieder g&uuml;nstig: ein T&auml;ubchen hatte er
+begraben, und einen<span class='pagenum'><a name="Page_299" id="Page_299">[S 299]</a></span> Habicht daf&uuml;r bekommen; es geht leider vielen
+Wittwern so. Die junge Frau war ein b&ouml;ses, hartherziges Weib, das weder
+dem K&ouml;nige noch den Unterthanen Gutes erwies. Den Sohn der vorigen
+K&ouml;nigin konnte sie nicht vor Augen leiden, da sie besorgen mu&szlig;te, die
+Regierung werde an diesen Stiefsohn fallen, den die Unterthanen um
+seiner hingeschiedenen Mutter willen liebten. Die t&uuml;ckische K&ouml;nigin
+fa&szlig;te darum den b&ouml;sen Vorsatz, das Kn&auml;blein heimlich an einen Ort zu
+schaffen, wo der K&ouml;nig es nicht wiederfinden k&ouml;nne; es umzubringen, dazu
+hatte sie nicht den Muth. Ein nichtsw&uuml;rdiges altes Weib half f&uuml;r gute
+Bezahlung der K&ouml;nigin die b&ouml;se That auszuf&uuml;hren. Bei n&auml;chtlicher Weile
+wurde das Kind dem gottlosen Weibe &uuml;berliefert, und von diesem auf
+Schleichwegen weit weg gebracht, und armen Leuten als Pflegkind
+&uuml;bergeben. Unterwegs zog die Alte dem Kinde seine guten Kleider aus, und
+h&uuml;llte es in Lumpen, damit Niemand den Betrug merke. Der K&ouml;nigin hatte
+sie mit einem schweren Eide gelobt, keinem Menschen den Ort zu nennen,
+wohin der K&ouml;nigssohn geschafft worden. Am Tage wagte die Kindesdiebin
+nicht zu wandern, weil sie Verfolgung f&uuml;rchtete; darum dauerte es lange,
+bis sie einen verborgenen Ort fand, der sich zum Aufenthalte f&uuml;r das
+k&ouml;nigliche Kind eignete. In ein einsames Waldgeh&ouml;ft, das fremder
+Menschen Fu&szlig; selten betreten hatte, wurde der gestohlene K&ouml;nigssohn als
+Pflegling gethan, und der Wirth erhielt f&uuml;r das Aufziehen des Kindes die
+Summe von hundert Rubeln. Es war ein Gl&uuml;ck f&uuml;r den K&ouml;nigssohn, da&szlig; er zu
+guten Menschen gekommen war, die f&uuml;r ihn sorgten, als w&auml;re er ihr
+leibliches Kind. Der muntere Knabe<span class='pagenum'><a name="Page_300" id="Page_300">[S 300]</a></span> machte ihnen oft Spa&szlig;, besonders
+wenn er sich einen K&ouml;nigssohn nannte. Sie sahen wohl aus der reichlichen
+Bezahlung, die sie erhalten hatten, da&szlig; das Kn&auml;blein kein rechtm&auml;&szlig;iger
+Spr&ouml;&szlig;ling sei, und vom Vater oder von der Mutter her vornehmer Abkunft
+sein mochte, allein so hoch verstiegen sich ihre Gedanken nicht, da&szlig; sie
+f&uuml;r wahr gehalten h&auml;tten, wessen das Kind in seinem einf&auml;ltigen Sinne
+sich r&uuml;hmte.</p>
+
+<p>Man kann sich leicht vorstellen, wie gro&szlig; der Schrecken im Hause des
+K&ouml;nigs war an dem Morgen, wo man entdeckte, da&szlig; das S&ouml;hnchen in der
+Nacht gestohlen war, und zwar auf so wunderbare Weise, da&szlig; Niemand es
+geh&ouml;rt hatte, und da&szlig; nicht die leiseste Spur des Diebes zur&uuml;ckgeblieben
+war. Der K&ouml;nig weinte Tage lang bitterlich um den Sohn, den er im
+Andenken an dessen Mutter um so z&auml;rtlicher liebte, je weniger er mit
+seiner neuen Gemahlin gl&uuml;cklich war. Zwar wurden lange Zeit hindurch
+aller Orten Nachforschungen angestellt, um dem verschwundenen Kinde auf
+die Spur zu kommen, auch wurde Jedem eine gro&szlig;e Belohnung verhei&szlig;en, der
+irgend eine Auskunft dar&uuml;ber geben k&ouml;nnte, aber Alles blieb vergeblich,
+das Kn&auml;blein schien wie weggeblasen. Kein Mensch konnte das Geheimni&szlig;
+aufkl&auml;ren, und Manche glaubten, das Kind sei durch einen b&ouml;sen Geist
+oder durch Hexerei entf&uuml;hrt. In das einsame Waldgeh&ouml;ft, wo der
+K&ouml;nigssohn lebte, hatte keiner der Suchenden seine Schritte gelenkt, und
+ebensowenig konnten die Bekanntmachungen dahin dringen. &mdash; W&auml;hrend nun
+der K&ouml;nigssohn daheim als Todter beweint wurde, wuchs er im stillen
+Walde auf und gedieh fr&ouml;hlich, bis er in das Alter trat, da&szlig; er<span class='pagenum'><a name="Page_301" id="Page_301">[S 301]</a></span> schon
+Gesch&auml;fte besorgen konnte. Da legte er denn eine wunderbare Klugheit an
+den Tag, so da&szlig; seine Pflegeeltern sich oft genug gestehen mu&szlig;ten, da&szlig;
+hier das Ei viel kl&uuml;ger sei als die Henne.</p>
+
+<p>Der K&ouml;nigssohn hatte schon &uuml;ber zehn Jahre in dem Waldgeh&ouml;fte gelebt,
+als er ein Verlangen empfand, unter die Leute zu kommen. Er bat seine
+Pflegeeltern um Erlaubni&szlig;, sich auf eigene Hand sein Brot zu verdienen,
+indem er sagte: &raquo;Ich habe Verstand und Kraft genug, um mich ohne eure
+H&uuml;lfe zu ern&auml;hren. Bei dem einsamen Leben hier wird mir die Zeit sehr
+lang.&laquo; Die Pflegeeltern str&auml;ubten sich anfangs sehr dagegen, mu&szlig;ten aber
+endlich nachgeben, und den Wunsch des jungen Burschen erf&uuml;llen. Der
+Wirth ging selbst mit, um ihn zu begleiten, und eine passende Stelle f&uuml;r
+ihn ausfindig zu machen. In einem Dorfe fand er einen wohlhabenden
+Bauerwirth, der einen H&uuml;terknaben brauchte, und da sich der Pflegesohn
+gerade einen solchen Dienst w&uuml;nschte, so wurde man bald einig. Der
+Vertrag lautete auf ein Jahr, allein es wurde ausdr&uuml;cklich bedungen, da&szlig;
+es dem Knaben zu jeder Zeit gestattet sein solle, den Dienst zu
+verlassen und zu seinen Pflegeeltern zur&uuml;ckzukehren. Ebenso konnte der
+Wirth, wenn er mit dem Knaben nicht zufrieden war, ihn noch vor Ablauf
+des Jahres entlassen, jedoch nicht ohne Vorwissen der Pflegeeltern. Das
+Dorf, wo der K&ouml;nigssohn diesen Dienst gefunden hatte, lag unweit einer
+gro&szlig;en Landstra&szlig;e, auf welcher t&auml;glich viele Menschen vorbeikamen, Hohe
+wie Niedere. Der k&ouml;nigliche H&uuml;terknabe sa&szlig; h&auml;ufig dicht an der
+Landstra&szlig;e, und unterhielt sich mit den Vor&uuml;bergehenden, von denen er
+Manches erfuhr, was<span class='pagenum'><a name="Page_302" id="Page_302">[S 302]</a></span> ihm bis dahin unbekannt geblieben war. Da geschah
+es eines Tages, da&szlig; ein alter Mann mit grauen Haaren und langem wei&szlig;en
+Barte des Weges kam, als der K&ouml;nigssohn auf einem Steine sitzend die
+Maultrommel schlug; die Thiere grasten inde&szlig;, und wenn eines derselben
+sich zu weit von den &uuml;brigen entfernen wollte, so trieb des Knaben Hund
+es zur&uuml;ck. Der Alte betrachtete ein Weilchen den Knaben und seine Herde,
+trat dann einige Schritte n&auml;her und sagte: &raquo;Du scheinst mir nicht zum
+H&uuml;terknaben geboren zu sein.&laquo; Der Knabe erwiederte: &raquo;Mag sein, ich wei&szlig;
+nur soviel, da&szlig; ich zum Herrscher geboren bin, und hier vorerst das
+Gesch&auml;ft des Herrschens erlerne. Geht es mit den Vierf&uuml;&szlig;lern gut, so
+versuche ich weiterhin mein Gl&uuml;ck auch wohl mit den Zweif&uuml;&szlig;lern.&laquo; Der
+Alte sch&uuml;ttelte wie verwundert den Kopf und ging seiner Wege. Ein
+anderes Mal fuhr eine pr&auml;chtige Kutsche vorbei, in der ein Frauenzimmer
+mit zwei Kindern sa&szlig;: auf dem Bocke der Kutscher und hinten auf ein
+Lakai. Der K&ouml;nigssohn hatte gerade ein K&ouml;rbchen mit frischgepfl&uuml;ckten
+Erdbeeren in der Hand, welches der stolzen deutschen Frau in die Augen
+fiel, und ihren Appetit reizte. Sie befahl dem Kutscher zu halten, und
+rief gebieterisch zum Kutschenfenster hinaus: &raquo;Du Rotzl&ouml;ffel! bring die
+Beeren her, ich will dir ein paar Kopeken zu Wei&szlig;brot daf&uuml;r geben!&laquo; Der
+k&ouml;nigliche H&uuml;terknabe that, als ob er nichts h&ouml;rte, und auch nicht
+glaubte, da&szlig; ihm der Befehl gelte, so da&szlig; die Frau ein zweites und ein
+drittes Mal rufen mu&szlig;te, was aber auch nur in den Wind gesprochen war.
+Da rief sie dem Lakaien hinter der Kutsche zu: &raquo;Geh und ohrfeige diesen
+Rotzl&ouml;ffel, damit er gehorcht.&laquo; Der Lakai<span class='pagenum'><a name="Page_303" id="Page_303">[S 303]</a></span> st&uuml;rzte hin, um den
+erhaltenen Befehl auszuf&uuml;hren. Noch ehe er ankam, war der H&uuml;terknabe
+aufgesprungen, hatte einen t&uuml;chtigen Kn&uuml;ppel ergriffen, und schrie dem
+Lakai zu: &raquo;Wenn dich nicht nach einem blutigen Kopf gel&uuml;stet, so thue
+keinen Schritt weiter, oder ich zerschlage dir das Gesicht!&laquo; Der Lakai
+ging zur&uuml;ck, und meldete, was ihm begegnet war. Da rief die Dame zornig:
+&raquo;Schlingel! willst du dich vor dem Rotzl&ouml;ffel von Jungen f&uuml;rchten? Geh
+und nimm ihm den Korb mit Gewalt weg, ich will ihm zeigen, wer ich bin,
+und werde auch noch seine Eltern bestrafen lassen, die ihn nicht besser
+zu erziehen verstanden.&laquo; &mdash; &raquo;Hoho!&laquo; rief der H&uuml;terknabe, der den Befehl
+geh&ouml;rt hatte, &raquo;so lange noch Leben in meinen Gliedern sich regt, soll
+Niemand mir mit Gewalt nehmen, was mein rechtm&auml;&szlig;iges Eigenthum ist. Ich
+stampfe Jeden zu Brei, der mir meine Erdbeeren rauben will!&laquo; So
+sprechend spuckte er in die Hand, und schwang den Kn&uuml;ppel um den Kopf,
+da&szlig; es sauste. Als der Lakai das sah, hatte er nicht die geringste Lust,
+die Sache zu probiren; die Frau aber fuhr unter schweren Drohungen
+davon, versichernd, da&szlig; sie diesen Schimpf nicht ungeahndet lassen
+werde. Andere H&uuml;terknaben, welche den Vorfall von Weitem mit angesehen
+und angeh&ouml;rt hatten, erz&auml;hlten ihn am Abend ihren Hausgenossen. Da
+geriethen Alle in Furcht, da&szlig; man auch ihnen zu nahe thun k&ouml;nnte, wenn
+die vornehme Frau sich vor Gericht &uuml;ber die th&ouml;richte Widerspenstigkeit
+des Burschen beklagte, und es zur Untersuchung k&auml;me. Den K&ouml;nigssohn
+schalt sein Wirth und sagte: &raquo;Ich werde nicht f&uuml;r dich sprechen; was du
+dir eingebrockt hast, kannst du auch ausessen.&laquo; Der K&ouml;nigssohn
+erwiederte: &raquo;Damit will ich<span class='pagenum'><a name="Page_304" id="Page_304">[S 304]</a></span> schon zurecht kommen, das ist meine Sache.
+Gott hat mir selber einen Mund in den Kopf, und eine Zunge in den Mund
+gesetzt, ich kann selber f&uuml;r mich sprechen, wenn es noth thut, und werde
+euch nicht bitten, mein F&uuml;rsprecher zu sein. H&auml;tte die Frau auf
+geziemende Weise die Erdbeeren verlangt, ich h&auml;tte sie ihr gegeben, aber
+wie durfte sie mich Rotzl&ouml;ffel schimpfen? Meine Nase ist noch immer eben
+so rein von Rotz gewesen wie die ihrige.&laquo;</p>
+
+<p>Die Frau war in die Stadt des K&ouml;nigs gefahren, wo sie nichts Eiligeres
+zu thun hatte, als sich bei Gericht &uuml;ber das unversch&auml;mte Benehmen des
+H&uuml;terknaben zu beschweren. Man schritt auch unges&auml;umt zur Untersuchung,
+und es wurde Befehl gegeben, das B&uuml;rschlein sammt seinem Wirthe vor's
+Gericht zu bringen. Als die Gerichtsdiener in's Dorf kamen, um den
+Befehl auszuf&uuml;hren, sagte der K&ouml;nigssohn: &raquo;Mein Wirth hat mit dieser
+Sache nichts zu schaffen; was ich gethan habe, das mu&szlig; ich auch
+verantworten.&laquo; Jetzt wollte man ihm die H&auml;nde auf den R&uuml;cken binden, und
+ihn als Gefangenen vor Gericht f&uuml;hren, aber er zog ein scharfes Messer
+aus der Tasche, trat rasch einige Schritte zur&uuml;ck, richtete die Spitze
+des Messers auf sein Herz, und rief aus: &raquo;Lebend soll mich Niemand
+binden! Ehe eure Hand mich bindet, sto&szlig;e ich mir das Messer in's Herz!
+Meinen Leichnam m&ouml;gt ihr dann binden, und damit machen, was ihr wollt;
+so lange ich noch Athem habe, soll kein Mensch mir einen Strick oder
+eine Fessel anlegen! Vor Gericht will ich gern erscheinen, und Auskunft
+geben, als Gefangenen lasse ich mich nicht fortf&uuml;hren.&laquo; Seine K&uuml;hnheit
+setzte die Gerichtsdiener derma&szlig;en in Schrecken, da&szlig; sie nicht wagten,
+ihm<span class='pagenum'><a name="Page_305" id="Page_305">[S 305]</a></span> nahe zu kommen; sie f&uuml;rchteten, es m&ouml;chte ihnen zur Last fallen,
+wenn der Knabe in seinem Trotze sich umbr&auml;chte. Und da er ihnen
+gutwillig folgen wollte, so mu&szlig;ten sie sich zufrieden geben. Unterwegs
+wunderten sich die Gerichtsdiener t&auml;glich mehr &uuml;ber den Verstand und die
+Klugheit ihres Gefangenen, denn dieser wu&szlig;te in allen Dingen besser
+Bescheid als sie selber. Noch viel gr&ouml;&szlig;er war die Verwunderung der
+Richter, als sie den Hergang der Sache aus dem Munde des Knaben
+vernahmen; er sprach so klar und b&uuml;ndig, da&szlig; man ihm Recht geben und ihn
+von aller Schuld frei sprechen mu&szlig;te. Auch der K&ouml;nig, an den sich die
+vornehme Frau jetzt wandte, und der sich auf ihre Bitten die ganze Sache
+auseinander setzen lie&szlig;, mu&szlig;te den Richtern beistimmen, und den Burschen
+straflos lassen. Jetzt wollte die vornehme Frau bersten vor Zorn, sie
+geberdete sich wie eine Katze, die w&uuml;thend auf einen Hund schnaubt, so
+ein Rotzl&ouml;ffel von Bauerjungen sollte ihr gegen&uuml;ber Recht behalten! Sie
+klagte ihre Noth der K&ouml;nigin, von der sie wu&szlig;te, da&szlig; sie ungleich h&auml;rter
+war als der K&ouml;nig. &raquo;Mein Gemahl,&laquo; sagte die K&ouml;nigin, &raquo;ist eine alte
+Nachtm&uuml;tze, und seine Richter sind all' zusammen Schafsk&ouml;pfe! Schade,
+da&szlig; ihr eure Sache vor Gericht brachtet, und nicht lieber gleich zu mir
+kamt; ich h&auml;tte euren Handel anders geschlichtet und euch Recht gegeben.
+Jetzt, da die Sache durchs Gericht entschieden und vom K&ouml;nige best&auml;tigt
+ist, bin ich nicht mehr im Stande, der Sache &ouml;ffentlich eine bessere
+Wendung zu geben, aber wir m&uuml;ssen sehen, wie wir ohne Aufsehen &uuml;ber den
+Burschen eine Z&uuml;chtigung verh&auml;ngen k&ouml;nnen.&laquo; Da fiel es der Frau zur
+rechten Zeit ein, da&szlig; auf ihrem Gebiete eine sehr b&ouml;se<span class='pagenum'><a name="Page_306" id="Page_306">[S 306]</a></span> Bauerwirthin
+angesessen war, bei der kein Knecht mehr bleiben wollte; auch gab der
+Wirth selber zu, da&szlig; es bei ihnen &auml;rger hergehe als in der H&ouml;lle. Wenn
+man das naseweise B&uuml;rschlein auf diesen Hof als H&uuml;terknaben geben
+k&ouml;nnte, so w&uuml;rde ihm das gewi&szlig; eine schwerere Z&uuml;chtigung sein, als
+irgend ein Richterspruch ihm zuerkennen k&ouml;nnte. &raquo;Ich will die Sache
+gleich so einrichten, wie ihr w&uuml;nscht,&laquo; sagte die K&ouml;nigin, lie&szlig; einen
+zuverl&auml;ssigen Diener rufen, und gab ihm an, was er zu thun habe. H&auml;tte
+ihre Seele geahndet, da&szlig; der H&uuml;terknabe der von ihr versto&szlig;ene
+K&ouml;nigssohn sei, so h&auml;tte sie ihn ohne weiteres t&ouml;dten lassen, ohne sich
+um K&ouml;nig oder Richterspruch zu k&uuml;mmern.</p>
+
+<p>Der Bauerwirth hatte kaum den Befehl der K&ouml;nigin erhalten, als er auch
+den H&uuml;terknaben seines Dienstes entlie&szlig;. Er dankte seinem Gl&uuml;cke, da&szlig; er
+noch so leichten Kaufes davon gekommen war. Der K&ouml;nigin Diener f&uuml;hrte
+nun den Burschen selber auf den Bauerhof, auf welchen sie ihn wider
+seinen Willen verdungen hatte. Die t&uuml;ckische Wirthin jauchzte auf vor
+Freude, da&szlig; die K&ouml;nigin ihr einen H&uuml;terknaben geschafft, und ihr
+zugleich frei gestellt hatte, mit ihm zu machen was sie wollte, weil das
+B&uuml;rschlein sehr halsstarrig und in Gutem nicht zu lenken sei. Sie kannte
+des neuen M&uuml;hlsteins H&auml;rte noch nicht, und hoffte, in ihrer alten Weise
+mit ihm zu mahlen. Bald aber sollte das h&ouml;llische Weib inne werden, da&szlig;
+ihr dieser Zaun denn doch zu hoch war, um hin&uuml;ber zu kommen, sintemal
+das B&uuml;rschlein einen gar z&auml;hen Sinn hatte, und kein Haar breit von
+seinem Rechte vergab. Wenn ihm die Wirthin ohne Grund ein b&ouml;ses Wort
+gab, so erhielt sie deren gleich ein Dutzend zur&uuml;ck; wenn sie<span class='pagenum'><a name="Page_307" id="Page_307">[S 307]</a></span> die Hand
+gegen den Knaben aufhob, so raffte dieser einen Stein oder ein
+Holzscheit, oder was ihm gerade zur Hand war, auf und rief: &raquo;Wage es
+nicht, einen Schritt n&auml;her zu kommen, oder ich schlage dir das Gesicht
+entzwei, und stampfe deinen Leib zu Brei!&laquo; Solche Reden hatte die
+Hausfrau in ihrem Leben noch von Niemanden, am wenigsten aber von ihren
+Knechten geh&ouml;rt; der Wirth aber freute sich im Stillen, wenn er ihren
+Hader mit anh&ouml;rte, und stand auch seiner Frau nicht bei, da der Knabe
+seine Pflicht nicht vers&auml;umte. Die Wirthin suchte nun den H&uuml;terknaben
+durch Hunger zu z&auml;hmen, und weigerte ihm die Nahrung, aber der Knabe
+nahm das Laib mit Gewalt, wo er es fand, und melkte sich dazu Milch von
+der Kuh, so da&szlig; sein Magen kein Nagen des Hungers versp&uuml;rte. Je weniger
+die Wirthin mit dem H&uuml;terknaben fertig werden konnte, desto mehr suchte
+sie ihr M&uuml;thchen am Manne und dem Gesinde zu k&uuml;hlen. Als der K&ouml;nigssohn
+sich dieses heillose Leben, das einen Tag wie den andern war, einige
+Wochen lang mit angesehen hatte, beschlo&szlig; er, der Wirthin alle ihre
+Schlechtigkeit heimzuzahlen, und zwar in der Weise, da&szlig; die Welt den
+Drachen g&auml;nzlich los w&uuml;rde. Um seinen Vorsatz auszuf&uuml;hren, fing er ein
+Dutzend W&ouml;lfe ein, und sperrte sie in eine H&ouml;hle, wo er ihnen alle Tage
+ein Thier von seiner Herde vorwarf, damit sie nicht verhungerten. Wer
+verm&ouml;chte der Wirthin Wuth zu beschreiben, als sie ihr Eigenthum dahin
+schwinden sah, denn der Knabe brachte alle Abende ein St&uuml;ck Vieh weniger
+nach Hause, als er am Morgen auf die Weide getrieben hatte, und
+antwortete auf alle Fragen nichts weiter als: &raquo;Die W&ouml;lfe haben's
+zerrissen!&laquo; Die<span class='pagenum'><a name="Page_308" id="Page_308">[S 308]</a></span> Wirthin schrie wie eine Rasende, und drohte, das
+B&uuml;rschlein den wilden Thieren zum Fra&szlig; vorzuwerfen, aber der Knabe
+entgegnete lachend: &raquo;Da wird ihnen dein w&uuml;thiges Fleisch besser munden!&laquo;
+Darauf lie&szlig; er seine W&ouml;lfe in der H&ouml;hle drei Tage lang ohne Futter,
+trieb dann in der Nacht, als Alles schlief, die Herde aus dem Stalle und
+statt derselben die zw&ouml;lf W&ouml;lfe hinein, worauf er die Th&uuml;r fest
+verschlo&szlig;, so da&szlig; die wilden Bestien nicht heraus konnten. Als die Sache
+soweit in Ordnung war, machte er sich auf die Socken, da ihm der
+Hirtendienst schon l&auml;ngst zuwider geworden war, und er jetzt auch Kraft
+genug in sich f&uuml;hlte, um gr&ouml;&szlig;ere Arbeiten zu unternehmen.</p>
+
+<p>O du liebe Zeit! was begab sich da am Morgen, als die Wirthin in den
+Stall ging, um die Thiere herauszulassen und die K&uuml;he zu melken. Die vom
+Hunger w&uuml;thend gewordenen W&ouml;lfe sprangen auf sie los, rissen sie nieder
+und verschlangen sie sammt ihren Kleidern mit Haut und Haar, so da&szlig;
+nichts weiter von ihr &uuml;brig blieb, als Zunge und Herz, diese beiden
+taugten nicht einmal den wilden Bestien, weil sie zu giftig waren. Weder
+Wirth noch Gesinde betr&uuml;bten sich &uuml;ber dieses Ungl&uuml;ck, vielmehr war
+Jeder dem Geschicke dankbar, das ihn von dem H&ouml;llenweibe befreit hatte.</p>
+
+<p>Der K&ouml;nigssohn hatte einige Jahre die Welt durchstreift, und bald dies
+bald jenes Gewerbe versucht, er hielt aber an keinem Orte lange aus,
+weil ihn die Erinnerungen seiner Kindheit, die ihm wie lebhafte Tr&auml;ume
+vorschwebten, stets daran mahnten, da&szlig; er durch seine Geburt einem
+h&ouml;heren Stande angeh&ouml;re. Von Zeit zu<span class='pagenum'><a name="Page_309" id="Page_309">[S 309]</a></span> Zeit traf er wieder mit dem alten
+Manne zusammen, der ihn schon damals in's Auge gefa&szlig;t hatte, als er noch
+H&uuml;terknabe war. Als der K&ouml;nigssohn achtzehn Jahr alt war, trat er bei
+einem G&auml;rtner in Dienst, um die G&auml;rtnerei zu erlernen. Gerade zu der
+Zeit ereignete sich etwas, was seinem Leben eine andere Wendung geben
+sollte. Die ruchlose Alte, welche ihn auf Befehl der K&ouml;nigin geraubt und
+als Pflegkind in das Waldgeh&ouml;ft gebracht hatte, beichtete auf ihrem
+Todbette dem Geistlichen den von ihr ver&uuml;bten Frevel, denn ihre unter
+der Last der S&uuml;nde seufzende Seele fand nicht eher Ruhe, als bis sie die
+b&ouml;se That aufgedeckt hatte. Sie nannte auch den Bauerhof, auf welchen
+sie das Kind gebracht hatte, konnte aber nichts weiter dar&uuml;ber sagen, ob
+das Kind am Leben geblieben oder gestorben sei. Der Geistliche machte
+sich eilig auf, dem K&ouml;nige die Freudenbotschaft zu bringen, da&szlig; eine
+Spur seines verschwundenen Sohnes gefunden sei. Der K&ouml;nig verrieth
+Niemanden, was er erfahren, lie&szlig; augenblicklich ein Pferd satteln und
+machte sich mit drei treuen Dienern auf den Weg. Nach einigen Tagen
+erreichten sie das Waldgeh&ouml;ft; Wirth und Wirthin bekannten der Wahrheit
+gem&auml;&szlig;, da&szlig; ihnen vor so und so langer Zeit ein Kind m&auml;nnlichen
+Geschlechts als Pflegling &uuml;bergeben worden, und da&szlig; sie gleichzeitig
+hundert Rubel f&uuml;r das Aufziehen desselben erhalten hatten. Daraus hatten
+sie freilich gleich geschlossen, da&szlig; das Kind von vornehmer Geburt sein
+k&ouml;nne, aber das sei ihnen niemals in den Sinn gekommen, da&szlig; das Kind von
+k&ouml;niglichem Gebl&uuml;te sei, vielmehr h&auml;tten sie immer nur ihren Spa&szlig; daran
+gehabt, wenn das Kind sich selbst einen K&ouml;nigssohn genannt h&auml;tte. Darauf
+f&uuml;hrte der Wirth selbst den K&ouml;nig<span class='pagenum'><a name="Page_310" id="Page_310">[S 310]</a></span> in das Dorf, wohin er den Knaben als
+Hirtenjungen gebracht hatte, wiewohl nicht aus eigenem Antriebe, sondern
+auf Verlangen des Knaben, der an dem einsamen Orte nicht l&auml;nger hatte
+leben m&ouml;gen. Wie erschrack der Wirth, und noch mehr der K&ouml;nig, als sich
+in dem Dorfe der Knabe, der zum J&uuml;ngling herangewachsen sein mu&szlig;te,
+nicht fand, und man auch keine n&auml;here Auskunft &uuml;ber ihn erhalten konnte.
