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diff --git a/22123-h/22123-h.htm b/22123-h/22123-h.htm new file mode 100644 index 0000000..7c7064c --- /dev/null +++ b/22123-h/22123-h.htm @@ -0,0 +1,4581 @@ +<!DOCTYPE html PUBLIC "-//W3C//DTD XHTML 1.0 Strict//EN" + "http://www.w3.org/TR/xhtml1/DTD/xhtml1-strict.dtd"> + +<html xmlns="http://www.w3.org/1999/xhtml"> + <head> + <meta http-equiv="Content-Type" content="text/html;charset=iso-8859-1" /> + <title> + The Project Gutenberg eBook of Zum Wilden Mann, by Wilhelm Raabe + </title> + <style type="text/css"> +/*<![CDATA[ XML blockout */ +<!-- + p { margin-top: .75em; + text-align: justify; + margin-bottom: .75em; + } + h1,h2,h3,h4,h5,h6 { + text-align: center; + clear: both; + } + + h2 { margin-top: 80px;} + + hr { width: 33%; + margin-top: 2em; + margin-bottom: 2em; + margin-left: auto; + margin-right: auto; + clear: both; + } + + .gesperrt { letter-spacing: 0.25em; } + + .caption {font-weight: bold;} + + .figcenter {margin: auto; text-align: center;} + + table {margin-left: auto; margin-right: auto;} + + body{margin-left: 10%; + margin-right: 10%; + } + + .pagenum { position: absolute; + left: 92%; + font-size: smaller; + text-align: right; + } + + .center {text-align: center;} + // --> + /* XML end ]]>*/ + </style> + </head> +<body> + + +<pre> + +The Project Gutenberg EBook of Zum wilden Mann, by Wilhelm Raabe + +This eBook is for the use of anyone anywhere at no cost and with +almost no restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or +re-use it under the terms of the Project Gutenberg License included +with this eBook or online at www.gutenberg.org + + +Title: Zum wilden Mann + +Author: Wilhelm Raabe + +Release Date: July 23, 2007 [EBook #22123] + +Language: German + +Character set encoding: ISO-8859-1 + +*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZUM WILDEN MANN *** + + + + +Produced by Norbert H. Langkau, Jana Srna and the Online +Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + + + + + +</pre> + + +<div class="figcenter" style="width: 510px; margin-top: 40px; margin-bottom: 80px;"> +<img src="images/raabe.png" width="510" height="600" alt="Wilhelm Raabe." title="" /> +<span class="caption">Wilhelm Raabe.</span> +</div> + +<h1 style="margin-bottom: 60px;">Zum wilden Mann.</h1> + +<h3>Eine Erzählung</h3> + +<p class="center">von</p> + +<h2 style="margin-bottom: 60px; margin-top: auto;">Wilhelm Raabe.</h2> + + +<p class="center" style="margin-bottom: 60px;">Mit dem Bildnis des Verfassers.</p> + + +<p class="center">Leipzig</p> + +<p class="center">Druck und Verlag von Philipp Reclam jun.</p> + + + +<h2><a name="Erstes_Kapitel" id="Erstes_Kapitel"></a>Erstes Kapitel.</h2> + + +<p>Sie machten weit und breit ihre Bemerkungen über +das Wetter, und es war wirklich ein Wetter, über das jedermann +seine Bemerkungen laut werden lassen durfte, ohne +Schaden an seiner Reputation zu leiden. Es war ein dem +Anscheine nach dem Menschen außergewöhnlich unfreundlicher +Tag gegen das Ende des Oktober, der eben in den +Abend oder vielmehr die Nacht überging. Weiter hinauf +im Gebirge war schon am Morgen ein gewaltiger Wolkenbruch +niedergegangen, und die Vorberge hatten ebenfalls +ihr Teil bekommen, wenn auch nicht ganz so arg als Volk, +Vieh, Wald, Fels, Berg und Thal weiter oben. Sie waren +unter den Vorbergen nordwärts vollkommen zufrieden +mit dem, was sie erhalten hatten, und hätten gern auf +alles weitere verzichtet, allein das Weitere und Übrige +kam, und sie hatten es hinzunehmen, wie es kam. Ihre +Anmerkungen durften sie freilich darüber machen; niemand +hinderte sie.</p> + +<p>Es regnete stoßweise in die nahende Dunkelheit hinein, +und stoßweise durchgellte ein scharfer, beißender Nordwind, +ein geborener Isländer oder gar Spitzbergener, aus der +norddeutschen Tiefebene her die Lüfte, die Schlöte und die +Ohren und ärgerte sich sehr an dem Gebirge, das er, wie +es schien, ganz gegen seine Vermutung auf seinem Wege +nach Süden gefunden hatte. Er war aber mit der Nase +darauf gestoßen oder vielleicht auch darauf gestoßen worden +und heulte gleich einem bösen Buben, der gleichfalls mit +dem erwähnten Glied auf irgend etwas aufmerksam gemacht +<span class='pagenum'><a name="Page_6" id="Page_6">[6]</a></span>und hingewiesen wurde. Ohne alle Umschreibung: +der Herbstabend kam früh, war dunkel und recht stürmisch; +— wer noch auf der Landstraße oder auf den durchweichten +Wegen zwischen den nassen Feldern sich befand, +beeilte sich, das Wirtshaus oder das Haus zu erreichen; +und wir, das heißt der Erzähler und die Freunde, welche +er aus dem deutschen Bund in den norddeutschen und aus +diesem in das neue Reich mit sich hinübergenommen hat, +— wir beeilen uns ebenfalls, unter das schützende Dach +dieser neuen Geschichte zu gelangen.</p> + +<p>Der Abend wird gemeiniglich eher Nacht, als man für +möglich hielt; so auch diesmal.</p> + +<p>Es ist recht sehr Nacht geworden. Wieder und wieder +fegt der Regen in Strömen von rechts nach links über +die mit kahlen Obstbäumen eingefaßte Straße. Wir halten, +kurz atmend, die Hand über die Augen, uns nach einem +Lichtschein in irgend einer Richtung vor uns umsehend. +Es müssen da langgestreckte, in ihrer Länge kaum zu berechnende +Dörfer vor uns, dem Gebirge zu, liegen, und +der geringste Lampenschimmer südwärts würde uns die +tröstende Versicherung geben, daß wir uns einem dieser +Dörfer näherten. Vergeblich!</p> + +<p>Pferdehufen, Rädergeroll, Menschentritte hinter uns? +Wer weiß?</p> + +<p>Wir eilen weiter, und plötzlich haben wir das, was +wir so sehnlich herbeiwünschen, zu unserer Linken dicht am +Pfade. Da ist das Licht, welches durch eine Menschenhand +angezündet wurde. Eine plötzliche Wendung des Weges +um dunkles Gebüsch bringt es uns überraschend schnell +vor die Augen, und wir stehen vor der Apotheke »zum +wilden Mann.«</p> + +<p>Ein zweistöckiges, dem Anscheine nach recht solides Haus +mit einer Vortreppe liegt zur Seite der Straße vor uns, +ringsum rauschende, triefende Bäume — gegenüber zur +Rechten der Straße ein anderes Haus — weiter hin, durch +<span class='pagenum'><a name="Page_7" id="Page_7">[7]</a></span>schwächeren Lichterschein sich kennzeichnend, wieder andere +Menschenwohnungen: der Anfang einer dreiviertel Stunde +gegen die Berge sich hinziehenden Dorfgasse. Das Dorf +besteht übrigens nur aus dieser einen Gasse; sie genügt +aber dem, der sie zu durchwandern hat, vollkommen; und +wer sie durchwanderte, steht gewöhnlich am Ausgange mehrere +Augenblicke still, sieht sich um und vor allen Dingen +zurück und äußert seine Meinung in einer je nach dem +Charakter, Alter und Geschlecht vermiedenen Weise. Da +wir den Ausgang oder Eingang jedoch aber erst erreichen, +sind wir noch nicht hierzu verpflichtet. Wir suchen einfach, +wie gesagt, vorerst unter Dach zu kommen und eilen rasch +die sechs Stufen der Vortreppe hinauf; der Erzähler mit +aufgespanntem Schirm von links, der Leser, gleichfalls mit +aufgespanntem Schirm, von rechts. Schon hat der Erzähler +die Thür hastig geöffnet und zieht sich den atemlosen +Leser nach, und schon hat der Wind dem Erzähler +den Thürgriff wieder aus der Hand gerissen und hinter +ihm und dem Leser die Thür zugeschlagen, daß das ganze +Haus widerhallt wir sind darin, in dem Hause sowohl, +wie in der Geschichte vom <span class="gesperrt">wilden Mann!</span> — — Daß +wir uns in einer Apotheke befinden, merken wir auf der +Stelle auch am Geruche.</p> + +<p>Die erleuchteten zwei Fenster, welche wir von der durchweichten, +regen- und sturmwindgeschlagenen Landstraße aus +erblickten, waren die der Offizin, und die Lampe an der +Decke darin warf ihr Licht durch die breiten Schiebfenster +auch auf die Hausflur. In der pharmaceutischen Werkstätte +herrschte außer dem bekannten Duft die gleichfalls +wohlbekannte Ordnung und Reinlichkeit der deutschen Apotheken. +Die weißen, mit blauen Buchstaben und hin und +wieder mit schwarzen Totenköpfen und den beiden Armknochen +bezeichneten Büchsen und Gläser in den Fächern +an den Wänden, die blanken Mörser und grünschwarzen +Steinreibeschalen, die Wagschalen und alle übrigen Gerätschaften +sahen ordentlich angenehm und anlockend aus.<span class='pagenum'><a name="Page_8" id="Page_8">[8]</a></span> +Wäre die schreckliche Bank, auf welcher die Meisten von +uns schon einmal in fiebernder Angst und Beklemmung +saßen und warteten, nicht gewesen, das Werkzeug und Geräte +der hohen Kunst hätte jedermann das höchste Vertrauen +einflößen müssen.</p> + +<p>Aber die böse Bank! Der abgeriebene schlimme Stuhl! +— Wir saßen eben schon darauf — vielleicht wohl am +hellen, frostklaren Winternachmittag, oder noch viel schlimmer +in der stillen, warmen, der entsetzlichen, wenngleich +noch so schönen Sommernacht; wir trauen den Büchsen +und Gläsern, den Flaschen, Wagschalen und Reibeschalen +wenig, wir erinnern uns nur, wie wir damals dem ruhiggemessenen, +geheimnisvollen Wirken des Mannes hinter +dem Arbeitstische wild und dumm zusahen.</p> + +<p>In der Offizin befand sich augenblicklich niemand; aber +es fiel noch ein Lichtschein aus einem anstoßenden Zimmerchen, +dessen Thür halb geöffnet stand. Und mit dem +Scheine drang ein anderer Duft ein, der die apothekarische +Atmosphäre einer auffälligen Veränderung und Entmischung +unterwarf; <em>herba nicotiana</em> gehört freilich ebenfalls zu den +offizinellen Gewächsen. Wir folgen <span class="gesperrt">diesem</span> Geruch und +treten in das Nebengemach.</p> + +<p>Das Ding in dem engen Raume ließ sich ganz gemütlich +an. Aus der einen Ecke versendete ein eiserner +Ofen eine behagliche Wärme, in der anderen war gegen +einen mächtigen gepolsterten Lehnstuhl, der leer stand und +von dem später noch die Rede sein wird, ein runder Tisch +gezogen, an welchem auf gleichfalls gepolsterten, hochlehnigen +Stühlen sich die jedesmaligen Gäste, mit der Pfeife +im Munde und ein offizinelles oder nicht offizinelles warmes +oder kaltes Getränk vor sich, den Aufenthalt sicherlich +recht bequem und behaglich machen konnten. Gegenwärtig +jedoch hatte nur der Herr des Hauses, der Besitzer der +Apotheke »zum wilden Mann«, allein auf seinem Stuhle +Posto gefaßt, und ob er an diesem stürmischen Abend<span class='pagenum'><a name="Page_9" id="Page_9">[9]</a></span> +wirklich noch jemand zum Besuch erwartete, und ob wirklich +jemand der Erwartung entsprach, können wir augenblicklich +noch nicht angeben. Wir sind mit der Schilderung +unserer Bühne noch nicht zustande und fahren vorerst +darin fort.</p> + +<p>Das Kabinettchen hinter der Offizin war mit einer +gelblichgrauen, grauschwarz geblümten Tapete, soweit sich +das überblicken ließ, ausgeklebt. Auf der Fensterbank stand +neben einigen Blumentöpfen ein Käfig mit einem schlafenden +Zeisig, der jedesmal, wenn ein Baumzweig im Garten, +vom Winde gepackt und geschleudert, schärfer an der Glasscheibe +herkratzte, oder wenn ein Regenstoß heftiger an der +Scheibe trommelte, fester und behaglicher im Gefühle seiner +Sicherheit sich in eine Federkugel zusammenzog.</p> + +<p>Eine Eckschenke mit allerlei Tassen, bunten Töpfen und +Gläsern und auf ihr eine ausgestopfte Wildkatze in einem +Glaskasten dürften in der Inventaraufnahme nicht zu vergessen +sein. Ein vordem recht blumiger, aber nunmehr +längst verblaßter und abgetretener Teppich bedeckte den +Boden; von der Decke hing eine künstlich geflochtene Graskrone, +ein Staub- und Fliegenfänger herab; und wenn wir +nun noch den Bildern an den Wänden einige Worte gewidmet +haben werden, so hindert uns weiter nichts, fürderzugehen +und interessanter zu werden.</p> + +<p>Die Bilder an den Wänden freilich waren schon an +sich interessant. Ihre Anzahl allein mußte jeden eintretenden +Betrachter höchlichst in Erstaunen setzen und für eine +geraume Zeit in ein mundoffenes Umherstarren an allen +vier Wänden, nach allen vier Himmelsgegenden. Hatte er +sich von seiner Überraschung erholt, so konnte er anfangen +zu zählen oder die Zahl wenigstens annähernd zu +schätzen. Beides aber war schwer, denn die Bilder und +Bildchen unter Glas und Rahmen bedeckten in kaum zu +berechnender Menge die Wände von oben bis unten, das +heißt so weit nach unten, als es nur irgend möglich war.<span class='pagenum'><a name="Page_10" id="Page_10">[10]</a></span> +Alle Arten und Formate in Kupferstich, Stahlstich, Lithographie +und Holzschnitt, alle Gegenstände und Situationen +im Himmel und in der Hölle, auf Erden, im Wasser, im +Feuer und in der Luft, schwarz oder koloriert.</p> + +<p>Viele Ramberg'sche und Chodowiecki'sche Kunstschöpfungen, +unzählige Scenen aus dem Leben Friedrichs des Zweiten +und Napoleons des Ersten, die drei alliirten Monarchen +in drei verschiedenen Auffassungen auf dem Leipziger +Schlachtfelde, die am Palmbaum hängende Riesenschlange, +an welcher der bekannte Neger hinaufklettert, um ihr die +Haut abzuziehen, Scenen aus dem Corsar, »ein Gedicht +von Lord Byron«, Modebilder, ein Porträt von Washington, +ein Porträt der Königin Mathilde von Dänemark +und des Grafen Struensee und, verloren unter all der +bunten, kuriosen Nichtsnutzigkeit, zwischen zwei Straßenscenen +aus dem Jahre 1848, ein echter alter Dürer'scher +Kupferstich: <em>Melancholia</em>!</p> + +<p>Wir beendigen die Kalalogisierung. Dreißig Jahre hatte +der während dieser dreißig Jahre fest an seine Offizin gebundene +Apotheker Philipp Kristeller gebraucht, um seine +Bildergalerie zusammenzubringen; es war ihm also gar +nicht zu verdenken, wenn er auf seine Galerie hielt, auf +seine Kunstliebhaberei und seinen Geschmack sich etwas zu +gute that. Sein Hinterstübchen war wohl geziert, und er +hatte außerdem noch einiges andere, worauf er sich etwas +zu gute thun durfte.</p> + +<p>Wenden wir jetzt unsere Aufmerksamkeit auf den Mann +am Tische. Er mochte ein Alter zwischen den fünfziger +und sechziger Jahren erreicht haben, war von Leibesbeschaffenheit +mehr hager als dick, von Farbe mehr gelb und +grau als rot und braun und von Statur mittlerer Größe. +Er trug einen grauen Schlafrock, niedergetretene, dunkelrote +Pantoffeln und auf dem silbergrauen, schlichten Haar +eine dunkelgrüne Hauskappe mit abgegriffener Goldstickerei, +einen Kranz von Eicheln und Eichenblättern darstellend.<span class='pagenum'><a name="Page_11" id="Page_11">[11]</a></span> +Er rauchte aus einer langen Pfeife, auf deren Kopf ein +Maikäfer gemalt war, und stützte nachdenklich die Stirn +mit der Hand, den Blick auf den großen, leeren, bequemen +Lehnstuhl ihm gegenüber gerichtet.</p> + +<p>Zum ersten Male blickte er empor, als die Thür, welche +aus dem Hinterzimmer nicht in die Offizin, sondern auf +die Hausflur führte, leise geöffnet wurde, und ein alter +Frauenzimmerkopf sich hineinschob:</p> + +<p>»Aber Bruder, welch ein Wetter!«</p> + +<p>»Freilich ein bewegtes Wetter, liebe Schwester.«</p> + +<p>Ob die alte Dame die Antwort noch vernommen hatte, +muß zweifelhaft bleiben, denn sie hatte die Thür eben so +rasch und leise, wie sie dieselbe geöffnet hatte, wieder zugezogen.</p> + +<p>»Ein vernehmbar bewegtes Wetter, in der That,« murmelte +der Apotheker »zum wilden Mann« lächelnd und +nach dem bestürmten Fenster horchend. In demselben +Moment klang die Glocke der Hausthür, und es wurde an +das Schiebfenster der Offizin gepocht. Herr Philipp Kristeller +erhob sich, stellte die Pfeife an den Stuhl und ging +gebückt in seine Werkstatt. Kopfschüttelnd kam er nach einer +viertelstündigen Arbeit im Berufe zurück; die Hausthürglocke +erklang von neuem, und eiligen Laufes entfernte sich +jemand, durch die Wasserlachen der Landstraße dem Dorfe +zuplatschend, ohne im geringsten auf seinen Weg Obacht +zu haben.</p> + +<p>Kopfschüttelnd nahm der Alte seinen Sitz wieder ein, +zündete seine Pfeife von neuem an und sagte:</p> + +<p>»Eine ungesunde Jahreszeit — ein Apothekerherbst. — +Gute Kasse, aber doch ein schlechtes Geschäft.«</p> + +<p>Er seufzte dabei, und das Wort wie der Seufzer zeugten +unstreitig von einem guten Herzen.</p> + +<p>Nun saß er wieder einige Minuten, bis er plötzlich zusammenschrak:</p> + +<p>»Mein Gott — ja aber — ist es denn so?!«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_12" id="Page_12">[12]</a></span> +Er erhob sich von neuem hastig, schritt diesmal eilig +in die Offizin, schloß ein Stehpult am Fenster auf, nahm +ein Buch hervor und blätterte darin. Seine Finger zitterten, +seine Lippen zuckten, er sah sich mehrere Male wie +zweifelnd in dem aromatisch durchdufteten Raum um: es +war kein Zweifel, jede Büchse und jedes Glasgefäß, mit +oder ohne Totenkopf, befand sich noch auf seinem Platze. +Der Apotheker Kristeller schloß das Buch, legte die Hand +darauf und rief:</p> + +<p>»Es ist wahrhaftig so! Es ist richtig; heute ist der +Tag oder vielmehr der Abend. Es sind dreißig Jahre auf +die Stunde — ein Jubiläum — und ich hatte das vollständig, +vollständig vergessen. Dorothea, Dorothea!«</p> + +<p>»Lieber Bruder?« klang es draußen schrill.</p> + +<p>Der Alte schritt in seiner Aufregung fünf Minuten lang +auf und ab; dann war seine Geduld zu Ende. Er öffnete +die Thür:</p> + +<p>»Dorette, Dorette!«</p> + +<p>»Was giebt es denn, Philipp?« ertönte es aus der +Ferne. »Ich höre den Wind wohl; aber was kann man +dagegen thun, — Thür und Fenster sind verwahrt, und +das Übrige steht in Gottes Hand.«</p> + +<p>»Ei, ei,« murmelte Herr Philipp und rief dann: »Es +handelt sich nicht um Wind und Wetter. Komm doch einmal +einen Augenblick herein, Dorothea!«</p> + +<p>Es dauerte noch verschiedene Augenblicke, ehe das möglich +war; aber zuletzt geschah es doch. Da war das Altjungfergesicht +wieder und jetzt die ganze übrige Figur und +zwar mit einem über jeden höflichen Zweifel erhabenen +Buckel zwischen den Schultern.</p> + +<p>»Wir haben es augenblicklich ziemlich eilig in der Küche, +lieber Philipp. Wünschest du etwas, bester Bruder?«</p> + +<p>»Nein; aber heute vor dreißig Jahren um diese Stunde +verkaufte ich in diesem Hause für den ersten Groschen Wundspiritus. +Den Altvater Zimmermann — Gott habe ihn<span class='pagenum'><a name="Page_13" id="Page_13">[13]</a></span> +selig! — hatte der Gaul an die Hüfte geschlagen. Ich +habe es mir notirt vor dreißig Jahren, und ich hatte es +gänzlich vergessen — dem Lehnstuhle dort zum Trotz!«</p> + +<p>»O du meine Güte!« rief das alte Fräulein und verschwand +nach einigem, wie es schien, ratlosen Zögern, schlug +dann aber die Thür um so heftiger hinter sich zu. Schon +auf dem Hausflur wußte Fräulein Dorette Kristeller ganz +genau, was sie zu thun habe, und man hatte für den ferneren +Abend es noch um ein Bedeutendes eiliger in der +Küche der Apotheke »zum wilden Mann«.</p> + + + +<h2><a name="Zweites_Kapitel" id="Zweites_Kapitel"></a>Zweites Kapitel.</h2> + + +<p>Trotz aller geistigen Aufregung mußte der Apotheker +Philipp Kristeller einen erstaunten Blick für die Pforte, +durch welche die Schwester so plötzlich wieder verschwunden +war, übrig haben.</p> + +<p>»Herr Jesus!« sagte er; und dann versuchte er es von +neuem, sich ruhig zu setzen, allein es wollte nicht angehen. +Das bedeutungsvolle Datum brannte wie in feurigen +Ziffern und Buchstaben vor seinen Augen, und so schob +er denn den Stuhl unter den Tisch und schlurfte, immerfort +den Kopf schüttelnd, in seiner Bildergalerie auf und +ab; und immer klarer und deutlicher stieg die Welt, welche +vor dreißig Jahren, vor einem Menschenalter, war, in +seiner Seele empor. Ja, von seiner frühesten Kindheit an +lag mit einem Mal alles in den schärfsten Umrissen vor +ihm, und nur seine ihm allzu früh gestorbenen Eltern +durchzogen schemenhaft die helle Landschaft. Dagegen stand +der Vormund in derber, ungemütlicher Deutlichkeit in dem +Zauberlicht und in der Mitte der Scenerie jener kleinen +Provinzialstadt jenseits des Gebirges, dem Thüringerlande +zu, mit dem Kyffhäuser in der Nähe und dem Kickelhahn +in der blauen magischen Ferne.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_14" id="Page_14">[14]</a></span> +»Der allergewöhnlichste Mensch hat doch immer etwas +erlebt, wenn er so ein Menschenalter über ein Menschenalter +hinaus zurückdenken kann,« murmele der Alte. »Wie +lebendig das nun alles ist, was eben tot und vergessen in +meiner Seele lag. Da ist ja der alte Biedermann, der +Grauwacker, mein Lehrherr, mit seinem ganzen Haus und +Hauswesen. Welch ein schnurriger, verbissener Patron er +war; und dann die Patronin, ich meine die Frau Prinzipalin. +Herrgott, wie sorgst du in deiner Güte und Weisheit +dafür, daß denen, welchen du einen kleinen Löffel auf +den Lebensweg mitgiebst, auch der Brei nach dem richtigen +Maße zugemessen wird! Ist es mir doch, als verspürte ich +heute noch das Magenknurren aus jener guten, alten Zeit +unter dem Zwerchfell. Und es war doch eine glückliche, +gesunde Zeit! Und gelernt hat man auch das Seinige +bei dem alten Grauwacker; man muß es ihm lassen, er +verstand das Geschäft, die Kunst, und er wußte uns darin +zurecht zu schütteln. Alles, was nachher kam —«</p> + +<p>Die Glocke der Offizin klingelte von neuem; abermals +ging der Apotheker in seine Werkstatt zu seiner Arbeit, die +diesmal etwas länger als vorhin dauerte. Während er +seinen Trank mischte und kochte, führte er im landläufigen +Dialekt eine Unterhaltung, die wir dem Leser nicht vorenthalten +wollen, die Mundart freilich abgerechnet.</p> + +<p>»Ihr habt euch bei einem schlimmen Wetter auf den +Weg machen müssen, Gevatterin. Es steht wohl gar nicht +gut zu Hause?«</p> + +<p>»Wie mit dem Wetter draußen,« sagte das frische, sehr +gesunde Bauerweiblein verdrossen. »Man hat seine liebe +Not, daß man sich darüber selber gern vom Tage thun +möchte. Er kann nicht leben und will nicht sterben; — +ich glaube, er hält sich eben durch das Ärgernis, welches +er uns macht; — recht machen kann man ihm gar nichts +mehr, und von dem Verdruß lebt er so hin von einem +Tage zum andern.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_15" id="Page_15">[15]</a></span> +»Hm, hm,« brummte Herr Philipp.</p> + +<p>»Ja, es ist doch so, und der Doktor zieht dann das +Beste davon. Das Ding hat er gestern Abend verschrieben, +und es ist uns sehr eilig gemacht; ich meine aber, +Sie wissen es am besten, Herr Kristeller, daß kein Tag +vergeht, an welchem Sie mich nicht auf dieser Bank sitzen +sehen. So dachte ich denn, es hat wohl Zeit bis morgen, +und weggeworfenes Geld ist es doch.«</p> + +<p>»Hm, hm,« brummte Herr Philipp, fügte aber diesmal +hinzu: »Doktor- und Apothekerrechnungen zahlt wohl niemand +gern; — aber wir machen es so billig als möglich, +Gevatterin.«</p> + +<p>»Wie es sich schickt für eine arme, elende Witfrau,« +schluchzte die muntere Bäuerin hinter ihren Schürzenzipfeln.</p> + +<p>»Na, na,« sagte der Apotheker, »zum Teufel, noch lebt +er ja! Witfrau? junge Frau! ei freilich! — und meiner +Meinung nach wird er es noch manches lange, gute Jahr +durchmachen. Der Doktor und ich wollen schon das Unsrige +thun.«</p> + +<p>Die untröstliche Gattin auf der Bank stieß einen Ton +hervor, der alles bedeuten konnte: Dankbarkeit, Hoffnung, +Freude, Schreck, Mißmut, Ärger und Hohn. Der Apotheker +hatte seine Mixtur fertig, reichte sie durch das Fenster, +und die jammergeschlagene junge Witwe <em>in spe</em> ging +ab und zwar zu seinem innigsten Genügen gerade in ein +erhöhtes Aufwüten und Lostosen des Herbststurmes hinein.</p> + +<p>»Die Canaille!« brummte der Alte, als er in seine +Bildergalerie zurückkam und sich unter dem Eindrucke der +Unterhaltung wieder recht fest niederließ, nachdem er mit +merklicher Energie vorher frisches Holz in den Ofen geworfen +hatte. »Dies Frauenzimmer hätte mir beinahe +meine süßesten Erinnerungen für jetzt zu nichte gemacht,« +murmelte er. »Eben geriet ich in dieselben hinein, als +das Weib die Glocke zog; aber das ist freilich immer mein +Los in der Welt gewesen, und anderen wird es wohl nicht<span class='pagenum'><a name="Page_16" id="Page_16">[16]</a></span> +besser gehen. Und dann ist ja doch auch nichts daraus +geworden, Johanne! Zusammen sind wir nicht gekommen. +Jeder hat seinen eigenen Weg gehen müssen; ich unter so +sonderbaren Umständen in diesen verlorenen Weltwinkel, +du, mein armes Kind und Herz, in dein Grab. <em>Nunc +cinis ante rosa</em>, einundzwanzig Jahre alt — ach, Johanne, +liebe, liebe Johanne! — Ja, ja, es wäre doch schön und +gut gewesen, wenn wir zusammengekommen wären und +ich dich heute nach einem Menschenalter hier bei mir hätte +als alte, gute, schöne Frau!«</p> + +<p>Es duldete den guten würdigen Herrn an diesem merkwürdigen +Abend nimmer lange auf seinem Sitze. Jetzt +holte er ein Paket vergilbter Briefe aus dem oben erwähnten +Pult und löste den Bindfaden davon ab.