+Die Leute wu&szlig;ten nur soviel zu sagen, da&szlig; der Knabe auf die Klage einer
+vornehmen Dame vor Gericht gestellt, von diesem aber freigesprochen und
+losgelassen worden sei. Sp&auml;ter aber sei ein Diener der K&ouml;nigin
+erschienen, der den Knaben fortgef&uuml;hrt und in einem andern Gebiete in
+Dienst gegeben habe. Der K&ouml;nig eilte dahin, und fand auch das Gesinde,
+in welchem sein Sohn eine kurze Zeit gewesen war, darnach aber war er
+entflohen, und man hatte nichts weiter von ihm geh&ouml;rt. Wie sollte man
+jetzt aufs Geratewohl weiter suchen, und wer war im Stande, den rechten
+Weg zu weisen?</p>
+
+<p>W&auml;hrend der K&ouml;nig noch voller K&uuml;mmerni&szlig; war, da&szlig; sich hier alle Spuren
+verloren, trat ein alter Mann vor ihn hin &mdash; derselbe, der schon mehrere
+Mal mit dem K&ouml;nigssohne zusammen getroffen war &mdash; und sagte, er sei
+einem jungen Manne, wie man ihn suche, dann und wann begegnet, und habe
+ihn anfangs als Hirten und sp&auml;ter in mancherlei anderen Handthierungen
+gesehen; und er hoffe, die Spur des Verschwundenen zu finden. Der K&ouml;nig
+sicherte dem Alten reiche Belohnung, wenn er ihn auf die Spur des Sohnes
+bringen k&ouml;nne, befahl einem der Diener, vom Pferde zu steigen, und hie&szlig;
+den Alten aufsitzen, damit sie rascher vorw&auml;rts kamen. Dieser aber<span class='pagenum'><a name="Page_311" id="Page_311">[S 311]</a></span>
+sagte l&auml;chelnd: &raquo;So viel wie eure Pferde laufen k&ouml;nnen, leisten meine
+Beine auch noch; sie haben ein gr&ouml;&szlig;eres St&uuml;ck Welt durchwandert, als
+irgend ein Pferd.&laquo; Nach einer Woche kamen sie wirklich dem K&ouml;nigssohne
+auf die Spur, und fanden ihn auf einem stattlichen Herrenhofe, wo er,
+wie oben erz&auml;hlt, die G&auml;rtnerei erlernte. Grenzenlos war des K&ouml;nigs
+Freude, als er seinen Sohn wieder fand, den er schon so manches Jahr als
+todt beweint hatte. Freudenthr&auml;nen rannen von seinen Wangen, als er den
+Sohn umarmte, ihn an seine Brust dr&uuml;ckte und k&uuml;&szlig;te. Doch sollte er aus
+des Sohnes Munde eine Nachricht vernehmen, welche ihm die Freude des
+Wiederfindens schm&auml;lerte und ihn in neue Betr&uuml;bni&szlig; versetzte. Der
+G&auml;rtner hatte eine junge bl&uuml;hende Tochter, welche scheuer war als alle
+Blumen in dem prachtvollen Garten, und so fromm und schuldlos wie ein
+Engel. Diesem M&auml;dchen hatte der K&ouml;nigssohn sein Herz geschenkt, und er
+gestand seinem Vater ganz offen, da&szlig; er nie eine Dame von edlerer
+Herkunft freien, sondern die G&auml;rtnerstochter zu seiner Gemahlin machen
+wolle, sollte er auch sein K&ouml;nigreich aufgeben m&uuml;ssen. &raquo;Komm nur erst
+nach Hause,&laquo; sagte der K&ouml;nig, &raquo;dann wollen wir die Sache schon in
+Ordnung bringen.&laquo; Da bat sich der Sohn von seinem Vater einen kostbaren
+goldenen Ring aus, steckte ihn vor Aller Augen der Jungfrau an den
+Finger und sagte: &raquo;Mit diesem Ringe verlobe ich mich dir, und &uuml;ber kurz
+oder lang komme ich wieder, um als Br&auml;utigam dich heim zu f&uuml;hren.&laquo; Der
+K&ouml;nig aber sagte: &raquo;Nein, nicht so &mdash;auf andere Weise soll die Sache vor
+sich gehen!&laquo; &mdash; zog den Ring wieder vom Finger des M&auml;dchens und hieb
+ihn<span class='pagenum'><a name="Page_312" id="Page_312">[S 312]</a></span> mit seinem Schwerte in zwei St&uuml;cke. Die eine H&auml;lfte gab er seinem
+Sohne, die andere der G&auml;rtnerstochter, und sagte: &raquo;Hat Gott euch f&uuml;r
+einander geschaffen, so werden die beiden H&auml;lften des Ringes zu rechter
+Zeit von selbst ineinander schmelzen, so da&szlig; kein Auge die Stellen wird
+entdecken k&ouml;nnen, wo der Ring durchgehauen war. Jetzt bewahre Jeder von
+euch seine H&auml;lfte, bis die Zeit erf&uuml;llt sein wird.&laquo;</p>
+
+<p>Die K&ouml;nigin wollte vor Wuth bersten, als ihr Stiefsohn, den sie f&uuml;r
+immer verschollen glaubte, pl&ouml;tzlich zur&uuml;ck kehrte, und zwar als
+rechtm&auml;&szlig;iger Thronerbe, da dem K&ouml;nige aus seiner zweiten Ehe nur zwei
+T&ouml;chter geboren waren. Als nach einigen Jahren des K&ouml;nigs Augen sich
+geschlossen hatten, wurde sein Sohn zum K&ouml;nig erhoben. Wiewohl ihm die
+Stiefmutter schweres Unrecht zugef&uuml;gt hatte, wollte er doch nicht B&ouml;ses
+mit B&ouml;sem vergelten, sondern &uuml;berlie&szlig; die Strafe dem Gerichte Gottes. Da
+nun die Stiefmutter keine Hoffnung mehr hatte, eine ihrer T&ouml;chter
+vermittelst eines Schwiegersohnes auf den Thron zu bringen, so wollte
+sie wenigstens eine f&uuml;rstliche Jungfrau aus ihrer eigenen Sippschaft dem
+K&ouml;nige verm&auml;hlen, aber dieser entgegnete kurz: &raquo;Ich will nicht! ich habe
+meine Braut l&auml;ngst gew&auml;hlt.&laquo; Als die verwittwete K&ouml;nigin dann erfuhr,
+da&szlig; der junge K&ouml;nig ein M&auml;dchen von niederer Herkunft zu freien gedenke,
+stachelte sie die h&ouml;chsten R&auml;the des Reichs auf, sich einm&uuml;thig dagegen
+zu stemmen. Aber der K&ouml;nig blieb fest und gab nicht nach. Nachdem man
+lange hin und her gestritten hatte, gab der K&ouml;nig schlie&szlig;lich den
+Bescheid: &raquo;Wir wollen ein gro&szlig;es Fest geben und dazu alle<span class='pagenum'><a name="Page_313" id="Page_313">[S 313]</a></span> K&ouml;nigst&ouml;chter
+und die andern vornehmen Jungfrauen einladen, so viel ihrer sind, und
+wenn ich eine unter ihnen finde, welche meine erw&auml;hlte Braut an
+Sch&ouml;nheit und Z&uuml;chten &uuml;bertrifft, so will ich sie freien. Ist das aber
+nicht der Fall, so wird meine erw&auml;hlte auch meine Gemahlin.&laquo;</p>
+
+<p>Jetzt wurde im K&ouml;nigsschlo&szlig; ein pr&auml;chtiges Freudenfest hergerichtet,
+welches zwei Wochen dauern sollte, damit der K&ouml;nig Zeit h&auml;tte, die
+Jungfrauen zu mustern, ob eine derselben den Vorzug vor der
+G&auml;rtnerstochter verdiene. Alle f&uuml;rstlichen Frauen der Umgegend waren mit
+ihren T&ouml;chtern zum Feste gebeten, und da der Zweck der Einladung
+allgemein bekannt war, hoffte jedes M&auml;dchen, da&szlig; ihr das Gl&uuml;cksloos
+zufallen werde. Schon n&auml;herte sich das Fest seinem Ende, aber noch immer
+hatte der junge K&ouml;nig Keine gefunden, die nach seinem Sinne war. Am
+letzten Tage des Festes erschienen in der Fr&uuml;he die h&ouml;chsten R&auml;the des
+Reichs wieder vor dem K&ouml;nige und sagten &mdash;auf Eingebung der
+K&ouml;nigin-Wittwe &mdash; wenn der K&ouml;nig nicht bis zum Abend eine Wahl getroffen
+habe, so k&ouml;nne ein Aufstand ausbrechen, weil alle Unterthanen w&uuml;nschten,
+da&szlig; der K&ouml;nig sich verm&auml;hle. Der K&ouml;nig erwiederte: &raquo;Ich werde dem
+Wunsche meiner Unterthanen nachkommen und mich heute Abend erkl&auml;ren.&laquo;
+Dann schickte er ohne Vorwissen der Andern einen zuverl&auml;ssigen Diener
+zur G&auml;rtnerstochter, mit dem Auftrage, sie heimlich herzubringen, und
+hier bis zum Abend versteckt zu halten. Als nun am Abend des K&ouml;nigs
+Schlo&szlig; von Lichtern strahlte, und alle f&uuml;rstlichen Jungfrauen in ihrem
+Feststaat den Augenblick erwarteten, der ihnen Gl&uuml;ck oder<span class='pagenum'><a name="Page_314" id="Page_314">[S 314]</a></span> Ungl&uuml;ck
+bringen sollte, trat der K&ouml;nig mit einer jungen Dame in den Saal, deren
+Antlitz so verh&uuml;llt war, da&szlig; kaum die Nasenspitze heraus sah. Was Allen
+aber gleich auffiel, war der schlichte Anzug der Fremden: sie war in
+wei&szlig;es feines Leinen gekleidet, und weder Seide, noch Sammet, noch Gold
+war an ihr zu finden, w&auml;hrend alle Andern von Kopf bis zu Fu&szlig; in Sammet
+und Seide geh&uuml;llt waren. Einige verzogen sp&ouml;ttisch den Mund, andere
+r&uuml;mpften unwillig die Nase, der K&ouml;nig aber that, als bemerkte er es
+nicht, l&ouml;ste die Kopfh&uuml;lle der Jungfrau, trat dann mit ihr vor die
+verwittwete K&ouml;nigin und sagte: &raquo;Hier ist meine erw&auml;hlte Braut, die ich
+zur Gemahlin nehmen will, und ich lade euch und Alle, die hier
+versammelt sind, zu meiner Hochzeit ein.&laquo; Die verwittwete K&ouml;nigin rief
+zornig aus: &raquo;Was kann man auch Besseres erwarten von einem Manne, der
+bei der Herde aufgewachsen ist! Wenn ihr da wieder hin wollt, dann nehmt
+die Magd nur mit, die wohl verstehen mag, Schweine zu f&uuml;ttern, sich aber
+nicht zur Gemahlin eines K&ouml;nigs eignet &mdash; eine solche Bauerdirne kann
+den Thron eines K&ouml;nigs nur verunehren!&laquo; Diese Worte weckten des K&ouml;nigs
+Zorn, und streng entgegnete er: &raquo;Ich bin K&ouml;nig und kann thun, was ich
+will; aber wehe euch, da&szlig; ihr mir jetzt meinen fr&uuml;heren Hirtenstand in's
+Ged&auml;chtni&szlig; zur&uuml;ckriefet; damit habt ihr mich zugleich daran erinnert,
+wer mich in diesen Stand versto&szlig;en. Inde&szlig;, da kein vern&uuml;nftiger Mensch
+die Katze im Sacke kauft, will ich noch vor meiner Trauung Allen
+deutlich machen, da&szlig; ich nirgends eine bessere Gemahlin h&auml;tte finden
+k&ouml;nnen, als gerade dieses M&auml;dchen, das fromm und rein ist wie ein<span class='pagenum'><a name="Page_315" id="Page_315">[S 315]</a></span> Engel
+vom Himmel.&laquo; Mit diesen Worten verlie&szlig; er das Zimmer, und kam bald
+darauf mit eben dem Alten zur&uuml;ck, den er von seinem Hirtenstande her
+kannte, und der den K&ouml;nig sp&auml;ter auf die Spur seines Sohnes gebracht
+hatte. Dieser Alte war ein ber&uuml;hmter Zauberer Finnlands, der sich auf
+viele geheime K&uuml;nste verstand. Der K&ouml;nig sprach zu ihm: &raquo;Liebster
+Zauberer! offenbaret uns durch eure Kunst das innere Wesen der hier
+anwesenden Jungfrauen, damit wir erkennen, welche unter ihnen die
+w&uuml;rdigste ist, meine Gemahlin zu werden.&laquo; Der Zauberer nahm eine Flasche
+mit Wein, besprach ihn, bat die Jungfrauen, in der Mitte des Saales
+zusammenzutreten, und besprengte dann den Kopf einer Jeden mit ein paar
+Tropfen des Zauberweins, worauf sie Alle stehenden Fu&szlig;es einschliefen. O
+&uuml;ber das Wunder, welches sich jetzt aufthat! Nach kurzer Zeit sah man
+sie s&auml;mmtlich verwandelt, so da&szlig; keine mehr ihre menschliche Gestalt
+hatte, sondern statt ihrer allerlei wilde und gez&auml;hmte Thiere
+erschienen, einige waren in Schlangen, W&ouml;lfe, Baren, Kr&ouml;ten, Schweine,
+Katzen, andere wieder in Habichte und sonstige Raubv&ouml;gel verwandelt.
+Mitten unter allen diesen Thiergestalten aber war ein herrlicher
+Rosenstock gewachsen, der mit Bl&uuml;then bedeckt war, und auf dessen
+Zweigen zwei Tauben sa&szlig;en. Das war die vom K&ouml;nige zur Gemahlin erw&auml;hlte
+G&auml;rtnerstochter. Darauf sagte der K&ouml;nig: &raquo;Jetzt haben wir einer
+Jeglichen Kern gesehen, und ich lasse mich nicht durch die gl&auml;nzende
+Schale blenden!&laquo; Die K&ouml;nigin-Wittwe wollte vor Zorn bersten, aber was
+konnte es ihr helfen, da die Sache so klar da lag. Darauf r&auml;ucherte der
+Zauberer mit Zauberkr&auml;utern, bis alle Jungfrauen<span class='pagenum'><a name="Page_316" id="Page_316">[S 316]</a></span> aus dem Schlafe
+erwachten, und wieder Menschengestalt erhielten. Der K&ouml;nig erfa&szlig;te die
+aus dem Rosenstrauche hervorgegangene Geliebte, und fragte nach ihrem
+halben Ringe, und als die Jungfrau ihn aus dem Busen nahm, zog auch er
+seinen halben Ring hervor, und legte beide H&auml;lften auf seine Handfl&auml;che;
+augenblicklich verschmolzen sie mit einander, so da&szlig; kein Auge einen Ri&szlig;
+oder irgend ein Merkmal der Stellen entdeckte, wo die Schneide des
+Schwertes den Ring einst getrennt hatte. &raquo;Jetzt ist auch meines
+heimgegangenen Vaters Wille in Erf&uuml;llung gegangen!&laquo; sagte der junge
+K&ouml;nig, und lie&szlig; sich noch an demselben Abend mit der G&auml;rtnerstochter
+trauen. Dann lud er alle Anwesende zum Hochzeitsschmaus, aber die
+f&uuml;rstlichen Jungfrauen hatten erfahren, welches Wunder sich w&auml;hrend
+ihres Schlafes mit ihnen begeben, und gingen voller Scham nach Hause. Um
+so gr&ouml;&szlig;er war der Unterthanen Freude, da&szlig; ihre K&ouml;nigin von Innen und von
+Au&szlig;en ein untadelhaftes Menschenbild war.</p>
+
+<p>Als das Hochzeitsfest zu Ende war, lie&szlig; der junge K&ouml;nig eines Tages
+s&auml;mmtliche Oberrichter des Reiches versammeln und fragte sie, welche
+Strafe ein Frevler verdiene, der einen K&ouml;nigssohn heimlich habe
+wegstehlen, und in einem Bauerhofe als H&uuml;terknaben aufziehen lassen, und
+der au&szlig;erdem noch den J&uuml;ngling schn&ouml;de gel&auml;stert habe, nachdem ihn das
+Gl&uuml;ck seinem fr&uuml;heren Stande zur&uuml;ckgegeben. S&auml;mmtliche Richter
+erwiederten wie aus einem Munde: &raquo;Ein solcher Frevler mu&szlig; den Tod am
+Galgen erleiden.&laquo; Darauf sagte der K&ouml;nig: &raquo;Nun wohl! Rufet die
+verwittwete K&ouml;nigin vor Gericht!&laquo; Die<span class='pagenum'><a name="Page_317" id="Page_317">[S 317]</a></span> K&ouml;nigin-Wittwe wurde gerufen und
+das gef&auml;llte Urtheil ihr verk&uuml;ndet. Als sie es h&ouml;rte, wurde sie bleich
+wie eine get&uuml;nchte Wand, warf sich vor dem jungen K&ouml;nige auf die Knie
+und bat um Gnade. Der K&ouml;nig sagte: &raquo;Ich schenke euch das Leben, und
+h&auml;tte euch niemals vor Gericht gestellt, wenn es euch nicht eingefallen
+w&auml;re, mich noch hinterher mit eben dem Leiden zu schm&auml;hen, welches ich
+durch euren Frevel habe erdulden m&uuml;ssen; in meinem K&ouml;nigreiche aber ist
+eures Bleibens nicht mehr. Packet noch heute eure Sachen zusammen, um
+vor Sonnenuntergang meine Stadt zu verlassen. Diener werden euch bis
+&uuml;ber die Grenze begleiten. H&uuml;tet euch, jemals wieder den Fu&szlig; auf mein
+Gebiet zu setzen, da es Jedermann, auch dem Geringsten, frei steht, euch
+wie einen tollen Hund todt zu schlagen. Eure T&ouml;chter, die auch meines
+heimgegangenen Vaters T&ouml;chter sind, d&uuml;rfen hier bleiben, weil ihre Seele
+rein ist von dem Frevel, den ihr an mir ver&uuml;bt habt.&laquo;</p>
+
+<p>Als die verwittwete K&ouml;nigin fortgebracht war, lie&szlig; der junge K&ouml;nig in
+der N&auml;he seiner Stadt zwei h&uuml;bsche Wohnh&auml;user aufbauen, von denen das
+eine den Eltern seiner Frau, und das andere dem Wirthe des Bauerhofs
+geschenkt wurde, der den h&uuml;lflosen K&ouml;nigssohn liebevoll aufgezogen
+hatte. Der als H&uuml;terknabe aufgewachsene K&ouml;nigssohn und seine aus
+niederem Geschlecht entsprossene Gemahlin lebten dann gl&uuml;cklich bis an
+ihr Ende, und regierten ihre Unterthanen so liebevoll wie Eltern ihre
+Kinder.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_318" id="Page_318">[S 318]</a></span></p>
+<h2>23. Dudelsack-Tiidu.</h2>
+
+
+<p>Es lebte einmal ein armer K&auml;thner, den Gott mit Kindern reichlicher
+gesegnet hatte, als mit Brot. T&ouml;chter und S&ouml;hne wuchsen den Eltern zur
+Freude auf, und verdienten sich meist schon ihr St&uuml;ck Brot bei Fremden
+&mdash;nur aus einem Sohne wollte nichts Rechtes werden. Ob der Bursche von
+Natur einf&auml;ltig war, oder ob sonst ein Gebreste ihn dr&uuml;ckte, oder ob er
+tr&auml;ges Blut unter den N&auml;geln hatte, das konnte Niemand mit Sicherheit
+sagen. Aber da&szlig; er faul und lotterig war und zu keinerlei Gesch&auml;ft
+taugte, das mu&szlig;ten seine Eltern sowohl wie das ganze Dorf eingestehen.
+Es halfen auch weder gute Worte noch Ruthenstreiche, vielmehr wuchs die
+Faulheit des Burschen, je &auml;lter er wurde. Im Winter hinter dem Ofen
+liegen und im Sommer unter einem Busche schlafen, war sein
+Haupt-Tagewerk, dazwischen pfiff er oder blies die Weidenfl&ouml;te, da&szlig; es
+eine Lust war anzuh&ouml;ren. So sa&szlig; er eines Tages wieder hinter einem
+Busche und blies mit den V&ouml;geln um die Wette, als ein fremder alter Mann
+des Weges daher kam. Er fragte mit freundlicher Stimme: &raquo;Sage mir,
+S&ouml;hnchen! was f&uuml;r ein Gewerbe m&ouml;chtest du denn einst treiben?&laquo;<span class='pagenum'><a name="Page_319" id="Page_319">[S 319]</a></span> Der
+Bursche erwiderte: &raquo;Das Gewerbe w&auml;re meine geringste Sorge, k&ouml;nnte ich
+nur ein reicher Mann werden, da&szlig; ich nicht n&ouml;thig h&auml;tte zu arbeiten, und
+unter anderer Leute Zuchtruthe zu stehen.&laquo; Der alte Mann lachte und
+sagte: &raquo;Der Plan w&auml;re gar nicht &uuml;bel, aber ich sehe nicht ein, woher dir
+Reichthum kommen soll, wenn du gar nicht arbeiten willst? L&auml;uft doch die
+Maus einer schlafenden Katze nicht in den Rachen. Wer Geld und Gut
+erwerben will, der mu&szlig; seine Glieder r&uuml;hren, arbeiten und sich M&uuml;he
+geben, sonst&laquo; &mdash; Der Bursche fiel ihm in die Rede und bat: &raquo;Lassen wir
+diese Reden! das habe ich schon viele hundert Mal geh&ouml;rt, und es kommt
+mir vor, wie wenn man Wasser auf die Gans gie&szlig;en wollte, denn aus mir
+kann doch nimmer ein Arbeiter werden.&laquo; Der alte Mann erwiederte milde:
+&raquo;Der Sch&ouml;pfer hat dir eine Gabe verliehen, mit welcher du leicht das
+t&auml;gliche Brot und noch ein St&uuml;ck Geld dazu verdienen k&ouml;nntest, wenn du
+dich auf's Dudelsackpfeifen legen w&uuml;rdest. Verschaffe dir einen guten
+Dudelsack, blase ihn eben so geschickt wie jetzt die Weidenfl&ouml;te, und du
+findest Brot und Geld &uuml;berall, wo fr&ouml;hliche Menschen wohnen.&laquo; &raquo;Aber
+woher soll ich den Dudelsack nehmen?&laquo; fragte der junge Bursche. Der Alte
+erwiederte: &raquo;Verdiene dir Geld und kaufe dir dann einen Dudelsack. F&uuml;r
+den Anfang kannst du die Weidenfl&ouml;te blasen und auf dem Blatte pfeifen,
+auf beiden bist du schon ein kleiner Meister! Ich hoffe auch k&uuml;nftig
+noch mit dir zusammen zu treffen, dann wollen wir sehen, ob du meinen
+Rath benutzt hast, und welcher Gewinn dir aus meiner Belehrung erwachsen
+ist.&laquo; Damit trennte er sich von dem Burschen und ging seines Weges.<span class='pagenum'><a name="Page_320" id="Page_320">[S 320]</a></span>
+<em class="gesperrt">Tiidu</em> &mdash; so hie&szlig; der Bursche &mdash; begann &uuml;ber des alten Mannes Rede
+nachzudenken, und je l&auml;nger er sann, desto mehr mu&szlig;te er dem Alten Recht
+geben. Er entschlo&szlig; sich, den von dem Alten angegebenen Weg zum Gl&uuml;cke
+einzuschlagen; allein er verrieth Niemanden ein Wort von seinem
+Vorhaben, sondern ging eines Morgens vom Hause und &mdash; kam nicht wieder.
+Den Eltern machte sein Scheiden keinen Kummer, der Vater dankte noch
+seinem Geschicke, da&szlig; er den faulen Sohn los geworden war, und hoffte,
+da&szlig; die Welt mit der Zeit dem Tiidu die faule Haut abstreifen und die
+Noth ihn zum ordentlichen Menschen erziehen w&uuml;rde.</p>
+
+<p>Tiidu strich einige Wochen von Dorf zu Dorf und von Gut zu Gut umher;
+&uuml;berall nahmen die Leute ihn freundlich auf, und h&ouml;rten gern zu, wenn er
+seine Weidenfl&ouml;te blies, gaben ihm zu essen, und schenkten ihm auch
+manchmal einige Kopeken. Diese Kopeken sammelte der Bursche sorgf&auml;ltig,
+bis er endlich soviel beisammen hatte, um sich einen guten Dudelsack
+kaufen zu k&ouml;nnen. Jetzt fing sein Gl&uuml;ck an zu bl&uuml;hen, denn weit und
+breit war kein Dudelsackpfeifer zu finden, der so kunstgerecht und so
+taktm&auml;&szlig;ig zu blasen verstand. Tiidu's Dudelsack setzte alle Beine in
+Bewegung. Wo nur eine Hochzeit, ein Ernteschmaus, oder eine andere
+Lustbarkeit begangen wurde, da durfte der <em class="gesperrt">Dudelsack-Tiidu</em> nicht mehr
+fehlen. Nach einigen Jahren war er ein so ber&uuml;hmter Dudelsackpfeifer
+geworden, da&szlig; man ihn wie einen Zauberkundigen von einem Orte zum
+andern, oft viele Meilen weit, kommen lie&szlig;. So blies er einst auf einem
+Gute beim Ernteschmaus, wozu auch viele Gutsherren aus der Umgegend
+gekommen<span class='pagenum'><a name="Page_321" id="Page_321">[S 321]</a></span> waren, um die Belustigung des Volkes mit anzusehen. Alle
+mu&szlig;ten einm&uuml;thig bekennen, da&szlig; ihnen in ihrem Leben noch kein
+geschickterer Dudelsackpfeifer vorgekommen war. Ein Gutsherr nach dem
+andern lud den Dudelsack-Tiidu zu sich, dann mu&szlig;te er die Herrschaft
+durch sein Spiel erg&ouml;tzen und erhielt daf&uuml;r gute Kost und gutes Getr&auml;nk,
+dazu noch Geld und mancherlei Geschenke. Einer der reichen Herren lie&szlig;
+ihn von Kopf zu Fu&szlig; neu kleiden, ein anderer schenkte ihm einen sch&ouml;nen
+Dudelsack mit messingener R&ouml;hre. Die Fr&auml;ulein banden ihm seidene B&auml;nder
+an den Hut, und die Frauen strickten ihm bunte Handschuhe. Jeder Andere
+w&auml;re an Tiidu's Stelle mit diesem Gl&uuml;cke sehr zufrieden gewesen, aber
+seine Sehnsucht nach Reichthum lie&szlig; ihm keine Ruhe, sondern trieb ihn
+wie mit einer Feuergei&szlig;el immer weiter. Je mehr er einsah, da&szlig; der
+Dudelsack allein ihn nicht zum reichen Manne machen k&ouml;nne, desto st&auml;rker
+wurde seine Geldgier. Erz&auml;hlungen, die im Munde des Volkes lebten,
+wu&szlig;ten viel zu berichten von dem Reichthume des Landes Kungla,<a name="FNanchor_85_85" id="FNanchor_85_85"></a><a href="#Footnote_85_85" class="fnanchor">[85]</a> und
+Tiidu konnte das Tag und Nacht nicht aus dem Kopfe bringen. Wenn ich nur
+hinkommen k&ouml;nnte, dachte er, so w&uuml;rde ich schon den Weg zum Reichthum
+finden. Er wanderte nun am Strande hin, um vielleicht durch einen
+gl&uuml;cklichen Zufall ein Schiff oder ein Segelboot zu finden, das ihn &uuml;ber
+die See br&auml;chte. Endlich kam er in die Stadt Narwa, wo gerade viele
+fremde Kauffahrer im Hafen lagen. Einer derselben sollte nach einigen
+Tagen nach Land Kungla absegeln, und Tiidu suchte den Schiffer<span class='pagenum'><a name="Page_322" id="Page_322">[S 322]</a></span> auf.
+Dieser wollte ihn mitnehmen, aber der geforderte Preis war dem kargen
+Dudelsackpfeifer zu hoch. Er suchte sich nun durch seinen Dudelsack bei
+dem Schiffsvolke einzuschmeicheln, und hoffte dadurch die Kosten der
+Fahrt zu verringern. Das Gl&uuml;ck wollte, da&szlig; er einen jungen Matrosen
+fand, der ihm versprach, ihn heimlich hinter dem R&uuml;cken des Schiffers
+auf's Schiff zu bringen. In der letzten Nacht vor dem Abgange des
+Schiffes brachte der Matrose wirklich den Tiidu auf's Schiff und
+versteckte ihn in einem dunkeln Winkel zwischen F&auml;ssern, brachte ihm
+auch, ohne da&szlig; die Andern es merkten, Speise und Trank dahin, damit er
+in seinem Schlupfwinkel nicht Hunger leide. In der folgenden Nacht, als
+das Schiff schon auf hoher See war, und Tiidu's Freund auf dem Verdeck
+allein Wache hielt, holte er ihn aus seinem Schlupfwinkel hervor, band
+ihm ein Tau um den Leib, befestigte das andere Ende des Taues am Schiffe
+und sagte: &raquo;Ich werde dich jetzt an dem Taue in's Meer lassen, und wenn
+man dir zu H&uuml;lfe eilt, so mu&szlig;t du das Tau von deinem Leibe losschneiden
+und ihnen wei&szlig; machen, du seiest vom Hafen her dem Schiffe
+nachgeschwommen.&laquo; Obwohl dem Tiidu ein wenig bange wurde, hoffte er doch
+mit H&uuml;lfe des Taues sich eine Zeit lang &uuml;ber Wasser zu halten, da er ein
+guter Schwimmer war. Sobald er in's Wasser gelassen worden, weckte sein
+Freund die anderen Matrosen und zeigte ihnen die menschliche Gestalt,
+die schwimmend dem Schiffe folgte. Die Leute sperrten Mund und Augen
+auf, als sie das seltsame Abenteuer erblickten, und weckten auch den
+Schiffer, damit er sich die Sache ansehe. Dieser schlug dreimal das
+Kreuz<span class='pagenum'><a name="Page_323" id="Page_323">[S 323]</a></span> und fragte dann den Schwimmer: &raquo;Bekenne wahrhaft, wer du bist,
+ein Geist oder ein sterblicher Mensch?&laquo; Der Schwimmer antwortete: &raquo;Ein
+armer sterblicher Mensch, dessen Kraft bald ersch&ouml;pft sein wird, wenn
+ihr euch seiner nicht erbarmt.&laquo; Der Schiffer lie&szlig; nun ein Tau in's Meer
+werfen, um den Schwimmenden daran heraufzuziehen. Als Tiidu das Ende des
+Taues gefa&szlig;t hatte, schnitt er erst mit einem Messer das um seinen Leib
+geschlungene Tau entzwei und bat sodann, man m&ouml;ge ihn heraufziehen. Als
+es geschehen war, fragte ihn der Schiffer: &raquo;Sage, woher du kommst und
+wie du bis hierher gelangtest.&laquo; Dudelsack-Tiidu erwiederte: &raquo;Ich schwamm
+eurem Schiffe nach, als ihr aus dem Hafen abfuhrt, und hielt mich von
+Zeit zu Zeit, wenn die Kraft mir auszugehen drohte, am Steuer fest. So
+hoffte ich nach Land Kungla zu kommen, weil ich nicht so viel Geld
+hatte, als ihr f&uuml;r die Ueberfahrt verlangtet.&laquo; Des J&uuml;nglings wunderbare
+K&uuml;hnheit r&uuml;hrte des Schiffer's Herz, und freundlich sagte er: &raquo;Danke dem
+himmlischen Vater, der dein Leben so wunderbar besch&uuml;tzt hat! Ich will
+dich unentgeltlich nach Kungla bringen.&laquo; Dann befahl er, dem Tiidu
+trockene Kleider anzuziehen, und ihn in der Schiffskaj&uuml;te zu betten,
+damit er sich von der Anstrengung der langen Schwimmfahrt erhole. Tiidu
+aber und sein Freund waren froh, da&szlig; ihre List so gl&uuml;cklich abgelaufen
+war.</p>
+
+<p>Am andern Morgen sah das Schiffsvolk auf den Tiidu wie auf ein Wunder,
+da er eine Strecke geschwommen war, wie es Keiner f&uuml;r m&ouml;glich gehalten.
+Weiterhin machte ihnen sein sch&ouml;nes Dudelsackspiel gro&szlig;e Freude,<span class='pagenum'><a name="Page_324" id="Page_324">[S 324]</a></span> und
+der Schiffer gestand mehr als einmal, da&szlig; er noch nie einen so
+herrlichen Dudelsack geh&ouml;rt habe. Als das Schiff nach einigen Tagen in
+Land Kungla vor Anker gegangen war, verbreitete sich durch der
+Schiffsleute Mund mit Windesschnelle die Kunde von dem melodischen
+Fisch, den sie im Meere gefangen, und der Nacht und Tag dem Schiffe
+nachgeschwommen w&auml;re. Nat&uuml;rlich durften Tiidu und sein Freund dieser
+Erz&auml;hlung nicht widersprechen, da sie sich sonst selber in Gefahr
+gebracht h&auml;tten. Die wunderbare M&auml;r verschaffte dem Tiidu an der fremden
+K&uuml;ste viele Freunde, weil Jeder die wunderbare Schwimmfahrt aus seinem
+eigenen Munde h&ouml;ren wollte. Da mu&szlig;te denn der Bursche aus der Noth eine
+Tugend machen, und den Leuten vorl&uuml;gen, da&szlig; es puffte. Es wurde ihm mehr
+als ein Dienst angeboten, allein er lehnte alle ab, weil er f&uuml;rchtete,
+als L&uuml;gner dazustehen, sobald sein Herr eine Probe seiner Schwimmkunst
+zu sehen w&uuml;nschte. Lieber wollte er gerades Wegs in die K&ouml;nigsstadt
+gehen, wo weder er noch seine Schwimmkraft bekannt war, dort hoffte er
+am leichtesten einen Dienst zu finden, der ihn zum reichen Manne machte.
+Als er nach einigen Tagen ankam, schwindelte ihm der Kopf bei dem
+Anblicke der Pracht und Herrlichkeit, die &uuml;berall verbreitet waren. F&uuml;r
+zwei Augen war es schlechterdings unm&ouml;glich, das Alles ordentlich zu
+betrachten, dazu h&auml;tte er einiger Dutzend Augen bedurft. Je mehr er sich
+in die Anschauung dieses Glanzes und Reichthums vertiefte, desto
+kl&auml;glicher kam ihm seine eigene Armuth vor. Noch unertr&auml;glicher war es
+ihm, da&szlig; keiner von den stolzen Leuten seiner achtete, sondern da&szlig; man
+ihn wie einen Lump aus dem Wege stie&szlig;, als h&auml;tte er<span class='pagenum'><a name="Page_325" id="Page_325">[S 325]</a></span> gar nicht das
+Recht, sich in den Strahlen von Gottes Sonne zu w&auml;rmen. &mdash; Seinen
+Dudelsack wagte er gar nicht sehen zu lassen, denn er dachte mit Zagen:
+wer von diesen stolzen Leuten wird auf meinen armen Dudelsack h&ouml;ren! &mdash;
+So irrte er viele Tage in den Stra&szlig;en der Stadt umher und trachtete nach
+einem Dienste, fand aber keinen, bei dem er hoffen konnte, in kurzer
+Zeit reich zu werden. Endlich, als er schon die Fl&uuml;gel h&auml;ngen lie&szlig;, fand
+er einen Dienst im Hause eines reichen Kaufmannes, dessen Koch gerade
+einen K&uuml;chenjungen brauchte. Hier konnte nun Tiidu den Reichthum von
+Land Kungla gr&uuml;ndlich kennen lernen, der in der That gr&ouml;&szlig;er war, als man
+sich vorstellen konnte. Alle Ger&auml;the f&uuml;r's t&auml;gliche Leben, die bei uns
+zu Lande aus Eisen, Kupfer, Zinn, Holz oder Lehm verfertigt werden,
+waren hier von reinem Silber oder Gold; in silbernen Grapen wurden die
+Speisen gekocht, in silbernen Pfannen wurden die Kuchen gebacken, und in
+goldenen Schalen und goldenen Sch&uuml;sseln wurde aufgetragen. Selbst die
+Schweine fra&szlig;en nicht aus Tr&ouml;gen, sondern aus silbernen K&uuml;beln. Man kann
+sich hiernach leicht denken, da&szlig; es dem Tiidu an nichts gebrach, er
+f&uuml;hrte als K&uuml;chenjunge ein Herrenleben; aber sein habs&uuml;chtiges Gem&uuml;th
+hatte doch keine Ruhe. Unaufh&ouml;rlich qu&auml;lte ihn der eine Gedanke: was
+hilft mir all' der Reichthum, den ich vor Augen habe, wenn die Sch&auml;tze
+nicht mein sind; mein Dienst als K&uuml;chenjunge kann mich doch niemals zum
+reichen Manne machen. Und doch betrug sein Monatslohn mehr als bei uns
+ein Jahreslohn, so da&szlig; er durch Ansammlung desselben nach Jahren, wenn
+nicht reich, doch wohlhabend geworden w&auml;re.<span class='pagenum'><a name="Page_326" id="Page_326">[S 326]</a></span></p>
+
+<p>Er hatte schon ein Paar Jahre als K&uuml;chenjunge im Dienst gestanden, und
+ein gut St&uuml;ck Geld zur&uuml;ckgelegt, aber das hatte seine Geldgier nur noch
+erh&ouml;ht. Er war zugleich ein solcher Filz geworden, da&szlig; er sich keinen
+neuen Anzug besorgen mochte, doch mu&szlig;te er es thun auf Gehei&szlig; des Herrn,
+der schlechte Kleider in seinem Hause nicht duldete. Als der Kaufherr
+dann einen gro&szlig;en Kindtaufschmaus gab, lie&szlig; er allen seinen Dienern auf
+seine Kosten sch&ouml;ne Anz&uuml;ge machen. Den ersten Sonntag nach dieser
+Kindtaufe legte Tiidu seinen neuen stattlichen Anzug an, und ging zur
+Stadt hinaus in einen Lustgarten, in welchem sich an Sonntagen die
+Einwohner der Stadt zu ergehen pflegten. Als er eine Zeit lang unter den
+fremden Leuten gewandelt war, von denen er Niemand kannte, und Niemand
+ihn, traf sein Blick zuf&auml;llig auf eine Gestalt, die ihm wie bekannt
+vorkam, obwohl er sich nicht darauf besinnen konnte, wo er den Mann
+fr&uuml;her gesehen habe. W&auml;hrend er sein Ged&auml;chtni&szlig; noch anstrengte, verlor
+sich der vermeintliche Bekannte in dem Gew&uuml;hl. Tiidu strich hin und her,
+und sp&auml;hte nach ihm aus, aber alles Suchen war umsonst. Erst gegen Abend
+sah er seinen Mann unter einer m&auml;chtigen Linde allein auf einer
+Rasenbank sitzen. Tiidu war im Zweifel, ob er hinzu treten oder warten
+sollte, bis der fremde Mann ihn erblicken und sich merken lassen w&uuml;rde,
+ob er ihn, den Tiidu, kenne oder nicht? Ein paar Mal hustete Tiidu, aber
+der fremde Mann beachtete es nicht, sondern heftete wie in tiefen
+Gedanken die Augen auf den Boden. Ich trete n&auml;her &mdash;dachte Tiidu &mdash; und
+wecke ihn aus seinen Gedanken, dann wird es sich schon zeigen, ob wir
+einander kennen<span class='pagenum'><a name="Page_327" id="Page_327">[S 327]</a></span> oder nicht. Sachte vorw&auml;rts gehend, hielt er den Blick
+scharf auf den fremden Mann gerichtet. Jetzt schlug dieser die Augen auf
+und es war klar, da&szlig; er ihn sogleich erkannte, denn er stand auf, ging
+auf Tiidu zu und reichte ihm zum Gru&szlig;e die Hand, dann fragte er: &raquo;Wo
+hast du deinen Dudelsack gelassen?&laquo; Da erst &uuml;berzeugte sich Tiidu, da&szlig;
+der Fragende derselbe alte Mann war, der ihm fr&uuml;her empfohlen hatte,
+Dudelsackpfeifer zu werden. Er ging nun mit dem Alten aus der Volksmenge
+heraus an einen abgelegenen Ort, und erz&auml;hlte ihm seine bisherigen
+Erlebnisse. Der Alte runzelte die Stirn, sch&uuml;ttelte wiederholt den Kopf
+und sagte, als Tiidu seinen Bericht beendigt hatte: &raquo;Ein Thor bist du
+und ein Thor bleibst du! Was war das f&uuml;r ein verr&uuml;ckter Einfall, da&szlig; du
+den Dudelsack aufgabst und K&uuml;chenjunge wurdest? Mit dem Dudelsack
+h&auml;ttest du hier in einem Tage mehr verdienen k&ouml;nnen, als durch deinen
+Dienst in einem halben Jahre. Eile nach Hause, hole deinen Dudelsack her
+und blase, so wirst du mit eigenen Augen sehen, da&szlig; ich die Wahrheit
+gesagt habe.&laquo; Tiidu str&auml;ubte sich freilich, weil er das Gesp&ouml;tte der
+stolzen Leute f&uuml;rchtete, auch meinte er, er habe in der langen Zeit das
+Spielen verlernt. Aber der Alte lie&szlig; nicht ab, sondern setzte dem Tiidu
+so lange zu, bis er nach Hause ging und seinen Dudelsack herbrachte. Der
+Alte hatte so lange unter der Linde gesessen und gewartet; als Tiidu mit
+dem Dudelsack wieder kam, sagte er: &raquo;Setze dich neben mich auf die
+Rasenbank und fang' an zu blasen, dann wirst du schon sehen, wie sich
+die Leute um uns her versammeln werden.&laquo; Tiidu that es, wenn auch mit
+Widerstreben &mdash; aber als<span class='pagenum'><a name="Page_328" id="Page_328">[S 328]</a></span> er anfing zu spielen, kam es ihm vor, als w&auml;re
+heute ein neuer Geist in den Dudelsack gefahren, denn noch niemals hatte
+er dem Instrumente einen so sch&ouml;nen Ton entlocken k&ouml;nnen. Bald sammelte
+sich eine dichte Menge um die Linde, angezogen von dem sch&ouml;nen Spiele.
+Je zahlreicher die Menge wurde, desto lieblicher ert&ouml;nten die Weisen des
+Dudelsacks. Als die Leute eine Zeitlang zugeh&ouml;rt hatten, nahm der Alte
+seinen Hut ab und trat unter sie, um die Gaben f&uuml;r den Spieler
+einzusammeln. Da wurden von allen Seiten Thaler, halbe Thaler und kleine
+Silberm&uuml;nzen hineingeworfen, dann und wann fiel auch ein blinkendes
+Goldst&uuml;ck in den Hut. Tiidu spielte dann noch zum Danke manche sch&ouml;ne
+Weise auf, ehe er sich anschickte, nach Hause zu gehen. Als er durch den
+dichten Haufen schritt, h&ouml;rte er vielfach sagen: &raquo;Kunstreicher Meister!
+komm n&auml;chsten Sonntag wieder, uns zu erfreuen!&laquo; &mdash;Als sie an's Thor
+gekommen waren, sagte der Alte: &raquo;Nun, was meinst du, ist die heutige
+Arbeit von ein paar Stunden nicht angenehmer, als die Handthierung eines
+K&uuml;chenjungen? &mdash; Zum zweitenmale habe ich dir den Weg gezeigt, packe
+nun, wie ein vern&uuml;nftiger Mann, den Ochsen bei beiden H&ouml;rnern, damit das
+Gl&uuml;ck dir nicht wieder entschl&uuml;pfe! Meine Zeit erlaubt mir nicht, hier
+l&auml;nger dein F&uuml;hrer zu sein, drum merke dir, was ich sage, und handle
+darnach. Jeden Sonntag Nachmittag setze dich mit deinem Dudelsack unter
+die Linde und blase, da&szlig; die Leute sich erg&ouml;tzen. Kaufe dir aber einen
+Filzhut mit tiefem Boden, und stelle ihn zu deinen F&uuml;&szlig;en hin, damit die
+H&ouml;rer ihre Spenden hineinlegen k&ouml;nnen. Ruft man dich zu einem Feste, um
+den Dudelsack zu spielen,<span class='pagenum'><a name="Page_329" id="Page_329">[S 329]</a></span> so bedinge niemals einen Preis, sondern
+versprich mit dem zufrieden zu sein, was man dir freiwillig geben werde.
+Du wirst so von den reichen B&uuml;rgern mehr erhalten, als du selbst gewagt
+h&auml;ttest zu verlangen, und kommt es auch zuweilen vor, da&szlig; irgend ein
+Filz dir zu wenig giebt, so wird es dir durch die reichere Gabe der
+Uebrigen zehnfach ersetzt, und du hast noch den Vortheil, da&szlig; Niemand
+dich geldgierig nennen darf. Vor allen Dingen h&uuml;te dich vor dem Geiz! &mdash;
+Vielleicht treffen wir k&uuml;nftig noch einmal wieder zusammen, dann werde
+ich ja h&ouml;ren, wie du meiner Weisung nachgekommen bist. F&uuml;r dies Mal Gott
+befohlen!&laquo; So schieden sie von einander.</p>
+
+<p>Dudelsack-Tiidu war sehr erfreut, als er zu Hause sein Geld z&auml;hlte und
+fand, da&szlig; ihm das Spiel von einigen Stunden mehr eingebracht hatte, als
+sein Dienst in einem halben Jahre. Da dauerte ihn die falsch angewandte
+Zeit; doch konnte er seinen Dienst nicht sogleich verlassen, weil er
+erst einen Stellvertreter schaffen mu&szlig;te. Nach einigen Tagen fand er
+einen solchen und wurde entlassen. Dann lie&szlig; er sich sch&ouml;ne farbige
+Kleider machen, band einen G&uuml;rtel mit silberner Schnalle um die H&uuml;ften,
+und ging den n&auml;chsten Sonntag Nachmittag unter die Linde, um den
+Dudelsack zu blasen. Es hatten sich noch viel mehr Leute eingefunden,
+als das erste Mal, denn das Ger&uuml;cht von dem geschickten Dudelsackpfeifer
+hatte sich in der Stadt verbreitet, und Jedermann w&uuml;nschte ihn zu h&ouml;ren.
+Als er am Abend sein Geld z&auml;hlte, fand er fast doppelt so viel als am
+ersten Sonntage. Ebenso g&uuml;nstig war ihm das Gl&uuml;ck fast jeden Sonntag, so
+da&szlig; er sich im Herbst eine Wohnung in einem stattlichen Gasthof<span class='pagenum'><a name="Page_330" id="Page_330">[S 330]</a></span> miethen
+konnte. An den Abenden, wo die B&uuml;rger den Gasthof besuchten, wurde der
+geschickte Meister oft gebeten, die G&auml;ste durch seinen Dudelsack zu
+erg&ouml;tzen, wof&uuml;r er dann doppelte Bezahlung erhielt, einmal vom Wirth,
+und sodann noch von den G&auml;sten. Als der Wirth sp&auml;ter sah, wie der
+K&uuml;nstler jeden Abend immer mehr G&auml;ste in's Haus zog, gab er ihm Kost und
+Wohnung frei. Gegen den Fr&uuml;hling lie&szlig; Tiidu an seinen Dudelsack silberne
+R&ouml;hren machen, die von innen und von au&szlig;en vergoldet waren, so da&szlig; sie
+in der Sonne und am Feuer funkelten. Als es wieder Sommer wurde, kamen
+auch die St&auml;dter wieder zu ihrer Erholung in's Freie, und Sonntag f&uuml;r
+Sonntag spielte Tiidu und sah seinen Reichthum anwachsen. Da kam
+einstmals auch der K&ouml;nig, um die Lustbarkeit des Volkes mit anzusehen,
+und h&ouml;rte schon von fern das sch&ouml;ne Dudelsackspiel. Der K&ouml;nig lie&szlig; den
+Spielenden zu sich rufen, und schenkte ihm einen Beutel voll Gold. Als
+die andern Gro&szlig;en das sahen, lie&szlig;en sie einer nach dem andern den
+Dudelsackpfeifer in ihre H&auml;user kommen, wo er ihnen vorspielen mu&szlig;te.
+Tiidu beobachtete p&uuml;nktlich die Vorschrift des Alten, indem er sich nie
+einen Lohn ausbedang, sondern Jedem &uuml;berlie&szlig;, nach Gutbefinden zu geben,
+und es fand sich, da&szlig; er fast immer viel mehr erhielt, als er selber zu
+fordern gewagt h&auml;tte.</p>
+
+<p>Nach einigen Jahren war Dudelsack-Tiidu im Lande Kungla zum reichen
+Manne geworden, und beschlo&szlig; nun, in seine Heimath zur&uuml;ckzukehren, um
+sich dort ein Gut zu kaufen, und das Blasen aufzugeben. Die Geschenke
+des K&ouml;nigs und der anderen hohen Herren hatten sein Verm&ouml;gen
+betr&auml;chtlich vergr&ouml;&szlig;ert, und des alten Mannes<span class='pagenum'><a name="Page_331" id="Page_331">[S 331]</a></span> Prophezeiung wahr
+gemacht. Er brauchte jetzt nicht mehr heimlich in einen Schiffswinkel zu
+kriechen, sondern war reich genug, um f&uuml;r sich allein ein Schiff zu
+miethen, das ihn mit allen seinen Sch&auml;tzen in's Vaterland f&uuml;hren sollte.
+Er hatte sich, wie das im Lande Kungla &uuml;blich war, viele goldene und
+silberne Ger&auml;the gekauft, welche jetzt in Kisten gepackt und an Bord
+gebracht wurden; wieder andere Kisten waren mit baarem Gelde angef&uuml;llt.
+Zuletzt bestieg der Herr dieser Sch&auml;tze selbst das Schiff, und dieses
+segelte ab. Ein g&uuml;nstiger frischer Wind trieb sie bald auf die hohe See,
+wo nur Himmel und Wasser zu sehen waren. Zur Nacht aber drehte sich der
+Wind und trieb das Schiff gegen S&uuml;den. Von Stunde zu Stunde wuchs die
+Gewalt des Sturms, und der Schiffer konnte keinen festen Curs mehr
+halten, weil Wind und Wellen jetzt die einzigen Herren des Schiffes
+waren, nach deren Willen es sich bewegen mu&szlig;te. Als das Schiff einen Tag
+und zwei N&auml;chte auf diese Weise hin und hergeschleudert worden, krachte
+der Kiel gegen einen Felsen, und das Schiff begann zu sinken. Die B&ouml;te
+wurden in's Meer gelassen, damit die Menschen dem Tode entrinnen m&ouml;chten
+&mdash; allein was konnte gegen die tobenden Wellen Stand halten? Bald warf
+eine hohe Welle das kleine Boot um, in welchem Tiidu mit drei Matrosen
+sa&szlig;, und das feuchte Bett umschlo&szlig; die M&auml;nner. Zum Gl&uuml;ck schwamm nicht
+weit von Tiidu eine Ruderbank; es gelang ihm, sie zu ergreifen und sich
+mit H&uuml;lfe derselben auf der Oberfl&auml;che zu halten. Als darauf der Wind
+sich legte und das Wetter sich aufkl&auml;rte, sah er das Ufer, das gar nicht
+weit zu sein schien. Er nahm seine letzte Kraft<span class='pagenum'><a name="Page_332" id="Page_332">[S 332]</a></span> zusammen und suchte das
+Ufer zu erreichen, fand aber, da&szlig; es viel weiter entfernt war, als es
+den Anschein gehabt hatte. Auch h&auml;tte ihn die eigene Kraft nicht mehr
+an's Ziel gebracht, nur mit H&uuml;lfe der Brandung, die ihn vorw&auml;rts
+schleuderte, erreichte er endlich die K&uuml;ste. Ganz ersch&ouml;pft, mehr todt
+als lebendig, sank er auf das felsige Ufer und schlief ein. Wie lange
+sein Schlaf gedauert hatte, dar&uuml;ber konnte er sich keine Rechenschaft
+geben, er hatte aber die traumhafte Erinnerung, als habe jener alte Mann
+ihn besucht und ihm aus seinem Schlauche zu trinken gegeben, was ihn
+wunderbar gest&auml;rkt und ihm gleichsam neue Lebensgeister eingefl&ouml;&szlig;t habe.
+Als er nach dem langen Schlafe vollends munter wurde, fand er sich
+allein auf dem bemoosten Felsen, und sah nun wohl, da&szlig; die Ankunft des
+Alten nur ein Traum gewesen war. Doch hatte der Schlaf ihn wieder so
+weit gest&auml;rkt, da&szlig; er sich ohne M&uuml;he erheben und eine Wanderung antreten
+konnte, auf welcher er Menschen zu finden hoffte. Er ging eine Weile am
+Ufer entlang, und sp&auml;hte nach einem Fu&szlig;steige oder sonst einer Spur, die
+zu Menschen leiten k&ouml;nnte. Aber soweit sein Auge reichte, war von
+Fu&szlig;stapfen nichts zu entdecken. Moos, Sand und Rasen hatten ein so
+friedliches Ansehen, als ob noch niemals die F&uuml;&szlig;e von Menschen oder
+Thieren dar&uuml;ber hin geschritten w&auml;ren. Was jetzt beginnen? Er mochte
+&uuml;berlegen, soviel er wollte, er wu&szlig;te nichts Besseres, als der Nase nach
+weiter zu gehen, in der Hoffnung, da&szlig; ein gl&uuml;cklicher Zufall ihn einen
+Weg finden lasse, der zu Menschen f&uuml;hre. Eine halbe Meile weiter fand er
+sch&ouml;ne &uuml;ppige Laubw&auml;lder, aber die B&auml;ume hatten alle ein<span class='pagenum'><a name="Page_333" id="Page_333">[S 333]</a></span> fremdartiges
+Ansehen, und nicht ein einziger war ihm bekannt. Im Walde fand er weder
+Fu&szlig;tritte von Herden noch von Menschen, sondern je weiter er vordrang,
+desto dichter wurde der Wald, und das Weiterkommen wurde immer
+schwieriger. Er setzte sich nieder, um seinen m&uuml;den Beinen Ruhe zu
+g&ouml;nnen. Da wurde ihm pl&ouml;tzlich das Herz schwer, Wehmuth &uuml;berfiel ihn und
+bittre Reue; zum ersten Male kam ihm der Gedanke, er habe unrecht gethan
+ohne Wissen und Willen der Eltern von zu Hause fortzulaufen, die
+Seinigen zu verlassen, und wie ein Landstreicher umher zu schweifen.
+&raquo;Wenn ich hier unter wilden Thieren umkomme,&laquo; &mdash; schluchzte er &mdash; &raquo;so
+wird mir der geb&uuml;hrende Lohn f&uuml;r meinen Leichtsinn. Meinen Schatz, der
+in's Meer sank, w&uuml;rde ich nicht bedauern &mdash; wie gewonnen, so zerronnen!
+wenn mir nur der Dudelsack geblieben w&auml;re, womit ich mein trauerndes
+Herz beschwichtigen und meine Sorgenlast erleichtern k&ouml;nnte!&laquo; Als er
+weiter schritt, erblickte er einen Apfelbaum mit seinem wohlbekannten
+Laube, und durch das Laub schimmerten gro&szlig;e rothe Aepfel, welche seine
+E&szlig;lust reizten. Er eilte hin und &mdash; welch' ein Gl&uuml;ck! noch nie hatte er
+schmackhafteres Obst gekostet. Er a&szlig; sich satt und legte sich dann unter
+den Apfelbaum zur Ruhe, indem er dachte: wenn es hier viele solche
+Apfelb&auml;ume giebt, so ist mir vor Hunger nicht bange. Als er erwachte,
+verzehrte er noch einige Aepfel, stopfte sich dann Taschen und Rockbusen
+voll und wanderte weiter. Das dunkle Waldesdickicht zwang ihn langsam zu
+gehen, und machte an vielen Stellen das Durchkommen schwierig, so da&szlig;
+die Nacht hereinbrach, ohne da&szlig; freies Feld oder Menschenspuren<span class='pagenum'><a name="Page_334" id="Page_334">[S 334]</a></span>
+sichtbar wurden. Tiidu streckte sich auf das weiche Moos und schlief,
+als ob er auf den sch&ouml;nsten Kissen l&auml;ge. Am andern Morgen fr&uuml;hst&uuml;ckte er
+einige Aepfel, und suchte dann mit frischer Kraft weiter vorzudringen,
+bis er nach einiger Zeit an eine Lichtung kam, die wie eine kleine Insel
+mitten im Walde lag. Ein kleiner Bach, der aus einer nahen Quelle
+entsprang, ergo&szlig; sein klares frisches Wasser &uuml;ber die Lichtung. Als
+Tiidu an den Rand des Baches kam, erblickte er zuf&auml;llig im Wasser sein
+Bild, was ihn derma&szlig;en erschreckte, da&szlig; er einige Schritte zur&uuml;cksprang
+und an allen Gliedern zitterte wie Espenlaub. Aber auch Beherztere als
+er w&auml;ren hier wohl erschrocken. Sein Bild im Wasserspiegel zeigte ihm
+n&auml;mlich, da&szlig; seine Nasenspitze wie der Fleischzapfen eines Puters aussah
+und bis zum Nabel reichte. Die tastende Hand best&auml;tigte, was das Auge
+gesehen. Was jetzt beginnen? So konnte er schlechterdings nicht unter
+die Leute gehen, die ihn wohl gar wie ein wildes Thier todt geschlagen
+h&auml;tten. War es nun das Gef&uuml;hl der Angst, was die Nase zusehends wachsen
+lie&szlig;, oder reckte sie sich wirklich immer weiter aus &mdash; genug es war dem
+Eigenth&uuml;mer der Nase so gr&auml;ulich zu Muthe, als ob sie immer l&auml;nger und
+l&auml;nger w&uuml;rde, so da&szlig; er keinen Schritt thun konnte, ohne zu f&uuml;rchten,
+seine Nase w&uuml;rde an die Beine sto&szlig;en. Er setzte sich nieder und beklagte
+sein Ungl&uuml;ck bitterlich: &raquo;O wenn nur jetzt Niemand k&auml;me, und mich so
+f&auml;nde! Lieber will ich im Walde verhungern, als mich mit einer so
+abscheulichen Nase zeigen.&laquo; H&auml;tte er jetzt schon gewu&szlig;t, was er sp&auml;ter
+erfuhr, da&szlig; diese Waldinsel unbewohnt war, so h&auml;tte er sich dar&uuml;ber
+tr&ouml;sten<span class='pagenum'><a name="Page_335" id="Page_335">[S 335]</a></span> k&ouml;nnen. Je mehr ihn aber jetzt sein Ungl&uuml;ck verdro&szlig;, desto
+dicker schwoll seine Nase an, und desto bl&auml;ulicher wurde sie, wie bei
+einem zornigen Puterhahn. Da sieht er nahebei an einem Strauche sehr
+sch&ouml;ne N&uuml;sse, und es gel&uuml;stet ihn, sich damit zu laben; er pfl&uuml;ckt eine
+Handvoll, bei&szlig;t eine Nu&szlig; auf und findet einen s&uuml;&szlig;en Kern in der Schale.
+Er verschluckt noch einige Kerne und bemerkt zu seinem Erstaunen, da&szlig;
+die scheu&szlig;liche L&auml;nge seiner Nase sichtlich abnimmt. Nach kurzer Zeit
+erblickt er im Wasser seine Nasenspitze wieder an ihrer nat&uuml;rlichen
+Stelle, ja noch etwas h&ouml;her &uuml;ber dem Munde, als sie vorher stand. Jetzt
+l&ouml;ste sich sein Kummer in Frohlocken auf, und er verfiel darauf, den
+wunderbaren Vorfall n&auml;her zu ergr&uuml;nden, um zu erfahren, was denn
+eigentlich seine Nase erst lang und dann wieder kurz gemacht habe.
+Sollten es die sch&ouml;nen Aepfel gewesen sein &mdash; fragte er sich in
+Gedanken, nahm einen Apfel aus der Tasche, und begann davon zu essen.
+Sowie er ein St&uuml;ck gekaut und verschluckt hat, nimmt er im Wasser
+deutlich wahr, wie die Nasenspitze sich zusehends in die L&auml;nge dehnt.
+Spa&szlig;es halber i&szlig;t er den Apfel ganz auf, und findet jetzt die Nase
+spannenlang; dann nimmt er einige Nu&szlig;kerne, zerkaut und verschluckt sie,
+und sieh', o Wunder! die lange Nase schrumpft zusammen, bis sie auf ihr
+nat&uuml;rliches Maa&szlig; zur&uuml;ckgegangen ist. Jetzt wu&szlig;te der Mann, woran er war.
+Er denkt: was ich f&uuml;r ein gro&szlig;es Ungl&uuml;ck hielt, kann mir vielleicht noch
+Gl&uuml;ck bringen, wenn ich wieder unter Menschen kommen sollte; pfl&uuml;ckt
+eine Tasche voll N&uuml;sse und eilt, in seine eigenen Fu&szlig;stapfen tretend,
+zur&uuml;ck, um den Baum mit den nasenvergr&ouml;&szlig;ernden Aepfeln aufzusuchen.<span class='pagenum'><a name="Page_336" id="Page_336">[S 336]</a></span> Da
+hier nun keine anderen Spuren liefen, als die, welche er selbst
+zur&uuml;ckgelassen hatte, fand er den Apfelbaum ohne M&uuml;he wieder. Er sch&auml;lte
+nun erst einige junge B&auml;ume ab und machte sich aus der Rinde einen Korb,
+den er dann mit Aepfeln f&uuml;llte. Da aber die Nacht schon hereinbrach,
+wollte er heute nicht weiter gehen, sondern hier sein Nachtlager halten.