</p> + +<p>»Trockene Blumen und Blätter,« seufzte er. »Alles, +was ich da in meinen Büchsen und Schachteln habe, grünte +und blühte auch einmal wie jedes Wort auf diesem Papier. +Apothekerwaren? Droguerien? Nein, nein, nein! Jenes +ist tot und bleibt so; aber dies hier ist noch lebendig und +blüht fort und kennt keine Zeit und keinen Jahreswechsel. +Es hat seine Wurzeln in meiner Seele geschlagen: wie +könnte es da welken und zu nichte werden? In der Sonne, +im fliegenden Wolkenschatten, im Mondschein, im Nebelziehen, +im grauen Landregen, im lustigen Schneegestöber +liegt das Thal, liegen die Berge lebendig. Das ist die +alte Stadt — ja, da ist sie, wie sie war, als wir jung +waren; — jedes Haus ein guter Bekannter. Da ist das +Eckfenster, an welchem ich stets vorbeigehe, wenn der Alte +mich auf die Pflanzenjagd schickt. Da sitzt das gute Kind +mit seinem Nähzeug, und es währt lange, sehr lange, ehe +sie mich bemerkt, und noch länger, ehe ich an die Thatsache +glaube, daß sie mir wirklich entgegenschaut und nachsieht. +Es ist lange, lange eine Liebe ohne Worte, bis der Himmel +ein Einsehen hat und ein Regenschauer zur richtigen +Zeit auf einer Landpartie schickt, nachdem er mir vorher<span class='pagenum'><a name="Page_17" id="Page_17">[17]</a></span> +die glückselige, heilbringende Idee eingegeben hat, beim +schönsten Sonnenschein und blauesten Himmel einen Schirm +mitzunehmen. So lernten wir uns in der Nähe kennen +— vom Herzen zum Herzen, von Seele zu Seele. Da ging +das beste Erdenleben an. — Sie hatte wenig und ich gar +nichts; aber der liebe Gott hatte ungezählte Schätze für +uns und gab eine kurze, kurze Zeit alles mit vollen Händen. +Erst im zweiten Sommer nach unserem geheimen +Verlöbnis, nachdem wir ein volles Jahr durch in unserem +Glück und unserer Hoffnung Millionäre gewesen waren, +fiel uns ein, darüber nachzudenken, was wohl weiter daraus +werden möge und könne —«</p> + +<p>Abermals klang die Glocke und unterbrach den erinnerungsvollen +Traum. Es waren aber diesmal keine Kunden, +welche den Apotheker »zum wilden Mann« störten. +Die stets recht deutliche Stimme der Schwester Dorette ließ +sich draußen vernehmen:</p> + +<p>»Da sind Sie, meine Herren! Gottlob, daß Sie gekommen +sind. Das ist schön, das ist sehr freundlich von Ihnen. +Ich wußte es aber auch, daß ich Sie nicht vergeblich bitten +würde. Dem Bruder ist die große Merkwürdigkeit eben erst +eingefallen, und da hat es sich mir sogleich schwer auf das +Herz gelegt, und ich habe dann den Fritz losgejagt. Ich +kenne ihn ja nur zu gut, den Bruder; er würde sich ohne +gute Gesellschaft eine traurige Nacht zurecht gemacht haben, +seine melancholischen Einbildungen würden uns kläglich +genug mitgespielt haben. Aber nun ist es gut, denn an +diesem Abend gehören wir ja doch zusammen, und der +Bruder wird sich nun recht sehr freuen, — schönsten guten +Abend, meine Herren!«</p> + + + +<h2><a name="Drittes_Kapitel" id="Drittes_Kapitel"></a>Drittes Kapitel.</h2> + + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_18" id="Page_18">[18]</a></span> +Die beiden Herren, zu denen die Schwester Dorette der +melancholischen Einbildungen ihres Bruders wegen sofort +geschickt hatte, nachdem er ihr die Bedeutung des heutigen +Abends zugerufen, waren der Pastor des Ortes, Herr +Schönlank, und der Förster Ulebeule. Ersterer kam, dicht +in den Mantel gewickelt, mit seiner Laterne und seinem +Regenschirm, letzterer, jeglicher Witterung Trotz bietend, in +kurzer, grünkragiger Flausjacke, den derben, eisenbeschlagenen +Hakenstock unterm Arme. Beide aber schüttelten sich +vor allen Dingen tüchtig auf der Hausflur und sagten wie +jedermann weit und breit:</p> + +<p>»Brr, welch' ein Wetter!«</p> + +<p>Und der Förster fügte noch hinzu:</p> + +<p>»Das nennt man freilich auch, unterm Wind sich anschleichen; +aber ein Vergnügen war es gerade nicht. Na, +Pastore, hier haben wir Überwind, und für das Übrige +wird Fräulein Dorette zu sorgen wissen.«</p> + +<p>Der Alte im Hinterstübchen, welcher anfangs etwas betroffen +gehorcht, hatte sich schnell in die Situation gefunden. +Ein Lächeln auf seinem gutmütigen Gesichte wurde +immer breiter und sonniger, und jetzt riß er seinerseits die +Thür auf, welche aus seinem Schlupfwinkel auf die Hausflur +führte, und rief in heiterster Laune:</p> + +<p>»Herein, herein, und gelobt seien alle melancholischen +Phantasien, wenn sie einem so erwünschte Gesellschaft ins +Haus führen. Das war ein Gedanke — das war eine +That, Dorette! Herein, liebe Freunde, — das ist freilich +ein Abend, um eine Nacht daraus zu machen, und letzteres +wollen wir und zwar, wie es sich gehört! Herein, +und jeder an seinen Platz, und ein Vivat für die alte +Apotheke!«</p> + +<p>»Davon nachher, wenn wir erst Chinesien auf dem<span class='pagenum'><a name="Page_19" id="Page_19">[19]</a></span> +Tische haben werden,« sagte der Förster, seinen Stock in +den Winkel stellend. »Fürs erste, alter Bursch, ganz sedate +unsere beste Gratulation zum glorwürdigen Jubiläum. +Wenn der Pastor das noch einmal und mit Salbung vorträgt, +so habe ich auch nichts dagegen; aber wenn wir den +Hasenfuß, den Physikus hier hätten, so würde der uns allen +den Rang ablaufen; ein hirschgerechterer Jäger für einen +Glückwunsch und Trinkspruch soll noch gefunden werden; +aber er ist über Land geholt.«</p> + +<p>»Und wird zu Hause meine Benachrichtigung vorfinden,« +sagte Fräulein Dorette Kristeller.</p> + +<p>»Schön,« sprach der Förster, »unter den Umständen kriegen +wir ihn sicherlich noch zu Gesicht. Übrigens würde er +es schon ganz aus Naturanlage gewittert haben, daß wir +uns hier rudelten. Bis Mitternacht bleiben wir ja doch +wohl vergnügt beisammen?«</p> + +<p>»Natürlich! Hurra!« rief der Apotheker, und der Pastor +brachte nun wirklich in Erwartung Chinesiens, das heißt +der Punschbowle, fein, zierlich und schicklich seine Gratulation +gleichfalls an.</p> + +<p>Unterdessen hatte sich das ganze Haus mit eigentümlichen, +anmutigen Düften, die den Apothekendunst ihrerseits +sieghaft bekämpften, gefüllt. In des Hauses Küche hatte ein +merkwürdig lebendiges Treiben begonnen; allerlei Gerät +rasselte und klirrte fröhlich durcheinander. Punkt neun +Uhr stand die erste dampfende Schale auf dem Tisch, und +nicht sie allein, sondern, was dazu gehörte, ebenfalls. Für +fünf Minuten fand des Apothekers Schwester nun auch +Muße, sich zu den Männern zu setzen und die ersten Belobungen +derselben in Empfang zu nehmen.</p> + +<p>Die Belobungen kamen zu rechter Zeit; aber dann trat +für einige Augenblicke das Stillschweigen ein, welches immer +entsteht, wenn ein des Nachdenkens würdiges Getränk +auf den Tisch gesetzt wird. Daß dieses Stillschweigen +schnell überwunden wird und ein jeder sich merkwürdig rasch<span class='pagenum'><a name="Page_20" id="Page_20">[20]</a></span> +mit der Feierlichkeit des Momentes abzufinden weiß, ist +bekannt.</p> + +<p>»Also wirklich bereits ein volles Menschenalter!« rief +der geistliche Herr. »Ich hielt es im Anfang fast für unmöglich; +aber nun, da ich im Stillen nachgerechnet habe, +finde ich und gebe zu, daß es sich in der That also verhält. +Ich hatte mich in jenem Jahre gerade mit meiner +guten Friederike in den Stand der heiligen Ehe begeben, +und mein ältester Sohn, der Inspektor, ist wahrlich seitdem +bereits achtundzwanzig Jahre alt geworden.«</p> + +<p>»Wahrhaftig, Pastore, und wenn ich daran denke, wie +Ihr schlecht bei Leibe hier ankamt, und Euch ansehe, wie +Ihr jetzo da sitzt, so brauche ich gar nicht an den Fingern +abzuzählen, um an die dreißig Jahre zu glauben. Übrigens +empfing ich euch alle hier und machte euch die Honneurs +des Ortes. Zuerst rücktet Ihr ein, Pastore, und heiratetet +Eures Vorgängers Tochter; und nachher kam der gleichfalls +noch anwesende Jubilant, um die gesunde Gegend mit +seinen Pillen und Mixturen noch gesunder zu machen. +Den Doktor rechne ich gar nicht; denn ein Mensch, der erst +ein Dutzend Jahre unter uns haust, ist eben gar nicht zu +rechnen.«</p> + +<p>»Der liebe Gott hat Euch wirklich in Eurem Einzuge +gesegnet, lieber, alter Freund,« sagte der Pastor zum Hausherrn. +»Eure zwei Vorgänger hatten mit großer Schnelligkeit +in diesem Hause Bankerott gemacht; Ihr aber hattet +Glück —«</p> + +<p>»Und Verstand,« fiel der Förster Ulebeule ein, »den +richtigen Verstand von der Sache; denn in einer so gesunden +Gegend, wie die hiesige zum Exempel, legt sich der +richtige Apotheker eben auf etwas anderes, zum Beispiel +auf einen neuen Magenbitter, wie der ›Kristeller‹ einer ist, +auf die Fruchtsäfte im Großen, auf den Weinhandel und, +nicht zu vergessen, auf den Kräuterhandel durch ganz +Deutschland ins Unermeßliche. Heute Abend ist denn im<span class='pagenum'><a name="Page_21" id="Page_21">[21]</a></span> +natürlichen Verlaufe der Dinge der Alte da in seinem +Schlafrocke der allereinzige von uns, welcher es zu etwas +gebracht hat. Der Doktor wird es nie zu etwas bringen.«</p> + +<p>Der geistliche Herr seufzte; aber der Apotheker »zum +wilden Mann«, Herr Philipp Kristeller, seufzte ebenfalls, +und als gerade jetzt Wind und Sturm stärker und böser +mit Regen und Schloßen durchs Land fuhren, sah er wie +erschreckt von dem behaglichen Tisch auf das gepeitschte, +klirrende Fenster. Die alte, gute Schwester rückte dichter +an ihn heran, indem sie flüsterte:</p> + +<p>»Liebe Herren, man muß niemandem sein Glück vorrücken, +es nützt nichts und hat schon häufig geschadet; das +ist meine Meinung. Und ob meines Bruders Glück gerade +so groß gewesen ist, das steht wirklich noch dahin. Wir +haben unser Los und Leben genommen, wie es uns gegeben +wurde, das ist aber auch alles. Auf das Jubiläum +aber trinke ich doch, und jetzt will ich den Spruch ausbringen +und sagen: Es lebe die Apotheke ›zum wilden +Mann!‹«</p> + +<p>Sie hatte, während sie redete, die Gläser im Kreise gefüllt, +und alle stießen an, doch mit Nachdenken und Ernst, +wie es sich gehörte. Herr Philipp aber, unruhig auf seinem +Stuhle hin- und herrückend, sprach leise und mehr zu sich +selber als zu den andern:</p> + +<p>»Es ist eine Nacht dazu — die rechte Nacht. Es ist +mehr als ein Menschenalter hingegangen, seit das, was +ich mein Hauptglück nennen sollte, an mich kam. Hört nur +den Sturm da draußen, wie er sich unbändig hat, ihr +solltet kaum glauben, daß sich morgen vielleicht kein Lüftchen +regen wird, um das letzte Blatt vom Baume zu nehmen. +Man sagt, es verjähre alles; aber es ist nicht wahr. +Es kommt alles wieder an einen, der Sturmwind wie die +alte Zeit. Ihr lieben Freunde, wollt ihr mich anhören, +so will ich euch eine Geschichte erzählen, eine kuriose, eine +recht, recht kuriose Geschichte. Ich will euch erzählen, wie<span class='pagenum'><a name="Page_22" id="Page_22">[22]</a></span> +ich vor mehr als dreißig Jahren der Besitzer der Apotheke +›zum wilden Mann‹ wurde.«</p> + +<p>Der Pastor sagte gar nichts; aber auch er rückte näher +an Herrn Philipp heran, berührte ermunternd seinen Ellbogen +und bot ihm zu noch größerer Ermunterung die +blank abgegriffene silberne Dose.</p> + +<p>»Geschichten höre ich für mein Leben gern, selbst Jagdgeschichten +im Notfall!« rief der Förster eifrig. »Endlich +ist das Wild los! hin nach der Fährt —«</p> + +<p>»Einen Augenblick!« bat Fräulein Dorette, »jetzt muß +ich noch für eine Minute in die Küche, nachher bin ich +wieder ganz und gar bei dir, Philipp. Die beiden Nachbarn +entschuldigen wohl.«</p> + +<p>Sie entschuldigten gern und warteten und machten noch +einige Bemerkungen über die Jahreszeit und die Witterung. +Nachdem aber die Schwester zurückgekommen war, erzählte +der Bruder wirklich seine Geschichte — eine kuriose +Geschichte!</p> + + + +<h2><a name="Viertes_Kapitel" id="Viertes_Kapitel"></a>Viertes Kapitel.</h2> + + +<p>»Liebe, gute, treue Freunde und Nachbarn,« begann der +Mann, der nach der Meinung des Försters Ulebeule es zu +etwas im Leben gebracht, d. h. etwas vor sich gebracht +hatte im Dorfe, »ich habe, ehe ihr kamet, von der alten +Zeit verlockt, schon zweimal meinen Archivkasten da in der +Offizin geöffnet und habe den Staub von der Vergangenheit +geblasen; jetzt werde ich wohl noch ein Dokument +daraus hervorholen müssen. Trotz aller wunderlichen Geheimnisse +liegt mein Geschick vollständig klar auf dem Papiere +da; nicht etwa daß ich ein Tagebuch oder dergleichen +geführt hätte, sondern in wirklichen authentischen Schriftstücken, +die ich euch dann auch nachher zu eigener Begutachtung +in die Hände geben werde.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_23" id="Page_23">[23]</a></span> +»Mein Vater hatte mir einige Tausend Thaler hinterlassen; +aber mein Vormund, ein gutmütiger, wohlmeinender, +doch höchst zerfahrener und leichtsinniger Mann, hatte +wenig auf dieselben Achtung gegeben. Als ich das Geld +gebrauchen konnte, war es bis auf ein Minimum verschwunden, +und der Vormund legte mir schluchzend das +Bekenntnis ab: er wisse am allerwenigsten, wo es geblieben +sei. Übrigens fügte er zu meinem Troste hinzu: mit +seinem eigenen Vermögen sei es ihm gerade so ergangen. +Er war ein ältlicher Herr mit drei unverheirateten ältlichen +Töchtern, und alle waren meine besten Freunde; — was +blieb mir also übrig, als mit ihnen zu weinen und so auch +meinerseits das trockene Faktum in gegenseitiger Liebe und +Zuneigung feucht zu erhalten. Die drei guten Mädchen +sorgten für meine Wäsche und sonstige Ausstattung, packten +mir meinen Koffer, und so zog ich nach abgethaner Lehrzeit +als voraussichtlich ewiges Subjekt ins Laborantentum hinein +und trieb mich fünf oder sechs Jahre lang so umher +durch Süß und Sauer, von einer Epidemie in die andere, +von einem nächtlichen Aufgeklingeltwerden zum andern, von +einer Doktorpfote zur andern, bis ich nach * * * kam, wo +ich meine Johanne kennen lernte. Da, Freund Ulebeule, +habe ich wirklich etwas vor mich gebracht, nämlich die einzigen +guten, glücklichen Tage meines Lebens!«</p> + +<p>»Gratuliere auch dazu,« brummte der Förster.</p> + +<p>»Ja, in die glückliche Zeit meines Daseins war ich +hineingeraten, und es stimmte alles zusammen — ein ganzes +Jahr lang!</p> + +<p>»Ich hatte es in jeder Beziehung gut. Mein damaliger +Prinzipal war ein drolliger alter Kauz, über den ich etwas +mehr sagen muß; denn er verdient das, meinet- wie seinethalben +in jeder Beziehung. Er war Apotheker mit Liebe; +aber mit einem gewissen Wahnsinn ein Enthusiast für die +hohe Wissenschaft Botanik, und er war in der That ein +bedeutender Pflanzenkundiger. So lange es anging, hatte<span class='pagenum'><a name="Page_24" id="Page_24">[24]</a></span> +er seine Provisoren und Gehilfen die Offizin versorgen +lassen und war selber in Wald und Feld seinem Lieblingsstudium +nachgegangen. Als ich aber in sein Haus eintrat, +hatte sich das eben geändert. Er war über sechzig Jahre +alt, seine Augen waren allmählich schwach geworden, sein +Rücken steif; und wenn er sich zwischen Berg und Thal +nach einem Gewächs bückte, so kam er nur mit Stöhnen +und einem verdrießlichen Griff nach dem Kreuz wieder in +die Höhe. Ich kam, und er stellte ein botanisches Examen +mit mir an, das an Schärfe nichts zu wünschen übrig +ließ, gottlob aber ziemlich gut ausfiel, und von dem +all' mein späteres Wohlsein in seinem Hause den Ausgang +nahm. Nach dem Examen überreichte er mir als +Zeichen seiner Zufriedenheit ein Exemplar von Stöver's +Leben des Ritters Karl von Linné und hielt mir eine Rede +über die Märtyrer unserer ›Göttin‹, und empfahl mir vorzüglich +zur Nachahmung das größte botanische Genie des +sechzehnten Jahrhunderts, den Meister Charles de l'Ecluse, +— Carolus Clusius aus Arras in den Niederlanden, der +im Dienste der Wissenschaft im vierundzwanzigsten Jahre +die Wassersucht bekam, im neununddreißigsten Jahre in +Spanien mit dem Pferde stürzte und den Arm brach und +gleich nach der Heilung den rechten Schenkel; — der im +fünfundfünfzigsten Jahre in Wien den linken Fuß brach +und acht Jahre später sich die rechte Hüfte verrenkte, — +der fortan an Krücken gehen mußte, einen Bruch und +Steinschmerzen bekam und doch das wundervolle Buch: +<em>Variarum plantarum historia</em> schrieb und für alle kommende +Zeiten wie ein glorreich helles Licht aus dem dunklen +Jahrhundert, in welchem er lebte und wirkte, herüberleuchtete. +Darauf schickte er mich in <em>re herbaria</em> auf die +Jagd und blieb selber seufzend zu Hause, versorgte die +Praxis und durchblätterte seine Kräuterbücher, die wirklich +merkwürdig in ihrer Art waren und nach seinem Tode +sicherlich auf den Mist geworfen sind. Zu jeder Jahreszeit<span class='pagenum'><a name="Page_25" id="Page_25">[25]</a></span> +fast hatte ich für ihn das Land abzulaufen, denn er war +auch in der Kenntnis der Moose bedeutend, und in den +Monaten, wo die übrige Flora in ihrer Pracht steht, ging +ich fast täglich meilenweit ins Land oder in die Berge, um +irgend eine einzige Pflanze zu suchen, auf deren Besitz und +Studium er augenblicklich sein Herz gewendet hatte. — +Das war eine schöne Zeit! das waren Tage, wie ich sie +seit Jahren nicht in so ununterbrochen glücklicher Folge +durchlebt hatte, und da ich, wie gesagt, auch bald den Namen +und das Bild meiner Braut mit mir auf die Höhen +und sonnigen Halden und in die schattigen Thäler nehmen +konnte, so ist denn weiter nichts mit dem Scheine zu vergleichen, +wie er mir damals über der Erde und in der +Seele lag. Daß ich Rad durch den Sonnenglanz auf den +Bergen geschlagen hätte, will ich aber nicht gesagt haben. +Im Gegenteil! in die Lust am Leben machte sich immer +ein bänglicher Zug. Kam ich aus meinen Wäldern zurück +in die kleine, winklige Stadt, wieder hinein in das +Gewirr und zänkische Durcheinander selbst dieser wenigen +Menschen, so wurde mir oft sogar sehr bänglich zu Mute.«</p> + +<p>»Das geht allen Leuten so, die ihr Geschäft viel im +Freien aufhält, mir auch!« sagte der Förster Ulebeule.</p> + +<p>»Aber noch lange,« fuhr der Erzähler, ohne auf die +Unterbrechung weiter zu achten, fort, »noch lange war und +blieb im Freien alles für mich Gegenwart, und erst nach +und nach wurde drinnen im Städtchen alles Zukunft, sorgenvolle, +angstvolle, nebelige Zukunft:</p> + +<p>»Was soll denn eigentlich zuletzt aus dir und deinem +Mädchen werden?</p> + +<p>»Ich habe es schon gesagt, daß die richtige Schwerblütigkeit +mich erst im zweiten Jahre meines dortigen Aufenthalts +übermannte. Im Anfange blieben die trüben +sorglosen Gedanken bei jedem Ausmarsche innerhalb der +alten Mauern der Stadt eingeschlossen zurück; erst nach +und nach begleiteten sie mich über das Weichbild hinaus<span class='pagenum'><a name="Page_26" id="Page_26">[26]</a></span> +und folgten mir weiter und weiter, bis im dritten Frühlinge +der dunkle Finger mir überall auf meinen Wegen +drohte und der Prinzipal die Bemerkung machte, daß ich +anfange, bedeutend abzumagern, und mich wohlmeinend +und besorgt an verschiedene nerven- und magenstärkende +Droguen unserer Materialkammer verwies.</p> + +<p>»Ach, kein Arzneistoff konnte mir wieder zu vollerer +Leibesrundung verhelfen! Zwischen Hypochondrie und gutem +Lebensmut hin- und hergeworfen, schweifte ich umher, +bis ich den Mann fand, der mir half!</p> + +<p>»Meine Herren und lieben Freunde, in eben diesem +Sommer machte ich eine Bekanntschaft, eine seltsame, geheimnisvolle +und, wie Johanne sagte, eigentlich unheimliche +Bekanntschaft. Ihr habe ich es zu danken, daß ich +heute der Besitzer dieser Apotheke ›zum wilden Mann‹ bin, +und sie ist bis heute, — ja bis heute, und also länger +als dreißig Jahre das ungelöste Rätsel, das Mysterium +in meinem Leben geblieben —«</p> + +<p>»Erzählen Sie, o erzählen Sie!« rief der Pastor atemlos, +den Erzähler in der besten raschesten Mitteilung seines +Berichtes aus übergroßer Spannung unterbrechend, und +Herr Philipp Kristeller benutzte die Gelegenheit, um Atem +zu schöpfen, ehe er fortfuhr.</p> + +<p>Es schien ihm aber wirklich daran gelegen zu sein, das +Geheimnis seines Lebens von der Seele los zu werden, +und so fuhr er fort:</p> + +<p>»Ich fand einfach einen Weggenossen und so zu sagen +Kollegen auf meinen Gängen, einen jungen wohlgekleideten +Mann, der sich gleichfalls mit der Botanik beschäftigte, nur +um ein Weniges jünger als ich zu sein schien und sich als +ein Naturfreund und Pflanzenkenner auswies, der selbst +meinen Prinzipal im verständnisvollen Eindringen in unsere +hinreißende Wissenschaft übertraf. Aus der Gegend war +er nicht, seinen Namen haben wir nie recht erfahren; wir<span class='pagenum'><a name="Page_27" id="Page_27">[27]</a></span> +nannten ihn Herr August und später auch einfach August. +Sein Familienname war das aber jedenfalls nicht.</p> + +<p>»Der Zufall stieß uns an einem heißen Julinachmittage +auf einer abgeholzten, glühenden Berglehne unter den +manneshohen Fingerhutbüschen zwischen dem Gewirr der +Granitblöcke die Köpfe zusammen und ließ uns sofort +höflich das Handwerk grüßen. Zuerst begrüßten wir jedoch +natürlich höflich uns selber und betrachteten einander. Was +der Fremde an mir sah, weiß ich nicht; mir steht er heute +noch so klar und deutlich wie damals vor den Augen. Es +war ein junger Mann, wie gesagt, ungefähr von meinem +Alter, hochgewachsen, wohlgebaut, von schwarzem Haar und +mit einem ernsthaften, energischen Gesicht von etwas gelbweißer, +jedoch keineswegs krankhafter Farbe. Den Kopf +trug er ein wenig gesenkt, und seine Stimme war wohllautend, +er gebrauchte sie aber nur zu selten. Während +unseres ganzen Verkehrs überließ er es mir vollständig +allein, die Unterhaltung zu führen; und wie ihr wißt, liebe +Nachbarn, bin ich stets für einen lebhaften mündlichen Verkehr +gewesen — vielleicht oft nur zu sehr.«</p> + +<p>An dieser Stelle hatte die Schwester etwas zu sagen, +und etwas unmutig rief sie:</p> + +<p>»Bester Bruder, sie reden im Dorfe doch schon dumm +genug von dir!«</p> + +<p>Der geistliche Herr lächelte; aber der Förster lachte laut +und rief:</p> + +<p>»Ja, Fräulein Dorette, für den Anstand ist seine Natur +freilich nicht eingerichtet, das habe ich zweimal in Erfahrung +gebracht und werde es mit meiner Einwilligung +nicht zum drittenmal erleben. Das ist so! er hält jedem +Fuchs, der herüberwechselt, eine Standrede, ehe er losbrennt +und vorbeipafft. Aber hingegen bei einem Treiben +wäre er wohl an Ort und Stelle, und eine Hasenklapper +ist auch ein recht nützliches Ding.«</p> + +<p>»Ich danke Ihnen für Ihre Bemerkung, Ulebeule!«<span class='pagenum'><a name="Page_28" id="Page_28">[28]</a></span> +sprach das alte Fräulein spitz und kurz, und jetzt lächelte +Herr Philipp Kristeller und ließ sich nicht weiter auf seinem +Wege aufhalten.</p> + +<p>»Ich gab also, wie es nicht anders sein konnte, meiner +Natur nach. Ich erzählte dem neuen Bekannten so nach +und nach von allem, was mir an mir, meinem Leben und +Zuständen wichtig dünkte. Um alles, von meiner Geburt +an, wußte er bald Bescheid; was ich von ihm dagegen erfuhr, +war so wenig als möglich, das heißt gar nichts! — +Aber ein guter Gesellschafter war er doch, und wurde ein +immer besserer, je häufiger wir uns trafen. Wir fingen +an, die Plätze miteinander zu verabreden, an welchen wir +uns finden wollten, und er, als der freiere Mann, war +stets am Orte. Manchmal begleitete er mich bis an den +Hügelhang, an welchem die Stadt liegt; allein so oft ich +ihn auch einlud, nun auch mit mir in dieselbe hinunterzusteigen, +so lehnte er das stets bestimmt ab, ohne einen +Grund für die Weigerung anzugeben. Am Waldrande über +dem Nordthore nahm er stets Abschied, drückte mir die +Hand und ging zurück. In der Stadt und Umgegend +kannte ihn keiner, so oft und viel ich auch die Leute nach +ihm ausfragte. Gesehen hatte ihn wohl mancher, und +manchem war er auch in seinem Wesen und Treiben aufgefallen; +doch nähere Auskunft über ihn wußte niemand zu +geben. In einem Dorfe, mitten in den Bergen, hatte er +für ein Pferd und einen leichten Wagen ein Standquartier, +doch auch da nannte man ihn einfach nur Herr August und +hielt ihn für einen Studiosen aus der Universitätsstadt in +der Ebene, der, ›wie schon viele‹, von dort in die Berge +komme, um ›die Kräuter zu verstudieren‹.«</p> + +<p>»Scheint mir eine kalte Fährte gewesen zu sein,« meinte +der Förster, und der Pastor war derselben Meinung.</p> + +<p>»Ich gab auch nichts darauf,« erzählte Herr Philipp +weiter, »sondern setzte den Verkehr fort, wie er sich eben +machte, und nachdem ich mit dem Herrn August ein halbdutzend<span class='pagenum'><a name="Page_29" id="Page_29">[29]</a></span> +Male zusammengetroffen war, fügte es der Zufall, +daß er auch meine Braut kennen lernte. Die hatte mit +ihren Verwandten und Bekannten an einem schönen Sonntage +einen Ausflug in den Wald gemacht, und da trafen +wir, — als Johanne und ich uns von der lustigen Gesellschaft +abseits geschlagen hatten und allein für uns gingen, +auf einem überwachsenen Pfade auf meinen geheimnisvollen +Freund. Wir gingen Arm in Arm, und er ging +wieder einsam, und sein Gesicht war ernster und trüber +denn je. Als er uns erblickte, erhellten sich seine Mienen +zwar, aber nicht auf lange. Er wollte mit uns fröhlich +und heiter sein; aber es gelang ihm schlecht. Er sprach sehr +gut und freundlich zu meinem Schatz; doch je länger er +mit uns ging und je munterer wir auf ihn einplauderten, +desto stiller wurde er. Und als nun gar die übrige Gesellschaft +singend, lachend und jubelnd zu uns stieß, da war +er plötzlich wieder verschwunden, und wir sahen ihn an +jenem fröhlichen Tage nicht mehr. ›Du, Philipp, der hat +ein großes Unglück erfahren oder windet sich noch durch +ein solches‹, sagte mir Johanne nachher; ›Philipp, der +Mensch thut mir unendlich leid; — ist es dir denn noch +niemals bange und traurig in seiner Nähe zu Mute geworden?