+Wiederum hatte er das seltsame Traumgesicht, da&szlig; der wohlbekannte Alte
+ihm aus seinem F&auml;&szlig;chen zu trinken gab und ihm den Rath ertheilte, auf
+demselben Wege, den er gekommen, an den Strand zur&uuml;ckzugehen, wo er
+gewi&szlig; H&uuml;lfe finden w&uuml;rde. Zuletzt hatte der Alte gesagt: &raquo;Weil du deinen
+in's Meer gesunkenen Schatz nicht bedauert hast, sondern nur deinen
+Dudelsack, so will ich dir einen neuen zum Andenken verehren.&laquo; Am Morgen
+erinnerte er sich seines Traumes; aber wer verm&ouml;chte seine Freude und
+sein Gl&uuml;ck zu beschreiben, als er den im Traum ihm verhei&szlig;enen Dudelsack
+neben dem Korbe am Boden liegen sah. Tiidu nahm den Dudelsack und begann
+nach Herzenslust zu blasen, da&szlig; der Wald davon wiederhallte. Nachdem er
+sich satt gespielt hatte, nahm er den Weg unter die F&uuml;&szlig;e und schlug die
+Richtung nach der See ein.</p>
+
+<p>Es war schon etwas &uuml;ber Mittag, als er die K&uuml;ste erreichte, in deren
+N&auml;he er ein Schiff liegen sah, an welchem das Schiffsvolk eben
+Ausbesserungen vornahm. Die Leute wunderten sich, auf dieser Insel, die
+sie f&uuml;r unbewohnt gehalten, einen Menschen zu erblicken. Der Schiffer
+lie&szlig; ein Boot herunter, und schickte mit demselben zwei M&auml;nner an's
+Ufer. Tiidu erz&auml;hlte ihnen sein Ungl&uuml;ck, wie das Schiff untergegangen
+sei, und<span class='pagenum'><a name="Page_337" id="Page_337">[S 337]</a></span> Gottes Gnade ihn wunderbarer Weise aus Todesgefahr errettet
+habe. Der Schiffer versprach ihn unentgeltlich mitzunehmen und nach Land
+Kungla zur&uuml;ckzubringen, wohin das Schiff bestimmt war. Unterwegs
+erfreute Tiidu den Schiffer und das Schifssvolk durch sein sch&ouml;nes
+Spiel; nach einigen Tagen hatten sie die K&uuml;ste von Land Kungla erreicht.
+Mit nassen Augen dankte Tiidu dem Schiffer, der ihn erl&ouml;st hatte, und
+versprach, das Ueberfahrtsgeld redlich nachzuzahlen, sobald es ihm
+wieder gut gehe. Als er nach einigen Tagen wieder in des K&ouml;nigs Stadt
+angekommen war, spielte er gleich den ersten Abend &ouml;ffentlich, und nahm
+daf&uuml;r so viel Geld ein, da&szlig; er sich neue Kleider nach ausl&auml;ndischem
+Schnitt machen lassen konnte. Darauf that er einige rothe Aepfel in ein
+K&ouml;rbchen und ging mit seiner Waare an das Thor des K&ouml;nigshauses, wo er
+sie am leichtesten los zu werden hoffte. Es dauerte auch nicht gar
+lange, so kam ein k&ouml;niglicher Diener, kaufte die sch&ouml;nen Aepfel,
+bezahlte mehr als gefordert war, und hie&szlig; den Verk&auml;ufer am n&auml;chsten Tage
+wiederkommen. Tiidu aber machte sich eilig davon, als ob er Feuer in der
+Tasche h&auml;tte, und dachte nicht daran, mit seiner Waare wiederzukommen,
+denn er wu&szlig;te ja recht gut, da&szlig; der Genu&szlig; der Aepfel ein Wachsen der
+Nasen hervorbringen w&uuml;rde. Er lie&szlig; sich dann noch an demselben Tage
+einen andern Anzug machen, und kaufte sich einen langen schwarzen Bart,
+den er sich an's Kinn klebte; dadurch ver&auml;nderte er sein Aussehen
+derma&szlig;en, da&szlig; selbst seine n&auml;chsten Bekannten ihn nicht wieder erkannt
+h&auml;tten. Daraus nahm er in einem Wirthshause in einer entlegenen Vorstadt
+seine Wohnung<span class='pagenum'><a name="Page_338" id="Page_338">[S 338]</a></span> und nannte sich einen ausl&auml;ndischen Zauberk&uuml;nstler, der
+alle Gebrechen zu heilen wisse.</p>
+
+<p>Am andern Tage war die ganze Stadt voll Best&uuml;rzung &uuml;ber das Ungl&uuml;ck,
+welches sich im Hause des K&ouml;nigs zugetragen hatte. Der K&ouml;nig, seine
+Gemahlin und seine Kinder hatten gestern Aepfel genossen, die man von
+einem Fremden gekauft hatte, und waren darnach Alle erkrankt. Worin ihre
+Krankheit bestand, das wurde nicht verrathen. Alle Doctoren, Aerzte und
+Zauberk&uuml;nstler der Stadt wurden zusammen gerufen, aber keiner konnte
+helfen, weil sie eine solche Krankheit noch niemals bei Menschen gesehen
+hatten. Sp&auml;ter verlautete &uuml;ber die Krankheit, es sei ein Nasen&uuml;bel. Als
+eines Tages alle Aerzte und Zauberk&uuml;nstler zur Berathung versammelt
+waren, hielten einige es f&uuml;r nothwendig, die &uuml;berfl&uuml;ssige Verl&auml;ngerung
+der Nasen wegzuschneiden; aber der K&ouml;nig und seine Familie wollten sich
+einer so schmerzhaften Kur nicht unterziehen. Da wurde gemeldet, da&szlig; bei
+einem Gastwirth in der Vorstadt ein ausl&auml;ndischer Zauberk&uuml;nstler sich
+aufhalte, der alle Gebrechen heilen k&ouml;nne. Der K&ouml;nig schickte sogleich
+seine mit vier Pferden bespannte Kutsche hin, und lie&szlig; den
+Zauberk&uuml;nstler zu sich bescheiden. Tiidu hatte &uuml;ber die halbe Nacht
+daran gearbeitet, sich ganz unkenntlich zu machen, und es war ihm so gut
+gelungen, da&szlig; weder von dem Dudelsackpfeifer noch von dem
+Aepfelverk&auml;ufer eine Spur nachgeblieben war. Auch seine Ausdrucksweise
+war so gebrochen, da&szlig; er Manches erst mit den Fingern andeuten mu&szlig;te,
+ehe die Andern daraus klug wurden. Als er zum K&ouml;nige kam, besah er das
+seltsame Gebrechen, nannte es die Puterseuche, und versprach,<span class='pagenum'><a name="Page_339" id="Page_339">[S 339]</a></span> es ohne
+Schneiden zu curiren. Dem K&ouml;nige und seiner Gemahlin waren die Nasen
+schon &uuml;ber eine Elle lang gewachsen, und dehnten sich noch immer weiter.
+Dudelsack-Tiidu hatte feines Pulver von seinen N&uuml;ssen in eine kleine
+Dose gethan, gab jedem Kranken eine Messerspitze voll ein, und ordnete
+an, da&szlig; die Kranken sich in ein finsteres Gemach verf&uuml;gten, wo sie sich
+zu Bette legen und in Kissen h&uuml;llen mu&szlig;ten, damit starker Schwei&szlig;
+erfolge, und den Krankheitsstoff zum K&ouml;rper heraustreibe. Als sie nach
+einigen Stunden wieder an's Licht traten, hatten alle ihre vorigen Nasen
+wieder.</p>
+
+<p>Der K&ouml;nig h&auml;tte in seiner Freude gern die H&auml;lfte seines K&ouml;nigreiches f&uuml;r
+diese Cur hingegeben, die ihn und die Seinigen von der greulichen
+Nasenkrankheit befreit hatte. Allein durch die Noth, welche
+Dudelsack-Tiidu beim Schiffbruch erlebt hatte, war seine Geldgier
+schw&auml;cher geworden, und er verlangte nicht mehr, als hinreichte um sich
+ein Gut zu kaufen, auf welchem er seine Lebenstage friedlich zu
+beendigen w&uuml;nschte. Der K&ouml;nig lie&szlig; ihm jedoch eine dreimal gr&ouml;&szlig;ere Summe
+auszahlen, mit welcher Tiidu zum Hafen eilte und ein Schiff bestieg, das
+ihn in seine Heimath zur&uuml;ckbringen sollte. Vor seiner Abfahrt hatte er
+seinen falschen Bart abgenommen, und die fremdartigen Kleider mit
+anderen vertauscht. Dem Schiffer, der ihn von der w&uuml;sten Insel gerettet
+hatte, erstattete er das Geld, welches er ihm f&uuml;r die Ueberfahrt
+schuldete. Nachdem er an seiner heimischen K&uuml;ste gelandet war, begab er
+sich nach seinem Geburtsorte, und fand seinen Vater, zwei Br&uuml;der und
+drei Schwestern noch am Leben; die Mutter und drei Br&uuml;der waren
+gestorben.<span class='pagenum'><a name="Page_340" id="Page_340">[S 340]</a></span> Tiidu gab sich den Seinigen nicht eher zu erkennen, als bis
+er das Gut gekauft hatte. Dann lie&szlig; er ein pr&auml;chtiges Gastmahl
+anrichten, und seine ganze Familie dazu einladen. Bei Tische gab er sich
+zu erkennen und sagte: &raquo;Ich bin <em class="gesperrt">Tiidu</em>, euer fauler Sohn und Bruder, der
+zu Nichts zu gebrauchen war, seinen Eltern Kummer machte, und endlich
+heimlich davon lief. Mein Gl&uuml;ck war mir holder als ich selbst, und darum
+komme ich jetzt als reicher Mann zur&uuml;ck. Jetzt m&uuml;sset ihr Alle kommen
+und auf meiner Besitzung wohnen, und der Vater mu&szlig; bis an seinen Tod in
+meinem Hause bleiben.&laquo; &mdash; Sp&auml;ter freite er ein tugendsames M&auml;dchen, das
+nichts weiter besa&szlig;, als ein h&uuml;bsches Gesicht und ein gutes Herz. Als er
+am Abend des Hochzeitstages mit seiner jungen Frau das Schlafgemach
+betrat, fand er gro&szlig;e Kisten und Kasten vor demselben, welche alle seine
+in's Meer gesunkenen Sch&auml;tze enthielten. In einem der Kasten lag ein
+Blatt, worauf die Worte geschrieben waren: &raquo;Einem guten Sohne, der f&uuml;r
+Eltern und Verwandte sorgt, giebt auch die Meerestiefe den geraubten
+Schatz heraus.&laquo; Wer aber der zauberkr&auml;ftige Alte gewesen, der ihn auf
+den Weg des Gl&uuml;ckes gef&uuml;hrt, ihn aus der Seegefahr gerettet und Gier und
+Geiz aus seinem Herzen getilgt hatte: das hat er niemals erfahren.</p>
+
+<p>Ob gegenw&auml;rtig noch von Dudelsack-Tiidu's Nachkommen Jemand lebt, ist
+mir nicht bekannt, sollte man aber einige von ihnen ausfindig machen,
+dann sind es gewi&szlig; so feine Herrschaften, da&szlig; bei ihnen weder
+b&auml;uerlicher Rauchgeruch noch Riegenstaub mehr anzutreffen ist.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_341" id="Page_341">[S 341]</a></span></p>
+<h2>24. Die aus dem Ei entsprossene K&ouml;nigstochter.</h2>
+
+
+<p>Einmal lebte ein K&ouml;nig, dessen Gemahlin keine Kinder hatte, was Beide
+sehr bek&uuml;mmerte, besonders wenn sie sahen, wie niedriger stehende
+Menschen in dieser Hinsicht viel reicher waren als sie selber. Trauriger
+als gew&ouml;hnlich war die K&ouml;nigin immer, wenn der K&ouml;nig einmal nicht zu
+Hause war; dann sa&szlig; sie fast immer im Garten unter einer breiten Linde,
+senkte den Kopf und hatte die Augen voll Thr&auml;nen. Da sa&szlig; sie auch wieder
+eines Tages, als der K&ouml;nig auf einige Wochen verreist war, um die
+Kriegsmacht zu besichtigen, welche an der Grenze des Reiches stand,
+einen drohenden feindlichen Einbruch abzuwehren. Der K&ouml;nigin war das
+Herz so beklommen, als stehe ihr ein unerwartetes Ungl&uuml;ck bevor, und
+ihre Augen f&uuml;llten sich mit bitteren Thr&auml;nen. Als sie das Antlitz
+emporhob, sah sie ein altes M&uuml;tterchen, welches auf Kr&uuml;cken einher
+hinkte, sich an der Quelle b&uuml;ckte, um zu trinken, und nachdem sie ihren
+Durst gestillt hatte, gerade auf die Linde zu humpelte, wo die K&ouml;nigin
+weilte. Das M&uuml;tterchen neigte ihr Haupt und sagte: &raquo;Nehmt es nicht &uuml;bel,
+geehrtes hohes Frauchen, da&szlig; ich es wage, vor euch zu<span class='pagenum'><a name="Page_342" id="Page_342">[S 342]</a></span> erscheinen, und
+f&uuml;rchtet euch nicht vor mir, denn es w&auml;re leicht m&ouml;glich, da&szlig; ich zur
+guten Stunde gekommen bin und euch Gl&uuml;ck bringe.&laquo; Die K&ouml;nigin
+betrachtete sie zweifelhaft und antwortete: &raquo;Du selber scheinst mir an
+Gl&uuml;ck keinen Ueberflu&szlig; zu haben, was kannst du Andern davon gew&auml;hren?&laquo;
+Die Alte lie&szlig; sich aber nicht irre machen, sondern sagte: &raquo;Unter rauher
+Schale steckt oft glattes Holz und s&uuml;&szlig;er Kern. Zeiget mir eure Hand,
+damit ich erfahre, wie es mit euch werden wird.&laquo; Die K&ouml;nigin streckte
+ihr die Hand hin, damit die Alte darin lesen k&ouml;nne. Als diese die Linien
+und Striche eine Weile genau betrachtet hatte, lie&szlig; sie sich
+folgenderma&szlig;en vernehmen: &raquo;Euer Herz ist jetzt mit zwei Sorgen beladen,
+einer alten und einer neuen. Die neue Sorge, die euch qu&auml;lt, ist die um
+euren Gemahl, der jetzt weit von euch ist; &mdash;aber glaubet meinem Worte,
+er ist gesund und munter und wird binnen zwei Wochen zur&uuml;ck kommen und
+euch frohe Zeitung bringen. Eure alte Sorge aber, welche eurer Hand
+tiefere Striche eingedr&uuml;ckt hat, r&uuml;hrt daher, da&szlig; Gott euch keine
+Leibesfrucht geschenkt hat!&laquo; Die K&ouml;nigin err&ouml;thete und wollte ihre Hand
+aus der Hand der Alten losmachen, aber die Alte bat: &raquo;Habt noch ein
+wenig Geduld, so bringen wir Alles auf einmal in's Reine.&laquo; Die K&ouml;nigin
+fragte: &raquo;Sage mir, M&uuml;tterchen, wer du bist, da&szlig; du mir aus der
+Handfl&auml;che meine Herzensgedanken kund thun kannst?&laquo; Die Alte erwiederte:
+&raquo;Um meinen Namen ist es hier nicht zu thun, und ebenso wenig darum,
+welche Kraft mir eures Herzens geheime W&uuml;nsche kund macht; ich freue
+mich nur, da&szlig; es mir verg&ouml;nnt ist, euch auf die rechte Bahn zu bringen,
+und<span class='pagenum'><a name="Page_343" id="Page_343">[S 343]</a></span> eures Herzens Kummer zu mindern. Durch Zaubermacht ist euer Leib
+verschlossen, so da&szlig; ihr nicht eher Kinder zur Welt bringen k&ouml;nnt, bis
+die B&auml;nder des Verschlusses gel&ouml;st sind, und die nat&uuml;rliche
+Beschaffenheit wieder hergestellt ist. Ich kann dies bewirken, jedoch
+nur dann, wenn ihr Alles befolgt, was ich euch sagen werde.&laquo; &raquo;Alles will
+ich ja gern thun, und dich auch f&uuml;r deine M&uuml;he k&ouml;niglich belohnen, wenn
+du deine Versprechungen wahr machst,&laquo; sagte die K&ouml;nigin. &mdash; Die Alte
+stand eine Zeitlang in Gedanken und fuhr dann fort: &raquo;Heute &uuml;ber's Jahr
+sollt ihr sehen, da&szlig; meine Prophezeiungen eintreffen.&laquo; Mit diesen Worten
+zog sie ein in viele Lappen gewickeltes B&uuml;ndel aus dem Busen, und als
+die Lappen abgenommen waren, kam ein kleines K&ouml;rbchen von Birkenrinde
+zum Vorschein; sie gab es der K&ouml;nigin und sagte: &raquo;In dem K&ouml;rbchen findet
+ihr ein Vogelei;<a name="FNanchor_86_86" id="FNanchor_86_86"></a><a href="#Footnote_86_86" class="fnanchor">[86]</a> dieses br&uuml;tet drei Monate in eurem Schoo&szlig;e aus, bis
+ein lebendiges P&uuml;ppchen herauskommt, das einem menschlichen Kinde
+gleicht. Das P&uuml;ppchen legt in einen Wollkorb, und lasset es so lange
+wachsen, bis es die Gr&ouml;&szlig;e eines neugeborenen Kindes hat; Speise oder
+Trank braucht es nicht, das K&ouml;rbchen aber mu&szlig; immer an einem warmen Orte
+stehen. Neun Monate nach der Geburt des P&uuml;ppchens werdet ihr einen Sohn
+zur Welt bringen. An demselben Tage hat auch das P&uuml;ppchen die Gr&ouml;&szlig;e
+eines neugeborenen Kindes erreicht, nehmet es dann heraus, leget es
+neben den neugeborenen<span class='pagenum'><a name="Page_344" id="Page_344">[S 344]</a></span> Sohn in's Bette und lasset dem K&ouml;nige melden,
+da&szlig; Gott euch Zwillinge geschenkt habe, einen Sohn und eine Tochter. Den
+Sohn s&auml;uget an eurer Brust, f&uuml;r die Tochter aber m&uuml;&szlig;t ihr eine Amme
+nehmen. An dem Tage, wo beide Kinder zur Taufe gebracht werden, bittet
+mich, bei der Tochter Pathenstelle zu vertreten. Das macht ihr so: Auf
+dem Boden des K&ouml;rbchens findet ihr unter der Wolle einen Flederwisch,
+den blaset zum Fenster hinaus, dann erhalte ich augenblicklich die
+Botschaft und komme, bei eurem T&ouml;chterchen Gevatter zu stehen. Von dem,
+was euch jetzt begegnet ist, d&uuml;rft ihr Niemanden etwas sagen.&laquo; Ehe noch
+die K&ouml;nigin ein Wort erwiedern konnte, eilte die hinkende Alte davon,
+und nachdem sie zehn Schritte gemacht hatte, war von einer Alten keine
+Spur mehr, sondern statt derselben schritt ein junges Weib in aufrechter
+Haltung so rasch dahin, da&szlig; sie mehr zu fliegen als zu gehen schien. Die
+K&ouml;nigin aber konnte sich von ihrer Verwunderung noch nicht erholen, und
+w&uuml;rde Alles f&uuml;r einen Traum gehalten haben, wenn nicht das K&ouml;rbchen in
+ihrer Hand bezeugt h&auml;tte, da&szlig; die Sache wirklich vorgefallen war. Sie
+f&uuml;hlte ihr Herz mit einem Male wunderbar erleichtert. Sie trat in ihr
+Gemach, wickelte das K&ouml;rbchen, in welchem ein kleines Ei in feiner Wolle
+lag, in seidene T&uuml;cher und steckte es in ihren Busen, wie das M&uuml;tterchen
+vorgeschrieben hatte. Auch alles Uebrige gelobte sie sich zu erf&uuml;llen
+und das Geheimni&szlig; zu bewahren.</p>
+
+<p>Gerade als der letzte Tag der zweiten Woche nach dem Besuche der Alten
+zu Ende ging, kehrte der K&ouml;nig zur&uuml;ck und rief schon von fern der Frau
+die frohe Nachricht zu: &raquo;Mein Heer hat einen vollst&auml;ndigen Sieg davon<span class='pagenum'><a name="Page_345" id="Page_345">[S 345]</a></span>
+getragen und den Feind mit blutigen K&ouml;pfen heimgeschickt, so da&szlig; unsere
+Unterthanen f&uuml;r's erste Ruhe haben werden.&laquo; So war die erste
+Prophezeiung der Alten vollst&auml;ndig eingetroffen, und dadurch befestigte
+sich im Herzen der K&ouml;nigin die Hoffnung, da&szlig; auch die &uuml;brigen
+Prophezeiungen in Erf&uuml;llung gehen w&uuml;rden. Sie h&uuml;tete das K&ouml;rbchen mit
+dem Ei in ihrem Busen wie ein Kleinod, und lie&szlig; ein goldenes K&auml;stchen
+machen, in welches sie das K&ouml;rbchen legte, damit das Eichen nicht etwa
+besch&auml;digt w&uuml;rde. Nach drei Monaten schl&uuml;pfte aus dem Ei ein lebendiges
+P&uuml;ppchen von halber Fingerl&auml;nge, welches der Vorschrift gem&auml;&szlig; in den
+Wollkorb gelegt wurde, um zu wachsen. So war auch die zweite
+Prophezeiung wahr geworden, und die K&ouml;nigin harrte nun mit Spannung der
+Zeit, wo ihr Herz zum ersten Male Mutterfreuden schmecken sollte. Und in
+der That brachte sie nach Jahresfrist ein S&ouml;hnlein zur Welt, wie das
+alte M&uuml;tterchen vorhergesagt hatte. Da nahm sie das M&auml;gdlein aus dem
+Wollkasten, legte es neben den Sohn in die Wiege, und lie&szlig; dem K&ouml;nige
+sagen, da&szlig; sie Zwillinge geboren habe, einen Sohn und eine Tochter. Die
+Freude des K&ouml;nigs und seiner Unterthanen kannte keine Grenzen. &mdash; Alle
+glaubten fest daran, da&szlig; die K&ouml;nigin mit Zwillingen niedergekommen sei.
+An dem Tage, wo die Kinder getauft werden sollten, &ouml;ffnete die K&ouml;nigin
+ein wenig das Fenster und lie&szlig; den Flederwisch fliegen, um die
+Taufmutter f&uuml;r die Tochter herbeizuschaffen, denn sie war &uuml;berzeugt, die
+Gevatterin w&uuml;rde zur rechten Zeit da sein. Als die eingeladenen
+Taufg&auml;ste schon alle beisammen waren, fuhr eine pr&auml;chtige Kutsche mit
+sechs dotterfarbigen Rossen vor, und aus der Kutsche<span class='pagenum'><a name="Page_346" id="Page_346">[S 346]</a></span> stieg eine junge
+Frau in rosenrothen goldgestickten seidenen Gew&auml;ndern, die einen Glanz
+verbreiteten, der mit dem Glanze der Sonne wetteiferte; das Antlitz
+hatte sie mit einem feinen Schleier verh&uuml;llt. Als sie eintrat, nahm sie
+den Schleier ab, und Alle mu&szlig;ten staunend bekennen, da&szlig; sie in ihrem
+Leben noch keine sch&ouml;nere Jungfrau gesehen h&auml;tten. Die sch&ouml;ne Jungfrau
+nahm nun das T&ouml;chterchen auf ihre Arme und trug es zur Taufe, in welcher
+dem Kinde der Name <em class="gesperrt">Dotterine</em> beigelegt wurde, was freilich Niemanden
+verst&auml;ndlich war, als der K&ouml;nigin, da ja das Kind wie ein Vogeljunges
+aus einem Eidotter geboren war. Taufvater des Sohnes war ein vornehmer
+Herr, und das Kn&auml;blein erhielt den Namen <em class="gesperrt">Willem</em>. Nach vollzogener Taufe
+lie&szlig; sich die Taufmutter von der K&ouml;nigin das K&ouml;rbchen mit den
+Eierschalen geben, legte das Kind in die Wiege und sagte heimlich zur
+K&ouml;nigin: &raquo;So lange die Kleine in der Wiege schl&auml;ft, mu&szlig; das K&ouml;rbchen
+neben ihr liegen, damit ihr nichts Uebles zusto&szlig;en kann, denn in dem
+K&ouml;rbchen ruht ihr Gl&uuml;ck. Darum h&uuml;tet diesen Schatz wie euren Augapfel,
+und sch&auml;rfet auch eurem T&ouml;chterchen, wenn es anf&auml;ngt zu begreifen, ein,
+da&szlig; es dieses unscheinbare Ding sorgf&auml;ltig in Acht nehmen mu&szlig;.&laquo; Sie
+sprach dann noch Manches mit der Mutter &uuml;ber die Erziehung ihrer Pathe,
+k&uuml;&szlig;te diese drei Mal, nahm Abschied, stieg in die Kutsche und fuhr
+davon. Niemand wu&szlig;te, woher sie gekommen war und wohin sie ging; auch
+die K&ouml;nigin gab auf Befragen keinen weiteren Bescheid als: es ist eine
+mir bekannte K&ouml;nigstochter aus fernem Lande.<span class='pagenum'><a name="Page_347" id="Page_347">[S 347]</a></span></p>
+
+<p>Die Kinder gediehen fr&ouml;hlich, Willem bei der Muttermilch und Dotterine
+an der Brust der Amme. Diese liebte das M&auml;gdlein so z&auml;rtlich, als w&auml;re
+es ihr leibliches Kind gewesen, und die K&ouml;nigin behielt sie de&szlig;halb nach
+der Entw&ouml;hnung als Kinderw&auml;rterin. Die kleine Dotterine wurde von Tage
+zu Tage h&uuml;bscher, so da&szlig; die &auml;lteren Leute meinten, sie w&uuml;rde einmal
+ihrer Taufmutter &auml;hnlich werden. Die Amme hatte zuweilen bemerkt, da&szlig; in
+der Nacht, wenn Alles schlief, eine fremde sch&ouml;ne Frau erschien, um den
+S&auml;ugling zu betrachten; als sie dies der K&ouml;nigin entdeckte, sch&auml;rfte ihr
+diese ein, gegen Niemanden von dem n&auml;chtlichen Gaste etwas verlauten zu
+lassen. Als die Zwillinge zwei Jahr alt waren, wurde die K&ouml;nigin
+pl&ouml;tzlich schwer krank; zwar wurden Aerzte von nah und fern
+herbeigerufen, aber sie konnten nicht helfen, denn f&uuml;r den Tod ist kein
+Kraut gewachsen. Die K&ouml;nigin f&uuml;hlte selbst, da&szlig; sie von Stunde zu Stunde
+dem Grabe immer n&auml;her kam, und lie&szlig; de&szlig;halb die W&auml;rterin und vormalige
+Amme der Dotterine rufen. Ihr, als der treuesten ihrer Dienerinnen,
+&uuml;bergab sie das Gl&uuml;cksk&ouml;rbchen mit den Eierschalen und sch&auml;rfte ihr ein,
+das verwunderliche Ding sorgf&auml;ltig in Acht zu nehmen. &raquo;Wenn mein
+T&ouml;chterchen,&laquo; so sagte die K&ouml;nigin, &raquo;zehn Jahr alt ist, dann h&auml;ndige ihr
+das Kleinod ein, und ermahne sie, es zu h&uuml;ten, weil es das Gl&uuml;ck ihrer
+Zukunft birgt. Um meinen Sohn sorge ich nicht, ihn, als des Reiches
+Erben, wird der K&ouml;nig unter seine Obhut nehmen.&laquo; Die W&auml;rterin mu&szlig;te ihr
+dann eidlich versprechen, das Geheimni&szlig; vor jedermann zu bewahren.
+Darauf lie&szlig; sie den K&ouml;nig an ihr Bett rufen und bat ihn, er m&ouml;ge die<span class='pagenum'><a name="Page_348" id="Page_348">[S 348]</a></span>
+gewesene Amme Dotterinen's ihr als W&auml;rterin und Dienerin lassen, so
+lange als Dotterine es w&uuml;nschen w&uuml;rde. Der K&ouml;nig versprach es; noch
+denselben Abend gab seine Gemahlin ihren Geist auf.</p>
+
+<p>Nach einigen Jahren freite der verwittwete K&ouml;nig wieder, und brachte
+eine junge Frau in's Haus, die sich aus dem gealterten Gemahl nichts
+machte, sondern ihn nur aus Ehrgeiz genommen hatte. Die Kinder der
+ersten Frau konnte sie nicht vor Augen sehen, we&szlig;halb der K&ouml;nig sie an
+einem abgesonderten Orte aufziehen lie&szlig;, wo Dotterinen's fr&uuml;here Amme
+m&uuml;tterlich f&uuml;r sie sorgte. Kamen die Kinder einmal zuf&auml;llig der
+Stiefmutter zu Gesicht, so stie&szlig; sie dieselben wie junge Hunde mit dem
+Fu&szlig;e fort, so da&szlig; die Kinder sie scheuten wie das Feuer. Als Dotterine
+das Alter von zehn Jahren erreicht hatte, h&auml;ndigte ihr die Amme das
+Pathengeschenk ein, und ermahnte sie, dasselbe wohl in Acht zu nehmen.
+Da das Geschenk aber dem Kinde so gar unansehnlich vorkam, so gab es
+nicht viel darauf, legte es zu den &uuml;brigen von der Mutter geerbten
+Sachen in den Kasten, und dachte nicht weiter daran. Dar&uuml;ber waren
+wieder ein Paar Jahre hingegangen, als eines Tages, da der K&ouml;nig sich
+entfernt hatte, die Stiefmutter Dotterine im Garten unter einer Linde
+sitzen fand: wie ein Habicht fuhr sie auf das Kind los, ri&szlig; es an den
+Ohren und schlug es, da&szlig; Blut aus Mund und Nase flo&szlig;. Weinend lief das
+M&auml;dchen in ihr Gemach, und als sie die Amme dort nicht fand, fiel ihr
+mit einem Male das Pathengeschenk ein. Sie nahm es aus dem Kasten und
+wollte nun zu ihrer Zerstreuung sehen, was denn wohl darin w&auml;re. Aber
+sie fand im K&ouml;rbchen keinen<span class='pagenum'><a name="Page_349" id="Page_349">[S 349]</a></span> gr&ouml;&szlig;eren Schatz als eine Handvoll feine
+Schafwolle und ein paar leere Eierschalen. Unter der Wolle auf dem
+Grunde des K&ouml;rbchens lag ein Flederwisch. Als nun das M&auml;dchen am
+ge&ouml;ffneten Fenster die wertlosen Sachen betrachtete, verursachte es
+einen Luftzug, der den Flederwisch fort blies. Augenblicklich stand eine
+fremde sch&ouml;ne Frau neben Dotterinen, streichelte ihr Kopf und Wangen und
+sagte freundlich: &raquo;F&uuml;rchte dich nicht, liebes Kind, ich bin deine
+Taufmutter, und bin hergekommen, dich zu sehen. Deine vom Weinen
+angeschwollenen Augen sagen mir, da&szlig; du traurig bist. Ich wei&szlig;, da&szlig; das
+Leben, welches du unter dem Joche deiner Stiefmutter f&uuml;hrst, nicht
+leicht ist, allein halte aus und bleibe brav in allen Anfechtungen, dann
+werden einst bessere Tage f&uuml;r dich anbrechen. Wenn du erwachsen bist,
+hat deine Stiefmutter keine Gewalt mehr &uuml;ber dich, und eben so wenig
+k&ouml;nnen andere b&ouml;se Menschen dir schaden, wenn du dein K&ouml;rbchen nicht
+verloren gehen l&auml;ssest; auch die Eierschalen darfst du nicht abhanden
+kommen lassen, zu rechter Zeit werden sie sich wieder zu einem Eichen
+zusammenf&uuml;gen, und dann wird dein Gl&uuml;ck erbl&uuml;hen. N&auml;he dir ein seidenes
+S&auml;ckchen, stecke das K&ouml;rbchen hinein und verwahre es Tag und Nacht im
+Busen, so k&ouml;nnen dir weder deine Stiefmutter noch andere Menschen etwas
+B&ouml;ses anhaben. Sollte dir aber irgend etwas zusto&szlig;en, wobei du ohne
+meinen Rath nicht durchkommen zu k&ouml;nnen glaubst, so nimm den Flederwisch
+aus dem K&ouml;rbchen und blase ihn in's Freie; dann werde ich augenblicklich
+da sein, dir zu helfen. Komm jetzt in den Garten, da k&ouml;nnen wir uns
+unter der Linde weiter unterhalten, ohne da&szlig; ein Anderer es h&ouml;rt.&laquo; Unter
+der<span class='pagenum'><a name="Page_350" id="Page_350">[S 350]</a></span> Linde setzten sie sich auf eine Rasenbank und die Taufmutter wu&szlig;te
+der Kleinen durch anmuthiges Gespr&auml;ch die Zeit so gut zu verk&uuml;rzen, da&szlig;
+sie nicht merkte, wie die Sonne schon l&auml;ngst untergegangen war und die
+Nacht hereinbrach. Da sagte die Taufmutter: &raquo;Reiche mir das K&ouml;rbchen,
+ich will etwas Abendbrot besorgen, damit du nicht mit leerem Magen
+schlafen zu gehen brauchst.&laquo; Sie sprach dann heimliche Worte &uuml;ber das
+K&ouml;rbchen, worauf ein Tisch mit wohlschmeckenden Speisen aus dem Boden
+stieg. Beide a&szlig;en sich satt, dann begleitete die Taufmutter Dotterinen
+wieder zum Hause des K&ouml;nigs, und lehrte ihr w&auml;hrend dieses Ganges die
+geheimen Worte, welche sie dem K&ouml;rbchen zufl&uuml;stern m&uuml;sse, wenn sie etwas
+zu begehren h&auml;tte. Seltsam war es, da&szlig; von da an die Stiefmutter ihrer
+Stieftochter kein b&ouml;ses Wort mehr gab, sondern fast immer freundlich
+gegen sie war.</p>
+
+<p>Nach einigen Jahren war Dotterine zur reifen Jungfrau herangewachsen,
+und ihre Sch&ouml;nheit und Wohlgestalt war so blendend, da&szlig; man glaubte, es
+gebe ihres Gleichen nicht auf der Welt. Da brach ein schwerer Krieg aus,
+der von Tag zu Tage schlimmer wurde, bis zuletzt der Feind vor die
+K&ouml;nigsstadt zog und sie mit Heeresmacht einschlo&szlig;, so da&szlig; keine Seele
+heraus noch herein kommen konnte. Der Hunger begann die Einwohner zu
+qu&auml;len, und auch in des K&ouml;nigs Hause drohte binnen wenigen Tagen der
+Mundvorrath auszugehen. &mdash; Da lie&szlig; Dotterine eines Tages ihren
+Flederwisch fliegen, und siehe da! augenblicklich war die Taufmutter bei
+ihr. Als die K&ouml;nigstochter ihr die Noth und das Elend geklagt hatte,
+sagte die Taufmutter: &raquo;Dich, liebes Kind, kann ich wohl aus<span class='pagenum'><a name="Page_351" id="Page_351">[S 351]</a></span> dieser
+Gefahr erretten, f&uuml;r die andern aber reicht meine H&uuml;lfe nicht aus, sie
+m&uuml;ssen selber sehen, wie sie durchkommen.&laquo; Darauf nahm sie Dotterinen
+bei der Hand und f&uuml;hrte sie aus der Stadt mitten durch das Heer der
+Feinde, deren Augen sie so verblendet hatte, da&szlig; Niemand die Fl&uuml;chtlinge
+sehen konnte. Am folgenden Tage fiel die Stadt in die Hand der Feinde,
+und der K&ouml;nig mit seinem ganzen Hause wurde gefangen genommen, sein Sohn
+Willem aber war gl&uuml;cklich entronnen. Die K&ouml;nigin hatte durch einen
+feindlichen Speer den Tod gefunden. F&uuml;r Dotterine hatte die Taufmutter
+Bauernkleider besorgt, und ihr Antlitz so ver&auml;ndert, da&szlig; Niemand sie
+erkennen konnte. &raquo;Wenn einst wieder eine bessere Zeit kommt,&laquo; sagte die
+Taufmutter, &raquo;und du dich sehnst, in deiner fr&uuml;heren Gestalt vor die
+Leute zu treten, dann fl&uuml;stere dem K&ouml;rbchen die geheimen Worte zu und
+gebiete ihm, dich in deine eigene Gestalt zur&uuml;ck zu verwandeln; und es
+wird so geschehen. Jetzt ertrage eine Zeitlang geduldig schwere Tage,
+bis die Lage sich bessert.&laquo; Scheidend ermahnte sie noch das M&auml;dchen, das
+K&ouml;rbchen gut in Acht zu nehmen, und entfernte sich dann. Dotterine
+wanderte mehrere Tage von einem Orte zum andern umher, da aber der Feind
+die ganze Umgegend verw&uuml;stet hatte, so fand sie anfangs weder Obdach
+noch Dienst. Zwar bot ihr das K&ouml;rbchen ihre t&auml;gliche Nahrung, aber sie
+wollte doch nicht so auf eigene Hand weiter leben, und nahm de&szlig;halb mit
+Freuden einen Dienst als Magd in einem Bauerhofe an, wo sie so lange zu
+bleiben gedachte, bis die Dinge sich wenden w&uuml;rden. Anfangs wurde die
+ungewohnte grobe Arbeit Dotterinen sehr schwer, weil sie sich eben noch
+niemals<span class='pagenum'><a name="Page_352" id="Page_352">[S 352]</a></span> damit abgegeben hatte. Aber war es nun, da&szlig; ihre Gliedma&szlig;en
+sich wirklich so schnell abh&auml;rteten, oder da&szlig; das Wunderk&ouml;rbchen ihr
+heimlich half &mdash; nach drei Tagen ging ihr Alles so gut von der Hand, als
+w&auml;re sie von Kindesbeinen an dabei aufgewachsen. An ihr wurde das alte
+Wort zu Schanden, welches sagt: &raquo;Man kann wohl aus einem Bauern eine
+Herrschaft, aber aus einer Herrschaft keinen Bauern machen.&laquo; Da traf es
+sich, da&szlig; eines Tages eine Edelfrau durchs Dorf fuhr, als Dotterine
+gerade auf dem Hofe Holzgef&auml;&szlig;e scheuerte. Des M&auml;dchens flinkes Thun und
+anmuthiges Wesen fesselte die Frau; sie lie&szlig; halten, rief das M&auml;dchen
+heran und fragte: &raquo;Hast du nicht Lust bei mir auf dem Gute in Dienst zu
+treten?&laquo; &raquo;Gern,&laquo; antwortete die K&ouml;nigstochter, &raquo;wenn meine jetzige
+Brotherrschaft mir Erlaubni&szlig; giebt.&laquo; Die Frau versprach die Sache mit
+dem Wirthe in Ordnung zu bringen, lie&szlig; das M&auml;dchen den Sitz hinter der
+Kutsche einnehmen und fuhr mit ihr auf's Gut. Hier hatte es Dotterine
+wieder leichter, denn ihre ganze Arbeit bestand darin, die Zimmer
+aufzur&auml;umen und der Frau und den Fr&auml;ulein beim Ankleiden beh&uuml;lflich zu
+sein. Nach einem halben Jahre kam die fr&ouml;hliche Kunde, da&szlig; des alten
+K&ouml;nigs Sohn, der den Feinden gl&uuml;cklich entkommen war, in der Fremde ein
+Heer gesammelt, mit welchem er sein K&ouml;nigreich dem Feinde wieder
+abgenommen habe, und da&szlig; er nun selber zum K&ouml;nige erhoben worden sei.
+Die Freudenbotschaft war aber zugleich von einer Todesbotschaft
+begleitet: der alte K&ouml;nig war im Gef&auml;ngni&szlig; gestorben. Da nun Dotterine
+Anderen ihren Kummer nicht zeigen durfte, so weinte sie heimlich bittere
+Thr&auml;nen &uuml;ber ihres<span class='pagenum'><a name="Page_353" id="Page_353">[S 353]</a></span> Vaters Tod, denn ein anderer als ihr Vater konnte ja
+doch der verstorbene K&ouml;nig nicht sein.</p>
+
+<p>Nach Ablauf des Trauerjahres lie&szlig; der junge K&ouml;nig verk&uuml;nden, da&szlig; er
+entschlossen sei, sich zu verm&auml;hlen. Es wurden deswegen von nah und fern
+alle Jungfrauen vornehmer Herkunft zu einem Feste in das Haus des K&ouml;nigs
+geladen, damit derselbe sich aus ihrer Mitte eine junge Frau w&auml;hlen
+k&ouml;nne, wie Auge und Herz sie begehrten. Auch die T&ouml;chter der Dame, bei
+welcher Dotterine diente, und die alle drei jung und bl&uuml;hend waren,
+r&uuml;steten sich zum Feste. Dotterine hatte jetzt einige Wochen vom Morgen
+bis zum Abend vollauf mit dem Putze der Fr&auml;ulein zu thun. In dieser Zeit
+tr&auml;umte ihr jede Nacht, ihre Taufmutter k&auml;me an ihr Bett und sagte:
+&raquo;Schm&uuml;cke erst deine Fr&auml;ulein zum Feste, und dann folge selber nach.
+Keine kann dort so schmuck und so sch&ouml;n sein wie du!&laquo; Je n&auml;her der Tag
+des Festes heranr&uuml;ckte, desto unruhiger wurde Dotterinen zu Muthe, und
+als die Frau mit ihren T&ouml;chtern davon gefahren war, warf sie sich mit
+dem Gesicht auf's Bett und vergo&szlig; bittere Thr&auml;nen. Da war's, als ob ihr
+eine Stimme zurief: &raquo;Nimm dein K&ouml;rbchen zur Hand, dann wirst du Alles
+finden, was du brauchst.&laquo; Dotterine sprang auf, nahm das K&ouml;rbchen aus
+dem Busen, sprach dar&uuml;ber die geheimen Worte, welche sie gelernt hatte,
+und siehe das Wunder! augenblicklich lagen prachtvolle goldgewirkte
+Gew&auml;nder auf dem Bette. Als sie sich dann das Gesicht wusch, erhielt sie
+ihr fr&uuml;heres Ansehen wieder, und als sie die pr&auml;chtigen Kleider angelegt
+hatte, und dann vor den Spiegel trat, erschrack sie selber &uuml;ber ihre
+Sch&ouml;nheit. Als sie die Treppe hinunter kam, fand sie<span class='pagenum'><a name="Page_354" id="Page_354">[S 354]</a></span> vor der Th&uuml;r eine
+stattliche Kutsche mit vier dotterfarbigen Pferden bespannt. Sie setzte
+sich ein und fuhr mit Windesschnelle fort, so da&szlig; sie in weniger als
+einer Stunde vor der Pforte des K&ouml;nigshauses angelangt war. Als sie eben
+aussteigen wollte, fand sie zu ihrem Schrecken, da&szlig; sie beim raschen
+Ankleiden das Gl&uuml;cksk&ouml;rbchen zu Hause vergessen hatte. Was jetzt
+beginnen? Schon entschlo&szlig; sie sich zur&uuml;ckzufahren, als eine kleine
+Schwalbe mit dem K&ouml;rbchen im Schnabel an's Kutschfenster geflogen kam.
+Erfreut nahm ihr Dotterine das K&ouml;rbchen aus dem Schnabel, steckte es in
+den Busen und h&uuml;pfte leicht wie ein Eichh&ouml;rnchen die Treppe hinauf.</p>
+
+<p>Im Festgemach funkelte Alles von Pracht und Sch&ouml;nheit, die vornehmen
+Fr&auml;ulein hatten ihren kostbarsten Schmuck angelegt, jede in der
+Hoffnung, da&szlig; des jungen K&ouml;nigs Auge auf sie fallen w&uuml;rde. Als aber
+pl&ouml;tzlich die Th&uuml;r sich &ouml;ffnete und Dotterine eintrat, da erbleichte der
+Andern Glanz wie der der Sterne beim Aufgang der Sonne, so da&szlig; der
+K&ouml;nigssohn nur noch diese Jungfrau sah. Einige &auml;ltere Personen, die sich
+noch dessen erinnerten, was vorgefallen war, als der K&ouml;nig mit seiner
+sp&auml;ter verschwundenen Schwester die Taufe erhielt, sprachen zu einander:
+&raquo;Diese Jungfrau kann gar wohl die Tochter jener unbekannten Dame sein,
+welche bei unseres alten K&ouml;nigs Tochter Gevatter stand.&laquo; Der K&ouml;nig kam
+Dotterinen nicht mehr von der Seite, und k&uuml;mmerte sich nicht um die
+&uuml;brigen G&auml;ste. Um Mitternacht geschah etwas Wunderbares: das Gemach war
+pl&ouml;tzlich wie in Wolken geh&uuml;llt, so da&szlig; man weder den Glanz der Lichter
+noch die Menschen sah. Nach einer kleinen Weile entwickelte<span class='pagenum'><a name="Page_355" id="Page_355">[S 355]</a></span> sich aus
+dem Nebel wieder Helligkeit und es erschien eine Frau, die keine andere
+war, als Dotterinens Taufmutter. Sie sprach zum jungen K&ouml;nige: &raquo;Das
+M&auml;dchen, welches neben dir steht, ist deine vermeintliche Schwester,
+welche mit dir zusammen getauft wurde, und an dem Tage verschwand, wo
+die Stadt in die H&auml;nde der Feinde fiel. Die Jungfrau ist aber nicht
+deine Schwester, sondern eines weit entfernten K&ouml;nigs Tochter, welche
+ich aus der Verzauberung erl&ouml;ste, und deiner verstorbenen Mutter zur
+Pflege &uuml;bergab.&laquo; Dann krachte es, da&szlig; die W&auml;nde zitterten, und in
+demselben Augenblick war die Taufmutter verschwunden, ohne da&szlig; jemand
+sah, wo sie hingekommen war. Der junge K&ouml;nig lie&szlig; sich am folgenden Tage
+mit Dotterinen trauen, worauf eine pr&auml;chtige Hochzeitsfeier folgte. Der
+K&ouml;nig lebte mit seiner Gemahlin sehr gl&uuml;cklich bis an sein Ende, aber
+Niemand hat je geh&ouml;rt, wohin das Gl&uuml;cksk&ouml;rbchen gekommen ist. Man meint,
+die Taufmutter habe es heimlich mitgenommen, als sie ihre Pathe das
+letzte Mal gesehen.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_356" id="Page_356">[S 356]</a></span></p>
+<h2>Anmerkungen</h2>
+
+<h4>von</h4>
+
+<h3>Reinhold K&ouml;hler und Anton Schiefner.</h3>
+
+
+<h4>1. Die Goldspinnerinnen.</h4>
+
+<p>Wie S. <a href='#Page_10'>10</a> eine Handvoll aus <em class="gesperrt">neunerlei</em> Arten gemischter Hexenkr&auml;uter zur
+Verfertigung des Hexenkn&auml;uels gebraucht wird, so k&ouml;mmt S. <a href='#Page_243'>243</a> ein Trank
+aus <em class="gesperrt">neunerlei</em> Kr&auml;utern vor, wovon ein J&uuml;ngling drei Tage hinter einander
+<em class="gesperrt">neun</em> L&ouml;ffel t&auml;glich erh&auml;lt. S. <a href='#Page_246'>246</a> w&auml;scht sich die H&ouml;llenjungfrau <em class="gesperrt">neun</em>
+mal ihr Gesicht in der Quelle und umwandelt sie <em class="gesperrt">neun</em> mal. S. <a href='#Page_262'>262</a> <em class="gesperrt">neun</em>
+Kinder. Die Heiligkeit und die h&auml;ufige Anwendung der Neunzahl ist
+bekanntlich uralt und weit verbreitet, namentlich auch bei den
+finnisch-tatarischen V&ouml;lkern. Vgl. Ph. J. v. Strahlenberg Das Nord- und
+Ostliche Theil von Europa und Asia, Stockholm 1730, S. 75-82, und
+Schiefner Die Heldensagen der Minussinschen Tataren S. <em class="antiqua">XXIX</em>. Auch in den
+in neuster Zeit von W. Radloff gesammelten Proben der Volksliteratur der
+t&uuml;rkischen St&auml;mme S&uuml;d-Sibiriens begegnet die Neunzahl sehr oft. Was
+insbesondere die <em class="gesperrt">neunerlei Kr&auml;uter</em> betrifft, so erw&auml;hnt Strahlenberg S.
+<a href='#Page_78'>78</a>, da&szlig; die Bauern in Liefland &raquo;gemeiniglich neunerlei Kr&auml;uter zu ihren
+Arzenei-Getr&auml;nken gebrauchen.&laquo; Auch im deutschen Aberglauben spielen die
+neunerlei Kr&auml;uter eine wichtige Rolle (A. Wuttke Der deutsche
+Volksaberglaube der<span class='pagenum'><a name="Page_357" id="Page_357">[S 357]</a></span> Gegenwart, 2. v&ouml;llig neue Bearbeitung, Berlin 1869,
+&sect;. 120, vgl. auch &sect;&sect;. 74, 85, 92, 253, 495, 528, 683). K.</p>
+
+
+<h4>3. Schnellfu&szlig;, Flinkhand und Scharfauge.</h4>
+
+<p>M&auml;rchen von Menschen mit derartigen wunderbaren Eigenschaften sind
+zahlreich. Viele derselben hat Benfey in seinem Aufsatz &raquo;Das M&auml;rchen von
+den Menschen mit den wunderbaren Eigenschaften&laquo; im Ausland 1858, Nr.
+41-45 zusammengestellt. Vgl. auch noch Jahrbuch f&uuml;r romanische und
+englische Literatur <em class="antiqua">VII</em>, 32. Das ehstnische M&auml;rchen ist eine durchaus
+eigenth&uuml;mliche Gestaltung des Stoffes. K.</p>
+
+<p>S. <a href='#Page_34'>34</a>, Z. 1 und 18 lese man &raquo;<em class="gesperrt">drei Eier eines schwarzen Huhns</em>.&laquo; Wie hier
+ein <em class="gesperrt">schwarzes</em> Huhn, so S. <a href='#Page_62'>62</a> ein <em class="gesperrt">schwarzer</em> Hund, S. <a href='#Page_70'>70</a> u. <a href='#Page_289'>289</a> eine
+<em class="gesperrt">schwarze</em> Katze, S. <a href='#Page_97'>97</a> ein <em class="gesperrt">schwarzes</em> Pferd, S. <a href='#Page_99'>99</a> <em class="gesperrt">schwarze</em> Ochsen. Sch.</p>
+
+<p>Der S. <a href='#Page_42'>42</a> vorkommende <em class="gesperrt">Goldapfelbaum</em>, von dem Gold&auml;pfel entwendet werden
+und bei dem nachts gewacht wird, bis der Dieb entdeckt wird, ist einem
+vielverbreiteten M&auml;rchen entnommen, welches man &raquo;das M&auml;rchen von dem
+Goldapfelbaum und von den drei K&ouml;nigss&ouml;hnen&laquo; betiteln kann. Es findet
+sich bei Grimm Nr. 57, v. Hahn Griechische und albanesische M&auml;rchen Nr.
+70, Schott Walachische M. Nr. 26, J. W. Wolf Zeitschrift f&uuml;r deutsche
+Mythologie <em class="antiqua">II</em>, 389 (aus der Bukowina), Wuk Serbische Volksm&auml;rchen Nr. 4,
+Waldau B&ouml;hmisches M&auml;rchenbuch S. 131, Glinski <em class="antiqua">Bajarz polski I</em>, 1, Vogl
+Die &auml;ltesten Volksm&auml;rchen der Russen Nr. 2 und nach Schiefners
+Mittheilung bei Afanasjew <em class="antiqua">VII</em>, 121 und Salmelainen <em class="antiqua">IV</em>, 45. In allen
+diesen M&auml;rchen sind es wunderbare V&ouml;gel, welche die Aepfel entwenden.
+Das masurische M&auml;rchen bei T&ouml;ppen Aberglauben aus Masuren, 2. Aufl., S.
+139, geh&ouml;rt nur dem Anfang nach her, verl&auml;uft aber dann in ein ganz
+andres M&auml;rchen. K.</p>
+
+<p>S. <a href='#Page_47'>47</a> w&auml;re statt &raquo;der Hexenmeister <em class="gesperrt">Piirisilla</em>&laquo; genauer zu &uuml;bersetzen
+&raquo;der Hexenmeister von <em class="gesperrt">Piirisild</em>&laquo; d. h. Gr&auml;nzbr&uuml;cke (Genitiv <em class="gesperrt">Piirisilla</em>).
+Vielleicht steckt in dem Piirisild eine Erinnerung an den Zauberer
+Virgilius. Letzterer ist sogar noch<span class='pagenum'><a name="Page_358" id="Page_358">[S 358]</a></span> in einem polnischen Kinderspiel
+bekannt, das dem englischen &raquo;Simon sagts&laquo; (s. Wagner Illustrirtes
+Spielbuch f&uuml;r Knaben, Leipzig O. Spamer, 2. Aufl., Nr. 714) zun&auml;chst
+kommt. Sch.</p>
+
+<p>S. <a href='#Page_51'>51</a>, Z. 4 ist mit dem ehstnischen Texte &uuml;bereinstimmend zu lesen
+&raquo;<em class="gesperrt">schwedische</em> Br&uuml;der&laquo;. Es zogen diese ja zu dem K&ouml;nige im <em class="gesperrt">Nordlande</em>, wie
+wir aus S. <a href='#Page_49'>49</a> Zeile 6 ersehen. Wir haben zugleich einen Fingerzeig &uuml;ber
+die Quelle des M&auml;rchens. So finden wir auch S. <a href='#Page_60'>60</a> den <em class="gesperrt">Schwedenk&ouml;nig</em>
+genannt. Sch.</p>
+
+
+<h4>4. Der Tontlawald.</h4>
+
+<p>In dem russischen M&auml;rchen &raquo;die sch&ouml;ne Wasilissa&laquo; (Afanasjew <em class="antiqua">IV</em>, 44) wird
+die Stieftochter in den Wald geschickt, um von der dort wohnenden Hexe
+(<em class="antiqua">Jag&aacute; bab&aacute;</em>) Feuer zu holen. Auf den Rath der ihr von der Mutter auf dem
+Sterbebett &uuml;bergebenen Puppe, mit der sie ihre Nahrung theilt, begiebt
+sie sich in den Wald und besteht dort alle Gefahren. Die Hexe giebt ihr
+einen Todtenkopf mit funkelnden Augen mit, welcher ihre Stiefschwestern
+zu Asche verbrennt.</p>
+
+<p>Gute Kenner der ehstnischen Gebr&auml;uche best&auml;tigen mir die S. <a href='#Page_74'>74</a> und <a href='#Page_177'>177</a>
+vorkommende Sitte, f&uuml;r die Todtenw&auml;chter zur Nacht Erbsen in Salz zu
+kochen. Sch.</p>
+
+
+<h4>5. Der Waise Handm&uuml;hle.</h4>
+
+<p>Au&szlig;er dem von Herrn L&ouml;we in der <a href='#Footnote_25_25'>Anmerkung auf S. 80</a> Angef&uuml;hrten verweise
+ich auf den Aufsatz &raquo;Ueber das Wort Sampo im finnischen Epos&laquo; im
+Bulletin der Petersburger Akademie <em class="antiqua">III</em>, 497-506 = <em class="antiqua">M&eacute;langes russes IV</em>,
+195-209, in welchem ich verschiedene auf Wunderm&uuml;hlen bez&uuml;gliche
+russische M&auml;rchen vorf&uuml;hre. Sch.</p>
+
+
+<h4>7. Wie eine Waise unverhofft ihr Gl&uuml;ck fand.</h4>
+
+<p>Dieses M&auml;rchen ist fr&uuml;her von Herrn Kreutzwald mir mitgeteilt und von
+mir im Bulletin <em class="antiqua">XVI</em>, 448-56 und 562-63<span class='pagenum'><a name="Page_359" id="Page_359">[S 359]</a></span> (= <em class="antiqua">M&eacute;langes russes IV</em>, 7-18) in
+dem Aufsatz &raquo;Zum Mythus vom Weltuntergange&laquo; ver&ouml;ffentlicht worden, wo
+auch das in finnischen M&auml;rchen Vorkommende verwandten Inhalts ber&uuml;hrt
+ist. Sch.</p>
+
+<p>Wie sich in diesem M&auml;rchen (S. <a href='#Page_95'>95</a> f.) ein ins Wasser geworfenes
+Klettenblatt in einen Nachen verwandelt, so verwandeln sich in Ariostos
+Rasendem Roland (<em class="antiqua">XXXIX</em>, 26-28) die von Astolf ins Meer geworfenen
+verschiedenen Bl&auml;tter in Schiffe. K.</p>
+
+
+<h4>8. Schlaukopf.</h4>
+
+<p>Dieses M&auml;rchen erinnert einigerma&szlig;en an die, welche ich im Jahrbuch f&uuml;r
+roman. und engl. Literatur <em class="antiqua">VII</em>, 137 f. zusammengestellt habe. Nach
+Schiefners Mittheilung geh&ouml;rt dazu noch ein finnisches (Salmelainen <em class="antiqua">IV</em>,
+126), wo Helli dem Bergkobold (<em class="antiqua">Wuoren peikko</em>) Pferd, Geld und goldene
+Decke stiehlt. K.</p>
+
+
+<h4>11. Der Zwerge Streit.</h4>
+
+<p>Der Streit der Erben (Geister, Teufel, Riesen, Zwerge, Menschen) um
+Wunschdinge, welche dann der von den Streitenden erw&auml;hlte Schiedsrichter
+sich aneignet, k&ouml;mmt oft in den M&auml;rchen des Morgen- und Abendlandes vor.
+N&auml;her darauf einzugehen ist hier nicht der Ort, nur folgendes sei
+bemerkt. Die Zahl der Wunschdinge ist h&auml;ufig drei, und darunter befinden
+sich sehr oft ein Paar Schuhe oder Stiefeln und ein Hut oder eine M&uuml;tze.
+Erstere bringen den Besitzer entweder, wie hier, sofort an einen
+gew&uuml;nschten Ort, oder er kann wenigstens in ihnen mit jedem Schritt
+Meilen (7-1000) zur&uuml;cklegen. Der Hut oder die M&uuml;tze hat meistens die
+Eigenschaft unsichtbar zu machen: da&szlig; der Tr&auml;ger des Hutes aber alles,
+auch das fernste und den gew&ouml;hnlichen Menschen sonst unsichtbare, sehen
+kann, ist dem ehstnischen M&auml;rchen eigen, ebenso wie der Alles
+schmelzende Stock. Zwar k&ouml;mmt unter den Wunschdingen in mehreren M&auml;rchen
+ein Stock oder eine Keule vor, aber nicht mit dieser Eigenschaft.<span class='pagenum'><a name="Page_360" id="Page_360">[S 360]</a></span></p>
+
+<p>Was den Umstand betrifft, da&szlig; der Hut aus N&auml;gelschnitzeln gemacht ist,
+so ist au&szlig;er dem <a href='#Footnote_59_59'>S. 143, Anm. 1</a> Bemerkten noch auf Schiefners
+Mittheilung im Bulletin <em class="antiqua">II</em>, 293 zu verweisen, da&szlig; die Lithauer in
+Samogitien ihre N&auml;gelschnitzel nicht wegwerfen, sondern an ihrem Leibe
+verwahren, aus Furcht, der Teufel k&ouml;nne dieselben auflesen und sich
+einen Hut daraus machen. Schiefner erinnert auch an das aus
+N&auml;gelschnitzeln Todter gebildete Todtenschiff Naglfari in der Edda.</p>
+
+<p>Da&szlig; Zwerge bei Hochzeiten unsichtbar mitessen, k&ouml;mmt &ouml;fters in deutschen
+Sagen vor, z. B. in B&uuml;schings W&ouml;chentlichen Nachrichten <em class="antiqua">I</em>, 73,
+M&uuml;llenhoff Sagen, M&auml;rchen und Lieder aus Schleswig u. s. w. S. 280, Nr.