‹</p> + +<p>»Die Weiber haben in der Hinsicht einen feinen Blick +und Sinn, und sie verstehen es, uns Mannsvolk auf manches +aufmerksam zu machen, was man gefühlt hat, ohne +daß es einem im Bewußtsein klar geworden ist. Ich stutzte, +und jetzt zuerst fiel es auch mir bei, daß mein schweigsamer +Freund auch mir schon einige Male sehr leid gethan habe. +Bänglich war's mir freilich noch nicht in seiner Gesellschaft +zu Mute gewesen; doch schon auf dem lustigen Heimwege +nach der Stadt war es mir ganz klar, daß von nun an +auch das Bangen mich zu Zeiten wohl überkommen könne. +Von jenem Tage an achtete ich schärfer und schärfer auf +meinen Freund August, und dann einmal fragte ich ihn<span class='pagenum'><a name="Page_30" id="Page_30">[30]</a></span> +mit aller Aufbietung meiner Beredsamkeit und Überredungskraft, +was ihm eigentlich fehle und ob es durchaus nicht +möglich sei, daß ich ihm helfe? Ich beschwor ihn inständigst, +doch ein Herz zu fassen und alles, was ihn drücke, +mir mitzuteilen. Ich sagte ihm, daß ich mein Blut und +meine Seele dran geben würde, ihm zu helfen, und fügte +auch sonst noch bei, was man bei einer solchen zum Zittern +aufgeregten Gelegenheit ernstlich und innig einem geliebten, +geschätzten und geachteten Menschen sagen kann. Natürlich +versuchte er zu lachen und versicherte mich, er befinde sich +körperlich wie geistig vollkommen wohl, sein Gewissen sei +durchaus nicht durch irgend eine unaussprechliche Schandthat +belastet; aber für sein Temperament könne er freilich +nichts, und es sei in der That ein ziemlich unbehagliches +zu nennen und schon Mehreren aufgefallen. Er sagte, er +habe ein unglücklich Blut von seinen Vorfahren geerbt, +und wahr sei, daß er es stets kräftig und aufmerksam im +Zaume halten müsse, wenn nicht jeder Tag, den er lebe, +zu einem jähzornigen bösen Ende gelangen solle. Er dankte +mir herzlich für meine Güte, wie er's nannte, und es war +mir fast, als sähe ich eine Thräne in seinen Augen, allein +das mochte doch wohl eine Täuschung sein, denn ein solches +römisches Münzengesicht, wie das seinige, war auf +dergleichen Weichheiten hin nicht in die gehörige Form +gegossen.«</p> + +<p>»Was für eine Art Visage hatte er, Kristeller?« fragte +der Förster Ulebeule.</p> + +<p>»Ein Gesicht wie die Kaiser Nero, Caracalla oder Caligula +auf ihren Dukaten!« erläuterte der Pfarrherr, und +der Apotheker »zum wilden Mann« schüttelte den Kopf, +glaubte sich aber jeder anderen Antwort überhoben und +ging in seiner Erzählung weiter:</p> + +<p>»Meine Braut hatte ihm sehr gefallen. Er lobte ihr +Äußeres und alles, was sie während des kurzen Zusammenseins +gesprochen hatte, ausnehmend. Er nannte sie ein<span class='pagenum'><a name="Page_31" id="Page_31">[31]</a></span> +liebes, braves Mädchen — was sie wirklich auch war — +und er sprach mit tiefen Seufzern den Wunsch aus, eine +ihr gleichende Schwester zu haben. Da erkundigte ich mich +denn selbstverständlich noch einmal nach seinen Familienverhältnissen, +er aber versicherte mich, daß er ganz allein +in der Welt stehe, Vater und Mutter durch den Tod verloren +und Geschwister nie gehabt habe; und wie um das +Gespräch schnell zu wenden, fragte er seinerseits, ob der +Tag meiner Hochzeit bereits festgesetzt sei.</p> + +<p>»Als ich ihm nun gesagt hatte, wie es sich damit verhalte, +seufzte er: ›O, könnte ich Ihnen helfen, Philipp, so +würde es heute noch geschehen!‹ — — Wie er mir half, +und weshalb der Ehrensessel da seit dreißig Jahren leer +steht und auf ihn wartet, das will ich euch jetzt sagen.«</p> + + + +<h2><a name="Funftes_Kapitel" id="Funftes_Kapitel"></a>Fünftes Kapitel.</h2> + + +<p>Die kleine Gesellschaft in dem bilderreichen Hinterstübchen +der Apotheke »zum wilden Mann« war dicht am +Tische zusammengerückt. Sie wußten, daß der alte Freund +nicht übel zu erzählen verstehe, doch so wie heute hatte er +seine Gabe noch nicht gezeigt. Dem Förster Ulebeule war +die Pfeife ausgegangen, Schwester Dorette hielt die Hand +des Bruders fest in der ihrigen und der Pastor <em>loci</em> klopfte +leise mit der Dose auf dem Tische und sagte:</p> + +<p>»Also endlich! — Kein Mensch sollte es doch für möglich +halten, daß einen solch braves Möbel, wie ein weichgepolsterter +Lehnstuhl, dreißig Jahre lang auf die Folter +spannen könne. Lieber Kristeller, dieser Sessel da hat mich +in der That dreißig Jahre lang auf die Folter gespannt!«</p> + +<p>Sie lachten doch trotz ihrer Erregung, und der Herr +Philipp lachte mit und erzählte dann weiter.</p> + +<p>»Der Sommer ging, der Herbst kam. Es wurde September +und es wurde Oktober, und die Pracht und Fülle<span class='pagenum'><a name="Page_32" id="Page_32">[32]</a></span> +der Natur ging für dieses Jahr auf die Neige. Mein +Prinzipal, der zur Zeit der Äquinoktialstürme stets anfing, +an Gesichtsschmerzen zu leiden, war gezwungen, mich nun +fester an die Offizin zu binden. Es ging wohl ein Monat +hin, ehe er mich wieder in die Weite schickte; — am 15. Oktober +aber jagte er mich drei Meilen weit nach jener berühmten +Felsgruppe, die ihr alle unter dem Namen der +Blutstuhl kennt, einer Moosart wegen, die um diese Zeit +dort blühte und zwar nur dort allein.</p> + +<p>»Ich war damals auf dem Blutstuhle, doch nachher +nicht wieder. Ich habe eine Furcht vor dem wilden Orte +behalten, trotzdem daß damals mir das gegeben wurde, +welches dieses Haus in meinen Besitz brachte und mir das +Leben, wie ich es geführt habe, möglich machte. Das +Rätsel liegt noch ungelöst da. Wenn ihr, meine Freunde, +nachher euren Scharfsinn daran prüfen wollt, so soll es +mir lieb sein. Ich habe es aufgegeben, nachdem ich ein +Menschenalter darüber habe nachgrübeln müssen, und jetzt +wird es ja auch wohl gleichgültig sein, ob einer hier im +Kreise noch zuletzt das rechte Wort findet. Jenen Tag +aber, diesen mir bedeutungsvollen 15. Oktober, werde ich +euch nun mit allen seinen Umständen so genau als möglich +schildern, und ihr müßt es euch schon gefallen lassen.«</p> + +<p>»Kein Hase macht neugieriger seinen Kegel als ich!« rief +der Förster.</p> + +<p>»Lieber Gott, welch ein Abend!« sagte der geistliche +Herr. »Hören Sie nur diesen Sturm! O erzählen — +erzählen Sie!«</p> + +<p>In der That ein stürmischer Abend! Je weiter die +Nacht vorschritt, desto wilder tobte es von Norden her +gegen das Gebirge heran, und die Apotheke »zum wilden +Mann« bekam ihr volles Teil.</p> + +<p>»Solch ein Wetter war es an jenem Tage nicht,« sagte +Herr Philipp in seinem gewohnten Tone, ruhig und gelassen, +wie jemand, der eben ein Menschenalter Zeit hatte,<span class='pagenum'><a name="Page_33" id="Page_33">[33]</a></span> +ein Erlebnis zu überdenken. Er wurde aber auch noch +einmal unterbrochen, denn es kam ein Kunde und holte +für einen Groschen Bittersalz und setzte eine Viertelstunde +lang dem Verkäufer auseinander wozu; — was beides auch +Zeit hatte bis morgen, wie Ulebeule mürrisch bemerkte. +Die Schwester jedoch benutzte die Pause, die chinesische +Schale auf dem Tische von neuem zu füllen, und endlich +erfuhren die Freunde doch, was der Apotheker Kristeller an +jenem 15. Oktober erlebte.</p> + +<p>»Um neun Uhr morgens zog ich mit meinem Auftrage, +das Frühstück in der Tasche, die Botanisierbüchse auf dem +Rücken, vom Hause, das beiläufig das Zeichen ›Zum König +David‹ führte, ab; bei stiller Luft und dichtem Nebel und +diesmal im höchsten Grade geknickt und gebrochen. Ich +hatte Grund dazu, melancholisch auch in die schönste Witterung +hineinzusehen! Am Abend vorher hatte Johanne's +Onkel mich bitten lassen, ihn doch einmal auf ein Viertelstündchen +zu besuchen, und ich hatte ihn besucht, und er +hatte mich zwei Stunden lang unterhalten. Zwei Stunden +lang hatte er mir eindringlich zugeredet, endlich doch +ein Einsehen zu haben und mir meine Lebensaussichten einmal +recht klar zu machen und seine Nichte — nicht unglücklich! +Kurz gesagt, er hatte mich aufgefordert, meiner +Braut ihr Wort zurückzugeben, und dafür seiner — des +Onkels — ewigen Freundschaft und Zuneigung gewiß zu +werden. Und der Mann hatte in allem, was er sagte, +Recht gehabt, und er hatte nicht nur verständig, sondern +auch gutmütig gesprochen. Ohne die geringste Leidenschaft +und Zornmütigkeit hatte er mir seine und der Welt Meinung +vorgetragen: er hatte nichts gegen mich einzuwenden +— ich war ihm sogar sehr lieb und wert, — und +doch! Ich war eben nach Hause gegangen oder vielmehr +getaumelt und hatte die Nacht über auf dem Stuhle vor +meinem Bette gesessen und die Stirn mit beiden Händen +gehalten — durch dieses verständige Zureden unfähig zu<span class='pagenum'><a name="Page_34" id="Page_34">[34]</a></span> +allem und jedem Überlegen und vernünftigem Überdenken: +daß Johanne, meine arme, liebe Johanne, diese selbige +Nacht durchweint habe, wußte ich dazu. Betäubt verstand +ich den Prinzipal, der ebenfalls an Schlaflosigkeit litt, kaum, +als er schon um fünf Uhr mit dem Nachtlichte in der Hand +an meine Thür kam, um mir seinen neuen Herzenswunsch +mitzuteilen und mir seinen Auftrag für den Tag zu geben. +Verdrießlich ging er, nachdem ich ihn endlich begriffen +hatte, seinen verbundenen Kopf schüttelnd, und ich hörte +ihn noch auf der Schwelle deutlich genug murren:</p> + +<p>»›Auch der wird mir wieder mal unter den Händen +zum Narren!‹</p> + +<p>»›Schreiben Sie dem Mädchen einen braven, ehrlichen, +freundlichen Brief, in welchem Sie das Nötige mit etwas +Poesie meinetwegen sagen. Ich will ihn abgeben und das +Meinige, ohne Poesie natürlich, beimerken — und dann +lassen Sie dem Jammer und meinetwegen auch sich selber +in Ihrem Elend alle Zeit — es wird schon alles recht +werden,‹ hatte mir der Onkel vorigen Abend zum Beschlusse +seiner schönen Rede geraten, — und dabei sollte man denn +nicht zum Narren werden!! — Das blühende Moos drei +Meilen ab vom ›König David‹, dem Hause des Herrn +Onkels und meiner Braut, war unter diesen Umständen +in Wahrheit der einzige Trost, der mir in der Welt wuchs. +Ein Tag wurde wenigstens durch den Weg und das Aufsuchen +für mich und mein armes Kind gewonnen, und wie +sich der Mensch in seinen Nöten an den <span class="gesperrt">einen</span> Tag, die +<span class="gesperrt">eine</span> Stunde, die <span class="gesperrt">eine</span> Minute klammert, wer hätte das +nicht schon in irgend einer Weise erfahren?</p> + +<p>»Ich schlich selbstverständlich unter Johanne's Fenster +vorbei. Mein Mädchen erblickte ich nicht; aber den Onkel +sah ich. Er stand mit der Pfeife hinter den Scheiben und +schien nach dem Thermometer zu sehen; seine eigene Temperatur +hatte sich seit gestern Abend nicht verändert, denn +er zog höflichst die Nachtmütze ab und erhob dabei den<span class='pagenum'><a name="Page_35" id="Page_35">[35]</a></span> +Zeigefinger. Der Gestus konnte nichts anderes bedeuten +als: Vergessen Sie nicht, mein Bester, was ich Ihnen gesagt +habe; ich bestehe darauf und weiß, was uns allen gut +ist; — ich bin ein alter erfahrener Kerl und kenne die +Welt ein wenig genauer als ihr guten, jungen, leichtsinnigen, +unerfahrenen Leute — Auch ich grüßte so höflich +und submiß, wie ich noch nie einen Menschen gegrüßt hatte, +und schleppte mich seufzend matt weiter durch den grauen +Dunst des Herbstmorgens.</p> + +<p>»›O wie voll Dornen ist diese Werkeltagswelt‹, läßt der +englische Poet Shakespeare eine seiner erdichteten Personen +in einem seiner Stücke sagen. Ich habe diesen Poeten immer +gern gelesen und besitze eine Übersetzung von ihm und +habe mir vieles darin unterstrichen. Das Wort von den +Dornen und der Alltagswelt fiel mir diesmal auf die +Seele, und ich wiederholte es mir fort und fort bis auf +die Berge hinauf. Freilich war mir jetzo die Welt nach +allen vier Himmelsgegenden durch das dichteste Dornengestrüpp +verwachsen, und daß es eine erbärmliche und in +ihrer Gewöhnlichkeit thränenreiche Werkeltagswelt war, das +konnten mir der Boden unter den Füßen und das Luftgewölbe +über mir bezeugen.</p> + +<p>»Der Nebel blieb wohl hinter mir in den Thälern zurück; +aber in meiner Brust nahm ich die Trübe auf die +sonnigsten Gipfel mit empor. Ich schritt rasch zu und +tauchte mehrmals das Taschentuch in einen kalten Waldbach, +um es mir dann auf die heiße übernächtige Stirn +und die fiebernden Schläfen zu drücken. Um sah ich mich +nicht, und es ist ein Irrtum oder gar eine Lüge, wenn +man behaupten will, daß einem unglücklichen oder von +Not und Sorge bedrängten Menschen eine schöne Gegend +und herrliche erhabene Aussicht zum Heil und zur Genesung +gereiche. Es ist einfach nicht wahr!</p> + +<p>»Im Gegenteil, nichts ist schlimmer für einen Kummervollen, +Schmerzbeladenen als eine weite sonnenklare,<span class='pagenum'><a name="Page_36" id="Page_36">[36]</a></span> +in allen süßen Farben der Erde leuchtende Fernsicht, hoch +von einer Bergspitze aus. Es ist arg und eigentlich furchtbar, +aber es ist so: den Sturm, den Regen läßt man sich +in der bösen Stimmung gefallen; aber die Schönheit der +Natur nimmt man als einen Hohn, als eine Beleidigung +und fängt an, alle sieben Schöpfungstage zu hassen.«</p> + +<p>Der Pastor schüttelte hier bedenklich den Kopf; Fräulein +Dorette Kristeller nickte zwar, aber sah doch auch ziemlich +bedenklich und trübe drein; der Förster Ulebeule jedoch +klopfte mit der Pfeife auf den Tisch und rief:</p> + +<p>»Wahrhaftig, es ist etwas dran! Es ist bei mehrerem +Nachdenken sogar ziemlich viel dran. Jeder Kümmerer — +will sagen jedes durch einen alten Schuß oder durch Krankheit +sieche Stück Hochwild will auch von der Pracht der +Schöpfung, an der es in gesunden Tagen sein Wohlsein +und seine Freude hat, nichts mehr wissen. Und wer viel +Umgang mit den Tieren gehabt hat, der weiß, wie wenig +der Unterschied zwischen ihnen und dem Menschen zu bedeuten +hat in allen Dingen, die mit Erde, Wasser, Licht +und Luft zusammenhängen. Ihr waret damals ein richtiger +Kümmerer, Kristeller. Der Onkel hatte Euch nicht übel +angeschossen, und manch einen in Eurer Lage hat das +Schicksal bald darauf als tot verbellt.«</p> + +<p>»Nun lasset uns weiter hören!« rief der geistliche Herr, +und sie hörten weiter.</p> + +<p>»Was mir selten in der mir so bekannten Gegend +passiert war, hatte ich heute zu erleben; ich verlor mehrmals +meinen Weg und fand ihn stets nur mit Mühe +wieder. Die Lebensverwirrung und schlimme Ratlosigkeit +war außer mir wie in mir; aber mein Pfad ging doch +immer aufwärts und einen Kompaß führte ich am Uhrgehäuse +glücklicherweise auch mit mir. So wand ich mich +durch den Buchenwald und dann hinein in die Tannenwälder, +an steilen Lehnen, von denen die wunderlichen Granitblöcke +der Urzeit in wahrhaft gespenstischen Formationen<span class='pagenum'><a name="Page_37" id="Page_37">[37]</a></span> +herabgerollt waren, schräg in die Höhe. Dann ging es +über kahle, gleichfalls mit wildem, phantastisch übereinander +gestürztem Felsgetrümmer bedeckte Hochebenen — aus dem +Nebel in das Sonnenlicht. Die Sonne schien um Mittag +herbsthell, und ich holte Atem, auf meinen Weg und die +durchwanderten Thäler zurückblickend. In den Thälern +hielt sich der Nebel den ganzen Tag über, und als ich +nach einer Ruhestunde weiterging, schlich er mir leise wieder +nach und holte mich am Nachmittag, als ich den berühmten +Platz, zu dem mein Prinzipal mich diesmal hingesendet +hatte, zu Gesichte bekam, richtig wieder ein; aber +freilich nicht mehr als der dichte Qualm der Tiefe, sondern +als ein leichter, alles in ein Zaubertuch einwickelnder Dunst. +Bei einer Wendung des Weges lag die unbeschreiblich +grotesk zerklüftete Steinmasse — der Blutstuhl, vor mir +da. Aus dem Tannendickicht vortretend, erblickte ich seine +höchste Platte sechzig bis achtzig Fuß über mir; und langsam +und ermüdet stieg ich nun noch über den mit kurzem +Gras bewachsenen Boden, um im Schutze der untersten +Blöcke Kräfte zu sammeln für das Suchen und Finden +meiner seltenen Lichen-Art.</p> + +<p>»Ihr, Ulebeule, kennt den Blutstuhl. Es ist ein Labyrinth +von Steinklötzen, das einen ziemlich bedeutenden Raum +auf der Bergebene einnimmt. Viele der Gruppen führen +wunderliche sagenhafte Namen, die höchste ist auf ausgewaschenen +Treppenstufen zu erklimmen, und von ihr hat +das ganze Geblöck seinen Namen, und in ältester heidnischer +Urzeit unseres Volkes hat es denselben als Opferstelle vielleicht +mit vollem Recht geführt.</p> + +<p>»Ich verzehrte vor allen Dingen trotz meiner trüben +Seelenstimmung den mitgebrachten Proviant nicht ohne +Appetit; dann begab ich mich an die Lösung meiner Aufgabe, +die gar nicht so leicht war. Das winzige, kriechende +Ding, das mein Alter in einem frischen Exemplare zu besitzen +wünschte, wuchs keineswegs in jeder Spalte des<span class='pagenum'><a name="Page_38" id="Page_38">[38]</a></span> +Blutstuhles. Und mit den Erlebnissen des letzten Abends, +den Bildern der schlaflosen Nacht und dem Onkel mit der +Zipfelmütze am Morgen vor den schwimmenden Augen ließ +sich auch schlecht suchen.</p> + +<p>»So kroch und kletterte ich zwischen dem Gestein umher: +eine Flechte fand ich nicht; aber ich fand etwas anderes, +nämlich ein Vermögen!«</p> + +<p>»Ah!« sagte die Zuhörerschaft in dem Hinterstübchen +der Apotheke »zum wilden Mann«.</p> + +<p>»Mühselig in meiner vergeblichen Bemühung hatte ich +mich so ziemlich bis an die Basis der oberwähnten abgeplatteten +Gipfelfelsmasse, der eigentlichen Opferklippe, emporgearbeitet, +als plötzlich ein Mensch, wie es schien im +hastigen Aufklimmen von der entgegengesetzten Seite her +auf der Platte erschien und einen Schrei ausstieß, der mich +erschreckt zurückfahren ließ. Die Gestalt, vom Dunst wie +alles umher leicht verschleiert, warf die Arme empor, griff +mit beiden Händen in die Haare und fiel mit einem neuen +Aufschrei erst in die Kniee und dann ganz zu Boden. Ich +stand und hielt mich zitternd an dem nächsten Granitblocke, +und es dauerte einige Zeit, ehe ich mich so weit gefaßt +hatte, um mir die Frage vorzulegen: Was ist das?</p> + +<p>»Ja, was war das? was konnte das sein? Ein Betrunkener? +Ein Wahnsinniger? Ein Epileptiker? Ein +lebensmüder Unglücklicher, der sich diesen Ort ausgesucht +hatte, um gerade jetzt daselbst zu Ende zu kommen mit +sich? Alle diese Vorstellungen schossen mir nun blitzschnell +nacheinander durchs Gehirn; aber von der Höhe der Opferklippe +kam keine Antwort auf meine Frage.</p> + +<p>»Und es ist deine Pflicht nachzusehen, was und wer +es ist! rief es in mir. Mit zusammengekniffenen Lippen, +fest aufeinander gesetzten Zähnen faßte ich Mut, packte +meinen Wanderstock fester, um im Notfall auch auf einen +Angriff gerüstet zu sein, und stieg langsam und vorsichtig +die Steinstufen hinauf, die auf die heilige Opferstelle unserer<span class='pagenum'><a name="Page_39" id="Page_39">[39]</a></span> +Vorfahren führten. Scheu und behutsam hob ich das Kinn +auf die Platte; da lag er! — Langausgestreckt, bewegungslos, +das Gesicht auf den Stein gedrückt, lag der Unglückliche +da, und rasch sprang ich meinerseits nun hinauf, trat +zu ihm, faßte ihn an der Schulter, sprach ihm zu, und +nach einer Weile erhob er auch das Gesicht und stierte +mich an.</p> + +<p>»Jetzt schrie ich fast, wie er vorher. Es war mein +Kamerad, mein geheimnisvoller Freund, mein botanischer +Wissenschaftsgenosse, und zwar mit Zügen so verstört, so +von Schmerz, Angst und Zorn verwüstet, daß ich es euch +wahrlich nicht, wie es war, schildern kann.</p> + +<p>»Langsam, wirklich wie aus einem epileptischen Zustande +sich erhebend, stand er auf, sah mich blind und meinungslos +an, bis ihm nach und nach das Bewußtsein von Ort, +Zeit und Zustand zurückkam.</p> + +<p>»›Philipp‹! sagte er tonlos.</p> + +<p>»›O August‹! rief ich.</p> + +<p>»›Seid Ihr es, der mich hier gefunden hat?‹</p> + +<p>»›O und Ihr — was habt Ihr? was ist Euch geschehen? +Ich möchte Euch so gern helfen.‹</p> + +<p>»›Und könnt es ganz und gar nicht. Es wäre besser, +Ihr ginget und ließet mich hier, wie Ihr mich fandet. Ich +bin für keines Menschen Gesellschaft mehr tauglich.‹</p> + +<p>»Er sprach dieses alles so vernünftig, so gesetzt und +ruhig, daß seine Verstörung mir dadurch nur noch herzzerreißender +in die Seele drang. Ich wollte seine Hand +fassen, doch er zog sie schnell und wie ergrimmt zurück +und schrie:</p> + +<p>»›Nein, nein! das ist zu Ende, Herr — Herr Kristeller. +Ich habe heute mit dieser Hand mein Schicksal besiegelt +und werde sie niemandem mehr als Zeichen der Freundschaft, +der Zuneigung, der Liebe geben. Haltet mich nicht +für einen Narren — o ich wollte, ich wäre es; aber ich +bin es nicht! Seit drei Tagen wäre es mir eine Wohlthat,<span class='pagenum'><a name="Page_40" id="Page_40">[40]</a></span> +wenn die letzte Faser, die den Geist noch an eure +Welt — eure Alltagswelt bindet, abrisse, und wenn man +mich fände, wie man sonst wohl schon arme irre, verlorene +Menschen in der Wildnis gefunden hat. Kein anderes +Gesicht wäre mir heute so lieb gewesen als das deinige, +Philipp; aber meine Hand gebe ich dir doch nicht. Sieh +da rund herum, sieh, wie die Städte und Dörfer ausgestreut +sind; — sieh, alle diese hunderttausend Menschenwohnungen +sind mir von jetzt an verschlossen: ich habe +keinen Verkehr mit euch mehr, ich bin allein; es giebt keinen +anderen Menschen mehr auf Erden, der so allein ist +wie ich!‹</p> + +<p>»›Aber ich bin da! mich hat das Schicksal gerade zu +dieser Stunde zu dir geführt, um bei dir zu bleiben! +Meine Braut, mein Mädchen habe ich verloren, oder sie +soll mir doch genommen werden. Mir ja auch verschließt +sich die Welt. Laß uns einander zum Rat und Trost sein!‹</p> + +<p>»Nun war es, als ringe er in der Tiefe seiner Seele +mit einem gewaltig starken Gegner, und dann war es, als +ob er dem Feinde obgesiegt habe, und dann war es, als +stehe er triumphierend mit dem Fuße auf der Brust des +Niedergeworfenen. Er knirschte mit den Zähnen und rieb +sich die rechte Hand, als sei sie feucht und er müsse sie +trocknen. Zuletzt sah er mich scharf und kalt an und +sagte leise:</p> + +<p>»›Lieber Herr, Sie können mir doch von keinem Nutzen +sein. Ich bitte Sie, sich keine Mühe zu geben. Sehen +Sie, Kristeller, ich habe nie in meinem Leben anders gesprochen, +als meine Meinung war. Auch ist heute Methode +in meinem Wahnsinn gewesen; ich habe mich nicht +ohne eine gewisse Absichtlichkeit auf diesem kalten und harten +Steine niedergeworfen. Mein Herzblut ist durch diese +Rinne niedergelaufen, wie einst das Blut der fränkischen +Gefangenen aus dem Heerbann des Kaisers Karl durch +dieselbe niederrieselte. Übrigens bin ich allein und will<span class='pagenum'><a name="Page_41" id="Page_41">[41]</a></span> +allein sein. Gehen Sie, bester Herr, ich verstehe Ihre Gefühle, +Ihre gute Gesinnung gegen mich vollkommen, und +wir wollen auch sicherlich einander treu im Gedächtnis behalten, +— leben Sie wohl, Philipp Kristeller.‹</p> + +<p>»Das war kühl und abstoßend genug, aber ich war auch +Psycholog genug, um zu wissen, aus welchem ganz anders +bewegten Grunde dieser Ton heraufquoll. Es ging nicht +an, den Unglücklichen vor das Gericht der Eigenliebe zu +ziehen und mit einem: So empfehle ich mich denn höflichst +— umzudrehen und geärgert nach Hause zu laufen.</p> + +<p>»›Es ist ja möglich, daß wir heute für immer Abschied +voneinander nehmen müssen‹, sagte ich; ›aber weshalb +sollen wir es denn in dieser Art thun?‹«</p> + +<p>»Da brachen dem anderen die Thränen aus den Augen.</p> + +<p>»›Nein, nein‹, schluchzte er, ›du hast Recht, es ist doch +nicht die rechte Art!‹</p> + +<p>»Er warf mir die Arme um den Hals und küßte mich +und schien mich nun nicht von sich lassen zu können.</p> + +<p>»›Lebe denn wohl, du Guter, — denke nur an mein +Elend und nichts anderes an mir! Sieh mir nicht nach; +du sollst noch einmal von mir hören, Philipp! Lebewohl, +lebewohl!‹</p> + +<p>»So hielten wir uns lange, und dann schieden wir in +der That voneinander. Ich habe ihn nicht wiedergesehen; +aber gehört habe ich freilich noch einmal von ihm; — er +hat mir einen Brief geschrieben; und ich bin seit dreißig +Jahren der Besitzer der Apotheke ›zum wilden Mann‹!«</p> + + +<h2><a name="Sechstes_Kapitel" id="Sechstes_Kapitel"></a>Sechstes Kapitel.</h2> + + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_42" id="Page_42">[42]</a></span> +Der Pastor und der Förster hatten sich auf ihren Stühlen +zurückgelehnt und blickten nach der Decke. Die Schwester +hatte die Hände im Schoße zusammengelegt und sah +auf den Bruder; man hörte den Sturmwind einmal wieder +recht deutlich, und nachdem man lange genug geschwiegen +hatte, sprach der Förster, wie es schien, um etwas +zu sagen:</p> + +<p>»Es wird jetzo auch um den Blutstuhl tüchtig pfeifen +und sausen.« Sonderbarerweise fügte er dann hinzu:</p> + +<p>»Einunddreißig Jahre sind eine lange Zeit!«</p> + +<p>»Freilich!« sagte der geistliche Herr, wendete sich dann +an den nachdenklichen Hausherrn und fragte:</p> + +<p>»Und Sie haben gar keine Ahnung, was er seines +Zeichens war, und wie er eigentlich hieß?«</p> + +<p>»Entschuldigen Sie, meine Herren,« erwiderte Herr +Philipp Kristeller und ging zum letztenmal in dieser Nacht, +um seinen Archivschrank in seiner Offizin zu öffnen. Mit +einem einzelnen Briefe in einer weiten, sonst leeren Hülle +kam er zurück, reichte das mit mehreren Poststempeln und +fünf abgebröckelten Siegeln bedeckte Couvert dem Förster +Ulebeule und den Brief dem Pastor Schönlank, setzte sich +langsam, legte die Hand über die Augen, brachte seine +Pfeife von neuem in Brand und wartete ruhig die Wirkung +der Papiere auf die Hausfreunde ab.</p> + +<p>»Inhalt — neuntausend — fünfhundert Thaler in +Staatspapieren!« murmelte der Förster. »Frei! — Herrn +Philipp Kristeller! —«</p> + +<p>»Sehr wunderbar!« rief der Pfarrer seinerseits, das +Begleitschreiben überfliegend. »In der That ein seltsamer +Brief! Eine rätselhafte, mysteriöse Sendung!«</p> + +<p>»Zum Henker, so lesen Sie doch laut!