+380, Kuhn und Schwartz Norddeutsche Sagen Nr. 189, 4; 270, 2; 291. K.</p>
+
+
+<h4>13. Wie eine K&ouml;nigstochter sieben Jahre geschlafen.</h4>
+
+<p>Man vgl. das finnische M&auml;rchen aus Salmelainens Sammlung in Ermans
+Archiv f&uuml;r wissenschaftliche Kunde von Ru&szlig;land <em class="antiqua">XIII</em>, 483, das masurische
+bei T&ouml;ppen Aberglauben aus Masuren S. 148, das von Chavannes in der
+Sammelschrift &raquo;Die Wissenschaften im 19. Jahrhundert&laquo; <em class="antiqua">IX</em>, 100
+mitgetheilte russische, das polnische bei Glinski <em class="antiqua">Bajarz polski I</em>, 38,
+das tiroler bei Zingerle Tirols Volksdichtungen und Volksgebr&auml;uche <em class="antiqua">II</em>,
+395. Alle diese M&auml;rchen gehen gleich dem ehstnischen davon aus, da&szlig; ein
+sterbender Vater seine drei S&ouml;hne auffordert, nach seinem Tode der Reihe
+nach je eine Nacht auf seinem Grabe zuzubringen, welcher Aufforderung
+jedoch die beiden &auml;ltesten nicht nachkommen, w&auml;hrend der j&uuml;ngste, der
+als D&uuml;mmling gilt, alle drei N&auml;chte auf dem v&auml;terlichen Grabe wacht. Die
+Hand der K&ouml;nigstochter soll im finnischen M&auml;rchen der erhalten, welcher
+sein Pferd bis ans dritte Stockwerk der Hofburg springen lassen und der
+da sitzenden Prinzessin einen Ku&szlig; geben kann; im masurischen, wer zu
+Pferde zweimal in das vierte Stockwerk des Schlosses zur Prinzessin
+gelangen kann; im russischen, wer zu Pferde der im dritten Stockwerk
+sitzenden Prinzessin einen Ku&szlig; geben, oder nach Vari<span class='pagenum'><a name="Page_361" id="Page_361">[S 361]</a></span>anten: wer &uuml;ber
+zw&ouml;lf Glastafeln oder &uuml;ber so und so viel Balken zu ihr oder ihrem Bild
+zu Pferd gelangen kann; im tiroler, wer einen steilen Felsen empor
+reiten kann; im polnischen, wer in Ritterspielen siegt. In einigen der
+zahlreichen, sonst &auml;hnlichen M&auml;rchen, in denen jedoch die Nachtwachen
+auf dem Grabe des Vaters fehlen, mu&szlig;, wie im ehstnischen, der Bewerber
+um die Hand der K&ouml;nigstochter einen Glasberg hinaufreiten (Sommer Sagen,
+M&auml;rchen und Gebr&auml;uche aus Sachsen und Th&uuml;ringen <em class="antiqua">I</em>, 96, Asbj&ouml;rnsen und
+Mo&euml; Norske Folkeeventyr Nr. 52, Grundtvig Gamle danske Minder i
+Folkemunde <em class="antiqua">I</em>, 211, M&uuml;llenhoff Sagen, M&auml;rchen und Lieder aus Schleswig u.
+s. w. S. 437, Anmerk. zu Nr. <em class="antiqua">XIII</em>). In fast allen hierher geh&ouml;rigen
+M&auml;rchen macht der D&uuml;mmling von seinem Siege zun&auml;chst keinen Gebrauch,
+begibt sich vielmehr unerkannt nach Hause und wird erst nach einiger
+Zeit, meist ohne sein Zuthun, als der gesuchte Sieger erkannt. In diesem
+Punkte ist das ehstnische M&auml;rchen entstellt. Durchaus eigent&uuml;mlich dem
+ehstnischen M&auml;rchen sind der siebenj&auml;hrige Schlaf der K&ouml;nigstochter und
+der Umstand, da&szlig; der Bauernsohn ein vertauschter Prinz ist. K.</p>
+
+<p>Da&szlig; der Glaskasten, in dem die K&ouml;nigstochter ruht, und der Glasberg
+Nachkl&auml;nge der altnordischen Brynhildr-Mythe sind, bemerke ich, indem
+ich kurz auf Mannhardt Germanische Mythen S. 333 verweise, woselbst man
+auch das hierher geh&ouml;rige d&auml;nische Volkslied citiert findet, demzufolge
+Sigfrid den Glasberg hinaufreitet. Es ist sehr wahrscheinlich, da&szlig; der
+in der russischen Heldensage r&auml;thselhaft dastehende Swjatogor (ob nicht
+entstellt aus Sigurd?), der sein Weib in einem Krystall-Schrein auf den
+Schultern tr&auml;gt (Rybnikow <em class="antiqua">I</em>, 37), hierher zu ziehen ist. Wie sehr
+Verunstaltungen im Laufe der Zeit entstehen k&ouml;nnen, erkennt man leicht,
+wenn man bedenkt, wie die dem Swjatogor vom Schicksal bestimmte Braut im
+Land am Meeresstrand drei&szlig;ig Jahre auf einem Misthaufen ruht und ihr
+Leib wie Tannenrinde aussieht; vgl. meinen Aufsatz &raquo;Zur russischen
+Heldensage&laquo; im Bulletin <em class="antiqua">IV</em>, 273-85 = <em class="antiqua">M&eacute;langes russes IV</em>, 230-48. In dem
+M&auml;rchen &raquo;der Krystallberg&laquo; bei Afanasjew <em class="antiqua">VII</em>, 209, kriecht der
+K&ouml;nigssohn Iwan in Gestalt einer Ameise in den<span class='pagenum'><a name="Page_362" id="Page_362">[S 362]</a></span> Krystallberg, in welchen
+der zw&ouml;lfk&ouml;pfige Drache die K&ouml;nigstochter entf&uuml;hrt hatte; er t&ouml;dtet den
+Drachen und findet in dessen rechter Seite einen Kasten, in dem Kasten
+einen Hasen, in dem Hasen eine Ente, in der Ente ein Ei, in dem Ei ein
+Samenkorn; dieses z&uuml;ndet er an und bringt es zum Krystallberg, der
+alsbald zerschmilzt. Sch.</p>
+
+
+<h4>14. Der dankbare K&ouml;nigssohn.</h4>
+
+<p>Man vgl. die von mir in Benfeys Orient und Occident <em class="antiqua">II</em>, 103-114
+zusammengestellten M&auml;rchen, denen man noch Haltrich Volksm&auml;rchen aus dem
+Sachsenlande in Siebenb&uuml;rgen Nr. 26, v. Hahn Griechische und
+albanesische M&auml;rchen Nr. 54, Glinski <em class="antiqua">Bajarz polski I</em>, 109, Kletke
+M&auml;rchensaal <em class="antiqua">II</em>, 71, Schneller M&auml;rchen aus W&auml;lschtirol Nr. 27 beif&uuml;ge. In
+allen diesen M&auml;rchen ger&auml;th ein J&uuml;ngling &mdash; meistens in Folge eines
+erzwungenen oder erlisteten Versprechens seines Vaters &mdash; in die Gewalt
+eines feindlichen Wesens (Teufel, D&auml;mon, Geist, Riese, Meerfrau,
+Zauberer, Hexe) und trifft da eine Jungfrau &mdash; in den meisten M&auml;rchen
+die Tochter jenes Wesens &mdash;, durch deren Hilfe er die ihm aufgegebenen
+schweren Arbeiten verrichtet und die dann mit ihm entflieht. Die meisten
+M&auml;rchen schlie&szlig;en aber nicht hiermit, sondern sie erz&auml;hlen noch, wie der
+J&uuml;ngling seine Retterin in Folge der Uebertretung einer ihm von ihr
+gegebenen Vorschrift eine Zeitlang vergi&szlig;t. &mdash; Wie im ehstnischen
+M&auml;rchen der verirrte K&ouml;nig dem Teufel das versprechen mu&szlig;, was ihm auf
+seinem Hof zuerst entgegen k&ouml;mmt, so m&uuml;ssen in dem entsprechenden
+M&auml;rchen bei M&uuml;llenhoff Nr. 6 die verirrten Eltern dasselbe versprechen,
+und in dem parallelen schwedischen M&auml;rchen bei Cavallius Nr. <em class="antiqua">XIV</em>, <em class="antiqua">A</em>, mu&szlig;
+der K&ouml;nig in seinem Schiff dem Meerweib das versprechen, was ihm am
+Strande zuerst begegne. In andern der hierher geh&ouml;rigen M&auml;rchen wird das
+verlangt und versprochen, was man zu Hause habe, ohne es zu wissen
+(Glinski, Kletke), oder was die K&ouml;nigin unter dem G&uuml;rtel tr&auml;gt
+(Cavallius Nr. <em class="antiqua">XIV</em>, <em class="antiqua">B</em>), oder der Sohn wird geradezu verlangt (Campbell,
+v. Hahn); bei<span class='pagenum'><a name="Page_363" id="Page_363">[S 363]</a></span> Haltrich endlich wird &raquo;en noa Sil&laquo; verlangt, was ein
+neues Seil und eine neue Seele bedeutet.<a name="FNanchor_87_87" id="FNanchor_87_87"></a><a href="#Footnote_87_87" class="fnanchor">[87]</a> &mdash; Dem ehstnischen M&auml;rchen
+ganz eigent&uuml;mlich ist die Vertauschung des K&ouml;nigssohn mit der
+Bauerntochter. Auch die Aufgaben, die im ehstnischen M&auml;rchen der Teufel
+gibt, sind andere als in den &uuml;brigen M&auml;rchen. &mdash; Da&szlig; die Jungfrau sich
+und ihren Sch&uuml;tzling auf der Flucht verwandelt, k&ouml;mmt in mehreren der
+parallelen M&auml;rchen vor, insbesondere die Verwandlung in Rosenstrauch und
+Rose bei Grimm Nr. 113 und M&uuml;llenhoff Nr. 6, auch in den theilweis
+hierher geh&ouml;rigen M&auml;rchen bei Wolf deutsche Hausm&auml;rchen S. 292 und
+Waldau B&ouml;hmisches M&auml;rchenbuch S. 268, die in Wasser und Fisch bei Grimm
+Nr. 113. K.</p>
+
+<p>Wie S. <a href='#Page_194'>194</a> der K&ouml;nigssohn statt seiner Hand eine gl&uuml;hende Schaufel
+reicht, so in einem russischen Heldenlied Ilja von Murom dem blinden
+Vater Swjatogors ein St&uuml;ck erhitztes Eisen (Rybnikow <em class="antiqua">III</em>, 6). Sch.</p>
+
+
+<h4>15. R&otilde;ugatajas Tochter.</h4>
+
+<p>In dem finnischen M&auml;rchen &raquo;die wunderliche Birke (Salmelainen <em class="antiqua">I</em>, 76) hat
+die b&ouml;se Sy&ouml;j&auml;t&auml;r die vom K&ouml;nigssohne geheirathete Tuhkimus
+(Aschenbr&ouml;del) in eine Rennthierkuh verwandelt; in dieser Gestalt stillt
+sie ihr Kind; die Rennthierhaut wird vom K&ouml;nigssohn verbrannt; Sy&ouml;j&auml;t&auml;r
+und ihre Tochter kommen in der Badstube um. Sch.</p>
+
+<p>Insofern in beiden M&auml;rchen die abgelegte Thierhaut verbrannt wird,
+ber&uuml;hren sie sich mit den zahlreichen, &uuml;brigens anders verlaufenden
+M&auml;rchen von der verbrannten Thierh&uuml;lle. Vgl. Benfey Pantschatantra <em class="antiqua">I</em>,
+254 und meine Zusammenstellung im Jahrbuch f&uuml;r roman. und englische
+Literatur <em class="antiqua">VII</em>, 254 ff., die sich noch vermehren l&auml;&szlig;t. K.<span class='pagenum'><a name="Page_364" id="Page_364">[S 364]</a></span></p>
+
+
+<h4>16. Die Meermaid.</h4>
+
+<p>Die ehstnische Ueberschrift &raquo;<em class="gesperrt">N&auml;kineitsi</em>&laquo; d. i. buchst&auml;blich
+&raquo;N&auml;k-M&auml;dchen&laquo; (Nixe) weist auf schwedischen Ursprung des M&auml;rchens hin.
+Sch.</p>
+
+<p>Man vergleiche die bekannte franz&ouml;sische, fast in ganz Europa, auch in
+<em class="gesperrt">Schweden</em> zum Volksbuch gewordene Dichtung von der Melusine, die alle
+Sonnabende<a name="FNanchor_88_88" id="FNanchor_88_88"></a><a href="#Footnote_88_88" class="fnanchor">[88]</a> vom Nabel abw&auml;rts zur Schlange wurde und welcher Graf
+Raimund vor seiner Verm&auml;hlung mit ihr versprechen mu&szlig;te, sie nie
+Sonnabends sehen zu wollen.</p>
+
+<p>Wenn Schlaf-T&ouml;nnis aus dem Reich der Meermaid als Greis auf die Erde
+zur&uuml;ckkehrt, so beruht dies auf dem Glauben, da&szlig; Sterblichen im Elfen-
+oder Feen-Lande die Zeit, ihnen unbewu&szlig;t, mit rei&szlig;ender Geschwindigkeit
+verflie&szlig;t. So glaubt Thomas der Reimer bei der Elfenk&ouml;nigin drei Tage
+gewesen zu sein, w&auml;hrend doch drei Jahre verflossen sind. (W. Scott
+<em class="antiqua">Border Minstrelsy</em>, <em class="antiqua">Edinburgh 1861</em>, <em class="antiqua">IV</em>, 127). Ein schwedischer Ritter ist
+40 Jahre im Elfenland gewesen und glaubt nur eine Stunde da verbracht zu
+haben (Afzelius Volkssagen und Volkslieder aus Schwedens &auml;lterer und
+neuerer Zeit, &uuml;bersetzt von Ungewitter <em class="antiqua">II</em>, 297). Vgl. auch das M&auml;rchen
+aus Wales bei Rodenberg Ein Herbst in Wales S. 128 und die
+Kiffh&auml;user-Sagen bei A. Witzschel Sagen aus Th&uuml;ringen Nr. 277 und 278.
+Legenden erz&auml;hlen Gleiches von Menschen, die im Paradies gewesen sind.
+Vgl. Liebrechts Anmerkung zu Dunlop a. a. O. S. 543 und W. Menzel
+Christliche Symbolik <em class="antiqua">II</em>, 194 ff. K.</p>
+
+
+<h4>18. Der Nordlands-Drache.</h4>
+
+<p>Ueber den <em class="gesperrt">Ring Salomonis</em> vgl. Eisenmenger Entdecktes Judenthum S. 351
+ff., J. v. Hammer Rosen&ouml;l <em class="antiqua">I</em>, 171 ff., G. Weil Biblische Legenden der
+Muselm&auml;nner S. 231 und 271 ff.,<span class='pagenum'><a name="Page_365" id="Page_365">[S 365]</a></span> F. Liebrecht Des Gervasius von Tilbury
+<em class="antiqua">Otia imperialia</em> S. 77. In einem M&auml;rchen der 1001 Nacht (Der Tausend und
+Einen Nacht noch nicht &uuml;bersetzte M&auml;hrchen u. s. w. in's Franz&ouml;sische
+&uuml;bersetzt von J. v. Hammer und aus dem Franz&ouml;sischen in's Deutsche von
+A. E. Zinserling, <em class="antiqua">I</em>, 311) wird, wie im ehstnischen M&auml;rchen, der Ring
+Salomos, der mit diesem Ring am Finger in einer Insel der sieben Meere
+begraben liegt, gesucht. K.</p>
+
+
+<h4>19. Das Gl&uuml;cksei.</h4>
+
+<p>Da&szlig; in Schlangen, Kr&ouml;ten oder dergl. verwandelte Jungfrauen nur erl&ouml;st
+werden k&ouml;nnen, wenn ein J&uuml;ngling sie dreimal k&uuml;&szlig;t oder sich k&uuml;ssen l&auml;&szlig;t,
+k&ouml;mmt in deutschen Sagen &ouml;fters vor. S. Grimm Deutsche Mythologie S.
+921, W. Menzel Die deutsche Dichtung I, 192, Curtze Volks&uuml;berlieferungen
+aus Waldeck S. 198. K.</p>
+
+
+<h4>20. Der Frauenm&ouml;rder.</h4>
+
+<p>Eine Variante des bekannten Blaubart-M&auml;rchens. S. die Anmerkung zu Grimm
+Nr. 46 und Jahrbuch f&uuml;r romanische und englische Literatur <em class="antiqua">VII</em>, 151 f.
+K.</p>
+
+
+<h4>23. Dudelsack-Tiidu.</h4>
+
+<p>In Bezug auf die Aepfel, welche ein Wachsen der Nasen verursachen, und
+die N&uuml;sse, durch welche die Nasen wieder klein werden, vergleiche man
+die Geschichte des Fortunatus und seiner S&ouml;hne (s. Zachers Artikel
+&raquo;Fortunatus&laquo; in der Encyklop&auml;die von Ersch und Gruber) und Grimm Nr.
+122, Zingerle Tirols Volksdichtungen <em class="antiqua">II</em>, 73, Curtze Volks&uuml;berlieferungen
+aus Waldeck S. 34, Campbell <em class="antiqua">Popular tales of the West Highlands</em> Nr. 10,
+das finnische M&auml;rchen aus Salmelainens Sammlung (<em class="antiqua">I</em>, 4.) bei Asbj&ouml;rnsen
+und Gr&auml;&szlig;e Nord und S&uuml;d S. 145, das rum&auml;nische im Ausland 1856, S. 716,
+Nr. 8. K.</p>
+
+
+
+<hr style="width: 65%;" /><p><span class='pagenum'><a name="Page_366" id="Page_366">[S 366]</a></span></p>
+<h2>Berichtigungen und Zus&auml;tze.</h2>
+
+
+<div class='center'>
+<table border="0" cellpadding="4" cellspacing="0" summary="">
+<tr>
+ <td align='right' valign="top">S. <a href='#Page_34'>34</a></td>
+ <td align='left'>Z. 1 u. 18 v. o. l. drei Eier von einer schwarzen Henne<br />
+st. drei schwarze H&uuml;hnereier (die es ja nicht giebt!)</td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='left'>S. <a href='#Page_117'>117</a></td>
+ <td align='left'>Z. 2 v. o. l. alsdann st. aldann.</td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='left'>S. <a href='#Page_127'>127</a></td>
+ <td align='left'>Anm. 2 l. Oesel st. Desel.</td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='left' valign="top">S. <a href='#Page_174'>174</a></td>
+ <td align='left'>Die in den Verhandlungen der gelehrten ehstn. Gesellschaft<br />
+zu Dorpat abgedruckte Kreutzwaldsche Uebersetzung<br />
+des M&auml;rchens vom dankbaren K&ouml;nigssohn ist verglichen<br />
+worden; der ehstnische Text hat in der helsingforser<br />
+Sammlung verschiedene Zus&auml;tze erhalten. Uebersetzungen<br />
+anderer ehstnischer M&auml;rchen haben mir nicht vorgelegen.</td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='left'>S. <a href='#Page_174'>174</a></td>
+ <td align='left'>Z. 2 v. u. fehlt &raquo;zu&laquo; vor: ihm.</td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='left' valign="top">S. <a href='#Page_184'>184</a></td>
+ <td align='left'>Nota. In Beziehung auf das wei&szlig;e Pferd bemerkt Neus<br />
+zu der Sage von <em class="antiqua">Issi teggi</em> (Selbst gethan) im illustrirten<br />
+Revalschen Almanach f&uuml;r 1856, da&szlig; das wei&szlig;e<br />
+Pferd in heidnischer Zeit, wie bei andern V&ouml;lkern, so<br />
+auch wohl bei den Ehsten, f&uuml;r besonders heilig galt und<br />
+daher seit Einf&uuml;hrung des Christentums f&uuml;r besonders<br />
+teuflisch.</td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='left'>S. <a href='#Page_188'>188</a></td>
+ <td align='left'>Z. 15 v. o. l. Im st. Ich.</td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='left'>S. <a href='#Page_229'>229</a></td>
+ <td align='left'>Z. 3 v. u. l. fast immer st. meist.</td>
+</tr>
+<tr>
+ <td align='left'>S. <a href='#Page_354'>354</a></td>
+ <td align='left'>Z. 8 v. u. l. einander st. eiander.</td>
+</tr>
+</table></div>
+
+<hr style="width: 65%;" />
+
+<div class="footnotes"><h3>Fußnoten:</h3>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_1_1" id="Footnote_1_1"></a><a href="#FNanchor_1_1"><span class="label">[1]</span></a> Die Goldspinnerinnen erinnern an die Pfleget&ouml;chter der
+H&ouml;lle, die dort gefangen gehalten werden, arbeiten und auch spinnen
+m&uuml;ssen, s. <em class="gesperrt">Kalewipo&euml;g</em> (myth. Heldensagen vom Kalew-Sohn) <em class="antiqua">XIII.</em> 521 ff.
+<em class="antiqua">XIV.</em> 470 ff. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_2_2" id="Footnote_2_2"></a><a href="#FNanchor_2_2"><span class="label">[2]</span></a> Donnerstag und Sonnabend galten den Ehsten in
+vorchristlicher Zeit f&uuml;r heilig. Im <em class="gesperrt">Kalewipo&euml;g</em>, Gesang <em class="antiqua">XIII</em>, V. 423
+kocht der H&ouml;llenkessel am Donnerstag st&auml;rkende Zauberspeise. Nach
+<em class="gesperrt">Ru&szlig;wurm</em>, Sagen aus Hapsal und der Umgegend, Reval 1856, S. 20, erhalten
+die Unterirdischen (vgl. M&auml;rchen 17), was am Sonnabend oder am
+Donnerstag Abend ohne Licht gearbeitet wird. Vgl. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu <em class="gesperrt">Boecler</em>,
+der Ehsten abergl&auml;ubische Gebr&auml;uche &amp;c. (St. Petersburg 1854) S. 97-104.
+Wenn der oberste Gott der Ehsten, Taara, sich sachlich und lautlich an
+den germanischen Thor anschlie&szlig;t, so ist aus der jetzigen ehstnischen
+Bezeichnung des Thortags, Donnerstags, jede Erinnerung an Taara-Thor
+getilgt; der Donnerstag hei&szlig;t ehstnisch einfach <em class="antiqua">nelja-p&auml;ew</em>, d. i. der
+vierte Tag. (Montag der erste, Dienstag der zweite, Mittwoch der dritte
+oder auch Mittwoch, Freitag = Reede, corrumpirt aus plattd. Fr&ecirc;dag,
+Sonnabend = Badetag, Sonntag = heiliger Tag, Feiertag.) L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_3_3" id="Footnote_3_3"></a><a href="#FNanchor_3_3"><span class="label">[3]</span></a> Der Sinn ist: Sie durften nicht f&uuml;r sich arbeiten, um den
+Kasten zu f&uuml;llen, aus welchem die Braut am Hochzeitstage Geschenke
+vertheilt. Vgl. <em class="gesperrt">Boecler</em>, der Ehsten abergl. Gebr&auml;uche, ed. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em>,
+<em class="antiqua">p.</em> 37. <em class="gesperrt">Neus</em>, Ehstn. Volkslieder, S. 284. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_4_4" id="Footnote_4_4"></a><a href="#FNanchor_4_4"><span class="label">[4]</span></a> Nicht zu verwechseln mit dem Kalew-<em class="gesperrt">Sohn</em> (<em class="antiqua">Kalewipo&euml;g</em>), dem
+Herkules des ehstnischen Festlandes. Auf der Insel Oesel hei&szlig;t dieser
+T&ouml;ll od. T&ouml;llus. Vgl. <em class="gesperrt">Ru&szlig;wurm</em>, Eibofolke oder die Schweden an den K&uuml;sten
+Ehstland's und auf Run&ouml;. Reval 1855. Th. 2, S. 273. <em class="gesperrt">Neus</em> in den
+Beitr&auml;gen zur Kunde Ehst-, Liv- und Kurlands, ed. Ed. Pabst. Reval 1866.
+Bd. <em class="antiqua">I</em>, Heft <em class="antiqua">I</em>, <em class="antiqua">p.</em> 111. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_5_5" id="Footnote_5_5"></a><a href="#FNanchor_5_5"><span class="label">[5]</span></a> w&ouml;rtlich: fiel in das Ohr das Echo. Das Echo wird bildlich
+&raquo;Schielauge&laquo; genannt. S. Kreutzwald zu Boecler, S. 146.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_6_6" id="Footnote_6_6"></a><a href="#FNanchor_6_6"><span class="label">[6]</span></a> Vgl. die folgende <a href='#Footnote_10_10'>Anm. und die Nota S. 25</a> zu 2. &raquo;die im
+Mondschein badenden Jungfrauen.&laquo; L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_7_7" id="Footnote_7_7"></a><a href="#FNanchor_7_7"><span class="label">[7]</span></a> Die alte Anschauung der Ehsten unterscheidet feindliche und
+g&uuml;nstige Winde und schreibt beiden den weitgreifendsten Einflu&szlig; zu. Die
+unaufh&ouml;rlichen Windstr&ouml;mungen, welche an dem ehstnischen K&uuml;stenstrich
+ihr Spiel treiben und von der gr&ouml;&szlig;ten Bedeutung f&uuml;r das Naturleben sind,
+erkl&auml;ren dies vollkommen. In unserer Stelle ist die Krankheit nicht &raquo;von
+Gott, sondern vom Winde gekommen&laquo; und soll auch wieder (hom&ouml;opathisch)
+durch den Wind vertrieben werden. Vergl. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu <em class="gesperrt">Boecler</em>, ehstn.
+Aberglaube, S. 105 ff. u. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> u. <em class="gesperrt">Neus</em>, Myth. u. mag. Lieder der
+Ehsten, S. 13. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_8_8" id="Footnote_8_8"></a><a href="#FNanchor_8_8"><span class="label">[8]</span></a> Ahti oder Ahto (sprich Achti, Achto) ist in der finnischen
+Mythologie der &uuml;ber alles Wasser herrschende Gott: ein alter ehrw&uuml;rdiger
+Mann mit einem Grasbart und einem Schaumgewand. Er wird,
+characteristisch genug, als begehrlich nach fremdem Gut geschildert. Im
+ehstnischen Epos vom <em class="gesperrt">Kalewi-Po&euml;g</em> Ges. <em class="antiqua">XVI.</em>, V. 72 ist von Ahti's Sohn
+und seinen (Wasser) Gruben die Rede. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_9_9" id="Footnote_9_9"></a><a href="#FNanchor_9_9"><span class="label">[9]</span></a> Loch am Giebel des Hauses (zum Hinauslassen des Rauches).
+L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_10_10" id="Footnote_10_10"></a><a href="#FNanchor_10_10"><span class="label">[10]</span></a> Mana ist in der finnischen Mythologie gleich Hades-Pluto;
+er wird als ein alter Mann mit drei Fingern und einem auf die Schulter
+herabh&auml;ngenden Hute geschildert. In einer ehstnischen Gebetsformel aus
+dem Heidenthum ist von &raquo;Manas wahrem Bekenntnisse&laquo; die Rede. S.
+<em class="gesperrt">Kreutzwald</em> u. <em class="gesperrt">Neus</em>, Myth. u. mag. Lieder der Ehsten. S. 8. Die
+Mana-Zauberer kommen auch im <em class="gesperrt">Kalewipo&euml;g</em> vor: <em class="antiqua">XVI</em>, 284. Der Kalewsohn
+nimmt sie mit, als er auf seinem Schiffe Lennok das Weltende aufsuchen
+will. &mdash; Der Mana-Zauberer ist der st&auml;rkste, und st&auml;rker als Spruch- und
+Wind-Zauberer &mdash; nur durch den Manazauber gelingt es dem Entf&uuml;hrer der
+Linda, das Schwert von der Seite des Kalewsohnes hinwegzulocken.
+<em class="gesperrt">Kalewipo&euml;g</em>, <em class="antiqua">XI</em>, 334. Mana's Hand h&auml;lt den nach dem Tode zum
+H&ouml;llenw&auml;chter bestellten, auf wei&szlig;em Ro&szlig; sitzenden Kalewsohn fest, so
+da&szlig; dieser seine im Felsen steckende Rechte nicht losrei&szlig;en und davon
+reiten kann. S. den Schlu&szlig; des Kalewipo&euml;g. &mdash; Die Mana-Zauberer hei&szlig;en
+ehstnisch <em class="antiqua">Mana targad</em>; das Wort <em class="antiqua">tark</em>, pl. <em class="antiqua">targad</em>, bedeutet eigentlich
+den Klugen, Weisen und zugleich den Heil-und Zauberkundigen. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_11_11" id="Footnote_11_11"></a><a href="#FNanchor_11_11"><span class="label">[11]</span></a> Nach dem estnischen Volksglauben findet immer in der Nacht
+des 25. April (des St. Markustages) ein allgemeiner Schlangenconvent
+statt: als die Localit&auml;t wird der <em class="antiqua">sirtsosoo</em> (Heimchenmoor) westlich vom
+Peipussee genannt. S. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> u. <em class="gesperrt">Neus</em>, Mythische u. mag. Lieder der
+Ehsten, S. 77. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_12_12" id="Footnote_12_12"></a><a href="#FNanchor_12_12"><span class="label">[12]</span></a> Diese Krone ist von den unterirdischen Zwergen
+geschmiedet. S. die <a href='#Footnote_79_79'>Anm. zu M&auml;rchen 17</a>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_13_13" id="Footnote_13_13"></a><a href="#FNanchor_13_13"><span class="label">[13]</span></a> S. die betreffende <a href='#Footnote_33_33'>Nota zu dem M&auml;rchen 8</a> vom Schlaukopf.