« rief der Förster, +und der Pastor las laut:</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_43" id="Page_43">[43]</a></span> +»Ein Mann, der den Willen hat, sein Leben von vorn +anzufangen, entledigt sich hier seiner schwersten und verdrießlichsten +Last und schickt dem Freunde das einliegende +Geld. Es verschwindet einer und hinterläßt keine Spur; +es ist unnötig und vergeblich, ihm nachzuforschen und nachzurufen. +O Philipp und Johanne, nehmt, was ihn nur +niederziehen würde in die Tiefe. Gründet ein Haus, das +feststeht und glückliche, fröhliche Kinder in seinen Mauern +aufwachsen sieht. Lebt wohl, ihr guten Freunde — lebt +wohl! — Philipp Kristeller, es grüßt dich — auf dem +Wege zurück zu den Menschen, +Wege zurück zu den Menschen,</p> +<p style="margin-left: 70%;">der Narr vom Blutstuhl.</p> +<p style="margin-left: 2em;">Hamburg, am 30. Oktober 183—«</p> + +<p>Der Pastor legte den Brief stumm auf den Tisch, Ulebeule +schlug auf den Tisch, daß sämtliches Gerät emporhüpfte +und die Gläser scharf und bedrohlich zusammenklirrten:</p> + +<p>»Donnerhallo! Na, das muß ich sagen! na, da bitte +ich zu grüßen!«</p> + +<p>»Und Ihr habt, selbst mit diesem Schreiben in der +Hand, damals nicht gemeint, dieses alles zu träumen, +alter Freund?« fragte der Pastor.</p> + +<p>»Tagelang, wochenlang bin ich wie ein Träumender +umhergegangen, nicht nur mit dem Briefe, sondern auch +mit dem Gelde in der Hand. Und es waren die nüchternsten +Staatspapiere und Landesschuldverschreibungen von +verschiedener Herren Ländern! Sie verwandelten sich nicht +über Nacht in gelbe Klettenblätter, — sie gingen mir nicht +vor der Nase in gespenstischem Dampfe auf; — sie waren +echt und hatten ihren Kurs, und die Banquiers waren +gern erbötig, mir sie umzutauschen oder umzuwechseln! +Ich aber trug sie nebst dem Briefe zu meiner Braut und +fragte die, wie ich mich gegen dieses alles zu verhalten +habe — den guten Onkel ging ich fürs erste noch nicht +um seinen guten Rat an.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_44" id="Page_44">[44]</a></span> +»Auch Johanne hatte natürlich zuerst eine Art von +Schrecken zu überwinden; <span class="gesperrt">dann</span> aber sagte sie mir verständig +und ruhig ihre Meinung, und ich bin derselben +gefolgt.</p> + +<p>»›Dein Freund hat mir leid gethan und ein Bangen +erregt durch sein Wesen; aber nie ein Grauen, als ob er +ein schlechter, ein böser Mensch sei. Ich habe ein großes +Mitleiden mit ihm gehabt und hätte ihm gern helfen mögen +in seinem Unglück. Aber sieh, Philipp, er hat mir +auch immer den Eindruck gemacht, als ob er stets genau +überlege und wisse, was er sage und thue. Er hat in +seiner Melancholie einen klugen klaren Kopf; und was +uns jetzt so wunderlich scheint und aller Welt als eine +Verrücktheit vorkommen würde, das hat er auch bedacht +und sich zurecht gelegt, und er wird sicher das Beste für +sich gefunden haben. Ich glaube, du darfst das Geld nehmen +und es versuchen, dein Glück darauf zu bauen. Wir +wollen es verwalten wie ein Darlehn, Philipp; wir wollen +dem Geber täglich seinen Stuhl an unseren Tisch setzen, +wir wollen stets den besten Platz für ihn frei halten; wir +wollen ihn von einem Tage zum anderen erwarten, und +— dem Onkel wollen wir von einer Erbschaft sprechen, +und du kannst das nur gleich thun; ich nehme die Verantwortung +für die kleine Notlüge gern auf mein Gewissen.‹</p> + +<p>»Seht, Nachbarn, das ist denn der Grund, weshalb +der Sessel da stets leer steht, weshalb immer ein Platz an +meinem Tische offen gehalten worden ist, diese ganzen +letzten einunddreißig Jahre durch; der Freund ist aber bis +heute nicht zurückgekehrt! Mein Leben von meiner Ankunft +unter euch kennt ihr; — ihr wißt, wie ich diese bereits +zweimal in Gant geratene Offizin übernahm, und wie es +mir in schwerer Arbeit glückte, den Platz zu behaupten, +der meinen Vorgängern so gefährlich geworden war! Ihr +wißt aber auch —«</p> + +<p>»Welch einen großen Schmerz du zu erdulden hattest,<span class='pagenum'><a name="Page_45" id="Page_45">[45]</a></span> +Bruder?« rief die alte Schwester leidenschaftlich erregt. +»Nein, nein, sie haben wohl davon gehört; aber das rechte +Wissen haben sie doch nicht davon.«</p> + +<p>»Es war sehr traurig, Fräulein Kristeller,« sprach der +Pastor, und Ulebeule seufzte schwer und murmelte:</p> + +<p>»Ja, ja; aber Ihr seid nicht der Erste, Philipp, dem +solcherart das Glas vor dem Munde weggeschlagen wird.«</p> + +<p>»Das Haus stand; aber die Braut, die junge Frau +sollte nicht einziehen. Sie starb an dem Tage, auf welchen +die Hochzeit festgesetzt war, und an ihrer Stelle habe +ich meinem armen Bruder seine Wirtschaft geführt, diese +dreißig Jahre hindurch, dieses Menschenalter, von welchem +an diesem stürmischen Abend so viel die Rede gewesen ist.«</p> + +<p>»Und wir haben unsere Tage in der Stille doch gut +verlebt,« sagte der Apotheker »zum wilden Mann« wehmütig +lächelnd. »Wir sind in Frieden grau geworden, +und der Sturm, der vor dem Fenster vorbeibraust, kümmert +uns wenig mehr. Der freie Stuhl ist leer geblieben, +und der, für welchen der Sitz aufbewahrt wurde, hat seine +Ruhe wohl auch gefunden, an einem anderen Orte weit +in der Fremde; hoffentlich nachdem er sich, wie er in seinem +wilden Briefe da sagt, zu den Menschen zurückgefunden +hatte. Wir aber, die wir hier miteinander alt geworden +sind, wir wollen in Treue und guter Gesinnung auch +fernerhin bei einander bleiben und kein Ärgernis an einander +über die nächste Begegnung hinaus weiter tragen.«</p> + +<p>»Das wollen wir!« sprachen beide Männer wie aus +einem Munde.</p> + +<p>»Gewiß, gewiß,« sagte das Fräulein.</p> + + + +<h2><a name="Siebentes_Kapitel" id="Siebentes_Kapitel"></a>Siebentes Kapitel.</h2> + + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_46" id="Page_46">[46]</a></span> +Der Regen hatte augenblicklich aufgehört; aber der +Wind war dafür um ein ziemliches heftiger geworden. Nach +dem, was da erzählt worden war, ließ sich ein gleichgültiges +Gespräch nicht leicht anknüpfen, und doch fühlte jeder +das Bedürfnis dazu im hohen Grade.</p> + +<p>Als Ulebeule sich endlich zusammennahm und kläglich +sagte:</p> + +<p>»Es ist doch ein tüchtiger Wind!« machte Fräulein Kristeller +freilich die dazu gehörende Bemerkung:</p> + +<p>»Ach ja, und die armen Leute, die jetzt auf dem Wasser +sind!« aber das Gespräch war damit doch wieder zu Ende +und fiel kläglich zu Boden. Herr Philipp hatte seinen +schicksalvollen Brief wieder in das gelbgewordene Couvert +geschoben und trat eben mit demselben in die Thür seiner +Offizin, als er stehen blieb und rief:</p> + +<p>»Da ist der Doktor!«</p> + +<p>»Der Doktor!« riefen aufatmend und mit glatt auseinander +sich legenden Mienen alle ihm nach. »Der Doktor! +richtig, er wird es sein.«</p> + +<p>Er war es. Man vernahm draußen vor den Fenstern +der Offizin, nicht des Hinterstübchens, Rädergeknarr, das +Stampfen eines Gaules, Peitschengeknall und dazwischen +eine laute joviale Stimme:</p> + +<p>»Holla, heda! Giftbude! Lichter an die Fenster! Bist +du da, Friedrich, so reiß' das Scheunenthor auf und leuchte, +daß wir die Karete und uns aus der Sündflut und dem +sonstigen Orkane in Sicherung bringen!«</p> + +<p>Das alte Fräulein lief schnell hinaus und dem gern +gesehenen dritten Hausfreunde entgegen. Behaglicher lehnten +sich der Förster und der geistliche Herr auf ihren Stühlen +zurück. Der Apotheker stand lächelnd mit seinem vergilbten +Briefe in der Hand da und horchte mit den andern.<span class='pagenum'><a name="Page_47" id="Page_47">[47]</a></span> +Schon hörte man jetzo auf der Hausflur des Doktors +lustige Stimme, dazwischen die Stimme Dorothea's, und +dann sprach noch jemand darein, gleichfalls kräftig-heiter.</p> + +<p>»Er kommt nicht allein. Er bringt uns einen Gast +oder sich einen Patienten mit,« sprach der Apotheker »zum +wilden Mann«, und sofort zeigte es sich, daß das erstere +der Fall war. Weit flog die Thür, die von der Hausflur +in das bilderreiche Hinterstübchen führte, auf, und mit dem +Landphysikus <em>Dr.</em> Eberhard Hanff trat der Gast ein, höflich +auf der Schwelle um den Vortritt sich mit Fräulein Dorothea +bekomplimentierend.</p> + +<p>»Keine Umstände, Herr Oberst,« rief der Doktor, den +ältlichen, breitschulterigen, stattlichen alten Herrn mit dem +schneeweißen Haar, den schwarzen scharfen Augen im munteren +tiefgebräunten Gesichte weiter vorschiebend. Und ohne +alle weiteren Umstände stellte er vor:</p> + +<p>»Colonel Dom Agostin Agonista — im Dienste Seiner +Majestät des Kaisers von Brasilien, — von mir aufgegriffen +auf dem Wege zum wilden — ach, Herrje, Punsch?! +— o Oberst, habe ich es nicht gesagt? Fräulein Dorette, +Sie wissen meine Gefühle und Gemütsstimmungen doch +immer auf drei Meilen Weges hinaus zu ahnen; — +Punsch!! Die Herren werden sich dem Herrn Oberst am +besten selber bekannt machen. Ach, Fräulein Dorette, je +bösartiger die Witterung, desto inniger die Ahnung Ihrerseits; +— erlauben Sie mir, daß ich Ihnen die Hand küsse.</p> + +<p>»Lassen Sie das dumme Zeug nur und hängen Sie +lieber Ihren Mantel an den Haken,« sprach die Schwester +des Apothekers, »der Herr Oberst ist uns sehr willkommen, +und wir bitten höflichst, Platz zu nehmen.«</p> + +<p>Der Landphysikus pflegte die Leute, die er dann und +wann auf seinen Berufswegen »als Gäste aufgriff« und in +irgend ein beliebiges Haus mit sich nahm, stets in einer +ähnlichen Weise vorzustellen und sie dadurch gewöhnlich in +nicht geringe Verlegenheit zu bringen. Der brasilianische<span class='pagenum'><a name="Page_48" id="Page_48">[48]</a></span> +Oberst jedoch ließ sich nicht so leicht in Verlegenheit setzen. +Er wendete sein munteres, vernarbtes altes Soldatengesicht +heiter und hell im kleinen Kreise umher und sagte mit dem +leisesten Anhauch eines fremdartigen Accentes:</p> + +<p>»Meinerseits nenne ich dieses einen raschen Überfall, +meine Dame und meine Herren, und bitte sehr um Entschuldigung +wegen dieses nächtlichen Eindringens. Der Herr +Doktor fand mich freilich in einer höchst erbärmlichen +Schenke am Wege durch den Sturm und die Nacht festgehalten +hinter dem Tische und hat in der That in der +freundlichsten Weise den barmherzigen Samariter gespielt. +Er nahm mich in seinen Wagen auf und bot mir ein +besseres Nachtquartier in dieser Ortschaft an. Ich folgte +ihm gern, und dann hielt er vor diesem Hause an, — um +einen ›Kristeller‹ zu nehmen, wie er sagte, — auf einen +Moment, wie er sagte, und ich kam mit ihm herein, um +auch einen ›Kristeller‹ zu mir zu nehmen, und mein Name +ist wirklich Agonista, und ich bin Oberst in brasilianischen +Diensten.«</p> + +<p>»Mein Name ist Kristeller; aber der Doktor, mein lieber +Freund, nennt einen Liqueur so, dessen Erfindung mir +gelungen ist, Herr Oberst,« sagte der Apotheker. »Übrigens +ist uns allen hier Ihr Eintritt in unseren kleinen Kreis +eine Ehre und ein großes Vergnügen.«</p> + +<p>Der Pastor und der Förster sprachen nun gleichfalls +ihre Befriedigung über die zeitgemäße Ankunft des interessanten +Fremden aus. Man schüttelte sich die Hände und +schob von neuem die Stühle an den Tisch.</p> + +<p>»O — Fräulein Dorette, ich habe Ihnen wie gewöhnlich +mein Kompliment zu machen!« rief der Landphysikus +<em>Dr.</em> Eberhard Hanff, in Extase nach einem langen Zuge +die Nase aus dem Dampfe des Getränkes des Abends in +die Höhe hebend. »Finden Sie jetzt nicht auch, Colonel, +daß wir hier besser aufgehoben sind als dort in der Kneipe +›zum Krug ohne Deckel‹ oder wie die Räuberhöhle sonst<span class='pagenum'><a name="Page_49" id="Page_49">[49]</a></span> +heißt? he, und wie wehrte und sperrte man sich gegen das +bessere Verständnis eines landkundigen Mannes!«</p> + +<p>»Es ist gewiß besser hier,« sagte der Soldat mit einer +Verbeugung gegen die Schwester des Hausherrn. »Man +wehrt sich oft gegen sein Glück, Senhora — man sollte es +nicht thun.«</p> + +<p>Die Übrigen gaben dem Oberst natürlich recht, und +dann redete man ebenso selbstverständlich von neuem eine +geraume Zeit über das Wetter; doch dann auch über die +Wege, über die Wegschenke, in welcher der Doktor den Fremden +gefunden hatte, über die Gegend im allgemeinen und +besondern, über das frühe Abziehen der Zugvögel in diesem +Jahre, über dieses und jenes: nur der Apotheker »zum +wilden Mann« nahm an dieser Unterhaltung wenig Anteil.</p> + +<p>Er, Philipp Kristeller, saß seinem brasilianischen Gaste +gegenüber. Den alten Brief hatte er nicht wieder in sein +Pult verschlossen, sondern, durch die plötzliche Ankunft des +Doktors und des Fremden daran gehindert, ihn wieder mit +sich gebracht und auf dem Tische von neuem vor sich niedergelegt. +Er stützte jetzt den Ellenbogen darauf und lächelte +in das Gespräch der Übrigen hinein, doch wie abwesend +und den eigenen Gedankengespinnsten nachgehend. +Daß der so plötzlich und unvermutet in seinem stillen Hauswesen +erschienene ausländische Herr seine innere Erregung +vermehrte, konnte man nicht sagen, doch richtete er, der +Hausherr, dann und wann verstohlen forschend den Blick +auf den Gast; und die Antworten, die er sodann auf an +ihn gerichtete Fragen gab, waren noch um ein weniges +zerstreuter.</p> + +<p>Der Arzt erkundigte sich zuerst scherzhaft nach dem +Grunde, und Ulebeule antwortete für den Apotheker.</p> + +<p>»Laßt ihn, Medicus, hat sich der Bär erniedrigt, so +wird er sich wohl bald um so mehr erheben; denn wozu +hat er seine Hinterpranken sonsten? fragt man in Polackien. +Wäret ihr eine Viertelstunde früher gekommen, so hättet<span class='pagenum'><a name="Page_50" id="Page_50">[50]</a></span> +ihr uns <span class="gesperrt">alle</span> insgesamt in einer noch viel kurioseren +Stimmung angetroffen. Wie die Hasen ihre Hexensteige +durchs Korn, so haben wir uns an diesem Abend unsere +Wege durch die angenehme Unterhaltung gebissen. O, wir +haben seltsame Historien vernommen!«</p> + +<p>»Ulebeule!« rief der Apotheker; doch der Förster war +in seinem Eifer nicht imstande, auf den Ruf zu hören.</p> + +<p>»Ich sage Ihnen, Doktor, es ist ein Jammer und +Schade, daß Fräulein Dorette's Punsch Sie und den Herrn +Oberst nicht ein wenig früher angeludert hat. Wie Federwild +sind die merkwürdigsten Geschichten um uns her aufgestoben. +Wir wissen jetzt, weshalb sich dreißig Jahre lang +keiner von uns in diesen Lehnstuhl da hat setzen dürfen; +— wir wissen, in welcher Weise unser Freund Philipp bei +uns ankam, — wir haben viel gehört von Liebe und Tod, +von wilden Männern und alten Geldbriefen, wie nicht +jedermann solche von der Post zugeschickt kriegt. Waren +Sie jemals in Ihrem Leben auf dem Blutstuhle, Doktor?«</p> + +<p>»Ulebeule?!« rief jetzt auch der geistliche Herr, und +diesmal hörte der Förster.</p> + +<p>»Nun, nun, — ja, ja, Ihr habt recht!« brummte der +redselige Waidmann kleinlaut. »Nehmt's nicht übel, Kristeller, +da Ihr selber so vertraulich waret —«</p> + +<p>Herr Philipp füllte freundlich dem biederen Hausfreunde +das Glas und reichte ihm die Hand; doch nun sagte der +Doktor Hanff:</p> + +<p>»Zu den kuriosen Geschichten sind wir, die wir unsererseits +dergleichen vielleicht auch dann und wann erlebten, +diesmal zu spät gekommen. Aber eine Frage erlaube ich +mir doch: habt ihr diesen guten Trunk hier jener Historien +wegen etwa zusammengebraut?«</p> + +<p>Der brasilianische Oberst Dom Agostin Agonista, der +die ganze Zeit hindurch mit nachdenklichen Augen auf den +leerstehenden Ehrensessel geschaut hatte, sah jetzt scharf auf +und hell und heiter im Kreise umher, zuletzt am schärfsten<span class='pagenum'><a name="Page_51" id="Page_51">[51]</a></span> +auf den Herrn des Hauses. Währenddessen antwortete der +Pastor dem Physikus und den forschenden Blicken des Colonels +zugleich mit:</p> + +<p>»Sie sind zu einem eben so freudigen wie ernsthaften +Gedächtnisfeste gerade noch zur rechten Zeit gekommen, +lieber Doktor. Unser Freund Kristeller sitzt heute gerade +dreißig Jahre hier in diesem Hause ›zum wilden Mann‹, +Herr Oberst. Er ist uns und allen Bewohnern der Gegend +weit und breit ein lieber, treuer Freund und Helfer ein +ganzes Menschenalter durch gewesen; den Punsch hat uns +Fräulein Dorothea improvisiert, und Ihre Einladung würden +Sie zu Hause vorgefunden haben, lieber Doktor.«</p> + +<p>»Den Umweg habe ich mir demnach gespart,« lachte der +Landphysikus. »Mein Herr Vater verwunderte sich gleich +über meine verständige Nase, als die Wickelfrau mich ihm +auf die Arme legte.«</p> + +<p>Noch eine Bemerkung über seinen Hausschlüssel anfügend, +sah der Humorist des Ortes von einem zum anderen, +aber man lächelte diesmal nur, man lachte nicht mit oder +hielt sich gar vor Lachen am Tische. Am vergnügtesten +sah noch der Oberst aus, und dieser erhob nunmehr auch +sein dampfendes Glas und sprach:</p> + +<p>»So erlaube ich mir denn, als ein wie vom Himmel +in diese Behaglichkeit hineingefallener Fremdling gleichfalls +auf diesen schönen und wichtigen Gedenktag und Abend zu +trinken. Dreißig Jahre sind eine lange Zeit; manches +wird darin anders — Gesichter und Meinungen. Und +meine gnädige Dame und meine guten Herren, auch ich +kann heute ebenfalls ein mir sehr merkwürdiges und folgenreiches +Gedächtnisfest feiern; — auch mir sind heute +gerade dreißig Jahre vergangen, seit ich zum erstenmale +im Feuer stand und zwar an Bord der chilenischen Fregatte +›Juan Fernandez‹ gegen den ›Diablo blanco‹, den +weißen Teufel, ein Schiff der Republik Haity, um am +folgenden Morgen mit einem Holzsplitter in der Hüfte<span class='pagenum'><a name="Page_52" id="Page_52">[52]</a></span> +und einem Beilhieb über der Schulter im Raum des Niggerpiraten +aus der Bewußtlosigkeit aufzuwachen!«</p> + +<p>»Wozu man freilich heute noch gratulieren kann,« +brummte der Doktor, während die anderen auf andere +Weise ihr Interesse und Mitgefühl kundgaben.</p> + +<p>»Wozu ich mir ganz gewiß heute noch Glück zu wünschen +habe,« sagte der tapfere alte Krieger, »denn in diesem +gottverdammten Schiffsraume, dem schwärzesten, stinkendsten +Loche, das je auf dem Wasser schwamm, lernte ich +einen Arzt kennen, der eine Kur an mir verrichtete, wie sie +keinem europäischen Mediziner gelungen wäre —«</p> + +<p>»Das wäre der Teufel!« rief der europäische Physikus.</p> + +<p>»Der war es so zu sagen auch,« sprach gelassen der +brasilianische Oberst, »und er klopfte mich auf die Schulter +und sagte: ›Senhor, eine Zeit lang hat jedermann auf +Erden das Recht, den Narren zu spielen, nur darf er das +Spiel nicht über die gebührliche Zeit fortsetzen, er macht +sich sonst lächerlich; Ihr gefallt mir, Senhor, und ich meine +es gut mit Euch, — diesmal kommt Ihr noch mit dem +Leben davon; erinnert Euch meiner und ruft mich, wenn +Ihr mich braucht; ich stehe immer an Eurem linken Ellbogen.‹ +— Meine Herrschaften, das Ding verhielt sich wirklich +so, und ich habe den Schwarzen jedesmal, wenn ich +ihn nötig hatte, gerufen, und mich stets wohl dabei gefunden. +Vorher war's mir herzlich schlecht in der Welt ergangen, +und ich hatte mich recht übel darin befunden.«</p> + +<p>Der geistliche Herr rückte ein wenig ab von dem sonderbaren +Gaste, Fräulein Dorothea Kristeller murmelte:</p> + +<p>»Ei, ei! hm, hm;« — der Apotheker sagte noch immer +nichts; aber Ulebeule rief entzückt:</p> + +<p>»Das ist ja aber heute wie ein Abend aus dem Tausendundeinenachtbuche! +Wir sind drin im Erzählen, und +wenn's nach mir geht, bleiben wir bis zum Morgen dabei. +Lieber Herr Oberst, unser alter Philipp da hatte vom Anfange +an auch nicht die Absicht, uns alles das, was er uns<span class='pagenum'><a name="Page_53" id="Page_53">[53]</a></span> +berichtet hat, zu beichten; er geriet nur so ganz allgemach +auf die Fährte, und wir haben ihn nur durch gute Ermunterung +darauf gehalten. Herr Oberst, nehmen Sie sich +gütigst ein Exempel und erzählen Sie weiter von den +Mohren. Der Abend ist ganz darnach; — was meinen +Sie, Pastore?«</p> + +<p>Der Pastor war wieder zugerückt und bot dem fremden +Kriegsmann die Dose.</p> + +<p>Dom Agostin Agonista lächelte gutmütig und sagte +vergnügt:</p> + +<p>»Ich weiß nicht, was für wilde Historien unser freundlicher +Herr Hospes von sich erzählt hat; mein Leben ist +sicherlich ins Wilde geschossen und hat Früchte gebracht, die +auf jedem Markte Verwunderung erregen müssen. Zuerst +wucherte das Gewächs phantastisch ins Kraut, und mehr +als ein Botanikus wartete mit Spannung auf die überirdischen +Blüten und Früchte. Jawohl! Der große Hurrikane +kam, der Wind und Sturm über Land und See, — +die Blätter wurden weggefegt, die Blüten, oder was so +aussah, dito. Endlich fand sich so ungefähr drei bis vier +Fuß unter der Erde etwas, was mit der Kartoffel einige +Ähnlichkeit hatte — allerlei Knollen durch Fasern aneinanderhängend +— ungenießbar, zäh, ein abgeschmacktes Produkt +der alten Mutter Erde. Dazu hat man es denn gebracht, +meine Herrschaften, und der einzige Trost ist nur, +daß eben nicht ein jeder nach seiner Wahl ein Pomeranzen- +oder Palmenbaum werden kann. Je früher aber der Mensch +herausfindet, in welche Klasse er nach Linné oder Buffon +gehört, desto besser ist es für ihn und desto schneller kommt +er zur Ruhe und zur Zufriedenheit mit seinen Zuständen. +So lange er's noch nicht heraus hat, spuckt er Gift und +Galle in den schönsten Sonnenschein hinein und macht +Brüderschaft mit dem Schneegestöber und Winterwinde. +Ich halte das auch für eine Philosophie, Herr Kristeller.«</p> + +<p>»Das ist es auch, Herr Oberst,« sagte Herr Philipp.<span class='pagenum'><a name="Page_54" id="Page_54">[54]</a></span> +»So lange aber der Mensch jung ist, findet er die große +Wahrheit selten. Ja, Viele — die Meisten finden sie +nie und glauben an ihre Palmbaumberechtigung bis zum +Ende.«</p> + +<p>»Und das ist ein Glück,« rief der wetterfeste, philosophische +Kriegsmann, »denn ohne diese glückliche Illusion +würde die ganze Menschheit doch nichts weiter sein als ein +sich elend am Boden hinwindendes Geschling und Gestrüpp. +Übrigens sind die Kartoffeln und die Trüffeln gar nicht +zu verachten.«</p> + +<p>»Aber mit dem Mohrenschiff und dem schwarzen Satan, +der den verehrten Herrn Oberst so zutraulich auf die +Schulter klopfte, hat dieses alles doch eigentlich nicht das +Geringste zu schaffen — nicht wahr?« fragte Ulebeule.</p> + +<p>»Bravo, Förster!« rief der Doktor. »Ihr seid und bleibt +ein hirschgerechter Waidmann. Tago! Tago! Ihr laßt +Euch wahrlich nicht von der Fährte abbringen. Geben Sie +sich nur drein, Oberst, und erzählen Sie uns von dem +Mohrenschiffe und Ihren sonstigen spaßhaften und ernsthaften +Erlebnissen. Die Nacht ist schwarz genug dazu, und +wir sind ganz Ohr.«</p> + +<p>Nun schien der richtige Ton für die folgende Unterhaltung +gefunden zu sein; aber in demselben Moment jagte +der Colonel Agonista alle, nur den Hausherrn nicht, in +hellster Überraschung, ja im jähen Schrecken von den Stühlen +empor.</p> + +<p>Er hatte sein Glas erhoben und sagte jetzt langsam +und ruhig:</p> + +<p>»Lassen Sie uns anstoßen auf das Wohl aller wetterfesten +Herzen, gleichviel ob sie ihre Schlachten innerhalb +ihrer vier Wände durchfechten oder durch Blut und Feuer +über den halben Erdball herumgeworfen werden. Kennst +du mich nicht mehr, Philipp? Kennst du mich wirklich +nicht mehr, Philipp Kristeller?!«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_55" id="Page_55">[55]</a></span> +Der Apotheker »zum wilden Mann« hatte den Geldbrief, +der bis jetzt unter seinem Ellenbogen gelegen hatte, +gefaßt und in der zitternden Hand zusammengeknittert. +Seit fünf Minuten schon wußte er, wer sein Gast war, +und der Oberst Dom Agostin Agonista hatte das auch gewußt. +Nun aber griff die Schwester zu und stützte den +Bruder; der Oberst faßte ihn von der anderen Seite und +so erhob er sich jetzo mühsam wie die Übrigen, legte beide +Arme dem Gaste um die Schultern, legte ihm das Gesicht +an die Brust und stöhnte:</p> + +<p>»Nach einem Menschenalter also!«</p> + +<p>Der Doktor, der Pastor und der Förster verwunderten +sich, ein jeder auf seine Manier, und es währte eine ziemliche +Weile, ehe jedermann wieder Platz genommen hatte.</p> + +<p>Endlich saßen sie wieder; der Oberst aber nicht auf dem +ihm so lange Zeit aufbewahrten weichen Ehrenplatz. Dom +Agostin hatte, nachdem er die Ehre zuletzt fast grob zurückgewiesen +hatte, mit zierlicher, drängender Höflichkeit Fräulein +Dorette Kristeller in den Lehnstuhl niedergesetzt, und +diese behielt denn auch den Platz, nachdem sie ihren Protest +eingelegt hatte.</p> + +<p>»Gegen die Gewalt kann ich nicht an, Herr Oberst, aber +behaglich sitze ich hier wahrhaftig nicht, und in die Wirtschaft +muß ich auch jeden Augenblick hinaus.«</p> + +<p>Das war richtig. Die chinesische Bowle mußte noch +zweimal im Verlaufe der Nacht gefüllt und das Gastzimmer +ebenfalls doch auch für den geheimnisvollen, abenteuerlichen +Freund hergerichtet werden. Dazwischen erzählte +der alte Soldat, ohne sich im geringsten zu sperren, dem +»Wilden Mann« seine Geschichte. Was darin zu Tage +kam, hätte jeden Tisch voll Philister (unter anderen Umständen) +bewogen, erst von dem munteren Erzähler leise +abzurücken, dann nach und nach mit den Gläsern und +Pfeifen sich nach einem anderen Platze umzusehen und dann +— bis zum Nachhausegehen — von dem neuen Stuhl aus<span class='pagenum'><a name="Page_56" id="Page_56">[56]</a></span> +verstohlen, furchtsam und verblüfft über die Schultern nach +dem unheimlichen fidelen alten südamerikanischen Burschen +hinzustieren.