+L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_14_14" id="Footnote_14_14"></a><a href="#FNanchor_14_14"><span class="label">[14]</span></a> Die &raquo;Haube&laquo; steht f&uuml;r die Tr&auml;gerin derselben verwaist, wie
+das lat. <em class="antiqua">orba</em>, ohne Kinder gehabt zu haben. Vgl. auch <em class="gesperrt">Neus</em>, ehstn.
+Volkslieder, S. 276. F. Z. 4. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_15_15" id="Footnote_15_15"></a><a href="#FNanchor_15_15"><span class="label">[15]</span></a> Ueber Mana s. d. <a href='#Footnote_10_10'>Anm. zu S. 25</a> in dem M&auml;rchen von den im
+Mondschein badenden Jungfrauen. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_16_16" id="Footnote_16_16"></a><a href="#FNanchor_16_16"><span class="label">[16]</span></a> Vgl. <em class="gesperrt">Boecler</em>, der Ehsten Gebr&auml;uche ed. Kreutzwald, S. 139.
+L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_17_17" id="Footnote_17_17"></a><a href="#FNanchor_17_17"><span class="label">[17]</span></a> Der Text sagt <em class="antiqua">Rootsi wennaksed</em> d. h. schwedische Br&uuml;der.
+Das Colorit des M&auml;rchens ist aber ganz ehstnisch; Belege f&uuml;r meine
+Uebersetzung finde ich nicht. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_18_18" id="Footnote_18_18"></a><a href="#FNanchor_18_18"><span class="label">[18]</span></a> Dieser wird gebildet durch Kl&ouml;tzchen, die an einer Schnur
+h&auml;ngen und mit Ringen wechseln. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_19_19" id="Footnote_19_19"></a><a href="#FNanchor_19_19"><span class="label">[19]</span></a> Ein Landstrich n&ouml;rdlich vom Peipus-See. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_20_20" id="Footnote_20_20"></a><a href="#FNanchor_20_20"><span class="label">[20]</span></a> Es haben sich also auch die Ehsten, gleich den Finnen,
+ganze Naturgebiete unter dem Schutze bestimmter Gottheiten, und dann
+wieder einzelne Naturindividuen von Schutzgeistern oder Elfen (ehstnisch
+<em class="antiqua">hallijas</em>, finnisch <em class="antiqua">haltia</em>) beseelt gedacht. Was hier blutet und jammert,
+ist die Dryas, die sich der Ehste jedoch m&auml;nnlich denkt. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_21_21" id="Footnote_21_21"></a><a href="#FNanchor_21_21"><span class="label">[21]</span></a> Aus der Klage des verwaisten Hirtenknaben im <em class="gesperrt">Kalewipo&euml;g</em>
+(<em class="antiqua">XII.</em> 876). Auch bei <em class="gesperrt">Neus</em>, Volkslieder, <em class="antiqua">passim.</em> L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_22_22" id="Footnote_22_22"></a><a href="#FNanchor_22_22"><span class="label">[22]</span></a> Vgl. &uuml;ber den Abscheu der Ehsten vor dem Hingeben ihres
+Blutes zu zauberischen Zwecken <em class="gesperrt">Boecler</em> u. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em>, der Ehsten
+abergl&auml;ubische Gebr&auml;uche <em class="antiqua">p.</em> 145 und <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> und <em class="gesperrt">Neus</em>, mythische und
+magische Lieder der Ehsten <em class="antiqua">p.</em> 111. In unserm <a href='#Page_122'>9. M&auml;rchen</a> betr&uuml;gt der
+Donnersohn den Teufel (den &raquo;alten Burschen&laquo;), indem er statt des eigenen
+Blutes Hahnenblut zur Besiegelung des Vertrages nimmt. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_23_23" id="Footnote_23_23"></a><a href="#FNanchor_23_23"><span class="label">[23]</span></a> &raquo;Heidnische Alt&auml;re haben sich unter den Ehsten einzeln bis
+in unsere Zeiten erhalten. Von einem solchen bei dem Landgut Kawershof
+im Felliner Kreise berichtet <em class="gesperrt">Hupel</em>, &raquo;er stehe unter einem heiligen
+Baume, in dessen H&ouml;hlung noch oft kleine Opfer gefunden w&uuml;rden; sei aus
+einem Granitblock kunstlos gehauen.&laquo; <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> u. <em class="gesperrt">Neus</em>, mythische u.
+magische Lieder der Ehsten S. 17. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_24_24" id="Footnote_24_24"></a><a href="#FNanchor_24_24"><span class="label">[24]</span></a> Baltischer Provinzialismus f&uuml;r Vorratskammer oder
+Speicher. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_25_25" id="Footnote_25_25"></a><a href="#FNanchor_25_25"><span class="label">[25]</span></a> Hier m&ouml;chte wohl ein schwacher Nachhall von der
+Sampo-Mythe anklingen, die in der Kalewala, dem finnischen Epos, eine so
+gro&szlig;e Rolle spielt. Auch der Wunder wirkende Talisman Sampo wird unter
+dem Bilde einer selbstmahlenden M&uuml;hle gedacht. Vgl. <em class="gesperrt">Castr&eacute;n's</em>
+Vorlesungen &uuml;ber finn. Mythol. S. 264 ff. u. <em class="gesperrt">Schiefner</em> im <em class="antiqua">Bulletin hist.
+phil.</em> der Petersb. Akad. d. Wiss. <em class="antiqua">t. VIII.</em> Nr. 5. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_26_26" id="Footnote_26_26"></a><a href="#FNanchor_26_26"><span class="label">[26]</span></a> Hausgeister, welche ihren Herren Sch&auml;tze zutragen. Sie
+werden als feurige Lufterscheinungen, als Drachen gedacht. S. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em>
+u. <em class="gesperrt">Neus</em>, myth. u. mag. Lieder der Ehsten. S. 81.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_27_27" id="Footnote_27_27"></a><a href="#FNanchor_27_27"><span class="label">[27]</span></a> Vgl. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu <em class="gesperrt">Boecler</em> <em class="antiqua">p.</em> 105. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> u. <em class="gesperrt">Neus</em>,
+Lieder, S. 84. 86. Nach ehstnischer Anschauung fahren im Wirbelwinde die
+Hexen umher. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_28_28" id="Footnote_28_28"></a><a href="#FNanchor_28_28"><span class="label">[28]</span></a> Auf die Nacht vom 23. zum 24. Juni f&auml;llt der ehstnische
+Hexen-Sabbat. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_29_29" id="Footnote_29_29"></a><a href="#FNanchor_29_29"><span class="label">[29]</span></a> Diesen bietet nach ehstn. Sitte der den Freier begleitende
+Brautwerber an. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_30_30" id="Footnote_30_30"></a><a href="#FNanchor_30_30"><span class="label">[30]</span></a> Ehstnisch <em class="antiqua">l&auml;hkre-kiwid</em> d. i. Steinchen, die man zur
+Reinigung des Milchgef&auml;&szlig;es (Milchf&auml;&szlig;chens), Legel, schwed. <em class="antiqua">tynn&aring;la</em>,
+ehstn. <em class="antiqua">l&auml;hker</em> (sprich l&auml;chker) braucht. Man f&uuml;hrt ein solches
+Milchf&auml;&szlig;chen auf Reisen nebst dem Brotsack mit sich. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_31_31" id="Footnote_31_31"></a><a href="#FNanchor_31_31"><span class="label">[31]</span></a> Identisch mit der Wassermutter, <em class="antiqua">wete ema</em>. Weibliche
+Personificationen scheinen in der ehstnischen Mythologie, soweit sie
+erhalten und bekannt ist, vorzuherrschen. Es giebt eine Erdmutter, die
+aber auch Gemahlin des Donnergottes ist, eine Feuermutter, Windesmutter,
+Rasenmutter (s. die betr. <a href='#Footnote_33_33'>Anm. zu M&auml;rchen 8</a> vom Schlaukopf) und in
+unserem <a href='#Page_230'>M&auml;rchen 17</a> die Unterirdischen, tritt sogar eine Mutter des
+&raquo;St&uuml;ms,&laquo; des Schneegest&ouml;bers, auf. &mdash; Eine Wetterjungfrau kennt der
+Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">X</em>, 889 als Tochter des Donnergottes (<em class="antiqua">K&otilde;u</em>). Die Finnen haben
+eine &raquo;Windtochter.&laquo; L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_32_32" id="Footnote_32_32"></a><a href="#FNanchor_32_32"><span class="label">[32]</span></a> Vergleiche das &raquo;See spielen&laquo; im <a href='#Page_59'>M&auml;rchen 4</a> vom Tontlawald,
+und das <a href='#Page_141'>M&auml;rchen 11</a>, Der Zwerge Streit. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_33_33" id="Footnote_33_33"></a><a href="#FNanchor_33_33"><span class="label">[33]</span></a> Dieses M&auml;rchen lehnt sich an die beiden H&ouml;llenfahrten des
+Kalewsohnes, die im Kalewipo&euml;g Ges. <em class="antiqua">XIII-XV</em>. <em class="antiqua">XVII-XIX</em> erz&auml;hlt sind. Die
+Z&uuml;ge der Sage sind im M&auml;rchen wunderlich gebrochen und verschoben, und
+andre M&auml;rchenstoffe hineingewoben. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_34_34" id="Footnote_34_34"></a><a href="#FNanchor_34_34"><span class="label">[34]</span></a> Ein mythisches Wunderland. Im Kalewipo&euml;g bewirbt sich des
+Kunglak&ouml;nigs Sohn um Linda, nachmalige Gattin des Kalew, die ihn
+abweist, weil &raquo;der Kunglak&ouml;nig b&ouml;se T&ouml;chter hat, welche die Fremde
+hassen w&uuml;rden.&laquo; Doch lassen sich dieselben T&ouml;chter des Kunglak&ouml;nigs
+durch den Gesang des &auml;ltesten Kalewsohnes zu Thr&auml;nen r&uuml;hren, Kalewipo&euml;g
+<em class="antiqua">III</em>, 477. Ebendaselbst <em class="antiqua">XIX</em>, 400 werden vier Kunglam&auml;dchen genannt,
+welche goldene und silberne Gewebe wirken. Vgl. auch &uuml;ber den Reichthum
+des Landes Kungla das M&auml;rchen 23 vom Dudelsack-Tiidu. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_35_35" id="Footnote_35_35"></a><a href="#FNanchor_35_35"><span class="label">[35]</span></a> Dieser Streich wird im Kalewipo&euml;g nacheinander dem
+Alewsohn, dem Olewsohn und dem Sulewsohn gespielt, welche die Warnung
+der am Kessel besch&auml;ftigten Alten verachteten, weil sie nicht glaubten,
+da&szlig; der winzige Knirps, der um Erlaubni&szlig; bat zu schmecken, solchen
+Schaden anrichten k&ouml;nne. Aber dieser reckt sich auf dem Rande des
+Suppenkessels &uuml;ber 70 Klafter hoch und verschwindet im Nebel, w&auml;hrend
+der Kessel leer geworden. Als aber die Reihe, bei dem Kessel zu wachen,
+an den Kalewsohn kommt, verlangt dieser erst von dem als Zwerg
+erscheinenden Teufel das Gl&ouml;cklein zum Pfande, welches er um den Hals
+hat und worin seine Kraft steckt. S. Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">XVII</em>, 327 ff. Da unser
+M&auml;rchen ein gro&szlig;es Festgelage f&uuml;r alles Volk fingirt, so l&auml;&szlig;t es auch
+&uuml;bertreibend s&auml;mmtliche Vorr&auml;the, Speisen und Getr&auml;nke verschwinden. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_36_36" id="Footnote_36_36"></a><a href="#FNanchor_36_36"><span class="label">[36]</span></a> Die Rasenmutter ist es auch, welche im Kalewipo&euml;g (<em class="antiqua">I.</em> 340)
+aus dem K&uuml;chlein die reine (oder Thau-?) Jungfrau Salme umgebildet hat.
+Nach <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu der <em class="antiqua">cit.</em> Stelle ist die Rasenmutter eine Schutzg&ouml;ttin
+des Hauses, deren Obhut besonders der Hofraum und Garten anvertraut war.
+Der ehstnische Mythus hat von ihr die liebliche Vorstellung, da&szlig; sie es
+ist, die aus dem geschmolzenen Schnee des Winters die wei&szlig;e Anemone
+(<em class="antiqua">Anemone nemorosa</em>, ehstnisch Frostblume) bildet. S. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu
+<em class="gesperrt">Boecler</em> S. 188. Vgl. unser M&auml;rchen 2 von den im Mondschein badenden
+Jungfrauen; diese hei&szlig;en dort des Waldelfen und der Rasenmutter T&ouml;chter.
+Die T&ouml;chter der Rasenmutter sind es auch, welche im Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">XVII</em>, 777
+ff. den nach der gro&szlig;en Schlacht bei Assamalla ruhenden Helden
+Traumgesichte weben. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_37_37" id="Footnote_37_37"></a><a href="#FNanchor_37_37"><span class="label">[37]</span></a> Es ist also von denjenigen Krebsthieren die Rede, deren
+Augen auf beweglichen Stielen stehen, nicht unmittelbar auf dem Kopfe.
+L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_38_38" id="Footnote_38_38"></a><a href="#FNanchor_38_38"><span class="label">[38]</span></a> Vgl. <a href='#Footnote_84_84'>Anm. zu M&auml;rchen 21</a>, der beherzte Riegenaufseher. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_39_39" id="Footnote_39_39"></a><a href="#FNanchor_39_39"><span class="label">[39]</span></a> <em class="antiqua">Sepik</em>, mit Hefen gebackenes nicht ges&auml;uertes Brot, das im
+s&uuml;dlichen Ehstland nur aus Weizenmehl gemacht wird. S. <em class="gesperrt">Wiedemann</em>,
+Ehstnisch-Deutsches W&ouml;rterb. <em class="antiqua">s. v.</em> L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_40_40" id="Footnote_40_40"></a><a href="#FNanchor_40_40"><span class="label">[40]</span></a> Aus dem Gl&ouml;ckchen der Sage, <em class="gesperrt">Kalewipo&euml;g</em> <em class="antiqua">XVII</em>, 633 ist im
+M&auml;rchen ein Ring geworden. Im Gl&ouml;ckchen dort, im Ringe hier steckt des
+H&ouml;llenf&uuml;rsten Kraft. Vgl. das <a href='#Page_241'>M&auml;rchen 18</a>, vom Nordlands-Drachen, wo der
+Ring Salomonis, der im Besitz der H&ouml;llenjungfrau ist, Felsen
+zertr&uuml;mmert, wenn er am Daumen der linken Hand steckt. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_41_41" id="Footnote_41_41"></a><a href="#FNanchor_41_41"><span class="label">[41]</span></a> Ein mit einem Deckel und unten mit einem Zapfen versehenes
+T&ouml;nnchen D&uuml;nnbier (Kofent), das in den Bauerstuben steht und woraus sich
+Bier abzapft, wer Durst hat. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_42_42" id="Footnote_42_42"></a><a href="#FNanchor_42_42"><span class="label">[42]</span></a> Hier fehlt also das Dritte, der W&uuml;nschelhut aus
+N&auml;gelschnitzeln, den Kalewipo&euml;g bei seinem ersten H&ouml;llenabenteuer
+benutzt und dann verbrennt. S. dar&uuml;ber die <a href='#Footnote_57_57'>Anm. zum 11ten M&auml;rchen</a>, von
+der Zwerge Streit. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_43_43" id="Footnote_43_43"></a><a href="#FNanchor_43_43"><span class="label">[43]</span></a> Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">XV</em>, 70 ff. Vers 217 hei&szlig;t die Hexen- oder
+W&uuml;nschelruthe geradezu der Br&uuml;ckenfertiger (<em class="antiqua">sillawalmistaja</em>). L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_44_44" id="Footnote_44_44"></a><a href="#FNanchor_44_44"><span class="label">[44]</span></a> Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">XV</em>, 108 ff. vgl. mit <em class="antiqua">XVIII</em>, 815 ff. In diesen
+Stellen thut &raquo;der Leere&laquo; (<em class="antiqua">T&uuml;hi</em>) oder wie er im 18. Gesang hei&szlig;t, der
+Geh&ouml;rnte (<em class="antiqua">Sarwik</em>) alle Fragen hintereinander, w&auml;hrend unser M&auml;rchen sie
+auseinander legt und auf die verschiedenen G&auml;nge Schlaukopfs vertheilt.
+Die Sage berichtet von einem Zweikampf des Kalewsohnes mit dem
+H&ouml;llenf&uuml;rsten; bei dem zweiten H&ouml;llengang des Kalewipo&euml;g endet dieser
+Zweikampf mit der Ueberw&auml;ltigung und Fesselung des Geh&ouml;rnten. Kalewipo&euml;g
+<em class="antiqua">XIX</em>, 87 ff. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_45_45" id="Footnote_45_45"></a><a href="#FNanchor_45_45"><span class="label">[45]</span></a> Vgl. oben S. <a href='#Page_45'>45</a>, <a href='#Page_46'>46</a>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_46_46" id="Footnote_46_46"></a><a href="#FNanchor_46_46"><span class="label">[46]</span></a> Auch der Kalewsohn raubt die Sch&auml;tze der Unterwelt. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_47_47" id="Footnote_47_47"></a><a href="#FNanchor_47_47"><span class="label">[47]</span></a> Erinnert an &raquo;das in verborgener Schmiede von
+unterirdischen Meistern&laquo; (<em class="antiqua">M&#257;-alused</em>, vgl. <a href='#Page_230'>M&auml;rchen 17</a>) gefertigte
+Schwert, welches der Kalewsohn zum Ersatz f&uuml;r sein von dem Finnenschmied
+geschmiedetes und von dem Zauberer des Peipus-Strandes entwendetes
+Schwert aus der H&ouml;lle nimmt. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_48_48" id="Footnote_48_48"></a><a href="#FNanchor_48_48"><span class="label">[48]</span></a> Nota zu 9 u. 10. Beide M&auml;rchen behandeln einen und
+denselben Stoff: die Entwendung des Donnerwerkzeugs durch den dasselbe
+&uuml;ber Alles f&uuml;rchtenden Teufel, welchem es der in einen Fischerknaben
+verwandelte Donnergott wieder abnimmt.
+</p><p>
+Was zun&auml;chst den Namen des Donnerwerkzeugs betrifft, so hei&szlig;t es in
+beiden M&auml;rchen &raquo;<em class="antiqua">pil</em>&laquo;, womit zwar im Ehstnischen jedes Instrument
+bezeichnet wird, hier aber nur ein Blaseinstrument gemeint sein kann.
+Und zwar kein anderes als der bei den Ehsten seit uralter Zeit sehr
+beliebt gewesene Dudelsack, schwedisch <em class="antiqua">dromm-p&icirc;p</em>, <em class="antiqua">drumm-p&icirc;pa</em>. <em class="antiqua">Drumm</em> ist
+das Trompeten-Ende dieses Instruments, es brummt stets denselben Ba&szlig;ton
+und erweckt den Ehsten die Vorstellung des Donners. Im Inlande Jahrg.
+1858, Nr. 6 ist eine Version unseres <a href='#Page_133'>M&auml;rchens 10</a> abgedruckt, welche die
+Ueberschrift f&uuml;hrt <em class="antiqua">M&uuml;ristaja m&auml;ng</em>, was mit Donnertrommel &uuml;bersetzt ist.
+Aber <em class="antiqua">m&auml;ng</em> bedeutet nicht Trommel, sondern Spiel, Spielzeug, und da es im
+&raquo;Inland&laquo; gegen den Schlu&szlig; hei&szlig;t: &raquo;er holt den &raquo;Himmelsbrummer&laquo; hervor
+und setzt die f&uuml;nf Finger an denselben,&laquo; so deutet dies offenbar keine
+Trommel, sondern ein Blaseinstrument an, den Dudelsack, der speciell
+<em class="antiqua">toru-pil</em>, R&ouml;hreninstrument, hei&szlig;t, aber auch <em class="antiqua">pil</em> schlechtweg, wie in
+unserm <a href='#Page_318'>M&auml;rchen 23</a>, <em class="antiqua">Pilli-Tiidu</em>, Dudelsack-Tiidu. Von Trommel und Pauke
+hei&szlig;t es im Ehstnischen <em class="antiqua">trummi l&ouml;ma</em>, die Trommel oder Pauke schlagen,
+und weder an Schamanentrommel noch an ein Tambourin ist bei dem
+Ausdrucke <em class="antiqua">pil</em> oder <em class="antiqua">m&uuml;ristaja m&auml;ng</em> zu denken. Nach <em class="gesperrt">Neus</em>, myth. u. mag.
+Lieder der Ehsten S. 12. 13. vgl. mit 41. h&auml;ngt das ehstnische
+<em class="antiqua">m&uuml;ristamine</em>, das Donnern, mit einem finnischen Verbum zusammen, welches
+vom Brummen des B&auml;ren gebraucht wird, und weist auch der ehstnische Name
+des Donnergotts, <em class="antiqua">K&otilde;u</em>, auf ein finnisches <em class="antiqua">Nomen</em> f&uuml;r B&auml;r zur&uuml;ck. Auch der
+nordische Donnergott, Thunar-Thor, f&uuml;hrte den Beinamen des B&auml;ren. Also
+nicht der Schall einer Trommel, sondern das Gebr&uuml;ll eines Thieres oder
+eines daran erinnernden Instruments wird dem Donner verglichen. Der
+ehstnische Donnergott entlockt dem Dudelsack furchtbare, aber auch
+liebliche T&ouml;ne &mdash; schrecklichen Donner, aber auch sanft rieselnden
+Regen. Wenn die Vorstellung von dem Erregen des Gewitters durch ein
+Instrument wie die Sackpfeife eigent&uuml;mlich ehstnisch ist (nach <em class="gesperrt">Ru&szlig;wurm</em>,
+Sagen, Reval 1861. S. 134, ist der Dudelsack Erfindung <em class="antiqua">Tara's</em>, und steht
+mit den altheidnischen Volkssitten und G&ouml;tterdiensten in Zusammenhang,
+we&szlig;halb christlicher Eifer das Instrument auf den Teufel zur&uuml;ckf&uuml;hrte),
+so kennt die ehstnische Sage doch auch den <em class="antiqua">&Auml;ike</em> oder <em class="antiqua">Pikker</em>, der Donner
+und Blitz hervorbringt, indem er auf einem Wagen mit erzbeschlagenen
+R&auml;dern &uuml;ber Eisenbr&uuml;cken dahin rasselt, Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">III</em>, 12 ff. vgl. mit
+<em class="antiqua">XX</em>. 728 ff. Hier wird man sogleich an Thunar-Thor erinnert.
+</p><p>
+Was den &raquo;Donnersohn&laquo; betrifft, so theilt <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu <em class="gesperrt">Boecler</em> auf S. 11
+mit, er (Kreutzwald) habe in Wierland (dem nord&ouml;stlichen Uferdistrict
+Ehstlands) den Namen <em class="antiqua">Pikse-k&auml;sepois</em>, d. h. des Gewitters Befehlsknabe,
+geh&ouml;rt, aber nicht erfahren, wer damit gemeint sei. Nach ehstnischer
+Tradition ist der Lijonsengel, der in unserm M&auml;rchen 9 zum Fischer, und
+in 10 zum Fischer Lijon umgestaltet ist, Vermittler zwischen den
+Sterblichen und dem <em class="antiqua">Tara</em> oder Altvater, und &raquo;<em class="gesperrt">der Gott auf der Erde, der
+mit dem Gewitter zusammengeht</em>.&laquo; So liegt die Vermuthung nahe, da&szlig; der
+Lijons-Engel (stamme er nun von dem biblischen &raquo;<em class="antiqua">Legion</em>&laquo; oder von dem
+ebenfalls biblischen &raquo;Elias&laquo;, russisch &raquo;<em class="antiqua">Ilj&aacute;</em>&laquo;), der oben angef&uuml;hrte
+Befehlsknabe des Gewitters, und unser Donnersohn &mdash; eine und dieselbe
+Hypostase des Donnergottes selber sind. Nach <em class="gesperrt">Ru&szlig;wurm</em> Sagen, 1861. S. 131
+hat auch der ehstnische Teufel einen kleinen Sohn, Thomas, der dem
+eigenen Vater zuweilen Possen spielt. Wie in unseren M&auml;rchen, so
+entweichen auch im Kalewipo&euml;g, vgl. die oben citirten Stellen und <em class="antiqua">X</em>,
+198, die b&ouml;sen Geister vor ihrem &raquo;Z&uuml;chtiger&laquo; und seinen Pfeilen in die
+Flut &mdash; das Wasser macht den Blitzstrahl unsch&auml;dlich. Da&szlig; der Donnergott
+sich in einen Fischerknaben verwandelt, erinnert einigerma&szlig;en an Thors
+Fischfang mit Hymir. <em class="gesperrt">Mannhardt</em>, G&ouml;tterwelt, <em class="antiqua">I</em>, 218. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_49_49" id="Footnote_49_49"></a><a href="#FNanchor_49_49"><span class="label">[49]</span></a> S. die <a href='#Footnote_22_22'>Anm. S. 67</a> zum M&auml;rchen vom Tontlawald. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_50_50" id="Footnote_50_50"></a><a href="#FNanchor_50_50"><span class="label">[50]</span></a> <em class="antiqua">Castr&eacute;n</em> bemerkt in seinen Vorlesungen &uuml;ber finnische
+Mythologie, da&szlig; man den Donner viel mehr f&uuml;rchtete als den Blitz, und
+da&szlig; man noch jetzt hie und da in Finnland beim Donnerwetter nicht wagt
+den Namen <em class="antiqua">Ukko</em> (Beherrscher des Himmels) zu nennen, oder irgend etwas
+Ungeb&uuml;hrliches zu reden oder zu thun. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_51_51" id="Footnote_51_51"></a><a href="#FNanchor_51_51"><span class="label">[51]</span></a> <em class="antiqua">K&otilde;u</em> hei&szlig;t der Donnergott; <em class="antiqua">Pikne</em>, Genitiv <em class="antiqua">Pikse</em>, war
+eigentlich der Blitzstrahl, wird aber auch f&uuml;r den Donnergott gebraucht.
+Auch die Formen <em class="antiqua">Pitkne</em> und <em class="antiqua">Pikker</em> kommen vor. Der Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">X</em>, 889
+kennt eine Wetterjungfrau als <em class="antiqua">K&otilde;u's</em> Tochter. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_52_52" id="Footnote_52_52"></a><a href="#FNanchor_52_52"><span class="label">[52]</span></a> Im Kalewipo&euml;g wird diese Kraft einem aus N&auml;gelschnitzeln
+gemachten Hute zugeschrieben, den der Kalewsohn dem H&ouml;llenf&uuml;rsten
+entwendet und nach gemachtem Gebrauche verbrennt. Vgl. die betr. <a href='#Footnote_57_57'>Nota zu
+11</a>, der Zwerge Streit. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_53_53" id="Footnote_53_53"></a><a href="#FNanchor_53_53"><span class="label">[53]</span></a> Nach <em class="gesperrt">Ru&szlig;wurm</em>, Sagen aus Hapfal, der Wiek, Oesel und Run&ouml;,
+Reval 1861, <em class="antiqua">p.</em> <em class="antiqua">XVII</em>, denken sich die Ehsten die Wolken als Gallert, und
+findet man nach Gewittern zuweilen Wolkenst&uuml;cke auf der Erde, was
+Ru&szlig;wurm auf eine Flechtenart (<em class="antiqua">Tremella Nostoc</em>) beziehen m&ouml;chte. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_54_54" id="Footnote_54_54"></a><a href="#FNanchor_54_54"><span class="label">[54]</span></a> Siehe die <a href='#Footnote_48_48'>Anm. S. 122</a> ff. u. <a href='#Footnote_50_50'>S. 126</a>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_55_55" id="Footnote_55_55"></a><a href="#FNanchor_55_55"><span class="label">[55]</span></a> Man bringt das Ferkel zum Quieken, um dadurch die W&ouml;lfe
+anzulocken. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_56_56" id="Footnote_56_56"></a><a href="#FNanchor_56_56"><span class="label">[56]</span></a> Vgl. <a href='#Footnote_44_44'>S. 114, Anm. 2</a>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_57_57" id="Footnote_57_57"></a><a href="#FNanchor_57_57"><span class="label">[57]</span></a> W&ouml;rtlich: Ochsenknieleute. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_58_58" id="Footnote_58_58"></a><a href="#FNanchor_58_58"><span class="label">[58]</span></a> S. die <a href='#Footnote_59_59'>Nota auf der folgenden S</a>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_59_59" id="Footnote_59_59"></a><a href="#FNanchor_59_59"><span class="label">[59]</span></a> Dieser Hut stammt aus der Unterwelt. S. Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">XIII</em>,
+831 ff. Er hat zehn Gewalten, unter andern die Kraft, den K&ouml;rper
+auszudehnen und zusammenzuziehen. Der Kalewsohn, der sich des Hutes
+bem&auml;chtigt hatte, beginnt den Ringkampf mit dem H&ouml;llenf&uuml;rsten
+(Geh&ouml;rnten, <em class="antiqua">sarwik</em>) in verschrumpfter gew&ouml;hnlicher Mannsl&auml;nge, als aber
+der Kampf ihn schw&auml;cht, l&auml;&szlig;t er sich durch den Hut wieder zum Riesen
+machen, hebt den Geh&ouml;rnten zehn Klafter hoch und stampft ihn in den
+Boden. <em class="antiqua">XIV</em>, 811 ff. Darauf mu&szlig; der Hut, der auch Wunschhut hei&szlig;t, ihn
+und die drei in der H&ouml;lle gefangen gehaltenen Schwestern sammt den
+H&ouml;llensch&auml;tzen auf die Oberwelt versetzen; im Uebermuthe verbrennt der
+Kalewsohn sodann den Schnitzel- oder W&uuml;nschelhut. Dar&uuml;ber klagen die
+Schwestern:
+</p>
+<div class="poem"><div class="stanza">
+<span class="i0">&raquo;Warum, starker Sohn des Kalew,<br /></span>
+<span class="i0">Hast den lieben Hut zerst&ouml;rt du?<br /></span>
+<span class="i0">Auf der Erden, in der H&ouml;lle<br /></span>
+<span class="i0">Flicht man nie mehr einen solchen.<br /></span>
+<span class="i0">Todt sind fortan alle W&uuml;nsche<br /></span>
+<span class="i0">Und vergeblich alles Sehnen&laquo; <em class="antiqua">ibid</em>. 909. ff.<br /></span>
+</div></div>
+<p>
+Noch jetzt herrscht im Werroschen der Gebrauch, da&szlig; man nach dem
+Beschneiden der N&auml;gel an Fingern und Zehen mit dem Messer ein Kreuz &uuml;ber
+die Abschnitzel zieht, ehe man sie wegwirft, sonst soll der Teufel sich
+M&uuml;tzenschirme daraus machen. S. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu <em class="gesperrt">Boecler</em> S. 139. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_60_60" id="Footnote_60_60"></a><a href="#FNanchor_60_60"><span class="label">[60]</span></a> Vgl. im M&auml;rchen 4. vom Tontlawald S. <a href='#Page_64'>64</a>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_61_61" id="Footnote_61_61"></a><a href="#FNanchor_61_61"><span class="label">[61]</span></a> Diese ruhen auf Querbalken, ziehen sich unter der
+Zimmerdecke hin und haben in der Mitte eine Oeffnung, durch welche das
+geschnittene Korn nach beiden Seiten hin zum D&ouml;rren geschoben wird. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_62_62" id="Footnote_62_62"></a><a href="#FNanchor_62_62"><span class="label">[62]</span></a> Vgl. das <a href='#Page_102'>M&auml;rchen 8.</a> vom Schlaukopf, wo der Teufel
+s&auml;mmtliche Speisen und Getr&auml;nke durch sein Kosten verschwinden l&auml;&szlig;t.
+L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_63_63" id="Footnote_63_63"></a><a href="#FNanchor_63_63"><span class="label">[63]</span></a> Neun Uhr. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_64_64" id="Footnote_64_64"></a><a href="#FNanchor_64_64"><span class="label">[64]</span></a> Er denkt dabei an die ehstnische Redewendung: &raquo;die Tage
+gehen in der Richtung (zum Besten) des Wirths&laquo; &mdash; d. h. sie nehmen zu.
+Dagegen: &raquo;die Tage gehen in der Richtung des Knechts&laquo; &mdash; d. h. sie
+nehmen ab.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_65_65" id="Footnote_65_65"></a><a href="#FNanchor_65_65"><span class="label">[65]</span></a> Die Situation und die Verse erinnern an den Besuch, den
+Kalews Sohn dem Grabe seines Vaters macht in der Nacht vor dem Tage, der
+dar&uuml;ber entscheiden sollte, welcher der drei Br&uuml;der einen Felsblock am
+weitesten schleudern und dadurch die Herrschaft &uuml;ber das Land erhalten
+werde. Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">VII</em>, 809 ff. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_66_66" id="Footnote_66_66"></a><a href="#FNanchor_66_66"><span class="label">[66]</span></a> Der Laut, den eine kleine Schnepfenart (Becassine) beim
+Fliegen hervorbringt, klingt dem ehstnischen Ohr wie das Meckern einer
+Ziege. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_67_67" id="Footnote_67_67"></a><a href="#FNanchor_67_67"><span class="label">[67]</span></a> S. <a href='#Footnote_39_39'>Anm. zum M&auml;rchen vom Schlaukopf S. 108</a>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_68_68" id="Footnote_68_68"></a><a href="#FNanchor_68_68"><span class="label">[68]</span></a> S. unten die <a href='#Footnote_75_75'>Anm. zu dem M&auml;rchen 15</a>: R&otilde;ugutaja's Tochter.
+L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_69_69" id="Footnote_69_69"></a><a href="#FNanchor_69_69"><span class="label">[69]</span></a> Ist wohl identisch mit dem mythischen Kungla-Lande. S. d.
+<a href='#Footnote_34_34'>Anm. 2, S. 102</a>, zum M&auml;rchen 8, vom Schlaukopf. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_70_70" id="Footnote_70_70"></a><a href="#FNanchor_70_70"><span class="label">[70]</span></a> K&uuml;limit ist ein Getreidema&szlig; von verschiedener Gr&ouml;&szlig;e. Das
+Revalsche Loof von drei K&uuml;limit ist etwas weniger als ein viertel
+Scheffel Preu&szlig;isch. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_71_71" id="Footnote_71_71"></a><a href="#FNanchor_71_71"><span class="label">[71]</span></a> Die Grundz&uuml;ge dieser phantasievollen Schilderung finden
+sich im Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">X</em>, 378 ff. vgl. mit <em class="antiqua">XIII</em>, 491 ff. Auch dort scheinen
+auf der Stra&szlig;e zur Wohnung des h&ouml;llischen Geistes weder Sonne, noch Mond
+und Sterne &mdash; nur von den Fackeln zu beiden Seiten des H&ouml;llenthors geht
+ein tr&uuml;ber Schimmer aus, der die Ankommenden leitet. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_72_72" id="Footnote_72_72"></a><a href="#FNanchor_72_72"><span class="label">[72]</span></a> Reminiscenz aus dem Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">XIII</em>, 401 ff., wo dem
+Kalewsohn &uuml;ber den in der Eingangsh&ouml;hle zur H&ouml;lle kochenden Kessel
+Auskunft ertheilt wird. Erst kostet der Geh&ouml;rnte, dann die alte Mutter,
+dann kommen Hund und Katze dran, in den Rest theilen sich K&ouml;che und
+Knechte. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_73_73" id="Footnote_73_73"></a><a href="#FNanchor_73_73"><span class="label">[73]</span></a> Die eine der in der Unterwelt gefangen gehaltenen drei
+Schwestern erz&auml;hlt dem Kalewsohn, da&szlig; des Geh&ouml;rnten Base die
+H&ouml;llenh&uuml;ndin, seine Gro&szlig;mutter die wei&szlig;e M&auml;hre sei. Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">XIV</em>, 428.
+&mdash; Auf einem wei&szlig;en Rosse sitzt der Kalewsohn als H&ouml;llenw&auml;chter, <em class="antiqua">ibid.</em>
+<em class="antiqua">XX</em>, 1005. Vgl. eine von <em class="gesperrt">Ru&szlig;wurm</em> &uuml;ber Kalews Tod mitgetheilte Sage.
+<em class="gesperrt">Ru&szlig;wurm</em>, Sagen aus Hapsal u. s. w. Reval 1861. S. 9-10. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_74_74" id="Footnote_74_74"></a><a href="#FNanchor_74_74"><span class="label">[74]</span></a> Vgl. das Gl&uuml;hendmachen der k&uuml;nstlichen Hand und das
+Darreichen derselben an die Hexe im Pfortenriegel, in dem M&auml;rchen von
+Schnellfu&szlig;, Flinkhand und Scharfauge, S. <a href='#Page_54'>54</a>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_75_75" id="Footnote_75_75"></a><a href="#FNanchor_75_75"><span class="label">[75]</span></a> R&otilde;ugataja, dessen Frau hier (wie im M&auml;rchen 13 S. <a href='#Page_173'>173</a>)
+eine so h&auml;&szlig;liche Rolle spielt, erscheint im Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">II</em>. 501 ff. als
+geburtshelfender Gott. Er und der Gott <em class="antiqua">Ukko</em>, welcher gleichbedeutend ist
+mit dem Fruchtbarkeit verleihenden Obergotte <em class="antiqua">T&#257;ra</em> treten an das Lager
+der krei&szlig;enden Wittwe Linda, welche ihre H&uuml;lfe angerufen hatte, und
+nachdem beide G&ouml;tter eine Stunde bei ihr geweilt, kommt der Kalewsohn
+gl&uuml;cklich zur Welt. Nach <em class="gesperrt"><em class="antiqua">Castr&eacute;n</em></em>. Vorl. S. 45, wurde der finnische <em class="antiqua">Ukko</em>
+nur bei schweren Kindesn&ouml;then in Anspruch genommen. Auch sonst kennt die
+ehstnische Ueberlieferung den R&otilde;ugataja als Sch&uuml;tzer der W&ouml;chnerinnen
+und Neugeborenen; auch bei Heirathen wurde ihm geopfert, damit der
+m&uuml;tterliche Schoo&szlig; nicht unfruchtbar bleibe. S. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> zu <em class="gesperrt">Boecler</em> S.
+18. 42. 43. Dann tritt R&otilde;ugataja mit abgeschw&auml;chter Bedeutung nur noch
+als Schutzgott der Neugeborenen auf, den die W&auml;rterinnen beim ersten
+Bade eines Kindes, so wie beim Baden kranker Kinder anrufen. Ebend. S.
+49. 53. 54. u. <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> u. <em class="gesperrt">Neus</em>, myth. u. mag. Lieder S. 108. Zuletzt
+ist der Gott R&otilde;ugataja (etwa wie Knecht Ruprecht) zum Popanz entstellt,
+mit welchem man die Kinder erschreckt und beschwichtigt. &mdash; Der Name,
+der auch in der Form <em class="antiqua">Raugutaja</em> vorkommt, scheint mit dem finnischen
+Roggen- oder Saatengott <em class="antiqua">Ronkoteus</em> zusammenzuh&auml;ngen. Da&szlig; ein Gott der
+Saaten mit dem Geb&auml;ren des Weibes in Verbindung gesetzt wird, kann nicht
+auffallen, auch Thor ist Saatgott und zugleich Gott der Ehe, und der
+Mythus von der Persephone weist auf dieselbe Combination. Die
+griechische Braut betritt mit ger&ouml;steter Gerste das Haus des Br&auml;utigams.
+Auffallend ist es, da&szlig; die ehstnische Mythologie, die doch sonst an
+weiblichen Personificationen reich ist, keine Gestalt wie die
+griechische Eileithyia, oder die r&ouml;mische Lucina aufzuweisen hat. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_76_76" id="Footnote_76_76"></a><a href="#FNanchor_76_76"><span class="label">[76]</span></a> Sfoba, &raquo;ein St&uuml;ck des festlichen Anzuges, ein wei&szlig;es
+wollenes Tuch mit bunt ausgen&auml;hten Kanten und mit Troddeln an den kurzen
+R&auml;ndern, auf der Brust mit einer Spange zusammengehalten.&laquo; <em class="gesperrt">Wiedemann</em>,
+W&ouml;rterb. s. v. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_77_77" id="Footnote_77_77"></a><a href="#FNanchor_77_77"><span class="label">[77]</span></a> Vgl. <a href='#Footnote_31_31'>Nota zu dem M&auml;rchen von den zw&ouml;lf T&ouml;chtern S. 89</a>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_78_78" id="Footnote_78_78"></a><a href="#FNanchor_78_78"><span class="label">[78]</span></a> Vgl. <a href='#Footnote_2_2'>Anm. zum M&auml;rchen 1, die Goldspinnerinnen S. 2</a>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_79_79" id="Footnote_79_79"></a><a href="#FNanchor_79_79"><span class="label">[79]</span></a> Die Unterirdischen (<em class="antiqua">ma-alused</em>) &raquo;die geheimen Schmiede
+Allvaters&laquo; schaffen bei n&auml;chtlicher Weile und ruhen am Tage. Legt man
+zwischen Weihnacht und Neujahr um Mitternacht das Ohr an die Erde, so
+h&ouml;rt man das Schmieden der als Zwerge gedachten Unterirdischen &mdash; ja man
+unterscheidet, ob Eisen, Silber oder Gold bearbeitet wird. In der
+Neujahrsnacht werden sie sichtbar und treiben mit dem n&auml;chtlichen
+Wanderer Schabernack. Da die Unterirdischen in der Weihnachts- und
+Neujahrsnacht auch in menschlicher Gestalt erscheinen, so ist man
+gastfrei gegen jeden Unbekannten; l&auml;&szlig;t auch den Tisch mit Speisen
+besetzt stehen und verschlie&szlig;t die Speisekammer nicht. Nach <em class="gesperrt">Ru&szlig;wurm</em>,
+Sagen aus Hapsal und der Umgegend, Reval 1846, S. 20, erhalten die
+Unterirdischen, was am Sonnabend Abend oder Donnerstag Abend ohne Licht
+gearbeitet wird. Die Unterirdischen verlieben sich zuweilen in sch&ouml;ne
+M&auml;dchen, woraus beiden Theilen Leid und Unheil erw&auml;chst. Die verlassenen
+Br&auml;ute h&ouml;ren noch Wochenlang das n&auml;chtliche Wehklagen der Geister, und
+werden von diesen geplagt, wenn sie sp&auml;ter Verbindungen mit ihres
+Gleichen eingehen.
+</p><p>
+Die Unterirdischen wollen nicht gest&ouml;rt sein; wer sich (erhitzt!) auf
+den feuchten Boden setzt, unter welchem sie gerade hausen, wird mit
+einem Hautausschlag bestraft, der Erdhauch (norweg. <em class="antiqua">alvgust</em>, Elb-,
+Elf-Hauch) oder Erdzorn hei&szlig;t, und den man heilt, indem man die Urheber
+durch ein Opfer von geschabtem Silber bes&auml;nftigt. (Nach <em class="gesperrt">Kreutzwald</em> und
+<em class="gesperrt">Neus</em>.)
+</p><p>
+Die finnischen <em class="antiqua">maah&#299;set</em>, denen diese ehstnischen Unterirdischen
+(<em class="antiqua">ma-alused</em>) entsprechen, bezeichnen nach <em class="antiqua">Castr&eacute;n</em> (finn. Mythol. S. 169)
+eine eigene Art von Naturgeistern, die sich in der Erde, unter B&auml;umen,
+Steinen und Schwellen aufhalten; es sind unsichtbare aber
+menschen&auml;hnliche Zwerge reizbarer Natur, die mit Hautkrankheit strafen.
+Man ehrt und n&auml;hrt sie. &mdash; Mit den Haus- und Schutzgeistern h&auml;ngen die
+finnischen und ehstnischen Unterirdischen nicht zusammen, wenn auch in
+ehstnischen Beschw&ouml;rungsformeln die Schlange als Unterirdische
+bezeichnet wird, und wenn auch der Schlangencultus noch vor nicht gar
+langer Zeit ge&uuml;bt wurde. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_80_80" id="Footnote_80_80"></a><a href="#FNanchor_80_80"><span class="label">[80]</span></a> S. d. <a href='#Footnote_31_31'>Anm. zum M&auml;rchen 6, die zw&ouml;lf T&ouml;chter, S. 89</a>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_81_81" id="Footnote_81_81"></a><a href="#FNanchor_81_81"><span class="label">[81]</span></a> Vgl. <a href='#Footnote_7_7'>Anm. zu M&auml;rchen 1, die Goldspinnerinnen, S. 11</a>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_82_82" id="Footnote_82_82"></a><a href="#FNanchor_82_82"><span class="label">[82]</span></a> Vgl. <a href='#Footnote_40_40'>Anm. zu S. 110. im M&auml;rchen 8</a>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_83_83" id="Footnote_83_83"></a><a href="#FNanchor_83_83"><span class="label">[83]</span></a> Aus Kalewipo&euml;g <em class="antiqua">XIX</em>, 140, 141, wo aber der Geh&ouml;rnte mit
+diesen Versen den Kalewsohn vor Uebermuth warnt. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_84_84" id="Footnote_84_84"></a><a href="#FNanchor_84_84"><span class="label">[84]</span></a> Riege ist baltischer Provinzialismus f&uuml;r Scheune, D&ouml;rr-
+und Dresch-Scheune. Die (steinerne) Gutsriege enth&auml;lt auch Kornkammern,
+Flachsspeicher, Branntweinkeller. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_85_85" id="Footnote_85_85"></a><a href="#FNanchor_85_85"><span class="label">[85]</span></a> S. die <a href='#Footnote_34_34'>Anm. 2. zu 8, &raquo;Schlaukopf&laquo;, S. 102</a>. L</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_86_86" id="Footnote_86_86"></a><a href="#FNanchor_86_86"><span class="label">[86]</span></a> Aus dem von einem H&uuml;hnchen ausgebr&uuml;teten Ei eines
+Birkhuhns ist Linda, die Gattin des Kalew und die Mutter des
+Kalewsohnes, hervorgegangen. S. den Anfang des <em class="gesperrt">Kalewipo&euml;g</em>. L.</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_87_87" id="Footnote_87_87"></a><a href="#FNanchor_87_87"><span class="label">[87]</span></a> Nicht diese letztere Form des Versprechens, aber die
+&uuml;brigen kommen auch in anderen, sonst nicht unmittelbar in diesen Kreis
+geh&ouml;rigen M&auml;rchen vor, z. B. bei Grimm Nr. 92, Schott Walachische
+M&auml;rchen Nr. 2 (das zuerst Begegnende); Asbj&ouml;rnsen Nr. 9 (das unterm
+G&uuml;rtel); Wolf S. 199, Waldau S. 26, v. Saal M&auml;rchen der Magyaren S. 129
+(das nicht Gewu&szlig;te zu Hause).</p></div>
+
+<div class="footnote"><p><a name="Footnote_88_88" id="Footnote_88_88"></a><a href="#FNanchor_88_88"><span class="label">[88]</span></a> Die Fee Manto in Ariosts Rasendem Roland (<em class="antiqua">XLIII</em>, 98) und
+die Sibylle im Roman &raquo;Guerino Meschino&laquo; (Dunlop Geschichte der
+Prosadichtungen, &uuml;bersetzt von F. Liebrecht, S. 315) werden ebenfalls
+alle Sonnabende &mdash; aber nicht blo&szlig; vom Nabel an, sondern ganz &mdash; zu
+Schlangen.</p></div>
+
+</div>
+
+
+
+
+
+
+
+<pre>
+
+
+
+
+
+End of the Project Gutenberg EBook of Ehstnische Märchen, by Friedrich Kreutzwald
+
+*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK EHSTNISCHE MÄRCHEN ***
+
+***** This file should be named 21658-h.htm or 21658-h.zip *****
+This and all associated files of various formats will be found in:
+ http://www.gutenberg.org/2/1/6/5/21658/
+
+Produced by Taavi Kalju and the Online Distributed
+Proofreading Team at http://www.pgdp.net (This book was
+produced from scanned images of public domain material
+from the Google Print project.)
+
+
+Updated editions will replace the previous one--the old editions
+will be renamed.
+
+Creating the works from public domain print editions means that no
+one owns a United States copyright in these works, so the Foundation
+(and you!) can copy and distribute it in the United States without
+permission and without paying copyright royalties. Special rules,
+set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to
+copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to
+protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project
+Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you
+charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you
+do not charge anything for copies of this eBook, complying with the
+rules is very easy. You may use this eBook for nearly any purpose
+such as creation of derivative works, reports, performances and
+research. They may be modified and printed and given away--you may do
+practically ANYTHING with public domain eBooks. Redistribution is
+subject to the trademark license, especially commercial
+redistribution.
+
+
+
+*** START: FULL LICENSE ***
+
+THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
+PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
+
+To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
+distribution of electronic works, by using or distributing this work
+(or any other work associated in any way with the phrase "Project
+Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full Project
+Gutenberg-tm License (available with this file or online at
+http://gutenberg.org/license).
+
+
+Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project Gutenberg-tm
+electronic works
+
+1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
+electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
+and accept all the terms of this license and intellectual property
+(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
+the terms of this agreement, you must cease using and return or destroy
+all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your possession.
+If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a Project
+Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound by the
+terms of this agreement, you may obtain a refund from the person or
+entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph 1.E.8.
+
+1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
+used on or associated in any way with an electronic work by people who
+agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
+things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
+even without complying with the full terms of this agreement. See
+paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
+Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this agreement
+and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm electronic
+works. See paragraph 1.E below.
+
+1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the Foundation"
+or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection of Project
+Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual works in the
+collection are in the public domain in the United States. If an
+individual work is in the public domain in the United States and you are
+located in the United States, we do not claim a right to prevent you from
+copying, distributing, performing, displaying or creating derivative
+works based on the work as long as all references to Project Gutenberg
+are removed. Of course, we hope that you will support the Project
+Gutenberg-tm mission of promoting free access to electronic works by
+freely sharing Project Gutenberg-tm works in compliance with the terms of
+this agreement for keeping the Project Gutenberg-tm name associated with
+the work. You can easily comply with the terms of this agreement by
+keeping this work in the same format with its attached full Project
+Gutenberg-tm License when you share it without charge with others.
+
+1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
+what you can do with this work. Copyright laws in most countries are in
+a constant state of change. If you are outside the United States, check
+the laws of your country in addition to the terms of this agreement
+before downloading, copying, displaying, performing, distributing or
+creating derivative works based on this work or any other Project
+Gutenberg-tm work. The Foundation makes no representations concerning
+the copyright status of any work in any country outside the United
+States.
+
+1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
+
+1.E.1. The following sentence, with active links to, or other immediate
+access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear prominently
+whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work on which the
+phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the phrase "Project
+Gutenberg" is associated) is accessed, displayed, performed, viewed,
+copied or distributed:
+
+This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with
+almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or
+re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included
+with this eBook or online at www.gutenberg.org
+
+1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is derived
+from the public domain (does not contain a notice indicating that it is
+posted with permission of the copyright holder), the work can be copied
+and distributed to anyone in the United States without paying any fees
+or charges. If you are redistributing or providing access to a work
+with the phrase "Project Gutenberg" associated with or appearing on the
+work, you must comply either with the requirements of paragraphs 1.E.1
+through 1.E.7 or obtain permission for the use of the work and the
+Project Gutenberg-tm trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or
+1.E.9.
+
+1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
+with the permission of the copyright holder, your use and distribution
+must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any additional
+terms imposed by the copyright holder. Additional terms will be linked
+to the Project Gutenberg-tm License for all works posted with the
+permission of the copyright holder found at the beginning of this work.
+
+1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
+License terms from this work, or any files containing a part of this
+work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
+
+1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
+electronic work, or any part of this electronic work, without
+prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
+active links or immediate access to the full terms of the Project
+Gutenberg-tm License.
+
+1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
+compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including any
+word processing or hypertext form. However, if you provide access to or
+distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format other than
+"Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official version
+posted on the official Project Gutenberg-tm web site (www.gutenberg.org),
+you must, at no additional cost, fee or expense to the user, provide a
+copy, a means of exporting a copy, or a means of obtaining a copy upon
+request, of the work in its original "Plain Vanilla ASCII" or other
+form. Any alternate format must include the full Project Gutenberg-tm
+License as specified in paragraph 1.E.1.
+
+1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
+performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
+unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
+
+1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
+access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works provided
+that
+
+- You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
+ the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
+ you already use to calculate your applicable taxes. The fee is
+ owed to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he
+ has agreed to donate royalties under this paragraph to the
+ Project Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments
+ must be paid within 60 days following each date on which you
+ prepare (or are legally required to prepare) your periodic tax
+ returns. Royalty payments should be clearly marked as such and
+ sent to the Project Gutenberg Literary Archive Foundation at the
+ address specified in Section 4, "Information about donations to
+ the Project Gutenberg Literary Archive Foundation."
+
+- You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
+ you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
+ does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
+ License. You must require such a user to return or
+ destroy all copies of the works possessed in a physical medium
+ and discontinue all use of and all access to other copies of
+ Project Gutenberg-tm works.
+
+- You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of any
+ money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
+ electronic work is discovered and reported to you within 90 days
+ of receipt of the work.
+
+- You comply with all other terms of this agreement for free
+ distribution of Project Gutenberg-tm works.
+
+1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project Gutenberg-tm
+electronic work or group of works on different terms than are set
+forth in this agreement, you must obtain permission in writing from
+both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and Michael
+Hart, the owner of the Project Gutenberg-tm trademark. Contact the
+Foundation as set forth in Section 3 below.
+
+1.F.
+
+1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
+effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
+public domain works in creating the Project Gutenberg-tm
+collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm electronic
+works, and the medium on which they may be stored, may contain
+"Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate or
+corrupt data, transcription errors, a copyright or other intellectual
+property infringement, a defective or damaged disk or other medium, a
+computer virus, or computer codes that damage or cannot be read by
+your equipment.
+
+1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
+of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
+Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
+Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
+liability to you for damages, costs and expenses, including legal
+fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
+LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
+PROVIDED IN PARAGRAPH F3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
+TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
+LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
+INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
+DAMAGE.
+
+1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
+defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
+receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
+written explanation to the person you received the work from. If you
+received the work on a physical medium, you must return the medium with
+your written explanation. The person or entity that provided you with
+the defective work may elect to provide a replacement copy in lieu of a
+refund. If you received the work electronically, the person or entity
+providing it to you may choose to give you a second opportunity to
+receive the work electronically in lieu of a refund. If the second copy
+is also defective, you may demand a refund in writing without further
+opportunities to fix the problem.
+
+1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
+in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS' WITH NO OTHER
+WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT LIMITED TO
+WARRANTIES OF MERCHANTIBILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
+
+1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
+warranties or the exclusion or limitation of certain types of damages.
+If any disclaimer or limitation set forth in this agreement violates the
+law of the state applicable to this agreement, the agreement shall be
+interpreted to make the maximum disclaimer or limitation permitted by
+the applicable state law. The invalidity or unenforceability of any
+provision of this agreement shall not void the remaining provisions.
+
+1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
+trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
+providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in accordance
+with this agreement, and any volunteers associated with the production,
+promotion and distribution of Project Gutenberg-tm electronic works,
+harmless from all liability, costs and expenses, including legal fees,
+that arise directly or indirectly from any of the following which you do
+or cause to occur: (a) distribution of this or any Project Gutenberg-tm
+work, (b) alteration, modification, or additions or deletions to any
+Project Gutenberg-tm work, and (c) any Defect you cause.
+
+
+Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
+
+Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
+electronic works in formats readable by the widest variety of computers
+including obsolete, old, middle-aged and new computers. It exists
+because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from
+people in all walks of life.
+
+Volunteers and financial support to provide volunteers with the
+assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's
+goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
+remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
+Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
+and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations.
+To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
+and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4
+and the Foundation web page at http://www.pglaf.org.
+
+
+Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive
+Foundation
+
+The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
+501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
+state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
+Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
+number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at
+http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent
+permitted by U.S. federal laws and your state's laws.
+
+The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S.
+Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered
+throughout numerous locations. Its business office is located at
+809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email
+business@pglaf.org. Email contact links and up to date contact
+information can be found at the Foundation's web site and official
+page at http://pglaf.org
+
+For additional contact information:
+ Dr. Gregory B. Newby
+ Chief Executive and Director
+ gbnewby@pglaf.org
+
+
+Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
+Literary Archive Foundation
+
+Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
+spread public support and donations to carry out its mission of
+increasing the number of public domain and licensed works that can be
+freely distributed in machine readable form accessible by the widest
+array of equipment including outdated equipment. Many small donations
+($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
+status with the IRS.
+
+The Foundation is committed to complying with the laws regulating
+charities and charitable donations in all 50 states of the United
+States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
+considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
+with these requirements. We do not solicit donations in locations
+where we have not received written confirmation of compliance. To
+SEND DONATIONS or determine the status of compliance for any
+particular state visit http://pglaf.org
+
+While we cannot and do not solicit contributions from states where we
+have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
+against accepting unsolicited donations from donors in such states who
+approach us with offers to donate.
+
+International donations are gratefully accepted, but we cannot make
+any statements concerning tax treatment of donations received from
+outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
+
+Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
+methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
+ways including checks, online payments and credit card donations.
+To donate, please visit: http://pglaf.org/donate
+
+
+Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic
+works.
+
+Professor Michael S. Hart is the originator of the Project Gutenberg-tm
+concept of a library of electronic works that could be freely shared
+with anyone. For thirty years, he produced and distributed Project
+Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of volunteer support.
+
+
+Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
+editions, all of which are confirmed as Public Domain in the U.S.
+unless a copyright notice is included. Thus, we do not necessarily
+keep eBooks in compliance with any particular paper edition.
+
+
+Most people start at our Web site which has the main PG search facility:
+
+ http://www.gutenberg.org
+
+This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
+including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
+Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
+subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
+
+
+</pre>
+
+</body>
+</html>
diff --git a/21658-page-images.zip b/21658-page-images.zip
new file mode 100644
index 0000000..412349d
--- /dev/null
+++ b/21658-page-images.zip
Binary files differ
diff --git a/LICENSE.txt b/LICENSE.txt
new file mode 100644
index 0000000..6312041
--- /dev/null
+++ b/LICENSE.txt
@@ -0,0 +1,11 @@
+This eBook, including all associated images, markup, improvements,
+metadata, and any other content or labor, has been confirmed to be
+in the PUBLIC DOMAIN IN THE UNITED STATES.
+
+Procedures for determining public domain status are described in
+the "Copyright How-To" at https://www.gutenberg.org.
+
+No investigation has been made concerning possible copyrights in
+jurisdictions other than the United States. Anyone seeking to utilize
+this eBook outside of the United States should confirm copyright
+status under the laws that apply to them.
diff --git a/README.md b/README.md
new file mode 100644
index 0000000..802c727
--- /dev/null
+++ b/README.md
@@ -0,0 +1,2 @@
+Project Gutenberg (https://www.gutenberg.org) public repository for
+eBook #21658 (https://www.gutenberg.org/ebooks/21658)