</p> + + + +<h2><a name="Achtes_Kapitel" id="Achtes_Kapitel"></a>Achtes Kapitel.</h2> + + +<p>Das kahle Gezweig kratzte nicht mehr so ärgerlich wie +vorher an den Fensterscheiben des Hinterstübchens in der +Apotheke »zum wilden Mann«. Der Förster Ulebeule +hatte den Kopf in die Nacht hinausgesteckt, ihn zurückgezogen +und den im Zimmer Anwesenden die tröstliche Versicherung +gegeben:</p> + +<p>»Es klärt sich richtig auf. Man sieht die Sterne durchs +Gewölk. Der Wind hat ordentlich über unseren Köpfen +und Schornsteinen aufgeräumt. Ich kenne das und wette, +daß wir morgen einen ganz klaren Tag haben werden.«</p> + +<p>Dies fiel in die Pause nach dem wundervollen Ereignis +und Wiederzusammenfinden in der Apotheke »zum wilden +Mann«.</p> + +<p>Philipp Kristeller hatte bis jetzt die Hand seines Wohlthäters +noch nicht losgelassen. Die beiden alten Freunde +saßen nebeneinander, und der Oberst hielt spielend in der +Linken den Brief, den er vor einunddreißig Jahren in der +Lebensverzweiflung geschrieben und mit 9500 Thalern in +Staatspapieren für den botanischen Studiengenossen beschwert +hatte. Jetzt zum erstenmal entzog er die rechte +Hand dem Freunde vom Blutstuhle, warf das letzte Endchen +seiner Cigarre hinter sich und zog eine kurze Pfeife +heraus, die er aus einem sehr exotisch, sehr indianisch aussehenden +Tabaksbeutel füllte und plötzlich — ehe er durch +einen hastigen Griff und Ruf des Apothekers daran gehindert +wurde, in Brand setzte. Ehe er dran gehindert +werden konnte, hatte Dom Agostin Agonista ein bedeutendes +Stück von seinem verjährten, wild-phantastischen<span class='pagenum'><a name="Page_57" id="Page_57">[57]</a></span> +Schreiben abgerissen, es regelrecht zu einem Fidibus zusammengedreht +und denselben zu dem Zwecke verwendet, +zu welchem man eben einen Fidibus gebraucht. In demselben +Moment fing er gelassen und gemütlich an, seine +Geschichte zu erzählen, und sie ging gut an, nämlich mit +den Worten:</p> + +<p>»Nicht wahr, Doktor, wer noch keinen Menschen umgebracht +hat, der wird sich nur schwer in die Gefühle eines, +der's bereits fertig brachte, hineinfinden. Erschrecken Sie +nur nicht zu arg, meine Herrschaften; ich habe mich allmählich +hineingefunden; — es lernt sich alles in der Welt +und wird zur Gewohnheit, das Hängen und Erschießen wie +— das Köpfen. Ich stamme aus einem der anrüchigsten +Geschlechter Deutschlands und hatte drei Tage vor dem +Zusammentreffen mit meinem Freund Philipp Kristeller +auf dem Blutstuhle gethan, was ich mußte. Um es kurz +zu sagen, so hatte ich, unter Billigung und Beistand von +Staat und Kirche, einem nichtsnutzigen Mitbruder im +Wirrwarr dieser Welt auf offenem Felde und vor zehntausend +Zuschauern den Kopf abgeschlagen. Erschrecken Sie +nicht, bestes Fräulein — auch das ist eine verjährte Geschichte.«</p> + +<p>Ja, was half es zu sagen: Erschrecken Sie nicht! —? +sie fuhren doch alle zusammen, selbst Herr Philipp Kristeller.</p> + +<p>»Das Amt, das meine Vorfahren seit mehr als zweihundert +Jahren in ununterbrochener Geschlechtsfolge verwaltet +hatten — rühmlich verwaltet hatten, war eines +Tages auf mich übergegangen, und ich habe es ausgeübt +— einmal! — wie gesagt, drei Tage vor jenem Anfall +vom Veitstanz, in welchem der da mich auf dem Blutstuhl +fand. Sieh, Philipp, <span class="gesperrt">das war es</span>! und deine Johanne +hatte wohl Recht, wenn sie schon lange vor jenem +letzten Zusammentreffen dich auf mancherlei an mir aufmerksam +machte, was ihr nicht gefiel. Ach Gott, ich wollte, +ich könnte es dem armen guten Kinde heute abend auch<span class='pagenum'><a name="Page_58" id="Page_58">[58]</a></span> +sagen, wie gut sie mir stets gefiel. Sie ist also tot — ein +Menschenalter tot? ach Philipp, Philipp, du hast es kaum +wissen können, wie viel Sonnenschein von ihr ausging, wo +sie ging und stand, und wie schwarz und scheußlich mir die +Welt in dem schönen Lichte vorkam. Auch verjährt! da +wir noch am Leben sind und es uns wohl geht, so wollen +wir von uns reden. — Ich war wunderlich erzogen worden. +Mein Großvater August Gottfried Mördling hatte +das schlimme Erbamt noch im reichlichen Maße und als +finsterer Enthusiast bekleidet; mein Vater hatte dagegen +das Glück gehabt, daß in seine ganze, freilich nicht sehr +lange Lebenszeit nicht ein einziges Mal die unangenehme +Notwendigkeit fiel, die Kammer im Oberstock des Hauses +aufzuschließen und mit dem Auge und dem Finger an der +Schärfe des breiten Schwertes mit der Jahreszahl 1650 +hinauf und hinunter zu fahren. Von meiner Mutter weiß +ich wenig zu sagen. Sie war eine kränkliche, verdrossene +Frau, und ich habe nur eine Haupterinnerung von ihr, +nämlich daß sie eine ausgebreitete Geflügelzucht trieb und +das Schlachten der Hühner, Puter, Enten, Tauben und +Gänse stets selber besorgte und zwar mit großer Kunstfertigkeit +und einer gewissen wilden Energie. Mein Vater, +ein sanfter, gebildeter Mann, der Schiller verehrte, Goethe +verstand, für Uhland schwärmte und mich erzog, ging bei +solchen Exekutionen stets mit raschen Schritten vom Hofe +oder aus der Küche weg, indem er murmelte: O du grundgütiger +Himmel! — Mein Vater, Alexander Franz Mördling, +war auch gereist, sowohl als Kunst- wie als Naturliebhaber, +er war in Frankreich, England und Holland +gewesen, sprach recht gut englisch und französisch und erzog +mich nur zu gut. Er machte auch mich zu einem gebildeten +Menschen, der über Sonnen- und Mond- Auf- und +Untergänge zu reden wußte, und vor allen Dingen ein +Herbarium anzulegen verstand. Als die echten, richtigen +Autodidakten machten wir uns beide unsere Welt zurecht,<span class='pagenum'><a name="Page_59" id="Page_59">[59]</a></span> +— eine Welt, aus der keiner von uns beiden berufsmäßig +herausgerufen werden durfte, ohne halb verrückt zu werden +und ganz zu Grunde zu gehen. Unser Erbhof lag natürlich +außerhalb der Stadt, versteckt im Grün, von uralten +Linden überschattet, durch hohe Mauern und ein +gewaltiges Thor geschützt — ein Haus aus dem Ende +des sechzehnten Jahrhunderts, warm im Winter, kühl im +Sommer — ein Generalsuperintendent hätte drin wohnen +und seine Predigten abfassen können. Der Schall und +Spektakel der Leute draußen drang kaum zu uns; und +wenn mein Papa mir unsere eigentlichen Zustände keineswegs +vorenthielt, so machte die Kenntnis davon durchaus +keinen niederdrückenden Eindruck auf mich. Es lag für +den Knaben sogar ein Reiz darin — man war allein, aber +man war auch etwas, was die anderen nicht waren; — +liebes Fräulein, man saß wie ein geheimnisvoller Affe auf +der Mauer und grinste die Jungen drüben jenseits des +Grabens, die nicht zu grinsen wagten, so zu sagen unheimlich-vornehm +an. Sie glauben es mir nicht, Fräulein +Dorette, aber es verhielt sich doch so. Da mein Vater in +seiner Abgeschiedenheit erträglich behaglich und zufrieden +seine Tage verbrachte, so hatte ich um so weniger Grund, +mich über mein Schicksal zu beklagen. Wir hatten durch +Sommer und Winter unsere kleinen Freuden, — und +Matthias Claudius würde sich sicherlich wohl in unseren +Beschäftigungen und träumerischen Grübeleien und Liebhabereien +gefühlt haben. Ja, es fällt mir erst jetzt bei: +vom alten Wandsbecker Boten hatte mein Alter das Meiste +in seiner Natur; — er konnte es sicherlich nicht ahnen, +welch ein Meister Urian in seinem Söhnchen steckte. — +Aber endlich kam ein Winter, in dem mein Vater bei +hohem Schnee und hartgefrorenem Boden mit Tode abging; +und ich ein mündiger, erwachsener Mensch, der allem, +was außerhalb unserer Hofmauer lag und vorging, gänzlich +unmündig gegenüberstand, ihn sterben sah.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_60" id="Page_60">[60]</a></span> +An dieser Stelle stand der Erzähler, der Oberst Dom +Agostin Agonista auf und ging zum Fenster, um nach dem +Wetter zu sehen.</p> + +<p>»Es ist das einzige, was einem bei außergewöhnlich +unruhigen Gemütsbewegungen hilft,« sagte er zurückkommend +und seinen Stuhl wieder einnehmend. »Übrigens +hat der Herr Förster recht; es wird klar, und wir werden +morgen wohl einen schönen Tag haben. Wo war ich doch +stehen geblieben? Ja so, beim Tode meines Vaters und +dem, was damit zusammenhing. Ich muß die Herren und +das Fräulein also noch eine Weile inkommodieren.«</p> + +<p>Sie hatten ihm alle, bis auf den Apotheker, starr und +mit immer noch hoch emporgezogenen Augenbrauen auf den +Rücken gesehen, den er ihnen zudrehte, als er aus dem +Fenster guckte. Als er sich umwendete, wandte ein jeder, +nur der Apotheker nicht, die Augen wo anders hin und +that so unbefangen als möglich.</p> + +<p>»Das nennst du uns inkommodieren, August?« fragte +Philipp Kristeller vorwurfsvoll zärtlich.</p> + +<p>»Augustin — Agostin — Agostin Agonista, wenn es +dir einerlei ist, alter Bursch,« lachte der brasilianische Oberst +und — erzählte weiter:</p> + +<p>»Wir waren allein im Hause, mein Vater, ich und eine +alte Hexe von Magd, die uns Beide seit meiner Mutter +Tode in der raffiniertesten Knechtschaft hielt. Mein Vater +hatte schon längere Zeit gekränkelt, sich selber bedoktert und +war nun mit seiner Kunst zu Ende. Lieber Doktor, der +städtische Arzt, den wir zum Schluß herbeiriefen, konnte +auch weiter nichts thun, als die Achseln zucken, — und, +Freund Philipp, in der Nacht vor seinem Abscheiden überlieferte +mein Vater mir die Schlüssel zu dem Archive unseres +Hauses! Drei Tage nach seinem Begräbnis öffnete ich den +schwarzen Eichenschrank, in welchem die seit fast zweihundert +Jahren recht ordentlich geführte Chronik unserer Familie +aufbewahrt wurde, und trat damit in die Krisis ein, während<span class='pagenum'><a name="Page_61" id="Page_61">[61]</a></span> +welcher mein alter Philipp da und seine so junge und +schöne Johanne meine Bekanntschaft machten und so viele +Gründe hatten, sich über mich zu verwundern. Ich fand +in dem Schranke ein von meinen Vorvätern zusammengeschriebenes +dickleibiges Manuskript in schwarzem Lederband +mit Messingecken und Haspen. Sie hatten regelrecht Buch +geführt, und es war ein recht nettes Hauptbuch draus geworden +mit allen Zahlen und sonstigen Belegen! Und ich +las und rechnete es nach bis auf meinen Herrn Großpapa +hinunter — ich las es vom Anfang bis zum Ende, Wort +für Wort, Datum für Datum, Zahl für Zahl; und als +ich in der dritten Nacht gegen zwei Uhr morgens von der +gräulichen Lektüre aufstehen wollte, da konnte ich nicht. +Ich saß fest im Stuhl, gerädert von unten auf, und draußen +war es grimmig kalt — der Hofhund heulte und weinte +vor Frost, und ich fühlte den Frost gleichfalls bis in die +Knochen, und dazu, halb wahnsinnig, mein Leben, Fühlen, +Denken, Meinen abgebrochen, wie wenn ein Stock übers +Knie abgebrochen worden wäre. Meine grimmige Hexe +von Haushälterin hatte mich am Ofen aufzuthauen wie ein +steifgefrorenes Handtuch, und es währte länger als eine +Woche, ehe sich die allernotwendigste animalische Wärme +wieder in mir bemerkbar machte. Ich lag länger als eine +Woche im Bett und klapperte geistig und körperlich mit den +Zähnen; dann aber lief ich hinaus und lief mich warm +durch das winterliche Land — blieb vierzehn Tage für diesmal +vom Hause weg und suchte mir zu der Wärme auch +den Schlaf zu erlaufen, erlief mir jedoch nur die scheußlichsten +aller Träume. Es ist ein Wunder, daß keiner es +mir heute ansieht, was für ein Narr ich damals war! +Nach meiner Rückkehr saß ich bis zum Frühjahr als ein +Idiot am Herde, und ohne den Frühling wäre ich sicherlich +als ein Idiot im Landesirrenhause elend und erbärmlich +verkommen; und eigentlich, lieber Philipp, habe ich +über jene Periode meines Daseins nichts mehr zu sagen.<span class='pagenum'><a name="Page_62" id="Page_62">[62]</a></span> +Ich fuhr in meinem Einspänner über die Grenze, mietete +in einem Dorfe eurer Provinz ein Absteigequartier und +ging dann in die Berge: — da trafen wir uns, und du +hieltest mich für einen übergeschnappten Privatgelehrten, +dem seine Freunde seiner Gesundheit wegen geraten hatten, +sich ein wenig auf die Botanik zu legen.«</p> + +<p>»Ich habe meinen Freunden bereits vorhin mitgeteilt, +mit welchem Respekt mich deine Wissenschaft erfüllte,« rief +der Apotheker »zum wilden Mann«, und sie nickten rund +um den Tisch und sprachen:</p> + +<p>»Ja, ja! o freilich!«</p> + +<p>Der Oberst Dom Agostin Agonista aber sah selbst in +dieser Nacht zum erstenmale sehr ernst, ja fast böse und +finster drein und sagte:</p> + +<p>»Ich würde dir im Laufe der Zeit meine Umstände +wohl klarer erschlossen haben, Philipp, ich würde dir alles +von mir und meinem Leben erzählt haben; aber dein Liebeswesen +hat mich dran gehindert und mir den Mund +zugehalten. Lieber Junge, wenn mir etwas die Welt noch +mehr verleidete, so war das deine Braut. Bei Gott, ich +habe euch oft gehaßt wegen eurer Seligkeit, — o Philipp +Kristeller, in mehr als einer Stunde hätte ich euch mit +Vergnügen eine Fallgrube für eure Zärtlichkeit graben +können. Wäre das Eifersucht gewesen, so wär's schlimm +genug gewesen; aber es war noch schlimmer, es war Neid, +der nichtswürdige zähnknirschende Neid. Ach, Freund, +Freund, damals hatte ich wahrhaftig nicht die Absicht, dir +im Leben auf die Beine und, so weit ich es konnte, zu einer +Frau zu helfen! Mußte da erst das Ärgste kommen, um +mir den Sinn vollständig zu wenden, und das Ärgste kam; +— gottlob, sage ich heute! — Von einer meiner vorgeblichen +botanischen Rasereien ins Wilde zurückkehrend, fand +ich einen Brief zu Hause, ein Schreiben mit dem Siegel +der Oberstaatsanwaltschaft drauf. Ich wurde durch dieses +Reskript umgehend nach der nächsten Kreisstadt beordert,<span class='pagenum'><a name="Page_63" id="Page_63">[63]</a></span> +und was die hohe Behörde da von mir verlangte und zu +verlangen berechtigt war, das können die Herren und die +gütige Senhora sich sicher selber vorstellen; ich habe gewiß +nicht nötig, mit dem Finger die Richtung anzudeuten. +Man legte mir ein vom Landesherrn bereits unterzeichnetes +Todesurteil vor, und ich hatte noch drei Wochen Zeit, mich +und meinen Patienten auf die mir obliegende Operation +vorzubereiten. Während dieser drei Wochen sahest du mich +nicht, Philipp Kristeller; aber du fandest mich drei Tage +nach vollbrachtem Amtsgeschäft auf der Opferklippe. Ja, ja, +meine Herren, nach gethaner Arbeit ist gut ruhen, und +auch das war ein Erholungsausflug! — Ich hatte meine +Sache gut gemacht und war gelobt worden, von den Behörden, +den Zeitungen und dem zuschauenden Pöbel; aber +ich trug schwer an der Ehre. Buchstäblich, — ich trug +meinen still und um einen Kopf kürzer gemachten Patienten, +minus diesen Kopf auf dem Rücken, und ich hatte ihn +eben auf den Blutstuhl hinaufgeschleppt, als mein Freund +Philipp die Klippe von der anderen Seite her erkletterte. +Seht, es ist immer von den Gefühlen des armen Sünders +auf dem Hochgerichte die Rede; aber diesmal waren auch +die des Scharfrichters bemerkenswerth; — reden wir nicht +davon: ich trug, wie gesagt, den Rumpf des armen Teufels +von dem Gerüste hinunter; er hing mir auf dem Rücken, +die Hände schleiften auf dem Boden nach, und ich hielt auf +jeder Schulter einen Fuß im blauen wollenen Strumpfe +gepackt! So hab' ich ihn auf den Blutstuhl hinaufgeschleift; +und als du mich fandest, Philipp Kristeller, auf dem Felsen +liegend, das Gesicht zu Boden gedrückt, da saß der Halunke +auf mir, kopflos — hatte mir eine Kralle in das Nackenhaar +gewühlt und sang sein diabolisches Triumphlied über +mich — ein Bauchredner sondergleichen; aber höchst widerlich, +selbst heute abend noch, nach einunddreißig Jahren +ruhigeren Nachdenkens und kühlerer Überlegung!«</p> + + + +<h2><a name="Neuntes_Kapitel" id="Neuntes_Kapitel"></a>Neuntes Kapitel.</h2> + + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_64" id="Page_64">[64]</a></span> +Der Oberst schwieg und fuhr sich mit dem Taschentuche +über die Stirn. Man räusperte sich rund um den Tisch; +der Förster und der Pastor hüllten ihre Verlegenheit in +die dichtesten Tabakswolken, der Landphysikus schien die +seinige in sich ertränken zu wollen, und alle drei — sonst +gar nicht übele Leute — sahen in diesem Momente merkwürdig +stupide aus. Fräulein Dorette Kristeller im Ehrenstuhle +hatte sich soweit als möglich aus dem Lichtschein in +die Dämmerung zurückgezogen; man hörte sie leise ächzen +und seufzen, ja es schien sogar, als ob sie stoßweise in ihr +Taschentuch hineinschluchze. Eine solche Geschichte erzählte +man trotz allem nicht ungestraft, — selbst im Kreise seiner +allerbesten Freunde nicht.</p> + +<p>Dem alten Soldaten entging der gemachte Eindruck +keineswegs, aber nachdem er seinerseits die widerliche Erinnerung +mit einer Hand- und Armbewegung so zu sagen +vom Tische gewischt hatte, stützte er beide Ellenbogen auf +die Platte und schaute munterer denn je um sich. Er +hatte, wie sich gleich auswies, noch extraordinärere Dinge +in seinem späteren Leben durchgemacht, er hatte nicht wie +die anderen still im Winkel gesessen, er hatte sich allerlei +um die Nase wehen lassen, was die meisten Leute für +Sturm genommen haben würden, er aber nur noch für +Wind hielt. Er war nicht umsonst kaiserlich brasilianischer +Gendarmerieoberst geworden.</p> + +<p>»Lieber, guter August — Augustin,« flüsterte der Apotheker, +»du bist als ein eigentumsloser Bettler in deiner +Verwirrung in die Welt hinausgelaufen; — du hast mir +das Erbe deiner Väter überwiesen —«</p> + +<p>»So ist es! Niemals hat ein Mensch mit gleich leerer +Tasche dem alten Europa den Rücken gewendet!«</p> + +<p>»O meine Johanne — meine liebe, arme Johanne!«<span class='pagenum'><a name="Page_65" id="Page_65">[65]</a></span> +seufzte der Apotheker leise; aber da that der Abenteurer +und Soldat einen sehr feinfühligen Griff in die Ideenfolge +seines Jugendbekannten.</p> + +<p>»Nein, nein, Philipp, bei allen Mächten, nein! es ist +nicht so! Das ist nicht der Geschäftsgang zwischen Himmel +und Erde! Du würdest sie doch verloren haben — o, +um meine Hinterlassenschaft hat sie dir das Schicksal nicht +sterben lassen! Was hatte ihr Dasein und Geschick mit +dem zu schaffen, was alles an den Thalern hing, die ich +damals auf der Flucht von mir warf und dir an den Hals, +weil du mir zufällig zunächst standest. Das Kind ist nicht +daran gestorben, Philipp! Ihr hättet ein schönes Leben +auf die Erbschaft meiner Vorväter gebaut, wenn die +Schöne, die Gute dir nicht doch hätte sterben müssen; und +dann — — wer hier unter uns hat wohl ein besseres Los +gezogen als sie?«</p> + +<p>Die Frage erforderte eine Antwort, und jeder gab sie +auf seine Weise, doch laut bejahete oder verneinte niemand. +Der Apotheker »zum wilden Mann« drückte zum hundertstenmale +dem Obersten Agonista die Hand, und dieser +schüttelte sie ihm wiederum herzhaft und rief:</p> + +<p>»Was kann es alles helfen — jeder erlebt sein Leben, +und wer noch mit dem nötigen Humor davon zu erzählen +weiß, der ziert jegliche Tafelrunde, und selbst die Weisesten, +Ehrwürdigsten und Ehrbarsten können ihn ruhig ausreden +lassen. Jetzo will ich einmal eine weise Bemerkung machen, +nämlich daß der größte Verdruß der Menschen im einzelnen +daraus entspringt, weil sie die Welt im ganzen für zu still +halten. Meine Herrschaften, die Welt ist nicht still, und +man muß den Wirrwarr nur recht kennen lernen, um das, +was einem vom ersten Seufzer bis zum letzten passiert, nach +dem richtigen Maße zu schätzen. Hol der Teufel die Narren, +denen ihre vier Wände auf den Kopf zu fallen scheinen: +steigt aufs Dach jedesmal, wenn's euch zu angst wird und +überzeugt euch, daß das Firmament fürs erste noch nicht<span class='pagenum'><a name="Page_66" id="Page_66">[66]</a></span> +die Absicht hat, zusammenzubrechen. Also, ich stand ohne +einen Heller in der Tasche auf dem Kai zu Neu-Orleans, +so ungefähr in der Stimmung eines Menschen, der aus +einem schweren Rausch erwacht, übernächtig sich die Stirn +reibt und doch den kühlen Morgenwind mit Wohlbehagen +auf seinen Schläfen fühlt. Was aus mir werden mochte, +war mir ganz gleichgültig. Ich war zu allem bereit, zum +Leben wie zum Sterben, und verkaufte, da ich Hunger hatte, +um wenigstens das allernächste Behagen noch einmal festzuhalten, +mein Halstuch und mein Taschentuch an einen +wandernden Trödler. Traktierte darauf meinen ersten guten +Bekannten auf amerikanischem Boden, den einarmigen Mulatten +Aaron Toothache, und zwar in einem Lokale, in dem +Volk zusammensaß, von welchem man hier am Tische kaum +einen Begriff haben kann. Hier lernte ich einen Haufen +Gesindel von vorbenanntem Fregattschiff der Republik Chile, +dem braven ›Juan Fernandez‹, kennen, und wir gefielen +uns gegenseitig. Wie die Bekanntschaft endlich im Schiffsraume +des ›weißen Satans‹ auslief, habe ich euch bereits +mitgeteilt.«</p> + +<p>Sie waren ihm während der letzten Minuten alle auf +den Leib gerückt. Sie schienen nach seinen letzten Äußerungen +ihre geheime Scheu und Abneigung gegen ihn gänzlich +überwunden zu haben! Sie waren ihm so dicht an die +Ellenbogen gerückt, daß ihm die Luft auszugehen schien. +Blasend machte er eine Armbewegung, um sie wieder ein +wenig von sich zurückzudrängen, und wir — wir machen +es vollständig umgekehrt, als die aufs Äußerste gespannten +Lauscher in der Hinterstube der Apotheke »zum wilden +Mann«: wir rücken ab vom Kaiserlich brasilianischen Gendarmerieoberst +Dom Agostin Agonista.</p> + +<p>Was dieser wunderliche Erzähler jetzt zu erzählen hatte, +war freilich bunt genug und voll Feuerwerk und Geprassel +zu Wasser und zu Lande; allein das alles war doch schon +von anderen hunderttausendmal erlebt und mündlich oder<span class='pagenum'><a name="Page_67" id="Page_67">[67]</a></span> +schriftlich, ja sogar dann und wann durch den Druck mitgeteilt +worden. Wir lassen ihn, den Oberst Agonista so +ungefähr um ein Uhr morgens noch einmal mit der flachen +Hand über den Tisch streichen und seine jetzige Lebens- und +Weltanschauungsweise in ein kurzes Wort zusammenfassen.</p> + +<p>»Also im zweiten Jahre meiner Abfahrt von Hamburg +stand ich als Gefreiter in dem Peloton, das als Executionskommando +in den Festungsgraben befehligt worden war. +Der Lieutenant hob den Degen, und — wir gaben Feuer: +ich ohne Umstände wie die anderen. Von dem Augenblicke +an war ich von meiner europäischen Lebensbürde vollständig +frei. Ich machte mir aus dem Tage, der gestern war, +und dem, der vielleicht morgen sein konnte, nicht das Geringste +mehr; — juchhe, wie der Dichter stellte ich meine +Sache auf nichts! So bin ich immer bei mir, und zwar +bei mir allein gewesen: auf dem Marsche, wie in der +Wachtstube, am Feuer in der Indianerhütte wie in den +Salons der Präsidialstädte. Ja, meine Herrschaften, habe +ich da drüben manchen Präsidenten in mancher Republik +kommen und gehen sehen, habe selber geholfen, den Excellenzen +Stühle zuzurücken oder sie ihnen unterm Sitze +wegzuziehen, wie's sich gerade schickte. Venezuela machte +mich zum Luogotenente, Paraguay zum Major; aber Seine +Majestät Dom Pedro von Brasilien war am gnädigsten +gegen mich, und so fand ich denn auch am meisten Gefallen +an ihm. Wir beide haben jetzt manch liebes Jahr +das vielfarbige Gesindel in Rio Janeiro zur Ordnung +und Tugend angehalten: er durch regelrecht richtige konstitutionelle +Güte, ich durch flache Säbelhiebe und im Notfall +durch einen kurzen Galopp, drei Schwadronen hinter +einander, rund über das Pack weg. Meine Herren und +Sie, liebes Fräulein, Sie werden sicherlich noch einmal +erschrecken und mich von der Seite ansehen; aber es ist +nicht anders, und bei der Wahrheit soll der Mensch bleiben:<span class='pagenum'><a name="Page_68" id="Page_68">[68]</a></span> +wenn ich das Köpfen aufgegeben habe, so habe ich mich +desto energischer auf das Hängen gelegt und gefunden, daß +es eine viel reinlichere Arbeit ist und seinen Zweck ebenso +gut erfüllt. Was aber das Gehängtwerden anbetrifft, so +habe ich selber die Schlinge mehr als einmal um den Hals +gefühlt, gottlob ihn aber stets noch glücklich herausgezogen. +Ei ja, ich komme jetzt ganz gut mit jedermann aus — bin +hoffähig und reite bei feierlichen Aufzügen am Kutschenschlage +Ihrer kaiserlichen Majestäten. Komme ich nach +Rio heim, so werde ich mich verheiraten; denn für ein +ferneres junggesellenhaftes Umherschweifen wird's allmählich +ein wenig spät. Doch davon morgen, und nun vor allen +Dingen das letzte Glas von diesem höchst vortrefflichen +Getränk und dazu ein Rat, Wunsch und Trinkspruch: Verehrte +Freunde, da wir einmal da sind, so leben wir, wie +es eben gehen will; und da das, was uns endlich aus dem +Dasein hinausschiebt, immer am Werk ist, so schieben wir +ohne Skrupel gleichfalls; — vor allen Dingen aber lebe +<span class="gesperrt">er</span> hoch — mein Freund, mein lieber, alter, guter Freund +Philipp Kristeller und mit ihm wachse, blühe und gedeihe +fort und fort seine Apotheke ›zum wilden Mann!‹«</p> + +<p>Das riefen sie alle nach und klangen die Gläser an +einander, und dabei erhoben sie sich und standen verwirrt, +schwankend ob all des Abenteuerlichen, das der Abend enthüllt +und gebracht hatte. Wie die Gäste Abschied von +dem Hausherrn, seiner Schwester und dem Oberst Agostin +Agonista nahmen, wußten sie selbst nachher kaum anzugeben.</p> + +<p>Der Oberst aber sagte:</p> + +<p>»Philipp, einen Schlafrock und ein Paar Pantoffeln +bitte ich mir aus. Ich will es doch wenigstens einmal +noch behaglich im deutschen Vaterlande haben.«</p> + +<p>Die beiden Freunde vom Blutstuhl umarmten sich noch +einmal; wir aber begleiten den Förster Ulebeule und den +Pastor ein Endchen auf ihrem Wege nach ihren Wohnungen.</p> + + + +<h2><a name="Zehntes_Kapitel" id="Zehntes_Kapitel"></a>Zehntes Kapitel.</h2> + + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_69" id="Page_69">[69]</a></span> +Daß sie, der Förster, der Pastor und der Landphysikus +<em>Dr.</em> Hanff, ihren freundlichen Wirten gute Nacht oder vielmehr +guten Morgen gesagt hatten, stand fest.</p> + +<p>Der Apotheker hatte sie mit dem Lichte an die Thür +begleitet, und sie standen auf der Landstraße, wo der Doktor +seinen Einspänner bereits wartend fand. Sie vernahmen +noch, wie der Hausherr drinnen den Schlüssel im +Schloß umdrehte, und niemand hinderte sie jetzt mehr, +ihren Stimmungen, Gefühlen und Ansichten die Thüren +weit aufzuwerfen.</p> + +<p>Der Erste, der das Wort ergriff, war natürlich der +Doktor, und er rief von seinem Wagentritt aus:</p> + +<p>»Nicht wahr, da hab' ich euch wieder mal einen tollen +Gesellen ins Dorf geschleift? He, ihr hattet wohl kaum +eine Ahnung davon, daß es dergleichen auf Erden geben +könne, — was? Mir gefällt der Kerl ausnehmend wohl, +und ich freue mich unbändig auf eine fernere und genauere +Bekanntschaft, — zu Worte wird er einen im Laufe der +Zeit ja auch wohl einmal kommen lassen. Wir laden ihn +natürlich rund herum der Reihe nach zum Essen ein.«</p> + +<p>»Natürlich, und er soll sich dann auch über uns wundern,« +rief Ulebeule, und der Doktor fuhr ab auf der Landstraße +zur Rechten; er hatte ein gut Stück Weges zu fahren, +ehe er seine Behausung erreichte.</p> + +<p>Die beiden anderen wendeten sich links, und der geistliche +Herr trug vorsichtig seine Taschenlaterne voran. Wo +ihre Wege aber schieden, standen sie noch einmal still und +sahen nach der Apotheke »zum wilden Mann« zurück. Das +Haus lag dunkel da unter dem wieder dunkel und schnell +ziehenden Gewölk. Obgleich der Wind sich ein wenig gelegt +hatte und die Sterne sichtbar waren, trieb sich noch +genug bedrohliches Gedünst am Himmelsgewölbe um, und<span class='pagenum'><a name="Page_70" id="Page_70">[70]</a></span> +die Pappeln in der Nähe der Apotheke schwankten wie betrunkene +Gespenster.</p> + +<p>»Mir wird jenes Haus dort nie wieder so aussehen, +wie ich es bis zum heutigen Abend gekannt habe,« sagte +der Pastor. »Was sagen Sie, lieber Freund?«</p> + +<p>»Das weiß der Teufel!«</p> + +<p>Der geistliche Herr zog ein wenig die Achseln zusammen.</p> + +<p>»Sie sollten dieses böse Wort vorsichtiger gebrauchen, +Bester,« meinte er. »Freilich, freilich, nach dem, was wir +eben vernommen haben — wer kann da sagen — wer +da seine Hand im Spiele gehabt hat? Ich lobe mir Zustände, +die auf besseren Grund und Boden gebaut sind als +— — kurz, was halten Sie vom heutigen Abend an von +den Umständen unseres Freundes Kristeller?«</p> + +<p>»Der Alte ist mir lieber denn je geworden!« rief der +Förster voll Enthusiasmus. »Das nenn' ich einen braven +Mann und einen guten Menschen! Wenn einer es verdiente, +diesem famosen Scharfrichter und brasilianischen +Generalfeldmarschall zur richtigen Stunde auf seinem Wege +zu begegnen, so war's unser Philipp. Die Welt oder nur +ein Stück davon würde er freilich nicht erobert haben, aber +was man ihm giebt, das nimmt er mit Bescheidenheit und +Dankbarkeit, und für unsere Gegend ist er doch wirklich +diese dreißig Jahre durch ein Segen gewesen.«</p> + +<p>»Und der andere — dieser andere — dieser Dom — +Dom — Agonista?!«</p> + +<p>»Hören Sie, Pastore, den muß man sich erst bei Tage +besehen, ehe man ein Urteil über ihn abgeben kann; bei +Lampenlicht geht nichts in der ganzen weiten Welt über +ihn! das ist ein Prachtkerl; — wahrhaftig, solch ein Gesell +aus Schmiedeeisen und Eichenholz rückt einem nicht alle +Tage an den Ellenbogen. Was wollen Sie — ich glaube, +ich glaube, mich hat lange nichts so sehr geärgert, als daß +er mir nicht auf der Stelle angetragen hat, Brüderschaft +mit ihm zu machen.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_71" id="Page_71">[71]</a></span> +»Da bin ich denn doch in der That ein wenig weichlicher +als Sie, lieber Ulebeule,« sagte der Pastor mit einem +leisen Schauder. »Mir ist dieser plötzlich wie aus dem +Boden aufgestiegene Mensch entsetzlich! Die Kaltblütigkeit, +mit welcher er aus nichts in seinem Leben ein Hehl machte, +griff mir in alle Nerven. Wenn ich zu viel Punsch getrunken +haben sollte, so bin ich nicht schuld daran, sondern +dieser — dieser — dieser ungewöhnliche Erzähler. Wehren +Sie sich einmal gegen ein fortwährend Einschänken, wenn +es Sie fortwährend heiß und kalt überläuft! Hatten Sie +wirklich vorher eine Ahnung davon, daß es solche Lebenswege +und Fata in unseres Herrgotts Welt geben könne?«</p> + +<p>»In Büchern habe ich Schnurrioseres gelesen; aber hier +hatten wir freilich einmal das Wirkliche und Wahrhaftige +<em>in natura</em>. Heiß und kalt hat mich seine Historie nicht +gemacht, aber die Pfeife ist mir ziemlich oft darüber ausgegangen. +Käme einem jeden Abend ein solcher Kerl über +den Hals, so würde einem das Schmauchen auf die allernatürlichste +Art abgewöhnt. Außerdem daß ich einen brasilianischen +Obersten noch niemals mit eigenen Augen gesehen +hatte, erzählte dieser Oberst mehr als brasilianisch +gut, und noch dazu ganz und gar nicht aus dem Jäger-Lateinischen. +Das muß ich kennen und hätte es ihm beim +ersten Flunkerwort abgespürt und es ihm merken lassen, +nämlich moralisch mit dem Hirschfänger übers Gesäß: +Hoho, das ist für den gnädigsten Fürsten und Herrn! Hoho, +das ist für die Ritter und Knecht'! Dies ist das edle +Jägerrecht!«</p> + +<p>»Ulebeule?!« rief der Pastor klagend-vorwurfsvoll.</p> + +<p>»Ja, ja, es ist wahr, 's ist spät und es zieht hier arg,« +rief der Förster, »aber die Mohrenschiffgeschichte allein hätte +doch auf jedem Orgelbilde abgemalt werden können; — bei +allem in Grün, man kommt sich ganz abgeschmackt und +verrucht verledert und in seinem Loche versumpft vor, wenn +man es sich überlegt, was man seinerseits hier am Orte<span class='pagenum'><a name="Page_72" id="Page_72">[72]</a></span> +vor sich brachte an Erfahrung, während der sein Gewölle +um so viele Nester herum ablegte.«</p> + +<p>»Ich danke dem Himmel dafür, daß er mich hier im +Frieden grau werden ließ. Meine Natur hätte nicht für +ein solches Dasein gepaßt.«</p> + +<p>»Das brauchen Sie mir nicht schriftlich zu geben,« lachte +der Förster; »aber hat uns nicht gerade dieses kuriose, ins +Kraut geschossene Menschenkind bewiesen, daß niemand weiß, +was in ihm steckt und was er unter Umständen aus sich +herausziehen kann? O je, wie oft hab' ich in meinen +jungen Jahren aus Angst oder Verdruß in die weite Welt +hinauslaufen wollen! Nach einem solchen Erzählungsabend +begreift man weniger als je, weshalb man es damals +nicht ausführte und seinen Schulmeistern, Eltern und +sonstigen Vorgesetzten durch die Lappen ging.«</p> + +<p>»Wir werden alle unsere Wege richtig geführt und sind +in guten Händen,« sprach der geistliche Hirte und trat leider +gerade in diesem ganz unpassenden Moment in eine etwas +tiefere Pfütze, in der er ohne Gnade hätte umkommen +müssen, wenn sein handfester Begleiter nicht noch gerade zu +rechter Zeit zugegriffen hätte.</p> + +<p>»Bitte ein andermal um denselben Dienst,« sprach Ulebeule +gravitätisch; sonst aber brachte dieser Zufall ihr jetziges +Gespräch über das Haus Kristeller und den Kaiserlich brasilianischen +Gendarmerieobersten Dom Agostin Agonista zu +einem Abschluß.</p> + +<p>Einiges wurde jedoch noch gesprochen, ehe der Pastor +geradeaus seiner Pfarre zuwanderte und der Förster sich +links in den dunkeln Hohlweg schlug, der zu seiner Försterei +führte.</p> + +<p>»Wir sehen uns doch morgen? Dieses alles kann doch +gewiß nicht passiert sein, ohne daß man ein weniges mehr +davon sieht und hört und sich darüber ausspricht!«</p> + +<p>»Man fühlt freilich das Bedürfnis,« meinte der Pastor, +»und ich meine, wir treffen wohl irgendwo zusammen.<span class='pagenum'><a name="Page_73" id="Page_73">[73]</a></span> +Man ist es auch unserm guten Apotheker schuldig, daß man +sich nach seinem Befinden erkundige.«</p> + +<p>»Und dem Oberst nicht weniger.«</p> + +<p>»Gewiß, gewiß. Nun, wir werden ja sehen. Und nun +gute Nacht, oder vielmehr guten Morgen, mein teurer +Freund. Wir sind selten so lange bei einander geblieben +als am heutigen Abend.«</p> + +<p>»Und immer war's noch zu früh zum Aufbruch, und +ich wäre sofort bereit, diesen wilden Indianer mit der ersten +Dämmerung thauschlägig zu spüren. Aber der Kerl schnarcht +— ich bin fest überzeugt, er liegt im Bau und schnarcht +wie kein zweiter Mensch mit gutem Gewissen auf zwanzig +Meilen in die Runde. Sapperlot, so wie ich mich aufs +Ohr gelegt habe, fange ich an, vom Blutstuhl und diesem +brasilianischen Landdragoner-General zu träumen, und — +morgen — morgen — mache ich — doch Brüderschaft +mit ihm!«</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>So sprach also die Welt! — Wenn eine Million Zuhörer +in dem bildervollen Hinterstübchen der Apotheke »zum +wilden Mann« dem alten Philipp Kristeller und dem Obersten +Agostin Agonista zugehört haben würde, so würde diese +Million denkender und redender Wesen kaum ein mehreres +und anderes als der Pastor Schönlank und der Förster +Ulebeule bemerkt haben. Der Seelenaustausch in diesen +Wendungen genügte übrigens auch vollkommen: wenden +wir uns zu dem greisen Geschwisterpaar in der Apotheke +»zum wilden Mann« und zu seinem eigentümlichen Gaste +zurück.</p> + + + +<h2><a name="Elftes_Kapitel" id="Elftes_Kapitel"></a>Elftes Kapitel.</h2> + + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_74" id="Page_74">[74]</a></span> +Bruder und Schwester saßen allein im jetzt recht frostig +werdenden Hinterstübchen, im erkaltenden Qualm von spirituösem +Getränk und Tabaksdampf. Der Gast war zu +Bett gegangen.</p> + +<p>Der Hausherr hatte den Freund mit dem Lichte in das +behagliche Gemach die Treppe hinaufbegleitet und noch einmal +all sein überquellendes Gefühl in Wort und Empfindungslaut +zusammenzufassen gesucht. Der Oberst hatte ihn +freundlich zu beruhigen bestrebt und dann, noch in Gegenwart +seines guten Philipp's, sehr gegähnt und den Rock +ausgezogen. Liebevoll aber hatte er ihn doch noch einmal +von dem ersten Treppenabsatz zurückgerufen und, ihm die +Hand auf die Schulter legend, gesagt:</p> + +<p>»Philipp, alter Kerl, lieber Junge, es ist mir in der +That ein herzliches Genügen, unter deinem Dache zu ruhen. +Wahrhaftig, in mancher unbehaglichen, unbequemen Stunde +zu Lande und zu Wasser habe ich mir da, d. h. unter +diesem Dache, oft das vorzüglichste Quartier zurecht gemacht, +und jetzt hab' ich die Wirklichkeit, und sie ist wunderbar +wohlthuend!«</p> + +<p>An diesen erfreulichen Ausbruch seiner Gefühle hatte er +denn freilich recht praktisch die Frage nach dem Stiefelknecht +geknüpft.</p> + +<p>Während der Bruder dem Gaste zu seinem Schlafzimmer +leuchtete, war Fräulein Dorette in der Bildergalerie +sitzen geblieben, doch hatte sie den Ehrensessel aufgegeben +und sich auf ihrem gewohnten Stuhle niedergesetzt. Da +saß sie, beide Ellenbogen auf den Tisch stützend und starr +durch den Qualm, den die Herren hinterlassen hatten, und +über die leere Punschschale und die gleichfalls leeren Gläser +weg auf die buntbehängte Wand gegenüber sehend. Da +saß sie und horchte auf die Schritte über ihrem Kopfe und<span class='pagenum'><a name="Page_75" id="Page_75">[75]</a></span> +dann auf die Schritte des zurückkehrenden Bruders auf der +Treppe.</p> + +<p>»Welch ein Erlebnis!« murmelte sie. »Wie fällt das +jetzt in unsere Tage? — So spät im Leben! — Und was +werden die Folgen sein? — o, o, o!«</p> + +<p>Nun aber trat der Bruder wieder ein und zur Schwester +heran. Nun legte er seinerseits ihr die Hand auf die +Schulter:</p> + +<p>»Weißt du dich auch noch nicht in dem Glück, das uns +dieser Abend gebracht hat, zurecht zu finden? O Dorette, +liebe Dorette, wie schön hat sich nun alles ineinander gefunden +und geschlossen, — und gerade an diesem Tage, an +diesem Abend. Wer glaubt da an Zufall? Wer hat jemals +deutlicher als wir die Hand der Vorsehung, die alles +gut macht, in seinem Lebenslose erblickt?«</p> + +<p>»O!« stöhnte die Schwester. »Ach, Bruder, Bruder, +was wird nun aus unserm Leben werden? — O, wenn +er doch nur früher gekommen wäre! Aber so spät am +Abend — so spät am Abend — was sollen wir anfangen?«</p> + +<p>Herr Philipp Kristeller hatte sich auf seinem Stuhl +niedergelassen und blickte die Schwester groß und verwundert +an.</p> + +<p>»Was — wie meinst du das, Dorothea?«</p> + +<p>»Jetzt frage mich nur nicht weiter,« sagte das alte +Fräulein scharf. »Es wird sich ja alles finden — morgen, +übermorgen! Ja morgen ist ja auch ein Tag! — Aber +man kann es ja nicht lassen. — Bester Bruder, wenn er +nun bliebe? wenn er sich bei uns niederlassen wollte? Man +muß sich ja da alle möglichen Fragen stellen.«</p> + +<p>»Wenn er bliebe? wenn er sich bei uns niederlassen +wollte? Aber das wäre ja herrlich!« rief der Apotheker, +entzückt sich die Hände reibend. »Wie weich und angenehm +wollten wir ihm sein Leben machen!«</p> + +<p>Verwundert sah er hin, als das Fräulein zweifelnd +und melancholisch den Kopf schüttelte.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_76" id="Page_76">[76]</a></span> +»Du glaubst nicht, daß wir das vermöchten, Dorothea?«</p> + +<p>»Nein,« erwiderte das Fräulein kurz und sprach unter +einem schweren Seufzer mehr zu sich als dem Bruder:</p> + +<p>»Und dann der andere Fall, — wenn er morgen wieder +abreisen will, und dazu —«</p> + +<p>Sie brach ab und vollendete den Satz auch nicht, als +der Bruder gespannt eifrig fragte:</p> + +<p>»Und dazu? — was meinst du? was willst du sagen?«</p> + +<p>»Wir müssen es eben abwarten,« sprach Fräulein Dorothea +Kristeller aufstehend. »Etwas anderes läßt sich in +dieser Nacht doch nicht bereden; und jetzt wollen auch wir +zu Bett gehen und versuchen zu schlafen.«</p> + +<p>Nach diesem saßen sie doch noch, aber stumm, eine gute +halbe Stunde beieinander. Als sie zu Bette gegangen +waren, schlief weder Bruder noch Schwester einen ruhigen +Schlaf.</p> + +<p>Den ruhigsten Schlaf von allen, deren Bekanntschaft +wir diesmal machten, schlief der brasilianische Oberst Dom +Agostin Agonista.</p> + +<p>Der lag friedlich auf dem Rücken und lächelte im Schlummer +und sogar beim Schnarchen. Man vernahm ihn so +ziemlich durch das ganze Haus, und wenn er träumte, so +träumte er, ganz gegen alle soldatische Sitte und Gewohnheit, +weit in den jungen Tag hinein.</p> + +<p>Dieser junge Tag kam frisch, reingewaschen, glänzend +und sonnig — ein klarster, kalter Oktobertag. Die Berge +in ihrem braunen Herbstgewande hoben sich scharf von dem +hellblauen Himmelsgewölbe ab; die leeren Felder der Ebene +lagen bis in die weiteste Ferne klar da; und die Dörfer, +die einzelnen Gehöfte, Anbauerhäuser und Hütten erschienen +dem Auge scharf umzogen, als ob sie dem Spiegel einer +<em>Camera obscura</em> entnommen worden und in die Morgenlandschaft +hinein aufgestellt seien.</p> + +<p>In dieser sonnigklaren Herbstmorgenlandschaft erschien +aber die Apotheke »zum wilden Mann« vor allem Übrigen<span class='pagenum'><a name="Page_77" id="Page_77">[77]</a></span> +wie hübsch auf- und abgeputzt. Die Firma über der Thür +glänzte in ihrer Goldschrift weit hin, die Landstraße nach +rechts und links entlang. Und alles, was sonst zu dem +Hause gehörte: Gartengegitter, Stallungen und Mauern, +befand sich im ordentlichsten Zustande. Man sah, daß um +jegliches Zubehör dieses Heimwesens ein sorglicher Geist +walte, der seine Freude und sein Genügen dran habe und +sein Möglichstes von Tag zu Tage thue, alles im Hof, +Haus und Garten im guten Stande zu erhalten. Bis auf +die vom Sturme der Nacht zerzausten Sonnenblumen, die +noch in ihren welken Resten über den Gartenzaun hingen, +war alles rings um die Apotheke »zum wilden Mann« +im vollsten Sinne des schönen Wortes — präsentabel.</p> + +<p>Und Bruder und Schwester warteten mit dem Kaffee +auf den Gast. Eben hatte er herunter sagen lassen: augenblicklich +rasiere er sich und werde in zehn Minuten erscheinen.</p> + +<p>Die Dünste der Nacht waren verscheucht, das Hinterstübchen +gekehrt und mit weißem Sande bestreut. Die +Hauskatze putzte sich unter dem Tische, und der Zeisig zwitscherte +lebendig in seinem Bauer; — es war ein Vergnügen, +Herrn und Fräulein Kristeller an ihrem Kaffeetische +sitzen zu sehen, und — eingeladen zu werden, gleichfalls +daran Platz zu nehmen.</p> + +<p>Der Oberst ließ nur wenig über die angegebenen zehn +Minuten auf sich warten. Schon vernahm man seinen +martialisch schweren Schritt auf der Treppe; — der Apotheker +Philipp Kristeller riß die Thür seines Lieblingsgemaches +auf.</p> + +<p>»Schönen guten Morgen!« rief der Oberst Dom Agostin +Agonista auf der Schwelle, und Wirte und Gast faßten +sich rasch zum erstenmal bei hellem Tageslicht ins Auge: +am schärfsten sah das Fräulein zu; etwas weniger scharf +sah sich der brasilianische Kriegsmann seine Leute an; — +der Apotheker »zum wilden Mann« sah gar nichts, sein<span class='pagenum'><a name="Page_78" id="Page_78">[78]</a></span> +Gast und Freund schwamm ihm vor den Augen — wenigstens +die ersten Minuten durch.</p> + +<p>»Recht alt geworden,« meinte der Oberst bei sich, und +er hatte recht.</p> + +<p>»Unter anderen Verhältnissen würde ich gar nichts +gegen ihn haben,« sagte das Fräulein in der Tiefe der +Seele, »ein anständiger, behäbiger Herr!«</p> + +<p>Der Apotheker Philipp Kristeller sagte gar nichts; er +schüttelte von neuem dem alten wiedergefundenen Freunde +— dem Wohlthäter und Gaste die Hand und drückte ihn +diesmal trotz alles Widerstrebens auf den Ehrenplatz nieder. +Erst als der Oberst saß, sagte Herr Philipp etwas, +und zwar nicht bei sich und in der Tiefe seiner Seele, sondern +er rief es fröhlich und laut:</p> + +<p>»August, ich freue mich unendlich, — du bist merkwürdig +jung geblieben!«</p> + +<p>»Bei allen Göttern zu Wasser und zu Lande, ich hoffe +das,« lachte der Oberst Dom Agostin, und es war eine +Wahrheit: trotz seiner schneeweißen Haare und seiner wohlgezählten +Jahre war er sehr jung geblieben; aber das +jüngste an ihm war doch seine Stimme.</p> + +<p>Diese allein schon konnte als eine Merkwürdigkeit gelten. +Mit einem behaglichen Widerhall erfüllte sie das Haus, +ging einem voll und rund durch die Ohren ins Herz und +paßte sich gemütlich, ja sozusagen, tröstlich-fröhlich allem und +jeglichem an, was die Stunde im Guten und im Bösen +bringen mochte. Wer sie von fern vernahm und vorzüglich +in Verbindung mit dem herzlichen Lachen ihres Besitzers, +der sagte sich unbedingt:</p> + +<p>»Da freut sich ein braver Gesell seines Daseins.«</p> + +<p>Der Oberst schüttelte nun noch einmal dem Fräulein +die Hand und sprach zum Apotheker:</p> + +<p>»Ich habe euch heute morgen das Recht gegeben, mich +für einen Langschläfer zu halten, aber ihr werdet wahrscheinlich +morgen früh schon eines Besseren belehrt werden. Gewöhnlich<span class='pagenum'><a name="Page_79" id="Page_79">[79]</a></span> +pflege ich drei Stunden vor Sonnenaufgang auf +dem Marsche zu sein. Man lernt das, auch ohne Anlagen +dazu zu haben, unterm Äquator; und wenn ihr eines morgens +das Nest ganz leer finden solltet, so braucht ihr euch +auch nicht allzu sehr zu wundern.«</p> + +<p>»O, Freund,« rief der Apotheker, »wir werden dich zu +halten wissen! wir werden dich sicherlich fürs erste nicht +loslassen! Du bist unser! Du darfst nicht gehen, wie du +gekommen bist — du würdest für lange Zeit alle unsere +Freude, unser Behagen mit dir wegführen!«</p> + +<p>»Hm,« sagte der Oberst, und dann frühstückten sie gemächlich +und der alte Soldat mit besonders ausgezeichnetem +Appetit. Er zeigte auch beneidenswert wohl konservierte +Zähne und wußte sie trefflich zu gebrauchen.</p> + +<p>Nach vollendetem Frühstück lehnte er sich behaglich seufzend +zurück und setzte seine Pfeife in Brand. Dorette ging +ihren Hausgeschäften nach, und die beiden Herren waren +allein. Sie plauderten jetzt — sie konnten jetzt plaudern +— der Ernst in ihren gegenseitigen Verknüpfungen war +wenigstens für den Moment überwunden; sie hatten die +nötige Ruhe zum harmlosen Schwatzen gefunden, und sie +schwatzten miteinander — zwei gemütliche ältliche Herren, +deren einer etwas mehr von der Welt gesehen und sich bedeutend +besser erhalten hatte, als es dem anderen vergönnt +gewesen war.</p> + +<p>Der Brasilianer freute sich über die deutschen Stubenfliegen, +welche ihm um die Nase summten; es war ihm +auch durchaus nicht zu verdenken; aber die Thatsache verdient, +in einem eigenen Kapitel behandelt zu werden.</p> + + + +<h2><a name="Zwolftes_Kapitel" id="Zwolftes_Kapitel"></a>Zwölftes Kapitel.</h2> + + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_80" id="Page_80">[80]</a></span> +»Ihr glücklichen Leute wißt es gar nicht, um wie vieles +unsereiner euch zu beneiden hat,« sprach der Oberst. »Da +sitzt ihr in eurer täglichen Behaglichkeit, und wenn ihr euch +nicht dann und wann wirklich über die Fliege an der Wand +zu ärgern hättet, so ginge es euch eigentlich zu gut. Nun +guck einer, wie niedlich sich das Ding da auf der Zuckerdose +die Nase wischt und die Flügel putzt! Sollte man +es nun für möglich halten, daß der Gutmütigste von euch +hier zu Lande vor Wut außer sich gerät, wenn das ihm +während des Mittagsschlafes über die Stirn spaziert? So +ein Bivouac am Rio Grande ohne Moskitonetz, das würde +etwas für euch sein, um euch Geduld in Anfechtungen zu +lehren.«</p> + +<p>Der Apotheker lächelte und sagte:</p> + +<p>»Unsere Anfechtungen haben wir auch wohl ohne das, +lieber August.«</p> + +<p>»Lieber Agostin! wenn ich dich bitten darf,« rief der +Gast. »Du hast keine Ahnung davon, wie verhaßt mir +dieser frühere August ist. Wenn jemand seinen alten Adam +so vollständig wie ich im Graben ablegt, dann hält er auch +etwas auf seinen neuen Rock. Mein jetziger paßt mir wie +angegossen, bemerke ich dir abermals; — Dom Agostin +Agonista, Gendarmerie-Oberst in kaiserlich brasilianischen +Diensten — alles in Ordnung, Patent wie Paß —«</p> + +<p>»Ereifere dich doch nicht, Lieber,« sagte der alte Philipp +begütigend.</p> + +<p>»Ich ereifere mich nicht, ich ärgere mich nur!« rief der +Oberst.</p> + +<p>»Und zwar wie ein echter Deutscher über die Fliege an +der Wand, bester Augustin,« meinte der Apotheker »zum +wilden Mann«; und dann gingen sie zu etwas anderem +über, das heißt, der Oberst fing an, sich sehr genau nach<span class='pagenum'><a name="Page_81" id="Page_81">[81]</a></span> +den Umständen und Lebensläufen der Herren, deren Bekanntschaft +er am gestrigen Abend gemacht hatte, zu erkundigen. +Dann erzählte er seinerseits genauer, auf welche +Weise er mit dem Doktor Hanff auf dem Wege zusammengeraten +sei, und dadurch kam er darauf, wie ihn doch nicht +allein der Zufall in diese Gegend geführt habe, sondern +wie er in der That mit der Absicht gekommen sei, sich nach +dem alten botanischen Wald- und Jugendgenossen, nach dem +treuen Freunde vom Blutstuhl umzuschauen.</p> + +<p>»Ich hatte keine Ahnung, wo du geblieben warst, und +ob du überhaupt noch am Leben seist, Filippo!« rief der +Brasilianer. »Aber ich hatte mir vorgenommen, dich tot +oder lebendig zu finden, und es ist mir gelungen. Eine +Maronjagd war es durchaus nicht, Alter. Ich habe es +wohl gelernt, Spuren von Wild und Mensch im Urwalde, +wie zwischen den Ackerfeldern und in dem verworrensten +Straßennetz über und unter der Erde zum Zwecke zu verfolgen. +Dich, oder deinen Namen, oder vielmehr einen +Schnaps oder Liqueur deines Namens spürte ich in den +Zeitungen aus; — dem ›Kristeller‹ ging ich nach, und da +bin ich denn, und du wirst es mir gewiß nicht verdenken, +wenn ich im Laufe des Morgens das Getränk an der Quelle +zu erproben wünsche. Es war keineswegs notwendig, daß +euer Doktor mich auf den ›Kristeller‹ aufmerksam machte.«</p> + +<p>Der alte Philipp hatte sich während dieser Auseinandersetzung +fortwährend vergnüglichst die Hände gerieben, jetzt +sprang er auf, klopfte den Freund auf die Schulter und rief:</p> + +<p>»Also mein ›Kristeller‹ hat dich auf meine Spur gebracht! +O, lieber August—in, ich glaube da wirklich eine +wohlthätige Erfindung gemacht zu haben; ich werde sogleich —«</p> + +<p>»Nachher,« sprach der Oberst Agonista. »Sieh, wie +herrlich die Sonne scheint, wie blau der Himmel ist! Philipp, +jetzt zeigst du mir vor allen Dingen dein Heimwesen +im einzelnen: Herd und Hof — ach, wie schade, daß du<span class='pagenum'><a name="Page_82" id="Page_82">[82]</a></span> +mir nicht auch Weib und Kinder und Enkel zeigen kannst! +— und Garten, die Offizin, das Laboratorium, die Materialkammer, +Küche und Keller, Stall und Viehstand — +alles interessiert mich!«</p> + +<p>Da der Hausherr jetzt wieder neben seinem Gaste saß, +so klopfte er ihn nun auf das Knie:</p> + +<p>»O Augustin, wie freundlich ist das von dir! Welch' +eine Freude machst du mir da. Sollen wir gleich gehen?«</p> + +<p>»Gewiß,« sprach der Oberst Dom Agostin Agonista, +sprang auf, drückte den Tabak in der Pfeife fest und nahm +den Arm des Freundes.</p> + +<p>Beide Herren traten ihre Gänge an, durch Haus und +Hof, durch Garten und Ställe, und es war zugleich eine +Merkwürdigkeit und ein Vergnügen, wie verständig und +sachkundig der Kriegsmann über alles zu reden wußte, und +— wie genau er sich jegliches Ding ansah.</p> + +<p>Der entzückte Hausherr sprach ihm mehrfach seine Verwunderung +darob aus; aber Dom Agostin lachte und +meinte:</p> + +<p>»Treibe du dich einmal wie ich ein Menschenalter da +drüben um unter dem Volk und den Völkerschaften, die +Affen und sonstigen Bestien eingeschlossen. Das heißt natürlich +als ein von Haus und Anlage aus überlegender +und praktischer Mann, und dann sieh zu, ob du nicht +gleichfalls die Ordnungen der alten Heimat dir im Gedächtnis +wachrufen und täglich gern mit neuen Erfahrungen +vermehren wirst. Wenn mich mein Schicksal zu einem +Abenteurer gemacht hat, Philipp, so bin ich doch ein ganz +solider geworden. Daß ich mich demnächst verheiraten werde, +glaube ich euch bereits gestern abend mitgeteilt zu haben.«</p> + +<p>»Wenn es wirklich dein Ernst war, Augustin —«</p> + +<p>»Mein bitterer Ernst. Ihr schient es alle für einen +Scherz zu nehmen; ich habe das wohl gemerkt. Eigentlich +hätte ich das übel aufnehmen sollen und begreife jetzt +auch nicht, weshalb ich nicht sofort um weitere Aufklärung<span class='pagenum'><a name="Page_83" id="Page_83">[83]</a></span> +über euer Lächeln hat; — dieser Doktor — Doktor Hanff +schien mir sogar die Schultern in die Höhe zu ziehen. +Nun, schieben wir das alles auf den trefflichen Punsch deiner +Schwester; — ich aber wiederhole es dir, ich bin bis über +die Ohren verliebt und trage das Bild meiner Geliebten +in einem Medaillon unter der Weste auf dem Busen. Du +sollst das Porträt sehen, und deine Schwester soll's nachher +auch sehen, und dann will ich eure Meinung ruhig anhören. +Es ist ein Prachtweib und nicht ohne Vermögen; +Senhora Julia Fuentalacunas, — nicht wahr, ein recht +wohlklingender Name? Sie kam jung als Julchen Brandes +von Stettin nach Rio und heiratete den Senhor Fuentalacunas +vom Zollamte. Weißt du, lieber Freund, +der Rock des Kaisers ist zwar eine recht kleidsame und +honorable Tracht; aber wenn man so die erste Jugend +hinter sich hat, fängt man an, auf die Ehre zu pfeifen +und das Behagen dem Herrendienste vorzuziehen. Ich werde +eine Hacienda kaufen und hoffe als ein begüterter Familienvater +meine Tage in Ruhe im Kreise der Meinigen zu +beschließen. Ihr — du und Fräulein Dorette — gehört +natürlich zu der Familie, und wir werden ein vortreffliches +Leben miteinander führen.«</p> + +<p>»Wie?« — — fragte der Apotheker »zum wilden Mann«, +Herr Philipp Kristeller, und sah seinen Gast mit den größesten +Augen an.</p> + +<p>»Wie ich es sage,« sprach der kaiserlich brasilianische +Gendarmerie-Oberst, den erstaunten Blick seines alten +Freundes nicht im mindesten beachtend, sondern, mitten im +Hofraume stehend, rings umher an den umgebenden Gebäuden +emporschauend. Es schien ihm wiederum in der +That bitterer Ernst um das zu sein, was er sagte.</p> + +<p>»Ich hoffe, deine Schwester ohne Mühe zu überreden,« +fügte er wie beiläufig an.</p> + +<p>Der Apotheker lachte, der Oberst aber lachte ganz und +gar nicht mit, sondern umging die zwei Milchkühe im<span class='pagenum'><a name="Page_84" id="Page_84">[84]</a></span> +Stalle mit kritischem Blicke, klopfte sie auf die Weichen +und bemerkte:</p> + +<p>»Vor einigen Jahren war ich in Fray Bentos und sah +mir das dortige Fleischextrakt-Institut an. Großartig! — +Sie treiben euch vor den Augen einen Ochsen in die Retorte +und liefern ihn euch nach zehn Minuten in eine Büchse +konzentriert, die ihr in die Hosentasche steckt — wäre das +Weltmeer nicht da, dem ihr euer Erstaunen zurufen könnt, +ihr wüßtet nirgends damit hin, Philipp. Und vor vierzehn +Tagen war ich bei Liebig in München — annähernd +derselbe Geruch und Duft wie bei dir, nur noch ein bißchen +metallischer; — Kristeller, da können wir einander +gleichfalls gebrauchen — ich liefere dir das Vieh, und du +lieferst mir den Extrakt; — Philipp, ich gebe dir mein +Ehrenwort darauf, in drei Jahren machen wir den Herren +zu Fray Bentos eine Konkurrenz, die sie zu Thränen rühren +soll.«</p> + +<p>»O Augustin, welch einen prächtigen Humor hast du +aus deinem neuen Vaterlande mit herübergebracht!« rief +der Apotheker; »aber —«</p> + +<p>»Humor?« fragte der Oberst sehr ernsthaft und setzte +fast schreiend hinzu: »Zahlen! Zahlen! Die eingehendsten, +unumstößlichsten Berechnungen: Hier! — da!«</p> + +<p>Er hatte bereits seine Brieftasche hervorgezogen und +las im Fluge dem Freunde einige in der That sehr eingehend +auf die Fleischextrakt-Fabrikation Bezug habende +Zahlenreihen her. Herr Philipp Kristeller rieb sich in immer +größerer Erstarrung die Stirn:</p> + +<p>»Die Schwester — die Schwester sollte das hören,« +murmelte er, und jetzt lächelte auch der Gendarmerie-Oberst +endlich wieder einmal und meinte:</p> + +<p>»Ich werde natürlich schon beim Mittagsessen deine gute +Schwester mit unseren Plänen bekannt machen und sie für +dieselben zu gewinnen suchen. Ich bin überzeugt, sie wird<span class='pagenum'><a name="Page_85" id="Page_85">[85]</a></span> +sich nicht so steif-verwundert wie du hinstellen und nur +meinen Humor loben.«</p> + +<p>»O du großer Gott!« seufzte Herr Philipp.</p> + +<p>Die Ziege, welche neben den zwei Kühen im Stall +unter der besonderen Obhut Fräulein Dorette Kristellers +ein wohlbehagliches Dasein lebte, überging der Oberst ohne +weitere Bemerkung; dagegen sprach er im Hühnerhofe kopfschüttelnd:</p> + +<p>»Dieses Vieh hier erinnert mich stets merkwürdig lebhaft +an meine selige Mutter.«</p> + +<p>Er hatte die Brieftafel in der Hand behalten und machte +von Zeit zu Zeit einige Notizen. Fast zwei Stunden brachten +die beiden Herren auf ihrer Inspektionsreise zu, und +als sie ins Haus zurückkehrten, fanden sie den Landphysikus +in der Offizin auf sie wartend und ein Gläschen vom berühmten +Kristeller'schen Magenliqueur vor ihm auf dem Tische.</p> + +<p>Mit gewohnter Jovialität begrüßte der Doktor die eintretenden +beiden Herren. Man schüttelte sich bieder die +Hände im Kreise und erkundigte sich gegenseitig auf das +Herzlichste nach der Nachtruhe und dem sonstigen Befinden.</p> + +<p>»Was für einen Wochentag schreiben wir denn heute +eigentlich?« fragte der Oberst, seine Brieftasche immer noch +in der Hand tragend.</p> + +<p>»Das wird Ihnen der Barbier, welcher da eben hinrennt, +am besten sagen können,« lachte der Doktor Hanff, +»der Pflug geht den Bauern über die Wochenstoppeln; es +ist Sonnabend —«</p> + +<p>»Und morgen besuche ich zum erstenmale seit einem +Menschenalter den deutschen Gottesdienst wieder!« rief der +Oberst Dom Agostin Agonista entzückt. »Übermorgen reise +ich ab.«</p> + +<p>»August? — Augustin?« rief erschrocken Herr Philipp +Kristeller.</p> + +<p>»Herr Oberst?« sprach erstaunt Fräulein Dorette Kristeller.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_86" id="Page_86">[86]</a></span> +Aber der Landphysikus, sein Glas energisch zurückschiebend, +rief:</p> + +<p>»Unter allen Umständen unmöglich, Colonel; der Förster +Ulebeule begegnete mir, er ist mit einer Einladung +zum Mittagsessen auf den Montag unterwegs; für den +Dienstag erbitte ich mir die Ehre; am Mittwoch kommt +die Reihe an den Pastor; am Donnerstag — doch da +wollen wir den übrigen Herren nicht vorgreifen; jedenfalls +lassen wir Sie unter keinen Umständen so rasch fort, Oberst. +Wer einen seltenen Vogel wie Sie in den Händen hat, +der hält ihn, so lange es möglich, fest. Geben Sie mir +noch einen ›Kristeller‹, lieber Kristeller, und nehmen Sie +auch einen, liebster Oberst; Sie scheinen noch gar keine +rechte Ahnung davon zu haben, welche guten und angenehmen +Dinge die hiesige Planetenstelle produziert.«</p> + + + +<h2><a name="Dreizehntes_Kapitel" id="Dreizehntes_Kapitel"></a>Dreizehntes Kapitel.</h2> + + +<p>Der Förster, welcher in diesem Augenblick in die Thür +trat, vernahm, was besprochen wurde, und redete sofort +mit den Übrigen heftig und dringend auf den alten, +tapferen, südamerikanischen Krieger ein. Dieser aber wehrte +sich stumm nur durch Gesten, zu gleicher Zeit das ihm +kredenzte Spitzglas mit dem Kristeller'schen Magenbitter +gegen das Licht haltend und durchäugelnd.</p> + +<p>Jetzt setzte er den Becher an die Lippen — schlürfte — hielt +ein — probierte noch einmal mit tieferer Andacht — goß +den Rest mit einer gewissen wilden Inbrunst die +Kehle hinunter — reichte sofort das Glas zu neuer Füllung +aus der dickbäuchigen grünen Flasche hin und rief:</p> + +<p>»Bei meiner Seele, das ist ja wirklich endlich — endlich +einmal ein <span class="gesperrt">Getränk</span>!«</p> + +<p>»Nicht wahr?« fragten der Förster und der Doktor<span class='pagenum'><a name="Page_87" id="Page_87">[87]</a></span> +ernsthaft, während der Apotheker »zum wilden Mann« verschämt-glücklich +der Schwester über die Schulter lächelte.</p> + +<p>»Bei den Göttern, das ist ein Getränk, Philipp! Und +du bist wahrhaftig davon der Erfinder? Und du hast das +Rezept dazu unter Schloß und Riegel? — Und du sitzest +hier noch immer in diesem verlorenen Winkel und drehst +dem Doktor da seine Pillen und rührst ihm seine Mixturen +zusammen? — Fräulein Kristeller, ich erbitte mir sogleich +nach Tisch ein Privatgespräch! Meine Herren, dies ändert +die Sachlage vielleicht; lieber Forstmeister, im Laufe des +Nachmittags werde ich mir erlauben, Ihnen Nachricht zu +geben, ob ich Ihre Einladung annehmen kann oder nicht.«</p> + +<p>»Bravo!« riefen der Landphysikus und der Förster; der +Apotheker sagte:</p> + +<p>»Du bleibst also ohne Bedingung, Lieber; und es war +auch durchaus nicht nothwendig, uns einen solchen Schrecken +in die Glieder zu jagen. Es war nicht freundschaftlich und +brüderlich, Augustin.«</p> + +<p>»Ich bitte noch um einen ›Kristeller‹,« erwiderte der +Oberst. »Philipp, auf dein Wohl! Ich versichere dich, +ich habe dich lieb gehabt; aber jetzt tritt der Respekt zur +Liebe; — meine Herren, Sie haben diese dreißig Jahre +durch einen großen Mann in Ihrer Mitte gehabt, ohne es +zu wissen. Philipp, dein Schnaps ist wunderbar, was aber +meine Abreise betrifft, so ist Unsereiner stets mit Gewehr +über auf dem Marsche, und man muß eben ein Weib +nehmen und ein bürgerlich Geschäft treiben, um das Stillsitzen +zu erlernen. Bei den hohen Göttern, dieses hier ist +vielleicht noch rentabler als Fray Bentos! Kristeller, wir +werden drüben den feurigen siebenten Himmel durch einen +Destillierkolben auf die Erde herunterholen. Fräulein +Dorette, wir werden die Sonne und den Blitz auf Flaschen +ziehen und unsere Preise darnach stellen. Kristeller und +Agonista — Sao Paradiso, — Provinz Minas Geraes, +Kaiserreich Brasilien! Mit diesem Getränk unter dem Arm<span class='pagenum'><a name="Page_88" id="Page_88">[88]</a></span> +kommen wir durch bei allen Nationen rund um den Erdball. +Wir kommen durch, Senhora, und wie gesagt, nach +Tisch erbitte ich mir ein behagliches Plauderviertelstündchen +im Hinterstübchen, Senhora Dorothea.«</p> + +<p>Sie lachten alle, nur das Fräulein nicht. Was das +Lachen des erfindungsreichen Hausherrn anbetraf, so machte +das einen unbedingt ratlosen und hilflosen Eindruck. Ein +Mensch aber, der ein Leben hinter sich hatte, wie der Oberst +Agonista, durfte in der That die Erde mit anderen Augen +sehen und mit anderen Händen greifen als die Hausgenossenschaft +und die Hausfreunde der Apotheke »zum wilden +Mann«, und konnte auch, ohne dafür zur Rechenschaft +gezogen zu werden, von den anderen ganz naiv verlangen, +daß man sich auf seinen Standpunkt stelle. Der Oberst +Dom Agostin Agonista konnte wirklich seinen festen unerschütterlichen +Entschluß darlegen, noch einmal, und zwar +nach einem Menschenalter, das Glück und Schicksal seines +Freundes Philipp Kristeller auf die andere Seite zu drehen, +und zwar ohne auf irgend welche Einwürfe und Gegenvorstellungen +zu hören.</p> + +<p>Da sich jetzt die Hausflur mit allerlei Kunden füllte, +so begleitete der tapfere alte Soldat allein den Förster und +den Doktor auf ihrem Wege ins Dorf zurück. Er ging +zwischen ihnen, jeden unterm Arme haltend, und wer den +Dreien begegnete, stehen blieb und ihnen nachsah, der +mußte es zugeben, daß jeder von den Dreien in seiner +Art »gut« war. Dazu aber hielt sich das Gespräch der +Herren am alten Philipp und seinem »Kristeller«; und +selbst auf diesem kurzen Wege erhielt der brasilianische +Gendarmen-Oberst noch einige recht nützliche Notizen über +die Apotheke »zum wilden Mann« und kam, heiter pfeifend +und die reine, frische Herbstluft wohlig einschlürfend zurück +— gerade recht zum Mittagsessen.</p> + +<p>Man speiste; man hielt Siesta, — der Oberst die seinige +diesmal in seinem Ehrensessel im bilderbunten Hinterstübchen.</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_89" id="Page_89">[89]</a></span> +Punkt drei Uhr trat er erfrischt wiederum in die Offizin, +um noch einen »Kristeller« zu nehmen. Dann wußte er +den Weg in die Küche schon ganz genau und brauchte +keinen Führer auf demselben.</p> + +<p>»Fräulein Dorette,« sagte er, »jetzt wäre der günstige +Augenblick vorhanden. Soeben habe ich den guten Philipp +auf seine Materialkammer geleitet, und wir beide, liebes +Fräulein, haben hier unten das Reich allein. Kinder, Kinder, +ich freue mich kindlich, so familienfreundlich mit euch +zusammen zu sein! Und wir bleiben eine Familie — nicht +wahr, wir bleiben <span class="gesperrt">eine</span> Familie? — Es ist zu prächtig! +Da draußen der deutsche Herbsthimmel, hier innen die +deutsche Ofenwärme und — das liebe Brasilien wie das +Land der Verheißung in der Ferne! Senhora, ich erlaube +mir, Ihnen meinen Arm anzubieten.«</p> + +<p>Er führte richtig die alte, ängstlich über die Schulter +zurückblickende Dame in ihre eigene Stube, des Hauses +Ehrengemach, und verblieb mit ihr eine gute halbe Stunde +drinnen und zwar in dringlichsten Verhandlungen; während +der Bruder, um seiner Erregungen wenigstens etwas Meister +zu bleiben, in seiner Materialkammer sämtliche Kräutersäcke +auf- und abtürmte und sämtliche Schubladen aufzog +und zuschob.</p> + +<p>Eine halbe Stunde kann selbst dem phlegmatischsten +Menschen unter Umständen sehr lang erscheinen; das ist +eine bekannte Wahrheit, muß hier jedoch dessenungeachtet +wiederholt werden. Dem Apotheker »zum wilden Mann« +erschien der kurze Zeitraum <span class="gesperrt">sehr</span> lang, Fräulein Dorette +hingegen ging er ungemein rasch vorüber.</p> + +<p>Schon öffnete der Oberst ihr höflichst die Thür ihrer +Putzstube und — ließ sie heraus. Er blieb drin! — Sie +hielt sich am Thürpfosten wie von einem Schwindel befallen; — sie +hatte dem braven Kriegsmann einen Knix +machen wollen, allein es war ihr nicht möglich gewesen. +Während sie aber draußen an der Wand lehnte und wie<span class='pagenum'><a name="Page_90" id="Page_90">[90]</a></span> +aus plötzlich erblindeten Augen um sich zu sehen strebte, +war der Oberst drinnen leise pfeifend zum Fenster gegangen +und hatte es geöffnet und sich drein gelegt.</p> + +<p>Da lag er, schwer auf den Ellenbogen, stieß einen +schweren Seufzer aus und blickte die Landstraße entlang, +zur Rechten und zur Linken hin.</p> + +<p>Das Fräulein draußen legte jetzt beide Hände an die +Schläfen und stieß gleichfalls einen Seufzer aus und +stöhnte dazu:</p> + +<p>»Großer Gott, ganz wie ich es mir gedacht hatte! o +du lieber Gott, mein armer, armer Bruder!«</p> + +<p>Von seinem Fenster aus rief der Oberst einen vorbeilaufenden +Dorfknaben an:</p> + +<p>»Heda, miin Jung', kennst du den Herrn Förster Ulebeule +und weißt du, wo er wohnt?«</p> + +<p>»Na?!« fragte der Bengel an der Hauswand empor, +entrüstet ob der Naivetät der Frage.</p> + +<p>»Gut, mein Sohn. Ich warte hier mit fünf Groschen +in der Hand auf dich. Lauf' einmal zum Herrn Förster +und bestell' einen schönen Gruß von dem fremden Herrn +in der Apotheke, und es würde dem Herrn Apotheker und +dem fremden Herrn ein Vergnügen sein, am Montag bei +dem Herrn Förster zu essen.«</p> + +<p>Der Knabe vom Gebirge rannte und sah im Rennen +verschiedene Male zurück, ob der weißköpfige Herr mit dem +braunen Gesichte im Fenster auch wirklich Wort halte und +mit dem gebotenen Honorar präsent bleibe. Drunten im +Hinterstübchen, im Ehrensessel des brasilianischen Obersten, +saß Fräulein Dorette Kristeller, stützte die Ellenbogen auf +den Tisch und das Gesicht auf die Hände und ächzte leise:</p> + +<p>»Mein Bruder, mein armer Bruder!«</p> + + + +<h2><a name="Vierzehntes_Kapitel" id="Vierzehntes_Kapitel"></a>Vierzehntes Kapitel.</h2> + + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_91" id="Page_91">[91]</a></span> +Am anderen Tage war Sonntag, ein deutscher Dorf-Sonntag. +Die Glocke läutete zur Kirche, und der Pastor +Schönlank hatte seine Predigt fertig und bereit. Mit dem +Gesangbuch seines Freundes Philipp unter dem Arme und +würdig die Schwester des Freundes führend ging auch der +brasilianische Oberst Dom Agostin Agostina in die Kirche +und zwar in Uniform. Er hatte seinen Mantelsack und +kleinen Reisekoffer vollständig ausgepackt und sein Äußeres +festtäglich geschmückt. Er trug seine sämtlichen Orden und +sah nicht nur martialisch, sondern wirklich prächtig und +vornehm aus und störte die Andacht des Dorfes durch seine +Erscheinung vollständig. Er sang auch mit. Der Pastor +in der Sakristei vernahm ihn über die Orgel, den Kantor +und die Gemeinde weg; — ein so sonorer Baß hatte lange +nicht die Wölbung des kleinen Gotteshauses erschüttert. +Nach der Kirche hatte der fremdländische Krieger, wiederum +Fräulein Dorette Kristeller am Arme führend, so zu sagen +die Parade der ganzen Gemeinde abzunehmen. Sie bildete +Spalier auf seinem Wege, und gutmütig lächelnd und fort +und fort an die Mütze fassend, schritt der Oberst zwischen +der Hecke anstaunender Bauerngesichter durch.</p> + +<p>Das Dorf sprach heute nur von ihm; Fräulein Dorothea +kam aber sehr unwohl aus der Kirche nach Hause +und fühlte sich gezwungen, sich zu Bette zu legen und den +Rest des Tages darin zu bleiben.</p> + +<p>Am folgenden Tage ging der Oberst mit seinem Freunde +Philipp zum Förster Ulebeule auf einen Wildschweinkopf. +Fräulein Dorette setzte sich vor die Rechenbücher des Hauses. +Die Herren in der Försterei waren sehr heiter bei +Tische; der Oberst erzählte wieder von der Herrlichkeit seiner +neuen Heimat und brachte die Leute aus dem stillen Erdenwinkel +fast außer sich durch seine Beredsamkeit und die<span class='pagenum'><a name="Page_92" id="Page_92">[92]</a></span> +Farbenpracht seiner Schilderungen. Diesmal forderte er +den Doktor auf, mit hinüberzugehen und ein Millionär +und kaiserlicher geheimer Hofmedicus zu werden, und schon +bei der vierten Flasche hatte der Landphysikus es dem +Oberst fest versprochen und durch Handschlag sein Wort +besiegelt.</p> + +<p>»Mit Ihnen, lieber Pastor, wissen wir weniger da +drüben anzufangen,« rief Dom Agostin, »aber wir holen +Sie vielleicht doch noch nach, wenn wir uns unsere eigenen +Hauskapellen errichtet haben.«</p> + +<p>Da hatte der geistliche Herr gelächelt, aber etwas kläglich +gesagt:</p> + +<p>»Wir sind doch wohl zu einer solchen Emigration ein +wenig zu alt, Herr Oberst. Auch würden Sie vorher vor +allen Dingen mit meiner guten Frau reden müssen, theurer +Herr.«</p> + +<p>»Weshalb sollte ich das nicht, wenn sonst die Bedingungen +vorhanden sind?« fragte der Brasilianer.</p> + +<p>Sie waren ungemein vergnügt bei dem Förster Ulebeule, +und erst bei weit vorgeschrittener Dämmerung kamen +Philipp und August Arm in Arm und Schulter an Schulter, +angeregt und höchst lebhaft heim zur Apotheke.</p> + +<p>»Von dem ›Kristeller‹ erbitte ich mir ein Flacon auf +den Nachttisch, lieber alter Junge,« sprach der Oberst. »Er +entzückt mich immer von neuem, auch nach dem Diner. +Pereat Fray Bentos, — dies hier nenne ich in Wahrheit +eine konzentrierte Bouillon! Der Teufel hole alles Rindvieh +in den Pampas; — da wir diesen Feuertrank hier +am Orte schon so kochen, wie wird er erst da drüben im +Feuerlande ausfallen, Fi—lip—po!«</p> + +<p>»De—li—kat!« erwiderte Herr Philipp Kristeller, worauf +die beiden Freunde einander dreimal recht herzhaft abküßten.</p> + +<p>Sie saßen übrigens an diesem Abend allein im Hinterstübchen, +der Oberst und der Apotheker »zum wilden Mann«.<span class='pagenum'><a name="Page_93" id="Page_93">[93]</a></span> +Fräulein Dorette ließ sich durch das Hausmädchen entschuldigen +und heruntersagen: sie habe arges Kopfweh.</p> + +<p>Die beiden Herren ließen sofort hinaufsagen: das thue +ihnen sehr leid und sie wünschten von Herzen eine baldige +Besserung; — nachher saßen sie noch bis gegen Mitternacht +in der Bildergalerie zusammen und redeten, eingehüllt in +Tabaksdampf, von ihrer Jugendzeit.</p> + +<p>Als die Uhr Zwölf schlug, stand der Oberst auf und +sagte herzlich:</p> + +<p>»Du weißt doch nicht ganz, wie gut es mir hier zu +Mute ist, Philipp. Wir wollen uns aber auch von nun +an nicht wieder von einander trennen, Alter! Wir wollen +von jetzt an <span class="gesperrt">ein</span> Schicksal und <span class="gesperrt">ein</span> Glück haben, nicht +wahr? Nicht wahr, nicht wahr, es bleibt dabei, Philipp?«</p> + +<p>»Es bleibt dabei,« stammelte Herr Philipp Kristeller, +und dann ging der Oberst zu Bett. Er kannte jetzt den +Weg zu seinem Schlafgemache bereits und brauchte kein +Geleit mehr. Das »Flacon« mit dem »Kristeller« nahm +er unter dem Arme mit wie am Sonntag das Gesangbuch +seines Freundes. Aber vorher hatte er noch den Freund +in den Ehrensessel niedergedrückt; und in dem Ehrensessel +saß Herr Philipp noch eine Weile in der stillen Nacht und +suchte zu überlegen, ehe auch er zur Ruhe ging.</p> + +<p>Die Nacht war still, das Haus war still. Eben schlug +es ein Uhr, als oben eine Thür knarrte und ein langsamer +leiser Schritt die Treppe herabkam. Aus dem Überlegenwollen +des Hausherrn im Ehrenstuhl des Obersten +war ein ziemlich fester Schlummer geworden. Aus diesem +Schlummer wiederum auffahrend, horchte Herr Philipp: +da war der gespenstische Schritt an der Pforte des Hinterstübchens:</p> + +<p>»Wer ist da?« rief der Apotheker auftaumelnd und mit +beiden Händen schwerfällig sich auf die Lehnen des Armsessels +stützend.</p> + +<p>»Ich bin es, Bruder,« sagte Fräulein Dorette Kristeller,<span class='pagenum'><a name="Page_94" id="Page_94">[94]</a></span> +im langen weißen Nachtrock wie eine moralische Lady Macbeth +hereinschwankend. »Ich bin es, Philipp; ich habe keine +Ruhe mehr im Bette, keine Ruhe im ganzen Hause. Ich +glaubte, hier noch einen warmen Ofen zu finden; aber nun +ist es mir lieb, daß auch du noch wach bist, lieber Bruder; +— o Bruder, Bruder Philipp, es ist wirklich und +wahrhaftig sein Ernst!«</p> + +<p>»Sein Ernst? Wessen Ernst?«</p> + +<p>»Sein bitterer Ernst! O, ich habe es mir gleich so +gedacht, als er dich zuerst so gemütlich auf die Schulter +klopfte und ihr alle über seine wilden Pläne lachtet. Er +meint es ja vielleicht auch gut mit uns; aber elend macht +er uns doch. Philipp, er braucht Geld! er braucht sein +Geld, und er ist gekommen, es zu holen!«</p> + +<p>Der Apotheker »zum wilden Mann« sah das trostlose +alte Jüngferchen plötzlich mit den glänzendsten, verständnisinnigsten +Augen an.</p> + +<p>»Er braucht sein Geld, und er ist gekommen, es zu +holen? Aber Dorette, das wäre ja wundervoll!«</p> + +<p>»Wundervoll?! —«</p> + +<p>Herr Philipp Kristeller knöpfte mit zitternder Hand, der +kühlen Nacht zum Trotze, vor innerster Aufregung die +Weste auf:</p> + +<p>»Dorette, wenn du Recht hättest! — herrlich, herrlich +wäre es! Aber — wenn das so wäre, so würde er es +mir doch wohl zuerst gesagt haben?!«</p> + +<p>»Hat er das denn nicht? und zwar auf jede nur mögliche +Weise — fein und grob!«</p> + +<p>Der Apotheker antwortete nichts hierauf. Er ging rasch +in dem engen Raume seiner Bildergalerie auf und ab und +rieb sich nach seiner Art die Hände und murmelte vor sich hin:</p> + +<p>»Der Gute — der Wackere — mein Gott, welch eine +glückselige Nacht! — Und ich habe ihn ganz und gar nicht +verstanden! O diese Weiber, diese klugen Weiber! Dorette, +wenn du recht hättest!«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_95" id="Page_95">[95]</a></span> +»Ich habe Recht!« ächzte jetzt das alte Fräulein fast +böse. »So setze dich doch und nimm Vernunft an. Was +soll denn aus uns werden, Bruder? Du bist diese dreißig +Jahre lang deinen Liebhabereien und dem Geschäfte nachgegangen; +aber ich habe die Bücher geführt und weiß, wie +wir stehen. O, es reicht noch; aber es reicht auch nur +gerade hin, — und, Philipp, ich bin fest überzeugt, er holt +nicht nur das Kapital, sondern er kann auch die Zinsen +gebrauchen, die Zinsen seit dreißig Jahren!«</p> + +<p>»Das vergebe ich ihm so leicht nicht, daß er nicht sofort +seinen Wunsch mir klar und deutlich ausgesprochen +hat,« murmelte Herr Philipp, der durchaus nicht imstande +war, sich zu setzen, sondern der fort und fort auf und ab +lief und das Wort der Schwester ganz und gar überhörte. +»O August, August, also endlich ist auch für mich die Stunde +da, dir auf deinem Wege zum Glücke behilflich sein zu +können!«</p> + +<p>Von der ganzen Fülle dieser Vorstellung überwältigt, +stand er jetzt still, und was er seit nicht zu berechnender +Zeit nicht gethan hatte, das that er jetzt: er gab der +Schwester einen Kuß — einen langen, herzlichen Kuß, und +dann — nahm er sein Licht und ging seinerseits in seine +Kammer. Er hatte das Bedürfnis, allein zu sein und sich +in der Stille und Dunkelheit der Nacht den frohen nahen +Morgen und seine erste Begrüßung mit dem Freunde, dem +Obersten Dom Agostin Agonista, auszumalen.</p> + +<p>Fräulein Dorette stand im Scheine ihres Nachtlichtes +mit schlaff niederhängenden Armen und vor dem Leibe gefalteten +Händen, blickte hinter ihm her und stöhnte:</p> + +<p>»Also da sind wir denn! — o diese Mannsleute! Was +soll aus uns werden? lieber Herrgott, was soll aus uns +werden? — Zu den Pottekudern, seinen neuen Landsleuten, +gehe ich für mein Teil nicht mit! Er wäre freilich imstande, +uns in aller Güte und Zureden mit Haus und Hof mit +sich zu schleppen und uns mitten in der Urwildnis hinzusetzen<span class='pagenum'><a name="Page_96" id="Page_96">[96]</a></span> +und eine Schnapsfabrik auf meines armen Bruders +Namen und Liqueur zu gründen. Aber er soll mir kommen, +der Kehlabschneider, der Scharfrichter, der Menschenschinder, +der Henkersknecht. Für alle Freibillets in der +Welt geh' ich mit ihm nicht nach seinem Amerika; am +Spieße brät er uns doch, wenn er uns drüben hat, und +wenn er auch noch so schlau hier am Orte den Gemütlichen, +den Vergnügten und den biederen treuherzigen Krieger +spielt.«</p> + +<p>Der Oberst Dom Agostin Agonista wurde durch das, +was im unteren Teile des Hauses »zum wilden Manne« +vorging, nicht in seinem Schlummer gestört. Er schlief +abermals weit in den hellen Sonnenschein des Dienstags +hinein, und die Flasche mit dem »Kristeller« stand auf +seinem Nachttische, und auch das Spitzglas, das dazu gehörte, +hatte der alte Soldat handgerecht zugerückt. Aber +auf dem Stuhle am Bette saß um halb neun Uhr, seit +einer Viertelstunde zärtlich lauschend, Herr Philipp Kristeller, +das Erwachen des Gastes, Freundes und Wohlthäters +erwartend.</p> + +<p>»Sobald der Gute erwacht, wollen wir überlegen, in +welcher Weise es am angenehmsten und vorteilhaftesten für +ihn einzurichten ist,« hatte der Apotheker, auf den Zehen +in die Kammer schleichend, geflüstert; und er hatte eine +gute Stunde zu warten, ehe der Brasilier die Augen öffnete, +sich entsetzlich reckte, gewaltig gähnte und dann, sich überrascht +aufrichtend, rief:</p> + +<p>»Diablo! bist du denn das, Filippo? Ei, schönsten guten +Morgen! aber dieses ist einmal freundlich von dir!«</p> + +<p>»Guten Morgen, August. Du erlaubst mir wohl, daß +ich dich diesmal wieder August nennen darf; denn ich sitze +hier und warte auf dein Erwachen, um dich recht tüchtig +abzukanzeln.«</p> + +<p>»Abzukanzeln? weshalb? wieso? warum? wofür?«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_97" id="Page_97">[97]</a></span> +»Weil du meiner guten Schwester mehr Zutrauen bewiesen +hast als mir, August.«</p> + +<p>»Ah — — — so!« sprach der brasilianische Gendarmerie-Oberst +ungemein gedehnt und legte sich wieder hin — nämlich +mit dem Hinterkopfe in seine Kopfkissen. Nach +einer Pause erst fügte er etwas gedrückt hinzu:</p> + +<p>»Und nicht wahr, du giebst mir recht? Dein Entschluß +ist gefaßt; — wir gehen zusammen über das Weltmeer, +um goldene Berge für uns und unsere Nachkommen aufzuschütten?!«</p> + +<p>Herr Philipp schüttelte melancholisch den Kopf.</p> + +<p>»Meine Schwester Dorothea und ich doch wohl nicht, +aber — mit dir ist es freilich etwas anderes. Nein, mein +teurer August, du wirst wieder allein gehen müssen.«</p> + +<p>»Aber das macht mir wirklich einen Strich durch alle +meine Berechnungen,« brummte der Kriegsmann verdrießlich.</p> + +<p>»Du nimmst unsere besten Wünsche mit hinüber; wir +werden in Gedanken stets bei dir sein.«</p> + +<p>»Danke!« sagte der Oberst womöglich noch verstimmter.</p> + +<p>»Ich habe den Tisch vor deinem Stuhle bereits zurecht +gerückt, mein guter August. Meine Hausbücher liegen zu +deiner Einsicht bereit; du wirst mit meiner Schwester zufrieden +sein, denn sie hat die Bilanz gezogen. Ich hoffe, +du wirst finden, daß wir — meine Schwester und ich — unser — mein — dein +Vermögen nach bestem Wissen verwaltet +haben.«</p> + +<p>»Ich komme im Augenblick hinunter, lieber Alter!« +rief der Oberst, allen Mißmut sofort abschüttelnd und mit +hellem Lächeln das rechte Bein blitzartig unter dem Deckbette +vorschnellend und mit dem Fuße nach des Apothekers +Reserve-Ehren-Pantoffeln auf dem Boden angelnd. »Im +Moment — in zehn Minuten bin ich drunten bei dir. +Philipp, du bist ein Prachtmensch! und du wirst sehen, daß +ich die Welt kenne und auch für dich das Nutzbringendste +zu ergreifen verstehe.«</p> + +<p><span class='pagenum'><a name="Page_98" id="Page_98">[98]</a></span> +»Wir warten mit dem Kaffee auf dich, lieber August!«</p> + +<p>»Mein schönstes Kompliment im voraus an deine +Schwester! Im Augenblick bin ich bei euch. Nicht wahr, +Philipp, dein Rezept für den ›Kristeller‹ giebst du mir mit +hinüber, — nicht wahr, Alter?«</p> + +<p>Der Erfinder des »Kristeller« versprach's, und nach einer +Viertelstunde saß der Oberst Dom Agostin Agonista richtig +bei dem Geschwisterpaar im Hinterstübchen und zwar, ohne +alles vorherige Sträuben, im Ehrensessel und vor den +Haus- und Rechnungsbüchern der Apotheke »zum wilden +Mann«; — Fräulein Dorette Kristeller hatte ihn dazu von +Zeit zu Zeit zu fragen, ob ihm noch eine Tasse Kaffee gefällig +sei.</p> + + + +<h2><a name="Funfzehntes_Kapitel" id="Funfzehntes_Kapitel"></a>Fünfzehntes Kapitel.</h2> + + +<p>Einen Mann wie den Oberst stelle man einmal unter +den Scheffel, wenn er in einer Gegend gleich der von uns +geschilderten ankommt, d. h. aus den Wolken fällt. Auf +Meilen in der Runde gingen bald die fabelhaftesten Gerüchte +über ihn um. Ein wieder wie vor dreißig Jahren +mit ein wenig Bangen gemischter Respekt begleitete ihn in +jeglichem Blicke, der ihm nachgesendet wurde, klang in jedem +höflichen Wort, das man an ihn richtete; nur that er niemanden +mehr leid dazu. Der bald so bekannte Fremdling +entsprach in jeder Beziehung den Vorstellungen, die +sich die Landschaft von einem »Wundertier« machte, und +die Jovialität in seinem Wesen und Auftreten nahm der +vertraulichen Scheu, die er den Leuten einflößte, nichts +von ihrer Wirksamkeit. Er aber fühlte sich wohl unter dem +Volke der Gegend, genoß die Gemütsbewegungen, die er +unter ihm hervorbrachte und — aß sich harmlos herum.</p> + +<p>Nämlich es hatte sich herausgestellt, daß für die ersten +Wochen an ein Verlassen der Gegend, an eine Abreise<span class='pagenum'><a name="Page_99" id="Page_99">[99]</a></span> +aus der Apotheke »zum wilden Mann« noch nicht zu denken +sei.</p> + +<p>Der Oberst blieb, und sie luden ihn alle zu Tisch. +Nach den Honoratioren des Dorfes kamen die Gutsbesitzer +und reichen Domänenpächter der Umgegend an +die Reihe: der Oberst Dom Agostin Agonista fühlte sich +immer behaglicher in seinem behaglichen Quartier in der +Apotheke »zum wilden Mann«.</p> + +<p>Wenn er aber viel abwesend von der Apotheke war, +so blieb der alte Philipp Kristeller desto sedater in seinen +vier Pfählen, schrieb viel, bekam viele Briefe von Banquiers +und sonstigen Handelsleuten und trieb selber allerlei Handel. +Er fing an, in Ländereien zu spekulieren und zwar +in seinen eigenen.</p> + +<p>Und während der Oberst nicht das Geringste von seiner +stattlichen Rundung einbüßte, wurde Fräulein Dorette Kristeller, +die doch wenig einzubüßen hatte, von Tag zu Tage +magerer, und auch der Apotheker fiel ab, soviel das noch +möglich war. Das Geschwisterpaar wurde immer gelber +und gelber; was den Dom Agostin anbetraf, so fingen die +Leute an, ihm zu sagen:</p> + +<p>»Herr Oberst, die Luft hier scheint Ihnen gottlob recht +gut zu bekommen.«</p> + +<p>Sie bekam ihm wirklich, die Luft der Gegend, und das +Gerücht von dem, was er vor einunddreißig Jahren an +dem Besitzer der Apotheke »zum wilden Mann« gethan +hatte, schwebte auch in der Luft über ihm und um sein +weißes, munteres Haupt und verklärte ihn rosig. Die +Frauen nannten ihn einen prächtigen alten Herrn, und die +Männer nannten ihn einen Prachtkerl und fügten hinzu: +»Unter Umständen fänden wir auch mit Vergnügen einen +ähnlichen Burschen im Busch und Walde und suchten seine +intimste Bekanntschaft zu machen. Selbst auf die Botanik +könnte man in einem solchen Falle sich mit Pläsier legen.«</p> + +<p>Auch der Oberst bekam im Verlaufe der nächsten Woche<span class='pagenum'><a name="Page_100" id="Page_100">[100]</a></span> +Briefe. Es langte ein Packet von Rio Janeiro an, eine +Menge Dokumente enthaltend. Dieses Packet sendete Senhor +Joaquimo Pamparente, sein Rechtsbeistand, und Dom Agonista +fand sich bewogen, den Inhalt eingehend mit seinem +Freunde Philipp Kristeller zu besprechen. Er, der Oberst, +schrieb an Senhora Julia Fuentalacunas einen zärtlichen +Brief, der aber doch zugleich auch ein Geschäftsbrief war; +— leider reichte die Zeit zu einer Antwort der Dame nun +nicht mehr.</p> + +<p>»Thut nichts,« sprach der zärtliche Krieger, »es wird sich +jetzt alles aufs Beste und Angenehmste arrangieren, wenn +ich erst selbst wieder drüben bin.«</p> + +<p>Am meisten verkehrte Dom Agostin in diesen ernsten +Geschäftstagen mit dem heitern Doktor und Landphysikus +Hanff. Beide vergnügte Gesellen hatten Brüderschaft miteinander +getrunken, und der Oberst Agonista fuhr dann +und wann des Spaßes wegen mit auf die Landpraxis. +Jegliches Wetter war dabei dem tapferen alten Soldaten +recht, und der Doktor, der doch auch das Seinige vertragen +konnte, hatte auch hier seinen Begleiter als ein Mirakel +zu bestaunen.</p> + +<p>»Bei den Göttern beider Halbkugeln, du wenigstens +gehst mit mir hinüber,« rief der Oberst, gegen Ende Novembers +auf einer dieser Fahrten den ersten Schnee des +Jahres vom Fenster eines Dorfwirtshauses weit im offenen +Lande beobachtend. »Ich habe dir bereits hundertmal das +brillanteste Lebensglück garantiert und ich verbürge mich auch +jetzt wieder dafür. Sieh dir dieses Wetter an; — ist das +ein Klima für verständige anständige und zu allem Übrigen +mit Vernunft und Weib und Kind begabte Menschen? +Ist das eine Gegend, um siebzig Jahre drin alt zu werden?«</p> + +<p>»Meine Frau — meine Jungen,« murmelte der Doktor.</p> + +<p>»Werden sich sehr wohl dort acclimatisieren; ich rede +dir ja eben gerade vom Klima! Ein Jahr läßt du sie hier +zurück, um dich drüben behaglich einzurichten. Im nächsten<span class='pagenum'><a name="Page_101" id="Page_101">[101]</a></span> +Herbst führe ich meine Frau nach Paris in die Honigwochen, +und du begleitest mich, d. h. du schlägst deinen +Winkel hierher und holst dein Hauswesen nach. He — +was sagst du? Zum Teufel, sieh auf den Kirchhof dort +im Regen und Schneegestöber und sage mir, ob es ein +Vergnügen und eine Ehre sein wird, dort einst eine Sandsteinplatte +zu haben mit der Inschrift: ›Hier liegt der +Doktor Eisenbart?!‹«</p> + +<p>»Zum Henker, Bruder,« ächzte der Landphysikus, »weißt +du, was ich wollte?«</p> + +<p>»Nun?«</p> + +<p>»Ich wollte, du wärest geblieben, wo du dich so wohl +fühltest. Mein gesunder nächtlicher Schlaf ist hin, seit du +im Lande bist, und wie mir, so geht es der Mehrzahl meiner +Bekannten. Du hast, sozusagen, der ganzen Gegend +die Phantasie verdorben. Ich kenne auf drei Meilen in +der Runde niemanden, der noch ruhig auf seinem Stuhle +sitzen kann. Da ist nicht einer, der nicht hin und her rückt +und überlegt und berechnet, was alles er bis Dato im +Leben versäumt habe.«</p> + +<p>»Das mag für die Übrigen gelten, aber in deinem +Alter hat man noch nicht das Geringste versäumt, — da +brauchst du nur mich anzusehen. Übrigens erlaube mir +doch ein Wort: ich überrede niemanden! Diablo, wie käme +ich dazu, mit diesem meinem weißen Haar noch einmal +von neuem anzufangen, die Dummheiten meiner Jugend +zu wiederholen, um mir eine frische Last Gewissensbisse aufzuladen? +In drei Wochen reise ich jetzt bestimmt; — bestimmt, +das sage ich dir! Bis dahin hab' ich mein altes +Vaterland und sein Verhältnis zu mir wieder in Ordnung +gebracht und mache mich auf den Weg und aufs große +Wasser, auch für die alten Freunde in der Apotheke die +Fortuna, die spanische Silberflotte mit zu entern. O, die +sollen bequem hier sitzen bleiben unter ihrem Zeichen ›zum +wilden Mann‹, — ich werde für sie handeln, und die<span class='pagenum'><a name="Page_102" id="Page_102">[102]</a></span> +nächste Post, die ihr von mir erhalten werdet, wird das +Weitere melden.«</p> + +<p>»Er reist in drei Wochen!« seufzte der Doktor, hastig +sein Glas hinuntergießend.</p> + + + +<h2><a name="Sechzehntes_Kapitel" id="Sechzehntes_Kapitel"></a>Sechzehntes Kapitel.</h2> + + +<p>Er hatte, wie man zu sagen pflegt, immer auf dem +Sprunge gestanden, der kaiserlich brasilianische Oberst Dom +Agostin Agonista, aber diesmal reiste er wirklich, und zwar +auf die Stunde zum angegebenen Zeitpunkt, nämlich am +Mittage des 23. Dezembers. Man hatte ihn natürlich +dringend von allen Seiten aufgefordert, wenigstens das +Weihnachtsfest über noch zu bleiben, doch alles Bitten und +Zureden war vergeblich geblieben.«</p> + +<p>»Quält mich nicht länger,« hatte er gesagt, »ich kenne +meine Natur und weiß, was ihr gut ist. Diese liebe Feier +im gemütvollen Vaterlande, dieses holde Fest im sinnigen, +gefühlvollen Deutschland würde mich zu weich stimmen, +und es ist unbedingt notwendig, daß ich mich, einige Zeit +noch, ein wenig härtlich halte. Ich bin das nicht nur mir, +sondern auch meinen guten braven Freunden in der Apotheke +schuldig. Meine Verpflichtungen erfordern es, was +mein Herz auch dagegen zu sagen haben mag.«</p> + +<p>Damit verschwand er, verschwand spurlos, als jedermann +bereit stand, ihm noch einmal die Hand zu drücken +und sich ihm zu empfehlen. Der Abschied war so eigentümlich +wie alles andere, was die Ankunft und den Aufenthalt +des Mannes am Orte begleitet hatte. Sie kamen +alle zu spät dazu: Herr Philipp aus seinem Laboratorium, +Fräulein Dorette aus der Küche, der Doktor Hanff von +seinem nächstliegenden Patienten.</p> + +<p>Der Oberst hatte den Wagen an die Hinterthür bestellt,<span class='pagenum'><a name="Page_103" id="Page_103">[103]</a></span> +war einfach eingestiegen und abgefahren; sein Gepäck hatte +er vorausgeschickt, und die Gegend — sah ihm nach.</p> + +<p>Die aus der Apotheke sagten nichts, sondern seufzten, +der Doktor schlug sich vor die Stirn und rief ein wenig +ärgerlich und enttäuscht:</p> + +<p>»Ich hätte ihm doch gern noch ein Wort über meine +Projekte gesagt! Man bringt einem doch nicht so um nichts +und gar nichts die Gedanken in Unordnung und das Blut +in Wallung; — Donnerwetter, dieses Brasilien!«</p> + +<p>Die übrigen Freunde und Bekannten kamen nach und +nach verwundert und erstaunt an das Fenster der Offizin.</p> + +<p>»Er wollte vielleicht alles unnötige Aufsehen vermeiden,« +sagte Fräulein Dorette Kristeller kurz und tonlos. +Ihr Bruder war selbst für den Pastor und für den Förster +nicht zu sprechen. Der Apotheker »zum wilden Mann« +fühlte sich durch die Trennung von seinem Jugendfreunde +sehr angegriffen und wünschte einige Tage ganz sich selber +überlassen zu bleiben. Die guten Bekannten begriffen das +wohl und ließen das Geschwisterpaar in der That über das +Fest allein.</p> + +<p>Über das Fest allein!</p> + +<hr style='width: 45%;' /> + +<p>Da sitzen wir wieder unter den Bildern des Hinterstübchens +der Apotheke »zum wilden Mann«, und es ist +der Abend des vierundzwanzigsten Dezembers. Ein trübes +Talglicht in einem schlechten Messingleuchter, den Fräulein +Dorette mit sich ins Zimmer brachte, brennt auf dem Tische. +Der alte Herr saß im Dunkel, bis die alte Schwester dieses +Licht brachte; — im trüben Scheine desselben sitzt er in dem +Ehrensessel, und die alte Schwester hat sich ihm gegenüber +niedergelassen. Sie sehen beide abgemattet-sorgenvoll aus; +sie feiern beide eine betrübte Weihnacht.</p> + +<p>Nach einem langen Schweigen sagte Fräulein Dorette:</p> + +<p>»Plagmann aus Borgfelde will die Kühe gleich nach +dem Feste abholen.«</p> + +<p>Sie sagte das mit einem tiefen Seufzer; denn Bleß<span class='pagenum'><a name="Page_104" id="Page_104">[104]</a></span> +und Muhtz waren ihre Herzensfreude und ihr Stolz, und +sie mußte sich von beiden trennen.</p> + +<p>Ihr Bruder nickte bloß und sprach nach einer Pause +seinerseits:</p> + +<p>»Ich meine, so ungefähr am fünfzehnten Januar würde +die beste Zeit für die Auktion sein.«</p> + +<p>Und die Schwester nickte auch und stöhnte:</p> + +<p>»Ja, ja, mir ist's recht! mir ist alles recht! o Gott!«</p> + +<p>Nun versuchte der alte Herr, um doch etwas für das +Fest zu thun, wieder einmal heiter und ruhig auszusehen +und rief:</p> + +<p>»Courage, Alte! Wer wird so den Kopf hängen lassen? +Du sollst jetzt einmal zu deinem Erstaunen gewahr werden, +mit wievielerlei unnützem Gerümpel wir uns allgemach +auf unserm Lebenswege bepackeselt hatten. Daß wir +die Landwirtschaft — die Sorge und den Verdruß um +Wiese und Feld los werden, ist im Grunde auch nicht so +übel und jedenfalls nicht das Schlimmste. Offen gestanden, +meine Knochen leisteten zuletzt doch nicht mehr das, was +sie früher mit Lust thaten.«</p> + +<p>Der Trost war wohl gemeint, aber er half wenig. +Plötzlich brach die Schwester in ein helles, krampfhaftes +Schluchzen aus:</p> + +<p>»O grundgütiger Heiland, es wäre mir ja alles, alles +recht, es kommt nur so sehr spät! Bruder, es kommt zu +spät, dieses Elend! — Wäre dieser — Mann um zwanzig +Jahre früher gekommen, so würde ich ja mit Freuden mit +deinem Kopfkissen meine Bettdecke hingegeben haben; aber +wahrhaftig, jetzt ist es für uns zu spät im Leben geworden! +Die Hypothek, die auf dem Hause liegt, liegt auch +auf mir wie ein Berg! Und dazu keinen — keinen Menschen, +dem man seinen Kummer klagen kann, klagen darf — ja +klagen darf!«</p> + +<p>»Nein,« rief Herr Philipp Kristeller, allen Nachdruck +seiner Seele in das Wort werfend, »nein, was wir hier<span class='pagenum'><a name="Page_105" id="Page_105">[105]</a></span> +tragen, das tragen wir für uns allein! Fremde Nasen +dürfen wir gewiß nicht in unser jetziges Dasein hineinriechen +lassen, Dorothea! Es wäre nicht zu rechtfertigen gegen +den Freund — meinen Freund — meinen Freund vom +Blutstuhle! Ach, fasse nur Mut, liebe Dorette, und mache +mir vor allen Dingen keine solche verzweiflungsvollen Mienen, +du sollst sehen, wir behalten den Kopf doch noch oben +und führen auch unter den jetzigen Verhältnissen ein gutes +und stilles Leben weiter. Was würde meine Johanne sagen, +wenn sie bis heute mein Los mit mir geteilt hätte? Sieh, +die Leute können wir denken und reden lassen, was sie wollen.«</p> + +<p>»Und ich sehe sie schon vor mir, wie sie die Köpfe zusammenstecken; +der Pastor und der Ulebeule, die Herren +vom Gestüt, der Amtsrichter und der Doktor. Sie werden +sich schöne Historien zusammenphantasieren und uns +in einem bunten Lichte an die Wand hinmalen!«</p> + +<p>»Laß sie! möge es nur dem alten tollen Freunde mit +seinem jungen Glück gut gehen! Ich sage dir, liebe Schwester, +schon die Gewißheit, daß niemand es so herzlich mit +uns meint als er, wäre mir ein Trost, wenn es mir vielleicht +auch noch so kläglich zu Mute wäre. Jetzt glaubt er, +mit vollen Segeln seinem und unserem Glücke entgegenzuschwimmen; +sieh, Alte, und sein Geld hat doch wenigstens +zum zweitenmal einem Menschen für eine Stunde Behagen +gegeben, was man wahrhaftig nicht von jedem Gelde sagen +kann, und wenn es auch wie hier zwölftausend Thaler +wären.«</p> + +<p>Die Schwester erwiderte nichts hierauf, sondern zuckte +nur die Achseln, welches ihr dann wieder Gewissensbisse +machte. Sie stand auf, ging zum Fenster und sah in den +nächtlich winterlichen, gleichfalls schwer mit Hypotheken belasteten +Garten hinaus und wendete sich nach drei Minuten +erst ins Zimmer zurück:</p> + +<p>»Es schneit tüchtig, Bruder. Weißt du wohl noch, +Philipp, welch ein Vergnügen und welche geheime Behaglichkeit<span class='pagenum'><a name="Page_106" id="Page_106">[106]</a></span> +wir gerade an diesem Tage am Schnee +hatten?«</p> + +<p>»Ei gewiß,« rief der Bruder, »wie wären wir sonst +wohl dies Menschenalter durch so gut miteinander ausgekommen? +Dorette, heute sind wir doch die richtigen Narren +gewesen, daß wir uns zum erstenmal nicht einen Tannenbaum +mit Lichtern besteckt haben. Allem zum Trotz hätten +wir das thun sollen! Nun das nächste Mal! — im nächsten +Jahre —«</p> + +<p>»Wenn dein Freund vom Blutstuhle das Schiff mit +den Fässern voll Gold und Edelsteinen geschickt hat, als +Abzahlung — wenigstens für das Rezept zum Kristeller! +O, und dafür dreißig Jahre lang da seinen Lehnstuhl frei +gehalten zu haben!«</p> + +<p>Das war echt weiblich und also nichts dagegen zu machen: +der alte Herr Philipp hielt sich an sein eigen männlich +und treu Gemüt, ließ sich das Wort nicht vor dem +Munde abschneiden, sondern schloß seinen Satz:</p> + +<p>»Wollen wir das diesmal Versäumte desto herzlicher +und herzhafter nachholen.« Der weiblichen Einschaltung +wegen fügte er jedoch im Stillen noch hinzu: »Wie es auch +kommen mag.«</p> + +<p>Was die Freunde der Umgegend anbetraf, so verwunderten +sie sich in der That sehr, als im Laufe des Winters +und Frühjahrs in der Apotheke »zum wilden Mann« sich +vieles sehr veränderte; — als die Möbeln aus den Gemächern +abhanden kamen, das Vieh aus den Ställen verschwand, +als der Blumengarten sich in einen Gemüseplatz +verwandelte, das zierliche Dienstmädchen eine andere gute +Herrschaft suchte, dem Knechte gekündigt wurde und es im +Kreisblatte zu lesen stand, daß der Apotheker Herr Philipp +Kristeller so und so viel Morgen Wiesen und Ackerfeld an +die und die Bauern der Gemeinde und Feldmark verkauft +habe. Als aber die Auktion in der Apotheke selbst wirklich +abgehalten wurde, boten sie kopfschüttelnd mit; und<span class='pagenum'><a name="Page_107" id="Page_107">[107]</a></span> +auf dieser Auktion erstand der Förster des Apothekers Bildergalerie, +der Doktor die chinesische Punschschale und der +Pastor den Ehrensessel des Obersten in brasilianischen Diensten +Dom Agostin Agonista.</p> + +<p>Ein kahleres Haus gab es nachher nicht im Orte. Nur +der Inhalt der Büchsen und Gläser in der Offizin blieb +verschont; die Freunde und Bekannten aber überlegten und +mutmaßten nach allen Richtungen hin und kamen zuletzt +sämtlich auf die nicht ganz unwahrscheinliche Vermutung, +daß ihr Freund, Herr Philipp Kristeller, in schlechten Papieren +ganz heimlich spekuliert und sich verspekuliert habe.</p> + +<p>Natürlich rieten sie ihm dringend, sich doch umgehend +an seinen Freund, den brasilianischen Obersten, zu wenden, +und begriffen nicht, aus welchem Grunde er das so sehr +hartnäckig ablehnte.</p> + + +<p class="center" style="font-size: larger; margin-top: 40px; margin-bottom: 40px;">Ende. +</p> + + + + + + + +<pre> + + + + + +End of the Project Gutenberg EBook of Zum wilden Mann, by Wilhelm Raabe + +*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK ZUM WILDEN MANN *** + +***** This file should be named 22123-h.htm or 22123-h.zip ***** +This and all associated files of various formats will be found in: + http://www.gutenberg.org/2/2/1/2/22123/ + +Produced by Norbert H. Langkau, Jana Srna and the Online +Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net + + +Updated editions will replace the previous one--the old editions +will be renamed. + +Creating the works from public domain print editions means that no +one owns a United States copyright in these works, so the Foundation +(and you!) can copy and distribute it in the United States without +permission and without paying copyright royalties. Special rules, +set forth in the General Terms of Use part of this license, apply to +copying and distributing Project Gutenberg-tm electronic works to +protect the PROJECT GUTENBERG-tm concept and trademark. Project +Gutenberg is a registered trademark, and may not be used if you +charge for the eBooks, unless you receive specific permission. If you +do not charge anything for copies of this eBook, complying with the +rules is very easy. 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It exists +because of the efforts of hundreds of volunteers and donations from +people in all walks of life. + +Volunteers and financial support to provide volunteers with the +assistance they need, is critical to reaching Project Gutenberg-tm's +goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will +remain freely available for generations to come. In 2001, the Project +Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure +and permanent future for Project Gutenberg-tm and future generations. +To learn more about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation +and how your efforts and donations can help, see Sections 3 and 4 +and the Foundation web page at http://www.pglaf.org. + + +Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive +Foundation + +The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit +501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the +state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal +Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification +number is 64-6221541. Its 501(c)(3) letter is posted at +http://pglaf.org/fundraising. Contributions to the Project Gutenberg +Literary Archive Foundation are tax deductible to the full extent +permitted by U.S. federal laws and your state's laws. + +The Foundation's principal office is located at 4557 Melan Dr. S. +Fairbanks, AK, 99712., but its volunteers and employees are scattered +throughout numerous locations. Its business office is located at +809 North 1500 West, Salt Lake City, UT 84116, (801) 596-1887, email +business@pglaf.org. 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